Information und Einflussnahme: Gefährdungen der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses [1 ed.] 9783428554379, 9783428154371

Die Offenheit demokratischer Willensbildung ist ein schutzbedürftiges Gut, das nach dem Urteil vieler Zeitgenossen gegen

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Information und Einflussnahme: Gefährdungen der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses [1 ed.]
 9783428554379, 9783428154371

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 90

Information und Einflussnahme Gefährdungen der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses Herausgegeben von Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

ARND UHLE (Hrsg.)

Information und Einflussnahme

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 90

Information und Einflussnahme Gefährdungen der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses

Herausgegeben von

Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15437-1 (Print) ISBN 978-3-428-55437-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-85437-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses ist ein schutzbedürftiges Gut. Auch wenn sie seit jeher Bedrohungen ausgesetzt ist, sind in jüngerer Zeit verschiedene Spannungslagen und Gefährdungen hinzugetreten, die ihre Realisierung und Sicherung vor neue Herausforderungen stellen. So unterschiedlich diese Gefährdungen hinsichtlich Herkunft, Erscheinungsform und Intensität im Einzelnen auch sind, so sehr eint sie doch, dass sie die Unvoreingenommenheit der öffentlichen Meinungs- wie auch der demokratischen Willensbildung in neuartiger Weise und zum Teil auch in neuer Intensität auf die Probe stellen. Zu den Feldern der gegenwärtigen Bewährungsprobe rechnet zunächst der öffentlich-rechtliche Rundfunk, dessen Offenheit im Prozess der demokratischen Willensbildung in den letzten Jahren zunehmend kritisch hinterfragt worden ist. Das gilt auf der einen Seite für die auch bundesverfassungsgerichtlich ausgetragene Diskussion um die Besetzung von Aufsichtsorganen bei öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, namentlich für den Streit um den ZDF-Staatsvertrag,1 auf der anderen Seite für die Frage einer politischen Selbstzuordnung der im öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätigen Journalisten und die nach dem Urteil nicht weniger Zeitgenossen bestehende Gefahr, die dortige Berichterstattung nicht ausschließlich an journalistischen Maßstäben, sondern auch an den Regeln der Political Correctness auszurichten. Öffentlich diskutierte Fälle der jüngeren Vergangenheit bilden insofern etwa die zeitverzögerte mediale Information 1  BVerfGE 136, 9. Dokumentation bei Christian v. Coelln / Karl-E. Hain (Hrsg.), Der ZDF-Staatsvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht. Dokumentation der Schriftsätze und des Urteils vom 25.  März 2014, 2015.

2 Vorwort

in ZDF und ARD über die Ereignisse auf der Kölner Domplatte in der Silvesternacht 2015 / 16,2 die u. a. zu einer warnenden Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates geführt hat,3 sowie die in den Hauptnachrichten der ARD zunächst unterbliebene Berichterstattung über die im Dezember 2016 erfolgte Festnahme eines tatverdächtigen Flüchtlings aus Afghanistan im Falle der Vergewaltigung und Ermordung einer Freiburger Studentin.4 Einen weiteren, wenngleich anders konnotierten Bereich, in dem die Gewährleistung der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses in jüngerer Zeit neuen Herausforderungen begegnet, bilden die Äußerungsbefugnisse staatlicher Amtsträger. Auch dieser Themenkreis hat in den letzten Jahren erkennbar an Konjunktur gewonnen. Dies belegt nicht zuletzt der Umstand, dass sich mit ihm zunehmend auch die Judikative 2  Siehe zu den Vorfällen selbst den im März 2017 vorgelegten Abschlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV des Landtages von Nordrhein-Westfalen vom 23.  März 2017, LT-Drs.  16 /  14450. 3  Entschließung Nr.  13961, verfügbar unter: http: /  / assembly.coe. int / nw / xml / XRef / Xref-Compendium2HTML-EN.asp?fileid=22437& lang=EN (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). In deutscher Übersetzung findet sich dieses Dokument in: Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 25. bis 29.  Januar 2016, BT-Drs. 18 / 10794, S. 27. In dieser Entschließung wird die Verantwortung der Medien für eine objektive, rechtzeitige und wahrheitsgemäße Berichterstattung über Tatsachen hervorgehoben und u. a. die Warnung ausgesprochen, sie sollten nicht „die Wahrheit vor der allgemeinen Öffentlichkeit verbergen, um politische Korrektheit zu gewährleisten“. Hierzu Thomas Haug, Entschließung Nr. 13961 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 26.  Januar 2016  – Berichterstattung zwischen „Political Correctness“ und dem Vorwurf der „Lügenpresse“, AfP 2016, S. 122 ff. 4  Siehe hierzu stellvertretend nur Michael Hanfeld, „Tagesschau“ und Freiburg-Mord. Jetzt berichten sie doch, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.  Dezember 2016, verfügbar unter: http: /  / www.faz.net / aktuell /  feuilleton / medien / tagesschau-berichtet-nicht-ueber-ermordete-studen tin-in-freiburg-14560129.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).

Vorwort3

auseinanderzusetzen hat – beginnend mit der Frage, ob der Bundespräsident die Anhänger einer nicht verbotenen Partei, in concreto der NPD, als „Spinner“ bezeichnen darf,5 über die Frage, ob es ein Mitglied der Bundesregierung als „Ziel Nummer  1“ ausgeben darf, dass eine andere Partei  – konkret auch hier wiederum die NPD – nicht in einen Landtag gewählt werde,6 bis zu der Frage, ob die Wissenschaftsministerin auf der offiziellen Homepage ihres Ministeriums der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) eine „rote Karte“ zeigen darf.7 Dass diese Fragen nicht nur auf der Ebene der Bundespolitik eine praktische Rolle spielen, zeigt das am 13.  September 2017 ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Düsseldorfer LichtFall, in dem es den Aufruf des Düsseldorfer Oberbürgermeisters, anlässlich einer islamkritischen Demonstration das Licht auszuschalten, ebenso für rechtswidrig erklärt hat wie seine öffentliche Bitte, an einer Gegendemonstration teilzunehmen.8 5  BVerfGE 136, 323; aus dem Schrifttum stellvertretend dazu Christian Hillgruber, Zur Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten in Bezug auf politische Parteien, JA 2014, S. 796 ff.; Michael Sachs, Staatsorganisationsrecht: Redefreiheit des Bundespräsidenten, JuS 2014, S. 956  ff.; Hermann Butzer, Im Streit – Die Äußerungsbefugnisse des Bundespräsidenten, ZG 2015, S. 97 ff. 6  BVerfGE 138, 102 (104). Aus dem Schrifttum dazu Stefan Muckel, Neutralitätsgebot für Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung („Fall Schwesig“), JA 2015, S. 715 ff.; Julian Krüper, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 16. Dezember 2014 (2 BvE 2 / 14) – Zu der Frage, inwieweit sich Mitglieder der Bundesregierung über andere politische Parteien äußern dürfen, JZ 2015, S. 414 ff.; Christoph Gröpl / Stephanie Zembruski, Äußerungsbefugnisse oberster Staatsorgane und Amtsträger, Jura 2016, S. 268 ff. 7  BVerfGE 140, 225 (e.A.).  8  BVerwG, Urteil vom 13.  September 2017 (Az. 10 C 6 / 16); vorgehend: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. November 2016 (Az.: 15 A 2293 / 15), NVwZ 2017, S. 1316 ff., sowie VG Düsseldorf, Urteil vom 28. August 2015 (Az. 1 K 1369 / 15), NWVBl. 2016, S. 174 ff. Zum Themenkomplex Mehrdad Payandeh, Die Neutralitätspflicht staatlicher Amtsträger im öffentlichen Meinungskampf. Dogmatische Systembildung auf verfassungsrechtlich zweifelhafter Grundlage, Der Staat 55 (2016), S. 519 ff. Zur Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen Max

4 Vorwort

In sachlicher Nähe zu derartigen Äußerungen von Hoheitsträgern stellen sich Grundsatzfragen, die die Offenheit der öffentlichen Meinungs- wie der demokratischen Willensbildung berühren, auch dort, wo sog. Neue Medien wie Facebook und Twitter zunehmend bei der regierungsamtlichen Kommunikation zum Einsatz gelangen. Ausgangspunkt einer Annäherung an diesen Themenkomplex ist hier in aller Regel nach wie vor die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit von 1977.9 Indes fragt sich, ob und inwieweit die tragenden Maßstäbe dieser Entscheidung, die seinerzeit mit Blick auf eine analoge Welt getroffen worden ist, auch für die neue, digitale Welt Geltung beanspruchen können. Für die Bundesregierung, cum grano salis auch für die Landesregierungen, stellt sich hier nicht zuletzt auch die Frage, ob amtliche Social-Media-Profile statthaft sind, wenn diese in eine Nähe zu rundfunkähnlichen Online-Medien geraten. Eine gänzlich anders unterlegte Gefährdung der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses begegnet dort, wo die politische Einflussnahme nicht durch inländische, sondern durch ausländische Hoheitsträger geschieht und sich auf deutschem Staatsgebiet ereignet oder auf Menschen, die in Deutschland leben, abzielt. Auch wenn der Auftritt ausländischer Amtsträger in Deutschland kein neues Phänomen ist, stellen sich im Einzelnen doch neuartige Fragestellungen, die in jüngerer Zeit auf die Tagesordnung der Politik gerückt, zum Teil  aber auch bereits zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen avanciert sind.10 Hier erhebt sich die Frage, wie rechtlich zu bewerten ist, Putzer, Anmerkung, DVBl. 2017, S. 136 ff.; Timo Hebeler, Anmerkung, JA 2017, S. 558 ff. 9  BVerfGE 44, 125; aus dem zeitgenössischen Schrifttum stellvertretend dazu Jürgen Jekewitz, Inhalt und Reichweite der BVerfG-Entscheidung zur staatlichen Öffentlichkeitsarbeit, ZRP 1977, S. 300 ff.; Peter Häberle, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteiendemokratie und Bürgerdemokratie. Zum Urteil des BVerfG vom 2.  März 1977, JZ 1977, S. 361 ff. 10  Siehe hierzu zunächst OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ 2017, S.  648 f.; dazu David Jungbluth, Die „Erdogan-Entscheidung“. Oder:

Vorwort5

wenn ausländische Hoheitsträger auf die demokratische Willensbildung in Deutschland oder auf die politische Meinungsbildung in Deutschland lebender Menschen Einfluss zu nehmen suchen, etwa durch den Aufruf zu einem Wahlboykott bestimmter Parteien, durch Wahlempfehlungen für bestimmte Parteien oder auch durch Werbung für eine bestimmte politische Position bei im Ausland stattfindenden Referenden. Nicht zuletzt ist in diesem Kontext klärungsbedürftig, ob, aus welchen Gründen und unter welchen Voraussetzungen Wahlkampfauftritte ausländischer Amtsträger unter Genehmigungsvorbehalt gestellt werden können  – so, wie es das Auswärtige Amt mit seiner vom Juni 2017 datierenden Rundnote getan hat.11 Weitere Gefährdungen der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses resultieren aus Entwicklungen, die in jüngerer Zeit unter den Schlagwörtern „Fake News“ und „Hate Speech“ diskutiert werden. Gegen sie richtet sich das neue Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das am 1.  Oktober 2017 in Kraft getreten ist.12 Im Einzelnen stellen sich auch hier vielfältige rechtliche bzw. verfassungsrechtliche Fragen. Das beginnt bereits mit der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, weil dieses Gesetz Die Deutsche Justiz als Affirmationsorgan der politisch-medialen Mehrheitsmeinung, NVwZ 2017, S. 604 ff.; Stefan Muckel, Rede eines ausländischen Staatsoberhaupts bei einer Versammlung in Deutschland, JA 2017, S. 396 ff. Siehe ferner das obiter dictum in BVerfG, DVBl. 2017, S.  570 f.; hierzu Timo Schwander, Anmerkung zu einer Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 02. März 2017 (2 BvR 483 / 17) – Zur Ausübung amtlicher Funktionen durch ausländische Staatsoberhäupter bzw. Regierungsmitglieder fremder Staaten in Deutschland, ZJS 2017, S.  242 ff.; Shalene Edwards, Erdogan live? – Entscheidungsbefugnis der Bundesregierung, ZRP 2017, S. 91 f. 11  Pressemitteilung, Rundnote zu Wahlkampfauftritten ausländischer Amtsträger in Deutschland, Auswertiges Amt vom 30.  Juni 2017, verfügbar unter: https: /  / www.auswaertiges-amt.de / de / newsroom / 170630rundnote-wahlkampfauftritte  /  291076 (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). 12  Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzdurchsetzungsgesetz  – NetzDG) vom 1.  September 2017, BGBl. I 2017, S. 3352.

6 Vorwort

darauf abzielt, die Verbreitung rechtswidriger Inhalte zu verhindern, die einen gesetzlich benannten Straftatbestand erfüllen. Insofern es die Einhaltung bzw. Durchsetzung der allgemeinen Gesetze in den Medien und sozialen Netzwerken zum Inhalt hat, fragt sich freilich, ob entsprechende Regelungen nicht gem. Art. 70 Abs. 1 GG der Länderzuständigkeit unterfallen. Vor allem aber stellt sich hier die Frage, ob das Netzwerkdurchsetzungsgesetz letztlich nicht die Möglichkeit eines unverhältnismäßigen staatlichen Eingriffs in die von Art. 5 Abs. 1 S. 1 und 2 GG geschützten Rechte ermöglicht13  – eine Frage, die u. a. den UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit auf den Plan gerufen hat, der seine Bedenken in einem vom 1. Juni 2017 datierenden Schreiben publik gemacht hat.14 Neuen Herausforderungen begegnet das Recht auch bei der in den vergangenen Jahren ebenfalls vielfältig diskutierten Einflussnahme auf den Informationsfluss. Das gilt zum einen für Wiki­leaks und Whistleblower. Rechtliche Fragen betreffen hier u. a. die Publikation grundsätzlich nicht-öffentlicher Informationen, an denen im Einzelfall zwar ein öffentliches Interesse bestehen kann, freilich keinesfalls bestehen muss; das gilt erst recht dort, wo sich diese Informationen als falsch erweisen. Zum anderen erheben sich rechtliche Fragestellungen wiederum bei der Einflussnahme ausländischer Staaten auf die politische Willensbildung. Das gilt u. a. im Falle der Nutzung neuer Techniken, mit der die Meinungsbildung eines ausländischen Staatsvolkes zielgerichtet beeinflusst, u. U. gar im eigenen Interesse manipuliert werden soll. Hier stellt sich nicht zuletzt die bislang ungeklärte Frage nach der rechtlichen Beurteilung sog. Social Bots – 13  Zu

den verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen aus dem Schrifttum stellvertretend Hubertus Gersdorf, Hate Speech in sozialen Netzwerken. Verfassungswidrigkeit des NetzDG-Entwurfs und grundrechtliche Einordnung der Anbieter sozialer Netzwerke, MMR 2017, S. 439 ff. (444). 14  Schreiben von David Kaye vom 1.  Juni 2017, Az.: OL DEU 1 / 2017, verfügbar unter: http: /  / www.ohchr.org / Documents / Issues /  Opinion / Legislation / OL-DEU-1-2017.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).

Vorwort7

insbesondere dann, wenn diese in Wahlkämpfen eingesetzt werden.15 Eine letzte Facette in der Bewährungsprobe, der die Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses gegenwärtig unterliegt, betrifft schließlich politische Moralisierungs- und Tabuisierungstendenzen in der gesellschaftlichen Sphäre. So stellt sich die Frage, ob von ihnen eine Gefahr für die demokratische Willensbildung ausgeht, namentlich dann, wenn derartige Entwicklungen dazu führen, dass von Freiheitsrechten, namentlich von der Meinungsfreiheit, aufgrund eines gesellschaftlich tatsächlich aufgebauten bzw. gesellschaftlich empfundenen Drucks nicht mehr freimütig und in vollem Umfang Gebrauch gemacht wird. Immerhin wird in einem solchen Fall der demokratische Willensbildungsprozess in einer nicht unproblematischen Weise beschnitten. Das nährt Befürchtungen, eine Reduzierung des von der Political Correctness belassenen Spielraums,16 eine Verengung des „Rahmens des Sagbaren“,17 bewirke eine Behinderung der demokratischen Willensbildung, fördere unter Umständen gar eine innere Distanzierung gegenüber dem parlamentarischen System und könne nicht zuletzt die Neigung zu Wahlenthaltung oder Protestwahl verstärken. Die nachfolgend abgedruckten Beiträge möchten zur Diskussion einladen, ob und inwiefern aus den vorstehend dargestellten Entwicklungen aktuelle oder potenzielle Gefährdungen der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses resultieren. Das gilt gleichermaßen für Entwicklungstendenzen, die der staatlichen wie der gesellschaftlichen Sphäre entstammen. Demgemäß spüren die folgenden Abhandlungen den einzelnen Facetten dieser Fragestellung nach und untersuchen, wo sich solche 15  Dazu aus dem Schrifttum Armin Steinbach, Social Bots im Wahlkampf, ZRP 2017, S. 101 ff. 16  Stellvertretend zur Political Correctness aus rechtswissenschaft­ licher Perspektive Sebastian Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, 2013, S. 60 ff., m. w. N. 17  So der Titel des Beitrags von Andreas Rödder, in diesem Band, S. 241  ff.

8 Vorwort

Bedrohungslagen andeuten bzw. wo sie gar bestehen und ob bzw. wie ihnen mit den Instrumenten des Rechts begegnet werden kann. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind hervorgegangen aus Vorträgen, die am 29. und 30. September 2017 unter dem Rahmenthema „Information und Einflussnahme  – Gefährdungen der Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses“ vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft auf deren Generalversammlung in Mainz gehalten worden sind. Für die Publikation wurden sie überarbeitet, teilweise erweitert sowie mit Anmerkungen versehen. Für die Unterstützung bei der Durchführung der Sektionssitzung danke ich den wissenschaftlichen Mitarbeitern meines Lehrstuhls, namentlich Frau Anja Wenzel (M.A.) und Herrn Ass. iur. Philipp Gutsche, für die redaktionelle Bearbeitung der hier veröffentlichten Abhandlungen meiner wissenschaftlichen Hilfskraft, Frau Alexandra Klemm (LL.B.). Ein besonderer Dank für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“ sowie für die einmal mehr hervorragende verlegerische Betreuung gebührt schließlich dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon (LL.M.). Leipzig, im Dezember 2017

Arnd Uhle

Inhaltsverzeichnis Offenheit demokratischer Willensbildung und Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der Staat als Garant oder Gefahr?  Von Professor Dr. Christian von Coelln, Köln  . . . . . . . . . . . . . . 11 Demokratische Willensbildung und Hoheitsträger. Grund und Grenzen öffentlicher Äußerungsbefugnisse von Repräsentanten des Staates  Von Professor Dr. Markus Möstl, Bayreuth  . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Facebook, Twitter und Regierung. Neue Medien und regierungsamtliche Kommunikation zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Parteipolitik Von Matthias Friehe, Marburg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Hoheitsgewalt oder Meinungsfreiheit? Politische Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger auf deutschem Staatsgebiet  Von Professor Dr. Hanno Kube, Heidelberg  . . . . . . . . . . . . . . . 123 Fake News und Hate Speech als Gefahr für die demokratische Willensbildung. Staatliche Gewährleistung kommunikativer Wahrheit? Von Professor Dr. Frank Fechner, Ilmenau  . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Informationsfluss und Recht. Wikileaks, Whistleblower und die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die demokratische Willensbildung Von Professor Dr. Rudolf Streinz, München  . . . . . . . . . . . . . . . 201 Der Rahmen des Sagbaren. Überlegungen zur Offenheit demo­kratischer Willensbildung aus zeitgeschichtlicher Perspektive Von Professor Dr. Andreas Rödder, Mainz  . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Autoren und Herausgeber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Offenheit demokratischer Willensbildung und Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der Staat als Garant oder Gefahr? Von Christian von Coelln I. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II. Der gesicherte Befund: Die Bedeutung der Medien für die Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Die Offenheit des Willensbildungsprozesses als Existenzbedingung der Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Die Bedeutung der Medien für den offenen Willensbildungsprozess  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Die Frage nach der Bedeutung des Rundfunks und nach den Konsequenzen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk  . . . . 21 1. Die tradierte Konzeption des Bundesverfassungsgerichts  . 21 a) Die Sonderstellung des Rundfunks; Fernsehen als Leitmedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 b) Konsequenzen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der dualen Rundfunkordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 c) Die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Rundfunkfreiheit  22 2. Die fortbestehende Richtigkeit dieser Konzeption  . . . . . . . 22 a) Keine Kursänderung des Bundesverfassungsgerichts  . . 23 b) Die tatsächlichen Annahmen des Bundesverfassungs­ gerichts im „Faktencheck“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Die weiterhin erforderliche Vielfaltssicherung gerade durch den Gesetzgeber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 IV. Staatsferne als Grenze des gesetzgeberischen Ausgestaltungsspielraums  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Die grundrechtlich gebotene Freiheit des Rundfunks von staatlicher Lenkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Konkrete Bedeutung: Das Gebot der Staatsferne  . . . . . . . . 28 3. Die Konsequenzen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

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V. Die Frage nach der hinreichenden Staatsferne des öffentlichrechtlichen Rundfunks in einzelnen Bereichen  . . . . . . . . . . . . . 30 1. Die Binnenstruktur der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Der Streit um die Verfassungsmäßigkeit des ZDFStaatsvertrages  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts  . . . . . 33 c) Die Bewertung der Entscheidung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 aa) Die Bestätigung der prinzipiellen Organisationsstruktur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 bb) Zur Bedeutung des Arguments „föderaler Brechung“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 cc) Die Festlegung einer starren Drittelgrenze  . . . . . . . 36 dd) Gremiengröße und „vielfältige Brechung“  . . . . . . . 37 d) Gesetzgeberische Reaktionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 e) Die praktische Handhabung der neuen Regelungen  . . . 39 2. Die Indienstnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch programminhaltliche Vorgaben  . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3. Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks  . . 41 4. „Freiwillige Staatsnähe“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 VI. Schluss  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

I. Einleitung Viele Debatten im Medienrecht sind wahnsinnig interessant – sehr häufig aber nur für ausgesuchte Spezialisten. Es ist eher eine Ausnahme, dass die unter ihnen geführten Diskussionen größere öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Wer z. B. kennt auch nur – oder interessiert sich gar für – den Streit um den geplanten Frequenztausch des Bayerischen Rundfunks, der sein Jugendprogramm „PULS“ in Zukunft auf den bislang von BR-Klassik genutzten Frequenzen verbreiten möchte? Gegen diesen Plan haben sich mehrere bayerische Privatradios gewehrt. Vor dem OLG München mussten sie kürzlich eine Niederlage hinnehmen.1 Dabei geht es um spannende Fragen der Auslegung des 1  OLG

München, ZUM 2017, S. 934 ff.



Offenheit demokratischer Willensbildung13

BR-Gesetzes und des BayMG. Aber jenseits derjenigen, die sich ohnehin dezidiert mit diesen Gesetzen befassen, sind es wohl im Wesentlichen die BR-Klassik-Hörer, die die Angelegenheit interessiert, weil sie selbst betroffen sind. Gerade dieses Kriterium der Betroffenheit ist es auch, das einer medienrechtlichen Frage mehr als nur allgemeine Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt: Den Streit um das „Ob“ und das „Wie“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kennen nicht nur die meisten Bürger. Die weit überwiegende Mehrheit von ihnen hat dazu auch eine eigene, häufig sehr dezidierte Meinung. Kritik entzündet sich zumeist an der früheren Gebühren- und aktuellen Beitragsfinanzierung, die sich jedenfalls der Höhe, häufig aber auch dem Grunde nach in Frage gestellt sieht. Diese Ablehnung speist sich zum Teil  aus dem Gedanken, nicht zur Finanzierung eines Angebots herangezogen werden zu wollen, das zu nutzen der Einzelne ohnehin nicht gewillt ist. Aber auch derjenige, der das Konstrukt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht prinzipiell ablehnt, mag zumindest über die Höhe der Beiträge ins Grübeln kommen, wenn er erfährt, wofür sein Geld verwendet wird. Der Hinweis darauf, dass ARD und ZDF zwischen 2013 und 2016 jährlich im Durchschnitt über 440 Millionen Euro allein für Sportrechte ausgegeben haben – 250 Millionen die ARD,2 191 Millionen das ZDF3 –, lässt Skepsis gegenüber dem Argument, der Rundfunkbeitrag müsse erhöht werden, jedenfalls nicht a priori als unplausibel erscheinen. Und wenn die ARD bei der vor wenigen Wochen erfolgten Offenlegung ihrer Gehaltsstrukturen Intendantengehälter nannte, die bei Thomas Kleist vom Saarländischen Rundfunk mit 237.000 Euro jährlich beginnen und bei Tom Buhrow vom WDR mit 399.000 Euro im Jahr enden, dann macht man es sich wohl zu leicht, Kritik daran als durchschaubare Neiddebatte oder als Verkennung verfassungsrechtlicher Vorgaben abzutun. Auch Monatsgehälter von 2  ARD vom 27.  März 2017, verfügbar unter: http:  /   /  www.ard.de  /  home / die-ard / fakten / Sport_in_der_ARD / 3902562 / index.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 3  epd medien Nr. 36 / 2017, S. 17.

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bis zu 7.691 Euro für Kameraleute oder 6.182 Euro für Sekretärinnen ließen sich in diese Überlegungen einbeziehen –4 um von den Rentenansprüchen der ehemaligen Mitarbeiter5 gar nicht zu reden. Gleichwohl: Selbst wenn (oder soweit) der Vorwurf unnötig hoher Ausgaben berechtigt sein sollte, wäre er durch entsprechende Einsparungen relativ leicht aus der Welt zu schaffen. Als Argument für einen rechtlich tragfähigen Generalangriff auf das System taugt er jedenfalls nicht. Anders verhält es sich mit dem Vorwurf einer zu großen Staatsnähe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Er rührt an die Grundfesten des Systems. Wer erwartet hatte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum ZDF-Staatsvertrag aus dem Frühjahr 20146 würde diese Debatte beenden, sah sich schnell eines Besseren belehrt. Abgesehen von den Diskussionen, wie die Vorgaben des Urteils im ZDF-Staatsvertrag einerseits und in den Landesrundfunkgesetzen bzw. sonstigen rundfunkrechtlichen Staatsverträgen andererseits umzusetzen seien, wird der Vorwurf der übergroßen Staatsnähe mittlerweile auch in der Debatte um das zukünftig zulässige Maß an Online-Angeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verwendet. Mit allen Aktivitäten, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk hier entfaltet, tritt er in unmittelbare Konkurrenz zum privaten Rundfunk7 und zu den Zeitungsverlagen. Namentlich die Verleger stehen entsprechenden Expansionsbestrebungen sehr kritisch gegenüber, wie der Streit um die sog. Tagesschau-App anschaulich belegt. Dass in diesem Kontext sogar die F.A.Z. vom „staatlichen Rundfunk“ oder von einem „Staatssender“ gesprochen haben 4  ARD vom 20.  September 2017, verfügbar unter: http:  /  / www.ard. de / home / die-ard / fakten / Gehaelter_und_Verguetungen_in_der_ARD /  4127124 / index.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 5  Siehe Lisa Nienhaus, Öffentlich-rechtliche Rentneranstalt, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 31. Januar 2016, S. 23. 6  BVerfGE 136, 9 ff. Dazu noch näher unten V. 1. b). 7  Zur Einschätzung aktueller Überlegungen zur Änderung des RStV als „maximales Bedrohungsszenario“ durch den Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT) siehe epd medien Nr. 36 / 2017, S. 15.



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soll, wurde u. a. beim Deutschlandfunk als der fundamentale Vorwurf verstanden, als der die Bezeichnungen erkennbar auch gemeint waren. Zumindest sah sich eine Redakteurin des Deutschlandfunks zu einem „gut gemeinten Aufklärungsbrief“ veranlasst, der sich unmittelbar an die F.A.Z. richtet und der am 21.  August 2017 veröffentlicht wurde: „Was ist eigentlich bei Euch los?“, heißt es dort. „Immer wieder druckt Ihr dieses böse Wort vom Staatsrundfunk. Wo es doch in Deutschland seit dem Fall der Mauer gar keinen mehr gibt. Denn  – glaubt es oder nicht  – der Rundfunk ist in unserem demokratischen Land staatsfern organisiert. Das will die Verfassung so – und die Richter am Bundesverfassungsgericht erst Recht. Und irgendwie verstehen wir nicht, warum ihr das nicht versteht. […] Ihr solltet“  – so geht es nach einem Hinweis auf die sinkende Auflage auch der F.A.Z. weiter  – „wissen  – und ehrlich gesagt […] wir sind ganz sicher, dass Ihr es auch wisst  – dass es keinen Staatsrundfunk gibt und auch keine Zwangsgebühren. […] Natürlich haben wir mehr Geld als Ihr. Aber diese finanzielle Sicherheit ist, im Grundsatz natürlich, nicht in der Höhe, so von der Verfassung gewollt.“8 Die Antwort der F.A.Z. ließ nicht lange auf sich warten. Sie kam – anders als man vielleicht erwarten durfte – nicht von Michael Hanfeld, sondern am 26. August 2017 von Jürgen Kaube. Dieser konzediert, dass man böswillig sein müsse, um zu behaupten, die öffentlich-rechtlichen Anstalten stünden unter staatlichem Diktat. Zwar hätten ARD und ZDF „während der ersten Flüchtlingswellen vom Frühstücksgeplaudere bis zu Klebers Abendstunde schon sehr insistent und homogen die hauptamtliche Melodie ‚Wir schaffen das‘ “ abgespielt, „anstatt zu berichten, was los war.“ Zwar gewähre das Fernsehen auch stets Politikern großzügig Sendezeit für immer dieselben Sprüche in Interviews oder Talkshows. Insofern aber seien „eher Einfallslo8  Brigitte

Baetz, „Staatsrundfunk“. „Liebesbrief“ an die FAZ-Kolleg­ Innen, Deutschlandfunk vom 21.  August 2017, verfügbar unter: http: /  / www.deutschlandfunk.de / staatsrundfunk-liebesbrief-an-die-fazkolleginnen.2907.de.html?dram:article_id=393978 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017), Rechtschreibfehler („erst Recht“) im Original.

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sigkeit und Opportunismus am Werk als staatlicher Auftrag“. Die Frage nach der Staatsnähe aber ziele auf etwas anderes. Wer nahezu vollständig über die „Zwangsgebühr“ finanziert werde, sei abhängig vom Staat, wie die Bemühungen der Fernsehchefs gegenüber der Politik in der aktuellen Beitragsrunde zeigten. Die „größenwahnsinnige Bezeichnung der Fernsehgebühren als ‚Demokratieabgabe‘ durch einen Moderator, der vor allem durch das Vorlesen von Wählerumfragen“ hervorgetreten sei, unterstreiche die Fusion von Politik und Funk in den Köpfen der Begünstigten. Was die politische Unabhängigkeit der staatlich finanzierten Medien angehe, so könne jeder anhand der Biographien von Rundfunk- und Fernsehräten nachschauen, wie viele von ihnen ihren Sitz in dem Aufsichtsgremium einer politischen Karriere verdankten. Auch Funktionäre des Lottos oder der Gemeindetage seien übers Parteiticket in ihre Ämter gekommen. Das zentrale Problem aber liege nicht in den „Krisen eines politisch unbefangenen, unabhängigen Journalismus“. Es liege vielmehr darin, dass ein Großteil des „zwangsfinanziert Ausgestrahlten“  – etwa Traumschiff, Kochshows und Länderspiele  – mit der Demokratie oder einem Bildungsauftrag nichts zu tun hätte. „Dürfen wir“, so schließt Kaube, „also unsererseits fragen, weshalb ständig das Gegenteil behauptet wird?“9 Wieder ganz fundamental legte dann vor wenigen Tagen, nämlich am 18. September 2017, der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), Mathias Döpfner, nach: Die Zeitungen erlebten „nach wie vor eine mit öffentlich-rechtlichen Geldern finanzierte Flut textbasierter Gratis-Angebote, […] eine gebührenfinanzierte digitale Staatspresse“, die den Wettbewerb verzerre.10 Gäbe es im Netz nur Staatsfernsehen und Staatspresse, fügte er hinzu, wäre das eher etwas nach dem

9  Jürgen Kaube, Staatsrundfunk und Zwangsgebühren, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. August 2017, S. 1. 10  epd medien aktuell Nr. 180a vom 18.  September 2017. Zur Kritik des Vorsitzenden des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV), Frank Überall, an dieser Formulierung („geschmacklos“) siehe epd medien aktuell Nr. 181a vom 19. September 2017.



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Geschmack von Nordkorea.11 Das veranlasste die ARD-Vorsitzende Karola Wille zu der Äußerung, wenn Herr Döpfner suggeriere, in Deutschland blockiere eine „Staatspresse im Netz“ nach „dem Geschmack von Nordkorea“ die Entfaltungsmöglichkeiten der Verlage, bewegten wir uns klar im Bereich von Fake News.12 Von der F.A.Z.  – dieses Mal war es denn doch Michael Hanfeld  – durfte sie sich daraufhin aufklären lassen, warum der Konjunktiv II („gäbe“) auch Irrealis genannt wird.13 Staatsnähe oder Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind also  – so viel lässt sich schon hier sagen  – Teil  einer aktuellen und durchaus munter geführten Debatte, die etliche Teilfragen betrifft. Um nur einige zu nennen: Gibt es unmittelbare Einflussnahmen des Staates? Welche Rolle kommt Parteien bei der Besetzung und Tätigkeit der Rundfunkgremien zu? Welche Lenkungswirkung entfaltet die staatliche Einflussnahme auf die Finanzierung? II. Der gesicherte Befund: Die Bedeutung der Medien für die Demokratie Um zu ermitteln, was der Staat im Rundfunkbereich tun muss und was er nicht tun darf, muss man vergleichsweise weit aus­ holen. 11  Joachim Huber, Staatsfernsehen und Staatspresse nach dem Geschmack von Nordkorea, Der Tagesspiegel vom 18.  September 2017, verfügbar unter: http: /  / www.tagesspiegel.de / medien / bdzv-chef-atta ckiert-ard-und-zdf-staatsfernsehen-und-staatspresse-nach-dem-ge schmack-von-nordkorea / 20345142.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). 12  Meedia Redaktion, „Wörter können zu Waffen werden“: ARDVorsitzende Karola Wille reagiert „befremdet“ auf Döpfners Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk, MEEDIA vom 19.  September 2017, ver­fügbar unter: http: /  / meedia.de / 2017 / 09 / 19 / woerter-koennen-zuwaffen-werden-ard-vorsitzende-karole-wille-reagiert-befremdet-aufdoepfners-kritik-am-oeffentlich-rechtlichen-rundfunk /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 13  Michael Hanfeld, Döpfners Rede, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2017, S. 15.

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1. Die Offenheit des Willensbildungsprozesses als Existenzbedingung der Demokratie Ausgangspunkt der Überlegungen ist – kleiner geht es nicht – das in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG festgelegte Staatsstrukturprinzip der Demokratie. Demokratie setzt einen freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes voraus, in dem sich jedermann ungehindert informieren und äußern kann.14 Sollte es an einem solchen Prozess fehlen, wäre das Handeln staatlicher Organe nicht mehr auf den Willen des Volkes zurückzuführen. Wahlen, denen kein derartiger Prozess vorausgegangen ist, in dem sich die Wähler ein Urteil zu bilden vermochten, vermögen keine Legitimation zu verleihen.15 Die ungehinderte Bildung des Volkswillens ist für die Staatsform der Demokratie jedoch nicht nur im unmittelbaren Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen relevant. Die Teilhabe der Bürger am demokratischen Prozess beschränkt sich nicht auf die Wahlen, in denen Staatswillensbildung und Volkswillensbildung punktuell zusammenfallen. Legitimation wird zwar in besonderer Weise, aber eben nicht nur über Wahlen verliehen. Das Volk nimmt vielmehr kontinuierlich Einfluss auf die Tätigkeit staatlicher Organe. Die ununterbrochene Beteiligung der Bürger am permanenten Gestaltungsprozess der Demokratie ist gesellschaftliche Realität und zugleich verfassungsrechtliche Normallage.16 Freie Kommunikation und Meinungsbildung sind nach der Wahlentscheidung ebenso gefordert wie vorher, um durch eine kontinuierliche Rückkoppelung zwischen den Staatsorganen und dem Volk die notwendige öffentliche Kontrolle und Kritik zu ermöglichen.17 Im Mittelpunkt der Einflussnahme des Volkes auf das politische Geschehen jenseits von Wahlen steht der schillernde 14  BVerfGE

20, 56 (97). 44, 125 (139). 16  Vgl. Horst Dreier, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, Jura 1997, S. 249 ff. (255 f.). Siehe auch Walter Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat. Dargestellt am Beispiel des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1966, S. 83. 17  BVerfGE 20, 56 (98 ff.); 69, 315 (346); 85, 264 (284 f.). 15  BVerfGE



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Begriff18 der „öffentlichen Meinung“. Ungeachtet aller definitorischen Schwierigkeiten19 ist ihre Existenz ebenso unbestritten wie ihre demokratische Relevanz.20 Sie bildet das verfassungsrechtlich anerkannte Korrektiv, mit dem sich der Wille des Volkes gegen den organschaftlich gebildeten Staatswillen positionieren kann.21 Die öffentliche Meinung stellt  – zusammen mit der parlamentarischen Verantwortung der Regierung und den periodisch wiederkehrenden Wahlen  – den demokratischen Verantwortlichkeitszusammenhang zwischen den Staatsorganen und dem Volk her.22 Zu leisten vermag sie dies freilich nur, wenn bzw. soweit sie das Ergebnis eines freien Meinungsbildungsprozesses ist.23 2. Die Bedeutung der Medien für den offenen Willensbildungsprozess Insofern wirken die Grundrechte, die den freien Willensbildungsprozess absichern und ermöglichen, nicht nur demokratiestabilisierend, sondern demokratiekonstituierend. 18  Rudolf Gerhardt, Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Verbots von Rundfunk- und Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal (§ 169 Satz  2 GVG), 1968, S. 50. 19  Michael Kloepfer, Öffentliche Meinung, Massenmedien, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 42 Rdnr.  1 ff.; Otto B. Roegele, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl. 1988, Stichwort „Öffentliche Meinung“, Sp. 98. 20  Guido Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal. Ein rechtsvergleichender Beitrag zum Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren, 1999, S. 214; Gerhardt, Rundfunk- und Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal (Fn. 18), S. 51. 21  Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rdnr. 150. 22  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rdnr. 16. 23  Kloepfer, Öffentliche Meinung (Fn. 19), Rdnr. 12. Siehe zum Ganzen auch Christian v. Coelln, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt. Rechtliche Aspekte des Zugangs der Medien zur Rechtsprechung im Verfassungsstaat des Grundgesetzes, 2005, S. 167 ff.

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Das gilt für die Meinungsfreiheit und die Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz  1 GG, aber auch und gerade für die Me­ dienfreiheiten. Der bundesverfassungsgerichtliche Befund, die Kommunikationsgrundrechte einschließlich der Medienfreiheiten seien schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung,24 ist unverändert gültig. Auch der Einschätzung, Presse und Rundfunk seien Medium und Faktor öffentlicher und individueller Meinungsbildung,25 kann niemand ernsthaft widersprechen. Daran ändert auch das massive Hinzutreten (seinerzeit) neuer Medien seit ca. 20 Jahren nichts. Unabhängig davon, ob man sie der Presse oder – wofür viel spricht – primär dem Rundfunk zuordnen will,26 haben selbst die klassische Presse und der klassische Rundfunk ihre Funktionen nicht  – oder zumindest noch nicht  – dem Grunde nach eingebüßt. Wenn sich im Übrigen heute konstatieren lässt, dass der Einzelne seine Meinung deutlich leichter öffentlich wahrnehmbar äußern kann, als dies früher der Fall war, so darf nicht übersehen werden, dass er dafür in den allermeisten Fällen doch auf ein Medium angewiesen ist. Ebenso wie die Zeitung über die Veröffentlichung eines Leserbriefes entscheidet, ist es sozialen Netzwerken wie z. B. Facebook prinzipiell möglich, einen Kommentar nicht freizuschalten bzw. nachträglich zu löschen.

24  So

schon BVerfGE 7, 198 (208); 12, 205 (259 ff.); 35, 202 (221 f.). BVerfGE 12, 205 (260); 97, 228 (267). 26  Eingehend etwa Karin Schmidtmann, Die verfassungsrechtliche Einordnung konvergenter Massenmedien. Eine Analyse der Auswirkungen des Medienwandels auf Presse und Rundfunk aus verfassungsrechtlicher Sicht, 2013, S. 324 ff. 25  U. a.



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III. Die Frage nach der Bedeutung des Rundfunks und nach den Konsequenzen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk 1. Die tradierte Konzeption des Bundesverfassungsgerichts a) Die Sonderstellung des Rundfunks; Fernsehen als Leitmedium Innerhalb dieses Prozesses ist der Rundfunk, folgt man dem Bundesverfassungsgericht, nicht ein beliebiges Medium unter mehreren. Vielmehr soll ihm eine Sonderrolle zukommen. Angesichts seiner „herausragenden kommunikativen Bedeutung“, die sich aus seiner „Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft“ ergebe, werde „freie Meinungsbildung nur in dem Maß gelingen, wie der Rundfunk seinerseits frei, umfassend und wahrheitsgemäß“ informiere.27 Speziell das Fernsehen sei das „Leitmedium“, in dem die Voraussetzungen der Meinungsbildung gewährleistet sein müssen.28 b) Konsequenzen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der dualen Rundfunkordnung Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einerseits und den privaten Rundfunk andererseits ergeben sich daraus unterschiedliche Konsequenzen. Während bei den privaten Anbietern von Verfassungs wegen nur  – aber immerhin  – ein Grundstandard gleichgewichtiger Vielfalt gefordert ist, müssen die öffentlichrechtlichen Veranstalter die unerlässliche Grundversorgung gewährleisten und in voller Breite die in der Gesellschaft relevanten Themen und Meinungen aufgreifen; sie sind in besonderer Weise auf Ausgewogenheit festgelegt.29 Im privaten Rundfunk obliegt die Entscheidung, ob Vielfalt durch Binnen- oder Außenpluralität hergestellt wird, dem Gesetzgeber. Der öffentlich-rechtliche

27  BVerfGE

83, 238 (296); 87, 181 (198); 90, 60 (87); st. Rspr. 97, 228 (257). 29  BVerfGE 83, 238 (315 ff.); 87, 181 (198 f.). 28  BVerfGE

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Rundfunk hingegen muss binnenplural strukturiert sein.30 Seine Aufgabe ist es, ein Leistungsangebot hervorzubringen, das „einer anderen Entscheidungsrationalität als der der marktwirtschaftlichen Anreize folgt“; er hat zu inhaltlicher Vielfalt beizutragen, die allein über den Markt nicht zu gewährleisten wäre. Damit er dazu in der Lage ist, darf er auch in seiner Finanzierung nicht abhängig von Einschaltquoten oder Werbeeinnahmen sein.31 c) Die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Rundfunkfreiheit Zu realisieren und sicherzustellen hat all dies der Gesetzgeber. Das Bundesverfassungsgericht versteht die Rundfunkfreiheit als der Meinungsbildung „dienende“, normgeprägte Freiheit, von der erst auf der Grundlage einer vom Gesetzgeber zu schaffenden „positiven Ordnung“ Gebrauch gemacht werden kann.32 2. Die fortbestehende Richtigkeit dieser Konzeption Die Richtigkeit dieser Konzeption lässt sich unter zwei Gesichtspunkten hinterfragen. Aus einer prinzipiellen dogmatischen Perspektive heraus lässt sich einwenden, dass das Konzept einer dienenden Freiheit eine Art Widerspruch in sich ist.33 Da aber auch die stärkere Betonung der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension Sicherungspflichten des Gesetzgebers nicht ausschließen würde, soll ein anderer Aspekt in den Blick genommen werden: Ist die dem Rundfunk in Karlsruhe zugeschriebene Sonderrolle obsolet geworden? Haben ihr die Veränderungen der Medienrealität die Grundlage entzogen?

30  BVerfGE

121, 30 (50 f.). 136, 9 (29 f.). 32  U. a. BVerfGE 57, 295 (320). 33  Dazu v. Coelln, Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt (Fn. 23), S.  173 f. m. w. N. 31  BVerfGE



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a) Keine Kursänderung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat diese Fragen allein in jüngerer Vergangenheit34 mehrfach dezidiert verneint: Die Anforderungen an die gesetzliche Ausgestaltung der Rundfunkordnung zur Sicherung der Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz  2 GG seien durch die Entwicklung von Kommunikationstechnologie und Medienmärkten nicht überholt.35 In der sog. Rundfunkgebühren II-Entscheidung aus dem September 2007 hat es besonders ausführlich auf die seiner Auffassung nach entscheidenden Merkmale hingewiesen: Die Breitenwirkung, die sich in der Reichweite und der Möglichkeit der Beeinflussung großer Bevölkerungsteile zeige, die Aktualität durch die Möglichkeit der schnellen oder sogar zeitgleichen Berichterstattung und die Suggestivkraft durch die Kombination von Text und Ton mit bewegten Fernsehbildern.36 Zudem betont es immer wieder die besonderen Schwierigkeiten, hier einmal eingetretene Fehlentwicklungen rückabzuwickeln. b) Die tatsächlichen Annahmen des Bundesverfassungsgerichts im „Faktencheck“ Nun mag man einwenden, diese Erläuterungen seien gute 10 Jahre alt. In der sich rasant weiterentwickelnden Medienrealität des Internets ist das eine lange Zeit. Ist es nicht zumindest heute oft so, dass besonders aktuelle Meldungen längst auf Plattformen wie Twitter, Facebook oder Youtube zu finden sind, während im Fernsehen stoisch das ursprünglich vorgesehene Programm gezeigt wird, bestenfalls ergänzt durch ein Laufband am Bildschirmrand? Beispiele dafür lassen sich unschwer finden. Und glauben nicht viele zu wissen, dass schon bald so gut wie niemand mehr lineares Fernsehen schauen wird?

34  Zum Austausch der älteren Begründung (Frequenzknappheit und hoher finanzieller Aufwand) siehe bereits BVerfGE 57, 295 (322). 35  BVerfGE 119, 181 (214); 121, 30 (51). 36  BVerfGE 119, 181 (215).

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Selbst wenn dem so sein sollte: Öffentliche Meinungsbildung findet nicht erst in der Zukunft statt, sondern schon heute. Und die heutige Mediennutzung stellt sich ein wenig anders dar, als es gern gezeichneten Prognosen entspricht. Über 14-Jährige schauten in Deutschland im Jahr 2015 im Durchschnitt pro Tag sage und schreibe 208  Minuten fern; 80 % dieser Altersgruppe werden täglich vom Fernsehen erreicht. Dem stehen beim Internet 107  Minuten bzw. 46 % Reichweite gegenüber.37 Schon deshalb erscheint es allemal noch berechtigt, von einer Sonderrolle gerade des Fernsehens zu sprechen. Sicherlich mag sich dies bereits in wenigen Jahren ändern: Die durchschnittliche tägliche Internetnutzung steigt rapide und kontinuierlich an,38 während sich die Fernsehnutzung auf hohem Niveau zu konsolidieren scheint.39 Mehr noch: Je jünger die betrachtete Gruppe ist, desto geringer ist die Rolle des Fernsehens. 20- bis 29-Jährige sahen 2016 im Durchschnitt nur 139  Minuten täglich fern, 14- bis 19-Jährige gar nur 114  Minuten.40 Das alles mag die Bedeutung des Fernsehens in absehbarer Zeit relativieren. Im Moment ist es gesamtgesellschaftlich noch von der herausgehobenen Wichtigkeit, die ihm das Bundesverfassungsgericht zuschreibt. Welches Youtube-Video etwa wird 16  Millionen Mal oder auch nur 10 Millionen Mal abgerufen? Gute 16 Millionen Zuschauer (oder 45,8 % Marktanteil) hatte das sog. TV-Duell im gerade zurückliegenden Bundestagswahlkampf,41 dessen Prägekraft und Bedeutung für öffentliche Debatten im Vorfeld wie im Nachgang 37  Basisdaten. Daten zur Mediensituation in Deutschland 2016, Media Perspektiven 2017, S. 65. 38  2000: 10  Minuten; 2005: 28  Minuten; 2010: 43  Minuten; 2015: 46 Minuten, siehe ebd. 39  2005 und 2010 betrug die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer noch 220 Minuten, siehe ebd. 40  Basisdaten. Daten zur Mediensituation in Deutschland 2016, Media Perspektiven 2017, S. 69. 41  Einschaltquoten. 16,11  Millionen Zuschauer verfolgen TV-Duell, Spiegel online vom 4.  September 2017, verfügbar unter: http: /  / www. spiegel.de / kultur / tv / tv-duell-mit-merkel-und-schulz-hat-16-11-millio nen-zuschauer-a-1165996.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017).



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uns allen noch in lebhafter Erinnerung sind. Und eine tägliche durchschnittliche Zuschauerzahl von knapp 10  Millionen Zuschauern konnte 2016 die Tagesschau verzeichnen.42 Dass dies der höchste Wert seit 10 Jahren ist, lässt sich jedenfalls nicht als Beleg für den Wegfall der Sonderrolle des Fernsehens verwenden. Im Übrigen würde man dem Stellenwert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht gerecht, wenn man allein seine derzeit noch vorhandene, aber absehbar schwindende Relevanz betonen wollte. Mit der Beschränkung auf derartige argumentative Rückzugsgefechte würde verkannt, dass die Anforderungen an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die das Bundesverfassungsgericht dem kargen Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 Satz  2 GG entnimmt, die geradezu maßgeschneiderte Antwort auf neue und neueste Gefährdungen für den Prozess öffentlicher Meinungsbildung sind: Wie anders sollte „Fake News“ entgegengetreten werden als durch ein für jedermann erreichbares Angebot, das in verlässlicher und sachlicher Weise Auskunft über den Wahrheitsgehalt tatsächlicher oder vermeintlicher Fakten gibt? Die Idee vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Orientierung stiftende Glaubwürdigkeitsinsel43 in der Informationsflut ist nicht neu. Womöglich war sie aber nie so aktuell wie heute. Die massenkommunikativen Grundannahmen, auf denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk beruht, sind also nach wie vor richtig. Und wer einen Beleg dafür sucht, dass die These von den Schwierigkeiten bei der Korrektur einmal eingetretener Fehlentwicklungen ebenfalls ein hohes Maß an Plausibilität aufweist, möge sich an der Vorstellung versuchen, wie man in Italien gegen 42  Beliebteste

Nachrichtensendung. Zehn  Millionen gucken täglich die Tagesschau, ARD vom 28. Dezember 2016, verfügbar unter: https: /  /  www.tagesschau.de / inland / tagesschau-zuschauer-zahlen-101.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 43  Bernd Holznagel, Rundfunk und Kommunikationsrecht im 20. Jahrhundert: Etappen der Rechtsentwicklung und die digitale He­ rausforderung, in: Kloepfer (Hrsg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung. Unter besonderer Berücksichtigung des Kommunikationsrechts, 2000, S. 127 ff. (146).

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das Medienimperium von Silvio Berlusconi hätte erfolgreiche Wahlkämpfe führen wollen. 3. Die weiterhin erforderliche Vielfaltssicherung gerade durch den Gesetzgeber Damit bleibt es auch beim Erfordernis gesetzlicher Vielfaltssicherung: Wer sonst als der Gesetzgeber sollte in der parlamentarischen Demokratie die maßgeblichen Regeln aufstellen? Dass so der grundrechtsgebundene Staat grundrechtseffektuierende Maßnahmen ins Werk setzen muss, ist das Grundproblem jedes ausgestaltungsbedürftigen Grundrechts.44 Beim Rundfunk mag es in besonderer Schärfe hervortreten. Vermeiden lässt es sich nicht. Das ist auch dem Bundesverfassungsgericht bewusst. Die Formulierung „So unverzichtbar der Staat […] als Garant einer umfassend zu verstehenden Rundfunkfreiheit ist, so sehr sind seine Repräsentanten doch selber in Gefahr, die Rundfunkfreiheit ihren Interessen unterzuordnen.“45 bringt das Dilemma der staatlichen Doppelrolle als Garant und Gefährder der Rundfunkfreiheit und damit des offenen gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozesses auf den Punkt. IV. Staatsferne als Grenze des gesetzgeberischen Ausgestaltungsspielraums Gelöst wird es durch das Gebot der Staatsferne, das den prinzipiell bestehenden gesetzgeberischen Ausgestaltungsspielraum46 begrenzt.

44  Grundlegend Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz. Studien zur Interdependenz von Grundrechtsdogmatik und Rechtsgewinnungstheorie, 1999; Martin Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande. Untersuchung zur normativen Ausgestaltung der Freiheitsrechte, 2000. 45  BVerfGE 90, 60 (88); mit geringfügigen Abweichungen im Wortlaut später auch BVerfGE 121, 30 (52). 46  BVerfGE 57, 295 (321); 83, 238 (296); 87, 181 (198); 90, 60 (94); 97, 228 (267); 114, 371 (387); 119, 181 (214); 121, 30 (50).



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1. Die grundrechtlich gebotene Freiheit des Rundfunks von staatlicher Lenkung Bei der Ausgestaltung des Rundfunks hat der Gesetzgeber den Grundsatz der Staatsfreiheit (bzw. Staatsferne) des Rundfunks zu beachten.47 Dieser Grundsatz ist ein unmittelbares Postulat des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; er trägt der besonderen Bedeutung dieses Grundrechts für die Demokratie Rechnung. Damit sich die Willensbildung, wie es Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG fordert, gerade vom Volk zu den Staatsorganen vollzieht, muss die Volkswillensbildung „staatsfrei“ bleiben. Staatliche Organe dürfen auf die Willensbildung des Volkes, durch die sie überhaupt erst hervorgebracht werden, grundsätzlich keinen Einfluss haben.48 Der Staat darf nicht lenkend oder beeinflussend tätig werden und so die Chance jedes Einzelnen und jeder Gruppierung mindern, andere von der Richtigkeit eigener Positionen zu überzeugen.49 Je größere Bedeutung man dem Rundfunk für die öffentliche Meinungsbildung zumisst, desto wichtiger wird (bzw. bleibt) die Beachtung dieses Gebots auch hier. In dem Maße, in dem der Rundfunk seine Bedeutung für die Herausformung des Volkswillens und der öffentlichen Meinung verlieren sollte, wäre staatliche Dominanz eine geringere Gefahr für die Demokratie – mit der Folge, dass die Freiheit von dieser Dominanz konsequenterweise auch grundrechtlich nicht mehr im gewohnten Umfang gefordert wäre. Wenn und weil (bzw. solange) dem Rundfunk aber besondere Bedeutung als Medium und Faktor öffentlicher Meinungsbildung zukommt,50 bleibt es auch dabei, dass freie Meinungsbildung nur in dem Maße gelingen kann, wie der Rundfunk seinerseits frei, umfassend und wahrheitsgemäß

47  BVerfGE 121, 30 (59); Christoph Degenhart, Verfassungswidrige Zusammensetzung der Gremien des ZDF? Anmerkungen zum aktuellen Verfassungskonflikt, NVwZ 2010, S. 877 ff. (878). 48  Siehe schon BVerfGE 20, 56 (99). 49  Günter Herrmann / Matthias Lausen, Rundfunkrecht, 2.  Aufl. 2004, § 6 Rdnr. 4. 50  BVerfGE 90, 60 (87); 114, 371 (387); 119, 181 (214 f.).

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informiert,51 wobei „frei“ insbesondere die Freiheit von staatlicher Lenkung und Beeinflussung meint. Ungeachtet aller schon eingetretenen Veränderungen der Medienlandschaft ist daran festzuhalten, dass der Rundfunk nicht dem Staat ausgeliefert52 oder überlassen werden darf.53 Die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung bedingt die Freiheit des Rundfunks von staatlicher Beherrschung und Einflussnahme; diese ist und bleibt zumindest bis auf Weiteres conditio sine qua non der Demokratie.54 Insofern verdient das Bundesverfassungsgericht Zustimmung, wenn es in der Abwehr staatlicher Kontrolle der Berichterstattung wenn schon nicht mehr den wichtigsten,55 aber immerhin noch einen wesentlichen Anwendungsbereich der Medienfreiheiten sieht.56 2. Konkrete Bedeutung: Das Gebot der Staatsferne Wenn diese Anforderungen der Verfassung häufig als Gebot oder Grundsatz der Staatsfreiheit zusammengefasst werden,57 so ist das ein griffiger und verständlicher Terminus, der in seiner sprachlichen Rigidität aber letztlich juristisch ungenau ist.58 Ein striktes „Einmischungsverbot“ gibt es nicht.59 Art. 5 Abs. 1 51  BVerfGE

90, 60 (87). 12, 205 (262); 90, 60 (88). 53  BVerfGE 31, 314 (325); 57, 295 (323). 54  BVerfGE 57, 295 (320); 73, 118 (152); 74, 297 (324); 90, 60 (88). 55  So noch BVerfGE 57, 295 (320); 90, 60 (88). 56  BVerfGE 121, 30 (52). Siehe zuvor schon ThürVerfGH, LKV 1999, S.  21 ff. (22). 57  Erstmals BVerfGE 31, 314 (329); später dann BVerfGE 57, 295 (320); 59, 231 (255); 73, 118 (164); 74, 297 (349); 83, 238 (322 f., 330 f., 340); 90, 60 (61); 121, 30 (51 ff.); ebenso BVerfG (K), Beschluss vom 30. November 1989 – 1 BvR 756 / 88, 1 BvR 902 / 88; BVerfG (K), NVwZ 2007, S. 1304 f. (1305). 58  BayVerfGH, NJW 1990, S. 311 ff. (313), zur Verbürgung der Rundfunkfreiheit in Art. 111a Abs. 2 Satz 1 BayVerf. 59  Bernd Holznagel, Konvergenz in lokalen und regionalen Medienmärkten. Spielräume für eine Beteiligung kommunaler TK-Unternehmen an Rundfunkveranstaltern, MMR 2011, S. 300 ff. (301). 52  BVerfGE



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Satz 2 GG verbietet allein „Staatsnähe“; gefordert sind „Staatsunabhängigkeit“ bzw. „Staatsferne“. Diese Sichtweise der Literatur60 teilt das Bundesverfassungsgericht, wenn es davon spricht, verlangt werde eine weitgehende61 Staatsferne.62 Dem Staat ist es nicht nur versagt, als Rundfunkbetreiber aufzutreten,63 einen Veranstalter zu beherrschen,64 dies ermöglichende Regelungen zu erlassen65 oder bestimmenden Einfluss auf das Programm der von ihm unabhängigen Veranstalter zu gewinnen.66 Vielmehr soll jede politische Instrumentalisierung des Rundfunks ausgeschlossen werden.67 Verhindert werden sollen auch „mittelbare“68 und „subtile“ Einflussnahmen.69

60  Dietrich Westphal, Föderale Privatrundfunkaufsicht im demokratischen Verfassungsstaat. Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Analyse der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), 2007, S. 452 f.; Dieter Dörr, Die Mitwirkung des Verwaltungsrats bei der Bestellung des ZDF-Chefredakteurs und das Problem der Gremienzusammensetzung, K&R 2009, S. 555 ff. (557); Ulrike Bumke, Die öffentliche Aufgabe der Landesmedienanstalten. Verfassungs- und organisationsrechtliche Überlegungen zur Rechtsstellung einer verselbständigten Verwaltungseinheit, 1995, S. 145 ff. 61  BVerfGE 121, 30 (53). 62  BVerfGE 73, 118 (190); 88, 25 (36); 121, 30 (48); BVerfG (K), ZUM 1999, S. 327 ff. (328). 63  BVerfGE 83, 238 (330); 121, 30 (52). Ebenso mit Blick auf die Thüringische Verfassung ThürVerfGH, LKV 1999, S. 21 ff. (22). Zur Frage der Zulässigkeit eines Parlamentsfernsehens des Deutschen Bundestages Hubertus Gersdorf, Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestages, 2008. 64  BVerfGE 12, 205 (263). 65  BVerfGE 121, 30 (53). 66  BVerfGE 83, 238 (330). 67  BVerfGE 90, 60 (88); 121, 30 (53). 68  BVerfGE 73, 118 (183); 83, 238 (323); 90, 60 (87). 69  BVerfGE 90, 60 (88); 121, 30 (53).

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3. Die Konsequenzen Damit ist freilich – auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – immer noch kein umfassendes Prinzip einer vollständigen Freiheit des Rundfunks von jeder staatlichen Berührung gemeint.70 Zwar spricht das Gericht mit Blick auf subtile Möglichkeiten der Einflussnahme davon, diese sollten „so weit wie möglich ausgeschaltet werden“.71 Diese Passage bezieht sich jedoch allein auf externe Einwirkungen staatlicher Organe, nämlich die Organisation, Konzessionierung, Beaufsichtigung und Finanzierung des Rundfunks sowie seine Ausstattung mit Übertragungskapazitäten. Im Übrigen verlangt das Gericht lediglich die bereits angesprochene „weitgehende Staatsferne“,72 was weniger ist als eine möglichst weitgehende Staatsferne. Unterhalb der Schwelle zur grundrechtlich untersagten Beherrschung oder Instrumentalisierung des Rundfunks ist die Entscheidung für ein möglichst geringes oder ein etwas höheres Maß an Staatseinfluss eine politische Entscheidung zwischen unterschiedlichen Formen der Ausgestaltung des Rundfunks, die alle mit den Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar sind. V. Die Frage nach der hinreichenden Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in einzelnen Bereichen Der Frage, ob das verfassungsrechtlich geforderte Minimum an Staatsferne erreicht wird, soll im Folgenden für konkrete Bereiche nachgegangen werden. 1. Die Binnenstruktur der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Besonders intensiv diskutiert wurde die Thematik in den vergangenen Jahren im Hinblick auf die Binnenstruktur öffentlichrechtlicher Rundfunkanstalten. Die Leitung der Anstalt obliegt 70  BVerfGE

121, 30 (53). 90, 60 (88 f.). 72  BVerfGE 121, 30 (53). 71  BVerfGE



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jeweils einem Intendanten, dessen Befugnisse sich von Sender zu Sender unterscheiden, und kollegial besetzten Aufsichtsorganen: dem für Programmfragen zuständigen Rundfunkrat und dem Verwaltungsrat, der die geschäftliche Tätigkeit kontrolliert. a) Der Streit um die Verfassungsmäßigkeit des ZDF-Staatsvertrages Während dieses Grundmodell nicht angegriffen wurde, entzündete sich die Kritik an der Besetzung der Aufsichtsorgane speziell beim ZDF. Nach dem zwischen allen Ländern abgeschlossenen ZDF-Staatsvertrag73 gehörten dem 77-köpfigen Fernsehrat, wie der Rundfunkrat beim ZDF in Ermangelung von Hörfunkaktivitäten heißt, 19 dezidierte und von den jeweiligen Regierungen entsandte Staatsvertreter an: Einer pro Land, zudem 3 für den Bund. Hinzu kamen 12 Vertreter der im Bundestag vertretenen Parteien und weitere sechzehn Vertreter, die zwar im Staatsvertrag formal bestimmten Themen und Bereichen des Gemeinwesens zugeordnet waren, die jedoch von den Ministerpräsidenten praktisch frei ausgewählt wurden  – was zur Benennung sogar von Inhabern bedeutender Staatsämter führte, deren Bezug zu dem von ihnen repräsentierten Bereich gelegentlich nicht nur auf den ersten Blick unklar bleiben musste. Die verbleibenden 30 Mitglieder stellten einzelne Glaubensgemeinschaften (5) oder Verbände (25), die jeweils im Staatsvertrag als entsendeberechtigt benannt waren.74 Von den 14 Mitgliedern des Verwaltungsrats wurden 5 Ländervertreter durch die Ministerpräsidenten benannt. Die acht weiteren Mitglieder wählte der Fernsehrat. Da es hierfür kaum Inkompatibilitätsvorschriften gab,75 war es nicht nur möglich, 73  Maßgebliche Fassung: Art. 3 des StV über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31.  August 1991 i. d. F. des 15. RÄndStV vom 15. / 17. / 21. Dezember 2010. 74  Näher § 21 Abs. 1 ZDF-StV a. F. 75  § 24 Abs. 1 ZDF-StV a. F. sah lediglich vor, dass die weiteren Mitglieder weder einer Regierung noch einer gesetzgebenden Körperschaft angehören durften.

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sondern auch üblich, dass dem Verwaltungsrat amtierende Ministerpräsidenten angehörten. Mit Einzelheiten zur Beschlussfassung der Gremien inkl. der (grundsätzlich nicht vorgesehenen) Öffentlichkeit befasste sich nicht der Staatsvertrag selbst, sondern die Satzung des ZDF sowie die Geschäftsordnungen der Gremien. In der Literatur hatte es schon länger Stimmen gegeben, die hier einen übergroßen Staatseinfluss und damit eine unzureichende Staatsferne des ZDF sahen.76 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte die Vereinbarkeit der Regelungen mit der Rundfunkfreiheit der Bayerischen Verfassung freilich 1989 noch bejaht.77 20 Jahre später wurde der Streit durch die „causa Brender“ neu angeheizt: Dass im Verwaltungsrat die erforderliche Mehrheit für die Verlängerung des Vertrags mit dem früheren Chefredakteur wohl auf Grund einer ablehnenden Haltung von Unionspolitikern nicht erreicht wurde,78 führten Kritiker der Entscheidung auf inhaltliche Differenzen zurück; die Entscheidung wurde als sinnfälliger Beleg für den vermeintlich übergroßen Staatseinfluss angesehen.79 Schließlich stellte die rheinlandpfälzische Landesregierung einen abstrakten Normenkontrollantrag (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) an das Bundesverfassungsgericht80, dem ein inhaltsgleicher Antrag des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg folgte.

76  Herrmann / Lausen, Rundfunkrecht (Fn. 49), § 7 Rdnr. 83 und § 11 Rdnr.  19; Dörr, Mitwirkung des Verwaltungsrats (Fn. 60), S. 558 f.; ­Caroline Hahn, Die Aufsicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Bestandsaufnahmen und Zukunftsperspektiven, 2010, S. 174. 77  BayVerfGH, NJW 1990, S. 311 ff. 78  Dazu etwa Michael Hanfeld, Brenders Vertrag wird nicht verlängert, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 2009, S. 1. 79  Siehe nur Stefan Niggemeier, Der Tag der Grenzüberschreitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29.  November 2009, S. 29. 80  Karl-Eberhard Hain, Antrag der Regierung des Landes RheinlandPfalz gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG vom 3.  Januar 2011, in: v. Coelln / ders. (Hrsg.), Der ZDF-Staatsvertrag vor



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b) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Das Gericht hat zwar die Verfassungsmäßigkeit der Grundstruktur des ZDF  – und damit auch der anderen öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten bestätigt: Die Gewährleistung inhaltlicher Vielfalt durch eine binnenpluralistische Struktur, in der der Intendant durch plural und gerade gesellschaftlich besetzte Gruppen kontrolliert wird, hält der Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes stand. Jedoch entnimmt das Gericht Art. 5 Abs. 1 Satz  2 GG nähere Vorgaben für die Besetzung der Aufsichtsgremien, denen eine Reihe der Vorschriften des Staatsvertrages nicht genügte. Die Mitglieder der Aufsichtsgremien müssten im Interesse der Vielfaltssicherung „ein breites Band  von Sichtweisen vielfältiger gesellschaftlicher Kräfte“ repräsentieren. Neben großen seien auch kleine Verbände sowie nicht verbandlich organisierte Interessen zu berücksichtigen. Repräsentanten der unterschiedlichen staatlichen Ebenen (bis hin zu Regierungen) seien ausdrücklich nicht ausgeschlossen, da auch sie Perspektiven des Gemeinwesens einbringen können. Jedoch müsse ein bestimmender Einfluss staatlicher Mitglieder in den Aufsichtsgremien ausgeschlossen sein. In systematischer Hinsicht enthält die Entscheidung hier insofern eine Neuerung, als das Gebot der Staatsferne nicht neben das Gebot der Vielfaltssicherung gestellt, sondern als dessen Bestandteil angesehen wird. Konkret dürfe der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien und in deren Ausschüssen maximal ein Drittel betragen. Dass eine Dominanz der Staatsseite schon unterhalb tatsächlicher Mehrheiten drohe, belege die Prägekraft staatlicher Repräsentanten in den sog. „Freundeskreisen“, in denen die Sitzungen von Gremienmitgliedern gleicher politischer Grundüberzeugung vorbereitet werden. Wer in dieser Kategorisierung staatlich bzw. staatsnah sei, müsse funktional bestimmt werden: Erfasst sei jeder, der staatdem Bundesverfassungsgericht, Dokumentation der Schriftsätze und des Urteils vom 25. März 2014, 2015, S. 15 ff.

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lich-politische Entscheidungsmacht innehabe oder im Wettbewerb um ein hierauf gerichtetes öffentliches Amt oder Mandat stehe  – neben Regierungsmitgliedern und Abgeordneten u. a. auch die Repräsentanten und herausgehobene Funktionsträger politischer Parteien. Zudem müsse Vielfalt auch auf der „Staatsbank“ durch die Einbeziehung unterschiedlicher Strömungen  – einschließlich der kleineren – gesichert werden. Auf die Besetzung der „Gesellschaftsbank“ dürften Regierungsmitglieder und andere Vertreter der Exekutive keinen bestimmenden Einfluss haben. Die Vorschläge der entsendeberechtigten Verbände dürften nur ausnahmsweise aus Rechtsgründen zurückweisbar sein. Die Regeln darüber, welche Personen einzubeziehen sind, müssten darauf ausgerichtet sein, eine große Vielfalt widerzuspiegeln. Der Gesetzgeber habe „den Gefahren einer Dominanz von Mehrheitsperspektiven und einer Versteinerung der Zusammensetzung“ entgegenzuwirken. Eine abschließende und dauerhaft geltende Festlegung entsendeberechtigter Verbände im Staatsvertrag sei daher von Verfassungs wegen nicht möglich. Gefordert seien andere Instrumente wie z. B. die Pflicht zur regelmäßigen Überprüfung, ob die Gremienzusammensetzung noch aktuell sei, oder die Möglichkeit der Selbstbewerbung interessierter Verbände. Zusätzlich sei die Staatsferne der „Gesellschaftsbank“ durch Inkompatibilitätsvorschriften abzusichern. Verstärkt werden könnten die Inkompatibilitätsregelungen durch „Karenzzeiten“, die eine Berufung früherer staatlicher Funktionsträger als Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen erst nach einer gewissen Zeit zuließen. Alle Gremienmitglieder müssten zur Sicherung ihrer eigenständigen Aufgabenwahrnehmung weisungsfrei gestellt werden und dürften nur aus wichtigem Grund abberufbar sein. Und schließlich habe der Gesetzgeber ein Mindestmaß an Transparenz der Gremientätigkeit sicherzustellen. Organisationsstrukturen, Gremien­zusammensetzung und anstehende Tagesordnungen müssten ebenso zugänglich sein wie die Gegenstände und Ergebnisse der Beratungen. Ob die Gremien grundsätzlich öf-



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fentlich tagen, obliege freilich der Entscheidung des Gesetzgebers.81 c) Die Bewertung der Entscheidung Die Entscheidung wurde überwiegend positiv aufgenommen.82 In der Tat überzeugt sie in etlichen Punkten – wenn auch nicht in allen. aa) Die Bestätigung der prinzipiellen Organisationsstruktur Zustimmung verdient zunächst die Bestätigung, dass das prinzipielle Ordnungsmodell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verfassungsmäßig ist und dass die Entsendung von Staatsvertretern in die Aufsichtsgremien nicht dem Grunde nach verfassungswidrig ist.83 Dass ihre Entsendung nicht geboten ist, macht sie noch nicht verfassungswidrig. bb) Zur Bedeutung des Arguments „föderaler Brechung“ Im Übrigen hängt die Beurteilung der Entscheidung zentral davon ab, welches Gewicht man dem Gedanken der „föderalen Brechung“ des staatlichen Einflusses zumisst, also der Überlegung, dass die der Staatsseite zuzurechnenden Vertreter nicht 81  BVerfGE

136, 9 (28 ff.). etwa Christian Kirchberg, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 25.  März 2014 (1 BvF 1 / 11, 1 BvF 4 / 11, DVBl. 2014, 649 ff.), DVBl. 2014, S. 1137 ff. (1137); Matthias Cornils, Revitalisierung des Binnenpluralismus. Zugleich Kommentar zum Urteil des BVerfG vom 25. März 2014 (1 BvF 1 / 11, 1 BvF 4 / 14, K&R 2014, 334 ff.), K&R 2014, S. 386 ff. (386); Albrecht Hesse / Axel Schneider, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 25. März 2014 (1 BvF 1 / 11, 1 BvF 4 / 11, NVwZ 2014, 867 ff.), NVwZ 2014, S. 881 f. Skeptisch – trotz Zustimmung zu einzelnen Punkten – Christoph Degenhart, Ein (zu kleiner?) Schritt in die richtige Richtung, K&R 2014, S. 340 f. (340 f.), wegen der fortbestehenden Nähebeziehung zur Politik. 83  Dezidiert a. A. freilich das Sondervotum Paulus, BVerfGE 136, 9 (60 ff.). 82  Siehe

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zwingend als monolithischer Block auftreten. Das Bundesver­ fassungsgericht hat diesen Gedanken geringer gewichtet als zuvor der Bayerische Verfassungsgerichtshof84 und – mit Blick auf den MDR-Staatsvertrag – der Thüringische Verfassungsgerichtshof.85 Dass es ihn jedoch nicht für schlechthin irrelevant hält, zeigt die Forderung nach vielfältigen Brechungen auch der „Staatsbank“. cc) Die Festlegung einer starren Drittelgrenze Natürlich kann man sich zudem fragen, warum der Anteil der staatlichen und staatsnahen Vertreter gerade bei einem Drittel limitiert ist und nicht vielleicht bei einem Viertel oder zwei Fünfteln.86 Jedoch liegt es in der Natur derartiger Verfahren, dass das Bundesverfassungsgericht entsprechende Vorgaben in der Verfassung „entdeckt“. Im Freistaat Bayern hat das übrigens eine besondere Konsequenz: Dort begrenzt bereits die Landesverfassung87 den Anteil der von der Staatsregierung und dem Landtag88 entsandten Gremienmitglieder auf ein Drittel. Sollen Parteivertreter entsandt werden, dürfen Staatsregierung und Landtag nach den Kriterien der ZDF-Entscheidung ihr Quorum aus der Landesverfassung nicht mehr ausschöpfen. Verfassungsrechtlich ist das unproblematisch: Art. 5 Abs. 1 Satz  2 GG verengt so lediglich den qua Landesverfassung bestehenden Spielraum.89

84  BayVerfGH,

NJW 1990, S. 311 ff. LKV 1999, S. 21 ff. 86  Michael Sachs, Staatsferne Vielfaltssicherung in den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, ZG 2014, S. 275 ff. (285). Zu denkbaren ­Alternativlösungen Cornils, Revitalisierung des Binnenpluralismus (Fn. 82), S. 391. 87  Art. 111a Abs. 2 Satz 3 BayVerf. 88  Sowie dem (abgeschafften) Senat. 89  Christian v. Coelln, in: Ory / Cole / Matzneller (Hrsg.), Das Urteil des BVerfG zum ZDF-Staatsvertrag, Dokumentation der EMR-Veranstaltung vom 16. April 2014 in Berlin, 2014, S. 31. 85  ThürVerfGH,



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Aus dogmatischer Sicht fragwürdig  – wenn auch aus praktischer Sicht nützlich – ist es freilich, dass das Bundesverfassungsgericht die Grenze starr gezogen hat. Es wäre zumindest vorstellbar gewesen, ihre jeweilige Höhe an die Entscheidungsbefugnisse des betreffenden Gremiums zu koppeln, so dass geringere Entscheidungsbefugnisse mehr Staatseinfluss zugelassen hätten – und umgekehrt.90 Zwar liegt ein Vorteil starrer Vorgaben darin, dass später kaum Streit darüber entstehen kann, ob sie eingehalten wurden. Womöglich aber deuten sie eben doch auf eine Kompetenzüberschreitung des Gerichts hin. Nicht ohne Grund wird ja beispielsweise im Hochschulbereich zur Beantwortung der Frage, welche Entscheidungsbefugnisse der Gesetzgeber den Leitungsorganen zuweisen darf und welche Möglichkeiten der Einflussnahme er im Gegenzug den Kollegialorganen einräumen muss, kein fixer Katalog aufgestellt, sondern auf das organisatorische Gesamtgefüge abgestellt, so dass Entscheidungsbefugnisse von Leitungsorganen durch Mitwirkungs-, Einflussnahme-, Informations- und Kontrollrechte von Kollegialorganen kompensiert werden können.91 dd) Gremiengröße und „vielfältige Brechung“ Dass das Gericht im Übrigen keine Mindestgröße der Rundfunkgremien festlegt, obwohl die Realisierbarkeit der geforderten „vielfältigen Brechung“ stark von der Gremiengröße abhängt,92 dürfte die Aufgabenverteilung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung eher wahren.

90  Dazu sowie zum Verhältnis zwischen Beherrschungsmehrheit und Blockademinderheit v. Coelln, Das Urteil des BVerfG zum ZDF-Staatsvertrag (Fn. 89), S. 31 ff. 91  Zuletzt insbesondere BVerfGE 127, 87 (114 ff.); 136, 338 (361 ff.). 92  Matthias Cornils, Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG vom 25.  März 2014, 1 BvF 1 / 11, 1 BvF 4 / 11  – Zur Vielfaltssicherung im Rundfunkorganisationsrecht, ZJS 2014, S. 447 ff. (451).

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d) Gesetzgeberische Reaktionen Mittlerweile haben mehrere Gesetzgeber auf die Karlsruher Entscheidung reagiert. Der mit Wirkung zum 1. Januar 2016 geänderte93 ZDF-Staatsvertrag sieht nunmehr 60 Mitglieder des Fernsehrats vor, von denen 20 dem Staat zuzurechnen sind.94 Der Staat geht also exakt bis an die Grenze des Erlaubten. Zudem entsendet jedes Land in einer von ihm selbst gesetzlich festzulegenden Weise einen Vertreter für einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich. Die Größe des Verwaltungsrats ist von 14 auf 12 Mitglieder gesunken; 4 von ihnen – wiederum exakt das legale Drittel – sind von den Ministerpräsidenten entsandte Vertreter der Länder. Die Mitgliedschaft in Fernseh- oder Verwaltungsrat ist auf insgesamt drei Amtsperioden begrenzt; im Übrigen gibt es erweiterte Inkompatibilitätsregelungen.95 Schließlich sieht der Staatsvertrag ein größeres Maß an Transparenz vor; u. a. tagt der Fernsehrat nunmehr grundsätzlich öffentlich. Da die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe für sämtliche Gesetzgeber, die die Regelung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten verantworten, Bindungswirkung entfalten,96 sind mittlerweile auch die Rechtsgrundlagen des SWR97, des Saarländischen Rundfunks,98 des WDR,99 von Radio 93  Durch

den 17. RÄStV. werden sie von den 16 Landesregierungen (je einer), der Bundesregierung (zwei) und den kommunalen Spitzenverbänden (zwei). 95  U. a. dürfen den Gremien nach § 19a Abs. 3 Nr. 5 ZDF-StV auf der „Gesellschaftsbank“ keine Vertreter der kommunalen Spitzenverbände auf Leitungsebene angehören. Kritisch dazu Hans-Günter Henneke, Rundfunkrechtliche Staatsferne der kommunalen Spitzenverbände, Der Landkreis 2015, S. 87 ff. 96  § 31 Abs. 1 BVerfGG, dazu Cornils, Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG vom 25. März 2014 (Fn. 92), S. 453. 97  Durch den am 30. Juni 2015 in Kraft getretenen SWR-Änderungsstaatsvertrag, siehe Bekanntmachung des Staatsministeriums über das Inkrafttreten des Staatsvertrags zur Änderung des Staatsvertrags über den Südwestrundfunk vom 1. Juli 2015 (BaWüGBl. 2015), S. 747. 98  Durch das Gesetz Nr. 1877 zur Novellierung des Saarländischen Mediengesetzes vom 1. Dezember 2015, Saarl. ABl. I, S. 913. 94  Entsandt



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9Bremen100

und des Bayerischen Rundfunks101 geändert worden. Anpassungen des MDR-StV sind zwar beabsichtigt;102 umgesetzt wurden sie bislang freilich noch nicht.103 e) Die praktische Handhabung der neuen Regelungen Leider muss selbst dort, wo die Regelungslage angepasst wurde, nicht alles zum Besten bestellt sein. Abgesehen von Radio Bremen, auf das ich gleich zurückkomme, hat sich das ausgerechnet beim ZDF gezeigt. Sein Fernseh­rat hat im Frühjahr 2017 mit Martin Stadelmeier nicht nur den ehemaligen Chef irgend­ einer, sondern ausgerechnet der Mainzer Staatskanzlei als staatsfernes (!) Mitglied in den Verwaltungsrat des ZDF berufen.104 Nein, diese Entscheidung verstößt nicht gegen Inkompatibilitätsvorschriften. Als Maßnahme, die geeignet wäre, öffentliches Vertrauen in die Staatsferne des ZDF zu erwecken, wird man die Personalie aber beim besten Willen auch nicht einordnen können. Was hätte dagegen gesprochen, ihn als Staatsvertreter zu entsenden?

99  Durch das Gesetz zur Änderung des WDR-Gesetzes und des Landesmediengesetzes Nordrhein-Westfalen (15. Rundfunkänderungsgesetz) vom 2. Februar 2016, GV. NRW., S. 79. 100  Durch das Radio-Bremen-Gesetz (RBG) vom 22.  März 2016, Brem. GBl., S. 158. 101  Durch das Gesetz zur Änderung des Bayerischen Rundfunkgesetzes und des Bayerischen Mediengesetzes vom 20.  Dezember 2016, BayGVBl., S. 427. 102  Siehe epd medien Nr. 18 / 2015, S. 7 f. Zu den Auswirkungen der Entscheidung des BVerfG auf den MDR-StV näher Ralph Zimmermann, Alles neu macht der März? – Auswirkungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum ZDF-Staatsvertrag auf den MDR-Staatsvertrag, SächsVBl. 2014, S. 273 ff. 103  Dezidiert kritisch zur aktuell frühestens 2017 zu erwartenden Änderung des MDR-StV Ralph Zimmermann, Folgen der Neukonstituierung des MDR-Rundfunkrats auf verfassungswidriger Rechtsgrundlage, ZUM 2016, S. 411 ff. 104  epd medien Nr. 10 / 2017, S. 6.

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Um nicht missverstanden zu werden: Rechtlich wäre es mindestens schwierig, wenn nicht gar unmöglich, staatlichen Funktionsträgern die Wahrnehmung derartiger Funktionen nach ihrem Ausscheiden über eine gewisse Frist hinaus zu versagen. Das Problem ist von der Diskussion über Karenzfristen bekannt, die Bundesminister u. U. vor einem Wechsel in die Wirtschaft einzuhalten haben.105 Immerhin stellen entsprechende Verbote Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG dar. Und von mehr als von möglichen Karenzfristen hatte auch das Bundesverfassungsgericht nicht gesprochen. Insofern gibt die causa Stadelmeier keinen Anlass, die nunmehr bestehenden Karenz- und Inkompatibilitätsvorschriften für insuffizient zu halten. Als Indiz für eine an politische Grobmotorigkeit grenzende fehlende Sensibilität taugt sie freilich allemal. 2. Die Indienstnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch programminhaltliche Vorgaben Einen großen Schritt weiter hinüber in die gesicherte Verfassungswidrigkeit ist im vergangenen Jahr die Bremische Bürgerschaft mit dem Erlass des neuen Radio-Bremen-Gesetzes gegangen.106 Mindestens grenzwertig ist schon die erst nachträglich in den ursprünglichen Entwurf eingefügte Regelung, nach der nur solche Parteien und Wählervereinigungen Mitglieder in den Rundfunkrat entsenden dürfen, die bei der Konstituierung der Bürgerschaft in Fraktionsstärke vertreten waren.107 Inwiefern sie dem Verfassungsgebot vielfältiger Brechung der „Staatsbank“ und der Repräsentation auch kleinerer Gruppierungen genügt, erschließt sich nicht. Sollte sie tatsächlich  – wie in Teilen der Presse angenommen wird  –108 gerade dazu dienen, die AfD aus 105  Dazu jetzt §§ 6a ff. BMinG. – Zu einer Karenzfrist im Medienbereich vgl. § 91 Abs. 1 Satz 2 LMG NRW. 106  Radio-Bremen-Gesetz (RBG) vom 22.  März 2016, Brem. GBl. 2016, S. 158. 107  § 10 Abs. 1 Nr. 22 RBG. 108  Joachim Huber, Diskussion um Besetzung des Rundfunkrats. AfD aus dem Rundfunkrat ausschließen? Der Tagesspiegel vom



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dem Rundfunkrat fernzuhalten, dürfte zu ihrer Verfassungsmäßigkeit schon alles gesagt sein. Damit jedoch nicht genug: § 3 Abs. 3 RBG gibt als allgemeinen Programmgrundsatz vor, die Angebote der Anstalt hätten die besonderen Belange von Migrantinnen und Migranten zu berücksichtigen; die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und Flüchtlingen sei nachhaltig zu unterstützen. Der hierzu bereits publizierten Einschätzung, durch derartige programmliche Vorgaben werde vorgemacht, wie man die Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf harte Weise zerstöre,109 ist nichts mehr hinzuzufügen. 3. Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks An ein heißes Eisen wagt sich derzeit, wer die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks thematisiert. Die Umstellung von der gerätebezogenen Rundfunkgebühr auf den geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag hat zur faktischen Unausweichlichkeit der Abgabe geführt und so erhebliche Widerstände freigesetzt. Im hier interessierenden Kontext einer potentiell zu geringen Staatsferne geht es freilich nicht um das konkrete ­Finanzierungsmodell, sondern darum, dass es der Staat selbst ist, der die Art und Weise sowie – wohl noch wichtiger – die Höhe der Finanzierung final festlegt. Besteht nicht die Gefahr, dass diejenigen, die in Abständen von einigen Jahren über die Höhe der Mittel zu entscheiden haben, in der Berichterstattung weni11.  März 2016, verfügbar unter: http: /  / www.tagesspiegel.de / medien /  diskussionen-um-besetzung-des-rundfunkrats-afd-aus-dem-rundfunk rat-ausschliessen / 13309882.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017); siehe dazu auch Markus Ehrenberg, Radio-Bremen-Gesetz. Keine Angst vor der AfD im Rundfunkrat, Der Tagesspiegel vom 15. März 2016, verfügbar unter: http: /  / www.tagesspiegel.de / medien / radio-bremengesetz-keine-angst-vor-der-afd-im-rundfunkrat / 13323780.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 109  Michael Hanfeld, Sendeauftrag, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. März 2016, S. 13.

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ger kritisch beurteilt werden, als wenn sie ohne Einfluss auf die Finanzierung wären?110 Vollkommen fernliegend ist eine solche Befürchtung sicher nicht. Nur: Gerade um dieser Gefahr zu begegnen, ist die Festsetzung der Rundfunkgebühr  – wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert –111 von der allgemeinen Rundfunkgesetzgebung getrennt. Das derzeitige Verfahren der Beitragsbemessung – Bedarfsanmeldung, Prüfung und Bedarfsfeststellung durch die KEF, abschließende Entscheidung durch die Landesparlamente – schirmt den verfassungsrechtlichen Finanzierungsanspruch der Anstalten hinreichend gegenüber politisch motivierten Eingriffen ab.112 Im Fall der Fälle kann der Finanzierungsanspruch per Verfassungsbeschwerde effektuiert werden, was 2007 gegen die Gebührenfestsetzung des 8. RÄndStV auch geschah. Ungeachtet dessen lässt sich nicht leugnen, dass eine dauerhafte Regelung der Beitragsbemessung, die prinzipiell ohne periodisch erneuerungsbedürftige Entscheidungen des Gesetzgebers auskäme, die Anstalten womöglich in noch stärkerem Maße gegenüber (befürchteten) finanziellen Sanktionen immunisieren könnte. Das würde der u. a. im September 2017 gemachte Vorschlag von Wolfgang Schulz erreichen, den Anstalten ein (mit einer Indexierung verbundenes) festes Budget einzuräumen, so dass weitere parlamentarische Entscheidungen nur noch im Ausnahmefall erforderlich wären.113 Eine solche Lösung würde Kürzungen der Finanzierung, die in Wahrheit kritische Berichterstattung sanktionieren sollen, noch stärker erschweren als die aktuelle Regelung. Umgekehrt wäre freilich zu bedenken, dass auch unvorhergesehener zusätzlicher Finanzbedarf politisch noch schwerer durchsetzbar wäre, als es schon bei der demnächst anstehenden Beitragserhöhung der Fall sein dürfte. 110  In diese Richtung Michael Hanfeld, Willkommens-Rundfunk, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. November 2015, S. 1. 111  BVerfGE 90, 60 (93 ff.); 119, 181 (220 ff.). 112  BVerfGE 119, 181 (224 f.). 113  Wolfgang Schulz, Reform im Dienst der Gesellschaft, Süddeutsche Zeitung vom 22. September 2017, S. 31.



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4. „Freiwillige Staatsnähe“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? In anderer Form als bei den vorgenannten Beispielen stellt sich die Frage nach der hinreichenden Staatsferne (bzw. der Parteiferne) des Rundfunks, wenn Vielfalts- und Ausgewogenheitsdefizite im Programm beklagt werden, für die der Staat nicht einmal mittelbar (also durch erhoffte bzw. befürchtete Reaktionen bei der Beitragsfestsetzung) verantwortlich zeichnet, sondern die auf freiwilligen Entscheidungen der Anstalten selbst bzw. ihrer Journalisten beruhen. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Muss es nicht Misstrauen schüren, wenn sich im zurückliegenden Bundestagswahlkampf vermeintliche Normalbürger, die Politikern vor laufenden Kameras Fragen stellen dürfen, später als Parteifunktionäre entpuppen, die so zunächst unerkannt Reklame für ihre jeweilige Partei gemacht hatten? Gilt das nicht zumindest in Fällen, in denen dieser Sachverhalt so leicht zu eruieren ist, dass er im Netz schon während der laufenden Sendung diskutiert wird, im Studio aber (tatsächlich oder vermeintlich) unbekannt bleibt?114 Konnte man wirklich in journalistisch vertretbarer Weise zu der Einschätzung kommen, der Mord an der Freiburger Studentin durch einen Flüchtling sei ein nur regional bedeutsames Ereignis gewesen, dass eine Berichterstattung in der Tagesschau nicht rechtfertige?115 114  Robin Alexander, Merkel im Verhör der kritischen Gebäudereinigerin, welt.de vom 15.  September 2017, verfügbar unter: https: /  / www. welt.de / politik / deutschland / article168663625 / Merkel-im-Verhoer-derkritischen-Gebaeudereinigerin.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017); siehe auch Don Alphonso, Die versteckte linke Politikerin beim öffentlich-rechtlichen MDR, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. September 2017, verfügbar unter: http: /  / blogs.faz.net / deus / 2017 / 09 /  02 / die-versteckte-linke-politikerin-beim-oeffentlich-rechtlichen-mdr4578 /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 115  Kritisch dazu Michael Hanfeld, FAZ.net vom 5. Dezember 2016, Jetzt berichten Sie doch, verfügbar unter: http: /  / www.faz.net / aktuell / 

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Zwar kommen aktuelle Studien zu dem Ergebnis, dass (neben überregionalen und regionalen Tageszeitungen) am ehesten der öffentlich-rechtliche Rundfunk als glaubwürdig eingestuft wird.116 Wenn aber 60 % der Befragten der Meinung sind, dass als unerwünscht geltende Meinungen ausgeblendet werden,117 so wird man das kaum als zufriedenstellenden Wert bezeichnen können. Derartige Kritik wird nicht nur von außen an den Rundfunk herangetragen. Dunja Hayali vom ZDF hat in diesem Jahr Aufsehen mit der Feststellung erregt, sie habe es sehr befremdlich gefunden, wie viele Journalisten ihrer persönlichen Freude über die Kanzlerkandidatur von Martin Schulz in ihrer Berichterstattung freien Lauf gelassen hätten. Wenn überhaupt, dann könne

feuilleton / medien / tagesschau-berichtet-nicht-ueber-ermordete-studen tin-in-freiburg-14560129.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). 116  Zur Infratest dimap-Studie im Auftrag des WDR aus dem Dezember 2016 siehe WDR-Studie: Große Mehrheit der Bundesbürger mit deutschen Medien zufrieden, WDR vom 16. Januar 2017, verfügbar unter: http: /  / www1.wdr.de / unternehmen / der-wdr / unternehmen / studieglaubwuerdigkeit-100.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017); zur TNS emnid-Studie im Auftrag des BR aus dem März / April 2016 siehe BR stellt Studie vor. Medien in der Glaubwürdigkeitskrise?, BR vom 2. Mai 2016, verfügbar unter: http: /  / www.br.de / presse / inhalt / pres semitteilungen  /   g laubwuerdigkeitsstudie-br-b5-geburtstag-100.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017); zur Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF aus dem Juni 2017 siehe Großes Vertrauen in öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Printmedien. ZDF-Umfrage: Glaubwürdigkeit öffentlich-rechtlicher Sender und Nachrichtensendungen wächst, ZDF vom 13. Juli 2017, verfügbar unter: https: /  / presseportal.zdf.de / pressemitteilung / mitteilung / grosses-ver trauen-in-oeffentlich-rechtlichen-rundfunk-und-printmedien /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 117  Studie zu Medien. Von Vertrauen und Zweifeln, Deutschlandfunk vom 2. Mai 2016, verfügbar unter: http: /  / www.deutschlandfunk.de / stu die-zu-medien-von-vertrauen-und-zweifeln.1818.de.html?dram:article_ id=353039 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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man so etwas vielleicht in einem Kommentar machen, aber auf keinen Fall in der Berichterstattung.118 Gibt es hier Abhilfemöglichkeiten? Es gibt Erhebungen zu den Einstellungen von Journalisten, die zeigen, dass diese z. B. hinsichtlich ihrer Kirchenzugehörigkeit recht präzise der Gesamtbevölkerung entsprechen, während ihre Parteipräferenzen doch erkennbar abweichen.119 Das aber eignet sich nicht als Ansatzpunkt für Verbesserungen. Dass es unter den Journalisten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk Quoten für Bewerber mit bestimmten politischen Grundüberzeugungen geben sollte, wird niemand ernsthaft fordern wollen. Vielmehr endet hier der Bereich dessen, was der Staat regeln kann. Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht im ZDF-Verfahren zu den in der mündlichen Verhandlung länger diskutierten „Freundeskreisen“ angemerkt, diese entzögen sich auf Grund ihres informellen Charakters weitgehend einer Regelung.120 Entsprechendes gilt für einzelne Journalisten: Dass sie politisch interessiert und engagiert sind, ist legitim, solange sie gleichwohl zu ausgewogener Berichterstattung willens und in der Lage sind. Im Übrigen sollte man in Betracht ziehen, dass hohe Zahlen an Skeptikern auch zustande kommen, wenn mehrere Lager 118  Moritz Schwarz, Interview. „Wenn der Dialog endet, können wir alle einpacken“, Junge Freiheit vom 23. März 2017, verfügbar unter: https: /  / jungefreiheit.de / debatte / interview / 2017 / wenn-der-dialog-endetkoennen-wir-alle-einpacken  /  (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). Aufsehen hatte i. Ü. erregt, dass sie der „Jungen Freiheit“ überhaupt ein Interview gegeben hatte. Siehe dazu „Wir müssen die Meinung des anderen aushalten können“, welt.de vom 23. März 2017, verfügbar unter: https: /  / www.welt.de / politik / deutschland / article1631186 77 / Wir-muessen-die-Meinung-des-anderen-aushalten-koennen.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 119  Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2013 standen 36,1 % der Journalisten – die Zahlen beziehen sich nicht allein auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk  – keiner Partei nahe, 26,9 % den Grünen, 15,5 % der SPD, 9,0 % der CDU / CSU und 7,4 % der FDP, Frank Pöpsel, Was Journalisten wählen, Focus Money vom 3. Juli 2013, S. 4. 120  BVerfGE 136, 9 (38).

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gleichermaßen unzufrieden sind, dass die jeweils anderen vermeintlich zu gut wegkommen. Um noch einmal den gerade zurückliegenden Wahlkampf zu bemühen: Wenn sich einerseits die AfD beklagt, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht hinreichend zu Wort gekommen zu sein, während zugleich die schon zuvor im Bundestag sitzenden Parteien monieren, der Einzug der AfD in den Bundestag sei durch übermäßige Behandlung ihrer Positionen herbeigeführt worden,121 so deutet das womöglich darauf hin, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Aufgabe ordnungsgemäß erfüllt hat. Zu Recht sind ARD und ZDF dem offenbar sogar durch Bundespräsident Steinmeier erhobenen Vorwurf, die AfD zu häufig in Talkshows eingeladen zu haben, mit den Hinweis entgegengetreten, Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sei es nicht, eine Partei groß oder klein zu machen, sondern über einen Wahlkampf zu berichten.122 Das bedeutet nicht, dass jedes Misstrauen gegen die Objektivität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verfehlt sein muss. Man sollte sich aber bewusst machen, dass wahrgenommene Staatsnähe nicht zwingend auf tatsächliche Staatsnähe schließen lässt. Gleichzeitig müssen die Anstalten und ihre Journalisten im Blick behalten, dass schon der bloße Verdacht der Staatsnähe die Axt an die Wurzeln des Systems öffentlich-rechtlicher Rundfunk legt – selbst soweit er sich nur aus „Einfallslosigkeit und Opportunismus“ speisen mag. Auch aus diesem Grund obliegt es den Anstalten und ihren Mitarbeitern, journalistische Qualitätsmaß121  Christoph Twickel, „Hart aber fair“ zum Wahlergebnis. Schlimmer Kater auf Jamaika, Spiegel online vom 26.  September 2017, verfügbar unter: http: /  / www.spiegel.de / kultur / tv / hart-aber-fair-zum-wahlergeb nis-schlimmer-kater-auf-jamaika-a-1169877.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 122  So der ARD-Chefredakteur Rainald Becker in den „Tagesthemen“ vom 26. September 2017, zitiert nach Medienkritik vom Bundespräsidenten. „Tabubrüche dürfen sich nicht auszahlen“, verfügbar unter: http: /  / www.spiegel.de / kultur / gesellschaft / frank-walter-steinmeier-kriti siert-medien-fuer-umgang-mit-protestparteien-a-1170225.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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stäbe ernst zu nehmen und zu leben, um als glaubwürdig und neutral wahrgenommen zu werden. Nur so erhalten sie sich die Akzeptanz, derer sie trotz ihrer Quotenunabhängigkeit auf Dauer bedürfen. VI. Schluss Der Staat ist und bleibt unverzichtbarer Garant des offenen Meinungsbildungsprozesses, den er auch und gerade durch die Gewährleistung eines inhaltlich vielfältigen und (daher auch) staatsfernen öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu gewährleisten hat. Zwar belegen unerfreuliche Beispiele nicht zuletzt aus der jüngsten Vergangenheit zur Genüge, dass vom Staat mehr als eine nur abstrakte Gefahr für den Meinungsbildungsprozess im Allgemeinen und den freien Rundfunk im Besonderen ausgeht. Indem man ihn zum Garanten der Freiheit macht, avanciert der zentrale Gefährder nicht staatsdominierter Meinungsbildung zu deren Beschützer: Der Meinungsbock wird zum Rundfunkgärtner. Aber anders geht es nicht. Im Übrigen hängt der Bock an der rundfunkgrundrechtlichen Leine der Staatsferne, die sich insgesamt als recht stabil erweist, auch wenn sie gelegentlich durch Verfassungsgerichte ein wenig nachgespannt werden muss. Den Rundfunkanstalten obliegt es, ihrerseits auf hinreichende Distanz zum Staat zu achten. Sie dürfen sich jedoch nicht damit begnügen, dass diese Distanz tatsächlich existiert. Vielmehr müssen sie schon den bösen Schein unzulässiger Nähe vermeiden. Die Doppelrolle als Garant und Gefährder des freiheitlichen Willensbildungsprozesses ist nicht beim Staat monopolisiert. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk droht durch Selbstdelegitimierung zum Gefährder der Freiheit zu avancieren.

Demokratische Willensbildung und Hoheitsträger. Grund und Grenzen öffentlicher Äußerungsbefugnisse von Repräsentanten des Staates Von Markus Möstl I.

Die Problematik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Zur gestiegenen Relevanz der Fragestellung  . . . . . . . . . . . . 49 2. Gründe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Das doppelte Dilemma gegenläufiger Verfassungsdirektiven  54 4. Derzeit offene und umstrittene Fragen  . . . . . . . . . . . . . . . . 55

II. Lösungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Zur Abgrenzung von amtlichen und parteipolitischen / privaten Äußerungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Zur Frage eines Eingriffs durch amtliche Äußerungen  . . . 63 3. Zur Frage einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung  . . . 67 4. Fragen der Schranken-Schranken (Gebot der Sachlichkeit und Verhältnismäßigkeit)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5. Fragen der wehrhaften Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 III. Schluss  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

I. Die Problematik 1. Zur gestiegenen Relevanz der Fragestellung Die Frage nach Grund und Grenzen öffentlicher Äußerungsbefugnisse von Amtsträgern in Bezug auf politisch unliebsame Parteien und Gruppierungen hat derzeit Hochkonjunktur vor deutschen Gerichten.1 Nach einer Phase relativer Ruhe im Ge1  Stefan Muckel, Neutralitätsgebot für Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung („Fall Schwesig“), zugleich Besprechung von BVerfG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – 2 BvE 2 / 14, JA 2015, S. 715 ff. (717).

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folge der ersten grundlegenden Klärungen durch das BVerfG in den 1970er Jahren – es ging damals um Wahlwerbung der Bundesregierung2 und um Verfassungsschutzberichte des Bundesinnenministeriums3  – ist das Thema mit Wucht auf die Bühne zurückgekehrt; die Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre haben wichtige Pflöcke eingeschlagen, die Problematik aber ganz offensichtlich noch nicht mit solcher Klarheit gelöst, dass nicht immer neue Fälle vor die Gerichte gebracht würden. Kurz vor der Entscheidung steht der am 24.  Mai 2017 vor dem BVerfG mündlich verhandelte Fall Wanka; 2015 hatte das Gericht der Bundesbildungsministerin per einstweiliger Anordnung verboten, der AfD auf der Homepage des Ministeriums „die rote Karte“ zu zeigen und ihr anlässlich einer geplanten Demonstration vorzuwerfen, Rechtsextremen, die offen Volksverhetzung betrieben, Unterstützung zu leisten.4 Vorangegangen waren zwei Grundsatzurteile des Jahres 2014: Dem Bundespräsidenten (seinerzeit Joachim Gauck) wurde auf Grund der diesem Amt immanenten besonderen Befugnis zu öffentlicher Äußerung im Rahmen seiner Aufgabe, im Sinne der Integration des Gemeinwesens zu wirken, gestattet, Rechtsradikale und Anhänger der NPD bei einer Gesprächsrunde mit Schülern als „Spinner“ zu bezeichnen.5 Das BVerfG weigerte sich indes, diese speziell für den Bundespräsidenten geltenden Maßstäbe auf Mitglieder der Bundesregierung zu übertragen, sondern betonte deren Pflicht zu parteipolitischer Neutralität, soweit sie bei ihrem Handeln die Autorität des Amtes und die damit verbundenen Ressourcen in spezifischer Weise in Anspruch nähmen; die in einem Zeitungsinterview anlässlich eines amtlichen Auftritts getätigte Äußerung der Bundesfamilienministerin Schwesig, sie werde im Wahlkampf mithelfen alles zu tun, dass die NPD nicht in den Thüringer Landtag kommt, konnte dennoch Bestand haben, weil ihr insoweit zugebilligt wurde, außerhalb ihrer amt2  BVerfGE

44, 125; später: 63, 230. 40, 287. 4  BVerfGE 140, 225 (e.A.), Urteil in der Hauptsache vom 27. Februar 2018 – 2 BvE 1 / 16. 5  BVerfGE 136, 323. 3  BVerfGE



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lichen Funktionen am politischen Meinungskampf teilgenommen zu haben.6 Die schwierige Abgrenzung von amtlichen und privaten Äußerungen hatte zuvor auch bereits den RhPfVerfGH beschäftigt;7 Ministerpräsidentin Dreyer hatte auf einer Parteiveranstaltung gesagt, der Wiedereinzug der NPD in einen Stadtrat müsse verhindert werden. Auch im Übrigen ist die Thematik häufig vor die Landesverfassungsgerichte gekommen: So wurde beispielsweise dem saarländischen Kultusminister gestattet, auf einer Veranstaltung zum Projekt „Schule ohne Rassismus“ im Kontext der NPD von „Mob“ und „brauner Brut“ zu reden.8 Mehrfach in die Parade fahren musste der ThürVerfGH hingegen der in Fragen der Warnung vor rechts offenbar besonders eifrigen, aus Linken, SPD und Grünen zusammengesetzten Thüringer Landesregierung.9 Hierbei ging es u. a. auch um ein Problem, das die Gerichte derzeit, ohne dass sich eine einheitliche Linie abzeichnet, besonders beschäftigt: die amtliche Aufforderung, sich nicht an einer von einer politisch missbilligten Partei oder Gruppierung organisierten Demonstration zu beteiligen bzw. stattdessen eine Gegendemonstration zu unterstützen. Die diesbezüglichen Fälle reichen vom „Licht-aus-Aufruf“ des Düsseldorfer Oberbürgermeisters (dieser hatte anlässlich einer Demonstration eines Ablegers der Pegida-Bewegung zu Gegendemonstrationen aufgefordert sowie angekündigt, die Beleuchtung öffentlicher Gebäude auszuschalten)10 bis hin zur 6  BVerfGE

138, 102. NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. 8  SaarlVerfGH, Urteil vom 8. Juli 2014 – Lv 5 / 14. 9  ThürVerfGH, NVwZ 2016, S. 1408  ff.; ThürVerfGH, Urteil vom 6.  Juli 2016  – 38 / 15; zuvor (Vorgängerkabinett): ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. 10  BVerwG vom 13. September 2017 – 10 C 6.16; OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff.; zuvor OVG NRW, NWVBl. 2015, S. 195 f. (Eilantrag); VG Düsseldorf, NWVBl. 2015, S. 201 f. Zur Problematik (mit unterschiedlichen Lösungen) siehe auch: ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff.; ThürVerfGH, Urteil vom 6.  Juli 2016  – 38 / 15; OVG BlBbg, Beschluss vom 14. September 2012 – 1 S 127.12; VGH Kassel, NVwZRR 2013, S. 815 f.; VG München, MMR 2016, S. 71 f.; VG Stuttgart, NVwZ-RR 2011, S. 615 f.; VG Gera, KommJur 2011, S. 138 ff. 7  RhPfVerfGH,

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(nicht vor Gericht gelangten) Aufforderung der Bundeskanz­ lerin im Rahmen ihrer Neujahrsansprache am 31.  Dezember 2014, nicht denen zu folgen, die zu solchen Demonstrationen aufriefen.11 2. Gründe Warum ist das Thema der Grenzen amtlicher Äußerungsbefugnisse gerade heute wieder so auf die Tagesordnung gerückt? Unterschwellig mag sicher ein geändertes Kommunikations- und Medienverhalten eine Rolle spielen: ging es in den 1970er Jahren noch um amtliche Schriftstücke, Broschüren und Faltblätter, stehen heute mündliche Äußerungen, Internetverlautbarungen und die Teilnahme an sozialen Medien im Vordergrund.12 In der Hauptsache – das zeigen die Eingangsbeispiele überdeutlich – ist jedoch ein ganz anderes Phänomen für das Wiederaufflammen der Kontroverse um Äußerungsbefugnisse von Amtsträgern verantwortlich: das verstärkte Aufkommen von populistischen und extremistischen Parteien und Strömungen, denen sich die etablierte Politik entgegenstellen möchte.13 Während zwischen den etablierten demokratischen Parteien im Großen und Ganzen Konsens zu bestehen scheint, wie man miteinander umgeht, auch soweit man sich in amtlicher Eigenschaft äußert, herrscht über die Frage, wie mit potentiell gefährlichen populistischen oder 11  Zitiert nach Christian Hillgruber, Die Meinungsfreiheit als Grundrecht der Demokratie. Der Schutz des demokratischen Resonanzbodens in der Rechtsprechung des BVerfG, JZ 2016, S. 495 ff. (499). Hiergegen wurde kein Rechtsschutz gesucht. 12  Vgl. Herbert Mandelartz, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Sache „Schwesig“, DÖV 2015, S. 326 ff. (326). 13  Vgl. Mehrdad Payandeh, Die Neutralitätspflicht staatlicher Amtsträger im öffentlichen Meinungskampf. Dogmatische Systembildung auf verfassungsrechtlich zweifelhafter Grundlage, Der Staat 55 (2016), S.  519 ff. (519); Julian Krüper, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 16. Dezember 2014 (2 BvE 2 / 14). Zu der Frage, inwieweit sich Mitglieder der Bundesregierung über andere politische Parteien äußern dürfen, JZ 2015, S. 414 ff.



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extremistischen Gruppierungen zu verfahren ist, grundsätzliche Unsicherheit. Ist auch diesen Gruppierungen gegenüber amtliche Neutralität und Zurückhaltung angebracht, oder ist hier nicht eine aktivere kommunikative Bekämpfung das Gebot der Stunde? Teile der Rechtsprechung und – mehr noch – der Literatur lassen dabei eine Tendenz erkennen, Amtsträgern – im Sinne der wehrhaften Demokratie und eines entschiedenen „Wehret den Anfängen“ – einen durchaus robusten Umgang mit politisch missbilligten Gruppierungen zu gestatten, Amtsträger im kommunikativen Kampf gegen solche Gruppen also ein Stück weit bewusst von der Leine zu lassen14 und das Leitbild der amtlichen Neutralität insoweit grundsätzlicher in Frage zu stellen,15 als man das früher getan hätte. Dies ist sicherlich gut gemeint. Zu bedenken ist freilich: Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die wir für Äußerungsbefugnisse von Amtsträgern aufstellen, dürfen nicht allein auf die heutige Interessenlage zugeschnitten sein, sondern hätten sich auch in einer Situation zu bewähren, in der – was derzeit gottlob nicht absehbar, aber immerhin denkbar ist – auch in Deutschland eine populistische oder extremistische Partei an die Macht käme, die für gewöhnlich nichts lieber tut, als ihr Amt für die Desavouierung des politischen Gegners zu missbrauchen.16 Und man merkt: Vielleicht ist allzu viel Großzügigkeit in den verfassungsrechtlichen Maßstäben doch bedenklich, vielleicht ist das Pochen auf amtliche Zurückhaltung doch von zeitloserer Gültigkeit, als es gerade heute erscheinen mag.

14  Vgl. Sebastian Roßner, BVerfG zu Äußerungen des Bundespräsidenten. An der langen Leine, Legal Tribune Online vom 10. Juni 2014, verfügbar unter: http: /  / www.lto.de / recht / hintergruende / h / bverfg-ur teil-2bve413-gauck-npd-aeusserungsbefugnisse-bundespraesident-chan cengleichheit-wahl /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 15  Z. B. Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 519 ff. 16  Vgl. (am Beispiel – demokratisch gewählter – populistischer Staatsführer der Gegenwart): Heribert Prantl, Demokratie. Wenn Politiker Kritiker fressen, Süddeutsche Zeitung vom 23. Juli 2017, verfügbar unter: http: /  / www.sueddeutsche.de / politik / demokratie-wenn-politikerkritiker-fressen-1.3597818 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).

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3. Das doppelte Dilemma gegenläufiger Verfassungsdirektiven Die rechtliche Schwierigkeit, Grund und Grenzen amtlicher Äußerungsbefugnisse von gewählten Repräsentanten des Staates angemessen zu bestimmen, manifestiert sich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Thematik in ein doppeltes Dilemma aus je gegensätzlichen und dennoch je für sich gültigen Verfassungsdirektiven eingespannt ist. Was zunächst den öffentlichen Meinungskampf im Allgemeinen anbelangt, gilt: Es ist nicht Aufgabe des Staates und seiner Repräsentanten, die öffentliche Meinungsbildung und den Wettbewerb der Parteien hoheitlich zu bewerten oder gar zu verzerren; ein freier und gleicher Wettbewerb der Parteien und Meinungen verlangt die prinzipielle parteipolitische und meinungsmäßige Neutralität des Staates.17 Es gilt aber auch: Der Auftrag des Art. 21 Abs. 1 GG an die Parteien, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, reicht bis in die Amtsführung der staatlichen Institutionen hinein; das Grundgesetz nimmt es grundsätzlich in Kauf, dass die gewählten Amtsträger politische Amtsträger sind; und es kann politischen Amtsträgern  – im Rahmen ihrer Kommunikationsaufgaben  – nicht etwa abverlangen, ein politisches Neutrum zu sein, das keine Meinungen haben dürfte und seine parteipolitische Vorprägung verleugnen müsste.18 Wie aber geht es zusammen, dass der Staat neutral zu sein hat und seine Repräsentanten dennoch kein politisches Neutrum sein müssen? Und was sodann speziell den Kampf gegen populistische oder extremistische Gruppierungen anbelangt, gilt: Das Grundgesetz konstituiert eine wehrhafte Demokratie, der es möglich sein muss, verfassungsfeindlichen Strömungen argumentativ entgegenzutreten.19 Es gilt aber auch: 17  Vgl. BVerfGE 138, 102 (109  ff.); Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 498; Tristan Barczak, Die parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern. Eine Gratwanderung zwischen Neutralitätsgebot und politischem Wettbewerb, NVwZ 2015, S. 1014 ff. (1014); differenzierend: Christoph Gusy, Neutralität staatlicher Öffentlichkeitsarbeit  – Voraussetzungen und Grenzen, NVwZ 2015, S. 700 ff. (700). 18  Vgl. Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 529 ff.; vgl. auch bereits Sondervotum Rottmann BVerfGE 44, 125 (181 ff.). 19  Vgl. BVerfGE 40, 287 (291 f.).



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Der freiheitliche Staat muss in der für ihn konstituierenden Sphäre der ständigen geistigen Auseinandersetzung auch Extreme aushalten können, und es kann nicht angehen, dass Meinungen, allein weil sie jenseits des politischen Mainstream liegen, hoheitlich tabuisiert oder amtlich diskreditiert werden.20 Wie weit also reicht das Mandat von Amtsträgern in der gleichermaßen freiheitlichen wie wehrhaften Demokratie, randständige Meinungen und Gruppierungen kritisieren zu dürfen? 4. Derzeit offene und umstrittene Fragen Angesichts des so umrissenen Befundes eines doppelten Dilemmas strukturell gegenläufiger Verfassungsdirektiven kann es nicht verwundern, dass über Grund und Grenzen der Äußerungsbefugnisse von gewählten Amtsträgern derzeit viel Unsicherheit herrscht. Folgende Streitpunkte stechen besonders hervor: – Zunächst ist ein grundsätzlicher Streit entbrannt, ob das vom BVerfG schon in den 1970er Jahren entwickelte und jüngst bekräftigte Ideal parteipolitischer Neutralität politischer Amtsträger21 in einer Parteiendemokratie eigentlich ein zulässiges Leitbild ist,22 ob gewählte Staatsorgane nicht vielmehr als legitime Mitakteure im (partei-)politischen Meinungskampf anzusehen sind, denen insoweit auch ein gewisser kommunikativer Aktions- und Reaktionsradius einzuräumen ist.23 – Sodann ist unsicher, inwieweit das vom BVerfG zu Parteien Entwickelte auch auf Fälle übertragbar ist, in denen nicht Par20  Vgl. das Plädoyer bei Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn.  11), S.  495 ff. 21  BVerfGE 44, 125 (138 ff.); besonders deutlich: BVerfGE 138, 102 (109 ff.). 22  Besonders deutlich bei Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn.  13), S.  529 ff. 23  Vgl. die Argumentation des Prozessvertreters im Fall Wanka, siehe Christian Rath, Darf die Bundesregierung das? Gegen die AfD polemisieren, taz vom 24.  Mai 2017, verfügbar unter: http:  /   /  www.taz.de  /  !5412582 /  (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017), der ein „Recht auf Gegenschlag“ einforderte.

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teien, sondern sonstige unliebsame Gruppierungen und deren Meinungen (z. B. Pegida) in Rede stehen, in denen es also nicht um Art. 21 GG, sondern um Grundrechte wie die Meinungsoder die Versammlungsfreiheit geht.24 Folgt auch aus diesen Grundrechten ein Ideal staatlicher Neutralität (i.  S.  v. Mei­ nungsneutralität)25 oder folgt aus ihnen im Gegenteil, dass man es als Grundrechtsträger hinzunehmen hat, dass (und sei es von Amtsträgern) auch gegenteilige Meinungen vertreten werden?26 Das OVG NRW hat diese Frage im Düsseldorfer „Licht-aus“Fall jedenfalls als in einem Maße offen angesehen, dass es sich nicht imstande sah, hier im Wege des Eilrechtsschutzes einzuschreiten.27 – Schwierig und streitig ist überdies die Abgrenzung von amtlicher und privater bzw. rein parteipolitischer Äußerung.28 In Literatur und Rechtsprechung werden dabei unterschiedliche Vermutungsregeln vertreten, teilweise wird gesagt, im Zweifel sei von einer amtlichen Äußerung auszugehen,29 teilweise wird im Gegenteil bekräftigt, im Zweifel liege eine private Äußerung vor.30 Das BVerfG hat sich nicht eindeutig festgelegt.31 24  Thies Wahnschaffe, Zur Neutralitätspflicht staatlicher Hoheitsträger gegenüber Organisationen ohne Parteienstatus, NVwZ 2016, S.  1767 ff. 25  Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 498. 26  Vgl. Klaus F. Gärditz, Unbedingte Neutralität? Zur Zulässigkeit amtlicher Aufrufe zu Gegendemonstrationen durch kommunale Wahlbeamte, NWVBl. 2015, S. 165 ff. (169 ff.). 27  OVG NRW, NWVBl. 2015, S. 195 f. 28  Dazu Stefan Studenroth, Wahlbeinflussung durch staatliche Funktionsträger. Zur Abgrenzung zwischen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit und privater Wahlwerbung in Äußerungen von Amtsträgern, AöR 125 (2000), S.  257 ff. 29  Christoph Gröpl / Stephanie Zembruski, Äußerungsbefugnisse oberster Staatsorgane und Amtsträger, Jura 2016, S. 268 ff. (274); Mandelartz, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (Fn. 12), S. 328. 30  RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff., Leitsatz 3; Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1016. 31  BVerfGE 138, 102 (117 ff.).



Demokratische Willensbildung und Hoheitsträger57

– Probleme bereitet sodann, was aus der in der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG eindeutig gezogenen Prämisse folgt, die Reichweite der Äußerungsbefugnisse sei für jedes Amt (je nach Funktion und verfassungsrechtlicher Stellung) eigenständig zu bestimmen.32 Ist es unter dieser Prämisse wirklich überzeugend, gerade dem Bundespräsidenten (diesem in gewisser Weise besonders neutralen Amt) weitreichende Äußerungsbefugnisse zuzubilligen, während die (naturgemäß politische) Bundesregierung stärkere Zurückhaltung zu üben hat?33 Was folgt aus der Kompetenzordnung; ist etwa ein Minister bei seinen Äußerungen an die Ressortaufgaben gebunden oder hat er ein allgemeinpolitisches Äußerungsrecht?34 Was gilt schließlich für kommunale Wahlbeamte, haben auch sie ein Äußerungsrecht35 und wenn ja, gilt dieses nur bei örtlichem Bezug oder auch allgemeinpolitisch?36 – Streitig sind des Weiteren Fragen der wehrhaften Demokratie: Sind die diesbezüglichen Schutzinstrumente des GG – z. B. die Grundrechtsverwirkung oder das Parteienverbot – Indiz dafür, 32  Ebd. 33  So die Konsequenz aus BVerfGE 136, 323 einerseits und BVerfGE 138, 102 andererseits. Kritisch z. B. Peter Madjarow, Äußerungsbefugnisse von Bundespräsident und Regierungsmitgliedern – Anmerkung zu BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2014 – 2 BvE 4 / 13 sowie Urteil vom 16. Dezember 2014 – 2 BvE 2 / 14, GreifRecht 2015, S. 59 ff. (61 f.); Steffen Tanneberger / Heinrich Nemeczek, Neutralitätsgebot für Mitglieder der Bundesregierung  – Fall Schwesig (Anmerkung), NVwZ 2015, S. 209 ff. (215). 34  Diese Frage scheint auch im Fall Wanka eine Rolle zu spielen, vgl. Jost Müller-Neuhof, Bildungsministerin gegen AfD. Wanka wegen Warnung vor AfD vor Bundesverfassungsgericht, Der Tagesspiegel vom 24.  Mai 2017, verfügbar unter: http: /  / www.tagesspiegel.de / politik / bil dungsministerin-gegen-afd-wanka-wegen-warnung-vor-afd-vor-bun desverfassungsgericht / 19850416.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). Vgl. auch Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1016 ff. 35  Dazu Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 168, insbesondere dazu, ob es richtig ist, auch deren politisches Amt am Leitbild des (zu stärkerer Neutralität verpflichteten) Berufsbeamten auszurichten. 36  Dazu z. B. BVerfG (K), NVwZ-RR 2014, S. 538 f.

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dass Verfassungsfeinden energisch entgegengetreten werden darf, oder folgt aus ihnen im Umkehrschluss, dass außerhalb dieser formalisierten Instrumente missliebige Gruppierungen gerade nicht leichtfertig als verfassungsfeindlich abgestempelt werden dürfen?37 Folgt aus der wehrhaften Demokratie wirklich ein Recht auf veritable Parteiergreifung gegen bestimmte Gruppierungen, die den zur Neutralität verpflichteten Organen der Staatsleitung ansonsten gerade verboten ist?38 Und vor allem: Gilt hier vielleicht – in Anlehnung an die Wunsiedel-Entscheidung des BVerfG39 – ein Sonderrecht gegen „rechts“, dürfen Rechtsradikale aufgrund der antinationalsozialistischen Stoßrichtung des GG also schärfer angegangen werden als Linksradikale? Manche haben das BVerfG (insb. in der „Spinner“-Entscheidung40) genau so verstanden,41 andere haben dies scharf kritisiert.42 – Hinter den bis hierher umrissenen Streitpunkten steht  – das kommt noch hinzu  – das weitaus grundsätzlichere Problem, dass sich Rechtsprechung und Lehre bereits seit langem mit der korrekten dogmatischen Erfassung von staatlichen Warnungen und sonstigem Informationshandeln schwertun.43 Die Entscheidungen „Glykol“ und „Osho“44 stehen symptomatisch für den noch immer nicht ausgestandenen Streit, wann solche amt37  Vgl. 38  Vgl.

ThürVerfGH, NVwZ 2016, S. 1408 ff., Rdnr. 79. ThürVerfGH, Urteil vom 6.  Juli 2016  – 38 / 15, unter II. 1. c)

am Ende. 39  BVerfGE 124, 300. 40  BVerfGE 136, 337 (Rdnr. 36). 41  Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1020; Hermann Butzer, Im Streit: Die Äußerungsbefugnisse des Bundespräsidenten, ZG 2015, S.  97 ff. (114 f.). 42  Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 798. 43  Vgl. Friedrich Schoch, Die Schwierigkeiten des BVerfG mit der Bewältigung staatlichen Informationshandelns, NVwZ 2011, S. 193 ff. 44  BVerfGE 105, 252; 105, 279; Jens Kersten, Realakte und Praxen, in: Bultmann / Grigoleit / Gusy / Kersten / Otto / Preschel (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht. Institute, Kontexte, System. Festschrift für Ulrich Battis zum 70. Geburtstag, 2014, S. 239 ff. (246 ff.).



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lichen Äußerungen als Grundrechtseingriff zu werten sind und inwieweit sie sich  – ohne Notwendigkeit gesetzlicher Regelung – auf eine verfassungsunmittelbare Rechtfertigung stützen können. Auch die Diskussion um politische Äußerungsrechte von Amtsträgern wird hierdurch belastet. – Dies zeigt sich, um einen letzten Punkt zu nennen, bereits in der Tatsache, dass die einschlägigen Gerichtsentscheidungen nicht einmal einen Konsens dazu erkennen lassen, in welchem aufbaumäßigen Prüfungsschema man das Problem politischer Äußerungsrechte von Amtsträgern sinnvollerweise abhandelt. Die BVerfG zeigt seit den Grundentscheidungen der 1970er Jahre eine gewisse Tendenz, die einschlägigen Maßstäbe gleichsam freischwebend und aufsatzmäßig, d. h. ohne klares Aufbauschema, aus den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie und des Art. 21 GG abzuleiten.45 Im Spinner-Entscheid zum Äußerungsrecht des Bundespräsidenten diente hingegen dessen verfassungsmäßige Amtsaufgabe als Ausgangspunkt der Überlegungen.46 Andere Wege geht hingegen z. B. der ThürVerfGH, der sich nämlich am klassischen Eingriffs-RechtfertigungsSchema orientiert, also zunächst fragt, ob überhaupt ein relevanter Eingriff in ein verfassungsmäßiges Recht gegeben ist, und sodann prüft, ob und wie dieser ggf. gerechtfertigt werden kann.47

II. Lösungen Welchen Ausweg gibt es nun aus diesen vielen Streitfragen und Unsicherheiten? Im Ausgangspunkt ist es vielleicht nützlich, sich vor Augen zu halten, dass bei einer Problematik, die so sehr in vielfältige divergierende Verfassungsaussagen eingespannt ist wie die hiesige, eher nicht damit gerechnet werden kann, dass diese mithilfe einer einfachen Großformel gelöst werden könnte. Das 45  BVerfGE

44, 125 (138 ff.); 138, 102 (109 ff). 136, 323 (331 ff). 47  So z.  B. ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295  f.; ThürVerfGH, NVwZ 2016, S. 1408 ff.; ThürVerfGH, Urteil vom 6. Juli 2016 – 38 / 15. 46  BVerfGE

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Thema der Äußerungsbefugnisse politischer Amtsträger ist und bleibt eine Gratwanderung48 zwischen gegenläufigen Prinzipien und Rechtspositionen, und so gesehen ist das berüchtigte „es kommt-darauf-an“ vielleicht die ehrlichere und auch richtigere Antwort als ein schneidiges Ja oder Nein. Überhaupt scheint mir die Diskussion um amtliche Äußerungsbefugnisse darunter zu leiden, dass sie zu häufig auf zu hoher Abstraktionshöhe und ohne klaren dogmatischen Halt geführt wird. Das Thema ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich mit solider dogmatischer Kleinarbeit – d. h., wo möglich, mit einem sauberen Abschichten der Probleme einerseits sowie, soweit nötig, mit transparenten Abwägungen andererseits – manchmal doch mehr erreichen lässt als mit abgehobenen Prinzipiendiskussionen, wie z. B. darüber, ob das Neutralitätsgebot nach dem grundgesetzlichen Bild der freiheitlichen Demokratie oder der Parteienstaatlichkeit als solches berechtigt ist oder nicht. In diesem Sinne soll im Folgenden ein notwendig dicht gedrängter Kurzdurchlauf durch die einzelnen (möglichst abzuschichtenden) Problemfelder beschritten und jeweils versucht werden, zu sicherlich nicht spektakulären, aber hoffentlich doch hilfreichen Lösungsansätzen zu kommen. Wenn es dabei gelingt, ein Stück weit zur Herausbildung einer differenzierten, stimmigen Fallgruppenbildung beizutragen sowie einige Entscheidungshilfen im Sinne flexibler Je-desto-Sätze zu entwickeln, die die Abwägung anleiten können, ist schon viel gewonnen. 1. Zur Abgrenzung von amtlichen und parteipolitischen / privaten Äußerungen An den Anfang49 jeglicher rechtlicher Beurteilung öffentlicher Äußerungen eines ein öffentliches Amt bekleidenden Politikers gehört nach hier vertretener Ansicht die Frage, ob dieser die 48  Vgl. den Untertitel („Eine Gratwanderung zwischen Neutralitätsgebot und politischem Wettbewerb“) bei Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1014; siehe auch Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 171 („Balanceakt“). 49  Das BVerfG behandelt diese Frage zum Schluss, BVerfGE 138, 102 (117 ff.).



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Äußerung in amtlicher Funktion, also als Repräsentant des Staates, oder aber privat bzw. als Repräsentant seiner Partei abgegeben hat. Diese Frage nämlich bestimmt über die grundlegende Weichenstellung, ob die Äußerung der Sphäre verfassungsrechtlicher Bindung oder aber grundrechtlicher Freiheit zuzurechnen ist.50 Zwar ist richtig, dass sich die Rollen des Amtsträgers und des Parteipolitikers, wie nun auch das BVerfG anerkennte, faktisch nicht immer ganz trennscharf unterscheiden lassen und dass auch der Bürger um diese Doppelrolle weiß.51 Falsch wäre indes, daraus, wie z. T. gefordert, den Schluss ziehen zu wollen, die Unterscheidung von Amtsträger und Parteipolitiker trage bereits von vornherein nicht und sei daher aufzugeben.52 Die Dichotomie von gesellschaftlicher Freiheit und staatlicher Bindung ist unserer Verfassungsordnung immanent, eine Unterscheidung ist daher  – bei allen Abgrenzungsschwierigkeiten  – rechtlich unausweichlich;53 sie ist auch möglich, da sie nicht eine einheitliche Person aufspaltet, sondern nur unterschiedliche Sprecherrollen identifiziert.54 Freilich mögen faktische Überschneidungen ein Indiz dafür sein, dass die zu treffende Unterscheidung im Ergebnis der Rechtsfolgen nicht zu einem plumpen Alles-oder-Nichts (hier volle Freiheit, dort strikte Neutralität) führen sollte, sondern dass  – auch innerhalb der Sphäre amtlicher Äußerungen  – Abstufungen angemessen erscheinen, die Amtsträgern nicht stets und in jedem Fall strikte Neutralität abverlangen, sondern auch einen Raum legitimer politischer Positionierung lassen. An der prinzipiellen Unterscheidung der Sphären führt dennoch kein Weg vorbei. Bleibt die Frage, wie die Abgrenzung zu treffen ist: Ausgangspunkt kann hierbei in Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 536. 138, 102 (118); anders noch BVerfGE 44, 125 (141); dazu auch Mandelartz, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (Fn. 12), S. 327. 52  Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 536; Max Putzer, Verfassungsrechtliche Grenzen der Äußerungsbefugnisse staatlicher Organe und Amtsträger, DÖV 2015, S. 417 ff. (423). 53  Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1015 f. 54  RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (667). 50  Vgl.

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zweideutigen Fällen sein, dass – wie wir das sonst auch bei doppelfunktionalen Lagen machen  – eine Schwerpunktbetrachtung vorzunehmen ist.55 Hilfreich ist sodann, dass sich  – wenn man den überragenden Wert freier Kommunikation sowohl für den Einzelnen (als Grundrechtsträger) als auch in ihrer konstituierenden Bedeutung für die demokratische Willensbildung in Rechnung stellt  – in der Tat eine Vermutungsregel56 dahingehend ergibt, dass im Zweifel von einer grundrechtsgeschützten nicht-amtlichen Äußerung ausgegangen werden sollte. Von hier aus ist es folgerichtig, bei der Frage, ob bei einer Äußerung eines Politikers „der Staat auftritt“, vor allem auf möglichst eindeutige formale Kriterien abzustellen57 (Publikationsort,58 organisatorischer Rahmen etc.); das BVerfG erfasst diesen Aspekt mit dem Kriterium, eine amtliche Äußerung liege bei einer spezifischen Inanspruchnahme von Ressourcen des Amtes vor.59 Vorsicht ist geboten, wenn – bei formal uneindeutigem Kontext (z. B. bei Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses wie Interviews, Talkrunden etc.60)  – allein aus inhaltlichen Aspekten auf die amtliche Funktion geschlossen werden soll. Dass jedenfalls die (auch in außerdienstlichen Kontexten zulässige) Führung der Amtsbezeichnung noch kein Indiz für amtliches Handeln ist, hat das BVerfG eindeutig klargestellt.61 Nicht aus55  Markus Möstl, in: ders. / Schwabenbauer (Hrsg.), BeckOK Polizeiund Sicherheitsrecht Bayern, Systematische und begriffliche Vorbemerkungen zum Polizeirecht in Deutschland, 5. Edition (Stand: 01.  Juli 2017), Rdnr. 90 m. w. N. Zu fragen ist also, ob die amtliche oder die parteipolitische Rolle im Vordergrund steht. 56  So zu Recht einige Landesverfassungsgerichte: RhPfVerfGH, ­NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (668); BayVerfGH, NVwZ-RR 1994, S. 529 ff. (533). 57  Studenroth, Wahlbeeinflussung (Fn. 28), S. 271  ff.; RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (667). 58  Vgl. z. B. ThürVerfGH, Urteil vom 6. Juli 2016 – 38 / 15 (Pressemitteilung / Medieninformation im Internet), Leitsatz 3 und ThürVerfGH, NVwZ 2016, S. 1408 ff., Leitsatz 2 (Facebook-Seite, Twitter-Account). 59  BVerfGE 138, 102 (118 f.). 60  Dazu BVerfGE 138, 102 (119 ff.). 61  BVerfGE 138, 102 (120).



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reichen kann es nach hier vertretener Ansicht auch, dass sich ein Politiker bei formal ambivalentem Kontext inhaltlich auf seine Amtstätigkeit bezieht und diese bewirbt, denn nähme man ihm diese Möglichkeit, würde dies die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb spürbar beeinträchtigen (so wie es Oppositionspolitikern ohne Weiteres erlaubt ist, die Regierung zu kritisieren, muss es Regierungsmitgliedern zumindest in nicht-amtlicher Eigenschaft möglich sein, für die Regierungspolitik zu werben).62 Nur soweit eine Äußerung, wie das BVerfG sagt, in spezifischer Weise amtliche Autorität in Anspruch nimmt63  – dies ist nach hier vertretener Ansicht z. B. der Fall, wenn der sich Äußernde, aus dem gleichberechtigten Meinungskampf heraustretend, sich eine Art hoheitliches, autoritatives Wert- bzw. Unwerturteil über andere Meinungen anmaßt64 oder wenn er seine Argumentation mit Kenntnissen belegt, die er nur als Amtsträger gewonnen haben kann65  –, kann allein aus dem Inhalt auf eine amtliche Funktion geschlossen werden. 2. Zur Frage eines Eingriffs durch amtliche Äußerungen Liegt nach dem Gesagten eine amtliche Äußerung vor, so sollte  – insoweit zum normalen Aufbauschema zurückkehrend 62  So zu Recht Studenroth, Wahlbeeinflussung (Fn. 28), S. 275 f.; der Politiker muss die private Natur seiner Werbung für die Regierungstätigkeit insoweit auch nicht erst durch künstliche Einschübe („das sage ich als Privatmann“) herstellen, a. A. Gröpl / Zembruski, Äußerungsbefugnisse (Fn. 29), S. 274. Missverständlich bzw. zu weitgehend nach hier vertretener Ansicht BVerfGE 138, 102 (118 f.): „Wenn ein Bundesminister bei einer Äußerung ausdrücklich auf sein Ministeramt Bezug nimmt oder die Äußerung ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben des von ihm geführten Ministeriums zum Gegenstand hat“. 63  BVerfGE 138, 102 (118 ff.); kritisch hierzu: Krüper, Anmerkung (Fn. 13), S. 416 f. 64  Vgl. Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 169. 65  Zu Letzterem: Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn.  17), S.  1016. ­Beispiele der Autoritätsanmaßung auch bei Janbernd Oebbecke, Amt­ liche Äußerungen im Bürgermeisterwahlkampf, NVwZ 2007, S. 30 ff. (31).

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und Sonderwege beendend66  – als nächstes geklärt werden, ob überhaupt ein Eingriff in ein verfassungsrechtliches Recht des durch die Äußerung Beschwerten gegeben ist. Diese Vorgehensweise bewahrt vor einem vorschnellen Abgleiten in abgehobene Prinzipiendebatten, obwohl vielleicht gar kein relevanter Eingriff vorliegt; auch stellt es die Neutralitätsfrage von vornherein auf eine solide dogmatische Grundlage, die vor allzu pauschalen Postulaten schützt. Häufig wird es so sein, dass das Recht konkurrierender Parteien aus Art. 21 GG, ggf. in Verbindung mit der Wahlrechtsgleichheit und dem Demokratieprinzip, in Rede steht. Für die Neutralitätsfrage folgt hieraus ein relativ eindeutiger Befund. Denn dass aus Art. 21 GG ein Recht auf Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb folgt, dem ein Gebot staatlicher Neutralität korrespondiert, ist allgemein anerkannt; berührt ist dieses Recht durch jede amtliche Äußerung, die in einer parteiergreifenden Weise zu Gunsten oder Lasten einer Partei in den Parteienwettbewerb einwirkt.67 Besonders streng wirkt dieses Recht im Wahlkampf, d. h. bei zeitlicher Nähe zum Wahlakt; weitgehend durchgesetzt hat sich indes, dass es  – ggf. in abgestufter Strenge68  – auch außerhalb der Wahlkampfzeiten, d.  h. für den politischen Meinungskampf und Wettbewerb im Allgemeinen, gilt.69 Wesentlich schwieriger wird es dagegen, wenn Äußerungen in Rede stehen, die keinen Parteienbezug aufweisen, sondern sonstige Meinungen und Gruppierungen betreffen. Hier nämlich ist keineswegs sicher, dass aus der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG im Ergebnis ähnlich strenge Neutralitätspostulate folgen wie aus Art. 21 GG,70 denn es ist in einem ersten Schritt schon fraglich, ob und ggf. wann 66  Siehe

oben Fn. 45–47. BVerfGE 138, 102 (109 ff.). 68  Vgl. RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (666 f.). 69  BVerfGE 140, 225 (227); ThürVerfGH, NVwZ 2016, S. 1408  ff., Leitsatz 1 sowie ThürVerfGH, Urteil vom 6.  Juli 2016  – 38 / 15; zum Meinungsstand: Wahnschaffe, Neutralitätspflicht (Fn. 24), S. 1768. 70  Eher weitreichend insoweit (trotz der auch dort vorgenommenen Differenzierungen) die Thesen bei: Wahnschaffe, Neutralitätspflicht (Fn. 24), S. 1767 ff.; Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 498 ff. 67  Zusammenfassend:



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überhaupt ein Grundrechtseingriff bejaht werden kann. Die Meinungsfreiheit ist ein Freiheits-, kein Gleichheitsrecht, das auf wettbewerbliche Verwirklichung im öffentlichen Meinungskampf hin angelegt ist. Es weist insoweit Ähnlichkeiten z. B. mit Art. 12 GG (Unternehmens- und Wettbewerbsfreiheit) auf. Zu diesem Grundrecht ist freilich anerkannt, dass es nicht vor Konkurrenz, auch nicht vor Konkurrenz der öffentlichen Hand schützt, und es ist sehr strittig, wann (als solche zulässige) wirtschaftliche Betätigung des Staates in einen den freien Wettbewerb verzerrenden Eingriff durch Konkurrenz umschlägt.71 Ähnliches wird man auch für die Meinungsfreiheit annehmen müssen. Auch hier gilt, dass das Grundrecht seinem Sinn nach nicht davor schützen kann, mit Kritik und abweichenden Meinungen konfrontiert zu werden,72 und sei es, dass es der Staat ist, der diese abweichende Meinung äußert, denn abweichende Meinungen sind Teil  jener ständigen geistigen Auseinan­ dersetzung,73 die das Grundrecht gewährleisten will und die daher auch jeder Grundrechtsträger hinzunehmen hat.74 Es ist daher weitgehend anerkannt, dass nicht jede Teilhabe am Prozess öffentlicher Meinungsbildung durch staatliche Stellen einen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellt;75 und für den Sonderfall religiöser Anschauungen hat das BVerfG explizit bekräftigt, dass die insoweit spezielle Religionsfreiheit deren Träger nicht in jedem Fall davor schütze, dass sich staatliche Stellen kritisch

71  Vgl. hierzu Rupert Scholz, in: Maunz  / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand: Dezember 2016, Art. 12 Rdnr. 412 ff. m. w. N. 72  Vgl. BVerfGE 128, 226 (266); Christoph Grabenwarter, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand: Dezember 2016, Art. 5 Abs. 1 Rdnr. 110. 73  Vgl. BVerfGE 40, 287 (293 f.). 74  Dietrich Murswiek, Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe. Zur Wirtschafts- und Meinungslenkung durch staatliches Informationshandeln, DVBl. 1997, S. 1021 ff. (1027 f.). 75  Dies konzediert auch Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 499 mit Verweis auf BVerfGE 113, 63 (76). Siehe auch Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 544.

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mit ihnen auseinandersetzen.76 Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet also keine Meinungsneutralität des Staates in dem Sinne, dass Amtsträger per se keine politische Meinung haben und äußern dürften. In einen Eingriff schlagen amtliche Äußerungen erst um, wenn sie in einer den freien Wettbewerb der Meinungen verzerrenden77 Weise intervenieren:78 Dies ist z. B. der Fall (formales Kriterium), wenn der Amtsträger Sondervorteile im Meinungskampf nutzt, also z. B. nicht nur überhaupt staatliche Ressourcen, sondern überlegene Ressourcen in Anspruch nimmt, die der Gegenseite nicht in vergleichbarer Weise zur Verfügung stehen,79 oder wenn er (inhaltliches Kriterium) für seine Meinung – über einen normalen gleichberechtigten Debattenbeitrag hinausgehend  – eine Art autoritativen Wahrheitsanspruch erhebt, d. h. in ein hoheitliches Wert- / Unwerturteil über andere Meinungen eintritt80 (hierzu gehört es auch, wenn anderen Meinungen wegen behaupteter Verfassungsfeindlichkeit die Legitimität abgesprochen wird, am demokratischen Meinungskampf teilzunehmen81) oder schließlich (Auffangtatbestand), wenn er andere Meinungen derart massiv kritisiert und abwertet, dass es die künftige Grundrechtsausübung zu behindern droht.82 Nur in diesem eingeschränkten Sinne – im Sinne eines prinzipiellen Verbots verzerrender und behindernder Einwirkung auf den Meinungskampf  – gewährleistet Art. 5 GG die Meinungs76  BVerfGE

105, 279 (294). auch die Kriterienbildung bei BVerfGE 105, 252 (266 ff.). 78  Zur „parteiergreifenden Einmischung“ bzw. „Intervention“ vgl. BVerfGE 105, 279 (294) und Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 499. 79  Zum Gedanken eines „lauteren Wettbewerbs“ im Kontext des Art. 12 GG: Scholz, in: Maunz / Dürig (Fn. 71), Art. 12 Rdnr. 412. 80  Zu diesem Kriterium: Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 169. 81  BVerfGE 113, 63 (75 f.); Grabenwarter, in: Maunz / Dürig (Fn. 72), Art. 5 Abs. 1 Rdnr. 102; Murswiek, Grundrechtseingriffe (Fn.  74), S.  1027 f. 82  Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 499; BVerfGE 113, 63 (76 f.). 77  Vgl.



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neutralität des Staates. Ähnliches dürfte für Art. 8 GG gelten, soweit versammlungsbezogene Äußerungen in Rede stehen. Nicht jede solche Äußerung – z. B. allgemeine Aufrufe zu Toleranz oder Kritik an bestimmten Inhalten – ist schon ein Grundrechtseingriff.83 Überschritten ist die Schwelle zum Eingriff jedoch bei amtlichen Boykottaufrufen, d. h. Appellen, einer Demonstration fernzubleiben bzw. Gegendemonstrationen zu unterstützen, oder auch bei symbolischen Unwertbekundungen wie der Ankündigung, während einer Demonstration das Licht auszuschalten.84 3. Zur Frage einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung Liegt nach dem Gesagten ein Eingriff in eine Rechtsposition vor, so folgt daraus noch nicht, dass der Eingriff verfassungswidrig sein müsste, vielmehr kommt eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Betracht. Zu suchen ist sie in den jeweiligen – verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlichen  – Amtsaufgaben des sich äußernden Amtsträgers,85 denn in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass zu diesen Amtsaufgaben auch die Befugnis zu entsprechender Amtskommunikation gehört:86 Für den Bundespräsidenten ist dabei auf dessen besondere Repräsentationsund Integrationsaufgabe abgestellt worden, der die Befugnis zu öffentlicher Äußerung immanent sei,87 für die Bundesregierung auf ihre Aufgabe der Staatsleitung, die auch die Befugnis zur

83  Vgl. Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn.  26), S. 170; OVG ­ lBbg, Beschluss vom 14. September 2012 – OVG 1 S 127.12, Rdnr. 8; B Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 545. 84  BVerfGE 140, 225 (228); OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff.; a. A. Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 545 f. 85  Nicht in Betracht kommt – im Bereich der amtlichen Sphäre – freilich eine grundrechtliche Rechtfertigung: vgl. ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. (298).; Gröpl / Zembruski, Äußerungsbefugnisse (Fn. 29), S. 270. 86  Zur annexartigen Natur der Kommunikationsaufgabe auch Gusy, Neutralität (Fn. 17), S. 701 f. 87  BVerfGE 136, 323 (332).

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Öffentlichkeitsarbeit einschließe,88 für kommunale Leitungsämter, wie insbesondere Bürgermeister, kann eine vergleichbare, letztlich schon im Grundgesetz89 vorausgesetzte und im Übrigen landesrechtlich näher ausgeformte, freilich aber auf den örtlichen Bereich beschränkte politische Leitungsverantwortung angenommen werden.90 Es ist allseits bekannt und soll hier nicht vertieft werden, dass die Ableitung dieser Äußerungsrechte (Verzicht auf gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen, Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis) in vielem umstritten ist;91 dass entsprechende Äußerungsrechte bestehen müssen, ist jedoch unstreitig; und in der Tat leuchtet ein, dass sich gerade der kommunikative Aspekt staatsleitenden Handelns kaum sinnvoll gesetzlich normieren lässt.92 Dem BVerfG ist auch darin Recht zu geben, dass es die Reichweite des einem Amtsträger zustehenden Äußerungsrechts nicht über einen Kamm scheren, sondern vom jeweiligen verfassungsrechtlichen Gepräge des Amtes abhängen lassen möchte;93 hierzu gehört auch, dass es dem Bundespräsidenten im Ergebnis geringere Neutralitätspflichten auferlegt als der Bundesregierung.94 Dieses auf den ersten Blick verblüffende Ergebnis rechtfertigt sich dadurch, dass es dem Bundespräsiden88  BVerfGE 138, 102 (113 f.); siehe dazu auch Frank Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Strukturen, Medien, Auftrag und Grenzen eines informalen Instruments der Staatsleitung, 1992. 89  Art. 28 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 GG. 90  OVG NRW, Beschluss vom 18.  Mai 2017  – 15 B 97  / 17 Rdnr. 7; OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff. (132). Ausführlich auch Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 167 ff., auch dazu, dass kommunale Wahlbeamte, was Neutralitätspflichten im Meinungskampf anbelangt, nicht mit Berufsbeamten gleichgesetzt werden dürfen. 91  Vgl. Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1018 m. w. N. 92  BVerfGE 105, 279 (304 f.). Anderes gilt für behördliche Informa­ tionstätigkeit, z. B. amtliche Warnungen, im Rahmen gewöhnlicher Verwaltungsaufgaben, wo Befugnisnormen inzwischen üblich geworden sind (z. B. § 40 LFGB), dazu Markus Möstl, Hoheitliche Verbraucher­ informationen  – Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, LMuR 2015, S.  185 ff. 93  BVerfGE 138, 102 (111 f.). 94  Siehe bereits oben Fn. 33.



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ten (anders als Mitgliedern der Bundesregierung) nicht möglich ist, die Rolle zu wechseln und (mit vollem Grundrechtsschutz) als Parteipolitiker zu reden; entsprechend größer müssen die Spielräume sein, die man seinem Amt zubilligt.95 Hochproblematisch ist hingegen, dass das BVerfG, wenn es über die Reichweite amtlicher Äußerungsrechte und Neutralitätspflichten spricht, nicht offenlegt, ob es diese Diskussion auf der Ebene der Schranken oder der Schranken-Schranken führt. Nach hier vertretener Ansicht kann die Frage, wie weit Äußerungsrechte und Neutralitätspflichten letztlich reichen, nur das Ergebnis einer Abwägung zwischen Amtsaufgabe und beeinträchtigtem Recht sein; nichts zu tun hat diese Frage indes mit dem von uns momentan zu behandelnden Prüfungspunkt, ob überhaupt ein rechtfertigender Grund für die Äußerung ersichtlich ist; z. B. ein (durchaus doppeldeutiger) Satz wie derjenige des BVerfG, die zulässige Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung ende dort, wo die Wahlwerbung beginne,96 betrifft demnach richtigerweise nicht die Frage, ob sich die Bundesregierung bei ihrer Äußerung überhaupt auf einen rechtfertigenden Grund stützen kann, sondern die Frage, wie weit dieser rechtfertigende Grund in der Abwägung mit dem beeinträchtigten Recht trägt. Zu bedenken ist dabei, dass Staatskommunikation in der Demokratie und innerhalb eines freiheitlichen Diskurses gar nicht anders kann, als Position zu beziehen.97 Zu Recht hat gerade die neue Literatur immer wieder darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz die gewählten Leitungsämter des Staates als politische, ja parteipolitische Ämter versteht, denen im Rahmen der ihnen aufgetragenen Kommunikation mit der politischen Öffentlichkeit nicht abverlangt werden kann, ihre Meinung oder ihre parteipolitische Einbindung zu verleugnen und in diesem Sinne ein politisches Neutrum zu sein98 (für die Sphäre der rein geistigen Auseinandersetzung im Rahmen des öffentlichen politischen Diskurses Butzer, Äußerungsbefugnisse (Fn. 41), S. 99 ff. 63, 230 (243); 138, 102 (115). 97  Gusy, Neutralität (Fn. 17), S. 701 f. 98  Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 529 ff.; Madjarow, Äußerungsbefugnisse (Fn. 33), S. 62; siehe auch OVG NRW, DVBl. 2017, 95  Vgl.

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kann in einer Parteiendemokratie insoweit nicht das gleiche gelten wie für die – freilich in voller Neutralität zu erfüllende – Erledigung von Verwaltungsaufgaben99). Das Grundgesetz selbst normiert Situationen, z. B. das Rederecht der Regierung im Parlament, in denen völlig eindeutig ist, dass sich die Regierung parteiisch äußern darf.100 Neutralität kann daher, wie zu Recht gesagt wurde, nicht Grund und Vorbedingung, sondern nur Grenze des rechtfertigenden Äußerungsrechts sein.101 Auf das seinem Amt immanente Äußerungsrecht kann sich ein Amtsträger (freilich vorbehaltlich der noch zu treffenden Abwägung) daher auch berufen, soweit er sich parteiisch äußert. Auch durch die Kompetenzordnung erfährt er dabei nach hier vertretener Ansicht zumeist keine ins Gewicht fallenden Einschränkungen. Zwar ist es nicht falsch, wenn gesagt wird, bei der Wahrnehmung des Äußerungsrechts seien Amtsträger an die Kompetenz­ ordnung gebunden.102 Nur: Was folgt daraus? Haben nicht die politischen Leitungsämter des Staates (für auf den örtlichen Bereich beschränkte Kommunalpolitiker mag insoweit anderes gelten103), was die Sphäre des geistigen Meinungskampfes anbeS. 131 ff. (134) („kein politisches Neutrum“); früher bereits Sondervotum Rottmann BVerfGE 44, 125 (181 ff.). 99  So zu Recht Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 167: „rein politische Äußerungen im Meinungskampf“, S. 168: „fällt nicht in den Bereich strikt verrechtlichter Verwaltungsaufgaben, sondern in das Aufgabenspektrum originär politischer Funktionen“. Die Unterscheidung von politischen Funktionen und Verwaltungsaufgaben trägt nach hier vertretener Ansicht mehr als die Abgrenzung nach dem Grad rechtlicher Determiniertheit (denn auch in der gesetzesfreien Verwaltung müssten Amtsträger neutral handeln), vgl. dazu Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 530 f. 100  Vgl. z. B. Hans H. Klein, in: Maunz  / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand: Dezember 2016, Art. 43 Rdnr. 148: „unbeschränkbares Recht der Regierung, ihren Standpunkt im Parlament darzulegen und zu verteidigen“. 101  Gusy, Neutralität (Fn. 17), S. 702. 102  BVerfGE 105, 279 (305  f.), Rdnr. 83; BVerfG (K), NVwZ-RR 2014, S. 538 f. (539); auf Kompetenzfragen stellt auch ab: BVerfGE 140, 225 (227 f.). Siehe auch Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1016 f.



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langt, allesamt auch ein allgemeinpolitisches Mandat, 103das den engeren amtsspezifischen Zuständigkeitsbereich überschreitet? Kann sich beispielsweise ein Bundesminister im Rahmen einer Pressekonferenz realistischerweise darauf beschränken, allein zu seinen Ressortkompetenzen und nicht auch zu Fragen von allgemeinpolitischem Interesse Stellung zu nehmen?104 Und sind nicht die Willensbildungsprozesse in unserem Bundesstaat so unauflöslich miteinander verflochten, dass es etwas eng erscheint, wenn gesagt würde, Bundespolitiker dürften (als Amtsträger) nicht in die Willensbildung der Länder eingreifen und umgekehrt?105 Wohl gemerkt: Ich schließe nicht aus, dass die Frage, wie nah eine politische Äußerung thematisch auf spezifische Amtsaufgaben bezogen ist, für die zulässige Reichweite der Äußerung durchaus relevant sein kann (als Abwägungsposten nämlich, siehe sogleich), ich halte es nur für sehr unwahrscheinlich, dass allgemeinpolitische Äußerungen von Repräsentanten des Staates jemals bereits aus kompetenziellen Gründen ganz aus dem rechtfertigenden Grund kommunikativer Äußerungsrechte herausfallen. 4. Fragen der Schranken-Schranken (Gebot der Sachlichkeit und Verhältnismäßigkeit) Das soeben Gesagte könnte leicht dahin missverstanden werden, als ginge es mir darum, die Anforderungen an die Neutralität amtlicher Äußerungen generell herunterzuschrauben. Das ist 103  BVerfG (K), NVwZ-RR 2014, S. 538 f. (539); (VG Stuttgart, NVwZ-RR 2011, S. 615 f. Zu Recht betont aber das OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff., Leitsatz 1, dass der Bürgermeister das Recht hat, sich, soweit Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft betroffen sind, grundsätzlich zu allen politischen Themen zu äußern (auch insoweit kommt ein Stück  – örtlich radizierter  – politischer Staatsleitung zum Tragen). Vgl. auch Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 170. 104  A. A. wohl Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1017. 105  In diese Richtung aber BVerfGE 44, 125 (149); RhPfVerfGH, NVwZ 2007, S. 200 ff. (202), allerdings in Bezug auf ein parteiergreifendes Agieren im Wahlkampf, das schon aus allgemeinen und nicht aus Kompetenzgründen unzulässig wäre.

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nicht der Fall. Denn dass sich ein Amtsträger auf ein seinem Amt immanentes Äußerungsrecht berufen kann, heißt ja noch nicht, dass jede Äußerung zulässig ist. Vielmehr sind nun  – auf der Ebene der Schranken-Schranken  – die verfassungsrechtlichen Grenzen solcher Äußerungsrechte zu betrachten. Als solche sind vor allem das Gebot der Sachlichkeit und der Verhältnismäßigkeit anerkannt.106 Ihre Einhaltung stellt sicher, dass sich amtliche Äußerungen, auch soweit sie von einem Äußerungsrecht gedeckt sind, nach Stil und Inhalt von Äußerungen unterscheiden müssen, die nach grundrechtlichen Maßstäben (also z. B. bei rein parteipolitischer oder privater Äußerung) zulässig wären. Namentlich das Sachlichkeitsgebot, welches erfordert, dass Meinungsäußerungen auf einem zutreffenden Tatsachenkern und nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen und auch ansonsten nicht über den sachlich gebotenen Rahmen hinausgehen107, erzwingt ein Maß an Zurückhaltung, das einen deutlichen Abstand wahrt zu denjenigen (großzügigeren) Grenzen (z. B. Verbot der Schmähkritik), auf die sich Grundrechtsträger berufen können.108 Das Verhältnismäßigkeitsgebot wiederum verlangt eine Abwägung zwischen dem Gewicht der Amtsaufgabe und des verfolgten Äußerungsinteresses auf der einen und dem beeinträchtigten Recht auf der anderen Seite.109 Es bietet die Chance zu einer differenzierten Fallgruppenbildung, die einerseits in den bislang gerichtlich entschiedenen Fällen im Ergebnis zu keineswegs abgeschwächten Neutralitätsanforderungen führen muss, andererseits in vielen bislang nicht entschiedenen und dennoch 106  OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff. (134 ff.); Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 170. 107  OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff. (134); Thomas Wierny, Ab­ tauchen im Meinungskampf! Zur Grenze der Sachlichkeit bei der Äu­ ßerung von Gemeindeorganen im Rahmen von Bürgerentscheiden, ­JuWissBlog vom 30.  März 2017, verfügbar unter: https: /  / www.juwiss. de / 37-2017 /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 108  Mit dem bloßen Transferieren dieser äußersten Grenzen in den staatsrechtlichen Bereich ist es nach hier vertretenen Ansicht nicht getan, dazu Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1018. 109  OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff. (134).



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täglicher Praxis entsprechenden Fällen eine realistischere Problem­erfassung ermöglicht, als es die Rede von einem Neutralitätsgebot, das gleichsam a priori besteht und nicht erst das Ergebnis einer Abwägung ist, erlauben würde. Vor allem aber gestattet es, praktikable Je-desto-Regeln zu entwickeln, die die Abwägung anleiten können und die komplexe Wirklichkeit besser erfassen als die Suche nach einem pauschalen Ja oder Nein.110 Auf derartige Je-desto-Vermutungsregeln sollte stärker Bedacht genommen werden, als dies in der bisherigen Diskussion der Fall war. Als solche kommen beispielsweise (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) in Betracht: – Je stärker eine amtliche Äußerung auf Parteien in einer konkreten Wahlkampfsituation Bezug nimmt und insoweit in den Parteienwettbewerb vor Wahlen eingreift, umso höher sind die Neutralitätspflichten; je weniger das umgekehrt der Fall ist und je mehr (parteien- und / oder wahlunabhängig) bestimmte Sach­ themen im Vordergrund stehen, desto geringer sind die Neutralitätspflichten.111 Der BVerfG-Leitsatz, die zulässige Öffentlichkeitsarbeit ende dort, wo die Wahlwerbung beginne,112 kann insoweit durchaus Bestand haben; außerhalb derartiger Wahlwerbung ist der Spielraum für sachliche Parteinahme jedoch größer. – Je mehr eine Äußerung sodann allein die politische Sphäre der rein geistigen Auseinandersetzung betrifft, desto größer sind die Spielräume; je mehr umgekehrt zugleich echte Verwaltungsaufgaben betroffen sind (z. B. weil die vor einer Demonstration warnende Kommune zugleich Versammlungsbehörde ist113

110  Vgl. das Resümee bei Gusy, Neutralität (Fn. 17), S. 704 (sowie zuvor 703). 111  So zu Recht Gusy, Neutralität (Fn. 17), S. 703; zur zeitlichen Nähe zum Wahltermin siehe auch Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn. 17), S. 1019. 112  Siehe Fn. 96. 113  Zu dieser Konstellation z. B. HessVGH, NVwZ-RR 2013, S. 815 f.; OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131 ff. (134); Payandeh, Neutralitätspflicht (Fn. 13), S. 530 f.

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oder weil sie  – Bsp. Licht-aus-Aufruf  – vorhat, kommunale Einrichtungen für politische Symbolsetzung zu entfremden114), desto höher sind die Neutralitätsanforderungen. – Je mehr die Äußerung in einem Kontext von Frage und Antwort, von Rede und Gegenrede provoziert wird, desto größer sind die Spielräume; je mehr sie umgekehrt als einseitige hoheitliche Verlautbarung daherkommt, desto größer die Neutralitätspflicht.115 In ähnlicher Weise kann gesagt werden, dass die Neutralitätspflichten steigen, je mehr die Äußerung dem Empfänger aufgedrängt und von ihm nicht freiwillig aufgesucht wird.116 – Je mehr eine amtliche Äußerung von einer spezifischen Amtsaufgabe getragen ist (z. B. die Verfassungsschutzberichte des Innenministers117, eine vom Erziehungsauftrag gedeckte Äußerung eines Kultusministers118 oder der Gegendemonstrationsaufruf eines Bürgermeisters, dem es nicht nur um allgemeine politische Unmutsäußerungen geht, sondern dessen Ort in spezifischer Weise von extremistischen Demonstrationen betroffen ist119), d. h. je weniger sie nur allgemeinpolitisch motiviert ist, umso tiefergehende Eingriffe können zulässig sein. – Schließlich: Je schwerwiegender Äußerungen in den Wett­ bewerb der Parteien und Meinungen eingreifen und diesen verzerren (indem überlegene amtliche Ressourcen und sonstige Sondervorteile genutzt oder für die eigene Meinung eine Art

114  OVG NRW, DVBl. 2017, S. 131  ff. (134); Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 171. 115  Vgl. Tanneberger / Nemeczek, Anmerkung (Fn. 33), S. 216 zum Leitbild Parlamentsdebatte, für die das Neutralitätspostulat nicht passt. 116  So Mandelartz, DÖV 2009, S. 509 ff. (517). 117  Dazu schon BVerfGE 40, 287. 118  SaarlVerfGH vom 8. Juli 2014 – Lv 5 / 14. 119  Beispiel Wunsiedel, das jahrelang Schauplatz von Versammlungen war, die den Nationalsozialismus verherrlichten (vgl. zuletzt BVerfGE 124, 300). Im Fall Düsseldorf (BVerwG vom 13. September 2017 – 10 C 6.16) war ein solch spezifischer Ortsbezug dagegen nicht erkennbar.



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autoritativer Wahrheitsanspruch erhoben wird), desto gewichtiger müssen die den Eingriff rechtfertigenden Zwecke sein.120

5. Fragen der wehrhaften Demokratie Alle bisherigen Punkte betrafen die Frage, welche politischen Äußerungsrechte im Allgemeinen bestehen. Es bleibt die  – derzeit besonders virulente – Problematik, ob Amtsträger gesteigerte Äußerungsrechte haben, soweit speziell eine als verfassungsfeindlich erachtete Partei, Gruppierung oder Meinung in Rede steht. Die Rechtsprechung hat diesbezüglich in der Tat einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsgrund anerkannt, der die kritische Betrachtung und politische Bekämpfung solcher Gruppierungen zu legitimieren vermag: die verfassungsrechtliche Pflicht der Staatsorgane zum Schutz der freiheitlichdemokratischen Grundordnung als Ausprägung der wehrhaften Demokratie.121 Den ausdrücklich im GG normierten Schutzinstrumenten (z.  B. Parteiverbot, Finanzierungsausschlussverfahren122, Grundrechtsverwirkung) hat das BVerfG dabei keine Sperrwirkung gegenüber einer in der Sphäre rein geistiger Auseinandersetzung verbleibenden politischen Bekämpfung beigemessen (anderes gilt für administrative Entscheidungen und ein rechtliches Geltendmachen der Verfassungsfeindlichkeit).123 Und auch, was die inhaltlichen Maßstäbe zulässiger Kritik anbelangt, ist es – allerdings in speziellen Kontexten (VerfassungsschutzbeTanneberger / Nemeczek, Anmerkung (Fn. 33), S. 216. BVerfGE 40, 287, aus neuerer Zeit: BVerfGE, 133, 100; 138, 102 (116); als eigenständiger/zusätzlicher Rechtfertigungsgrund geprüft wird die wehrhafte Demokratie auch von ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. (299); RhPfVerfGH, NVwZ 2008, S. 897 ff. (898 f.). 122  Art. 21 Abs. 2 bzw. 3 i. V. m. Abs. 4 GG n. F.; Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 21) vom 13.  Juli 2017, BGBl. I 2017, S. 2346. 123  BVerfGE, 133, 100; BVerfG, NJW 2017, S. 611 ff.; zur Problematik auch Michael Kloepfer, Über erlaubte, unerwünschte und verbotene Parteien, NJW 2016, S. 3003 ff. 120  Vgl. 121  Seit

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richt; Diskussion um Verbotsverfahren) – bislang großzügig gewesen, wenn es sagt, die Befassung mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen werde erst unzulässig, wenn sie auf sachfremden Erwägungen beruhe und damit die Chancengleichheit willkürlich beeinträchtige, oder wenn es ausdrücklich gestattet, eine nicht verbotene Partei in der Öffentlichkeit einer verfassungswidrigen Zielsetzung zu verdächtigen, es sei denn, ein solches Vorgehen wäre bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich, so dass sich der Schluss aufdrängt, dass es auf sachfremden Erwägungen beruht.124 In die Hand gegeben ist der Politik damit ein durchaus bemerkenswertes kommunikatives Kampfinstrument, das – man muss es offen sagen – die sonst gültige Chancengleichheit der Parteien ein Stück weit verdrängt. Es gestattet Demokraten (auch als Amtsträgern) gegenüber Verfassungsfeinden etwas, was umgekehrt verfassungsfeindlichen Amtsträgern (kämen sie je an die Macht) gegenüber Demokraten nicht erlaubt wäre; die Verfassung kann insoweit mit Fug und Recht als parteilich bezeichnet werden.125 Zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist Amtsträgern also tendenziell mehr gestattet, als es das sonst auf der Basis ihres allgemeinen Äußerungsrechts wäre;126 insbesondere können sie u. U. auch zu einseitigen und mit autoritativem Wahrheitsanspruch daherkommenden Unwerturteilen berechtigt sein, wo ansonsten die Neutralität zu beachten wäre. Dass die so umrissene  – durchaus schlagkräftige  – Befugnis attraktiv und daher auch missbrauchsanfällig ist, liegt auf der Hand. Das scharfe Schwert der Warnung vor Verfassungsfeinden kann leicht abstumpfen, wenn es inflationär gebraucht wird. Das 124  Zusammenfassung der Maßstäbe bei BVerfGE 138, 102 (116) mit Verweis auf BVerfGE 40, 287 (293) und BVerfGE 133, 100 (107 f.). 125  So zu Recht Gärditz, Unbedingte Neutralität? (Fn. 26), S. 169. 126  Fragwürdig insoweit (da keine weitergehenden Rechte einräumen wollend) ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. (299); ThürVerfGH, Urteil vom 6. Juli 2016 – 38 / 15, zitiert nach juris, Rdnr. 48.



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Prinzip der wehrhaften Demokratie darf, wie der ThürVerfGH sagte, nicht „als pauschale, unspezifische Eingriffsermächtigung missverstanden“ werden.127 Es darf auch nicht zu einem Kampfinstrument der Mehrheit werden, mithilfe dessen alles Missliebige, was jenseits des Mainstream liegt, leichthin dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit ausgesetzt wird; die derzeitige Debattenkultur zeigt Verengungstendenzen, denen das Verfassungsrecht, welches im Gegenteil die Offenheit des politischen Meinungsbildungsprozesses zu gewährleisten hat, nicht Vorschub leisten darf.128 Die verfassungsrechtlichen Grenzen des Rechtfertigungsgrundes „wehrhafte Demokratie“ verdienen so gesehen, intensiver diskutiert zu werden, als dies bislang der Fall ist. Drei Punkte seien an dieser Stelle herausgegriffen: Erstens die Kompetenzfrage: Die bisher vom BVerfG entschiedenen Fälle betrafen Beispiele relativ klarer Zuständigkeit (Verfassungsschutzaufgaben des Innenministers; Einleitungskompetenz für Verbotsverfahren).129 Hieraus wird man nicht den Umkehrschluss bilden können, anderen Staatsorganen sei die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund von vornherein versagt; zu Recht wird gesagt, der Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung obliege allen Staatsorganen;130 er ist Teil ihres allgemeinpolitischen Mandats. Dennoch sind Kompetenzfragen nicht ohne Belang.131 Denn wie bereits ausgeführt wurde, kann das Gewicht des rechtfertigenden Grundes in der Abwägung umso stärker zu Buche schlagen, je mehr eine spezifische Zuständigkeit und nicht nur das allgemeinpolitische Mandat betroffen ist. Ob Ministern ohne spezifische Zuständigkeit (z. B. der Bundesbildungsministerin132) im Ergebnis tatsächlich einsei127  ThürVerfGH,

NVwZ 2016, S. 1408 ff. (1412). die Sorge bei Hillgruber, Meinungsfreiheit (Fn. 11), S. 497. 129  BVerfGE 40, 283; BVerfG, NVwZ 2013, S. 568 ff. 130  ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. (299) m. w. N. 131  Von Bedeutung ist auch die Beschränkung kommunaler Organe auf örtliche Angelegenheiten, vgl. BVerfG, NVwZ-RR 2014, S. 538 f.; OVG Saarland, KommJur 2014, S. 173 ff. 132  Zum Fall Wanka siehe oben Fn. 4; vgl. auch ThürVerfGH, Thür­ VBl. 2015, S. 295 ff. (Sozialminister). 128  Vgl.

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tig-hoheitliche Unwerturteile über andere Parteien (z. B. auf der Homepage des Ministeriums) erlaubt sein sollen, kann schon aus diesem Grund bezweifelt werden (für spontane Reaktionen in Situationen von Frage / Antwort, Rede / Gegenrede mag anderes gelten). Hinzu kommt zweitens das Gebot der Sachlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Es steht leichtfertigen, nicht hinreichend tatsachengestützten Qualifizierungen als verfassungsfeindlich entgegen. Die Feststellung verfassungsfeindlicher Gesinnung ist (vom Sonderfall NPD, bei der sie bereits vorliegt,133 abgesehen) eine anspruchsvolle Aufgabe; zwar gilt für politische Äußerungen sicher nicht der gleiche Sorgfaltsmaßstab wie etwa für das Verbotsverfahren; je nach Kontext und Gewicht des Vorwurfs (vom formalisierten Verfassungsschutzbericht bis zur spontanen Äußerung) werden abgestufte Anforderungen gelten; ein zutreffender Tatsachenkern kann aber stets verlangt werden; sachfremde Überlegungen sind verboten.134 Man wird angesichts der Gefahr eines inflationären Einsatzes zu überlegen haben, ob manche Kriterien des BVerfG (wonach die Grenze erst bei Willkür oder einem Nicht-mehr-verständlich-Sein des Vorgehens überschritten ist) wirklich streng genug sind. Auch das Verhältnismäßigkeitsgebot verdient stärkere Beachtung; neben dem Maß der Eindeutigkeit verfassungsmäßiger Gesinnung kann hier auch die Gefährlichkeit und Wirkmächtigkeit der betroffenen Gruppierung einfließen.135 Als Faustregel lässt sich sagen: Je eindeutiger verfassungsfeindlich eine Gruppierung und je potentiell gefähr­ licher, desto kritischer kann die Stellungnahme ausfallen; je weniger das der Fall ist, desto mehr Zurückhaltung ist zu üben. Ein letzter Punkt betrifft die Frage des Sonderrechts gegen „rechts“. Schon nach dem Gesagten liegt auf der Hand, dass 133  BVerfG, NJW 2017, S. 611 ff.; zu den Voraussetzungen einer Feststellung verfassungsfeindlicher Gesinnung dort Rdnr. 529 ff. 134  Siehe oben Fn. 107. 135  Vgl. dazu im Kontext des Parteiverbotsverfahrens auch BVerfG, NJW 2017, S. 611 ff., Rdnr. 570 ff.



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nach allgemeinen Sachlichkeitskriterien etwa die Bezeichnung von NPD-Anhängern als „Spinner“ problematisch erscheinen muss. Dass das BVerfG diese Äußerung dem Bundespräsidenten dennoch durchgehen ließ136 und dabei auch die WunsiedelEntscheidung137 in Bezug nahm, ist weithin so gedeutet worden, dass dies nur im Blick auf die besondere antinationalsozialistische Stoßrichtung des GG verständlich sei, so dass also eine vergleichbare Aussage zwar gegenüber der NPD tolerierbar war, nicht aber z. B. gegenüber linksradikalen Gruppierungen in Betracht käme.138 Kann das richtig sein? Ich habe Zweifel: Im Wunsiedel-Beschluss ging es um eine singuläre, aber als unerlässlich erachtete Abweichung vom Erfordernis des allgemeinen Gesetzes nach Art. 5 Abs. 2 GG. Hierum indes geht es hier gerade nicht, da wir uns ohnehin nicht im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 GG bewegen, sondern von vornherein einen anderen  – verfassungsunmittelbaren – Rechtfertigungsgrund (die wehrhafte Demokratie) ins Feld führen, der per se schon sonderrechtliche (explizit gegen Verfassungsfeinde gerichtete) Züge trägt. Der Gedanke des Sonderrechts sollte jedoch nicht weitergetrieben werden, als unbedingt erforderlich. Mit anderen Worten: Eine Verfassung, die ohnehin schon die argumentative Bekämpfung von Verfassungsfeinden erlaubt, muss nicht auch noch zwischen unterschiedlichen Verfassungsfeinden differenzieren und gegenüber den einen mehr erlauben als gegenüber den anderen. III. Schluss Ich komme zum Schluss. Die Frage der politischen Äußerungsrechte von Amtsträgern ist und bleibt ein Balanceakt, der gerade heute vor neuen Herausforderungen steht. Die Gerichte haben Fehlentwicklungen entgegenzutreten, aber auch die Eigengesetzlichkeit der Politik und ihre hieraus folgende Einschät136  BVerfGE

136, 323 (Subsumtion 336 ff.). 124, 300. 138  Barczak, Äußerungsbefugnis (Fn.  17), S. 1020; Butzer, Äußerungsbefugnisse (Fn. 41), S. 114 f. 137  BVerfGE

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zungsprärogative zu respektieren. Bis jetzt – so scheint mir – ist der Balanceakt einigermaßen gelungen. Die aktuelle Lage zwingt uns jedoch, die bisher geleistete Kriterienbildung nachzuschärfen und vielleicht hier und da zu überdenken. Hierzu einen Beitrag zu leisten, war Ziel dieses Beitrags.

Facebook, Twitter und Regierung. Neue Medien und regierungsamtliche ­Kommunikation zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Parteipolitik Von Matthias Friehe I. Bestandsaufnahme: Rechtsprobleme regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit in der analogen und in der digitalen Welt  . 85 1. Übertragbarkeit der Entscheidungsgründe von 1977 in das Internetzeitalter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Unfaire Finanzvorteile  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Missbrauch amtlicher Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Aushebelung der Medien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Internetspezifische Rechtsprobleme regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II. Das digitale Update: Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit im Internet  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Systemumstellung oder Update?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Wahlkampf als binnengesellschaftlicher Konflikt  . . . . . . . . 101 3. Update im Detail  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Organisatorische Trennung von amtlichen und nichtamtlichen Accounts und Redaktionen  . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Stilllegung regierungsamtlicher Accounts in der heißen Wahlkampfphase  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Missbrauch regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit als unzulässige Parteispende i. S. v. § 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 d) Konsequenzen im Wahlprüfungsverfahren  . . . . . . . . . . 112 e) Keine Konkurrenz zu Onlinemedien  . . . . . . . . . . . . . . . 113 f) Gesetzliche Grundlage für das digitale Hausrecht regierungsamtlicher Accounts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Zusammenfassung in Thesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Anhang: Abbildungen zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Netzwerken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

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Im Herbst 1976 kämpfte Helmut Kohl – damals hier Ministerpräsident in Mainz  – zum ersten Mal um das Kanzleramt. Im September freute sich Kohl noch: „Die Sozialdemokraten haben auf Grund ihrer Verfettung die Sommerpause verschlafen“.1 Am Abend des 3. Oktober 1976 dann lange Gesichter bei der Union: Obwohl CDU / CSU heute kaum noch vorstellbare 48,6 Prozent der Zweitstimmen erreichten, blieb Kohl mit der verpassten absoluten Mehrheit nur die Rolle des Oppositionsführers. Nach verlorener Schlacht entdeckte die CDU alsbald, dass jedenfalls die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung die Sommerpause ganz und gar nicht verschlafen hatte. Mit einem Organstreitverfahren wendete sich die CDU gegen die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit von Mai bis Oktober 1976. Im Einzelnen richtete sich die Klage gegen großformatige Anzeigen in Tageszeitungen und Illustrierten sowie gegen Faltblätter in Millionenauflage. Das Bundesverfassungsgericht gab der Klage im Wesentlichen statt. Dabei handelt es sich um die bis heute maßgebliche Grundsatzentscheidung2 zu regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit. Vierzig Jahre später ist Kohls Nach-Nachfolgerin Angela Merkel auf dem Weg, längenmäßig mit den sechzehn „ewigen“ Kanzlerjahren Kohls gleichzuziehen: Am 20.  November 2016 gibt die CDU-Parteivorsitzende um 19 Uhr in einer Pressekonferenz im Konrad-Adenauer-Haus bekannt, erneut als Bundeskanzlerin zu kandidieren. 24 Minuten dauert ihr Statement. Um 19:24 Uhr verbreitet sich auf Facebook ein erster Prototyp für ein CDU-Wahlplakat: Merkel in zuversichtlicher, aber staatsfraulicher Pose, im Hintergrund royales Blau – „Kanzlerin Angela Merkel wird 2017 erneut als Bundeskanzlerin kandidieren“. Urheber: das Bundespresseamt.3 1  SPD: Wahlkampf mit Pannen, Der Spiegel 39 / 1976 vom 20. September 1976, S. 26, verfügbar im Online-Archiv unter: http: /  / www.spiegel.de /  spiegel / print / d-41157475.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 2  BVerfGE 44, 125. 3  Dazu bereits mit Links zu weiteren typischen Beispielen von Posts auf dem Facebook-Account der Bundesregierung Matthias Friehe, Wahlkampf in den sozialen Netzwerken  – „Wilder Westen?“, JuWiss-



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Seit Beginn ihrer Kanzlerschaft hat Merkel regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit im Internet maßgeblich vorangetrieben. Bereits 2006 richtete sie einen wöchentlichen Video-Podcast der Bundeskanzlerin ein.4 Seit 2011 twittert Regierungssprecher Steffen Seibert und erklärt in 140 Zeichen die Regierungspolitik. Mit dem 2015 gestarteten Facebook-Account ging die Bundesregierung endgültig zur medialen Dauerunterhaltung der SocialMedia Nutzer über. Täglich wird die Internetgemeinde über dieses Profil vom Bundespresseamt mit neuen Beiträgen gefüttert: Fotos und Videos von Staatsbesuchen, Grafiken zu neuen Gesetzesvorhaben ebenso wie zu längst bestehenden Regelungen bis hin zu Rückblicken auf zeitgeschichtliche Ereignisse oder Glückwünsche an Künstler und Sportler zu besonderen Leistungen decken ein breites Themenspektrum ab. Die Nutzerdiskussionen unter den Posts der Bundesregierung ziehen sich oft über tausende Kommentare hin. Die Bundesregierung nimmt mit zahlreichen individuellen Rückantworten intensiv an diesen Diskussionen teil. Im selben Jahr wie der Facebook-Account der Bundesregierung ging schließlich noch ein Instagram-Profil der Bundeskanzlerin online. Instagram ist ein auf Fotos spezialisiertes soziales Netzwerk. Die vom Bundeskanzleramt dort eingestellten Beiträge vermitteln den Eindruck, dass der Betrachter einen Blick „hinter die Kulissen“ wirft. Häufige Motive zeigen Merkel, wie sie gerade das Regierungsflugzeug besteigt, im Ausland mit militärischen Ehren empfangen wird oder wie sie in den Hinterzimmern internationaler Konferenzen im Gespräch vertieft ist.5 Gern zeigt sich Merkel auf Instagram, wie sie deutsche Fußballnationalspieler im Kanzleramt zum Tee empfängt. Keine Fotos findet man dagegen von Merkels legendären Abendessen mit Wirtschaftsvertretern – gegen die Herausgabe einer Gästeliste wehrt sich das Kanzleramt vor Gericht.6 Blog 17 / 2017 vom 8.  Februar 2017, verfügbar unter: https: /  / www.ju wiss.de / 17-2017 /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). Vgl. auch die Abbildungen im Anhang. 4  Vgl. Abbildung 1. 5  Vgl. ein Beispiel in Abbildung 2. 6  Das VG Berlin, AfP 2017, S. 359 ff. erließ eine entsprechende einstweilige Anordnung, die aber vom OVG Berlin-Brandenburg mit Be-

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Nicht nur die Bundeskanzlerin ist in den beschriebenen verschiedenen Varianten in den sozialen Netzwerken unterwegs. Zahlreiche Ministerien und nachgeordnete Behörden haben inzwischen eigene Social-Media-Profile eingerichtet. Manche Minister haben noch zusätzlich zum Account des Ministeriums ein eigenes Ministerprofil eingerichtet. Einige davon werden laut Impressum vom jeweiligen Abgeordnetenbüro7 gepflegt, andere von der Partei, wieder andere vom jeweiligen Ministerium und einige sogar in einem Mischbetrieb: Je nach Thema schreibt das Ministerium oder das Abgeordnetenbüro die Beiträge.8 Auch Kanzlerin Merkel gibt es doppelt: Der erwähnte Instagram-Account wird vom Bundeskanzleramt gepflegt. Daneben gibt es auf schluss vom 8.  September 2017 (Az.: OVG 11 S 49.17) wieder kassiert wurde, vgl. Bundeskanzlerin nicht verpflichtet, noch vor der Bundestagswahl Auskunft zu Abendessen im Bundeskanzleramt zu geben  – 24 / 17. Pressemitteilung, OVG Berlin-Brandenburg vom 8.  September 2017, verfügbar unter: https: /  / www.berlin.de / gerichte / oberverwaltungs gericht / presse / pressemitteilungen / 2017 / pressemitteilung.628988.php (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 7  Auch diese Vorgehensweise ist rechtlich nicht unproblematisch, vgl. dazu näher Fn. 89. 8  Laut Impressum werden vom Ministerium betreut: Facebook- sowie Twitteraccount von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD); laut Impressum werden folgende Accounts je nach Themenbereich sowohl vom jeweiligen Ministerium als auch vom Wahlkreisbüro betreut: Facebook-Account von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD); Facebook-Account von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Laut Impressum werden vom Abgeordnetenbüro betreut: FacebookAccount von Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD); Facebook-Account der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD); Facebook- sowie Twitteraccount von Bundesfamilienministerin Katharina Barley (SPD); Facebookaccount von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). Laut Impressum wird von der Partei (Kreisverband) betreut: Facebook- sowie Twitteraccount vom Chef des Bundeskanzleramtes Peter Altmaier (CDU). Ohne Angabe, wer den Account betreut: Facebook-Account von Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU); Facebook- sowie Twitteraccount von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Stand dieser Übersicht: 24. August 2017.



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Facebook ein Profil „Angela Merkel“, das laut Impressum ausschließlich von der CDU-Parteizentrale verantwortet wird. I. Bestandsaufnahme: Rechtsprobleme regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit in der analogen und in der digitalen Welt Einige Social-Media-Aktivitäten regierungsamtlicher Stellen erinnern in ihrer Aufmachung an Formate, die das Bundesverfassungsgericht in ihrer analogen Form 1977 für verfassungswidrig erachtet hat. Besonders offenkundig ist dies etwa bei den aufwändig produzierten Videobeiträgen von Staatsbesuchen im Stile einer netflix-Serie: Da ist beispielsweise zu sehen, wie Merkel Prinz William und Herzogin „Kate“ (Catherine) zum Aperitif empfängt9 oder wie der damalige US-Präsident Obama bei seinem Abschiedsbesuch im Kanzleramt vergnügt den Kopf im Takt einer Jazz-Trompete wiegt. Gegenüber dieser medialen Inszenierung wirkt es geradezu stümperhaft, wenn Schmidt 1976 im SPIEGEL einen engzeiligen Terminkalender von seinen Treffen mit ausländischen Partnern abdrucken ließ.10 Das Bundesverfassungsgericht befand indes damals: verfassungswidrig, da „vor allem dazu bestimmt, […] persönliche Leistungen [des Bundeskanzlers] werbend hervorzuheben“.11 Zwar sei regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich zulässig. Denn die zuständigen Organe müssten die anstehenden politischen Maßnahmen und Vorhaben sowie die künftig zu lösenden Fragen darlegen und erläutern, um überhaupt erst eine verantwortliche Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung des Volkes zu ermöglichen.12 Zulässige Öffentlichkeitsarbeit finde jedoch dort ihre Grenze, wo Wahlwerbung beginne,13 was bereits bei einer reklamehaften Aufmachung entsprechender 9  Vgl.

Abbildung 4. Abbildung 3. 11  BVerfGE 44, 125 (158). 12  BVerfGE 44, 125 (147). 13  BVerfGE 44, 125 (150). 10  Vgl.

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Druckschriften oder Anzeigen der Fall sei.14 In der heißen Wahlkampfphase gelte überdies ein besonderes Gebot der Zurückhaltung. Hier könnten sogar reine Sachinformationen faktisch als unzulässige Wahlwerbung wirken.15 Orientierungspunkt für die heiße Wahlkampfphase soll die Bekanntgabe des Wahltermins durch den Bundespräsidenten sein.16 Danach hätte die Bundesregierung in diesem Wahljahr schon am 24.  Januar 201717 offline gehen müssen. Tatsächlich ließ sich aber keine Änderung der Social-Media-Praxis feststellen. Beispielsweise ging die Bundesregierung auf Facebook noch drei Wochen vor der Wahl auf eine Wahlkampfdiskussion ein, indem sie sich dort gegen Fahrverbote für Dieselfahrzeuge aussprach.18 Seit 1977 hatte das Bundesverfassungsgericht keine Gelegenheit mehr, sich zu einer „Gesamtkampagne“ regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit zu äußern.19 Allerdings hielt das Gericht erst jüngst an seiner Linie fest, als es um die Zulässigkeit einzelner Äußerungen des Bundespräsidenten bzw. einer Bundesmi14  BVerfGE

44, 125 (151). 44, 125 (152). 16  BVerfGE 44, 125 (153); auch im Falle der vorzeitigen Auflösung des Bundestages nach gescheiterter Vertrauensfrage: BVerfGE 63, 230 (244 f.). 17  Vgl. die Bekanntmachung des Bundespräsidenten vom 24.  Januar 2017, verfügbar unter: http: /  / www.bundespraesident.de / SharedDocs /  Pressemitteilungen / DE / 2017 / 01 / 170124-Bundestagswahl-Anordnung. html?nn=1892032 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 18  Vgl. Abbildung 6. 19  Mit BVerfGE 63, 230 (243 f.) bestätigten die Richter ihre Linie 1983 grundsätzlich. Die streitgegenständliche Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung war in dem Fall aber vor der Wahlanordnung des Bundespräsidenten erfolgt. Zwar lag 1983 die Wahlanordnung nach § 16 BWahlG (6. Januar 1983) sehr viel näher am Wahltermin (6. März 1983) als üblich. Hintergrund war die vorzeitige Auflösung des Bundestages, nachdem Kohls Vertrauensfrage  – wie gewünscht  – am 17.  Dezember 1982 gescheitert war. Das BVerfG sah hierin jedoch keinen Grund, den Beginn der „heißen“ Wahlkampfphase weiter nach vorne zu schieben, da bis zur Bekanntmachung des Neuwahltermins offen gewesen sei, ob die Bürger überhaupt zur Wahl gerufen werden würden (a. a. O., S. 245). 15  BVerfGE



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nisterin ging.20 Nur dem Bundespräsidenten gesteht das Gericht wegen seiner Repräsentations- und Integrationsfunktionen einen größeren Ermessensspielraum zu.21 Im Falle der früheren Bundesfamilienministerin Schwesig blieb das Bundesverfassungsgericht dagegen bei seiner Auffassung, dass die Bundesregierung und auch einzelne ihrer Mitglieder bei amtlichen Äußerungen dem Neutralitätsgebot verpflichtet seien.22 Die Karlsruher Rechtsprechung ist von den Landesverfassungsgerichten weitgehend übernommen worden23 und wird von den Verwaltungsgerichten auch für die Zulässigkeit des Informationshandelns von Kommunen zugrunde gelegt.24 Doch trägt die Rechtsprechung von 1977 auch für regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Medien? Um dieser Frage nachzugehen, werde ich zunächst die Entscheidungsgründe von damals auf ihre Übertragbarkeit in das digitale Zeitalter hin überprüfen (1.). Sodann werde ich Rechtsfragen nachgehen, die sich überhaupt erst durch das Medium der sozialen Netzwerke stellen (2.).

20  BVerfGE

136, 277 (Rdnr. 28 f.); 138, 102 (Rdnr. 31, 45 f.). 136, 277 (Rdnr. 25, 33). 22  BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 45, 49). 23  RhPfVerfGH, NVwZ 2007, S. 200  ff. (201 f.); NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (666); ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. (298); bezogen auf Kommunalwahlen: BayVerfGH, NVwZ 1994, S. 993 ff. (994). Zutreffend lehnen es VerfGH Berlin, LVerfGE 19, 39 (52); BayVerfGH, NVwZ-RR 1994, S. 529 ff. (530) allerdings ab, die Maßstäbe für regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld von Wahlen auf das Vorfeld von Volksabstimmungen zu übertragen. Bei Volksabstimmungen darf die Regierung für die von ihr favorisierte Sachentscheidung in gleicher Weise werben, wie sie sich auch im Parlament für oder gegen einen bestimmten Gesetzentwurf aussprechen dürfte. 24  OVG Münster, NVwZ-RR 1989, S. 149  ff. (150); VGH Kassel, NVwZ 1992, S. 284 ff. (285); SächsOVG, SächsVBl. 2012, S. 7 ff. (10); VG Meiningen, ThürVBl. 2007, S. 170 ff. (171). 21  BVerfGE

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1. Übertragbarkeit der Entscheidungsgründe von 1977 in das Internetzeitalter Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1977 bringt das Demokratieprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 2 GG) auf eine prägnante Kurzformel: Willensbildung von „unten nach oben“. Der entscheidende Satz  lautet: „Im Wahlakt muß sich […] die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollziehen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin“.25 Damit greift das Gericht auf seine Überlegung aus der ersten Grundsatzentscheidung zur Parteienfinanzierung26 zurück und entfaltet diese zu einem Gebot umfassender Chancengleichheit der Parteien im Wahlvorfeld.27 a) Unfaire Finanzvorteile Konkret geht es dabei vor allem um die Chancengleichheit bei der Parteien- bzw. Wahlkampffinanzierung. Die Öffentlichkeitsarbeit dürfe „nicht durch Einsatz öffentlicher Mittel den Mehrheitsparteien zu Hilfe kommen oder die Oppositionsparteien bekämpfen“.28 Denn die finanziellen Mittel des Staates „werden grundsätzlich von allen Staatsbürgern ohne Ansehen ihrer politischen Anschauungen oder Zugehörigkeiten erbracht“ und sind daher „dem Staat zur Verwendung für das gemeine Wohl anvertraut“.29 In der Schwesig-Entscheidung betonte das Bundesverfassungsgericht noch einmal, dass die amtliche „Verfügung über staatliche Ressourcen in personeller, technischer, medialer und finanzieller Hinsicht“ der Bundesregierung eine „nachhaltige Einwirkung auf die politische Willensbildung des Volkes“ ermögliche und damit das „Risiko erheblicher Wettbewerbsverzerrungen zwischen den politischen Parteien“30 mit sich bringe. 25  BVerfGE 44, 125 (140); 69, 315 (346); 107, 339 (Rdnr. 65 f.); 121, 30 (Rdnr. 100); 132, 39 (Rdnr. 33). 26  BVerfGE 20, 98 (98 f.). 27  BVerfGE 44, 125 (144 ff.). 28  BVerfGE 44, 125 (150); 136, 323 (Rdnr. 29). 29  BVerfGE 44, 125 (143). 30  BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 45).



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Dass eine faire Finanzmittelverteilung im Wahlkampf der analogen Welt eine zentrale Rolle spielt, leuchtet sofort ein. Die Verfügbarkeit finanzieller Mittel limitiert unmittelbar den Umfang, indem Wahlplakate gedruckt oder Wurfsendungen verbreitet werden können. In der digitalen Welt sieht es zunächst scheinbar anders aus. Das Internet macht es möglich, Informationen nahezu zum Nulltarif allen Internetnutzern – damit praktisch der gesamten Bevölkerung  – zugänglich zu machen. Tatsächlich gelingt es einzelnen Internetnutzern immer wieder, mit relativ einfachen Mitteln punktuell große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sehr viel schwieriger hingegen ist die langfristig angelegte Pflege eines Accounts, der regelmäßig für ein großes Publikum Einfluss auf mannigfaltige politische Diskussionen ausüben soll. Dies erfordert einen hohen Personalaufwand. Nach Auskunft des Bundespresseamtes arbeiten allein in dessen Facebook-Redaktion acht Mitarbeiter.31 Hinzu kommen noch die Fotografen, Kameraleute und Redakteure, die nicht ausschließlich für die Facebook-Redaktion tätig sind, aber unverzichtbare Zuarbeit leisten. Insgesamt hat das Bundespresseamt mehrere hundert Mitarbeiter. Für das Haushaltsjahr 2017 sind im Bundeshaushalt Gesamtausgaben für das Bundespresseamt in Höhe von 82 Millionen Euro vorgesehen, davon knapp 30 Millionen Euro Personalausgaben.32 Zum Vergleich: 2016 wurden aus der staatlichen Parteienfinanzierung insgesamt 160  Millionen Euro an alle zuwendungsberechtigten Parteien ausgeschüttet, davon jeweils knapp 50  Millionen Euro an CDU und SPD.33 In diesen Vergleich noch nicht eingerechnet sind die Öffentlichkeitsreferate 31  Auskunft des Bundespresseamtes an den Autor vom 29. November 2016. 32  Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2017 (Haushaltsgesetz 2017) vom 20.  Dezember 2016, BGBl. I, S. 3016, Kapitel 0432. 33  Deutscher Bundestag, Festsetzung der staatlichen Mittel für das Jahr 2016 vom 17.  März 2017, S. 6, verfügbar unter: https: /  / www.bun destag.de / blob / 503226 / eb02070236090c98b3ca24ce9dfc57fa / finanz_16data.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).

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der einzelnen Ministerien, die mehrheitlich inzwischen ebenfalls in den sozialen Netzwerken tätig sind und teils auch den Account des jeweiligen Ministers betreuen.34 Die Frage der fairen Verteilung finanzieller Ressourcen stellt sich demnach auch im Internetzeitalter. Zwar mag sich die Verfügbarkeit finanzieller Mittel auf Internetaktivitäten nicht so unmittelbar limitierend auswirken wie auf Plakate und Broschüren. Die verfügbaren finanziellen Mittel haben aber entscheidenden Einfluss auf die Qualität möglicher Online-Kampagnen: Nur mit ausreichenden Personalmitteln können Redakteure, Grafiker, Fotografen und Kameraleute beschäftigt werden, die einen Onlineauftritt attraktiv machen. b) Missbrauch amtlicher Autorität Neben dem Aspekt der Wahlkampffinanzierung macht das Bundesverfassungsgericht eine effektive Ungleichbehandlung der Oppositionspartei daran fest, ob die Regierungsparteien die amtliche Autorität der Bundesregierung für ihre Zwecke missbrauchen. Das Gericht zieht eine Trennlinie zwischen der Bundesregierung, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist, und den politischen Parteien, die „als Zwischenglieder zwischen dem Einzelnen und den verfaßten Staatsorganen […] die Verbindung zwischen dem Volk und der politischen Führung herstellen und aufrechterhalten“.35 Während die politischen Parteien schon ihrem Namen nach parteiisch sind, müsse die Bundesregierung bereits „den Eindruck einer werbenden Einflußnahme zugunsten einzelner Parteien […] vermeiden“.36 Die Abgrenzung zwischen amtlichem Handeln und dem Handeln als Parteipolitiker wirft zahlreiche Probleme auf, wie zuletzt 34  Herbert Mandelartz, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung. Begriff, Instrumente und Begrenzungen in der Vorwahlzeit, DÖV 2009, S. 509 ff. (510) beziffert die Gesamtzahl aller für die Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Beschäftigten in den obersten Bundesbehörden auf rund 800. 35  BVerfGE 44, 125 (149). 36  BVerfGE 44, 125 (150).



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der Fall Schwesig gezeigt hat.37 Dabei stellen sich für die Betätigung von Politikern in den sozialen Netzwerken allerdings keine grundsätzlich anderen Probleme als in der analogen Welt. Unter Umständen wird eine Abgrenzung sogar erleichtert, dann nämlich, wenn der Politiker durch getrennte Profile seine Handlungssphären strikt trennt. Die Nutzung des regierungsamt­lichen Accounts verpflichtet zur Beachtung der Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit,38 während sich der Politiker auf privaten Accounts als Parteipolitiker äußern kann. Wie erwähnt verfügt Bundeskanzlerin Merkel über einen regierungsamtlichen Instagram- und einen parteipolitischen Facebook-Account, die sich anhand des Impressums eindeutig zuordnen lassen. Obwohl in der digitalen Welt alle Nutzer vermeintlich auf Augenhöhe kommunizieren, hat amtliche Autorität auch im Internet erhebliches Gewicht. Gerade auf einem Marktplatz, auf dem jeder zunächst völlig ungeprüft seine „Wahrheit“ präsentieren darf, stehen amtliche Accounts für Seriosität. Sie werden, wie es das Bundesverfassungsgericht in der Schwesig-Entscheidung betont, „mit einer aus der Autorität des Amtes fließenden besonderen Gewichtung versehen“.39 In den sozialen Netzwerken kommt hinzu, dass regierungsamtliche Accounts bereits mit ihrem Namen wie ein Magnet Nutzer um sich versammeln, die sich für Politik interessieren: Ein durchschnittlicher Social-Media-Nutzer wird mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit nach 37  Krit. zur Abgrenzung von amtlichem Handeln und Handeln als Privatperson in dem konkreten Fall Herbert Mandelartz, Informationsund Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung  – Zur Entscheidung des  Bundesverfassungsgerichts in der Sache „Schwesig“, DÖV 2015, S. 326  ff. (328  f.); ähnliche Abgrenzungsschwierigkeiten stellten sich auch dem RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (668); zur Abgrenzung amtlicher und privater Äußerungen von kommunalen Amtsträgern Janbernd Oebbecke, Amtliche Äußerungen im Bürgermeisterwahlkampf, NVwZ 2007, S. 30 ff. (31). 38  Zur Nutzung eines Twitter-Kanals der thüringischen Landesregierung ThürVerfGH, NVwZ 2016, S. 1408 ff. (1411); zur Nutzung einer offiziellen Homepage BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 57). 39  BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 55).

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„Bundesregierung“ oder „Auswärtiges Amt“ suchen und entsprechenden Profilen folgen, als nach dem ihm gar nicht bekannten „Hans Müller“. So kommt das Auswärtige Amt auf 225.000 Follower aus der fernwehgeplagten Internetcommunity und selbst weniger „hippe“ Ministerien wie das Justizministerium erreichen mühelos fünfstellige Followerzahlen (25.000). Aufmerksamkeits- und Glaubwürdigkeitsvorsprung amtlicher Verlautbarungen40 sind daher gerade im Internet besonders deutlich sichtbar. c) Aushebelung der Medien Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit berührt die Mediengrundrechte. Insofern muss die regierungsamtliche Öffentlichkeits- von der Medien- und Pressearbeit unterschieden werden.41 Letztere wird von den Mediengrundrechten gerade verlangt. Denn die Medien können ihren Informationsauftrag nur wahrnehmen, wenn sie von der Regierung entsprechende Informationen erhalten.42 Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sich die Regierung unmittelbar an die Bevölkerung wendet. Deshalb gerät sie mit den Institutsgarantien für Presse und Rundfunk in Konflikt.43 Denn den Medien geht ein Teil ihrer Kontrollmacht44 über die öffentliche Agenda verloren.

40  Allgemein Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rdnr. 94. 41  Herbert Mandelartz, Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit, LKRZ 2010, S. 371 ff. (372). 42  Daher sind landesrechtlich geregelte presserechtliche Auskunftsansprüche auch verfassungskräftig abgesichert, vgl. dazu BVerwGE 146, 56 (Rdnr. 29); 151, 248 (Rdnr. 24); Hans-Ulrich Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive und Informationsrecht der Presse, Berlin 1971, S. 223 ff. Verfassungskräftige Auskunftspflichten nimmt bereits BVerfGE 20, 162 (176) an. 43  Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsrechtliche Fragen regierungsamt­ licher Öffentlichkeitsarbeit und öffentlicher Wirtschaftstätigkeit im Internet, DÖV 2002, S. 1 ff. (4).



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In den sozialen 4Medien wird diese Trennung von Staat und Medien subtil ausgehöhlt. Dazu trägt zunächst bei, dass in den sozialen Medien überhaupt die frühere Trennung von Medienmachern und Rezipienten aufgehoben scheint. Jeder Nutzer konsumiert nicht nur Beiträge anderer Nutzer, sondern schafft mit seinen Beiträgen selbst einen Teil  der digitalen Öffentlichkeit.45 Insofern haben die Medien mit dem Internet technisch ihr De-Facto-Monopol verloren, große Menschenmassen zu erreichen. Der Weg zur öffentlichen Aufmerksamkeit führt nicht mehr nur zwingend durch das große Tor traditioneller Massenmedien, das Journalisten als „gatekeeper“46 bewachen; heute führen unzählige Glasfaserkabel unter der Stadtmauer hindurch direkt auf das öffentliche Forum.47 Auf dieser digitalen ἀγορά

44  Je weniger die Presse Verbindungsorgan ist, umso weniger kann sie auch Kontrollorgan sein. Zu diesen Funktionen der Presse bereits BVerfGE 20, 162 (175). 45  Insofern stellen sich auch Abgrenzungsschwierigkeiten zum professionellen Journalismus, vgl. Frank Fechner, Medienrecht, 18. Aufl. 2017, Kap. 12 Rdnr. 225. 46  Vgl. an umfassende demoskopische Untersuchungen anknüpfend und grundlegend Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, 1980, S. 222 ff. und speziell zur hier bereits thematisierten Bundestagswahl 1976, S. 227 ff. 47  Keineswegs neu ist eine Fundamentalkritik an den Medien, wie sie durch die „Lügenpresse!“-Rufe auf deutschen Straßen in jüngerer Zeit verstärkt in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Walter S. Glae­ ser behauptete schon vor einigen Jahren, es sei ein „Faktum, vielfach nachgewiesen und ernsthaft nicht zu bestreiten“, dass im politischen Willensbildungsprozess der Bundesrepublik „manipuliert“ werde, und zwar „massiv und tagtäglich, besonders intensiv in den Medien“, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 38 Rdnr. 57. Damals konnte Schmitt Glaeser „der Diagnose keine Therapie folgen lassen“ (Rdnr. 58). Inzwischen wird immer deutlicher, welche Probleme ein ungefilterter Diskurs im Internet und die schwindende Autorität klassischer Medien mit sich bringen. Tatsächlich wird den Medien auch in Zukunft unter erschwerten Bedingungen die Aufgabe zukommen, die für eine Demokratie unabdingbare Konsensfähigkeit der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wenn berechtigte Kritik an Medien zu pauschalisie-

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werden die Medien zunehmend selbst zu einem Akteur unter vielen, die um Aufmerksamkeit buhlen. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass auch in den sozialen Medien nur wenige Akteure tatsächlich über das Potenzial verfügen, jederzeit eine Großzahl anderer Nutzer zu erreichen. Deshalb ist die Trennung von Staat und Medien im Internet nicht obsolet. Das Bundesverfassungsgericht hat die Macht der Meinung („Medienmacht“) schon früh als Gegengewicht zur Macht der Tat („Staatsmacht“) etabliert: Es herrscht „publizistische Gewaltenteilung“.48 Nach den Grundsätzen der Staatsfreiheit der Presse bzw. der Staatsferne des Rundfunks ist es dem Staat grundsätzlich untersagt, durch eine Staatspresse49 oder Staatsrundfunk50 den Medien Konkurrenz zu machen. Die regierender Medienschelte wird, gefährdet das die demokratische Streitkultur. 48  Krit. zur Rolle der Medien als „vierter Gewalt“ etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rdnr. 39 ff. 49  Vgl. BVerfGE 20, 162 (175); OLG Stuttgart, AfP 2016, S. 171 ff. (174); Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 230; Christoph Degenhart, Staatspresse in der Informationsgesellschaft. Verfassungsrechtliche und wettbewerbsrechtliche Schranken für die Publikationstätigkeit der öffentlichen Hand, AfP 2009, S. 207 ff. (212); Sebastian Müller-Franken, Unzulässige Staatsmedien oder zulässige Informationstätigkeit? Grund und Grenzen medialer Verlautbarungen von Hoheitsträgern, AfP 2016, S. 301 ff. (303); speziell zu kommunalen Amtsblättern, wenn sie um einen redaktionellen Teil  ergänzt werden: Reinhart Ricker, Die verfassungsrechtliche Problematik der staatlichen, insbesondere der kommunalen Pressepublikation, AfP 1981, S. 320 ff. (322 und 325); a. A. Frank Schürmann, Staatliche Mediennutzung. Staatspresse, amtliche Verlautbarungen, Staatsrundfunk, Rundfunksponsoring, AfP 1993, S.  435 ff. (437 f.); Bärbel Leihe, Probleme der Tätigkeit des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, MDR 1969, S. 445 ff. (446)  – Zulässigkeit einzelner staatlicher Zeitungen, solange das Pressewesen insgesamt aus einer Fülle von selbständigen und in der Anschauung konkurrierenden Presseorganen besteht. 50  BVerfGE 12, 205 (263); 83, 238 (330); 90, 60 (88); 121, 30 (52); verfehlt hingegen Schürmann, Staatliche Mediennutzung (Fn. 49), S. 441,



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rungsamtliche Dauerbeschallung der Internetcommunity bewegt sich an der Grenze zu verbotenem Staatsjournalismus – insoweit besteht ein Funktionsverbot51  –, wenn entsprechende Profile nach Häufigkeit der Aktivitäten und Breite der Themen de facto zu einem Nachrichtenkanal werden.52 2. Internetspezifische Rechtsprobleme regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit Regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit im Internet stehen aber nicht nur jene Bedenken entgegen, die das Bundesverfassungsgericht 1977 für die analoge Welt entwickelt hat. Neue Bedenken treten hinzu. Denn die sozialen Netzwerke sind eben nicht nur Raum einseitiger Kommunikation von der Bundesregierung hin zu den Bürgern, sondern ermöglichen umgekehrt auch den Bürgern, auf die Verlautbarungen der Bundesregierung unmittelbar und für andere sichtbar zu reagieren. Die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit entwickelt sich damit im Internetzeitalter weg von der monologischen, hin zur dialogischen Kommunikation.53 Zunächst erscheint es ein wenig paradox, gerade in diesem Umstand ein weiteres verfassungsrechtliches Problem erblicken zu wollen. Die Reaktion der Bürger auf die Politik der Bundesder dem Staat gegenüber öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einen Anspruch einräumen will, „bei staatstragenden Ereignissen […] sich über den Rundfunk direkt an die Bevölkerung zu wenden“. 51  Christoph Degenhart, in: Kahl / Waldhoff / Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 185. Aktualisierung 2017, Art. 5 Abs. 1 Rdnr. 253. 52  So zutreffend Fechner, Medienrecht (Fn. 45), Kap. 12 Rdnr. 226. Hoheitliche Öffentlichkeitsarbeit muss sich nach Art, Umfang und Frequenz in Zurückhaltung üben, weil andernfalls die Staatsfreiheit der Presse verletzt wird, so allgemein Jürgen Kühling, in: Gersdorf / Paal (Hrsg.), BeckOK Informations- und Medienrecht, Stand vom 1.  Mai 2017, Art. 5 Rdnr. 54; zum redaktionellen Teil kommunaler Amtsblätter Müller-Franken, Unzulässige Staatsmedien oder zulässige Informationstätigkeit? (Fn. 49), S. 304. 53  Mandelartz, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (Fn. 34), S. 513.

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regierung entspricht schließlich gerade der vom Demokratieprinzip erforderten Willensbildung von unten nach oben. Die Tücken liegen aber in der praktischen Ausgestaltung. Wie jedes öffentliche Forum im Internet drohen auch die Social-Media-Auftritte der Bundesregierung ständig von einem Teil der Nutzer als Plattform für unerwünschte Formen der Kommunikation missbraucht zu werden. Die Palette reicht dabei von Werbespam über wirre Kommentare bis hin zu strafbarer Verleumdung oder Volksverhetzung. Zum einen reagiert das Bundespresseamt hierauf mit direkten Antworten auf die Kommentare der Nutzer  – durchaus in einem Social-Media-angepassten, bisweilen flapsigen Sprachstil.54 Zum anderen werden Kommentare gelöscht, wenn sie gegen die „Netiquette“55 der Bundesregierung verstoßen. Bei der Netiquette handelt es sich um eine Art Online-Hausordnung, mit der die Nutzer zu einer sachlichen Diskussion angehalten werden sollen. Wenn der Staat auf seinen Profilen Kommentare löscht, greift er in Grundrechte ein. Zwar spielt sich dieser Vorgang auf einer privaten Plattform ab. Die Nutzungsverhältnisse der Bundesregierung sowie des einzelnen Nutzers zu Facebook sind jeweils privatrechtlicher Natur. Öffentlich-rechtlicher Natur ist aber das Rechtsverhältnis zwischen dem Bundespresseamt und seinen Followern. Denn wenn der Staat eine Plattform für Meinungsäußerungen zur Verfügung stellt, darf er sich nicht seiner öffentlichrechtlichen Sonderbindungen entziehen.56 Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit ist hoheitliche Tätigkeit.57 Aber selbst dann, 54  Speziell zum Sprachstil staatlicher Stellen in den sozialen Netzwerken Tobias Mast, WTF, hier spricht die Polizei!!!, JuWissBlog 27 / 2017 vom 8.  März 2017, verfügbar unter: https: /  / www.juwiss.de / 27-2017 /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 55  Netiquette, verfügbar unter: https: /  / www.facebook.com / Bundes regierung / app / 1569895639915365 /  (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). 56  So bereits weitblickend vor dem Zeitalter der sozialen Netzwerke zu staatlich eingerichteten öffentlichen Diskussionsforen im Internet Ladeur Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit im Internet (Fn. 43), S.  9 f.



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wenn man das Rechtsverhältnis zwischen der Bundesregierung und 57ihren Followern als privatrechtlich qualifizieren würde, ändert das nichts daran, dass die Löschungen einer grundrechtlichen Rechtfertigung bedürfen. Denn der Staat ist immer grundrechtsgebunden (Art. 1 Abs. 3 GG), auch dann, wenn er privatrechtlich handelt, auch dann, wenn er im Internet handelt.58 Nach geltender Gesetzeslage ist die Löschung von Kommentaren durch das Bundespresseamt auf Facebook schon deshalb rechtswidrig, weil es dafür an einer formell-gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage fehlt. Zwar nimmt das Bundesverfassungsgericht an, dass regierungsamtliche Informationstätigkeit keine eigene formell-gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erfordere, selbst wenn sie mittelbar in Grundrechte eingreife.59 Indessen bezieht sich diese Rechtsprechung auf mittelbare Grundrechtseingriffe durch amtliche Warnungen. Sie lässt sich nicht auf die technische Unterdrückung bestimmter Meinungsäußerungen übertragen, denn hier wird final und unmittelbar in Grundrechte eingegriffen. Keine taugliche Ermächtigungsgrundlage ist das digitale bzw. so genannte „virtuelle“ Hausrecht.60 Dieses räumt den Inhabern 57  Eingehend Walter Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat. Dargestellt am Beispiel des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1966, S. 64 ff. 58  Speziell zu letzterem zutreffend Müller-Franken, Unzulässige Staatsmedien oder zulässige Informationstätigkeit? (Fn. 49), S. 306. 59  BVerfGE 105, 279 (303); zuvor schon BVerfG (K), NJW 1989, S. 3269 ff. (3270); ebenso BVerfG (K), NJW 2011, S. 511 ff. (512) zur Distanzierung der Bundeszentrale für politische Bildung von einem ­ Aufsatz, der in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift „Deutschland Archiv“ erschienen war. Abl. Teile der Lit., vgl. nur Tristan Barczak, Die parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern. Eine Gratwanderung zwischen Neutralitätsgebot und politischem Wettbewerb, NVwZ 2015, S. 1014 ff. (1018). 60  In Rspr. und Lit. wird das digitale Hausrecht häufig als „virtuelles“ Hausrecht bezeichnet. Diese Bezeichnung ist unglücklich, weil das digitale Hausrecht kein virtuelles Recht ist, sondern ein wirkliches Recht an digitalen Räumen. Das Hausrecht Privater in digitalen Räumen wurde erstmals von LG Bonn, NJW 2000, S. 961 ff. (962) für einen „Chat­

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eines Accounts in den sozialen Netzwerken die Verfügungsgewalt über den eigenen Account ein. Das digitale Hausrecht ergibt sich aus den einschlägigen Nutzungsbestimmungen, den technischen Gegebenheiten sowie aus dem zivilrechtlichen Besitz- und Persönlichkeitsrechtsschutz. Vertragliche Vereinbarungen wie die Nutzungsbedingungen von Facebook taugen aber zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ebenso wenig wie die analog anwendbaren BGB-Bestimmungen. Sie regeln das BürgerBürger-Verhältnis und geben für das grundrechtsgeprägte StaatBürger-Verhältnis nichts her. Anders als Privatnutzer darf der Staat eben nicht nach Belieben ihm missliebige Kommentare in den sozialen Netzwerken entfernen.61 room“ anerkannt; bestätigt von OLG Köln, CR 2000, S. 843. BSG, MMR 2013, S. 675 ff. (676) billigt auch der Bundesagentur für Arbeit ein digitales Hausrecht für eine von ihr betriebene Online-Jobbörse zu. Aus der Literatur zum digitalen bzw. „virtuellen“ Hausrecht vgl. etwa KarlHeinz Ladeur, Ausschluss von Teilnehmern an Diskussionsforen im Internet. Absicherung von Kommunikationsfreiheit durch „netzwerkgerechtes“ Privatrecht, MMR 2001, S. 787 ff. (788); André Schmidt, Virtuelles Hausrecht und Webrobots, 2011, S. 170 ff.; speziell zum digitalen Hausrecht von Betreibern sozialer Netzwerke Lennart Elsaß / Jan-Hendrik Labusga / Rolf Tichy, Löschungen und Sperrungen von Beiträgen und Nutzerprofilen durch die Betreiber sozialer Netzwerke. Rechtliche Möglichkeiten des Vorgehens vor dem Hintergrund von Hate Speech, Fake News und Social Bots, CR 2017, S. 234 ff. (235 ff.). Der genaue rechtliche Rahmen für das digitale Hausrecht ist bisher weder für Private noch für öffentliche Anbieter digitaler Räume hinreichend geklärt. Abl. zu einer Übertragung des Hausrechts auf einen Internetseitenbetreiber OLG Frankfurt a. M., MMR 2009, S. 400; insgesamt abl. zur Rechtsfigur des „virtuellen“ Hausrechts Gabriella Piras, Virtuelles Hausrecht? Kritik am Versuch der Beschränkung der Internetfreiheit, 2016, S. 54 ff. und 160 ff. 61  BVerfG (K), NJW 2011, S. 511 ff. (512) hält es zwar für zulässig, „im Rahmen eines von rechtsstaatlicher Neutralität getragenen Veröffentlichungskonzepts“ die Beiträge für die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift „Deutschland Archiv“ redaktionell auszuwählen. Dies lässt sich aber nicht auf eine Auswahl der Beiträge auf Facebook übertragen. Anders als in einer Zeitschrift steht auf Facebook unbegrenzter Platz für Kommentare zur Verfügung. Überdies wird die öffentliche Meinungsbildung durch Eingriffe in die-



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Neben der Löschung von Kommentaren ist auch die rege Antwortpraxis der Bundesregierung auf Facebook grundrechtlich nicht unproblematisch.62 Denn wenn der Staat öffentliche Diskussionsräume schafft, so muss er dort Pluralität gewährleisten.63 Staatlich gelenkte Diskussionsräume widersprechen der demokratischen Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen. Auch in den sozialen Netzwerken gilt insofern keine größere „Beinfreiheit“ des Staates.64 II. Das digitale Update: Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit im Internet Ausgehend von der soeben vorgetragenen Bestandsaufnahme stellt sich die Frage, wie ein Update der Rechtsprechung von 1977 für das digitale Zeitalter aussehen muss. 1. Systemumstellung oder Update? Zunächst scheint dabei eine komplette Systemumstellung näher zu liegen als ein bloßes Update. Die beschriebenen Rechtsprobleme legen nämlich durchaus radikale Lösungen nahe. Tatsächlich sprechen gute Gründe dafür, regierungsamtlichen Stellen ses Massenforum in ganz anderer Weise beeinflusst als bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift, deren Leserkreis von vornherein stark beschränkt ist. Bei einer Zeitschrift erfolgt eine positive Auswahl, aufgrund derer besonders lesenswerte Beiträge veröffentlicht werden, während auf Facebook eine negative Auswahl stattfindet, bei der bestimmte Kommentare gelöscht werden. 62  Zu pauschal daher Mehrdad Payandeh, Die Neutralitätspflicht staatlicher Amtsträger im öffentlichen Meinungskampf. Dogmatische Systembildung auf verfassungsrechtlich zweifelhafter Grundlage, Der Staat 55 (2016), S. 519 ff. (544). 63  Zur Neutralitätspflicht auf staatlich mitveranstalteten Podiumsdiskussionen (Landeszentrale für politische Bildung) OVG Schleswig, NordÖR 1998, S. 70 ff. (72); zur Neutralitätspflicht der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift „Deutschland Archiv“ BVerfG (K), NJW 2011, S. 511 ff. (512). 64  Treffend Müller-Franken, Unzulässige Staatsmedien oder zulässige Informationstätigkeit? (Fn. 49), S. 307.

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Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Netzwerken ganz zu untersagen. Die Aktivitäten des Bundespresseamts auf Facebook, Twitter oder Instagram nutzen in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem den Regierungsparteien. Diesen werden mittelbar  – neben den eigenen Parteimitteln – erhebliche Ressourcen finanzieller, technischer und personeller Art verschafft, um die Regierungsarbeit darzustellen. Damit wird das wahlkampftaktische Hauptziel der Regierungsparteien befördert, nämlich die Öffentlichkeit von einer positiven Regierungsbilanz zu überzeugen. Da soziale Netzwerke in ihrer ganzen Funktionsweise auf die visuelle Selbstinszenierung der Nutzer angelegt sind, ist es kaum realistisch, die Bundesregierung auf eine rein sachlich-neutrale Darstellung zu verpflichten. Die Nutzer erwarten politische Inszenierung in Bild und Video – und bekommen sie auch. Umgekehrt sprechen gute Gründe dafür, regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Netzwerken sehr viel großzügiger als nach den Maßstäben von 1977 freizugeben. Heute wird der Transparenz politischer Entscheidungsprozesse eine sehr viel höhere Bedeutung beigemessen als früher. Die vernetzte Informationsgesellschaft ermöglicht in vorher nicht gekanntem Maße eine unmittelbare Kommunikation zwischen Bürgern und Regierung. Viele Bürger wollen gar nicht durch den Filter der Medien, sondern unmittelbar, „authentisch“65 informiert werden. Reichlich widersinnig wäre es, wenn zwar jeder Bürger nach dem Informationsfreiheitsgesetz Akteneinsicht in Regierungsunterlagen verlangen kann, es der Bundesregierung aber verboten wäre, sich ihrerseits von selbst und unmittelbar an die Bürger zu wenden.

65  Diese

Möglichkeit der elektronischen Medien erkannte schon sehr früh Schürmann, Staatliche Mediennutzung (Fn. 49), S. 436. Zu weit geht es allerdings, dass authentische Informationen angeblich nur bei der Regierung zu bekommen seien. Unabhängige Medien haben demgegenüber gerade auch die Funktion, Verlautbarungen der Regierung durch eigene Recherchen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen sowie die Öffentlichkeit über Informationen aufzuklären, welche die Regierung gerade nicht von sich aus preisgeben möchte.



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Obwohl die genannten Extrempositionen den Reiz klarer Verhältnisse mit sich bringen, können sie beide im Ergebnis nicht überzeugen. Ein Facebook-Verbot mag zwar das effektivste Mittel gegen etwaigen Missbrauch sein. De lege lata kann der Bundesregierung aber nur das verboten werden, was tatsächlich den Rahmen verfassungsrechtlicher Zulässigkeit sprengt. Da Öffentlichkeitsarbeit zum Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung gehört,66 lässt sie sich auch gesetzgeberisch nur begrenzt beschränken. Umgekehrt kommt es aber ebenfalls nicht in Betracht, regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Netzwerken ohne Einschränkungen freizugeben. Denn auch im Internetzeitalter beruht die demokratische Legitimation der Staatsorgane auf einem fairen Wahlverfahren. Dieses wird nicht weniger dadurch in Gefahr gebracht, wenn Regierungsmitarbeiter auf Facebook Wahlwerbung verbreiten, als wenn dieselben Mitarbeiter für die Regierungsparteien auf Straßen und Plätzen Plakate kleben würden. 2. Wahlkampf als binnengesellschaftlicher Konflikt Art und Ausmaß der Begrenzung regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit im Internet hängt zunächst maßgeblich davon ab, ob man mit dem Bundesverfassungsgericht67 an der Trennung von regierungsamtlicher und parteipolitischer Betätigung von Politikern festhält. Schon in der analogen Welt wirkt diese Trennung von Staats- und Parteiämtern bisweilen gekünstelt und ist nicht ohne Kritik geblieben.68 Denn in der öffentlichen Wahrnehmung ist eine „strikte Trennung der Sphären des ‚Bundesministers‘, des ‚Parteipolitikers‘ und der politisch handelnden ‚Pri66  Frank Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Strukturen, Medien, Auftrag und Grenzen eines informalen Instruments der Staatsleitung, 1992, S.  191 ff. 67  BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 53 ff.); ebenso RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (667); ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. (297 f.); NVwZ 2016, S. 1408 ff. (1410). 68  Zuletzt noch einmal eingehend Payandeh, Neutralitätspflichten staatlicher Amtsträger (Fn. 62), S. 535 ff.

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vatperson‘ “ nicht völlig umsetzbar.69 Angela Merkel ist und bleibt Angela Merkel, unabhängig davon, ob sie sich gerade als Bundeskanzlerin oder als CDU-Parteivorsitzende äußert.70 Die öffentliche Wahrnehmung eines Politikers als ein Politiker besagt aber noch nicht, dass für diesen stets die gleichen Regeln gelten würden, unabhängig davon, in welcher Rolle er gerade tätig wird. Die entscheidende Frage lautet daher, ob normativ an einer Rollentrennung festzuhalten ist.71 Bereits 1977 kritisierte der damalige Bundesverfassungsrichter Rottmann in seiner abweichenden Meinung, dass diese Trennung das Funktionsprinzip der parlamentarischen Parteiendemokratie verkenne.72 Die Mitglieder der Bundesregierung würden durch die Ernennung gerade „nicht zu ‚neutralen‘ Wesen, die nur noch einem von den Zielen und Programmen ihrer Partei losgelösten ‚objektiven Gemeinwohl‘, dem ‚sogenannten Staatsganzen‘ verpflichtet“ seien73. Im Fall Schwesig hat auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt, dass nach der Ratio von Art. 21 GG Inhaber eines Regierungsamtes typischerweise zugleich Führungsämter in Parteien wahrnehmen.74 Tatsächlich kann für die Regierung keine so strikte Neutralitätspflicht gelten wie für die Verwaltung.75 Denn mit dem durch Wahl erworbenen Amt ist ein politischer Gestaltungsspielraum verbunden. Sinn und Zweck regelmäßig wiederkehrender Wahlen ist gerade, dass die Wähler das Regierungshandeln in ihrem 69  So

auch BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 54). Payandeh, Neutralitätspflichten staatlicher Amtsträger (Fn. 62), S. 535 f.; abw. Meinung RiBVerfG Rottmann BVerfGE 44, 181 (186). 71  Zutreffend RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (667); a. A. Julian Krüper, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 16.  Dezember 2014 (Az.: 2 BvE 2 / 14), JZ 2015, S. 414 ff. (415), der den Empfängerhorizont für entscheidend hält. 72  Abw. Meinung RiBVerfG Rottmann BVerfGE 44, 181. 73  Abw. Meinung RiBVerfG Rottmann BVerfGE 44, 181 (186). 74  BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 51). 75  Payandeh, Neutralitätspflichten staatlicher Amtsträger (Fn.  62), S.  530 ff. 70  Vgl.



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Sinne beeinflussen können. Insofern ist nichts dagegen einzuwenden, dass sich die Regierung bei der Wahrnehmung ihres politischen Gestaltungsspielraums an den Parteiprogrammen der regierungstragenden Parteien orientiert.76 Die Neutralitätspflicht der Bundesregierung meint selbstverständlich nicht, dass sich die Bundesregierung nicht sachlich-inhaltlich dazu einlassen dürfte, welche Politik sie verfolgt und ob sie anderen politischen Vorschlägen – zum Beispiel aus der Mitte des Parlaments – zustimmend oder ablehnend gegenübersteht. Die Aussagen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit werden sich dabei häufig mit den Stellungnahmen der sie stützenden Parteien decken.77 Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Bundesregierung ihre Positionen auch massiv unmittelbar bei der Bevölkerung bewerben darf.78 Denn letztlich ist unbestritten, dass für die eigene Wiederwahl79 nur der Parteipolitiker, nicht das Regierungsmitglied oder die Bundesregierung als Ganzes werben darf. Insofern führt ohnehin kein Weg an einer Rollentrennung zwischen Regierungsmitglied und Parteipolitiker vorbei. Sie muss mindestens insoweit aufrechterhalten werden, wie dies für ein faires Wahlverfahren unabdingbar ist.80 76  Payandeh, Neutralitätspflichten staatlicher Amtsträger (Fn. 62), S. 533. 77  RhPfVerfGH, NVwZ 2007, S. 200 ff. (201). 78  Insofern unterscheiden sich regierungsamtliche Öffentlichkeitsund Medienarbeit, so zutreffend Mandelartz, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (Fn. 34), S. 513 f. 79  BVerfGE 44, 125 (141). 80  An der Realität vorbei gehen Andeutungen, dass die Regierung einer Art Kompensation bedürfe, weil sie stets auch verstärkt im Fokus öffentlicher Kritik stehe  – so Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (Fn. 57), S. 154, der von einem „Verteidigungsnotstand“ (!) der Regierung spricht; in eine ähnliche Richtung Payandeh, Neutralitätspflicht staatlicher Amtsträger im öffentlichen Meinungskampf (Fn. 62), S. 541 f. Sicher ist es richtig, dass der Regierung auch ihre Misserfolge zur Last gelegt werden. Die Unfähigkeit einer Regierung bedarf indes keiner Kompensation durch den Zugriff auf eine staatliche Propagandamaschinerie. Tatsächlich sind die Regierungsparteien gegenüber der Opposition stets strukturell im Vorteil, weil deren Amtsträger einen Informa­

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Diese Rollentrennung von Partei- und Regierungsamt steht nicht im Widerspruch zum Parteienstaat. Im Gegenteil entspricht sie der herausragenden Rolle, die das Grundgesetz den Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) zuweist: Der politische Wettbewerb um Regierungsämter bleibt ein Parteienwettstreit. Wahlkampf vollzieht sich zwischen gesellschaftlichen Akteuren, nicht dagegen zwischen dem Staat auf der einen und gesellschaftlichen Akteuren auf der anderen Seite.81 Für den politischen Diskurs verlangt das Demokratieprinzip des Grundgesetzes daher einen „prinzipiellen Vorrang der freien und gleichen Bürger“82. Mit den Parteien stehen politische Massenorganisationen parat, die eine staatsfreie politische Willensbildung des Volkes ermöglichen und bezwecken.83 Als Parteipolitiker begegnen sich diejenigen, die sich um politische Ämter bewerben, auf Augenhöhe. Nur so ist glaubwürdig, dass die Minderheit bei der nächsten Wahl zur Mehrheit werden kann. Freiheitlich und Stabilität des demokratischen Parteienstaats geraten dagegen in Gefahr, wenn der Staat zu einer „Kampfarena“ verkommt und nach der Wahl „als Beuteobjekt

tionsvorsprung gegenüber denen der Oppositionsparteien haben und die Regierungsparteien überdies im Gegensatz zur Opposition das Heft des Handelns in der Hand halten. Entgegen Leisner wies bereits Otto Uhlitz, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und Parteifinanzierung, RuP 1966, S. 12 f. zutreffend darauf hin, dass nach der Lebenserfahrung die Regierungsparteien im Vorteil sind. Diese Einschätzung hat sich seit damals eindrucksvoll bestätigt: 15 Mal konnte die „Kanzlerpartei“ nach der Wahl erneut den Kanzler stellen (1949, 1953, 1957, 1961, 1965, 1972, 1976, 1980, 1983, 1987, 1990, 1994, 2002, 2009, 2013 – nach dem Wahlergebnis voraussichtlich auch 2017), während ein amtierender Kanzler nur zweimal abgewählt wurde (1998 und 2005 – 1969 kam es im Nachgang der Wahl zu einem Koalitionswechsel, nicht jedoch zu einer „Abwahl“ im eigentlichen Sinne). 81  Anders verhält es sich häufig in Staaten mit Demokratiedefiziten: Hier bekämpfen zivilgesellschaftliche Gruppen „den Staat“. 82  Frederik Ferreau, Grenzen staatlicher Beteiligung am politischen Diskurs, NVwZ 2017, S. 1259 ff. (1262). 83  Vgl. BVerfGE 20, 56 (99).



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des Siegers“84 herhalten muss. Die Bundesregierung und ihre Mitglieder in amtlicher Funktion sind daher keine legitimen Akteure des Parteienwettbewerbs.85 Umgekehrt schützt die Trennung von Amt und Mandat damit übrigens auch die parteipolitische Betätigungsfreiheit von Regierungsmitgliedern:86 Diese können sich als freie Bürger mit vollem Grundrechtsschutz und ohne besondere Bindungen äußern, solange sie nur deutlich machen, als Parteipolitiker zu sprechen. Wahlkampf ist daher auf allen Seiten ein „von grundrechtlicher Energie getragener Austausch von Meinungen und Argumenten zwischen den Bürgern, frei von staatlicher Einwirkung und Reglementierung“87. 3. Update im Detail Abschließend soll es um einige konkrete Schlussfolgerungen zur Gratwanderung zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Parteipolitik regierungsamtlicher Stellen im Internet gehen. a) Organisatorische Trennung von amtlichen und nicht-amtlichen Accounts und Redaktionen Wenn nach den bisherigen Ergebnissen normativ an einer Trennung von Staats- und Parteiamt festzuhalten ist, so spricht dies für ein Gebot der organisatorischen Trennung von amtlichen und nicht-amtlichen Accounts und Redaktionen. Damit wird verhindert, dass Regierung und Parteien unzulässig zusammenwirken können.88 Einem denkbaren Missbrauch öffentlicher 84  Karl-Heinz Seifert, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und Wahlwerbung. Anmerkung zu BVerfGE 44, 125, DÖV 1977, S. 288 ff. (289). 85  Ausdrücklich a. A. Krüper, Anmerkung (Fn. 71), S. 417. 86  Darauf machen zutreffend besonders aufmerksam BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 52); RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2011, S. 665 ff. (667); ThürVerfGH, NVwZ 2016, S. 1408 ff. (1410). 87  Müller-Franken, Unzulässige Staatsmedien oder zulässige Informationstätigkeit? (Fn. 49), S. 302. 88  Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung (Fn.  66), S. 396.

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Mittel zum Zwecke der Parteiarbeit wird so vorgebeugt. Mit der organisatorischen Trennung entsprechender Redaktionen ist klargestellt, welcher rechtliche Maßstab jeweils für einen Beitrag gilt. Unzulässig ist es hingegen, wenn Regierungsmitarbeiter und Parteifunktionäre auf denselben Social-Media-Account eines Politikers zugreifen. Weder sollten Parteifunktionäre Zugriff auf ein Profil haben, auf dem regierungsamtliche Verlautbarungen verbreitet werden, noch Regierungsmitarbeiter auf ein Profil, das parteipolitischen Verlautbarungen dient. Denn Parteien dürfen nicht im Namen von Regierungsinstitutionen, Regierungsinstitutionen nicht im Namen von politischen Parteien auftreten. Zulässig ist es dagegen, wenn sich der Politiker auf einem parteipolitischen Account89 als Inhaber eines Regierungsamtes zu 89  Folgt man dem BVerfG, müssten überdies Partei- von Abgeordnetenaccounts getrennt werden. Denn soweit ein Abgeordneter Mitarbeiter beschäftigt, deren Kosten nach § 12 Abs. 3 AbgG von der öffent­ lichen Hand getragen werden, dürfen diese nur für mandatsbezogene Tätigkeiten, nicht für Wahlkampfaktivitäten eingesetzt werden; andernfalls liegt ein Wahlfehler vor, BVerfG, Beschluss vom 19.  September 2017 (Az.: 2 BvC 46 / 14), Rdnr. 90. Nicht zu beanstanden sei indes, wenn die Tätigkeit noch irgendeinen Mandatsbezug habe, selbst wenn sie auch den Wahlkampf beeinflusse (Rdnr. 88). Die Unterscheidung von Mandats- und Parteiarbeit geht jedenfalls im Vorfeld von Wahlen an der Realität in einem Wahlkreisbüro vorbei. Da das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der Legislaturperiode endet, haben die Wahlkreismitarbeiter ein ähnlich hohes Interesse, für die Wiederwahl „ihres“ Abgeordneten zu kämpfen, wie der Abgeordnete selbst. Anders als die Mitarbeiter in den Berliner Büros können sie sich auch nicht einfach bei einem anderen Abgeordneten bewerben, sondern müssten dafür mindestens einen Umzug, je nach Lage der Dinge quer durch die Republik, in Kauf nehmen. Die ehrlichere Begründung wäre deshalb, Wahlkampf durch Abgeordnetenmitarbeiter genauso zuzulassen, wie es selbstverständlich auch dem Abgeordneten selbst gestattet ist, für seine Wiederwahl zu werben. Anders als im Fall der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit führt eine Beteiligung von Wahlkreismitarbeitern nicht zu einer Ungleichbehandlung im Verhältnis von Regierungs- und Oppositionslager (denn auch die Oppositionsabgeordneten können auf Wahlkreismitarbeiter zurückgreifen), sondern nur im Verhältnis zwischen bereits im Bundestag vertretenen und noch nicht vertretenen Parteien. Insofern sind die



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erkennen gibt. Die bloße Verwendung der Amtsbezeichnung führt noch nicht dazu, dass es sich um eine regierungsamtliche Äußerung handelt, weil staatliche Funktionsträger ihre Amtsbezeichnung auch außerdienstlich verwenden dürfen.90 Äußert sich ein Minister auf einem parteipolitischen Account zu Fragen seines Ressorts, so macht dies seine Äußerung ebenfalls nicht automatisch zu einer regierungsamtlichen. Denn es wäre widersinnig und würde die Regierungsparteien benachteiligen, wenn ein Minister sich ausgerechnet zu dem Themenbereich nicht parteipolitisch äußern dürfte, in dem er tatsächlich Politik verantwortet. Für Äußerungen auf rein parteipolitischen Accounts gilt die gleiche Vermutung zugunsten einer parteipolitischen Äußerung wie für Äußerungen auf Parteiveranstaltungen.91 Die organisatorische Trennung von regierungsamtlichen und parteipolitischen Profilen beinhaltet daher die Chance für Regierungsmitglieder, sich zu der von ihnen verantworteten Politik in den sozialen Netzwerken ohne die mit ihrem Amt verbundenen Bindungen frei äußern zu können. b) Stilllegung regierungsamtlicher Accounts in der heißen Wahlkampfphase Nach wie vor überzeugend ist die Lösung des Bundesverfassungsgerichts, im unmittelbaren Vorfeld der Wahl strengere Maßim Bundestag vertretenen Parteien aber ohnehin vielfach privilegiert, nicht zuletzt dadurch, dass auch der Abgeordnete aus der Position eines staatlich alimentierten „Berufspolitikers“ heraus Wahlkampf machen kann. 90  Tristan Barczak, Parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern (Fn. 59), S. 1016. 91  Zu letzteren BVerfGE 138, 102 (Rdnr. 58). Anders Barczak, Äußerungsbefugnis von Amtsträgern (Fn. 59), der bei Äußerungen in den sozialen Netzwerken eine differenzierte Betrachtung wie bei Talkrunden und Diskussionsforen vorschlägt. Dabei übersieht Barczak, dass sich Äußerungen in Social-Media-Accounts – jedenfalls bei einer organisatorischen Trennung von regierungsamtlichen und parteipolitischen Profilen – in der Regel eindeutig der Rolle als Regierungsmitglied bzw. Parteipolitiker zuordnen lassen.

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stäbe an regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit anzulegen als außerhalb der Wahlkampfzeit.92 Wahlkämpfer wissen: Wahlkampf ist die schönste Jahreszeit, man muss nur gewinnen.93 Äußere Anzeichen dieser Jahreszeit sind Wahlplakate, Werbestände, Großkundgebungen und spezielle TV-Formate. Der öffentliche Diskurs spitzt sich in dieser Zeit ganz auf den Kampf um jede Wählerstimme zu. Greift das Bundespresseamt in diese Auseinandersetzung ein, wird es leicht vom „Sprachrohr der Regierung“ zur „Propagandamaschine der Regierungsparteien“94. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Deshalb tritt das Informations- und Transparenzinteresse der Bundesregierung im unmittelbaren Vorfeld der Wahl hinter die Forderung nach einer Staatsfreiheit der politischen Meinungsbildung im Volk zurück. Die Social-Media-Aktivitäten der Regierung sind in dieser „heißen Wahlkampfphase“ ganz einzustellen.95 Diese zeitlich 92  BVerfGE 44, 125 (152); 63, 230 (244); RhPfVerfGH, NVwZ 2007, S. 200 ff. (202); SaarlVerfGH, NVwZ-RR 2010, S. 785 f.; ThürVerfGH, ThürVBl. 2015, S. 295 ff. (298); RhPfVerfGH, NVwZ-RR 2014, S. 665 ff. (666); a. A. Payandeh, Neutralitätspflichten staatlicher Amtsträger (Fn. 62), S. 540. 93  Gelegentlich wird dieses Zitat Konrad Adenauer zugeschrieben. Trotz intensiver Bemühungen konnte der Autor dafür aber keinen Beleg finden. 94  Leihe, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Fn. 49), S. 447. 95  Das gilt auch, wenn man mit Mandelartz, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (Fn. 34), S. 515 f. davon ausgeht, dass die aufgedrängte von der aufgesuchten Öffentlichkeitsarbeit zu unterscheiden sei. Selbst diejenigen, die einem regierungsamtlichen Profil nicht folgen, werden nämlich über Aktivitäten anderer Nutzer informiert, die mit dem regierungsamtlichen Profil interagieren. Insofern hängt die Konfrontation mit Beiträgen aus regierungsamtlichen Profilen nicht unmittelbar davon ab, ob der Betroffene dem Profil folgt. Selbst bei denjenigen, die einem Profil folgen, kann aber nicht von einer aufgesuchten Öffentlichkeitsarbeit wie etwa beim Besuch eines Tags der offenen Tür gesprochen werden. Ältere Beiträge müssen indes nicht gelöscht werden, so zutreffend Herbert Mandelartz / Henning Grotelüschen, Das Internet und die Rechtsprechung des BVerfG zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung, NVwZ 2004, S. 647 ff. (650). Denn derartige „Archiv“-Beiträge auf



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eng begrenzte Social-Media-Pause schränkt die Transparenz regierungsamtlichen Handelns nur unwesentlich ein. Denn die politischen Umsetzungsmöglichkeiten der Regierung schwinden zu diesem späten Zeitpunkt ihrer Amtszeit ohnehin. Bilanz der zurückliegenden Arbeit zu ziehen, ist dagegen nicht Sache der Regierung, denn dies ist gerade Gegenstand der Auseinandersetzung, wer zukünftig die Regierung führen soll.96 Zu weit geht es allerdings, bereits in der Bekanntgabe des Wahltermins durch den Bundespräsidenten nach § 16 BWahlG den Beginn der besonders geschützten „heißen Wahlkampfphase“ zu erblicken.97 Der Bundespräsident gibt den Termin regelmäßig mehrere Monate vorher bekannt,98 nach den Maßstäben der digitalen Welt sind das praktisch Jahre. Bei der Sondernutzung öffentlichen Straßenraums für Wahlplakate haben die Verwaltungsgerichte einen Richtwert von etwa sechs Wochen vor dem Wahltermin entwickelt.99 Dies ist auch für die völlige Stilllegung regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken eine angemessene Frist.100 Das Gebot äußerster Zurückhaltung und die damit verbundene Stilllegung regierungsamtlicher Accounts gilt jeweils nur für die staatliche Ebene, für die tatsächlich Wahlen anstehen. Landtags- oder Kommunalwahlen führen daher nicht dazu, dass die Bundesregierung ihre regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit Homepages bzw. ältere Beiträge auf sozialen Netzwerken werden regelmäßig nicht ohne Zutun des Nutzers eingeblendet und unterscheiden sich insofern von aufgedrängten Broschüren. 96  Zur Unzulässigkeit von Arbeits-, Leistungs- oder Erfolgsberichten BVerfGE 44, 125 (152). 97  Wie hier krit. SaarlVerfGH, NVwZ-RR 2010, S. 785 f.; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung (Fn. 66), S. 348. 98  Johann Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), Bundeswahlgesetz Kommentar, 9. Aufl. 2013, § 16 Rdnr. 2. 99  VG Gelsenkirchen, NVwZ-RR 2014, S.  161 ff.; NWVBl. 1999, S. 106 f. (107); VG München, BayVBl. 2007, S. 732 ff. (735); VG Gießen, NVwZ-RR 2001, S. 417 f. (418). 100  Für eine Dreimonatsfrist vor dem Wahltermin SaarlVerfGH, NVwZ-RR 2010, S. 785 f. (786).

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beschränken müsste. Schon aus der Kompetenzverteilung ergibt sich, dass die Bundesregierung zu rein landespolitischen Fragen regelmäßig ohnehin keine Stellungnahmen abgeben darf; erst recht verbietet sich selbstverständlich ein direktes Eingreifen in den Wahlkampf etwa durch Wahlempfehlungen. Soweit sich aus der Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung eine Kompetenz der Landesregierungen zu bundespolitischen Äußerungen ergibt,101 gilt für diese das gleiche Gebot äußerster Zurückhaltung vor Bundestagswahlen wie für die Bundesregierung selbst. Im Übrigen ist die Öffentlichkeitsarbeit von Landesregierungen im Vorfeld der Bundestagswahlen weiterhin zulässig, da die Arbeit der Landesregierung bei der Bundestagswahl nicht zur Abstimmung steht.102 c) Missbrauch regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit als unzulässige Parteispende i. S. v. § 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG103 Wegen des verfassungsrechtlichen Verbots einer verdeckten staatlichen Parteienfinanzierung kann unzulässige regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit zu parteienrechtlichen Konsequenzen führen. Das Parteiengesetz verbietet den Parteien, Spenden der öffentlichen Hand anzunehmen (§ 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG).104 Nach der Legaldefinition von § 27 Abs. 3, 4 PartG gehören zu den Parteispenden neben Geldleistungen auch sonstige geldwerte Zuwendungen aller Art. Der parteienrechtliche Spendenbegriff umfasst die „unentgeltliche Bereitstellung von sächlichen Mitteln, Personal oder vorhandenen Organisations­ 101  Bezogen auf die Ministerpräsidenten Barczak, Parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern (Fn. 59), S. 1017. 102  RhPfVerfGH, NVwZ 2007, S. 200 ff. (201). 103  Der vom Gesetzgeber gebrauchte Begriff der Spende ist hier unglücklich. Denn er impliziert ein altruistisches Vermögensopfer Privater, das zur selbstlosen Finanzierung öffentlicher Aufgaben verwendet wird; dazu Paul Kirchhof, in: Kirchhof (Hrsg.), Einkommensteuergesetz Kommentar, 16. Aufl. 2017, § 10b Rdnr. 1. Deshalb passt der Begriff Spende nicht auf staatliche Zuschüsse an Parteien. 104  Heike Jochum, in: Ipsen (Hrsg.), Parteiengesetz Kommentar, 2008, § 25 Rdnr. 20.



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strukturen“105. Zu Recht geht daher der Präsident des Deutschen Bundestages davon aus, dass regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit eine unzulässige Parteispende der öffentlichen Hand sein kann, wenn sie die Schwelle zur Wahlwerbung überschreitet.106 Dafür muss die Partei die Spende annehmen und über sie die Verfügungsgewalt erlangen. Das ist bei sonstigen geldwerten Zuwendungen der Fall, wenn der Partei der Vorteil tatsächlich so zugeflossen ist, dass sie wesentlichen Einfluss auf die Art und die Verwendung des Zugedachten hatte.107 Grundsätzlich unterstehen das Bundespresseamt und andere Behörden gerade nicht der Verfügungsgewalt der Partei, sondern sind Teil  der staatlichen Bürokratie. Mittelbare Verfügungsgewalt besteht aber dort, wo Mitglieder der Bundesregierung, die zugleich annahmeberechtigte Personen ihrer Partei im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz  4 PartG sind,108 Regierungsmitarbeiter zu regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit veranlassen, die in der Sache Parteipolitik ist. In diesem Fall muss die Partei den Geldwert109 der unzulässigen Öffentlichkeitsarbeit unverzüglich dem Bundestagspräsidenten zuleiten (§ 25 Abs. 4 PartG). Andernfalls drohen die weiteren Sanktionen des § 31c PartG.110 Das Parteienrecht eröff105  BVerfGE

85, 264 (321). durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages. Bericht über die Rechenschaftsberichte 2012 bis 2014 der Parteien sowie über die Entwicklung der Parteienfinanzen gemäß § 23 Absatz 4 des Parteiengesetzes vom 22. Dezember 2016, BT-Drs. 18 / 10710, S. 38 f. 107  Sophie-Charlotte Lenski, Parteiengesetz und das Recht der Kandidatenaufstellung Handkommentar, 2011, § 25 Rdnr. 10. 108  Speziell zu einem solchen Fall auch Unterrichtung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, BT-Drs. 18 / 10710 (Fn. 106), S. 39: „Da der Minister zugleich Landesvorsitzender und Spitzenkandidat seiner Partei war, stand außer Zweifel, dass der Partei etwaige geldwerte Vorteile als Einnahme im Sinne des § 26 Absatz 1 Satz 2 PartG und damit als unzulässige Spenden zuzurechnen wären“. 109  Vgl. allgemein zu sonstigen Sachspenden Lenski, PartG (Fn. 107), § 25 Rdnr. 79. 110  Der Geldwert entsprechender Zuwendungen ist ggf. zu schätzen. Nicht nachvollziehbar ist, warum der Bundestagspräsident in einem Fall von entsprechenden Sanktionen absah, weil sich der regierungsamtliche 106  Unterrichtung

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net damit ein scharfes Schwert gegen den Missbrauch regierungsamtlicher Stellen für parteipolitische Zwecke. d) Konsequenzen im Wahlprüfungsverfahren Das Bundesverfassungsgericht warnte schon in seiner Grundsatzentscheidung von 1977, dass gravierende Verstöße gegen die Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit „im Wahlprüfungsverfahren nicht ohne Konsequenzen bleiben [können] und die Gültigkeit der Wahl gefährden“111. Mit diesem deutlichen Hinweis hat das Bundesverfassungsgericht seinen zutreffenden Ansatz zur letzten Konsequenz geführt, dass regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit die Wahlfreiheit und -gleichheit im Vorfeld der Wahl berührt (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG).112 Den Verantwortlichen sollte das Risiko bewusst sein, dass „ein paar falsche Tweets“ zur Wiederholung der gesamten Bundestagswahl führen können. Während Wahlfehlern beim Wahlvorgang selbst häufig konkret die Ergebnisrelevanz abgesprochen werden kann oder die Fehlerfolgen sich zumindest lokal begrenzen lassen,113 ist dies bei unzulässiger regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit nicht der Fall. Ergebnisrelevanz liegt vor, wenn nach allgemeiner Lebenserfahrung eine konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit besteht, dass der Wahlfehler Einfluss auf die Sitzverteilung hatte.114 Bei unzulässiger Wahlwerbung in nicht Aufwand für die Öffentlichkeitsarbeit nach Auskunft des zuständigen Ministeriums  – dessen Minister ein Missbrauch öffentlicher Mittel zu Wahlkampfzwecken durch eine „Sommertour“ im unmittelbaren Vorfeld einer Landtagswahl vorgeworfenen worden war  – angeblich nicht beziffern ließ. Vgl. Unterrichtung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, BT-Drs. 18 / 10710 (Fn. 106), S. 39. 111  BVerfGE 44, 125 (154). 112  BVerfGE 44, 125 (144, 146). 113  Zu diesem „Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“ BVerfGE 121, 266 (311). 114  Insbesondere ist nicht erforderlich, dass sich andere Regierungsmehrheiten ergeben hätten. Denn bei der Bundestagswahl wird keine Regierung, sondern ein Parlament in einer ganz bestimmten Zusammensetzung gewählt.



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unerheblichem Umfang liegt es nahe, dass Wähler beeinflusst werden und eine andere Mandatsverteilung eintritt als ohne diese Beeinflussung.115 Alles andere ist reine Spekulation.116 Da die Chancengleichheit der Oppositionsparteien zu den elementaren Grundsätzen einer demokratischen Wahl gehört, können diesbezügliche Wahlfehler kaum mit einem schutzwürdigen Vertrauen in das Bestehen eines gewählten Parlaments aufgewogen werden. Jedenfalls bei systematischen Verstößen in erheblichem Umfang hat der Wahlfehler ein solches Gewicht, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erscheint.117 e) Keine Konkurrenz zu Onlinemedien Social-Media-Accounts der Bundesregierung dürfen nicht in Konkurrenz zu den neuen Onlinemedien treten. Die Trennung von Staat und Medien ist für eine demokratische Willensbildung „von unten nach oben“ unabdingbar: Nur eine nicht-staatliche Medienlandschaft stellt sicher, dass die Gesellschaft den Staat regiert und nicht der Staat die Gesellschaft. Da sich heute ein großer Teil der Bevölkerung überwiegend oder sogar ausschließlich über Onlinemedien zum politischen Geschehen informiert, müssen die Grundsätze der Staatsfreiheit der Presse bzw. die Staatsferne des Rundfunks, zu einem Grundsatz der Staatsferne der Medien verallgemeinert,118 auch auf das Internet übertragen 115  BVerfGE

89, 243 (254); 89, 291 (304); 121, 266 (310). etwa Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG III, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rdnr. 94, der eine „Neutralisierung durch andere politische Botschaften“ in Betracht zieht. 117  Zu dieser sehr strengen Voraussetzung vgl. BVerfGE 103, 111 (134); 121, 266 (312). Insofern hat BVerfGE 44, 125 (154) indes eine deutliche Warnung in dem hier vertretenen Sinne ausgesprochen. 118  Überzeugend legt Fechner, Medienrecht (Fn.  45), Kap.  3 Rdnr. 100 ff. dar, dass sich Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG zu einem einheitlichen Grundrecht der Medienfreiheit verbinden lassen. Zum Grundsatz der Staatsferne in den sozialen Netzwerken vgl. Kap. 12 Rdnr. 226. Schon BVerfGE 12, 205 (260 f.) betont den engen Zusammenhang von Presse- und Rundfunkfreiheit. Eine unter116  Vgl.

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werden. Staatliche Konkurrenz zu Online-Medien ist demnach ebenso unzulässig wie eine Staatspresse oder ein Staatsrundfunk.119 Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit muss sich deshalb an die Kompetenzen des jeweiligen Organs halten.120 Bei der Bundesregierung sind diese Grenzen indes sehr weit, weil sie sich im Rahmen ihrer staatsleitenden Funktion121 zu nahezu allen Fragen von politischer oder gesellschaftlicher Relevanz äußern darf. Gleichwohl müssen sich auch die Kanäle der Bundesregierung in ihrer Gesamtaufmachung von Nachrichtenportalen unterscheiden. Nachrichtenkanäle der Regierung müssen offen als solche erkennbar sein und sich auf Eigeninformation und Selbstdarstellung beschränken; die publizistische Weiterverbreitung von Fremdinformationen ist dagegen unzulässig.122 Problematisch ist schiedliche Behandlung von einzelnen Onlinemedieninhalten danach, ob es sich um Presse oder Rundfunk handelt – so etwa der Ansatz von Ansgar Koreng, Staatliche Internetpräsenzen zwischen legitimer Öffentlichkeitsarbeit und dem Verbot des Staatsrundfunks. Podcasts, Videoblogs und der Rundfunkbegriff, AfP 2009, S. 117 ff. zum Video-Podcast der Bundeskanzlerin  – wird den Besonderheiten der Onlinemedien nicht gerecht. Jedenfalls lässt sich die Unterscheidung von Presse und Rundfunk im Onlinezeitalter nicht allein nach technischen Aspekten (Übertragungsweg) angemessen bewerkstelligen. Zutreffend für einen „technologieneutralen Pressebegriff“ und die Ausdehnung der Pressefreiheit auf presseähnliche Onlinepublikationen Jürgen Kühling, in: Gersdorf  /  Paal (Hrsg.), BeckOK Informations- und Medienrecht, (Stand: 1.  Mai 2017) Art. 5 Rdnr. 46; Degenhart, Art. 5 Abs. 1 und 2 (Fn. 51) Rdnr. 197 f.; Kerstin Odendahl, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 5 Rdnr. 17. 119  Christoph Degenhart, Staatspresse in der Informationsgesellschaft. Verfassungsrechtliche und wettbewerbsrechtliche Schranken für die Publikationstätigkeit der öffentlichen Hand, AfP 2009, S. 207 ff. (215); ohne klares Ergebnis Ladeur, Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit im Internet (Fn. 43), S. 6 f. 120  BVerfGE 44, 125 (149); 63, 230 (243 f.); 105, 252 (270). 121  Vgl. BVerfGE 105, 252 (271); 105, 279 (301  f.); 138, 102 (Rdnr.  38 ff.).



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es daher, 12wenn regierungsamtliche Accounts neben den eigentlichen Verlautbarungen zur Regierungsarbeit um scheinbar belanglose Posts zu Sport, Kultur oder zeitgeschichtlichen Ereignissen angereichert werden, die keinen Bezug zum Regierungshandeln haben, sondern nur dazu dienen, das Profil allgemein interessant zu machen. f) Gesetzliche Grundlage für das digitale Hausrecht regierungsamtlicher Accounts Das digitale Hausrecht regierungsamtlicher Accounts bedarf einer formell-gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Ohne sie lassen sich Grundrechtseingriffe, wie sie beispielsweise damit einhergehen, wenn einzelne Kommentare auf staatlichen SocialMedia-Accounts gelöscht werden, nicht rechtfertigen. Da die Löschung nicht der Sanktion, sondern der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit dient, handelt es sich dogmatisch um eine polizeirechtliche Regelung.123 In der Sache lässt sich  – abgesehen von eindeutigem Werbespam  – nur rechtfertigen, wenn strafbare Kommentare gelöscht werden. Jenseits dieser Grenze muss die Bundesregierung auf ihren Accounts auch scharfe Kritik dulden. Schafft die Bundesregierung mit ihren Social-Media-Accounts eine Art digitale ἀγορά, so ist es ihr verwehrt, gegen bestimmte (im allgemeinen 122  So zu staatlichen Druckschriften Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung (Fn. 66), S. 318 f. 123  Dies wirft auch die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz auf. Geht man mit dem BVerwG davon aus, dass presserechtliche Auskunftsansprüche gegen Bundesbehörden nicht der Landeskompetenz Presserecht unterfallen, sondern Annexkompetenzen des Bundes sind – BVerwGE 146, 56 (Rdnr. 21); 151, 348 (Rdnr. 12 ff.) –, so liegt es nahe, auch hinsichtlich der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit von Bundesbehörden von einer Bundesannexkompetenz auszugehen. Folgt man der Gegenansicht  – etwa Matthias Cornils, Der medienrechtliche Auskunftsanspruch in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes  – Verfassungsfragen eines Bundes-Presseauskunftsgesetzes, DÖV 2013, S. 657 ff. (658) – so würde es sich um eine presse- bzw. rundfunkrecht­ liche Regelung, also um Landesrecht, handeln.

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zulässige) Meinungsbekundungen vorzugehen. Denn staatlich gelenkte Diskussionsforen sind mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.124 Geltendes Verfassungsrecht darf insbesondere nicht durch private „Anti-Hate-Speech-Policys“ ersetzt werden. Zivilgesellschaftliche Kampagnen gegen „Hate Speech“125 ächten vielfach Meinungsbekundungen, die längst nicht die Grenzen zur Strafbarkeit erreicht haben. Beispielsweise setzen sie sich für eine „diskriminierungsfreie“, „gendergerechte“ Sprache ein. Während sich private Herausgeber gerade auf die Grundrechte berufen können, wenn sie in ihren Medien eine solche Sprachpolitik durchsetzen, hat der Staat keine derartige Freiheit. Betroffene müssen die Möglichkeit haben, gegen die Löschung ihrer Kommentare rechtlich vorzugehen (Art. 19 Abs. 4 GG). Da regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit als Wahrnehmung der staatsleitenden Funktion hoheitliche Tätigkeit ist, handelt es sich bei Streitigkeiten über die Löschung von Kommentaren um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten im Sinne von § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Nach derzeitiger Rechtslage ist die Löschung von Kommentaren auf Social-Media-Accounts öffentlicher Stellen schlicht hoheitliches Handeln. Für einen Verwaltungsakt im Sinne von § 35 S. 1 VwVfG fehlt es am Merkmal der Regelung. Neben einem Feststellungsurteil kann im Wege der Leistungsklage auch ein Folgenbeseitigungsanspruch verfolgt werden. Dieser kann, soweit eine Wiederherstellung gelöschter Kommentare technisch nicht möglich ist, darauf gerichtet sein, dass auf dem Social-Me124  Elsaß / Labusga / Tichy, Löschungen und Sperrungen von Beiträgen durch die Betreiber sozialer Netzwerke (Fn. 60), S. 241, erwägen sogar, dass selbst private Betreiber sozialer Netzwerke nur strafbare Inhalte löschen dürfen. Für staatliche Diskussionsforen gelten jedenfalls besondere Anforderungen, auch dann, wenn diese wie bei Facebook mittelbar auf einer privaten Plattform angeboten werden. 125  Die Bundesregierung verlinkte auf Facebook etwa das Portal „No Hate Speech“, verfügbar unter: https: /  / no-hate-speech.de /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). In der Netiquette der Bundesregierung (Fn. 55) heißt es u. a.: „Gewaltverherrlichende, diskriminierende, rassistische, fremdenfeindliche, sexistische, menschenverachtende oder verfassungsfeindliche Beiträge haben hier keinen Platz“.



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dia-Account die Rechtswidrigkeit der Löschung angemessen bekannt gemacht wird. Im Zuge einer gesetzlichen Regelung ist es empfehlenswert, die behördliche Entscheidung über die Löschung eines Kommentars als Verwaltungsakt auszugestalten. In jedem Fall sollte die Behörde verpflichtet werden, Nutzer über die Löschung eines Kommentars zu informieren sowie den Vorgang zu dokumentieren. Dabei ist der betroffene Beitrag durch ein Bildschirmfoto festzuhalten. Ohne diese Dokumentation würde gerichtlicher Rechtsschutz des Betroffenen vielfach praktisch völlig vereitelt, weil es vor Gericht an Beweismaterial fehlt. III. Zusammenfassung in Thesen 1. Die sozialen Netzwerke erwecken zunächst den Eindruck, dass sich auf ihrem Forum die Trennung zwischen Medienmachern und Rezipienten auflöst. Nutzer sozialer Medien „konsumieren“ nicht nur, sondern gestalten mit ihren Beiträgen die Social-Media-Öffentlichkeit mit. Tatsächlich konzentriert sich aber auch in sozialen Netzwerken Medienmacht auf wenige Profile. Nur diese erreichen mit ihren Beiträgen ein breites Massenpublikum. Dabei finden sich von Online-Angeboten „klassischer“ Medien über die Parteien bis hin zu regierungsamtlichen Stellen altbekannte Akteure aus der analogen auch in der digitalen Welt wieder. 2. Vor diesem Hintergrund bleibt die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit von 1977 (BVerfGE 44, 125) im digitalen Zeitalter aktuell. Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Netzwerken ist nicht prinzipiell anders zu bewerten als klassische Öffentlichkeitsarbeit in Form von Anzeigen oder Broschüren. Im Internet gilt wie in der analogen Welt, dass sich die politische Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt vollziehen muss. Social-Media-Aktivitäten regierungsamtlicher Stellen ermöglichen hier einerseits ein besonderes Maß an Transparenz, was dem öffentlichen Willensbildungsprozess zugute kommt. Andererseits bringt gerade die auf visuelle und plakative Aussagen angelegte ἀγορά sozialer Medien die Gefahr mit sich, dass zulässige Öffentlichkeitsarbeit in eine un-

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zulässige staatliche Lenkung des politischen Willensbildungsprozesses umschlägt. 3. Wahlwerbung zugunsten einzelner Parteien dürfen regierungsamtliche Stellen zu keinem Zeitpunkt betreiben. Im unmittelbaren Vorfeld der Wahl (sechs Wochen vor dem Wahltermin) hat die Regierung ihre Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich einzustellen, um einen staatsfreien politischen Willensbildungsprozess zu gewährleisten. Regierungsamtliche Social-Media-Accounts sind in dieser Zeit stillzulegen. 4. Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit ist organisatorisch strikt von Parteipropaganda zu trennen. Politiker, die sich sowohl als Regierungsmitglied als auch als Parteipolitiker äußern wollen, müssen daher für ihre jeweiligen Funktionen getrennte Social-Media-Profile einrichten. Die Pflege parteipolitischer Social-Media-Profile durch Regierungsbeamte ist genauso unzulässig wie der Zugriff von Parteiangestellten auf regierungsamtliche Social-Media-Profile. Die immer wieder geübte Kritik, eine solche Rollentrennung ein und desselben Politikers sei künstlich, greift nicht durch. Entscheidend ist, dass ein Politiker in seiner Funktion als Regierungsmitglied anderen rechtlichen Bindungen unterliegt als in seiner Rolle als Parteifunktionär. Schlägt regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit in unzulässige Wahlwerbung um, so kann hierin eine unzulässige Parteispende der öffentlichen Hand i. S. v. § 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG liegen. Im Wahlprüfungsverfahren droht überdies eine Wiederholung der gesamten Bundestagswahl, da die Ergebnisrelevanz von Wahlfehlern durch regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit regelmäßig nicht eingegrenzt werden kann. 5. Regierungsamtliche Social-Media-Profile dürfen nicht in Konkurrenz zu journalistisch-redaktionell gestalteten, pressebzw. rundfunkähnlichen Onlinemedien treten. Die Grundsätze der Staatsfreiheit der Presse bzw. der Staatsferne des Rundfunks lassen sich zu einem Verbot journalistisch-redaktionell gestalteter Staatsmedien verallgemeinern und auf das Internet übertragen. 6. Die Wasserscheide zwischen dem grundrechtsgebundenen Staat auf der einen und grundrechtsberechtigten Bürgern auf der



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anderen Seite gilt auch dann, wenn sich Staat und Bürger in den sozialen Netzwerken vermeintlich auf Augenhöhe begegnen. Der Staat hat in den sozialen Netzwerken seine öffentlichrechtlichen Sonderbindungen und insbesondere die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) zu beachten. Ein Rückzug auf die Funktionslogik sozialer Netzwerke, deren Nutzungsbedingungen und technische Einrichtungen kommt nicht in Betracht. Für die Löschung von Kommentaren auf Regierungsprofilen geben das „digitale Hausrecht“ und eine darauf fußende „Netiquette“ folglich nichts her. Vielmehr muss der Gesetzgeber dafür eine präventivpolizeiliche Ermächtigungsgrundlage schaffen. 7. Die digitale Revolution erfordert keine dogmatische Revolution. Neue Sachverhalte regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit im Internet lassen sich unter bestehende Rechtssätze subsumieren. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum – auch nicht für die Bundesregierung.

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Anhang: Abbildungen zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Netzwerken

Abb. 1: Unmittelbar nach Ende einer entsprechenden Pressekonferenz im Konrad-Adenauer-Haus gibt auch die Bundesregierung auf ihrer Facebook-Seite bekannt, dass Angela Merkel erneut als Bundeskanzlerin kandidieren wird (20. November 2016).

Abb. 2: „Blick hinter die Kulissen“ auf dem Instagram-Account der Bundeskanzlerin (13. Juli 2017).



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Abb. 3: Von BVerfGE 44, 125 beanstandete Anzeige der Bundesregierung im SPIEGEL 1976 (Auszug).

Abb. 4: Auf Instagram ist zu sehen, wie Bundeskanzlerin Merkel Prinz William und Herzogin „Kate“ (Catherine) im Kanzleramt empfängt (19. Juli 2017).

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Abb. 5: Von BVerfGE 44, 125 beanstandete Zeitungsanzeige der Bundesregierung zur Verkehrspolitik 1976.

Abb. 6: Äußerung der Bundesregierung auf Facebook zur Frage von Fahrverboten für Dieselfahrzeuge (4. September 2017).

Hoheitsgewalt oder Meinungsfreiheit? Politische Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger auf deutschem Staatsgebiet Von Hanno Kube I. Auftritte ausländischer Amtsträger in Deutschland  – Gute Tradition und rechtliche Herausforderung  . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Abgrenzung des Raums der Grundrechtsberechtigung  . . . . . . 127 1. Grundrechtsberechtigung des Menschen  . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Der ausländische Politiker als Mensch und als Hoheitsträger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Reichweite der Grundrechte privater Veranstalter  . . . . . . . 133 III. Rechtlicher Rahmen der außenpolitischen Beziehungspflege  138 1. Verfassungsrechtlich eröffneter Gestaltungsraum der Bundesregierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Übereinstimmung mit dem Völkerrecht  . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Verfassungsrechtliche Anleitung der Ermessensausübung durch die Bundesregierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Selbststand gefahrenabwehrrechtlicher Entscheidungen der Behörden vor Ort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IV. Aufenthaltsort und Staatsangehörigkeit  – Die kontrollierte Einbürgerung als demokratieadäquate Lösung  . . . . . . . . . . . . . 146 V. Andere Formen der politischen Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger in Deutschland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Einwirkung auf ausländische Staatsangehörige vom Ausland aus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Beeinflussung der demokratischen Willensbildung in Deutschland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 VI. Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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I. Auftritte ausländischer Amtsträger in Deutschland – Gute Tradition und rechtliche Herausforderung Auftritte ausländischer Amtsträger haben in Deutschland eine lange und gute Tradition. Erinnert sei an die Berliner Rede von John F. Kennedy im Jahr 1963 („Ich bin ein Berliner.“), an die Rede von Michael Gorbatschow vor dem Deutschen Bundestag am 9. November 1999, 10 Jahre nach dem Mauerfall, an die Rede von Barack Obama vor 200.000 Zuhörern an der Siegessäule in Berlin zur Zeit des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2008 oder auch an die Reden verschiedener ausländischer Amtsträger anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen. Nunmehr sind die Auftritte einiger ausländischer Amtsträger in Deutschland zu einem Politikum geworden, ja sogar zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Es handelt sich dabei um die für das Präsidialsystem unter der Führung von Präsident Erdogan und für eine von ihm konzipierte Verfassungsreform werbenden Auftritte türkischer Amtsträger vor türkischen Wahl- und Abstimmungsberechtigten in Deutschland. Den ersten Anlass zu einem medienöffentlich gewordenen Streit gab das von der Stadt Köln Mitte 2016 ausgesprochene Verbot, eine Videoleinwand auf der Bühne einer Großveranstaltung aufzubauen, auf der Präsident Erdogan live zugeschaltet werden sollte. Der private, deutsche Versammlungsveranstalter wandte sich gegen dieses Verbot im Wege eines Eilrechtsschutzverfahrens vor dem VG Köln. Das Gericht hob das Verbot  – nach Auslegung der Versammlungsfreiheit – nur insoweit auf, als zugelassen werden müsse, die Leinwand zur vergrößerten Darstellung derjenigen Redner zu benutzen, die persönlich bei der Versammlung anwesend sind.1 Das OVG Münster bestätigte die Entscheidung.2 Das Bundesverfassungsgericht lehnte einen dies1  VG

Köln, Beschluss vom 29. Juli 2016 – 20 L 1790 / 16. Münster, NVwZ 2017, S. 648 ff.; dazu Stefan Muckel, Entscheidungsbesprechung. Rede eines ausländischen Staatsoberhaupts bei einer Versammlung in Deutschland, JA 2017, S. 396 ff. 2  OVG



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bezüglichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wegen offensichtlich fehlender Erfolgsaussichten in der Hauptsache ab.3 Die Situation spitzte sich sodann zunehmend zu, insbesondere im Vorfeld zu dem für den 16.  April 2017 angesetzten Verfassungsreferendum in der Türkei. So warb der türkische Ministerpräsident Yildirim Mitte Februar 2017 in Oberhausen vor mehreren tausend Landsleuten um Zustimmung zu dem Verfassungsreferendum. Im März 2017 trat darauf Sportminister Kilic mit gleicher Zielsetzung auf, wiederum in Köln. Kurz vor diesem Auftritt hatte das Bundesverfassungsgericht noch über eine gegenläufige Verfassungsbeschwerde entschieden, mit der gerügt worden war, dass es die Bundesregierung in verfassungswidriger Weise unterlassen habe, die Rede von Ministerpräsident Yildirim zu verbieten und gegen weitere entsprechende Auftritte türkischer Regierungsmitglieder einzuschreiten, in denen eine nach dem Maßstab unserer Verfassung demokratiefeindliche Staatsform befürwortet werde. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde wegen fehlender eigener Beschwer des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung an.4 In einem obiter dictum führte das Gericht allerdings aus, dass sich ausländische Hoheitsträger bei Inanspruchnahme ihrer Amtsautorität in Deutschland ihrerseits nicht auf Grundrechte berufen könnten. Ihre Einreise und ihre Tätigkeit in Deutschland fielen vielmehr in den Anwendungsbereich des Art. 32 Abs. 1 GG. Die 3  BVerfG,

EuGRZ 2016, S. 498 ff. NJW 2017, S. 1166; dazu Reinhard Müller, Kirchhof: „Erdogan muss sich an die Regeln halten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. März 2017; Matthias Goldmann, Le gouvernement de soi et des autres: Zu Auftrittsverboten für türkische Regierungsmitglieder, Verfassungsblog vom 14. März 2017, verfügbar unter: http: /  / verfassungsblog. de / le-gouvernement-de-soi-et-des-autres-zu-auftrittsverboten-fuer-tuer kische-regierungsmitglieder /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017); Timo Schwander, Entscheidungsanmerkung. Auftritte ausländischer Regierungsmitglieder im Inland, ZJS-online 2017, S. 242 ff., verfügbar unter: http: /  / www.zjs-online.com / dat / artikel / 2017_2_1112.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 4  BVerfG,

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Bundesregierung entscheide insoweit im Rahmen ihrer Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten. Weder von Verfassungs wegen noch nach einer allgemeinen Regel des Völkerrechts ergebe sich in diesem Zusammenhang ein Anspruch ausländischer Amtsträger auf Einreise und auf die Ausübung amtlicher Funktionen in Deutschland. In einer Reihe weiterer Fälle, ebenfalls aus dem Frühjahr 2017, suchten kommunale Behörden Lösungen auf Grundlage des Polizei- und Versammlungsrechts und untersagten Auftritte türkischer Politiker in Stadthallen und auf öffentlichen Plätzen wegen drohender Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, sei es unter Verweis auf fehlende Parkplätze oder auch auf Anforderungen des Brandschutzes.5 Der kurze Abriss zeigt, dass das Thema „Die politische Einflussnahme ausländischer Hoheitsträger auf deutschem Staatsgebiet“ nicht nur eine brisante außenpolitische Dimension hat, sondern dass es auch das Recht anspricht, und dies auf verschiedenen Ebenen. Im Folgenden sollen die rechtlichen Maßstäbe, die es hier zu berücksichtigen gilt, entfaltet werden. Im ersten Schritt wird dabei der Raum der Grundrechtsberechtigung abgegrenzt (II.), im zweiten Schritt der rechtliche Rahmen der außenpolitischen Beziehungspflege in Anschauung der Ausgangsproblematik verdeutlicht (III.). Im dritten Schritt soll die Problematik in einen weitergreifenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Kontext gestellt werden (IV.). Die Untersuchung schließt, viertens, mit einigen Bemerkungen zu anderen Formen der politischen Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger in Deutschland (V.) und mit einem zusammenfassenden Fazit (VI.).

beispielhaft Maria Christoph u. a., Türkischer Wahlkampf in Deutschland. Erfolgreich überrumpelt, Spiegel online vom 3.  März 2017, verfügbar unter: http: /  / www.spiegel.de / politik / deutschland / gag genau-geplatzter-auftritt-von-erdogans-justizminister-besorgt-bundes regierung-a-1137094.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 5  Siehe



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II. Abgrenzung des Raums der Grundrechtsberechtigung 1. Grundrechtsberechtigung des Menschen Die Grundrechte des Grundgesetzes verpflichten den deutschen Staat auf die Wahrung der Freiheit und der Gleichheit der Menschen, dies in verantwortungsgerechter Umsetzung des in Art. 1 Abs. 2 GG festgeschriebenen Bekenntnisses zu den Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind deshalb Menschenrechte, in einigen Fällen Rechte der deutschen Staatsangehörigen. Erst über die konstitutiv wirkende Vorschrift des Art. 19 Abs. 3 GG wird der Grundrechtsschutz auf inländische juristische Personen des Privatrechts erstreckt, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf diese juristischen Personen anwendbar sind. Telos der Erstreckung ist wiederum der Schutz der Menschen, die sich ebendieser Rechtsformen bedienen, um sich freiheitlich zu entfalten.6 Die grundrechtstypische Gefährdungslage rechtfertigt schließlich auch die ausnahmsweise Einbeziehung ganz bestimmter öffentlich-rechtlicher Rechtsträger in den grundrechtlichen Schutz, namentlich die Einbeziehung der Kirchen, der Universitäten und der Rundfunkanstalten.7 Darüber hinaus werden inländische und auch ausländische Hoheitsträger allein durch die Prozessgrundrechte der Art. 101 und 103 GG geschützt, dies allerdings nur in Konsequenz eines die Rechtsprechung in besonderer Weise prägenden rechtsstaatlichen Rechtsgedankens, des Gedankens der Gleichheit aller Parteien vor Gericht.8 Jüngst ist schließlich ein weiterer, aber kaum verallgemeinerungsfähiger Sonderfall hinzugetreten. So hat das Bundesverfassungsgericht das schwedische Staatsunternehmen 6  Ausführlich dazu Barbara Remmert, in: Maunz  / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand: Dezember 2016, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 26 ff. 7  Michael Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art.  19 Rdnr.  93 ff. m. w. N. 8  Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 196 Rdnr. 130.

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Vattenfall, das von einer Maßnahme der deutschen Staatsgewalt betroffen war, als durch Art. 14 Abs. 1 GG berechtigt angesehen; dies aber letztlich vor allem im Licht der unionsrechtlich geschützten Niederlassungsfreiheit.9 Subjekt des Grundrechtsschutzes ist also der Mensch, nicht der Staat; dies vorbehaltlich ganz bestimmter, zumeist wiederum auf den Menschen bezogener Ausnahmen. Auch aus grundrechtshistorischer Perspektive ist dies selbstverständlich. Der Ausschluss des Staates aus dem persönlichen Schutzbereich der Grundrechte folgt deshalb nicht erst aus dem sog. Konfusions­ argument, nach dem eine gleichzeitige Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung nicht vorstellbar ist, sondern schon aus Wortlaut, Systematik, Telos und Historie der Grundrechtsbestimmungen selbst. Der Versuch, eine Grundrechtsberechtigung ausländischer Hoheitsträger daraus abzuleiten, dass sie – anders als die deutsche Staatsgewalt  – nicht nach Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebunden sind,10 muss daher scheitern.11 2. Der ausländische Politiker als Mensch und als Hoheitsträger Grundrechtsberechtigt sind ausländische Politiker dem deutschen Staat gegenüber also nur insoweit, als der deutsche Staat sie als Menschen betrifft, nicht dagegen in ihrer Eigenschaft als Amtsträger. Als Amtsträger sind sie Organe oder Organteile eines Staates, was auf den im nächsten Abschnitt zu behandelnden rechtlichen Rahmen der zwischenstaatlichen Beziehungen verweist.12 Die grundrechtsdogmatische Unterscheidung zwischen Mensch und Amtsträger erfordert es, im konkreten Fall abzugrenzen. Diese Abgrenzung hat in einer Konstellation mit Aus9  BVerfGE

143, 246 (317 ff.). Gounalakis, Auch Erdogan hat Grundrechte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. April 2017, S. 7. 11  Ebenso Schwander, Entscheidungsanmerkung (Fn.  4), S.  244 m. w. N.; vgl. auch BVerfGE 143, 246 (315). 12  Siehe unten III. 10  Georgios



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landsberührung im Grundsatz denselben Maßstäben zu folgen wie bei einem entsprechenden rein inländischen Sachverhalt. Einen geeigneten Ausgangspunkt bildet die Lehre vom Sonderstatusverhältnis. Danach bleiben auch in den Staat eingebundene Personen Grundrechtsträger, die sich auf Grundrechte berufen können, soweit sie nicht in ihrer Amts- oder Organfunktion adressiert werden, sondern im Außenverhältnis, als Menschen; sei es der Beamte in seinem individuellen Status, im Grundver­ hältnis,13 sei es die Lehrerin in ihrem persönlichen Glauben.14 Entscheidend ist also eine in diesem Sinne sphären-, tätigkeitsoder auch funktionsbezogene Betrachtungsweise.15 In welcher Funktion ein Politiker handelt, kann mitunter schwierig zu beurteilen sein. Streitanfällig sind in Deutschland beispielsweise die Gemeinderatsfälle, in denen sich ein  – zumal von der Sitzung bereits ausgeschlossener  – Gemeinderat zu Tagesordnungspunkten, zu anderweitigen politischen Fragen oder aber persönlich abfällig über den Bürgermeister äußert und sich dabei auf die Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG beruft.16 Der Grundrechtsschutz ist in diesen Fällen umso eher ausgeschlossen, je deutlicher die getätigte Äußerung 13  Dazu im Zusammenhang des Rechtsschutzes Philip Kunig, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: Schmidt-Aßmann / Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 6. Kap. Rdnr. 181 f. 14  BVerfGE 138, 296 (328). 15  Im Fall Ramelow, der die Beobachtung eines Abgeordneten durch den Verfassungsschutz betraf, hat das BVerfG zwar Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG weit interpretiert, um Rechtsschutz gegenüber dem Handeln einer Behörde zu eröffnen, die nicht Staatsorgan ist und deshalb nicht Partei eines Organstreitverfahrens sein kann, gleichwohl aber daran festgehalten, dass mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das Statusrecht des Abgeordneten, nicht dagegen ein Grundrecht geltend gemacht wird; BVerfGE 134, 141 (170) (unter Verweis auf die Zitierung von „Art. 38“ in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). 16  Ausführlich Andreas Ziegler, Das Ratsmitglied im Verfassungsund Verwaltungsrecht. Grundrechte im Gemeinderat?, 2014; siehe auch Julie-Andrée Trésoret, Die Geltendmachung von Grundrechten im verwaltungsinternen Organstreitverfahren. Am Beispiel des verwaltungs­ internen kommunalen Organstreits, 2011.

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in einer formalen oder inhaltlichen Nähebeziehung zur eigenen Amtsfunktion steht. Ebenso schwierig zu beurteilen sind – schon im innerstaatlichen Fall  – öffentliche Äußerungen amtierender Poli­tiker in Wahlkampfzeiten. Jedenfalls soweit hier das demokratisch begründete Verbot der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung in zeitlicher Nähe zu Wahlen reicht,17 ist auch eine Grundrechtsberechtigung zu verneinen.18 In den aktuellen Fällen der Auftritte türkischer Politiker in Deutschland – es waren durchweg Amtsträger – ist das Bundesverfassungsgericht wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass diese Politiker ihre Amtsautorität in Anspruch nehmen und deshalb nicht grundrechtsberechtigt sind.19 Entscheidungsleitend dürften dabei an erster Stelle  – zu Recht  – Inhalt und äußere Umstände des Handelns gewesen sein. Es ging jeweils um Auftritte auf öffentlichen Veranstaltungen und um Äußerungen zu aktuellen politischen Fragen, also um Tätigkeiten in Entsprechung der Amtsfunktion. Die oftmals von den Betroffenen geäußerte Bekundung, es handele sich um einen Privatbesuch, ordnete das Bundesverfassungsgericht implizit als Schutzbehauptung ein. Nun mag man argumentieren, dass sich ausländische Minister, die als Privatperson einreisen, dadurch  – anders als Staatsoberhäupter  – ihrer Immunität begäben,20 weshalb nicht allzu leichtfertig von einer 17  BVerfGE

44, 125; 138, 102. den jüngeren Fällen, in denen Amtsträgern, die sich geäußert haben, ein Verstoß gegen die staatliche Neutralitätspflicht vorgeworfen wurde, stand die Tätigkeit in der Funktion als Amtsträger dagegen außer Diskussion; siehe BVerfGE 136, 323; 140, 225. 19  BVerfG, NJW 2017, S. 1166. 20  Vollumfängliche Immunität „ratione personae“ (bei Aufenthalten in amtlicher Funktion und auch bei Privatbesuchen) genießen nach Maßgabe des Völkerrechts, an das das deutsche Recht anknüpft (§ 20 Abs. 2 GVG, gegebenenfalls i. V. m. § 173 Satz 1 VwGO), allein Staatsoberhäupter; siehe IGH, ICJ Reports 3 (2002), S. 23; für Regierungschefs und Außenminister ist dies umstritten; dazu Brian Valerius, in: Graf (Hrsg.), BeckOK StPO mit RiStBV und MiStra, Stand: 1.  Januar 2017, § 20 GVG Rdnr. 4; Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 18  In



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Schutzbehauptung ausgegangen werden dürfe.21 Zudem wird in diesem Zusammenhang für weite grundrechtliche Schutzbereichsdefinitionen und für Lösungen eher auf Rechtfertigungsebene plädiert. Entsprechend nimmt der Europäische Gerichtshof in einem Streitfall zwischen Ungarn und der Slowakei aus dem Jahr 2012 an, dass sich auch EU-Staatsoberhäupter in ihrer Amtsfunktion auf die Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 21 AEUV berufen könnten und ihre völkerrechtliche Stellung erst im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung etwa eines Einreiseverbots zum Tragen komme.22 Doch stehen diesen Argumenten und Ansätzen jedenfalls für die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes durchgreifende Gegenargumente entgegen. Ob völkerrechtliche Immunität besteht oder aber nicht besteht, dürfte für den kurzzeitig einreisenden Politiker kaum ausschlaggebend sein, so dass sich hieraus keine substantiierten Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit einer Äußerung zur Bestimmung des eigenen Status ziehen lassen. Und die schon im Binnenraum der gesellschaftlichen Sphäre meist fehlgehende, weil asymmetrisch angelegte grundrechtsdogmatische Aussage „in dubio pro libertate“, mit der mitunter für weite Schutzbereichsdefinitionen gestritten wird, hilft zur Abgrenzung zwischen Staat und Gesellschaft erst recht nicht weiter. Vielmehr ist das Augenmerk in Fällen wie den Ausgangsfällen, neben Inhalt und Umständen des Handelns, auf zwei weitere Gesichtspunkte zu richten. Erstens dürften es gerade deshalb der Staatspräsident, der Ministerpräsident und eine Reihe von Ministern gewesen sein, die Auftritte anstrebten und durchführten, weil sie das Gewicht der Leitungsverantwortung oder jedenfalls einer Regierungsmitgliedschaft, also den Nimbus ihres Amtes, in die Waagschale werfen konnten. In diesem Zusammenhang ist an die hieran anknüpfende Rechtsprechung des Bundesverfassungs2016, Rdnr.  327 ff.; Schwander, Entscheidungsanmerkung (Fn.  4), S.  244 f. 21  So Schwander, Entscheidungsanmerkung (Fn. 4), S. 244 f. 22  EuGH, Urteil vom 16. Oktober 2012 – C-364 / 10 (Ungarn / Slowakei), Rdnr.  40 ff.

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gerichts zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung zu erinnern.23 Und zweitens ist nicht zu vergessen, dass es sich vorliegend um zwischenstaatliche Fälle handelt, die  – anders als Inlandsfälle  – immer auch eine völkerrechtliche und außenpolitische Dimension haben. Wenn es umgangssprachlich heißt, dass schon die Privatperson im Ausland „Botschafter ihres Landes“ ist, dann gilt dies umso mehr für den Politiker mit Amtsfunk­ tion. Tritt ein Staatspräsident oder ein Regierungsmitglied auf öffentlichen Veranstaltungen in einem anderen Land auf und äußert er sich zu aktuellen politischen Fragen, sprechen somit der Inhalt und die Umstände des Handelns, der eingesetzte Nimbus des Amtes und die zwischenstaatliche Konstellation nachdrücklich für ein Handeln in amtlicher Funktion. Auf die genauen Zuschnitte von Ressortkompetenzen wird es dabei im Übrigen sehr viel weniger ankommen als auf den Empfängerhorizont im zwischenstaatlichen Miteinander. Auch eine mögliche Berufung auf eine Kompetenzüberschreitung oder sonstige Rechtswidrigkeit des Handelns nach dem Recht des Heimatstaates24 wird deshalb nicht gehört. Rechtswidriges Hoheitshandeln muss sich ein Staat zurechnen lassen; dies ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Selbstverständlichkeit.25 Nach alldem haben die türkischen Politiker, die in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland aufgetreten sind, unter Inanspruchnahme ihrer Amtsautorität gehandelt. Grundgesetzlich grundrechtsgeschützt waren sie bei diesem Handeln nicht.

23  BVerfGE

44, 125; 138, 102. Art. 94 / A des türkischen Wahlgesetzes darf Wahlkampf im Ausland und in Vertretungen im Ausland nicht betrieben werden; zitiert nach Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsvertreter in Deutschland und in den Niederlanden im Lichte des Völkerrechts vom 23. März 2017, WD 2-3000035 / 17, S.  5. 25  Siehe zu der im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertretenen Mandatstheorie Fritz Ossenbühl / Matthias Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 8 f. 24  Nach



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Noch zwei Worte zur Abgrenzung: Zum einen ist es unter anderen Voraussetzungen freilich vorstellbar, dass ausländische Politiker in Deutschland als Privatpersonen tätig werden und in diesem Zusammenhang grundrechtsgeschützt sind. Zu denken ist dabei etwa an öffentliche Auftritte von Oppositionspolitikern, zumal solchen, die keine staatlichen Ämter innehaben. Zum anderen ist und bleibt auch der Staatspräsident oder das Regierungsmitglied eines anderen Staates als Mensch grundrechtsgeschützt. Wenn ein solcher Amtsträger durch ein Schmähgedicht beleidigt wird, das ihn in seiner persönlichen Sphäre betrifft, muss das deutsche Zivil- oder Strafgericht, das darüber zu urteilen hat, deshalb das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Adressaten in Ansatz bringen.26 Wenn mitunter argumentiert wird, die Schmähung diene lediglich beispielhaft dazu, zu verdeutlichen, was eine freiheitliche und offene Demokratie von einer autoritären und repressiven De-facto-Autokratie unter­ scheide,27 ist darauf zu erwidern, dass es doch der Mensch ist, der ausdrücklich angesprochen und auch getroffen wird. 3. Reichweite der Grundrechte privater Veranstalter Eigenständig zu behandeln ist schließlich die grundrechtliche Stellung privater, zumal deutscher Veranstalter von Versammlungen, auf denen ausländische Amtsträger in Person oder über eine Videoschaltung sprechen sollen. Dass der persönliche Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, der Meinungsfreiheit und subsidiär der allgemeinen Handlungsfreiheit zugunsten der Veranstalter eröffnet ist, steht außer Frage. Nach Ansicht des VG Köln und des OVG Münster bedürfen staatliche Maßnahmen, die sich an den Veranstalter richten, einer Rechtfertigung 26  LG Hamburg, NJW-RR 2017, S. 36 ff.; LG Hamburg, AfP 2017, S.  177; Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Koblenz, AfP 2016, S.  556 ff. 27  Zu dem Argumentationsgang Axel Schneider / Martina Fleischmann, Narrenfreiheit für Böhmermann? – Die Grenzen zulässiger Satire am Beispiel des „Schmähgedichts“ über Erdogan, jurisPR-ITR 20 / 2016 Anm.  2 m. w. N.

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vor dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit gleichwohl deshalb nicht, weil die Versammlungsfreiheit der Sache nach nicht darauf ausgerichtet sei, „ausländischen Regierungsmitgliedern oder Staatsoberhäuptern durch Liveübertragungen eine Plattform für politische Stellungnahmen zu bieten“.28 Das OVG Münster sieht zwar gerade auch die Auswahl der Redner als vom Selbstbestimmungsrecht des Versammlungsveranstalters umfasst an, rekurriert dann aber ausdrücklich auf die Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,29 um zu verdeutlichen, dass eine Demonstration im Sinne von Art. 8 GG der politischen Betätigung und der Persönlichkeitsentfaltung des Grundrechtsträgers diene und deshalb vom Idealbild der physischen Präsenz, der „gemeinsame[n] körperliche[n] Sichtbarmachung von Überzeugungen“ geprägt sei.30 Das Anliegen, einen ausländischen Amtsträger per Livebildübertragung auf einer Versammlung präsent werden zu lassen, liege „erkennbar außerhalb dieses Schutzzwecks“. So zustimmungswürdig es erscheint, das persönliche politische Engagement des Bürgers, das Eintreten für eigene Überzeugungen auf der Straße, in den Mittelpunkt des Schutzes durch Art. 8 GG zu stellen,31 so offen bleiben die Entscheidungen des VG Köln und des OVG Münster doch bei näherem Hinsehen. Wie unterscheidet sich die Präsentation einer Livebildübertragung etwa von der Wiedergabe einer Videoaufzeichnung, die gerade auch dazu dienen kann, der eigenen politischen Auffassung des Versammlungsveranstalters oder Demonstranten Ausdruck zu verleihen? Was gilt, wenn der ausländische Amtsträger selbst physisch präsent ist? Und ist nicht auch dann, wenn der ausländische Amtsträger nicht präsent ist und Medien genutzt werden, jedenfalls der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit des Veranstalters eröffnet?32 28  VG Köln, Beschluss vom 29.  Juli 2016  – 20 L 1790  / 16, Rdnr. 7; entsprechend OVG Münster, NVwZ 2017, S. 648 ff. (649). 29  BVerfGE 69, 315. 30  OVG Münster, NVwZ 2017, S. 648 ff. (649). 31  So auch Muckel, Entscheidungsbesprechung (Fn. 2), S. 398.



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Die offenen 32Fragen lassen vermuten, was die weitere Lektüre der OVG-Entscheidung bestätigt: Dem Gericht geht es nicht um Einzelfragen der grundrechtlichen Schutzbereichsauslegung, son­dern im Kern um eine Abgrenzung auf einer höheren Ebene, namentlich um die grundsätzliche Abgrenzung zwischen dem Rechtsraum der grundrechtlichen Freiheit Einzelner und dem Rechtsraum der Regeln, die das Verhältnis souveräner Staaten untereinander betreffen. So heißt es in der OVG-Entscheidung im unmittelbaren Anschluss: „Art. 8 Abs. 1 GG ist kein Instrument dafür, ausländischen Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern ein Forum zu eröffnen, sich auf öffentlichen Versammlungen im Bundesgebiet in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger amtlich zu politischen Fragen zu äußern.“33 Die Möglichkeit zu derartigen Äußerungen sei nicht grundrechtlich fundiert, sondern Gegenstand der auswärtigen Politik der Bundesregierung. Freilich kann sich der ausländische Amtsträger selbst, wie soeben begründet,34 nicht auf Grundrechte des Grundgesetzes berufen. Sein rechtliches Verhältnis zur Bundesrepublik ist in der Tat völkerrechtlicher Natur. Der private Versammlungsveranstalter ist aber persönlich grundrechtsgeschützt. Den Rechtsraum des Völkerrechts im Fall seiner Person durch eine sachliche Schutzbereichsausnahme abgrenzen zu wollen, erscheint systematisch fragwürdig und auch sehr holzschnittartig.35 Die skizzierten offenen Fragen, die die Gerichtsentscheidungen auch mit Blick auf denkbare Sachverhaltsvarianten belassen, weisen auf die rechtsstaatlichen Probleme hin, die die Subsumtion unter eine derartige sachliche Schutzbereichsausgrenzung im Einzelfall aufwerfen kann. Dies spricht dafür, die Lösung hier nicht auf der Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs zu suchen, sondern 32  Dazu David Jungbluth, Die „Erdoğan-Entscheidung“ Oder: Die Deutsche Justiz als Affirmationsorgan der politisch-medialen Mehrheitsmeinung, NVwZ 2017, S. 604 ff. (607 f.). 33  OVG Münster, NVwZ 2017, S. 648 ff. (649). 34  Siehe oben II. 2. 35  So auch Jungbluth, Die „Erdogan-Entscheidung“ (Fn. 32), S. 606 f.

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vielmehr auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung, wo die schrankenziehende Wirkung einer konkreten, demokratisch fundierten Regelung von Auftritten ausländischer Amtsträger in Betracht gezogen und auch unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit gewürdigt werden kann. Das staatliche Verbot, einen ausländischen Amtsträger auf der eigenen Veranstaltung zu präsentieren, greift danach unmittelbar in die Versammlungsfreiheit oder auch die Meinungsäußerungsfreiheit des Veranstalters ein.36 Ein vorgelagertes, veranstaltungsbezogenes Einreiseverbot zulasten des Amtsträgers bewirkt einen mittelbaren Eingriff in die Freiheitsgrundrechte des Veranstalters. Damit richtet sich der Blick auf die Rechtfertigungsebene. Die vorhandenen einfachgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen und besonderen Polizeirechts, die hier in Betracht kommen, setzen nach ihrem Wortlaut regelmäßig bestimmte, in der Sache erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung voraus. Die Kommunen taten sich in den meisten der öffentlich bekannt gewordenen Fälle schwer, derartige Gefahren zu begründen. Dass es bei einem Auftritt eines ausländischen Amtsträgers etwa zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen würde, war kaum verlässlich zu unterstellen. Der Gefahr einer feuerpolizeilich problematischen Überbelegung der Stadthalle, dies das Argument der Behörde in Gaggenau, lässt sich durch Einlasskontrollen begegnen.37 Und einer drohenden Parkplatznot kann durch entsprechende Verkehrsführung und Parkraumbewirtschaftung entgegengewirkt werden. Die Tatbestände des Verwaltungsrechts treffen die Problematik mithin nicht.38 36  So auch Jungbluth, Die „Erdogan-Entscheidung“ (Fn. 32), S. 607; in die gleiche Richtung Schwander, Entscheidungsanmerkung (Fn. 4), S. 244. 37  Ebenso Niels Petersen, Verbot von türkischen Wahlkampfauftritten in Deutschland: Erdoğan und die Versammlungsfreiheit, Legal Tribune Online vom 3.  März 2017, verfügbar unter: https: /  / www.lto.de / recht /  hintergruende / h / erdogan-wahlkampf-auftritt-deutschland-versamm lungsfreiheit /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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Wenn es in Wirklichkeit 38außenpolitische oder auch verfassungsrechtliche Erwägungen sind, die den gegen die Veranstalter gerichteten Maßnahmen zugrunde liegen, dann müssen ebendiese Erwägungen auch im Mittelpunkt der Überlegungen auf der grundrechtlichen Rechtfertigungsebene stehen. Der Blick hat sich deshalb auf die Bundesregierung und auf ihre Kompetenzen zur Ausgestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu richten.39 Dies leitet über zum rechtlichen Rahmen der außenpolitischen Beziehungspflege, auf den sogleich näher einzugehen ist.40 Es sind die diesbezüglichen Regierungskompetenzen, die die Schrankenvorbehalte zu den Grundrechten der Veranstalter im vorliegenden Zusammenhang im Kern ausfüllen. Wegen der unmittelbaren Berührung des Raums der Staatenbeziehungen, in den sich der Veranstalter bewusst hineinbegibt, wird man hier im Ergebnis etwas geringere Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt zu stellen haben als etwa im Fall eines Versammlungsverbots wegen drohender Tätlichkeiten.41 Anderenfalls könnten die bestehenden Regierungskompetenzen im Bereich der Außenpolitik grundrechtsgestützt frustriert werden. So sollte es den demokratischen und rechtsstaatlichen Anforderungen, die in Art. 5 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 2 GG Ausdruck finden, genügen, sachlich gebotene und verhältnismäßige Maßnahmen gegenüber dem Veranstalter im vorliegenden Zusammenhang im Kern auf Art. 32 Abs. 1 GG in Verbindung mit konkretisierenden Innenrechtsvorschriften über die Zulässigkeit von Auftritten ausländischer Politiker in Deutschland zu stüt38  Zu diesem Problem auch Sebastian Steuer, Bitte nicht reden! Auftritte ausländischer Regierungsmitglieder in Deutschland, Verfassungsblog vom 4.  März 2017, verfügbar unter: http: /  / verfassungsblog.de /  bitte-nicht-reden-auftritte-auslaendischer-regierungsmitglieder-indeutschland /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 39  Petersen, Verbot von türkischen Wahlkampfauftritten in Deutschland (Fn. 37). 40  Siehe unten III. 41  Entsprechend Schwander, Entscheidungsanmerkung (Fn. 4), S. 244; Petersen, Verbot von türkischen Wahlkampfauftritten in Deutschland (Fn. 37) jedenfalls für mittelbare Eingriffe durch Einreiseverbote.

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zen.42 Zur Gewährleistung höherer Rechtssicherheit gerade auf Rechtsfolgenseite erscheint eine ergänzende Heranziehung von Ermächtigungsgrundlagen des Verwaltungsrechts gleichwohl erstrebenswert. Die bestehenden Ermächtigungsgrundlagen, insbesondere §§ 13 und 15 VersG sowie die polizeirechtliche Generalklausel, müssten dazu allerdings im Licht der Berührung der zwischenstaatlichen Sphäre ausgelegt, besser noch angepasst werden.43 III. Rechtlicher Rahmen der außenpolitischen Beziehungspflege 1. Verfassungsrechtlich eröffneter Gestaltungsraum der Bundesregierung Die politische Einflussnahme ausländischer Hoheitsträger auf deutschem Staatsgebiet ist, wie die obigen Ausführungen verdeutlichen, im Kern ein staatenbezogenes, nicht dagegen ein menschenrechtsbezogenes Thema. Der rechtliche Rahmen der außenpolitischen Beziehungspflege wird in Deutschland, wie soeben bereits zitiert, in erster Linie durch Art. 32 Abs. 1 GG 42  In seinen Entscheidungen in den Rechtssachen Glykol und Osho hat das Bundesverfassungsgericht Art. 65 GG als Kompetenzgrundlage für das – den Einzelnen betreffende – Informationshandeln der Bundesregierung ausreichen lassen; BVerfGE 105, 252 (270); 105, 279 (301 f.); kritisch zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen durch Art. 32 GG dagegen allgemein Martin Nettesheim, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand: Dezember 2016, Art. 32 Rdnr. 27. 43  Die §§ 13 und 15 VersG sind nach ihrem Wortlaut sehr stark vom Motiv der Verteidigung der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit des deutschen Demonstranten gegenüber dem deutschen Staat geprägt. Hinsichtlich öffentlicher Veranstaltungen in geschlossenen Räumen ist die Wertung aus § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 1 Abs. 2 VersG im Übrigen klar abzugrenzen. Wenn es für ein Veranstaltungsverbot danach darauf ankommt, ob gegen die Maßstäbe des Art. 9 Abs. 2 oder Art. 21 Abs. 2 GG verstoßen wird, gilt dies unmittelbar nur für Veranstaltungen, die den besonderen Bereich der Staatenbeziehungen nicht berühren. Bei letzteren sind die außenpolitischen Regierungskompetenzen mit zu berücksichtigen.



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bestimmt, also durch die Zuständigkeit des Bundes für die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten.44 Art. 23, 24, 59, 65 und 73 Abs. 1 Nr. 1 GG treten hinzu.45 Die dominierende Organkompetenz liegt bei der Bundesregierung. Auf dieser Grundlage ist es Sache der Bundesregierung zu entscheiden, ob und auch unter welchen Bedingungen sich ausländische Amtsträger in Deutschland öffentlich äußern und dazu in die Bundesrepublik Deutschland einreisen dürfen.46 2. Übereinstimmung mit dem Völkerrecht Es handelt sich um Entscheidungen der Bundesregierung im Bereich der Außenpolitik, in dem sich Deutschland und – in den Ausgangsfällen – die Türkei auf der Grundlage des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten begegnen, das in Art. 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben ist.47 Die in Art. 32 Abs. 1 GG vorgesehene Kompetenz der Bundesregierung steht also in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht. Im konkreten Zusammenhang ist es völkergewohnheitsrechtlich klar anerkannt, dass Besuche von Amtsträgern fremder Staaten der Zustimmung durch den Aufnahmestaat bedürfen.48 Die Zustimmung zu erteilen, steht dabei im Ermessen des Aufnahmestaats. Weitergehende völkervertragliche Regelungen und Bindungen existieren nur bezüglich der jeweils akkreditierten Mit44  BVerfG,

NJW 2017, S. 1166. Münster, NVwZ 2017, S. 648 ff. (649). 46  BVerfG, NJW 2017, S. 1166 unter Verweis auf BVerfGE 104, 151 (207) und BVerfGE 131, 152 (195); OVG Münster, NVwZ 2017, S. 648 ff. (649); dazu, insbesondere auch zur Organkompetenz und zur Entscheidungsbefugnis bezüglich der Modalitäten des Auftritts, Shalene Edwards, Erdogan live? – Entscheidungsbefugnis der Bundesregierung, ZRP 2017, S. 91 ff. (91 ff.). 47  Anne Peters, Völkerrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2016, Kap. 1 Rdnr. 7; BVerfG, NJW 2017, S. 1166. 48  Christian Tomuschat, Türkischer Wahlkampf auf deutschem Boden?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.  März 2017, S. 8; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, WD 2-3000-035 / 17 (Fn. 24), S. 5. 45  OVG

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glieder diplomatischer und konsularischer Missionen, namentlich das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961 (WÜD)49 und das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen von 1963 (WÜK).50 Ergänzende Bestimmungen zu Sondermissionen51 hat Deutschland – wie viele andere Staaten auch – nicht ratifiziert. Soweit ein ausländisches Staatsoberhaupt oder Regierungsmitglied im Übrigen aus einer Botschaft oder aus einem Konsulat heraus politisch Einfluss zu nehmen versucht, handelt es – ungeachtet der Unverletzlichkeit der Räumlichkeiten der Mission nach Art. 22 WÜD und Art. 31 WÜK – jenseits der Grenzen des Mandats der Mission52 und des Einvernehmens des Empfangsstaats im Sinne von Art. 2 WÜD und WÜK, was Sanktionen wie die Einbestellung des Botschafters oder auch eine Protestnote nach sich ziehen kann. 3. Verfassungsrechtliche Anleitung der Ermessensausübung durch die Bundesregierung Wenn die Bundesregierung ihr verfassungsrechtlich fundiertes und völkerrechtskonformes Ermessen bezüglich der Einreise ausländischer Amtsträger und der Rahmenbedingungen öffentlicher Äußerungen in Deutschland ausübt, ist diese Ermessensausübung allerdings durch das deutsche Verfassungsrecht näher an49  Wiener

Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18.  April 1961 (WÜD), UNTS Vol. 500, S. 95; Gesetz zu dem Wiener Übereinkommen vom 18.  April 1961 über diplomatische Beziehungen vom 6. August 1964, BGBl. II, S. 957; siehe dazu Auswärtiges Amt, Zur Behandlung von Diplomaten und anderen bevorrechtigten Personen in der Bundesrepublik Deutschland  – Rundschreiben  – 503-90-507.00  – vom 15. September 2015, GMBl., S. 1206. 50  Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) vom 24.  April 1963, UNTS Vol. 596 S. 261; Gesetz zu dem Wiener Übereinkommen vom 24.  April 1963 über konsularische Beziehungen vom 26. August 1969, BGBl. II, S. 1585. 51  New Yorker Übereinkommen über Sondermissionen vom 8.  Dezember 1969, UNTS Vol. 1400, S. 231. 52  Siehe zu den typischen Aufgaben Art. 3 WÜD bzw. Art. 5 WÜK.



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geleitet. Eine Ermessensreduzierung auf Null in Richtung eines Anspruchs des ausländischen Amtsträgers, einreisen und auftreten zu dürfen, wird sich dabei kaum je ergeben. Gesichtspunkte der Gleichbehandlung mögen zu berücksichtigen sein. Auch eine Rücksichtnahme auf das Anliegen der demokratischen Willensbildung im Ausland kann im Sinne eines kooperativen internationalen Miteinanders geboten sein, wird aber nicht von den Prinzipien der Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verlangt, die allein die Demokratie in Deutschland betreffen. Demgegenüber drängt das Grundgesetz auf die Versagung des Auftritts und schon der Einreise, wenn sich der Amtsträger bei einem Auftritt voraussichtlich aktiv gegen die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stellen wird. Dies folgt aus einer Gesamtschau der Bekenntnisse des Grundgesetzes zu dieser Grundordnung. Nichts anderes ergibt sich bei ergänzender, völkerrechtsfreundlicher Berücksichtigung der EMRK.53 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können sich Politiker, auch Mandatsträger, auf die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK berufen.54 Allerdings betreffen die einschlägigen Entscheidungen weitgehend Inlandssachverhalte. In grenzüberschreitenden Situationen ist dagegen an erster Stelle zu vergegenwärtigen, dass die EMRK einen Konventionsstaat nach ständiger Rechtsprechung des EGMR nicht verpflichtet, dem Angehörigen eines anderen Konventionsstaats die Einreise zu gewähren.55 Das sich aus Art. 32 GG ergebende Ermessen der Bundesregierung, einem ausländischen Amtsträger gegebenen53  Zur völkerrechtsfreundlichen Verfassungsauslegung im Lichte der EMRK BVerfGE 111, 307. 54  Christoph Grabenwarter / Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 23 Rdnr. 29. 55  Die Gewährleistung der Freizügigkeit nach Art. 2 des Vierten Zusatzprotokolls sichert nur die Bewegungsfreiheit einer Person, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaats aufhält; Jens ­Meyer-Ladewig / Stefan Harrendorf / Stefan König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Aufl. 2017, Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte, Art. 2 Rdnr. 3.

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falls schon die Einreise zu verweigern, wird durch die Ausstrahlungswirkung der EMRK also von vornherein nicht verengt.56 Im Übrigen ist auf die Bestimmung des Art. 16 EMRK hinzuweisen, nach der die Art. 10, 11 und 14 EMRK nicht so auszulegen sind, „als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken“. Die Norm dient zur Vermeidung außenpolitischer Konflikte57 und stimmt mit dem herkömmlichen Völkerrecht überein.58 Auch ein Auftrittsverbot kann danach zulässig sein. Auf weitergehende rechtliche Besonderheiten im Binnenraum der Europäischen Union, insbesondere auf die Reichweite der mit Anwendungsvorrang geltenden Freizügigkeitsgewährleistung nach Art. 21 AEUV,59 soll hier im Übrigen nicht näher eingegangen werden. Im Ergebnis wird sich bei Anlegung dieser Gewährleistung freilich nichts wesentlich Abweichendes ergeben, weil im vorliegenden Sachzusammenhang auch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unmittelbar deren völkerrechtliche Beziehungen untereinander angesprochen sind. In einer Regierungserklärung von März 2017 hat die Bundeskanzlerin auf die ermessensleitenden Maßstäbe des Grundgesetzes verwiesen, als sie ausführte: „Innerhalb des bei uns geltenden Rechts und der bei uns geltenden Gesetze halten wir in der Bundesregierung deshalb auch Auftritte türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland weiterhin für möglich, sofern und so­lange sie ordnungsgemäß, rechtzeitig und mit offenem Visier 56  Auch im Fall Piermont / Frankreich stellte der EGMR auf die mit einem Wiedereinreiseverbot verbundene Ausweisung ab, um einen Eingriff in das Recht aus Art. 10 EMRK eines Mitglieds des Europäischen Parlaments zu bejahen; EGMR, InfAuslR 1996, S. 45 ff. 57  Jochen A. Frowein, in: ders. / Peukert (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 16 Rdnr. 4. 58  Meyer-Ladewig / Diehm, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Aufl. 2017, Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte, Art. 16 Rdnr. 3. 59  Siehe bereits oben II. 2.



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angekündigt sind und dann auch tatsächlich ge­nehmigt werden können.“60 Diese Erklärung wurde als grundsätzliche und nur unter dem Vorbehalt gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen im Einzelfall stehende Zustimmung zu Auftritten türkischer Politiker in Deutschland verstanden. Nachdem dann aber, im Zuge der Zuspitzung der Problematik, weitergehender Regelungsbedarf auf Regierungsebene erkannt worden war, entschied sich die Bundesregierung Ende Juni 2017, eine Rundnote zu Wahlkampfauftritten ausländischer Amtsträger in Deutschland an die in Deutschland akkreditierten Botschaften zu zirkulieren.61 Diese Rundnote rekurriert ihrerseits und noch ausdrücklicher auf den ermessensleitenden Maßstab der Verfassungsordnung. So heißt es an der entscheidenden Stelle: „Die Auftritte müssen sich im Rahmen der Prinzipien des Grundgesetzes und der deutschen Rechtsordnung, insbesondere des deutschen Versammlungsrechts, halten.“ Verfahrensrechtlich werden die Auftritte unter einen einzelfallbezogenen Genehmigungsvorbehalt gestellt. Die Genehmigung ist mindestens zehn Tage vor der Veranstaltung durch Verbalnote an das Auswärtige Amt zu beantragen. Erteilt wird die Genehmigung, so die Rundnote weiter, „im Licht der außenpolitischen Beziehungen“. Bemerkenswert ist schließlich ein besonderer Vorbehalt. So wird die Genehmigung grundsätzlich nicht erteilt, „wenn der Auftritt in einem Zeitraum von weniger als drei Monaten vor dem Termin von Wahlen oder Abstimmungen liegt“. Dies soll aber grundsätzlich nicht für Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten. Wie dieser Entscheidungsmaßstab in Zukunft konkretisiert und praktisch entfaltet werden wird, bleibt abzuwarten. Die 60  Angela Merkel, Regierungserklärung vor dem deutschen Bundestag vom 9. März 2017, Plenarprotokoll 18 / 221, S. 22067. 61  Auswärtiges Amt, Pressemitteilung, Rundnote zu Wahlkampfauftritten ausländischer Amtsträger in Deutschland vom 30. Juni 2017, verfügbar unter: https: /  / www.auswaertiges-amt.de / de / newsroom / 170630rundnote-wahlkampfauftritte  /  291076 (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017).

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umstrittenen Auftritte im Vorfeld zu dem Verfassungsreferendum in der Türkei im Frühjahr 2017 wären jedenfalls schon nach dem zuletzt genannten wahl- und abstimmungszeitraumbezogenen Vorbehalt nicht mehr genehmigungsfähig. Im Licht des Verfassungsrechts und der außenpolitischen Beziehungen dürften die jüngsten Entwicklungen in der Türkei auch darüber hinaus gegen eine allzu großzügige Erteilung von Auftrittsgenehmigungen sprechen. 4. Selbststand gefahrenabwehrrechtlicher Entscheidungen der Behörden vor Ort Unabhängig von den nach Maßgabe des Verfassungsrechts und außenpolitischer Erwägungen zu erteilenden Genehmigungen durch die Bundesregierung stehen schließlich Entscheidungen, gegebenenfalls auch erforderliche Genehmigungen, der Behörden vor Ort, dies auf Grundlage des für alle geltenden Gefahrenabwehrrechts.62 Bei bestehender Besorgnis um die öffentliche Sicherheit kann die zuständige Behörde deshalb auch dann einschreiten und Auflagen erteilen oder auch eine Veranstaltung untersagen oder auflösen, wenn die Bundesregierung eine Genehmigung erteilt hat. Die Legalisierungswirkung dieser Genehmigung umfasst die gefahrenabwehrrechtlichen Aspekte freilich nicht. Entscheidungsmaßstab auf lokaler Ebene ist dabei allein das einschlägige Gefahrenabwehrrecht. Eigene politische Entscheidungen kommen hier aus kompetenzrechtlichen Gründen nicht in Betracht.63 Auch § 47 AufenthG bietet keine Grundlage für ein behördliches Vorgehen gegen ausländische Amtsträger, weil die politische Betätigung eines Ausländers in Deutschland nach 62  So auch die Rundnote: Die Genehmigung ersetzt „nicht ordnungsrechtlich notwendige Genehmigungen.“ 63  Auch die kommunale Selbstverwaltungsgarantie gemäß Art.  28 Abs. 2 GG eröffnet keine diesbezügliche Entscheidungskompetenz; Edwards, Erdogan live? (Fn. 46), S. 92; für „freie Hand“ der Landesbehörden in der Zeit vor der Rundnote der Bundesregierung dagegen Muckel, Entscheidungsbesprechung (Fn. 2), S. 398.



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dieser Vorschrift nur dann beschränkt oder untersagt werden kann, wenn dieser nicht der völkerrechtlichen Immunität unterfällt (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in Verbindung mit § 20 Abs. 2 GVG). So wirkt es klarstellend und auch entlastend, dass die Bundesregierung die Maßstäbe auf der verfassungsrechtlich-außenpolitischen Ebene durch die Rundnote von Juni 2017 konkretisiert und ein entsprechendes Verfahren institutionalisiert hat. Im arbeitsteiligen Zusammenwirken sind dabei auch Fälle zu lösen, in denen eine im Einzelfall erforderliche Genehmigung der Bundesregierung fehlt. Wenn ein ausländischer Amtsträger auf die Einholung einer regierungsseitigen Genehmigung verzichtet, weil er die Aufmerksamkeit der deutschen Behörden scheut oder weil die geplante Veranstaltung aus inhaltlichen Gründen oder wegen ihrer zeitlichen Nähe zu einer Wahl oder Abstimmung im Heimatstaat nicht genehmigungsfähig ist, dann ergibt sich als Rechtsfolge aus der Rundnote, die eine innenrechtliche Rechtsnorm ist, ein materielles Veranstaltungsverbot. Wird es gleichwohl unternommen, die Veranstaltung durchzuführen, sei es offen oder aber verschleiert, dann ist die zuständige Behörde vor Ort  – soweit sie die erforderlichen Erkenntnisse gewinnen kann – gehalten, die Veranstaltung wegen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im polizeirechtlichen Sinne zu verbieten oder mit sachgerechten Auflagen zu belegen, konkret wegen der Gefährdung der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung als polizeirechtlichem Schutzgut. Dass die einschlägigen verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen im vorliegenden Zusammenhang im Licht der Berührung des Raums der Staatenbeziehungen ausgelegt werden müssen oder besser noch angepasst werden sollten, wurde bereits dargelegt.64 Richtiger Adressat entsprechender Verwaltungsakte ist dabei der Veranstalter als Versammlungsleiter im Sinne von § 7 VersG. Ob und inwieweit Verwaltungsakte unmittelbar an ausländische Amtsträger gerichtet und ihnen gegenüber durchgesetzt werden können, kann hier deshalb regelmäßig dahinstehen. 64  Siehe

oben II. 3. a. E.

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IV. Aufenthaltsort und Staatsangehörigkeit – Die kontrollierte Einbürgerung als demokratieadäquate Lösung Tritt man nach dieser rechtlichen Analyse einen Schritt zurück, wird deutlich, wie es zu der Ausgangsproblematik und den sich hieraus ergebenden rechtlichen Herausforderungen kommen konnte. Zugrunde liegt eine brisante innenpolitische Entwicklung in der Türkei, die in bedeutsamen Wahlen und Abstimmungen mündete. Der politische Kampf um jede Stimme wurde nun deshalb nach Deutschland getragen, weil ca. 2 Millionen in Deutschland lebende Menschen als türkische Staatsangehörige in der Türkei wahl- und abstimmungsberechtigt sind. Von diesen 2 Millionen haben ca. 500.000 sowohl die deutsche wie auch die türkische Staatsangehörigkeit inne, sind also Doppelstaater. Dem stehen ca. 800.000 türkischstämmige Menschen entgegen, die ausschließlich deutsche Staatsangehörige sind. Abstrakt formuliert folgt die Problematik also aus dem verbreiteten dauerhaften Auseinanderfallen von Aufenthaltsort und Staatsangehörigkeit,65 mit anderen Worten aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Territorialität von Herrschaft und der Personalität demokratischer Herrschaftslegitimation.66 Im Ergebnis kann ein Staat, in dem eine große Zahl von Ausländern ansässig ist, auf seinem Territorium mit den Anliegen und Problemen im Zusammenhang mit einem einen anderen Staat betreffenden demokratischen Willensbildungsprozess konfrontiert sein. Umgekehrt kann ein Staat ein Interesse haben, den eigenen demokratischen Willensbildungsprozess bei einer großen Zahl im Ausland ansässiger Staatsangehöriger auch jenseits seiner territorialen Grenzen zu strukturieren. Das Völkerrecht stabilisiert dabei im Grundsatz die territoriale Ordnung, lässt die staatlich unternommene Erstreckung der 65  Dazu ausführlich Christian Walter und Klaus-Ferdinand Gärditz, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, in: VVDStRL, Repräsentative Demokratie in der Krise?, Bd. 72, 2013, S. 7 ff. bzw. S. 49 ff. 66  So treffend Gärditz, Der Bürgerstatus (Fn. 65), S. 51 ff.



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Organisation und Ausgestaltung des politischen Kampfes auf das Hoheitsgebiet eines anderen Staates also nur bei Einverständnis dieses anderen Staates zu. Gleichwohl erscheint die Entscheidungshoheit des passiv betroffenen Staates nicht immer befriedigend, dies beispielsweise im Angesicht ganz und gar legitimer Anliegen wie zum Beispiel der Zustellung von Wahlunterlagen oder gegebenenfalls auch der Einrichtung von Wahllokalen.67 Die Verfassungsrechtsordnungen der Staaten, die zum territorial gliedernden Völkerrecht hinzutreten, tendieren ihrerseits zunehmend dazu, den freiheits- und gleichheitsrechtlichen Aufenthaltsstatus von Ausländern zu verfestigen, was im vorliegenden Zusammenhang des status activus-Verhältnisses zwischen Heimatstaat und Bürger aber ebenfalls nicht durchgreifend weiterhilft. Demokratieadäquat erscheint letztlich nur die Lösung einer – freilich von angemessenen Voraussetzungen abhängigen, in diesem Sinne kontrollierten – Einbürgerung der dauerhaft Ansässigen, also die Lösung der Problematik durch die erneute Bündelung der einzelnen, immer stärker aufgegliederten Statusbefugnisse der Menschen.68 Die Einbürgerung enthebt von allen Problemen, die die grenzüberschreitende Erstreckung demokratischer Willensbildungsprozesse mit sich bringt, und ist auch integrationspolitisch vorzugswürdig.69 Selbstverständlich setzt die Lösung voraus, dass der vormalige Heimatstaat die betreffenden Personen aus der Staatsangehörigkeit entlässt. Längerfristige Doppelstaatigkeit vermehrt die Probleme und ist nicht anzustreben. 67  Organisatorische und verwaltungstechnische Vorkehrungen zur Durchführung von Wahlen im Entsendestaat können allerdings von Art. 5 WÜK gedeckt sein und damit in das Aufgabenspektrum der konsularischen Mission fallen; dazu Niklas Wagner / Holger Raasch / Thomas Pröpstl, Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen: Kommentar für die Praxis, 2007, Art. 5 WÜK, S. 85. 68  Gärditz, Der Bürgerstatus (Fn. 65), S. 118 ff. 69  Dazu Bernd Grzeszick, Integration und doppelte Staatsangehörigkeit, ZRP 2017, S. 155 ff.

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V. Andere Formen der politischen Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger in Deutschland Thema des vorliegenden Beitrags ist „die politische Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger auf deutschem Staatsgebiet“. Dies legt es nahe, die Perspektive abschließend zu weiten und über die Ausgangsfälle hinaus auch noch andere Formen und Zielrichtungen der politischen Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger zu beleuchten. 1. Einwirkung auf ausländische Staatsangehörige vom Ausland aus Zum einen kommt dabei die Fallgestaltung in Betracht, dass ausländische Hoheitsträger nicht etwa durch Einreise und Auftritte in Deutschland, sondern vom Ausland aus auf ihre in Deutschland ansässigen Staatsangehörigen einwirken, um deren Entscheidungen bei einer Wahl oder Abstimmung im Heimatstaat zu beeinflussen. Denkbar sind individuelle oder auch öffentlich verlautbarte Botschaften propagandistischer Art bis hin zur offenen oder versteckten Androhung materieller Nachteile oder gar von Gewalt zulasten des Adressaten oder auch in der Heimat verbliebener Angehöriger für den Fall mangelnden Wohlverhaltens. Grundsätzlich sind auch hier das Völkerrecht und das Grundgesetz angesprochen. Anders als in den Ausgangsfällen fehlt es in der vorliegenden Konstellation aber an einem völkerrechtstypischen Tatbestand wie einem Einreisebegehren, zumal das Völkerrecht im Kern die territoriale Ordnung stabilisiert. Der Schwerpunkt möglicher Reaktionen der Bundesrepublik Deutschland wird in einem solchen Szenario auf dem außenpolitischen Feld liegen. Nur in Fällen ganz massiver Bedrohung kann eine Schutzpflicht zugunsten der ausländischen Staatsangehörigen aus den Grundrechten des Grundgesetzes hinzutreten.70 Für eine völkerrechtlich begründete Schutzverant70  Zur Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz  1 GG in Fällen mit Auslandsbezug Georg Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schutzpflicht und Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, 1987, S. 31 ff.; ausführlich auch Thomas Kleinlein / David Raben-



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wortung (responsibility to protect) fehlt es in den vorstellbaren Konstellationen dagegen an den tatbestandlichen Voraussetzungen.71 2. Beeinflussung der demokratischen Willensbildung in Deutschland Zum anderen ist der Fall zu bedenken, dass ausländische Hoheitsträger durch Einreise und Auftritte oder auch vom Ausland aus auf ausländisch-stämmige deutsche Staatsangehörige, Doppelstaater oder auch auf andere Deutsche einwirken, um deren Entscheidungen bei einer Wahl oder Abstimmung in Deutschland zu beeinflussen. Motiv kann dabei sein, die Bundesregierung im Bereich der laufenden Außenpolitik unter Druck zu setzen oder gar auf die Zusammensetzung eines neuen Bundestages und die Ausrichtung einer neuen Bundesregierung Einfluss nehmen zu wollen. Dass dieses Szenario seinerseits nicht nur theoretischer Natur ist, hat die unmissverständliche Aufforderung von Staatspräsident Erdogan an die türkischstämmigen Deutschen im Vorfeld zur aktuellen Bundestagswahl gezeigt, bestimmte Parteien nicht zu wählen.72 Brisanz hatte diese Aufforderung nicht nur deshalb, weil in Deutschland etwa 1,3 Millionen türkischstämmiger Menschen leben, die in Deutschland wahlberechtigt sind, sondern auch deshalb, weil das bisherige Wahlverhalten dieser Wählergruppe recht klar ausgerichtet war.73 Im Ergebnis hat sich die konkrete Aufforderung nach allem, was schlag, Auslandsschutz und Staatsangehörigkeit, ZaöRV Bd. 67 (2007), S.  1277 ff. (1299 ff.). 71  Siehe Peters, Völkerrecht (Fn. 47), Kap. 12 Rdnr. 77  ff. (Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 72  Dazu der Beitrag Bundestagswahl. Erdoğan: „Türken in Deutschland sollen nicht für Christdemokraten, SPD oder Grüne stimmen“, Süddeutsche Zeitung vom 18. August 2017, verfügbar unter: http: /  / www. sueddeutsche.de / politik / bundestagswahl-erdoan-tuerken-in-deutsch land-sollen-nicht-fuer-christdemokraten-spd-oder-gruene-stimmen1.3632593 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 73  Siehe dazu insbesondere die Erhebungen des Berliner Meinungsforschungsinstituts Data4You.

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man inzwischen weiß, wohl allerdings nicht in messbarer Weise ausgewirkt.74 Rechtlich ist hier zu unterscheiden: Soweit ausländische Amtsträger an Veranstaltungen auf deutschem Staatsgebiet teilnehmen möchten, um auf den demokratischen Willensbildungsprozess in Deutschland einzuwirken, stehen der Bundesregierung die Mittel der Einreise- und Auftrittsversagung offen, deren Einsatz das Völkerrecht, wie schon ausgeführt, unproblematisch zulässt. Verfassungsrechtlich können Versagungen der Einreise und des Auftritts in diesem Zusammenhang, je nach Sachverhalt, zum Schutz der Demokratie in Deutschland nach Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, auf Landesebene nach Art. 28 Abs. 1 Satz  1 und 2 GG, geboten sein, zumal im Licht des grundgesetzlichen Konzepts der wehrhaften Demokratie. Eine subjektivrechtliche Bewehrung dieses Gebots kann sich auf Bundesebene zudem aus dem Wahlrechtsgrundsatz der Freiheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben, der auch vor Wahlbeeinflussung von dritter Seite schützt und eine entsprechende staatliche Schutzpflicht begründet, dies jedenfalls bei Ausübung erheblichen Drucks.75 Für die Landesebene ist auf landesverfassungsrecht­ liche Subjektivierungen der Wahlrechtsfreiheit zu verweisen.76 Unterstützend wirkt zudem Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK.77 Sandra Dassler, Deutschtürken bei Bundestagswahl. Erdogans Boykott-Aufruf blieb unerhört, Der Tagesspiegel vom 27. September 2017, verfügbar unter: http: /  / www.tagesspiegel.de / berlin / deutsch tuerken-bei-bundestagswahl-erdogans-boykott-aufruf-blieb-unerhoert /  20381760.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 75  Zur Wirkung des Grundsatzes der Freiheit der Wahl gegenüber nichtamtlicher Wahlbeeinflussung Hans H. Klein, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand: Dezember 2016, Art. 38 Rdnr. 109. 76  Weder Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG noch Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 3 Abs. 1 GG vermitteln nach der Rechtsprechung des BVerfG in diesem Zusammenhang ein subjektives Recht; BVerfGE 99, 1 (7 ff.). 77  Siehe zur subjektivrechtlichen Wahlrechtsfreiheit nach dieser Gewährleistung Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention (Fn. 54), § 23 Rdnr. 103 ff. 74  Siehe



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Soweit ausländische Amtsträger dagegen über die Medien Einfluss auf Wahlberechtigte in Deutschland zu nehmen suchen, wie im Fall Erdogans, kann auf Völkerrechtsebene unter Umständen das Eingreifen des Interventionsverbots in Betracht kommen, das in der souveränen Gleichheit der Staaten wurzelt und völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, hier als Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten.78 Dass die freie Wahl des eigenen politischen Systems einschließlich der eigenen Regierung Element der domaine réservé eines jeden Staates ist, steht außer Zweifel.79 Erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten wirft hier allerdings die für das Eingreifen des Interventionsverbots tatbestandliche Voraussetzung der Einmischung unter Anwendung oder Androhung von Zwang auf. Die Zwangsanwendung oder -androhung ist dabei von zulässiger politischer Kritik aus dem Ausland zu unterscheiden.80 Vor dem Hintergrund der im Völkerrecht etablierten Fallgruppen81 können im vorliegenden Zusammenhang zwei denkbare Formen des Vorgehens ausländischer Amtsträger zu einem Verstoß gegen das Interventionsverbot führen. Zum einen kann massenmedial vermittelte Hetzpropaganda, die auf einen Regimewechsel (regime change) gerichtete Aufstachelung der Bevölkerung, jedenfalls bei ganz erheblicher Intensität der Einflussnahme unter dem Gesichtspunkt der Destabilisierung im Innern unzulässig sein.82 Hier steht die Massiv. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 20), Rdnr. 349 ff.; das Interventionsverbot kommt freilich auch in dem zuvor behandelten Fall des Begehrens der Einreise und des Auftritts zur Beeinflussung einer Wahl in Deutschland in Betracht. 79  Siehe dazu auch die Friendly Relations Declaration der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1970, Resolution 2625 („Every State has an inalienable right to choose its political, economic, social and cultural systems, without interference in any form by another State.“). 80  Derartige politische Kritik war in der jüngeren Vergangenheit verschiedentlich zu beobachten; durchaus erheblich war etwa die Kritik einzelner deutscher Politiker an Donald Trump während des US-Präsidentschaftswahlkampfs. 81  Auch zum Folgenden v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 20), Rdnr. 359 ff. 82  International Criminal Tribunal for Rwanda, Urteil vom 3.  Dezember 2003, ICTR-99-52-T, Nahimana u. a.; vgl. bereits Rudolf ­Streinz, 78  Ausführlich

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vität des Vorgehens im Vordergrund. Zum anderen kann aber auch ein untergründiges, verdecktes Vorgehen mittels des Internets, etwa durch den Einsatz automatisch erzeugter Äußerungen  – zumal von „fake news“  – in sozialen Netzwerken, aufgrund des hier im Zentrum stehenden Täuschungselements als Form der Zwangsanwendung im Sinne des Interventionsverbots angesehen werden.83 Auch darüber hinaus sind Cyberattacken, die einem anderen Staat zuzurechnen sind, nach Maßgabe des Interventionsverbots kritisch zu betrachten;84 seien es Attacken auf Computersysteme, die öffentliche, gerade auch mediale In­ frastrukturen gewährleisten, oder auch ganz konkret Attacken auf Wahlcomputer. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive kann es wiederum geboten sein, derartigen Vorgehensweisen zur Verteidigung des Demokratieprinzips entgegenzutreten. Subjektivrechtlich ist auch hier die Wahlrechtsfreiheit angesprochen. Ähnliche und noch weitergehende Fragen stellen sich schließlich, wenn innerstaatlich Parteien gegründet werden, die Sprachrohr ausländischer Regierungen sind. Zu verweisen ist etwa auf die Partei Allianz Deutscher Demokraten, deren nordrheinwestfälische Landesliste zur Bundestagswahl 2017 zugelassen wurde. Hier geht es faktisch um Probleme der Zurechnung, rechtlich um die Gewährleistungen des Parteienverfassungsrechts auf der einen Seite und wiederum um das Interventionsverbot, das Demokratieprinzip und die Wahlrechtsfreiheit auf der anderen Seite. Führt die Einbürgerung dauerhaft im Inland Meinungs- und Informationsfreiheit zwischen Ost und West. Möglichkeiten und Grenzen intersystemarer völkerrechtlicher Garantien in einem systemkonstituierenden Bereich, 1981. 83  Zugrunde liegt dabei der Gedanke, dass Zwang mit dem Fehlen einer Abwehrmöglichkeit einhergeht. 84  Siehe dazu die Themenschwerpunkte in BalticYIL Bd. 14 (2014) und GYIL Bd. 58 (2015); Pierre Thielbörger / Robin Ramsahye, Hybrid Warfare: zwischen Cyber-Attacken und Manipulation von Informationen, Die Friedens-Warte 90 (2015), S. 81 ff.; Christian Walter, Cyber Security als Herausforderung für das Völkerrecht, JZ 2015, S. 685 ff.; Sven-Hendrik Schulze, Cyber-„War“  – Testfall der Staatenverantwortlichkeit, 2015.



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lebender Ausländer85 nicht zum Gelingen von Integration, können derartige, im politischen Wettbewerb in Deutschland antretende Parteien besondere Probleme aufwerfen. Eine politische Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger ist im Übrigen, dies sei noch ergänzt, auch im Zusammenhang der Demokratie auf EU-Ebene denkbar. Der demokratische Willensbildungsprozess, der auf die Europawahl in den Mitgliedstaaten zuläuft, wird dabei in Deutschland im Grundsatz durch dieselben verfassungs- und völkerrechtlichen Maßgaben gegen hoheitliche Einflussnahmen geschützt wie der demokratische Willensbildungsprozess auf Bundes- und Landesebene.86 Die Wahlrechtsfreiheit nach Art. 39 Abs. 2 EUGRCh tritt hier noch hinzu.87 Solange die Europawahlen mitgliedstaatlich parzelliert durchgeführt werden, schirmen diese Maßstäbe die demokratische Willensbildung dabei – ungeachtet der Wahlberechtigung inlandsansässiger EU-Ausländer  – wohl auch an dieser Stelle primär mitgliedstaatsbezogen ab. Je stärker es dagegen in Zukunft zu einer EU-weiten demokratischen Willensbildung und Legitimation kommen sollte, desto stärker träte die Abschirmwirkung gegenüber Drittstaaten in den Vordergrund. VI. Fazit Öffentliche Auftritte ausländischer Amtsträger haben in Deutschland eine lange, gute und selbstverständliche Tradition. In jüngerer und jüngster Zeit fordern einzelne Fälle der politischen Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger auf deutschem Staatsgebiet aber nicht nur die Außenpolitik, sondern auch das Recht heraus. Das Recht hält seinerseits Maßstäbe für 85  Dazu

oben IV. zur Geltung des Verfassungsrechts für die Wahl zum Europaparlament in Deutschland BVerfGE 129, 300 (316 f.); 135, 259 (280 f.). 87  Zu Eingriffen in die Wahlrechtsfreiheit gemäß der EUGRCh Hans. D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 3. Aufl. 2016, Art. 39 Rdnr. 18; Siegfried Magiera, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 4. Aufl. 2014, Art. 39 Rdnr. 27. 86  Siehe

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den Umgang mit Fällen politischer Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger auf deutschem Staatsgebiet bereit. Als Mensch ist der ausländische Amtsträger in seiner Grundrechtsberechtigung zu achten. Soweit ein ausländischer Staatspräsident oder ein ausländisches Regierungsmitglied aber zu aktuellen Fragen der Politik auf öffentlicher Bühne in Deutschland Stellung nimmt, sprechen der Inhalt und die Umstände des Handelns, der eingesetzte Nimbus des Amtes und die zwischenstaatliche Konstellation nachdrücklich für ein Handeln in amtlicher Funktion. Dies schließt den Grundrechtsschutz aus und lässt den rechtlichen Rahmen der außenpolitischen Beziehungspflege maßgeblich werden. Private, zumal deutsche Veranstalter von Versammlungen, auf denen ausländische Amtsträger auftreten, sind dagegen durch Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützt. Staatliche Maßnahmen, die die Auftritte betreffen, können sich ihnen gegenüber als unmittelbare oder mittelbare Grundrechtseingriffe darstellen. An die Eingriffsrechtfertigung sind aber keine übersteigerten Anforderungen zu stellen, weil hier die Regierungsebene und die Außenpolitik unmittelbar berührt sind. Werden sachlich gebotene und verhältnismäßige Maßnahmen durch Art. 32 Abs. 1 GG in Verbindung mit konkretisierenden Innenrechtsvorschriften fundiert, sollte dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt an dieser Stelle grundsätzlich genügt sein. Zur Erhöhung der Rechtssicherheit erscheint eine ergänzende Heranziehung von  – im Licht der Berührung der zwischenstaatlichen Sphäre ausgelegten, besser noch angepassten  – Ermächtigungsgrundlagen des Verwaltungsrechts allerdings erstrebenswert. Auf Grundlage von Art. 32 GG ist es Sache der Bundesregierung, über das Ob und Wie der politischen Betätigung ausländischer Amtsträger in Deutschland zu entscheiden. Dies entspricht der Völkerrechtsordnung, die die Entscheidung ihrerseits in das Ermessen des betreffenden Staates stellt. In Deutschland wird die Ermessensausübung durch die Bundesregierung durch das Verfassungsrecht näher angeleitet. Ist ein Auftritt in vorausseh-



Hoheitsgewalt oder Meinungsfreiheit?155

barer Weise nicht mit den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu vereinbaren, drängt das Verfassungsrecht – in Übereinstimmung mit der EMRK – darauf, den Auftritt und schon die Einreise zu versagen. Die Bundesregierung hat diesen Maßstab jüngst in einer Rundnote bekräftigt und dort auch einen maßstabsichernden Genehmigungsvorbehalt ausgestaltet. Unabhängig vom Vorliegen einer regierungsseitigen Genehmigung bleibt es aber Aufgabe der zuständigen Behörden vor Ort, das allgemeine und besondere Gefahrenabwehrrecht durchzusetzen, auch ein Versammlungsverbot bei Fehlen einer regierungsseitigen Genehmigung zu erlassen. Der materielle Grund dafür, dass es zu den konfliktbehafteten Ausgangsfällen gekommen ist, liegt im verbreiteten Auseinanderfallen von dauerhaftem Aufenthaltsort und Staatsangehörigkeit. Demokratieadäquat und integrationsförderlich lösen lässt sich die Problematik durch die  – zugleich Mehrstaatigkeit vermeidende  – kontrollierte Einbürgerung der dauerhaft Aufenthaltsberechtigten. Jenseits der Ausgangsfälle kann es schließlich auch in anderer Weise zu Formen der politischen Einflussnahme durch ausländische Hoheitsträger in Deutschland kommen. Wird vom Ausland aus auf Ausländer in Deutschland eingewirkt, kommt vor allem eine außenpolitische Reaktion der Bundesregierung in Betracht. Qualitativ anders stellt sich die Situation dar, wenn ausländische Hoheitsträger auf die demokratische Willensbildung in Deutschland Einfluss zu nehmen suchen. Das Demokratieprinzip und die Wahlrechtsfreiheit können die völkerrechtlich unproblematisch zulässige Einreise- und Auftrittsversagung in diesem Fall sehr deutlich nahelegen. Auf gleicher verfassungsrechtlicher Grundlage ist eine hoheitliche Reaktion möglich und gegebenenfalls geboten, wenn ein ausländischer Staat den demokratischen Willensbildungsprozess in Deutschland mittels der Medien oder durch zurechenbare Cyberattacken beeinträchtigt. Bei ganz erheblicher Intensität kann ein solches Vorgehen zugleich das völkerrechtliche Interventionsverbot verletzen.

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Juristische Einordnungen und Reflexionen stehen in ihrer Zeit. Die Themen, die vorliegend behandelt wurden, hätten sich noch vor zehn oder auch fünf Jahren nicht in dieser Weise aufgedrängt. Sie deuten auf eine Zeit, die neue Spannungen birgt. Es bleibt die Hoffnung auf die Kraft, auf das Verbindende des politischen Gesprächs. Das Recht setzt den Rahmen und es zieht Grenzen, auch im hier gegenständlichen Zusammenhang. Völkerverständigung ereignet sich aber nicht vor Gericht, sondern auf den Foren und Bühnen der Außenpolitik, letztlich in den Köpfen und Herzen der Menschen.

Fake News und Hate Speech als Gefahr für die demokratische Willensbildung. Staatliche Gewährleistung kommunikativer Wahrheit? Von Frank Fechner I. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 II. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Gesetzesbezeichnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Phänomene, die eine Regelung erforderlich machen könnten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Hate Speech  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Fake News  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 c) Social Bots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 d) Suchmaschinen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Inhalt des Gesetzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 a) Netzwerkanbieter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Rechtswidriger Inhalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 c) Berichtspflichten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 d) Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte   169 e) Bußgeldvorschriften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 f) Inländischer Zustellungsbevollmächtigter  . . . . . . . . . . . 174 g) Änderung des TMG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 III. Grundsätzliche Probleme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Europarecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. Gesetzgebungskompetenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3. Rechtsstaatsprinzip  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4. Grundrechte der Netzwerkbetreiber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Berufsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Medienfreiheit der Anbieter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 c) Gleichheitssatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5. Grundrechte der Nutzer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

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a) Medienfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Meinungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 aa) Schutzbereich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 bb) Eingriff  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung, „allgemeines Gesetz“?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 dd) Verhältnismäßigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6. Weitere spezielle Grundrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Informationsfreiheit der Rezipienten  . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Kunstfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 c) Wissenschaftsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 IV. Künftige Forderungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 V. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

I. Einleitung Das Internet ist kein hortus conclusus, kein Paradiesgärtlein, in dem die Sonne immer scheint. Vielmehr ist es auch Treffpunkt des Verbrechens, Plattform der Illegalität und Sprachrohr des Terrorismus. Anonymisierungsoptionen im Netz, vulgo das „Darknet“, ermöglichen den Zugang zu Waffen, Drogen und Kinderpornographie, die Bezahlung über virtuelle Währungen wie „Bitcoin“ gewährleisten eine Abwicklung des Geschäfts außerhalb staatlicher Beobachtung. Das Internet und vor allem soziale Netzwerke ermöglichen zudem, eine Vielzahl von Menschen zu erreichen und auf ihre Meinung einzuwirken. Das Spektrum ist weit. Von der ernsthaften Wiedergabe einer wohldurchdachten Auffassung über Wirtschaftswerbung bis hin zu bewusst falschen Nachrichten, Beleidigungen und Hassreden. Inwieweit derartige Inhalte die demokratische Willensbildung beeinflussen können, bedürfte empirischer Erforschung, die nicht Sache des Juristen ist. Da das Internet mitsamt den sozialen Netzwerken zu einer der wichtigsten Informationsquellen geworden ist, lässt sich eine Auswirkung auf den Prozess der demokratischen Willensbildung indes nicht bestreiten. Dies kann einerseits positiv sein. Anstatt nur Medien zu rezipieren, kann jeder Nutzer Inhalte selbst generieren und seine Meinung



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äußern, wodurch anderen Nutzern eine von den „klassischen Medien“ unabhängige Informationsquelle zur Verfügung steht. In Diktaturen ist dies die effizienteste Form der Opposition. Andererseits ist die Gefahr laienhaft fehlerhafter oder auch bewusst falscher Inhalte mit der Möglichkeit dieses „Laienjournalismus“ denknotwendig verbunden. Die Frage ist, ob den Staat eine verfassungsrechtliche Pflicht trifft, bewusst falsche Informationen und Hassreden zu verhindern und uns Nutzer zu schützen, so dass wir uns wieder auf die Inhalte des Netzes verlassen können und uns auf dieser Grundlage an staatlichen Wahlen und Abstimmungen beteiligen. Der Bundestag hat am 30.  Juni 2017 das sog. Netzwerkdurchsetzungsgesetz beschlossen, das solchen Inhalten den Kampf angesagt hat und das zum 1. Oktober 2017 in Kraft getreten ist. Was hat es damit auf sich und wie ist das Gesetz verfassungsrechtlich und medienrechtlich zu beurteilen? II. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz 1. Gesetzesbezeichnung Schauen wir uns zunächst die Bezeichnung des Gesetzes an. „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ ist zum Glück nur die  – allerdings amtliche  – Abkürzung des Gesetzes, die als sprachlich missglückt zu bezeichnen ist, da ja nicht ein Netzwerk durchgesetzt werden soll. Die ausführliche Überschrift hilft da schon weiter: „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken“. Offenbar geht es also um die Durchsetzung des Rechts in sozialen Netzwerken. Alles Recht? wird man sich fragen, ein hehrer Gedanke. Schon bei der Betrachtung des Titels des Gesetzes kommt die Frage auf, ob der Gesetzgeber dieses Versprechen auch einhalten kann. Netzwerkanbieterverpflichtungsgesetz wäre nicht schöner aber treffender. „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ hat mit juristischer Klarheit wenig zu tun. Der Begriffsbestandteil „Durchsetzung“ suggeriert, dass der Staat eine zuvor bestehende Rechtslage, ein anarchisches Chaos, nun durch Gesetz in den Griff bekommen könne oder gar schon bekommen habe. Um zu sehen, ob dieses Versprechen erfüllt

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wurde, müssen wir das Gesetz etwas genauer betrachten und die ihm zugrundeliegende Zielsetzung. 2. Phänomene, die eine Regelung erforderlich machen könnten a) Hate Speech Schauen wir uns zunächst die gesellschaftlichen Phänomene an, deren sich das Gesetz angenommen hat. „Fake News“ und „Hate Speech“ sind keine juristischen Begriffe. Sie kommen auch in dem neuen Gesetz überhaupt nicht vor. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird ausgeführt, die „Debattenkultur im Netz“ sei „oft aggressiv, verletzend und nicht selten hasserfüllt“ und es könne „durch Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte jede und jeder aufgrund der Meinung, Hautfarbe oder Herkunft, der Religion, des Geschlechts oder der Sexualität diffamiert werden“.1 Der allgemeinsprachliche Begriff der Hate Speech2 ist jedenfalls wesentlich weiter als der des Gesetzes, das sich lediglich auf „rechtswidrige Inhalte“ bezieht. Als solche gelten gem. § 1 Abs. 3 NetzDG lediglich Inhalte in bestimmten sozialen Netzwerken, die zudem einen derjenigen Straftatbestände erfüllt, die im Gesetz ausdrücklich aufgeführt sind. Als dritte Voraussetzung erwähnt das Gesetz, dass die Erfüllung dieser Strafnormen nicht gerechtfertigt ist.

1  Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken ­(Netzwerkdurchsetzungsgesetz-NetzDG) vom 14.  Juni 2017, BT-Drs. 18 / 12727, S.  1. 2  Im völkerrechtlichen Kontext bezieht sich der Begriff in erster Linie auf die Bekämpfung insb. von (Rassen-)Diskriminierung und Verleugnung des Holocaust; ausführlich dazu Anja Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht. Rassendiskriminierende Äußerungen im Spannungsfeld zwischen Rassendiskriminierungsverbot und Meinungsfreiheit, 2001; rechtsvergleichend Vasiliki E. Christou, Die Hassreden in der verfassungsrechtlichen Diskussion. Ein Beitrag im Lichte des deutschen, des U.S.-amerikanischen und des griechischen Rechts, 2007.



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b) Fake News Fake News werden in der Regierungsbegründung begrifflich mit „Falschnachrichten“ gleichgesetzt.3 Dieser Begriff ist unklar. Jede fehlerhafte Nachricht ist eine „Falschnachricht“. Und Falschnachrichten sind wohl so alt wie die Menschheit. Ein frühes Beispiel von „Fake News“ findet sich auf den Wänden verschiedener ägyptischer Tempel, die Ramses II. als Sieger der Schlacht von Kadesch gegen die Hethiter darstellt  – vor 3291 Jahren! Vom Gesetzgeber gemeint sind offenbar bewusst falsche Behauptungen, die als Nachrichten getarnt sind. Diese werden im politischen Meinungskampf gezielt eingesetzt.4 Um sich die Dimension klar zu machen, ist zu sagen, dass die Verbreitung von Fake News ein Geschäftsmodell sein kann, um Werbeeinnahmen zu generieren. Offenkundig erfahren falsche Nachrichten, die aber wahr sein könnten und das Interesse der Allgemeinheit erwecken, so hohe Aufmerksamkeit, dass es Werbekunden gibt, die sich diese Aufmerksamkeit gerne zunutze machen und daher solche Plattformen unterstützen.5 Das Problem von „Fake News“ aus dem Ausland kann ohnehin vom deutschen Gesetzgeber nicht gelöst werden, sein Vorgehen kann sich von vorne

3  Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 18 / 12727) vom 28.  Juni 2017, BT-Drs. 18 / 13013, S. 2. 4  Immer wieder gibt es Beispiele für bewusste Falschmeldungen in der Geschichte wie schon bei der Seeschlacht von Actium durch Oktavian, die Konstantinische Schenkung, die Emser Depesche u. a.; dazu ZDF TerraX Dokumentation, Die berühmtesten Fake News der Geschichte, ZDF vom 2.  März 2017, verfügbar unter: https: /  / www.zdf. de / dokumentation / terra-x / videos / fake-news-geschichte-100.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). Ein weiteres Beispiel sind die auf Karl Kraus zurückgehenden sog. „Grubenhunde“, Leserbriefe mit unsinnigem Inhalt, die teilweise von Presseverlagen in Verkennung ihres wahren Inhalts abgedruckt wurden. 5  Das erinnert an illegale Downloadportale, die durch die bewusste Missachtung urheberrechtlicher Nutzungsrechte attraktiv sind und sich ebenfalls durch Wirtschaftswerbung finanzieren.

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herein nur auf Anbieter oder Nutzer beziehen, die seiner Rechtshoheit unterliegen. Vom NetzDG wird nur ein kleiner Teil von Falschnachrichten erfasst6 und zwar solche in bestimmten sozialen Netzwerken, die zudem einen der aufgeführten Straftatbestände erfüllen. Die für die demokratische Willensbildung gefährlicheren Falschnachrichten dürften indessen die sein, die die Wirklichkeit kaum merklich verändern; „Fake News“, die einen der im Gesetz aufgeführten Tatbestände erfüllen, sind im Regelfall von plumper Auffälligkeit. Gefährlich sind diese Phänomene vor allem dann, wenn durch Selektion der Nutzer oder Algorithmen der Netzwerkbetreiber sich nur bestimmte Nachrichten verbreiten und andere nicht. Muss es nicht auch als „Fake“ bezeichnet werden, wenn einen Nutzer nur immer eine bestimmte Ansicht erreicht, die Gegenansicht allerdings nicht? Insoweit wird von Filterblasen und Echokammern gesprochen.7 Muss es sich um eine bewusst falsche Nachricht handeln oder genügt es, wenn irrtümlich ein fehlerhafter Inhalt verbreitet wird? Der Begriff der Falschmeldung ist als Anknüpfungspunkt für medienrechtliche Inhaltsregulierungen somit nicht geeignet.8 Es verwundert mithin nicht, wenn hinsichtlich der intendierten Bekämpfung von „Fake News“ durch das Gesetz von einem „Etikettenschwindel“ gesprochen wird.9 6  Josef

Drexl, Bedrohung der Meinungsvielfalt durch Algorithmen. Wie weit reichen die Mittel der Medienregulierung, ZUM 2017, S. 529 ff. (529). 7  Ausführlich dazu Drexl, Bedrohung der Meinungsvielfalt (Fn. 6), S. 531; Boris P. Paal / Moritz Hennemann, Meinungsbildung im digitalen Zeitalter. Regulierungsinstrumente für einen gefährdungsadäquaten Rechtsrahmen, JZ 2017, S. 641 ff. (644). 8  So auch Drexl, Bedrohung der Meinungsvielfalt (Fn. 6), S. 541. 9  So Georg Nolte, Hate-Speech, Fake-News, das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ und Vielfaltsicherung durch Suchmaschinen. Vortrag auf dem interdisziplinären Symposium „Der Code als Gatekeeper: Vielfaltsicherung in Zeiten von Such- und Entscheidungsalgorithmen, Personalisierung und Fake-News“ des Instituts für Urheber- und Medienrecht am 28. April 2017 in München, ZUM 2017, S. 552 ff. (555).



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c) Social Bots Während Hate Speech und Fake News zumindest in der Gesetzesbegründung angesprochen werden, ist von Social Bots keine Rede. Social Bots können in sozialen Netzwerken allerdings ebenso zu einer Meinungsbeeinflussung führen wie die anderen beiden Phänomene. Social Bots erwecken in sozialen Netzwerken den Eindruck, Menschen zu sein, die ihre Meinung kundtun, tatsächlich liefern sie jedoch maschinengenerierte Inhalte. Social Bots sind in der Lage, selbständig auf Fragen Antworten zu generieren und Meinungen zu verbreiten, die sich durch die Schwarmfunktionen sozialer Netzwerke viral vervielfältigen und verbreiten können. Solche maschinengenerierten Antworten können im Rahmen sinnvoller Aufgaben eingesetzt werden, beispielsweise wenn eine typische Anfrage zu einem Produkt von der angefragten Firma automatisch beantwortet wird. Die Zwischenschaltung eines Menschen wäre hier mit einem unnötigen Personalaufwand verbunden und der Kunde hat keine Veranlassung, auf eine menschliche Antwort zu vertrauen. Anders ist dies, wenn eine politische Meinung geäußert wird und der Nutzer davon ausgeht, dass dies die Meinung eines seiner „Freunde“ sei. Die Gefahr für die Meinungsbildung kommt aber auch noch von einer anderen Seite. Die Meinungsbeeinflussung kann sich vor allem aus der Anzahl der Posts ergeben. Hierdurch kann nicht nur der Eindruck entstehen, sehr viele Menschen seien einer bestimmten, einer anderen Auffassung als man selbst, vielmehr können auch andere Meinungen in den Ergebnislisten der Suchmaschinen nach unten rutschen und damit im wahrsten Sinne des Wortes aus den Augen geraten. Social Bots zu verbieten, erscheint daher als grundsätzlich nachvollziehbare Forderung. Indes ist die Frage, wie Social Bots technisch erkannt und damit rechtlich sanktioniert werden können. Wiederum stellt sich das Problem der Meinungsbeeinflussung aus dem Ausland, das aufgrund des Territorialitätsprinzips faktisch nicht gelöst werden kann. Verfassungsrechtlich stellt sich zudem die Frage, ob Social Bots nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, da sie von einem Anwender zur Generierung und Verbreitung seiner Meinung eingesetzt werden. Zu-

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mindest soweit die automatisierte Meinungskundgabe einem Menschen zuzurechnen ist und über seine Identität nicht getäuscht wird, wird er sich wohl auf die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1, 1. Var. GG berufen können.10 Ganz offensichtlich hat der Gesetzgeber sich vor diesen verfassungsrechtlichen Fragen gescheut und Social Bots nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezogen. Verschiedene Regelungen werden diskutiert, etwa eine Kennzeichnungspflicht für Social Bots oder etwa ein Verbot der Verwendung von Social Bots durch politische Parteien. d) Suchmaschinen In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass auch andere Informationsintermediäre Einwirkungsmöglichkeiten auf die Nutzer haben können, so vor allem Suchmaschinenbetreiber, wobei hier angesichts der als Geschäftsgeheimnisse gehüteten Algorithmen gar nicht klar ist, ob und auf welche Weise auf die Meinungsbildung Einfluss genommen wird. Forderungen nach einer „öffentlich-rechtlichen Suchmaschine“ sind verständlich, erscheinen allerdings wirklichkeitsfremd. Von einer staatlichen Gewährleistung kommunikativer Wahrheit werden wir somit auch nach Inkrafttreten des NetzDG jedenfalls sehr weit entfernt sein. 3. Inhalt des Gesetzes Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz verpflichtet, kurz gesagt, bestimmte Anbieter sozialer Netzwerke, Beschwerden zu prüfen und wenn der in der Beschwerde gemeldete Inhalt rechtswidrig ist, diesen zu entfernen oder den Zugang zu ihm zu sperren.

10  Vgl. Hubertus Gersdorf, Hate Speech in sozialen Netzwerken. Verfassungswidrigkeit des NetzDG-Entwurfs und grundrechtliche Einordnung der Anbieter sozialer Netzwerke, MMR 2017, S. 439 ff. (444); Jens Milker, „Social-Bots“ im Meinungskampf. Wie Maschinen die öffent­ liche Meinung beeinflussen und was wir dagegen unternehmen können, ZUM 2017, S. 216 ff. (218).



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Über das Beschwerdemanagement müssen Berichte angefertigt werden. Schauen wir uns das Ganze noch etwas genauer an. a) Netzwerkanbieter Das Gesetz definiert soziale Netzwerke als Plattformen, die dazu bestimmt sind, dass Nutzer beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen. Hiervon gibt es gewisse Ausnahmen, etwa Plattformen mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten,11 die vom Diensteanbieter selber verantwortet werden. Diese gelten nicht als soziale Netzwerke i. S. des Gesetzes (§ 1 Abs. 1 Satz 2 NetzDSG). Der Gesetzgeber vertraut insoweit auf interne Kontrollen durch die Anbieter. Dieselbe Ausnahme gilt für Plattformen, die zur Individualkommunikation oder zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind. Die Gesetzesbegründung führt berufliche Netzwerke, Fachportale, Online-Spiele und Verkaufsplattformen an.12 Trotz dieser Präzisierungen bleibt unklar, was „spezifische Inhalte“ sind, so dass etwa Synchronisierungsdienste wie Dropbox begrifflich nicht ausgenommen sind.13 Eine weitere Einschränkung bezieht sich auf die Größe der Netzwerkanbieter. Von den wichtigsten Pflichten des Gesetzes14 ausgenommen sind Anbieter sozialer Netzwerke, die weniger als zwei Millionen registrierte Benutzer haben (§ 1 Abs. 2 NetzDG). Die Qualifikation im Hinblick auf registrierte Nutzer ist erst durch den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz in den Gesetzentwurf eingefügt worden. Die Begründung führt hierzu aus, dass zur Registrierung in der Regel die Zuordnung eines Nutzernamens und Zustimmung zu gewissen Regeln des sozialen Netzwerks in Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gehört. Unklar ist, für welchen Zeitraum diese Nutzerzahl gelten

11  Zur Problematik dieses Begriffs Gerald Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, K&R 2017, S. 533 ff. (535). 12  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 18. 13  Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 534. 14  Genauer die aus §§ 2 und 3 NetzDG.

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soll.15 Zudem erscheint die Zahl von zwei  Millionen letztlich willkürlich. Es sollen, so die Begründung, lediglich soziale Netzwerke mit großer Perpetuierungswirkung erfasst werden.16 Somit könnten kleinere soziale Netzwerke einen Freiraum für die unerwünschten Inhalte bieten. b) Rechtswidriger Inhalt Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz greift aus der Fülle der genannten Phänomene nur einen kleinen Teil  heraus. Es zählt bestimmte Strafnormen auf, bei deren tatbestandlicher Erfüllung die Pflichten des Gesetzes greifen, sofern die Straftat nicht gerechtfertigt ist. Die Begründung nennt als Beispiel für einen Rechtfertigungsgrund §  193 StGB. Das Delikt muss nicht schuldhaft begangen sein. Das Gesetz stellt auch nicht darauf ab, ob Strafantrag gestellt wurde.17„Rechtswidriger Inhalt“ i. S. des Gesetzes sind mithin bei weitem nicht alle Inhalte, die gegen Gesetze verstoßen, was man ja wohl landläufig als rechtswidrig bezeichnen würde. Das Gesetz führt 21 Einzelnormen auf. Greifen wir einige heraus. Schon die ersten sind hinsichtlich der Feststellung ihres Tatbestands nicht unproblematisch. Das bezieht sich auf das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86 StGB) und die Verwendung von Kennzeichen solcher Organisationen (§ 86a StGB). Während es ursprünglich die Idee des StGB war, dass derartige Kennzeichen gänzlich aus dem Gedächtnis der Bevölkerung entschwinden, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung klargestellt, dass eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Symbolen von der Kunstfreiheit gedeckt sein kann.18 Die Darstellung eines Hakenkreuzes, das in einen Papierkorb geworfen wird oder das zu Staub zerfällt, kann daher zulässig sein. Es reicht mithin nicht aus, die Darstellung eines solchen Symbols zu identifizieren, vielmehr muss auch der 15  Spindler,

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 534. BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 19. 17  Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 535. 18  BVerfGE 82, 1 (5 f.); BGHSt 51, 244. 16  Beschlussempfehlung,



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Umgang mit diesem Symbol untersucht werden, damit die Pflichten des NetzDG greifen. Andere Normen sind dem Abschnitt Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats entnommen. Hierher gehören die Straftatbestände der landesverräterischen Fälschung (§ 100a StGB), die öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB), die Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB), die Volksverhetzung (§ 130 StGB) sowie die Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140 StGB). In einen ganz anderen Zusammenhang gehört die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB). Eine im StGB unter der Überschrift Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aufgeführte Straftat ist das Zugänglichmachen kinderpornographischer Schriften (§ 184b i. V. m. § 184d StGB). Dem Schutz von Persönlichkeitsrechten dienen die Beleidigungstatbestände der §§ 185–187 StGB und die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen (§ 201a StGB). Durch letzteres sollen Mobbing und andere Formen der Verächtlichmachung durch Einstellen von Bildaufnahmen unter Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs erfasst werden.19 Die Bedrohung (§ 241 StGB) findet sich unter Straftaten gegen die persönliche Freiheit und die Fälschung beweiserheblicher Daten (§ 269 StGB) ist gar dem Abschnitt „Urkundenfälschung“ zugeordnet. So disparat die aufgezählten Straftatbestände im StGB sind, ist doch auffällig, dass einige Normen, die man möglicherweise erwarten würde, nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezogen wurden, so das Aufstacheln zum Verbrechen der Aggression (§ 80a StGB), der Hochverrat (§§ 81 f. StGB), die Verunglimpfung des Bundespräsidenten (§ 90 StGB), des Staates und seiner Symbole (§ 90a StGB) oder von Verfassungsorganen (§ 90b StGB). Weitere denkbare Normen sind der Landesverrat (§ 94 StGB), das Offenbaren von Staatsgeheimnissen (§ 95 StGB), die Wählerbestechung (§ 108b StGB), sicherheitsgefähr19  Beschlussempfehlung,

BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 19.

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dendes Abbilden (§ 109g StGB), Anwerben für fremden Wehrdienst (§ 109h StGB) sowie die Anleitung zu Straftaten in § 130a StGB. Hätte der Gesetzgeber uns vor terroristischen Angriffen schützen wollen, hätte er gut daran getan, diese Normen einzubeziehen. Die Normen zum Schutz des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland, seiner Repräsentanten oder von Institutionen waren im Gesetzentwurf noch enthalten, sind dann aber erst kurz vor der Abstimmung im Bundestag gestrichen worden.20 Demgegenüber wurde die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs in dieser Phase zusätzlich eingefügt. Letztlich haftet der Auswahl der Normen ein Hauch von Willkür an.21 c) Berichtspflichten Noch bevor im Gesetz der Umgang mit Beschwerden geregelt wird, werden die Berichtspflichten über den Umgang mit Beschwerden festgelegt. Muss nicht der unbedarfte Leser des Gesetzes vermuten, dass die Beseitigung von Hasskommentaren weniger wichtig ist als die Berichterstattung darüber, dass der Anbieter Aktivitäten gegen Hasskommentare entfaltet? Soll das der Abschreckung dienen oder verrät der Gesetzgeber durch diesen Freud’schen Paragraphentausch seine wahren Absichten? Nur bei mehr als 100 Beschwerden im Kalenderjahr greifen die Berichtspflichten. Damit sollen Anbieter, bei denen rechtswidrige Inhalte nur eine untergeordnete Rolle spielen, sowie kleinere Netzwerke oder Start-ups entlastet werden.22 Wie dies

20  Ebd. 21  Deutlicher Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 555; Jörg Wimmers / Britta Heymann, Zum Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) – eine kritische Stellungnahme, AfP 2017, S. 93 ff. (94) nennen es einen kunterbunten und kaum nachvollziehbaren Katalog; zum Entwurf auch Bernd Holznagel, Das Compliance-System des Entwurfs des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Eine kritische Bestandsaufnahme aus internationaler Sicht, ZUM 2017, S. 615 ff. (622). 22  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 19.



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mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sein soll, bleibt offen. d) Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte Ausführlich geregelt ist der Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte in § 3 NetzDG.23 In allgemeiner Form wird der Anbieter zunächst verpflichtet, ein „wirksames und transparentes Verfahren“ für den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte vorzuhalten. Gewährleistet sein muss vor allem, dass der Anbieter des sozialen Netzwerks unverzüglich von der Beschwerde Kenntnis nimmt und prüft, ob der in der Beschwerde gemeldete Inhalt rechtswidrig und zu entfernen oder der Zugang zu ihm zu sperren ist (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 NetzDG). Das Gesetz lässt offen, was zu geschehen hat, wenn die Beschwerde eine qualifizierte Prüfung gar nicht zulässt. Ist sie unbeachtlich oder muss Nachbesserung verlangt werden?24 Sofern es sich um einen „offensichtlich rechtswidrigen Inhalt“ handelt, muss dieser innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde entfernt oder der Zugang zu ihm gesperrt werden. Sonstige rechtswidrige Inhalte, d. h. solche, die nicht offensichtlich rechtswidrig sind, müssen unverzüglich, in der Regel innerhalb von 7 Tagen nach Eingang der Beschwerde, entfernt oder der Zugang zu ihnen gesperrt werden (Nr. 3). Durch die Formulierung „in der Regel“ hat der Gesetzgeber hier keine starre Frist vorgesehen, sondern diese aus seiner Sicht flexibilisiert, damit es nicht aus Zeitdruck zu einem Overblocking kommt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass damit den sozialen Netzwerken „ausreichend Zeit für eine notwendige rechtliche Prüfung des Inhalts zur Verfügung steht“.25 Die Überschreitung der Frist solle allerdings die Ausnahme bleiben.26 Rein rechtlich ist „un23  Die Gesetzesbegründung nennt dies „Compliance-Regeln“, z.  B. Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 21. 24  Holznagel, Das Compliance-System (Fn. 21), S. 620. 25  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 20. 26  Vgl. ebd.

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verzüglich“ allerdings wie auch sonst als „ohne schuldhaftes Zögern“ zu verstehen. Das kann auch weniger als sieben Tage sein, weshalb diese Änderung kurz vor Gesetzesbeschluss als Verschärfung des Gesetzes gewertet werden kann.27 Die Frist kann überschritten werden,28 wenn die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Inhalts von der Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung oder erkennbar von anderen tatsächlichen Umständen abhängt (Nr. 3a). In diesen Fällen kann das soziale Netzwerk dem Nutzer vor der Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu der Beschwerde geben. Bleibt die Gelegenheit zur Stellungnahme ungenutzt, so darf das soziale Netzwerk  – der Gesetzesbegründung zufolge – „in der Regel von der Glaubhaftigkeit des Beschwerdevorbringens ausgehen und den Inhalt entfernen“.29 Die Formulierung „in der Regel“ deutet schon an, dass nicht alle Fälle so eindeutig sind, wie es der Gesetzeswortlaut erscheinen lässt. Besonders schwierig ist die Entscheidung, wenn der Nutzer seine Behauptung verteidigt. In diesem Fall schreibt die Gesetzesbegründung vor, dass das Netzwerk die Glaubhaftigkeit der entgegenstehenden Behauptungen „abwägen“ muss. Hierfür stehen dem sozialen Netzwerk indes keinerlei Möglichkeiten der Beweiserhebung zur Verfügung. Angesichts der schwierigen Abwägungsvorgänge im Medienrecht sind Fehler hier vorprogrammiert. Die Gesetzesbegründung geht auf die Möglichkeit ein, dass sich die Entscheidung des sozialen Netzwerks im Nachhinein als Fehleinschätzung herausstellt und postuliert, dass hierauf kein Bußgeld gestützt werden dürfe.30 Das soziale Netzwerk kann, anstatt selbst zu entscheiden, die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit einer anerkannten Ein27  Karl-E. Hain / Frederik Ferreau / Tobias Brings-Wiesen, Regulierung sozialer Netzwerke revisited, K&R 2017, S. 433 ff. (435). 28  Nach Rolf Schwartmann, Verantwortlichkeit Sozialer Netzwerke nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, GRUR-Prax 2017, S. 317 ff. (318) gelangt die Löschfrist in komplizierten Fällen nicht zur Anwendung. 29  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 20 f. 30  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 21.



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richtung der Regulierten Selbstregulierung übertragen und sich deren Entscheidung unterwerfen. Eine solche Übertragung ist aber nicht möglich, wenn es sich um einen offensichtlich rechtswidrigen Inhalt handelt.31 Das Netzwerk ist an die Entscheidung der Einrichtung gebunden. Kommt die Einrichtung der regulierten Selbstregulierung zum Ergebnis, dass es sich um einen rechtswidrigen Inhalt handelt, so muss das soziale Netzwerk ihn entfernen oder sperren. Im umgekehrten Fall darf es weder entfernen noch sperren. Sollte es sich später herausstellen, dass der Inhalt doch rechtswidrig war, so darf gegenüber dem sozialen Netzwerk kein Bußgeld ausgesprochen werden. Eine Übertragung der Einschätzung des Inhalts ist allerdings nur auf eine anerkannte Einrichtung der regulierten Selbstregulierung möglich. Selbstregulierungseinrichtungen sind anzuerkennen, wenn u. a. die Unabhängigkeit und Sachkunde ihrer Prüfer gewährleistet ist und wenn eine sachgerechte Ausstattung und zügige Prüfung innerhalb von 7 Tagen sichergestellt ist.32 Was die Anforderungen an die Prüfer genau sind, bleibt offen.33 Zudem muss eine solche Einrichtung von mehreren Anbietern getragen sein und für weitere Anbieter offenstehen (§ 3 Abs. 7 NetzDG). Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen geht der Gesetzgeber davon aus, dass es sich um eine „unabhängige“ Einrichtung handelt.34 Zuständig für Zulassung, Aufsichtsmaßnahmen und den Widerruf der Zulassung ist das Bundesamt für Justiz.35 Bei der Besetzung sollen die Landesmedienanstalten einbezogen werden.36 Bei den Einrichtungen der regulierten Selbstregulierung sind Beschwerdestellen einzurichten (§ 3 Abs. 6 Nr. 4 NetzDG). Da31  Ebd. 32  Nur hieraus lässt sich indirekt folgern, wie lange die Prüfung durch eine Selbstkontrolleinrichtung dauern darf; Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 539. 33  Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 540. 34  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 21. 35  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 22. 36  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 21.

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mit soll es Nutzern, deren Inhalte zu Unrecht entfernt wurden, ermöglicht werden, sich gegen die Sperrung oder Löschung zu beschweren. Sichergestellt werden soll auf diese Weise, dass es in Fällen der unberechtigten Sperrung tatsächlich zulässiger Inhalte schnell und unkompliziert zur Wiederherstellung der Inhalte kommt.37 Der Gesetzgeber gibt damit zu erkennen, dass er das Problem der Wiederherstellung zu Unrecht gelöschter Inhalte erkannt hat. Umso erstaunlicher ist es, dass er eine solche Beschwerdemöglichkeit bei den Einrichtungen der regulierten Selbstregulierung vorschreibt, nicht aber bei den sozialen Netzwerken selbst. Dies erscheint inkonsequent, da die sozialen Netzwerke ja nicht gezwungen sind, ihre Entscheidung auf eine Einrichtung der regulierten Selbstregulierung zu übertragen. Letztlich bestehen somit keine ausreichenden Rechte auf Anhörung oder gar der Beschwerde für von Löschung betroffene Nutzer.38 Doch auch wer der Ansicht ist, dass sein Persönlichkeitsrecht verletzt worden ist, hat kein Anhörungsrecht im Löschungs- oder Sperrungsverfahren.39 Entfernte Inhalte sind „zu Beweiszwecken“ zu sichern und für die Dauer von zehn Wochen zu speichern (§ 3 Abs. 2 Nr. 4 NetzDG). Nicht klargelegt wird, um welche Beweiszwecke es sich handelt. Nicht geregelt ist weiterhin, wer unter welchen Voraussetzungen Auskunft über diese Daten verlangen kann.40 Soweit personenbezogene Daten betroffen sind, handelt es sich um eine Form der Vorratsdatenspeicherung,41 die nur in engen verfassungsrechtlichen Grenzen zulässig ist.42

37  Ebd. 38  Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 98. 39  Karl-Heinz Ladeur / Tobias Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und die Logik der Meinungsfreiheit, K&R 2017, S. 390 ff. (393). 40  Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 100. 41  Ebd. 42  BVerfGE 125, 260.



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e) Bußgeldvorschriften In der nachfolgenden Norm, § 4 NetzDG, finden sich Bußgeldvorschriften. Für nicht rechtzeitiges Löschen oder Sperren ist kein Bußgeldtatbestand vorgesehen. Vielmehr kommt es – so die Gesetzesbegründung – auf eine systemisch falsche Entscheidungspraxis an, die mit einer überschaubaren Zahl von falschen Einzelfallentscheidungen belegt wird. Ein Bußgeld wird mithin fällig, wenn es sich um beharrliche Verstöße gegen die Compliance-Vorgaben des Gesetzes handelt.43 Demgegenüber bestimmt jedoch § 4 Abs. 4 NetzDG, dass die Verwaltungsbehörde, wenn sie ihre Entscheidung darauf stützen will, dass nicht entfernte oder nicht gesperrte Inhalte rechtswidrig i. S. d. § 1 Abs. 3 NetzDG sind, vorab eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtswidrigkeit herbeiführen soll. Das zeigt, dass es sehr wohl auch um die Einschätzung der Rechtswidrigkeit konkreter Inhalte gehen kann.44 Im Übrigen kritisiert der Deutsche Richterbund die Vorabentscheidung. Ein solches Verfahren stelle ein systemwidriges Novum dar,45 da grundsätzlich die zuständige Behörde über eine Verhängung von Bußgeld zu entscheiden hat, während Gerichte erst zuständig sind, wenn die Entscheidung angegriffen wird.46 Die Netzwerkbetreiber können kein solches Verfahren beantragen.47 Die Entscheidung des Gerichts ist für die Verwaltungsbehörde bindend und nicht anfechtbar.48

43  Beschlussempfehlung,

BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 22. auch Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 101. 45  Deutscher Richterbund, Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken vom März 2017, Nr. 14 / 17. 46  Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aus­ arbeitung. Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit vom 12. Juni 2017, WD 10-3000-037 / 17, S. 15. 47  Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 542. 48  Dazu Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 541. 44  So

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Die Höhe des Bußgelds ist unterschiedlich festgelegt. In den meisten Fällen beträgt sie bis zu fünf  Millionen Euro. Diese Summe kann sich durch eine Verweisung auf das OWiG auf 50  Millionen Euro erhöhen (§ 4 Abs. 2 NetzDG i. V. m. § 30 Abs. 2 Satz  3 OwiG). Um derartigen Bußgeldern zu entgehen, sind Netzwerkbetreiber gut beraten, Inhalte im Zweifel zu löschen. Konsequenz daraus ist die Gefahr des „Overblocking“, einer Löschung rechtmäßiger Inhalte möglicherweise in pauschaler Form, um in keinem Fall wegen nicht rechtzeitiger oder unterlassender Löschung belangt werden zu können. Angesichts der hohen Bußgelder und der kurzen Bearbeitungsfristen wird ein Anreiz in Richtung „Löschen statt Prüfen“ gesetzt.49 f) Inländischer Zustellungsbevollmächtigter Anbieter sozialer Netzwerke haben gem. § 5 Abs. 1 NetzDG im Inland einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen, an den Schriftstücke im Zusammenhang mit Bußgeldverfahren und anderen Gerichtsverfahren zugestellt werden können. Zu benennen ist auch eine empfangsberechtigte Person im Inland für Auskunftsersuchen von inländischen Strafverfolgungsbehörden. Wichtig ist, dass der Zustellungsbevollmächtigte nicht nur in konkreten Verfahren, sondern dauerhaft, d. h. auch zum Zweck der Einleitung von Verfahren mit Bezug zur Verbreitung rechtswidriger Inhalte, verfügbar gehalten wird.50 Eine Ordnungswidrigkeit stellt es daher z. B. auch dar, wenn der Empfangsberechtigte beharrlich nicht auf Anfragen der Strafverfolgungsbehörden reagiert.51 Das klingt gut, da ein zuvor tatsächlich bestehender Missstand angegangen wird. Indes beziehen sich die Funktionen des Zustellungsbevollmächtigten lediglich auf die „rechtswidri49  So Gerald Spindler, Der Regierungsentwurf zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz  – europarechtswidrig?, ZUM 2017, S. 473 ff. (481); vgl. Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 98 f.; Holznagel, Das Compliance-System (Fn. 21), S. 623. 50  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 23. 51  Ebd.



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gen Inhalte“ in der Festlegung des NetzDG.52 Für die alltägliche zivilrechtliche Praxis dürfte damit wenig gewonnen sein. g) Änderung des TMG Das NetzDG ist ein Artikelgesetz, durch das auch die datenschutzrechtliche Vorschrift des § 14 TMG geändert wird. Dadurch wird der Diensteanbieter ermächtigt, Auskunft über Bestandsdaten zu erteilen, soweit dies zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen der Verletzung absolut geschützter Rechte erforderlich ist. Tatsächlich waren vor dem NetzDG Portalbetreiber bei der Verletzung von Persönlichkeitsrechten Dritter nicht zur Herausgabe von personenbezogenen Nutzerdaten an diese befugt.53 Allerdings schränkt das NetzDG das Auskunftsrecht sehr stark ein und zwar lediglich auf Ansprüche „aufgrund rechtswidriger Inhalte“ i. S. des NetzDG (Art. 2 Nr. 1 NetzDG). D. h. Voraussetzung für die Möglichkeit zur Durchsetzung eines zivilrechtlichen Anspruchs ist wiederum die Erfüllung einer Katalogstraftat. Zudem werden fahrlässige Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht von der Pflicht zur Auskunftserteilung erfasst.54 Auch sind Netzwerkbetreiber nicht zur Identitätsfeststellung verpflichtet.55 Es erscheint daher schon fast zynisch, wenn es in der Gesetzesbegründung wörtlich heißt: „Ziel des Auskunftsanspruchs ist es, den Betroffenen einen wirksamen und durchsetzbaren Anspruch auf Feststellung der Identität des Verletzers bei Rechtsverletzungen im Internet zu verschaffen“.56 Dieses so allgemein formulierte und wünschenswerte Ziel wäre erreichbar gewesen, wenn die Änderung nicht an den  – insoweit verengenden  – Katalog des NetzDG gekoppelt worden wäre. Wie heißt es in der Gesetzesbegründung? Es sollte „für die Zukunft“ überlegt werden, ob eine andere Formulierung 52  Spindler,

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 542. Meinungsbildung (Fn. 7), S. 647 unter Verweis auf BGHZ 201, 380. 54  Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 543. 55  Ebd. 56  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 23. 53  Paal / Hennemann,

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des Anspruchs nach dem Vorbild anderer Auskunftsansprüche wie § 101 UrhG kodifiziert werden könnte, um dem Verletzten „eine Durchsetzung seiner Rechte nach klaren Kriterien zu ermöglichen“.57 Darf man daraus schließen, dass der Gesetzgeber einräumt, dass die derzeitigen Kriterien nicht klar sind? Und warum hat er nicht schon über eine andere Kodifizierungsmöglichkeit nachgedacht? Fehlte schlichtweg die Zeit? Eine zusätzliche Voraussetzung der Datenherausgabe ist eine richterliche Gestattung. Dieser Richtervorbehalt soll der Begründung zufolge „Einschüchterungseffekte auf die Ausübung der Meinungsfreiheit in diesem eng begrenzten Bereich besonders grundrechtssensibler Kommunikation verhindern“.58 Das Grundproblem in diesem Zusammenhang ist die Frage, ob anonyme Meinungsäußerungen auch unter das Grundrecht der Meinungsfreiheit fallen, ob anders ausgedrückt, die Meinungsäußerungsfreiheit auch die Möglichkeit anonymer Meinungskundgabe umfasst. Hierfür spricht einiges. Wie kann ein Schüler Kritik an seinen Lehrern üben, wenn die Kritik seiner Person zugeordnet wird? Wie kann der Patient seinen Arzt beurteilen, wenn er ihm in ähnlich hilfloser Lage wieder gegenübertritt? Aus diesem Grund hat der BGH in der „spickmich-Entscheidung“ aus den §§ 12 ff. TMG ausdrücklich ein „Recht des Internetnutzers auf Anonymität“ abgeleitet.59 Das TMG sieht die Möglichkeit anonymer Nutzung des Internets in § 13 Abs. 6 vor. Beispiele von Ländern wie China, in denen anonyme Meinungsäußerungen verboten sind, zeigen, wie demokratiesensibel diese Frage ist. Problematisch wäre ein Anspruch auf Namensnennung auch, wenn die Auskunft dazu verwendet werden könnte, um den Äußernden medial „an den Pranger zu stellen“. § 13 Abs. 6 TMG verpflichtet Diensteanbieter, die Nutzung von Telemedien anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, ohne dass zwischen Abruf und dem Generieren von Inhalten unterschieden würde. In den Erwägungsgründen der E-Commerce-Richtlinie 57  Ebd. 58  Beschlussempfehlung, 59  BGHZ

181, 328.

BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 24.



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heißt es lediglich, dass die Richtlinie „die anonyme Nutzung offener Netze wie des Internets […] nicht unterbinden“ kann (Erwägungsgrund 14). Es fragt sich indes, ob Differenzierungen denkbar und sinnvoll sind. Die „klassischen Medien“ verfügen jedenfalls nicht über eine solche Möglichkeit unregulierter Meinungsäußerung.60 Problematisch erscheint die Anonymität der Meinungskundgabe aus der Sicht des Beurteilten. Werden Persönlichkeitsrechte des Beurteilten beeinträchtigt, so hat er ein Interesse daran, Gegenansprüche durchzusetzen. Insbesondere wenn er zu Unrecht beschuldigt wurde, müssen Unterlassungs-, Beseitigungs- und Berichtigungsansprüche, möglicherweise auch ein Anspruch auf Geldentschädigung, zumindest grundsätzlich geltend gemacht werden können. Im klassischen Medienrecht ist in solchen Drittwirkungsfällen eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechte erforderlich. Wenn der Betroffene indes nicht weiß, gegen wen er den Anspruch stellen kann, ist es ihm verwehrt, diese sein Persönlichkeitsrecht schützenden Ansprüche durchzusetzen. Zu überdenken ist daher, inwieweit das Postulat der durch die Meinungsfreiheit geschützten umfassenden Anonymität in allen Varianten von Meinungsäußerungen aufrecht zu erhalten ist. Gegen das Vermummungsverbot im Versammlungsrecht werden entsprechende Zweifel jedenfalls nicht mit derselben Vehemenz geäußert. Anonymität im Netz kann kein Freibrief zur Verletzung von Persönlichkeitsrechten und zur Begehung von Straftaten sein. Davon geht auch das TMG in § 14 Abs. 2 aus, demzufolge der Diensteanbieter auf Anordnung der zuständigen Stellen im Einzelfall Auskunft über Bestandsdaten erteilen darf, soweit dies u. a. für Zwecke der Strafverfolgung aber auch zur Durchsetzung der Rechte am geistigen Eigentum erforderlich ist. Insoweit erscheint eine Öffnung hin zur Verletzung von Persönlichkeitsrechten – unabhängig von den Straftaten des NetzDG – denkbar und überzeugender.

60  Schwartmann, Verantwortlichkeit Sozialer Netzwerke (Fn.  28), S. 317.

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III. Grundsätzliche Probleme 1. Europarecht Schauen wir uns nun einige grundsätzliche Probleme des Gesetzes an. Fraglich ist bereits, ob das Gesetz mit bestehendem EU-Recht vereinbar ist. Der Gesetzgeber reguliert mit dem NetzDG Anbieter sozialer Netzwerke unabhängig vom Sitz ihrer Niederlassung.61 Maßgeblich ist die Abrufbarkeit der Inhalte in Deutschland.62 Damit ist Art. 3 der E-Commerce-Richtlinie (ECRL) zu beachten. Art. 3 formuliert das Herkunftslandprinzip, das uns aus dem Warenverkehr bekannt und im Rundfunkrecht unter dem Begriff Sendestaatsprinzip anerkannt ist. Es geht in allen diesen Fällen darum, dass eine Ware, ein Dienst oder eine Sendung nicht mehr von mehreren Staaten hinsichtlich seiner Zulässigkeit geprüft werden darf, sondern dass hierfür der Herkunftsstaat zuständig ist und die anderen Mitgliedstaaten diese Entscheidung anzuerkennen haben und das Angebot oder die Ausstrahlung der Sendung im Inland nach ihrem nationalen Recht nicht verbieten dürften. Hiermit wird Rechtssicherheit geschaffen und der Binnenmarkt ermöglicht. Voraussetzung ist ein vergleichbares Schutzniveau in den Mitgliedstaaten. Daraus folgt, dass ein Dienst der Informationsgesellschaft den Rechtsvorgaben am Sitz seiner Niederlassung entsprechen muss, während andere Mitgliedstaaten nur noch unter engen Grenzen – auf der Grundlage der E-Commerce-Richtlinie  – handeln dürfen. Gem. Art. 3 Abs. 4 lit. a, i) ECRL dürfen Mitgliedstaaten nationale Vorschriften erlassen zum Schutz der öffentlichen Ordnung, insb. zur Verhütung von Straftaten, einschließlich des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität, sowie von 61  Zu den entsprechenden völkerrechtlichen Aspekten Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 93 f., ablehnend Nikolaus Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – schön gedacht, schlecht gemacht, ZRP 2017, S.  98 ff. (99). 62  So mit Einschränkung „offenbar“ Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 474.



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Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen. Scheint diese Ausnahme auf den ersten Blick für das NetzDG zu passen, so wird in dieser Norm doch ausdrücklich von „Maßnahmen“ gesprochen, was als Vorgehen gegen einen bestimmten Dienst interpretiert wird.63 Dafür spricht, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind. In jedem Fall muss zunächst der Herkunftsmitgliedstaat dazu aufgefordert werden, Maßnahmen zu ergreifen, d. h. er muss versuchen, zunächst gegen den auf seinem Gebiet ansässigen Anbieter vorzugehen und erst, wenn der Sitzstaat seiner Aufforderung nicht oder nicht in hinlänglicher Weise nachkommt, kann der Empfangsstaat selbst handeln. Auch diese Vorgabe spricht dafür, dass die Richtlinie lediglich das Vorgehen gegen einen einzelnen Dienst oder zumindest gegen Dienste eines bestimmten Mitgliedstaats zulassen will.64 Ein weiterer Konflikt mit vorrangigem Europarecht besteht hinsichtlich der vorgesehenen Sperrungs- oder Löschungsfristen. Während der Diensteanbieter, der nutzergenerierte Inhalte speichert, gem. Art. 14 Abs. 1b ECRL „unverzüglich“ sperren oder löschen muss, ersetzt der Gesetzgeber des NetzDG dieses Wort durch die 24-Stunden bzw. 7-Tage-Frist. Da der Begriff der Richtlinie autonom auszulegen ist, hat der nationale Gesetzgeber insoweit aber keinen Spielraum.65 Eine weitere Abweichung von der Richtlinie besteht darin, dass es statt auf die Kenntnisnahme vom rechtswidrigen Inhalt im NetzDG auf den Eingang der 63  Ausführlich Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S.  433 f.; Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 97; Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 477; Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 536; Thorsten Feldmann, Zum Referentenentwurf eines NetzDG: Eine kritische Betrachtung, K&R 2017, S. 292 ff. (296); im Ergebnis auch Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 561. 64  Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 476. 65  Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn.  49), S. 479  f.; vgl. Nolte, Hate-­Speech (Fn. 9), S. 561; Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 95; Feldmann, Referentenentwurf (Fn. 63), S. 294; Ansgar Koreng, Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes: Neue Wege im Kampf gegen „Hate Speech“?, GRUR-Prax 2017, S. 203 ff. (205).

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Beschwerde ankommt.66 Überhaupt setzt das NetzDG als Bedingung für eine Handlungspflicht stets eine „Beschwerde“ voraus, während doch Art. 14 ECRL verlangt, dass der Anbieter tatsächlich Kenntnis erlangt, was ja auch durch eine einfache Anzeige oder durch Eigenrecherche der Fall sein kann.67 Im Ergebnis ist anzunehmen, dass das NetzDG mit Europarecht nicht vereinbar ist oder nur in der Weise europarechtskonform ausgelegt werden kann, dass diejenigen sozialen Netzwerke, die ihren Sitz im EU-Ausland haben, nicht erfasst werden.68 2. Gesetzgebungskompetenz Grundlegende Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzes werden weiterhin im Hinblick auf das nationale Verfassungsrecht vorgebracht und zwar sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht. In formeller Hinsicht ist zunächst die Frage zu prüfen, ob dem Bundesgesetzgeber überhaupt eine Gesetzgebungszuständigkeit zur Regelung dieser Materie zusteht. Zu dieser Frage gibt uns die Gesetzesbegründung die klare Antwort, dass insoweit das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) sowie das Recht der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), soweit Belange des Jugendschutzes betroffen sind, einschlägig seien.69 Da das Verhalten von Diensteanbietern im Internet geregelt werden soll, leuchtet das auf den ersten Blick ein. Allerdings erwachsen Zweifel, wenn man weiter in der Begründung liest, dass „Hasskriminalität und andere rechtswidrige Inhalte unter Umständen nicht in jedem Land effektiv weist Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 480 hin. Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 481 f.; ders., Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 538; dazu auch Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 95. 68  So offenbar Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 434. Die Bedenken bestehen trotz der Notifikation durch die Kommission. 69  Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18  /  12727 (Fn. 1), S. 12. 66  Hierauf 67  Näher



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bekämpft und verfolgt werden und dort infolgedessen das friedliche Zusammenleben einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft in Gefahr“ sei.70 Die Formulierung zeigt, dass das Ziel der Regelung darin liegt, auf den Inhalt von Kommunikation Einfluss zu nehmen und die Inpflichtnahme von Dienste­ anbietern lediglich Mittel zum Zweck ist. Damit liegt der Schwerpunkt der Regelung nicht im Bereich der Wirtschaft, sondern in der Regelung von Medieninhalten.71 Die Medien fallen indes in die Gesetzgebungszuständigkeit der Bundesländer, entsprechend der Auffangkompetenz des Art. 70 GG.72 Auch das Argument, das NetzDG konkretisiere nur die Haftungsregelungen der §§ 7 ff. TMG verfängt nicht, da es dort nur um zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeiten geht, nicht aber ein öffentlich-rechtliches Beschwerdemanagement mit Bußgeldandrohungen vorgesehen ist.73 Die Nennung des Jugendschutzes kann jedenfalls zu keinem anderslautenden Ergebnis insgesamt führen, denn der Schutz der Jugend wird allenfalls am Rande erwähnt.74 Schließlich wird vorgetragen, dass das Gesetz zu einer Rechtszersplitterung beiträgt, da dieselben Sachverhalte, die auch im JMStV geregelt sind, hier mit anderen Rechtsfolgen verknüpft werden.75

70  Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18  /  12727 (Fn. 1), S.  12 f. 71  Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 391; Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 561; Gersdorf, Hate Speech (Fn. 10), S. 441; Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 434; vgl. Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 97. 72  Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes besteht allerdings für die Regelung des Auskunftsanspruchs gegenüber Netzwerkbetreibern in § 14 Abs. 2 TMG sowie für die Konkretisierung der Störerhaftung als zum bürgerlichen Recht gehörig (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG); Gersdorf, Hate Speech (Fn. 10), S. 440. 73  Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 434. 74  Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 435. 75  Feldmann, Referentenentwurf (Fn. 63), S. 294.

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3. Rechtsstaatsprinzip Gegen das Gesetz wurde zudem vorgebracht, dass verschiedene Normen nicht mit dem Bestimmtheitsprinzip in Übereinstimmung zu bringen sind und das Gesetz daher gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt.76 Das gilt insb. für die Frage, was ein „offensichtlich rechtswidriger Inhalt“ ist und erst recht, was ein nicht offensichtlich rechtswidriger Inhalt,77 also sozusagen ein „schlicht rechtswidriger“78 Inhalt ist. Die Unterscheidung wird jedenfalls vom Gesetz nicht vorgegeben.79 Während einerseits die Ansicht vertreten wird, es werde das Bestimmtheitsprinzip verletzt, wird andererseits vorgetragen, es handle sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der wie im Verwaltungsrecht (§ 44 VwVfG) beurteilt werden könne.80 Entsprechendes gilt für die Frage, was ein „nicht richtig“81 veröffentlichter Bericht genau ist, mit der Folge einer Ordnungswidrigkeit. Kaum mit dem Bestimmtheitsprinzip vereinbar ist die Pflicht, den mit der Bearbeitung von Beschwerden beauftragten Personen regelmäßig, mindestens aber halbjährlich deutschsprachige „Schulungs- und Betreuungsangebote“ zu machen.82 Welches ist deren Inhalt, wie umfangreich müssen diese sein? Und zudem: ein „Angebot“ muss ja von den betreffenden Personen nicht angenommen werden, es ist weder Anwesenheit noch eine Kontrollprüfung vorgesehen,83 so dass eine tatsächliche 76  Feldmann,

Referentenentwurf (Fn. 63), S. 295. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 391; Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 537. 78  Begrifflichkeit in Anlehnung an die im Jugendschutz eingebürgerte Terminologie. Siehe auch Holznagel, Das Compliance-System (Fn. 21), S. 621. 79  Holznagel, Das Compliance-System (Fn. 21), S. 623. 80  Schwartmann, Verantwortlichkeit Sozialer Netzwerke (Fn. 28), S.  318 f. 81  § 4 Abs. 1 Nr. 1 NetzDG, dazu Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 391. 82  Dazu Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 392. 77  Ladeur / Gostomzyk,



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Schulung 83keineswegs gewährleistet ist. In diesem Zusammenhang könnte zudem die Frage aufkommen, ob lediglich Hasskommentare in deutscher Sprache der Löschung bedürftig sind oder auch solche in anderen Sprachen und wenn ja, welchen. Eine sehr grundsätzliche Frage, der bisher noch nicht im erforderlichen Umfang nachgegangen wurde, ist die Rolle des Bundesamts für Justiz. Insoweit gibt es zunächst formale Bedenken, denn für die an verschiedenen Stellen im Gesetz vorgesehene Einschaltung des Bundesamts für Justiz fehlt es an einer Bundesverwaltungskompetenz aus dem Grundgesetz.84 Darüber hinaus fragt sich, ob nicht auf dem Umweg über Zulassungsund Überwachungsmöglichkeiten inhaltlicher Einfluss ausgeübt werden könnte. Das Bundesamt für Justiz hat letztlich die Hoheit darüber zu entscheiden, welche Inhalte dem Gericht vorgelegt werden und welche nicht. Denkbar ist, dass es Inhalte einer bestimmten politischen Meinung für rechtswidrig und die einer anderen Auffassung für rechtmäßig hält. Und es handelt sich um eine Bundesbehörde, für die der Grundsatz der Weisungsbefugnis gilt!85 Eine solche Einflussnahme auf Medieninhalte lässt sich mit der dem Medienrecht zugrunde liegenden Staatsferne nicht vereinbaren. Der Verstoß gegen das Verbot staatlicher Medieninhalteregulierung86 lässt sich auch nicht durch den Hinweis auf die staatliche Aufsicht über private Rundfunksender entkräften. Dass eine solche Aufsicht erforderlich ist, wurde vom BVerfG aus Art. 5 Abs. 1 GG abgeleitet.87 Indes erfolgt diese gerade nicht durch eine in die Verwaltungshierarchie eingebundene Behörde, sondern durch die Landesmedienanstalten, die  – soweit 83  Spindler,

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 11), S. 536. Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG greift nicht; zum Ganzen Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27) S. 435; Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 391. 85  Schließlich wird eine öffentliche Debatte über die gerichtlich zu beurteilenden Inhalte faktisch unterbunden. Zum Ganzen Nolte, HateSpeech (Fn. 9), S. 561. 86  Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 435; vgl. Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 392. 87  BVerfGE 57, 295 (326); 95, 220 (236 ff.). 84  Insb.

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sie medieninhaltliche Fragen zu bearbeiten haben – sich auf das Grundrecht der Rundfunkfreiheit berufen können. Das Bundesamt für Justiz hat nicht dieselbe Unabhängigkeit wie eine Landesmedienanstalt.88 4. Grundrechte der Netzwerkbetreiber Hinsichtlich der Grundrechte sind zu unterscheiden die der Netzwerkanbieter, denen das Gesetz bestimmte Pflichten auferlegt, die der Nutzer, die selbst Inhalte posten und die der Nutzer, die Inhalte zur Kenntnis nehmen wollen. Betrachten wir zunächst die Grundrechte der Anbieter sozialer Plattformen. a) Berufsfreiheit Insbesondere durch die Auferlegung von Berichtspflichten kann das Grundrecht der Berufsfreiheit der Netzwerkbetreiber betroffen sein. Bei der Berufsfreiheit ist indes daran zu denken, dass es sich um ein Deutschengrundrecht handelt. Damit ist Art. 12 GG  – nach Prüfung des Art. 19 Abs. 3 GG – nur auf Anbieter mit Sitz in Deutschland anwendbar. Dies dürfte allenfalls ein kleiner Teil sein. Die Einführung von Prüf- und Berichtspflichten greift in die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG ein, denn die Berufsausübung wird hier in erheblicher Weise beeinträchtigt, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht, da für die Bearbeitung der Beschwerden und die Berichtspflichten ein erheblicher Personalaufwand erforderlich ist. Der Eingriff in die unternehmerische Freiheit erfolgt unmittelbar durch das Gesetz und wirkt gegenüber den Netzwerkanbietern. An der Verhältnismäßigkeit bestehen nicht unerhebliche Zweifel. So insbesondere, strittige Rechtsfragen inner88  Beeinträchtigt

werden zudem der Anspruch auf rechtliches Gehör, die Garantie des gesetzlichen Richters, der Grundsatz der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit des Verfahrens und die Unanfechtbarkeit der Entscheidung, die aber für die Behörde bindend ist (§ 4 Abs. 5 NetzDG), Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 560.



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halb einer Woche zu einer Klärung zu bringen, dürfte kaum zumutbar sein.89 Die Rechtslage hat insoweit eine erhebliche Änderung erfahren. Steht die bisherige Störerhaftung unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit,90 kennt das NetzDG dieses Kriterium nicht.91 b) Medienfreiheit der Anbieter Indes stellt sich die Frage, ob es nicht ein spezielleres Grundrecht gibt. Das könnte hier die Medienfreiheit sein.92 Die Netzwerkbetreiber schaffen den Zugang speziell zu Inhalten, die der Medienfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz  2 GG unterfallen. Der Schutzbereich könnte insoweit betroffen sein, da bestimmte Informationen zu löschen oder zu sperren sind.93 Massenmedien können sich bei der Verbreitung von Meinungsäußerungen Dritter auf die Medienfreiheit berufen,94 insbesondere oder jedenfalls, wenn sie selbst meinungsrelevante Selektionen vornehmen.95 Soweit das der Fall ist, ähnelt die Rechtslage der bei den Nutzern. Rechtspolitisch stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht mehr der Äußernde für das verantwortlich sein soll, was er verbreitet, sondern der Intermediär. Der Staat ist verpflichtet, die 89  Holznagel,

Das Compliance-System (Fn. 21), S. 623. Das Compliance-System (Fn. 21), S. 618. 91  Gersdorf, Hate Speech (Fn. 10), S. 446; Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 560. 92  Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 435 bringen die Rundfunkfreiheit ins Spiel. 93  Das ist anders als im Fall der Warnhinweise auf Tabakerzeugnissen, BVerfGE 95, 173, da dort ja lediglich und erkennbar fremde Meinungen wiedergegeben werden. 94  Gersdorf, Hate Speech (Fn. 10), S. 443, der auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG allgemein Bezug nimmt und u. a. auf die Beispiele von Leserbriefen und die Veröffentlichung fremder Äußerungen in einem Interview verweist. 95  Gersdorf, Hate Speech (Fn. 10), S. 444 f.; selbst wenn sie keine redaktionelle Auswahl treffen, Drexl, Bedrohung der Meinungsvielfalt (Fn. 6), S. 536. 90  Holznagel,

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Durchsetzung der Rechtsordnung auch in sozialen Netzwerken sicherzustellen.96 Die Verfolgung strafrechtlich relevanter Inhalte ist vornehmlich Aufgabe der staatlichen Strafverfolgungsbehörden.97 Eine Übertragung dieser staatlichen Aufgabe auf die private Wirtschaft erscheint systemwidrig.98 Der Provider wird durch die Prüfungspflichten in eine „Quasi-Richterrolle“ gedrängt.99 Umgekehrt wird auch dem Missbrauch durch die Netzwerke selbst Tür und Tor geöffnet, da diese ihnen nicht genehme Äußerungen über bestimmte Politiker löschen könnten.100 Auf die Möglichkeit von Suchmaschinen, Wahlen zu beeinflussen, gibt es schon ernstzunehmende Hinweise,101 das spricht dagegen, privaten Anbietern auch noch staatlicherseits Instrumente für solche Maßnahmen in die Hand zu geben. c) Gleichheitssatz Ein weiteres Grundrecht, das durch das NetzDG betroffen sein könnte, ist der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Ungleich behandelt werden die verschiedenen Medienarten.102 Der „Polizeifestigkeit des Presserechts“ stünden, so die Kritik, die sozialen Netzwerke als „Hilfspolizei“ des Staates gegenüber.103 Unterschiedlich behandelt werden die verschiedenen Hosting

96  Gersdorf,

Hate Speech (Fn. 10), S. 447. Hate-Speech (Fn. 9), S. 553. 98  Vgl. Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 102. 99  Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 481; vgl. Paal / Hennemann, Meinungsbildung (Fn. 7), S. 651. 100  Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 558; vgl. Paal / Hennemann, Meinungsbildung (Fn. 7), S. 650. 101  Paal / Hennemann, Meinungsbildung (Fn. 7), S. 641. 102  Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 560. 103  Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 394; Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 61), S. 100. 97  Nolte,



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Dienste104 und die verschiedenen sozialen Netzwerke. Vor allem die Differenzierung nach der Größe der Netzwerke leuchtet nicht ein.105 Zudem kann ein kleines Netzwerk weiterhin dazu missbraucht werden, dass sich dort extremistische Inhalte verbreiten.106 5. Grundrechte der Nutzer a) Medienfreiheit Soweit sich Nutzer selbst in sozialen Netzwerken äußern, können sie sich jedenfalls auf die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Var. GG berufen. Darüber hinaus kann auch der Schutzbereich der Medienfreiheit einschlägig sein, soweit sich Äußerungen an die Allgemeinheit und nicht nur an einen abgegrenzten Kreis von „Freunden“ richten.107 Hierbei mag man sich streiten, ob die Presse- oder die Rundfunkfreiheit einschlägig ist.108 Das Problem erübrigt sich, wenn man ein Grundrecht „der Medienfreiheit“ annimmt, ähnlich wie die Berufswahl- und Berufsausübung in Art. 12 Abs. 1 GG als ein einheitliches Grundrecht „der Berufsfreiheit“ interpretiert wird.109 Problematischer ist die Umschreibung des Schutzbereichs der Medienfreiheit. Es handelt sich um eine der derzeit schwierigsten Fragen des Medienrechts, ob „Laienjournalisten“ sich auf Mediengrundrechte berufen können und inwieweit auch einfachgesetzliche Rechte 104  Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 95. 105  Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 101. 106  Vgl. Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 393. 107  Gersdorf, Hate Speech (Fn. 10), S. 442. 108  Ebd. nennt beide Grundrechte. 109  Bodo Pieroth / Thorsten Kingreen / Ralf Poscher, Grundrechte, 32. Aufl. 2016, Rdnr. 899; zum Grundrecht der Medienfreiheit Frank Fechner, Medienrecht, 18. Aufl. 2017, Kap. 3 Rdnr. 100; ders., in: Stern /  Becker (Hrsg.), Grundrechte, 2. Aufl. 2015, Art. 5 Rdnr. 122.

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und Pflichten auf nicht-professionelle „Journalisten“ Anwendung finden. Im Zweifel wird man keine vorschnelle Reduktion des oder der Schutzbereiche vornehmen können, da es insoweit an überzeugenden Abgrenzungskriterien fehlt. Hält man die Presse- / Rundfunkfreiheit oder „die Medienfreiheit“ auf Laienjournalisten grundsätzlich für anwendbar, so fragt sich doch, ob sie in diesem Zusammenhang angewendet werden kann, da Meinungsäußerungen von Journalisten, auch wenn sie in den Medien, etwa in einer Zeitung geäußert werden, der Meinungsfreiheit zuzurechnen sind.110 b) Meinungsfreiheit aa) Schutzbereich Einer der Hauptkritikpunkte gegen das NetzDG ist die Verkürzung der Meinungsfreiheit der Nutzer (Art. 5 Abs. 1 GG, wie auch Art. 11 GRCh, Art. 10 EMRK). Die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Var. GG umfasst grundsätzlich alle Arten von Äußerungen. Auf die Qualität oder gesellschaftliche Akzeptanz der Äußerung kommt es nicht an.111 Die Meinungsfreiheit muss ihre Wirkung gerade dann entfalten, wenn ungewöhnliche, von der „herrschenden Meinung“ abweichende Ansichten geäußert werden. Insbesondere ist auch die „harsche Kritik“ von der Meinungsfreiheit erfasst.112 Ob hingegen auch die bewusst unwahre Tatsachenbehauptung vom Schutzbereich umfasst wird, ist umstritten. Dafür spricht, dass der Schutzbereich dieses für die demokratische Willensbildung so wichtigen Grundrechts nicht vorschnell verkürzt werden darf und dass die „Wahrheit“ oder „Unwahrheit“ einer Behauptung oftmals nicht leicht festzustellen ist. Dagegen spricht, dass eine bewusst unwahre Tatsachenbehauptung für den Willensbil110  BVerfGE

62, 230 (243). auch Armin Steinbach, Meinungsfreiheit im postfaktischen Umfeld, JZ 2017, S. 653 ff. (658). 112  Für die zivilrechtlichen Konstellationen siehe insb. BGH, NJW 2007, S.  686 ff. 111  Siehe



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dungsprozess gerade keine Bedeutung hat bzw. haben sollte. Die Rechtsprechung nimmt derartige Äußerungen jedenfalls aus dem Schutzbereich aus.113 Im Fall von Schmähkritik hat diese der Rechtsprechung zufolge regelmäßig hinter dem Persönlichkeitsrecht zurückzutreten.114 Der damit verbundenen Verkürzung des Schutzes der Meinungsfreiheit begegnet die Rechtsprechung gerade in letzter Zeit mit dem Hinweis auf eben diese Gefahr und einer entsprechend vorsichtigen Anwendung des Begriffs der Schmähkritik.115 Selbst geschmacklose, pöbelhafte Kritik ist von der Meinungsfreiheit gedeckt und lediglich bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen sind ausgenommen.116 Das bedeutet, dass Hate Speech nicht generell aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt, auch nicht, wenn sie einen Straftatbestand erfüllt. Anders kann das bezüglich „Fake News“ sein, soweit ihr Inhalt ganz bewusst erfunden ist. Mithin gibt es Äußerungen, die offensichtlich rechtswidrig i. S. d. NetzDG und doch vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst sind. Die Abgrenzungen sind schwierig, wenn beispielsweise solche Äußerungen als Satire getätigt werden. (Umgekehrt sind, wie oben dargestellt, nicht alle Fake News vom NetzDG erfasst und die meisten Fälle von Hate Speech ohnehin nicht). bb) Eingriff Fraglich ist, ob es sich bei der Löschung bestimmter Inhalte durch soziale Netzwerke um Eingriffe in die Meinungsfreiheit der User handelt, da sie ja nicht selbst Adressaten des NetzDG sind. Um einen Eingriff handelt es sich immer nur, wenn eine staatliche Maßnahme die Grundrechtsausübung des Bürgers verkürzt. Das ist hier formal nicht der Fall, da der Staat keine Internetinhalte löscht und auch nicht durch das Gesetz bestimmte 113  BVerfGE

90, 241 (247). 82, 272 (281). 115  BVerfG, NJW 2016, S. 2870 ff. 116  Hierzu differenzierend bzw. die Verkürzung des BVerfG ablehnend Steinbach, Meinungsfreiheit (Fn. 111), S. 657. 114  BVerfGE

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Inhalte verbietet. Im Verhältnis des Nutzers zum sozialen Netzwerk kann die Meinungsfreiheit nur im Wege der mittelbaren Drittwirkung Anwendung finden. Hieraus kann sich möglicherweise ein Anspruch auf Wiedereinstellen eines gelöschten Inhalts ergeben (über den zivilrechtlichen Vertrag und „Treu und Glauben“ gem. § 242 BGB). Hier ist zu fragen, ob nicht das NetzDG auch im Verhältnis Staat-Bürger einen Grundrechtseingriff bedeutet, auch wenn es sich nicht um eine staatliche Vorzensur i. S. d. Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG handelt (und daher allenfalls von einer „faktischen Zensur“117 gesprochen werden könnte). Das Gesetz setzt auf jeden Fall Anreize, auch solche Inhalte zu löschen, die sich in einem Gerichtsverfahren als rechtmäßig herausstellen könnten. Das ist eine dem Staat zuzurechnende Grundrechtsbeeinträchtigung, ein mittelbarer Eingriff des Staates.118 Demgegenüber wird vorgetragen, ein exzesshafter Vollzug durch Private könne dem Staat auch nicht als mittelbarer Eingriff zugerechnet werden, da dann die Unternehmen die Möglichkeit hätten, durch die Art ihres Umgangs mit einem Gesetz dessen Verfassungswidrigkeit herbeizuführen.119 Demgegenüber ist festzuhalten, dass hier ein privatrechtsgestaltendes Gesetz den Eingriff in die Meinungsfreiheit durch private Unternehmen bis in die Einzelheiten vorstrukturiert, eine Maßnahme, die dem Staat unabhängig von der Umsetzung durch die privaten Unternehmen zuzurechnen ist.120 Das Hauptproblem besteht darin, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Inhalts eine komplexe rechtliche Prüfung darstellen kann, diese aber im Zweifel aus Furcht, Bußgeld bezahlen zu müssen, gar nicht in der erforderlichen Weise durchge117  Nolte,

Hate-Speech (Fn. 9), S. 555. Dienste des Deutschen Bundestages, WD 103000-037 / 17 (Fn. 46), S. 9, noch in Bezug auf den Gesetzentwurf. 119  Michael Kubiciel, Neuartige Sanktionen für soziale Netzwerke? Der Regierungsentwurf zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken, jurisPR-StrafR 7 / 2017 Anm. 1, III 3. 120  Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 393. 118  Wissenschaftliche



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führt wird.121 In vielen Fällen geht es weniger um den konkreten Inhalt als um die Einbettung einer Äußerung in den Kontext, in dem sie geäußert wurde.122 Bei den Tatbeständen der üblen Nachrede und der Verleumdung kommt es darauf an, ob eine Tatsachenbehauptung wahr oder unwahr ist.123 Wie kann das vom Netzwerkbetreiber festgestellt werden, wenn der Äußernde möglicherweise nicht einmal die Gelegenheit zur Stellungnahme hat (§ 3 Abs. 2 Nr. 3a NetzDG)? Für die Netzwerkbetreiber bestehen höhere Risiken, wenn sie nicht sperren oder blocken, da sie dann mit Bußgeldern zu rechnen haben, wohingegen in solchen Fällen die zivilrechtliche Haftung gegenüber dem Äußernden in den AGB ausgeschlossen sein wird. Daher wird in diesen Fällen von einer Haftungsasymmetrie gesprochen, die zur Gefahr führt, dass auch rechtmäßige Inhalte gesperrt werden,124 das sog. Overblocking. Sanktionen gegen die Löschung rechtmäßiger Inhalte sind jedenfalls nicht vorgesehen.125 Ein Eingriff in die Meinungsfreiheit könnte sich aber auch daraus ergeben, dass Inhalte gelöscht und damit Meinungskundgaben quasi konfisziert werden, ohne dass der Träger der Meinungsfreiheit von einer Behörde angehört worden wäre.126 Die Meinungsfreiheit könnte schließlich auch durch die Ausdehnung der Auskunftspflichten gem. § 14 TMG unzulässig verkürzt sein, da aufgrund der zu befürchtenden Abmahnungen und Klagen damit zu rechnen wäre, dass die Nutzer keine kritischen Bewertungen mehr wagen.127 Insoweit wird zumindest ein Richtervorbehalt gefordert.128 Aufgrund der erweiterten Infor121  Vgl. Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 556 mit zahlreichen Beispielen für komplizierte Abwägungsvorgänge aus der jüngeren Rechtsprechung. 122  Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 558. 123  Ebd. 124  Ebd. 125  Paal / Hennemann, Meinungsbildung (Fn. 7), S. 651. 126  Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 393. 127  Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 486. 128  Spindler, Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 486 f.

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mationspflichten in § 14 TMG könnten Nutzer befürchten, dass ihre Anonymität im Netz leichter aufgedeckt werden wird, was sie ebenfalls an einer freien Meinungsäußerung hindern könnte. Damit würde das NetzDG einen „Chilling Effect“ auf die Meinungskundgabe haben129 und zu einer „Selbstzensur“ der Nutzer führen.130 cc) V  erfassungsrechtliche Rechtfertigung, „allgemeines Gesetz“? Die Meinungsfreiheit ist nicht schrankenlos gewährt, sondern kann gem. Art. 5 Abs. 2 GG durch sog. allgemeine Gesetze eingeschränkt werden. Ein allgemeines Gesetz ist ein solches, das nicht eine bestimmte Meinung unterdrücken oder einer bestimmten Meinung zum Durchbruch verhelfen will. Formal bestehen in dieser Richtung keine Probleme, da sich das Gesetz nicht gegen eine bestimmte Meinung richtet. Das ist auf den ersten Blick der Fall, da nicht bestimmte Meinungen gelöscht werden müssen, sondern solche, die bestimmte Straftatbestände erfüllen. Bezieht man die historische Entwicklung mit in die Betrachtung ein, so ist es vermutlich kein Zufall, dass das Gesetz in der Zeit einer in der Gesellschaft heftig geführten Debatte über die Flüchtlingspolitik der Regierung erlassen worden ist. Insofern kann das Gesetz nur die ärgsten Auswüchse einer unschönen und teilweise ohne Argumente geführten Diskussion verhindern. Zugleich soll es aber offensichtlich ein Zeichen setzen, dass der Staat derartige Äußerungen nicht kampflos hinzunehmen bereit ist. Da der Gesetzgeber sich im Klaren war, dass mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht vereinbar wäre, jede Kritik an der Flüchtlingspolitik zu unterbinden, da es sich dann in keinem Falle mehr um ein allgemeines Gesetz handeln würde, hat er einige eindeutig unzulässige, da strafbare Äußerungsformen aufgezählt, um sozusagen säbelrasselnd anzudeuten, wogegen er eigentlich vorgehen möchte. Hier liegt das Pro129  Nolte,

Hate-Speech (Fn. 9), S. 558 f. Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 65),

130  Koreng,

S. 205.



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blem: gibt der Staat zu erkennen, dass bestimmte Meinungsäußerungen nicht erwünscht sind, so fällt es schwer, noch von einem allgemeinen Gesetz zu sprechen. Nicht zu vergessen ist, dass die Herrschaft über die Sprache politische Macht bedeutet. „Political Correctness“ dient nur allzu oft der Beschränkung der Meinungsfreiheit. Und wer sagt uns, dass das Gesetz nicht in einer künftigen Novellierung weiter verschärft wird? Das Gesetz könnte von künftigen Regierungen dazu missbraucht werden, die Freiheit im Netz noch weiter zu beschränken. Hier heißt es aufmerksam zu sein und den Anfängen zu wehren. Wie sagt demgegenüber das BVerfG zu Recht: „Verbote von Beiträgen zur geistigen Auseinandersetzung haben Meinungsfreiheit noch niemals sichern, geschweige denn fördern können.“131 dd) Verhältnismäßigkeit Setzt man die  – hilfsweise  – Prüfung des Gesetzes fort, so müsste es dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen. Es muss einem legitimen Zweck dienen und geeignet sein, den vom Gesetzgeber vorgesehenen Zweck zu erreichen. Problematisch ist die Zielsetzung, Hate Speech und Fake News zu bekämpfen, da beide Begriffe weder rechtlich umschrieben noch allgemeinsprachlich eindeutig gefasst sind.132 Öffentliche Sicherheit und Schutz von Persönlichkeitsrechten sind grundsätzlich legitime Ziele. Allerdings werden nur einige wenige der problematischen Fälle erfasst, so dass man feststellen muss, dass das Gesetz vielleicht die Effektivität der Rechtsdurchsetzung erhöht, allerdings keinen effektiven Schutz gegen Meinungsmanipulationen schaffen kann. Vertraut der Bürger der angeblichen Schutzfunktion des Gesetzes, wird er sich nicht in hinreichender Weise mental gegen Manipulationen wappnen. Das Gefühl der Unsicherheit hinsichtlich der Informationen im Netz ist der beste Schutz gegen Fake News. Zwar hat der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative, mit welchen Mitteln er ein bestimmtes Ziel errei131  BVerfGE

74, 297 (332). Dienste des Deutschen Bundestages, WD 103000-037 / 17 (Fn.  46), S.  12 f. 132  Wissenschaftliche

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chen will. Indem nur ein Teil  der sozialen Netzwerke erfasst wird und nur bestimmte aufgezählte Straftaten, ist das Gesetz im Ergebnis zur Erreichung der angegebenen Ziele nicht geeignet.133 Im Übrigen wird verschiedentlich angemahnt, die Erforderlichkeit des Gesetzes sei vom Gesetzgeber nicht dargetan worden.134 Für das Gesetz besteht zudem keine Notwendigkeit, wenn bereits durch andere Gesetze dieselben Ziele erreicht werden. Tatsächlich finden sich Vorschriften zum Schutz gegen Hate-Speech im JMStV. Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag erfasst „Telemedien“, worunter sowohl soziale Netzwerke als auch einzelne Profile fallen können.135 Es können Untersagungsund Sperrungsverfügungen gegen Telemedien ergehen (§ 20 Abs. 4 JMStV mit Verweis auf § 59 Abs. 3 RStV). Bestimmte Inhalte in Telemedien sind gem. § 4 JMStV per se unzulässig, so das Aufstacheln zu Hass gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen (Nr. 3).136 Bezüglich der Erforderlichkeit werden verschiedene mildere Varianten vorgeschlagen.137 Eine Möglichkeit wäre es, nicht in jedem Fall eine Ordnungswidrigkeit vorzusehen, sondern zunächst eine Beanstandung durch Verwaltungsakt.138 Ein milderes Mittel könnte das Erfordernis einer gerichtlichen Entscheidung sein. Hiergegen wird indes vorgebracht, dass Gerichtsverfahren zu langwierig seien, um die effiziente Entfernung rechtswidriger 133  Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 392. 134  Koreng, Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 65), S. 205. Es sei nicht auf ein repräsentatives Monitoring gestützt worden, Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 553. 135  Koreng, Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 65), S.  204 m. w. N. 136  Zum Ganzen ebd. 137  Zum milderen Mittel der mittlerweile eingefügten Regulierten Selbstregulierung Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 555. 138  Ladeur / Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 39), S. 393.



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Internetinhalte effizient gewährleisten zu können.139 Diesem Argument gegenüber ist indes auf das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu verweisen, das im Bereich des Medienrechts effektiv funktioniert. Wenn das bezüglich sozialer Netzwerke bisher nicht der Fall gewesen ist, so liegt das nicht zuletzt an der formalen Hürde, dass soziale Netzwerke sich jedenfalls bisher weigerten, gerichtliche Schriftstücke anzunehmen. Aus der vom BGH entwickelten Störerhaftung ergibt sich auch ohne NetzDG die rechtliche Verpflichtung für soziale Netzwerke, rechtswidrige Inhalte nach Kenntnis zu sperren.140 Ein solcher Unterlassungsanspruch gegen den mittelbaren Störer wird aus § 1004 BGB analog i. V. m. § 823 Abs. 1 BGB abgeleitet. Allerdings muss die Beanstandung so konkret gefasst sein, dass ein Rechtsverstoß auf der Grundlage der Behauptungen des Betroffenen unschwer bejaht werden kann. Die erforderliche Interessenabwägung setzt indes regelmäßig voraus, dass dem Äußernden Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde.141 Gem. § 10 TMG sind Telemedienanbieter nur dann von der Verantwortlichkeit für rechtswidrige Inhalte befreit, wenn sie diese nicht unverzüglich nach Kenntniserlangung entfernen (§ 10 TMG; § 14 ECRL).142 Auf der Grundlage des § 10 TMG kann der Betreiber einer sozialen Plattform bzw. die dort verantwortliche natürliche Person als Gehilfe einer auf der Plattform begangenen Straftat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.143 Ergänzend ist auf die Impressumspflicht gem. § 5 TMG hinzuweisen.144 In139  So offenbar Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 10-3000-037 / 17 (Fn. 46), S. 11. 140  Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 553 und 556; Paal / Hennemann, Meinungsbildung (Fn. 7), S. 651; Steinbach, Meinungsfreiheit (Fn. 111), S. 660. 141  Ralf Köbler, Fake News, Hassbotschaft und Co. – ein zivilprozessualer Gegenvorschlag zum NetzDG. Überlegungen zur Schaffung eines neuen elektronischen Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes, AfP 2017, S. 282 ff. (283). 142  Dazu Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 554. 143  Drexl, Bedrohung der Meinungsvielfalt (Fn. 6), S. 539. 144  Hierauf weist hin Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 555.

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wiefern das NetzDG die bisherige Situation verbessern wird, muss sich zeigen. 6. Weitere spezielle Grundrechte a) Informationsfreiheit der Rezipienten Betroffen ist auch die Informationsfreiheit derjenigen Nutzer, die gelöschte oder blockierte Inhalte nicht rezipieren können (Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 2. Var. GG). Jedenfalls soweit Inhalte aufgrund des Overblocking vorschnell gelöscht wurden, wird dieses Grundrecht in reziproker Weise wie die Meinungsfreiheit beeinträchtigt. b) Kunstfreiheit Soweit durch Löschungen künstlerische Äußerungen betroffen sind, kann der Schutzbereich der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG eröffnet sein. Das gilt vor allem für satirische Äußerungen, die gerade einen anderen Aussagegehalt haben als das auf den ersten Blick zu sein scheint.145 Selbst Andeutungen „zwischen den Zeilen“ können – künstlerische Einkleidung vorausgesetzt – über die Kunstfreiheit geschützt sein, wie auch satirische Darstellungen, die auf den ersten Blick als Schmähung erscheinen. Die „Causa Böhmermann“ bietet hierfür ein anschauliches Beispiel  – allerdings nur im Gesamtkontext der künstlerischen Darstellung.

145  Drexl, Bedrohung der Meinungsvielfalt (Fn. 6), S. 541 nennt als Beispiel für eine der Meinungsfreiheit unterfallende Falschnachricht die in sozialen Netzwerken heftig diskutierte Abstimmung im Senat von Italien, der auf Antrag des Senators Cirenga für ein Gesetz gestimmt habe, durch das 134 Mrd. € für die Versorgung von nicht wiedergewählten Abgeordneten bereitgestellt werde  – einen Senator dieses Namens gab es allerdings nicht und die angegebene Summe betrug etwa 20 % des italienischen Staatshaushalts. Zudem übertraf die genannte Stimmenzahl die Gesamtzahl der Sitze im Senat.



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c) Wissenschaftsfreiheit Wie die Kunstfreiheit kann auch die Wissenschaftsfreiheit betroffen sein, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse verbreitet werden. Das könnte der Fall sein, wenn in einer wissenschaftlichen Debatte Beispiele für Hate Speeches angeführt werden. IV. Künftige Forderungen Die genauere Betrachtung des NetzDG zeigt eine Reihe von Problemen auf, die für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes sprechen. Das heißt nicht, dass der Staat nicht trotzdem versuchen sollte, Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Hate Speech und Fake News effektiver zu bekämpfen als das bisher der Fall ist. Besser als die Heranziehung der Provider wäre eine effizientere und schnellere zivilrechtliche146 und strafrechtliche Rechtsverfolgung147 durch den Staat selbst. Vorgeschlagen wurde beispielsweise ein Verfahren der einstweiligen Verfügung über ein Rechtsdurchsetzungsportal im Internet.148 Ein wünschenswerter Aspekt wäre die Austrocknung von mit Fake News generierten Werbeeinnahmen.149 Sollte eine gesetzliche Regelung angestrebt werden,150 müsste die Kompetenz der Bundesländer beachtet werden. Vorgeschlagen wurde ein Modell der regulierten Selbstregulierung, ähnlich wie dies im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag gelungen ist.151 Als staatliche Aufsichtsbehörden könnten auch hier die Landes146  Spindler,

Der Regierungsentwurf (Fn. 49), S. 487. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz

147  Guggenberger,

(Fn.  61), S. 101. 148  Ausführlich Köbler, Fake News (Fn. 141), S. 283 f. 149  Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Fn. 61), S. 101. 150  Weitere Vorschläge gehen in Richtung kartellrechtlicher oder datenschutzrechtlicher Regelungen, bzw. der Einführung neuer Regelungen im RStV für Intermediäre allgemein, Paal / Hennemann, Meinungsbildung (Fn. 7), S. 648 und 652. 151  Hain u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 436, die die mögliche Ausgestaltung eines solchen Modells vorschlagen.

198

Frank Fechner

medienanstalten zuständig sein.152 Es müsste sich der Gesetzgeber innerhalb des europarechtlichen und des verfassungsrechtlichen Rahmens daran halten, insbesondere die Grundrechte der Nutzer und der Provider beachten. Ausgangspunkt muss die Meinungsfreiheit sein. Zu klären ist jedenfalls, wann ein Anspruch auf Wiederherstellung eines rechtswidrig gelöschten Inhalts besteht.153 Festzuhalten ist an der Pflicht zur Benennung eines Zustellungsbeauftragten. Einige Stimmen in der Literatur sagen, der Gesetzgeber hätte es bei dieser Regelung belassen sollen.154 Wünschenswert wäre eine Verbesserung des Auskunftsanspruchs bei der Verletzung von Persönlichkeitsrechten unabhängig von den Straftatbeständen des NetzDG.155 V. Ergebnis Im Ergebnis ist festzuhalten, dass das am 1. Oktober 2017 in Kraft getretene Gesetz ein nachvollziehbares und sinnvolles Ziel verfolgt,156 dass es jedoch an verschiedenen handwerklichen Mängeln leidet und daher als übereiltes Gesetz157 bezeichnet werden kann, dessen Zusammenhang mit dem Wahlkampf nicht nur ein zufällig zeitlicher ist. Der Versuch des Staates, sich seiner Verantwortung durch Verpflichtung Privater zu entziehen, vermag nicht zu überzeugen. Hier in der Görres-Gesellschaft darf die Kritik nicht unterschlagen werden, es handle sich bei diesem „Freikauf“ des Staates von der ihm obliegenden Verantwortung

152  Hain

u. a., Regulierung sozialer Netzwerke (Fn. 27), S. 437. BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 18. 154  So z. B. Koreng, Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 65), S. 204. Offenbar waren im Bundestag zur Abstimmung über dieses Gesetz als letzter Punkt vor der Sommerpause nur noch ein kleiner Teil der Abgeordneten anwesend – ein demokratietheoretisches Problem. 155  Vgl. Paal / Hennemann, Meinungsbildung (Fn. 7), S. 649. 156  So auch Holznagel, Das Compliance-System (Fn. 21), S. 624. 157  Nolte, Hate-Speech (Fn. 9), S. 554. 153  Beschlussempfehlung,



Fake News und Hate Speech199

um eine Art „modernen Ablasshandel“158. Die Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt.159 Das Persönlichkeitsrecht hätte auf andere Weise besser geschützt werden können. Unabhängig von der Frage der Zuständigkeit ist eine Regelung der Meinungsfreiheit immer in Gefahr, von Seiten des Staates missbraucht zu werden, so dass im Zweifel keine Regelung besser ist als eine Regelung, die zu stark in die Freiheitsrechte der Bürger eingreift. Der Staat sollte nicht versuchen, sich zum Herrn über die Wahrheit zu machen.160 Es wurde vorgetragen, es handle sich wohl um das weltweit erste Gesetz dieser Art.161 Wenn dem so sein sollte,162 stellt sich die Frage, wie dieser Hinweis zu werten ist. Sind wir die Besten auf der Welt oder die einzigen in der Sackgasse? Wie auch bei anderen Politikbereichen sollen wir glauben, Deutschland wisse als einziges Land den richtigen Weg. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“? Möglicherweise machen wir uns damit nur unglaubwürdig.

bei Köbler, Fake News (Fn. 141), S. 282. auch Holznagel, Das Compliance-System (Fn. 21), S. 622; a. A. Schwartmann, Verantwortlichkeit Sozialer Netzwerke (Fn. 28), S. 318. 160  „Fake news is bad, but a Ministry of Truth is even worse“, so der Kommissar für den digitalen Binnenmarkt, Andrus Ansip, Opening statement at the European Parliament, Strasbourg in the plenary debate: „Hate speech, populism and fake news on social media – towards an EU response“, European Commission vom 5.  April 2017, verfügbar unter: https: /  / ec.europa.eu / commission / commissioners / 2014-2019 / ansip / an nouncements / statement-vice-president-ansip-european-parliamentstrasbourg-plenary-debate-hate-speech-populism_en (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017); siehe auch Wimmers / Heymann, Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (Fn. 21), S. 93. 161  Beschlussempfehlung, BT-Drs. 18 / 13013 (Fn. 3), S. 19. 162  Beispiele wie ein Gesetz aus Schweden sprechen dagegen, dazu Holznagel, Das Compliance-System (Fn. 21), S. 618. 158  Begriff 159  So

Informationsfluss und Recht. Wikileaks, Whistleblower und die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die demokratische Willensbildung Von Rudolf Streinz I.

Veränderte Rahmenbedingungen und ihre Herausforderungen  202

II. Besonderheiten der konkreten Gegenstände  . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Gemeinsamkeit: Ambivalente Beurteilung  . . . . . . . . . . . . . 207 2. Zu den Begriffen: „Whistleblower“ und „Wikileaks“  . . . . 209 3. Beispiele für Whistleblowing  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Whistleblowing gegenüber der Regierung der USA  . . . 216 b) Deutschland: Fall Brigitte Heinisch  . . . . . . . . . . . . . . . . 220 c) Deutschland / Schweiz: Kauf von Disketten mit Steuerdaten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4. Schwierige Abwägungsfragen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5. Verbreitung von Falschnachrichten („Fake News“)  . . . . . 225 6. Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Folgen für die rechtliche Bewältigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Schutz von Whistleblowern und Wikileaks  . . . . . . . . . . . . 227 a) Initiativen auf internationaler und europäischer Ebene   227 b) Bestehende völkerrechtliche Rechtsgrundlagen  . . . . . . . 229 c) Rechtsvorschriften der Europäischen Union  . . . . . . . . . 229 d) Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 e) Rechtslage in Deutschland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 f) Argumente für den Schutz von Whistleblowern und Enthüllungsplattformen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Schutz vor Whistleblowern und Wikileaks  . . . . . . . . . . . . . 233 a) Kriterien für die gebotene Abwägung  . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Bekämpfung von Falschinformationen  . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Zuordnung von Verantwortlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . 234

202

Rudolf Streinz

3. Maßnahmen gegen die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 a) Völkerrechtliche Bewertung: Tragweite und Grenzen des Interventionsverbots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 b) Schutz vor Falschinformationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 c) Schutz vor technischen Manipulationen  . . . . . . . . . . . . . 237 d) Social Bots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 IV. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

I. Veränderte Rahmenbedingungen und ihre Herausforderungen „Das Internet ist für uns alle Neuland“. Für diese Äußerung vom 19.  Juni 2013 beim Besuch des damaligen US-Präsidenten Obama in Berlin erntete Bundeskanzlerin Angela Merkel viel Spott. Allerdings trifft diese Feststellung, von ihr verbunden mit der Sorge über daran geknüpfte Gefahren für freiheitlich-demokratische Gesellschaften, insoweit zu, als die durch das Internet eröffneten Möglichkeiten des Informationsflusses das Recht vor neue Herausforderungen stellte und nach wie vor stellt.1 Aktuell belegen dies z. B. die Gründung von Instituten für innovative IT-Sicherheit2 und das umstrittene Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (sog. „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“  – NetzDG)3 sowie die Befürchtungen, 1  Vgl. dazu z. B. Boris P. Paal / Moritz Hennemann, Meinungsvielfalt im Internet. Regulierungsoptionen in Ansehung von Algorithmen, Fake News und Social Bots, ZRP 2017, S. 76 ff.; Volker Boehme-Neßler, Die Macht der Algorithmen und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Digitalisierung das Recht relativiert, NJW 2017, S. 3031 ff. 2  Vgl. z.  B. die Gründung des Instituts für innovative Sicherheit (HSAinnoS) an der Hochschule Augsburg am 28. August 2017, verfügbar unter: https: /  / www.hs-augsburg.de / Kommunikation / HSAinnoSFestakt-2.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 3  Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz  – NetzDG) vom 1.  September 2017, BGBl. I, S. 3352, in Kraft getreten am 1.  Oktober 2017. Kritisch dazu Nikolaus Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz  – schön gedacht, schlecht gemacht, ZRP 2017, S. 98 ff.; Bernd Holznagel,



Informationsfluss und Recht203

dass Wahlentscheidungen aus ausländischen Staaten oder sogar durch diese selbst nicht nur durch Wahlempfehlungen,4 sondern durch technische Manipulationen beeinflusst werden.5 Die weltweite („globale“) Möglichkeit der Verbreitung und des Empfangs von Informationen offenbarte die Grenzen natioDas Compliance-System des Entwurfs des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Eine kritische Bestandsaufnahme aus internationaler Sicht, ZUM 2017, S.  615 ff.; Georg Nolte, Hate-Speech, Fake-News, das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ und Vielfaltsicherung durch Suchmaschinen, ZUM 2017, S. 552 ff.; Philipp Richter, Das NetzDG – Wunderwaffe gegen „Hate Speech“ und „Fake News“ oder ein neues Zensurmittel?, ZD-Aktuell 2017, 05623. Kritisch zur Kritik aber Martin Eifert, Rechenschaftspflichten für soziale Netzwerke und Suchmaschinen. Zur Veränderung des Umgangs von Recht und Politik mit dem Internet, NJW 2017, S. 1450 ff. (1451 ff.), der allerdings auch das Problem der rechtlichen Bewertung von Äußerungen sieht, darüber hinaus zur Sicherung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Intermediäre im Internet die Ergänzung der Prüf- und Löschpflichten durch Transparenzpflichten fordert. Näher zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz Frank Fechner (in diesem Band). 4  Vgl. insbesondere die „Wahlempfehlungen“ des türkischen Staatspräsidenten Erdogan zur Bundestagswahl, Deutschtürken sollen SPD, CDU und Grüne boykottieren, Zeit online vom 18.  August 2017, verfügbar unter: http: /  / www.zeit.de / politik / ausland / 2017-08 / recep-tayy ip-erdogan-wahlboykott-cdu-spd (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). 5  Vgl. zur Sorge, Russland könne, wie vom US-Geheimdienst behauptet, ähnlich wie die Wahlen des US-Präsidenten die Bundestagswahlen beeinflussen, Gemma Pörzgen, Informationskrieg in Deutschland? Zur Gefahr russischer Desinformation im Bundestagswahljahr, APuZ 21-22 / 2017, S. 16 ff. Ferner z. B. Markus Kaiser, Fake News und Social Bots im Bundestagswahlkampf, Politische Studien 68 (2017), Heft 474, S. 22 ff. Vgl. auch die dpa-Meldung vom 8.  September 2017: „Hacker warnen vor Software für die Bundestagswahl“. Offenbar ist dies aber ausgeblieben, das komplizierte Wahlergebnis hat andere Ursachen. Zur US-Präsidentschaftswahl vgl. Paal / Hennemann, Meinungsvielfalt (Fn. 1), S. 76 f.; FBI nimmt mutmaßliche Whistleblowerin fest, Zeit online vom 6.  Juni 2017, verfügbar unter: http: /  / www.zeit.de / politik / aus land / 2017-06 /russland-affaere-whistleblowerin-festnahme-nsa-inter cept-ermittlungen (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).

204

Rudolf Streinz

naler Regelungen und erforderte internationale und damit völkerrechtliche Regelungen schon lange vor der Entwicklung des Internets, als dessen „Geburtsjahr“ mit der Umstellung auf das heute gebräuchliche IP-Protokoll 1983 gilt, das aber erst mit der Einführung des benutzerfreundlichen Hypertextindexes WWW zum „World Wide Web“ wurde.6 Die Verbreitung und die Abwehr von Informationen über Satelliten war ein zentrales Thema des Ost-West-Gegensatzes,7 aber auch darüber hinaus. Das Internet bewirkte aber, dass nicht nur der Empfang, sondern auch die Verbreitung weltweit zugänglicher Informationen jetzt jedermann möglich ist. Durch Wikileaks, d. h. die Verbreitung von Informationen aus undichten Stellen, wird die Effektivität von Whistleblowern, d. h. Hinweisgebern, erheblich gesteigert. Dies stellte und stellt die Kontrolle von Informationen vor neue Herausforderungen. Dies betrifft nicht nur totalitäre Staaten oder Staaten, die sich auf dem Weg dorthin befinden,8 die die Verbreitung und den Zugang zu politisch unerwünschten Informationen behindern, sondern auch freiheitlich-demokratische Staaten. Denn das Recht auf freie Meinungsäußerung hat Grenzen. Wohl unstrittig ist, dass es Grenzen haben muss, wenngleich auch in freiheitlich-demokratischen Staaten deren Ausmaß und Konkretisierung unterschiedlich beurteilt wird.9 Allerdings be6  Matthias Cornils, Entterritorialisierung im Kommunikationsrecht, in: VVDStRL Grenzüberschreitungen: Migration. Entteritorialisierung des Öffentlichen Rechts, Bd. 76, 2017, S. 391 ff. (392). Vgl. Zur Entwicklung Milton L. Mueller, Ruling the Root. Internet Governance and the Taming of Cyberspace, 2002, S. 73 ff. 7  Vgl. dazu Rudolf Streinz, Meinungs- und Informationsfreiheit zwischen Ost und West. Möglichkeiten und Grenzen intersystemarer völkerrechtlicher Garantien in einem systemkonstituierenden Bereich, 1981, S. 220 ff.: Völkerrechtliche Regelungen des Satellitendirektfern­ sehens. 8  Zur Entwicklung der Türkei, die immerhin dem Europarat angehört und (jedenfalls formal) Beitrittskandidat zur Europäischen Union ist, und zur Reaktion der EU vgl. Funda Tekin, Quadratur des Kreises? Hintergründe der EU-Türkei-Beziehungen, APuZ 9-10 / 2017, S. 36 ff. 9  Vgl. zu unterschiedlichen Auffassungen zur Meinungsfreiheit zwischen Deutschland und England als Mitgliedstaaten des Europarats und



Informationsfluss und Recht205

steht immerhin in den Schutzmechanismen freiheitlich-demokratischer Staaten gegenüber dem Zensurmodell totalitärer Staaten generell ein nicht nur gradueller, sondern auch qualitativer Unterschied, da das „grundrechtsgeprägte Konzept offener Kommunikation unter ordre-public-Vorbehalt“ grundsätzlich die freie und daher unzensierte grenzenlose Kommunikation einschließt. Daher dürfen wegen der Vorgaben der Grundrechte, nämlich Art. 5 Grundgesetz (GG), im Anwendungsbereich des Unionsrechts Art. 11 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRCh), für die 47 Vertragsstaaten des Europarats Art. 10 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK),10 Rückwirkungen staatlicher Eingriffe nur zum Schutz legitimer Rechtsgüter erfolgen und müssen verhältnismäßig sein, somit wegen des Gebots des geringstmöglichen Eingriffs auch gegenüber grenzüberschreitenden und damit aus anderen Rechtsordnungen kommenden Informationen klein gehalten werden. Sie dürfen „schon gar nicht zu einer systematischen Verformung des Informationsangebots im Internet führen“, nicht im territorialen Rahmen und auch nicht „über eine erzwungene extraterritoriale Anpassung der Inhalte im weltweiten Netz“.11 Zu diesen inhaltlichen Fragen kommen technische Fragen hinzu, nämlich inwieweit im sog. „Cyberspace“12 nationale oder auch regionale Wertvorstellungen durch nationales oder regionales Recht wie das Europarecht überhaupt technisch durchgesetzt der Europäischen Union sowie den USA Thomas Möller, Der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Deutschland, England und den USA, 2016. 10  Bekanntmachung der Neufassung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. Oktober 2010, BGBl. II, S.1198. Deutsche Übersetzung in Sartorius II. Internationale Verträge, Europarecht. Textsammlung (Loseblatt, EL 1. Juli 2017), Nr. 130. 11  Cornils, Entterritorialisierung (Fn. 6), S. 433, Fn. 201. 12  Zu Rechtsfragen des sog. Cyberspace vgl. Nicholas Tsagourias / Russel Buchan (Hrsg.), Research Handbook on International Law and Cyberspace, 2015; Chris Reed, Making Laws for Cyberspace, 2012.

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werden können. Soweit dies nicht der Fall ist, muss nach über den nationalen und auch über den europäischen Rechtsraum hinausgehenden Lösungen gesucht werden. Die Chancen auf diese hängen wiederum von einem Mindestkonsens in den Wertvorstellungen ab, die sich in den rechtlichen Regelungen über Kommunikationsermöglichung und Schutz vor Kommunikation13 niederschlagen. Die Internetkommunikation bringt neuartige und potenzierte Risiken für Individualrechtsgüter wie für Kollektivrechtsgüter, nämlich Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte, Jugendschutz, geistiges Eigentum und den durch „Hassmails“ gefährdeten sozialen Frieden, und fordert damit den Schutzauftrag des Rechts heraus.14 Bei den Versuchen, dem gerecht zu werden, zeigen sich bereits auf der Ebene der Europäischen Union Unterschiede. Umso schwieriger ist es, angesichts der wegen ihrer jeweils systemkonstituierenden Qualität allenfalls sehr beschränkten Universalität der relevanten Menschenrechte, zu globalen Regelungen zu kommen. Dies hat Folgen für die Regelungsebene. Cornils stellt in seinem Referat zu „Entterritorialisierung und Kommunikationsrecht“ auf der Staatsrechtslehrertagung 2016 in Linz fest, dass ein Trend zur Inter- oder Transnationalisierung des Rechtsgüterschutzes im Kommunikationsrecht nicht nachweisbar sei und die Schutzfunktion weiterhin im Wesentlichen von den Staaten behauptet und mit Anpassung des dafür eingesetzten jurisdiktionellen Instrumentariums internetadäquat angepasst und angereichert werde.15 Dies lässt sich in der Tat im Versuch erkennen, die herkömmlichen Schutzmechanismen des Zivilrechts, des öffentlichen Rechts und des Strafrechts durch entsprechende Modifikationen und  – nicht unproblematische  – Ausweitungen16 für die Bewältigung des „Neulands“ einzusetzen. Parallel dazu billigt der EuGH nationale Maßnahmen wie z. B. die Rechtsprechung des BGH zur weit gefassten Providerhaftung17 und ent13  Vgl.

dazu Cornils, Entterritorialisierung (Fn. 6), S. 432 ff. Entterritorialisierung (Fn. 6), S. 432.

14  Cornils, 15  Ebd. 16  Vgl.

dazu Cornils, Entterritorialisierung (Fn. 6), S. 417 f. m. w. N.



Informationsfluss und Recht207

wickelt neue Rechte wie das sog. „Recht auf 17Vergessen“.18 Da dies aber an Grenzen stößt, versucht man sich mit Neuregelungen sowohl auf Unionsebene mit Richtlinien und Verordnungen, die für Whistleblower relevant sind, z. B. der DatenschutzGrundverordnung, die das „Recht auf Vergessen“ kodifiziert,19 wie auf nationaler Ebene, zuletzt dem sehr umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz. II. Besonderheiten der konkreten Gegenstände 1. Gemeinsamkeit: Ambivalente Beurteilung Die konkreten Gegenstände des Themas haben eine Gemeinsamkeit: Wikileaks und Whistleblower und auch ihr Zusammenwirken werden ungeachtet der damit verbundenen Rechtsverletzungen und grundsätzlicher Vorbehalte gegen Denunzianten wegen ihrer positiven Effekte ambivalent bewertet. Der positive Effekt und die darauf beruhende positive Bewertung von „Whistleblowern“ und „Wikileaks“ liegen darin, dass dadurch Informationen öffentlich werden, durch die Missstände, Skandale, Straftaten (z. B. Korruption, illegaler Waffenhandel, Wirtschaftskriminalität) aufgedeckt werden. Neben diesem öffent­lichen Interesse 17  BGHZ 208, 82; dazu EuGH vom 27.  März 2014, Rechtssache C-314 / 12, ECLI:EU:C:2014:192. Vgl. zuletzt BGHZ 209, 139. 18  EuGH vom 13.  Mai 2014, Rechtssache C-131  /  12, ECLI:EU: C:2014:317. 19  Jetzt in Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016 / 679 des Europäi­ schen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95 / 46 / EG (Datenschutz-Grundverordnung) vom 27. April 2016, ABl. Nr. L 119 / 1 vom 4. Mai 2016. Ferner z. B. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2010 / 13 / EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste im Hinblick auf sich verändernde Marktgegebenheiten vom 25. Mai 2016, COM (2016) 287 2016 / 0151 (COD). Zu weiteren für Whistleblower interessante Regelungen siehe unten III. 1. c).

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kann die rechtzeitige Aufdeckung von Missständen auch im Interesse von Unternehmen liegen, die darin, wenn man den Programmen für Compliance, Risk Management oder Corporate Governance glauben darf, eine „Win-win-Situation“ für alle Seiten sehen.20 Als positiver Nebeneffekt solcher Programme wird sicherlich auch die Kanalisierung des „Whistle­blowing“ gesehen. Die ambivalente Bewertung trifft letztlich aber auch auf die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung zu. Denn auch aus freiheitlich-demokratischen Staaten erfolgte und erfolgt eine Einflussnahme auf die politische Willensbildung in anderen Staaten, und dies nicht nur durch private Organisationen, z. B. aus den USA seitens der von George Soros geförderten Universität,21 sondern auch wie z. B. aus Deutschland von Einrichtungen wie den parteinahen Stiftungen, die wegen ihrer an der politischen Bedeutung der jeweiligen Partei orientierten Finanzierung eine Verbindung mit dem Staat haben.22 Allerdings sind ihre Aktivitäten differenziert zu sehen.23 Schließ20  Vgl. dazu Carolin Lutterbach, Die strafrechtliche Würdigung des Whistleblowings, 2011, S. 1 m. w. N. 21  Vgl. zum Problem der von George Soros geförderten „Central European University“ mit dem ungarischen Staat Michael Stewart, Losing the Central European University would be a tragedy for Hungarian pub­lic life, EUROPP vom 10. April 2017, verfügbar unter: http: /  / blogs. lse.ac.uk / europpblog / 2017 / 04 / 10 / central-european-university-closureorban  /  (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017); Thomas Roser, George Soros, der willkommene Feind, Zeit online vom 11. April 2017, verfügbar unter: http: /  / www.zeit.de / politik / ausland / 2017-04 / ungarnorban-soros-ceu-universitaet (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). Vgl. Nachrichten. Central European University kämpft um Fortbestehen, Forschung und Lehre 11 / 17 (2017), S. 948 ff. (952). 22  Vgl. dazu David Hug, Staatliche Alimentierung parteinaher Stiftungen  – Eine Einordnung in das Regelungssystem des Art. 21 GG, MIP 2017, S. 37 ff. Die Finanzierung wird seitens des BVerfG an die rechtliche und tatsächliche Unabhängigkeit von der Partei geknüpft, BVerfGE 73, 1 (31 f.). Wie bei den Parteien selbst (vgl. BVerfGE 121, 30 (53): „Parteien sind nicht Teil  des Staates“) wird  – abgesehen von der Finanzierung – Unabhängigkeit vom Staat vorausgesetzt. 23  Siehe dazu unten II. 6.



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lich geben die Repräsentanten des Staates selbst Wahlempfehlungen innerhalb der Europäischen Union (z. B. 2017 zu den Wahlen in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland). Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass deren Ausgang auch die Europäische Union insgesamt betreffen und sie damit zwar national entschieden werden, aber mit Folgen auch für die anderen Mitgliedstaaten.24 Diese Ambivalenz in der Beurteilung wirkt sich, je nach Einschätzung, Schwerpunktsetzung und politischem Umfeld, auf die Erfassung und Regelung der Gegenstände durch das Recht aus. 2. Zu den Begriffen: „Whistleblower“ und „Wikileaks“ „Whistleblowing“ heißt wörtlich übersetzt „die Pfeife blasen“. Für den ursprünglichen Verwendungskontext des Begriffes „Whistleblower“ werden in der Literatur das Pfeifen des Schaffners bei Abfahren des Zuges oder als Warnung vor herannahenden Zügen, der Alarmpfiff eines Polizisten, der eine Straftat bemerkt und andere Ordnungshüter informieren bzw. die Allgemeinheit warnen will, aber auch der Pfiff des Schiedsrichters im Sport angegeben, da auch dieser nach einem Regelverstoß erfolgt.25 Die Warnfunktion und der Regelverstoß sind entscheidende Merkmale für den Begriff, der im anglo-amerikanischen Bereich in den USA bereits im 19. Jahrhundert zu gesetzlichen Regelungen führte und sich dort in einer Vielzahl von Gesetzen

24  Vgl. z. B. die (angesichts der Bedeutung der Wahlen nicht nur für Frankreich, sondern für die Europäische Union verständliche) Positionierung der deutschen Bundeskanzlerin für den Kandidaten Macron gegen Le Pen, Merkel will Macron als Partner, Spiegel Online vom 28.  April 2017, verfügbar unter: http: /  / www.spiegel.de / politik / aus land / frankreich-vor-der-stichwahl-merkel-wuenscht-sich-macron-alspraesident-a-1145413.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). Vgl. dazu auch Ingolf Pernice, Nationale Wahlen sind europäische Wahlen, EuZW 2017, S. 441 f. 25  Lutterbach, Würdigung des Whistleblowings (Fn.  20), S.  3  f. m. w. N.

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des Bundes und der Einzelstaaten niederschlägt.26 Hervorzuheben ist der nach den Bilanzskandalen von Enron, Worldcom und Tyco 2002 erlassene Sarbanes-Oxley Act (SOX)27 und der Whistleblower Protection Act,28 wonach Whistleblower, die Betrug an der Regierung anzeigen, Anspruch auf einen Anteil am für den Betrug erhobenen Schadenersatz haben. Dies können erhebliche Beträge sein.29 Letzteres wirft die Frage auf, ob ein Whistleblower uneigennützig handeln muss oder ob damit auch oder gar nur Eigeninteressen verfolgt werden dürfen. Im Vereinigten Königreich wurde 1998 als Reaktion auf mehrere Skandale der Public Interest Disclosure Act (PIDA) als arbeitsrechtliche Schutzvorschrift erlassen. Unter Hinweis auf dieses Gesetz ent26  Vgl. dazu Lutterbach, Würdigung des Whistleblowings (Fn. 20), S.  7 f. 27  Gesetz vom 30.  Juli 2002, H.R. 3762, Public Law 107-204 (107th Congress). Sec. 806: Protection for employees of publicly traded companies who provide evidence of fraud. 28  Gesetz vom 10. April 1989, Public Law 101-12 (101th Congress). 29  Die US Börsenaufsichtsbehörde SEC zahlte 2014 einem Whistleblower 30 Millionen US Dollar, SEC belohnt Whistleblower – 30 Millionen Dollar für einen Tipp, Manager Magazin vom 24.  September 2014, verfügbar unter: www.manager-magazin.de / unternehmen / artikel /  sec-zahlt-whistleblower-rekordsumme-a-993363.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 2016 zahlte die US-Behörde einem ehemals leitenden Finanzmanager des US-Agrarchemiekonzerns Monsanto für seine Hinweise auf irreguläre Buchhaltung 22,5  Millionen US-Dollar, Whistleblower bekommt 22,5 Millionen Dollar Belohnung, Der Spiegel vom 31.  August 2016, verfügbar unter: www.spiegel.de / wirtschaft / un ternehmen  /   m onsanto-whistleblower-mit-22-5-millionen-dollar-be lohnt-a-1110211.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). Auch Wiki­Leaks bot für Informationen zu den geplanten Freihandelsabkommen TTIP, WikiLeaks bietet Whistleblowern Geld, Zeit online vom 11.  August 2015, verfügbar unter: http: /  / www.zeit.de / digital / 201508 / ttip-freihandelsabkommen-whistleblower-belohnung (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017) bzw. TTP je 100.000 Dollar. Kritisch dazu Eike Kühl, WikiLeaks. Wieviel ist ein Geheimnis wert?, Zeit online vom 4.  Mai 2015, verfügbar unter: http: /  / www.zeit.de / digital / datenschutz /  2015-06  /  wikileaks-tpp-preisgeld-whistleblower (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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hält das Oxford Dictionary of Law eine ausführliche Definition von „Whistle-blowing“.30 Als wesentliche Elemente können knapp festgehalten werden: Handlung eines Individuums nach außen („going outside“), das ein Fehlverhalten anzeigt („revealing wrongdoing“), um Schaden für die Allgemeinheit abzuwenden („serving the public interest“), mit dem Risiko, dafür Nachteile zu erleiden („risking retaliation“).31 Andere Definitionen betreffen den Fall, dass der Whistleblower kein Journalist oder Bürger, sondern ein Angehöriger oder früherer Angehöriger der Einrichtung ist, über die er ein mögliches oder tatsächliches nicht unerhebliches Fehlverhalten eben dieser Einrichtung an die Öffentlichkeit, d. h. nicht an Stellen innerhalb dieser Organisa­ tion bringt.32 Whistleblowing wird auch schlicht als Weitergabe eines Verstoßes an Stellen in- oder außerhalb des Unternehmens mit dem damit verbundenen Problem eines Loyalitätskonflikts oder als Offenlegung illegaler Handlungen durch einen Insider an geeignete Stellen ohne Einhaltung des Dienstwegs definiert.33 „Whistleblower“ – das kann man auch mit „Verpfeifer“ übersetzen. Darin zeigt sich die geschilderte Ambivalenz, die insbesondere in der Bewertung in Deutschland zum Ausdruck kam. „Der größte Lump im ganzen Land – das ist und bleibt der Denunziant“ sagt Hoffman von Fallersleben in seinen politischen Gedichten 1843. Dies ist im Kontext der Zeit und gegen die Denunzianten für das Spitzelsystem der Obrigkeit gerichtet zu sehen.34 Aber diese Bewertung wirkt in Deutschland fort angesichts des Spitzelsystems des Nationalsozialismus und des 30  Oxford

Dictionary of Law, 6. Aufl. 2006, S. 575. Hunziker, Whistleblowing, in: Vertrauen – Vertrag – Verantwortung. Festschrift für Hans Caspar von der Crone zum 50. Geburtstag, 2007, S. 163 ff. (165). 32  Vgl. Roberta A. Johnson, Whistleblowing. When It Works  – And Why, 2003, S. 4. 33  Vgl. Lutterbach, Würdigung des Whistleblowings (Fn. 20), S. 5. 34  Vgl. dazu Whistleblower – ein demokratischer „Denunziant“?, Zeit online vom 21. Februar 2009, verfügbar unter: http: /  / kommentare.zeit. de / user / ulysses / beitrag / 2009 / 02 / 21 / der-whistleblower-ein-demokra tischer-quotdenunziantquot (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 31  Silvia

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Staatssicherheitsdienstes der DDR mit seinen für die Betroffenen oft grausamen Folgen. Neben anderen Interessen erklärt dies auch die eher zögerliche Annäherung an rechtliche Regelungen zum Schutz von Whistleblowern und dass entsprechende Gesetzesinitiativen35 zum Schutz von Arbeitnehmern als alles andere als wünschenswertes „Gesetz zur Förderung des Denunzian­ tentums“36 bezeichnet wurden und in Deutschland ein umfassendes Whistleblower-Schutzgesetz nach wie vor fehlt.37 Gleichwohl ist die Einstellung zu Whistleblowern mittlerweile zumindest differenziert, wenn nicht in bestimmten Fallkonstellationen sogar positiv. Und dies nicht nur bei Organisationen, die Whistleblower-Preise verleihen wie Transparency International oder der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW). „Verpfeifer“ ist daher natürlich keine angemessene Wiedergabe in deutscher Sprache. Neben „Enthüller“ und „Skandalaufdecker“ hat sich als geläufige Übersetzung  – so man eine solche überhaupt verwendet – „Hinweisgeber“ etabliert. Der Begriff WikiLeaks setzt sich zusammen aus dem hawaiischen Wort „wiki“ für schnell38 und dem englischen „Leak“ für 35  Der Vorschlag für eine gesetzliche Verankerung des Informantenschutzes für Arbeitnehmer im Bürgerlichen Gesetzbuch, der einen neuen § 612a BGB vorsah (§ 612a BGB: Maßregelungsverbot, wenn ein Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt, sollte dann § 612b BGB werden), sah ein Anzeigerecht des Arbeitnehmers vor, wenn er aufgrund konkreter Anhaltspunkte der Auffassung war, dass im Betrieb oder bei einer betrieblichen Tätigkeit gesetzliche Pflichten verletzt werden. Der Vorschlag wurde mit einer Expertenanhörung im Bundestagsausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (das Gesetz sollte im Zusammenhang mit einer Änderung des LFGB beschlossen werden; Anlass war auch ein Whistleblowing wegen „Gammelfleisch“) beraten, aber letztlich nicht als Gesetzentwurf eingebracht. Siehe dazu und zu weiteren Initiativen unten III. 1. e). 36  Jobst-Hubertus Bauer, Gesetz zur Förderung des Denunziantentums, NJW Editorial 23 / 2008. 37  Siehe dazu unten III. 1. e). 38  Vgl. Hawaiian-English Dictionary, verfügbar unter: http:  /  / wehe wehe.org / gsdl2.85 / cgi-bin / hdict?a=d&d=D21021 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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undichte Stelle, Loch, Leck.39 Es sollen also aus einem „Leck“ der betroffenen Organisation kommende Informationen verbreitet werden. Dies können Unternehmen sein, z. B. wegen Korruption, Lebensmittel- oder Umweltskandalen; Regierungen und Behörden, z. B. die US-Regierung, aber auch die Bundesregierung, seit geraumer Zeit auch der Vatikan;40 Verbände, z. B. Sportverbände wie das Internationale Olympische Komitee  – IOC wegen Bestechung, Doping und andere Unsportlichkeiten oder Fußballverbände wie der Weltverband FIFA, der europäische Verband UEFA, aber auch der Deutsche Fußballbund  – DFB. Die undichte Stelle ist jemand, der nicht zur Veröffent­ lichung vorgesehene Informationen weitergibt, also ein Whis­ tleblower. WikiLeaks ist also auf Whistleblower angewiesen, die Informationen „leaken“, wie es auf Neudeutsch heißt,41 wie umgekehrt Whistleblower durch die Verbreitung im Internet durch eine entsprechend anerkannte Organisation oder Stelle einen erheblich größeren Wirkungsgrad erreichen. WikiLeaks ist somit eine Enthüllungsplattform und versteht sich auch so. Die Anonymität und Unauffindbarkeit der Quellen soll durch entsprechende Verschlüsselungsmechanismen gesichert werden. WikiLeaks selbst wurde 2006 gegründet, wobei die Umstände nicht eindeutig geklärt und die Gründer anonym sind. Bekannt ist der Australier Julian Assange, der derzeit Asyl in der Botschaft Ecuadors in London erhält,42 die er nicht verlässt, weil er 39  Pons

Großwörterbuch, 1. Aufl. 2008, S. 542. Zur Übertragung vgl. Clara E. Dietl / Egon Lorenz (Hrsg.), Wörterbuch Recht, Wirtschaft & Politik, 7. Aufl. 2016, S. 479: leak (Presse) Durchsickern; undichte Stellen, durch die eine Information nach außen dringt. 40  Vgl. dazu Ragnar Vogt, Viele Fragen nach dem VatiLeaks-Prozess, Zeit online vom 6.  Oktober 2012, verfügbar unter: http: /  / www.zeit. de / gesellschaft / zeitgeschehen / 2012-10 / vatileaks-urteil (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 41  lexikographieblog, verfügbar unter: https: /  / lexikographieblog. wordpress.com / 2011 / 02 / 01 / der-anglizismus-des-jahres-2010-leaken /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 42  Zum außerhalb Südamerika (regionales Völkergewohnheitsrecht) an sich nicht von den Aufgaben einer Mission gedeckten sog. „Botschaftsasyl“, d. h. dem diplomatisches Asyl in einer Botschaft des Gast-

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befürchtet, an die USA eben wegen der Tätigkeit von WikiLeaks ausgeliefert zu werden. Idee von WikiLeaks ist der freie Zugang zu Informationen, die öffentliche Angelegenheiten betreffen, aber geheim gehalten werden. Finanziert wird WikiLeaks durch Spenden. Von den zahlreichen Enthüllungen durch WikiLeaks seien hier genannt: Dokumente des Militärs der USA über den Irakkrieg, über das Gefangenenlager in Guantanamo, Cablegate, d. h. Berichte aus US-Botschaften über Regierungen und Mitglieder in aller Welt sowie über die Abhörpraktiken der USA gegenüber Mitgliedern der deutschen Bundesregierung einschließlich der Bundeskanzlerin, sowie ein Dokument des USGeheimdienstes CIA über Pläne, WikiLeaks zu unterminieren. Kritikpunkte gegen WikiLeaks sind u. a. das Fehlen verantwortlicher redaktioneller Kontrolle und die Gefährdung von Personen durch bestimmte Veröffentlichungen. Zuletzt wurde WikiLeaks vorgeworfen, es habe sich im Wahlkampf um die Präsidentschaft in den USA durch die gezielte, d. h. zur Unterstützung von Donald Trump erfolgte, Publikation von Dokumenten aus dem E-Mail-Account von Hillary Clinton instrumentalisieren lassen. Dabei wurde Russland verdächtigt, in die Aktion verwickelt zu sein, was aber jedenfalls bislang nicht bewiesen werden konnte.43 Diese und weitere Fälle zeigen die Bedeutung von WikiLeaks als Enthüllungsplattform. Eine Monopolstellung hat es aber nicht, wie zuletzt die Enthüllungen der sog. Panama Papers zeigen, die von einem anonymen Whistleblower zunächst einem Journalisten der Süddeutschen Zeitung zugespielt wurden und deren Auswertung, verbunden mit weiteren Recherchen, solandes, und seinem Unterschied zum humanitären Asyl vgl. Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, Rdnr. 583 f. m. w. N. 43  Vgl. dazu Massimo Calabresi, Inside Russia’s Social Media War on America, Time vom 18.  Mai 2017, verfügbar unter: http: /  / time.com /  4783932 / inside-russia-social-media-war-america /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). Vgl. zuletzt aber: Erste Anklagen zu Russlandaffäre genehmigt, SZ.de vom 28.  Oktober 2017, verfügbar unter: http:  /   /  www.sueddeutsche.de / politik / usa-erste-anklagen-in-russlandaffaere-ge nehmigt-1.3728505 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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dann  – auch wegen ihres Umfangs von ca. 11,5  Millionen ­E-mails  – vom International Consortium of Investigative Journalists koordiniert wurde. Die innerhalb eines Jahres gewonnenen Ergebnisse wurden gleichzeitig in mehr als 100 Zeitungen, Fernsehstationen und Online-Medien in 76 Ländern präsentiert.44 WikiLeaks wäre auch hier gerne die Enthüllungsplattform gewesen und kritisierte daher z. B., dass zwar Namen und Adres­ sen der beteiligten Briefkastenfirmen, Trusts, Vermittler, insbesondere Banken, und Anteilseigner, darunter bekannte Politiker, aber nicht die Originaldokumente veröffentlicht wurden.45 Wenngleich dies und die damit verbundene Rolle der Intermediäre als „Gate-Keeper“ hinterfragt werden müssen, gilt dies umgekehrt ebenso für die Sicherungsfunktionen einer Aufbereitung, in der sich „Qualitätsmedien“ als solche bewähren können.46

44  Vgl. dazu Panama Papers. Die Geheimnisse des schmutzigen Geldes, Süddeutsche Zeitung, verfügbar unter: http: /  / www.sueddeutsche. de / thema / Panama_Papers (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017); ICIJ, The Panama Papers: Politicians, Criminals and the Rogue Industry That ­Hides Their Cash, verfügbar unter: http: /  / panamapapers.icij. org /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017); ICIJ, Offshore Leaks Database. Tax h ­ aven secrecy revealed, verfügbar unter: https: /  / offshore leaks.icij.org /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). Aufgrund dieser Veröffentlichungen verlor u. a. der pakistanische Regierungschef Nawaz Sharif wegen Korruption sein Amt, gab es in Malta Neuwahlen und trat in Island der Ministerpräsident zurück. Zuletzt wurden vom Netzwerk ICIJ die sog. „Para­dise Papers“ über Briefkastenfirmen einer Anwaltskanzlei auf den Bermudas und einer Firma in Singapur veröffentlicht. Vgl. dazu Para­dise Papers über Steuerschlupflöcher. Welches sind die brisantesten Fälle?, Spiegel online vom 6. November 2017, verfügbar unter: www.spiegel.de / wirtschaft / soziales / paradise-papers-ueberblickueber-das-neue-datenleck-a-1176608.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 45  Vgl. zu Kritikpunkten z. B. Craig Murray, Corporate Media Gatekeepers Protect Western 1 % From Panama Leak, Craig Murray vom 3.  April 2016, verfügbar unter: https: /  / www.craigmurray.org.uk / ar chives / 2016 / 04 / corporate-media-gatekeepers-protect-western-1-frompanama-leak /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 46  Zum Anspruch an „Qualitätsmedien“ siehe unten IV.

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3. Beispiele für Whistleblowing Von den zahlreichen Fällen von Whistleblowing sollen drei Beispiele angesprochen werden: Das Whistleblowing gegenüber der Regierung in den USA von den Pentagon Papers bis Edward Snowden und Bradley (jetzt Chelsea) Manning, da dieses zeigt, dass die Regierung in einem freiheitlichen Staat mit Freedom of Speech als erstem Zusatzartikel der Verfassung ein besonderes Zielobjekt war und ist. Der Fall Brigitte Heinisch, da deren Kündigung wegen der Information über Missstände in einem Berliner Altenheim bis vor den Straßburger Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gelangte, was heißt, dass zuvor sowohl ihre Klagen vor den Arbeitsgerichten als auch die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erfolglos waren. Schließlich der Ankauf von nach Schweizer Recht illegal beschafften Informationen durch deutsche Behörden, wobei es angesichts der bezahlten Summen und des damit verbundenen offensichtlichen Motivs des Eigeninteresses zumindest strittig ist, ob die Informanten noch als „Whistleblower“ bezeichnet werden können. a) Whistleblowing gegenüber der Regierung der USA Ein Grundsatzurteil zur bei Whistleblowing gegenüber Staatsgeheimnissen entscheidenden Abwägungsfrage zwischen Informationsinteresse der Öffentlichkeit und Geheimhaltungssinteresse aus Gründen der Staatssicherheit fällte der US Supreme Court im Fall der Pentagon Papers.47 Daniel Ellsberg, der vom damaligen US Verteidigungsminister McNamara beauftragt worden war, zwischen 1967 und 1969 die Papiere des Pentagon, also des US Verteidigungsministeriums, zusammenzustellen, erkannte dabei, dass die Regierung jahrelang die Öffentlichkeit gezielt über wesentliche Aspekte des Vietnamkriegs täuschte. Er lieferte die geheimen Pentagon Papiere an die New York Times, die sie ab 1971 veröffentlichte. Als der US Präsident Nixon vor Gericht 47  Vgl. dazu und zu Folgewirkungen Michael G. Trachtman, The Supremes’ Greatest Hits. The 44 Supreme Court Cases That Most Directly Affect Your Life, 2. Aufl. 2016, S. 190 ff.: The Pentagon Papers Case: Balancing National Security against the People’s Right to Know.



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die Untersagung der Veröffentlichung in der New York Times und weiteren Zeitungen erreichte, gelangte der Streit an den US Supreme Court. Dieser entschied, dass das Geheimhaltungsinteresse des Staates im Zweifelsfall hinter dem Interesse der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit zurückstehen müsse. Denn: „Only a free and unrestrained press can effectively expose deception in government. And paramount among the responsibilities in a free press is the duty to prevent any part of the government from deceiving the people and sending them off to distant lands to die of foreign fevers and foreign shot and shell“.48 Damit war aber nur entschieden, dass der Präsident insoweit keine Vorzensur ausüben darf.49 Ellsberg wurde wegen Spionage angeklagt, wofür ihm 115 Jahre Haft drohten, und hatte Glück, dass der Prozess wegen illegaler Ausspähaktionen der Regierung platzte. Während Whistleblower, die durch die Aufdeckung von Skandalen für Einnahmesteigerungen des Staates sorgen, in den USA fürstlich belohnt werden,50 drohen für die Aufdeckung von Staatsgeheimnissen empfindliche Strafen bin hin zur Todesstrafe. Der insoweit wohl bekannteste Whistleblower, Edward Snowden, der die Praktiken von NSA und CIA aufdeckte, offenbarte sich selbst, weil er seine Sicherheit dadurch besser gewährleistet sah – allerdings um den Preis, durch den Aufenthalt in Russland der Auslieferung an die USA, die ihm durch andere Staaten und gegebenenfalls auch durch Deutschland51 droht, zu entgehen. 48  New

York Times Co. v. United States, 403 U.S. 713 (1971). Zur Abwägung zwischen Geheimhaltungsinteresse und Interesse der Öffentlichkeit siehe unten II. 4., dort auch zum deutschen Fall der „Afghanistan Papiere“. Vgl. auch Hannah Arendt, Die Lüge in der Politik. Überlegungen zu den Pentagon Papieren, in: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, 2013, S. 7 ff. Die Pentagon Papers wurden 40 Jahre später (2011) komplett freigegeben. 49  Vgl. Trachtman, Greatest Hits (Fn. 47), S. 191 f. 50  S. dazu oben Fn. 29. 51  Vgl. dazu die Anwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Abgeordneten Martina Renner, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.  – Drucksache 18 / 11386 – vom 29. März 2017, BT-Drs. 18 / 11740; vgl. zum Streit um eine Vernehmung von Edward Snowden im NSA-Untersuchungsaus-

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Bradley (Chelsea) Manning übermittelte an WikiLeaks vom US Verteidigungsministerium zurückgehaltene Dokumente über Verstöße des US-Militärs gegen das Völkerrecht im Irakkrieg von 2003 und wurde, nach Verurteilung wegen Geheimnisverrats 2013 zu 35 Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt, 2016 vom US Präsidenten Obama am Ende seiner Amtszeit – der sich vielleicht an seine positive Einschätzung von Whistleblowers vor seiner Amtszeit erinnerte52 – begnadigt und am 17. Mai 2017 aus dem Gefängnis entlassen.53 Besonders brisant hinsichtlich mög­ licher Repressalien und vor allem des gerade von Regierungen regelmäßig eingewandten Sicherheitsarguments ist der Fall ­Joseph C. Wilson. Dafür, dass er die Hintergründe der erwiesen falschen Behauptungen für die Begründung des Irak-Kriegs von 2003,54 Saddam Hussein habe für die Herstellung von Atomwaffen Uran aus dem Niger bezogen, öffentlich verbreitete,55 wurde als Revanche seine Frau, die CIA-Agentin Valerie Palme, von schuss des Deutschen Bundestages BVerfGE 138, 45  – Amtshilfe und dazu Lars Brocker, Zeugenvernehmung durch den NSA-Untersuchungsausschuss „in Moskau“ ein Fall für den BGH?, NVwZ 2015, S.  410 ff. 52  Vgl. zur Praxis während der Amtszeit von Präsident Obama, der zuvor Whistleblower als die „wertvollste Quelle“ für Informationen über Regierungsfehlverhalten bezeichnet hatte, Patrick Beuth, Chelsea Manning. Glückliches Ende, miese Bilanz, Zeit online vom 18.  Januar 2017, verfügbar unter: http: /  / www.zeit.de / gesellschaft / zeitgeschehen /  2017-01 / chelsea-manning-strafmilderung-obama-whistleblower (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 53  Vgl. zum Fall Manning Hauke Gierow, Whistleblowerin. Danke, Chelsea Manning!, Zeit online vom 17.  Mai 2017, verfügbar unter: http:www.zeit.de / digital / internet / 2017-05 / chelsea-manning-frei-whis tleblower-wikileaks /  (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 54  Dieser ist vom durch ein Mandat des Sicherheitsrates (Resolution 678 / 1990, ILM 29 [1990], 1325) gedeckten Irakkrieg von 1991 nach dem Überfall des Iraks auf Kuwait zu unterscheiden, vgl. dazu Rudolf ­Streinz, Wo steht das Gewaltverbot heute? Das Völkerrecht nach dem Irakkrieg, JöR N.F. 52 (2004), S. 219, 234, 238 f. 55  Vgl. dazu Alexander Osang, Rufmord. Hurensöhne überall, Der Spiegel vom 14.  Juni 2004, verfügbar unter: www.spiegel.de / spiegel /  print / d-31182783.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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Lewis Libby, einem Berater von US-Vizepräsident Dick Cheney, enttarnt. Libby wurde dafür immerhin zu einer Haftstrafe verurteilt, aber von Präsident George W. Bush begnadigt.56 Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Fälle, in denen vor allem WikiLeaks mit Informationen über US-Fehlverhalten versorgt wurde und die dadurch weiterverbreitet wurden, so dass die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ zu dem Urteil über WikiLeaks kam: „Als die Hacker-Organisation Ende 2006 gegründet wurde, sah sie sich als Anwalt der Menschheit […] Aus der internationalen Mission ist ein Informationskrieg gegen die USA geworden“.57 Allerdings: Die USA gaben zu solchen Informationen auch oft genug Anlass. Umgekehrt können in den USA als „land of the free“ solche Informationen Reaktionen bis hin zum Rücktritt von Regierungen auslösen, ein Aspekt, der im Vergleich der Systeme nicht übersehen werden darf. Soweit der jetzige Präsident Donald Trump sich nicht durch „Twittern“ selbst Probleme bereitet, sorgen dafür geleakte Informationen an die Washington Post und die New York Times, weshalb Trump Leaker als „kriminell“ bezeichnete und ihnen harte Strafen androhte.58

56  Reduzierte Bewährungsstrafe statt Haftstrafe, Über dem Gesetz. Gnade für Libby, N-TV vom 3.  Juli 2007, verfügbar unter: https: /  /  www.n-tv.de / politik / Gnade-fuer-Libby-article345758.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 57  Jörg Lau / Michael Thumann / Bernd Ulrich, WikiLeaks. Die Welt läuft aus, Zeit online vom 2.  Dezember 2010, verfügbar unter: http: /  /  www.zeit.de / 2010 / 49 / WikiLeaks-Enthuellungen (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 58  Vgl. dazu Harry Litman / Molly Knobler, Trump’s war on leaks is really a war on whistleblowers, CNN vom 9.  August 2017, verfügbar unter: http: /  / edition.cnn.com / 2017 / 08 / 09 / opinions / whistleblowersopinion-litman-knobler / index.html (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). Andererseits forderte Trump in seiner ersten Rede vor den Vereinten Nationen einen Whistleblowerschutz, vgl. Jeremy Diamond, Trump calls for whistleblower protections as a part of UN reforms, CNN vom 18.  September 2017, verfügbar unter: http: /  / edition.cnn. com / 2017 / 09 / 18 / politics / donald-trump-un-reforms-whistleblowers /  index.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).

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b) Deutschland: Fall Brigitte Heinisch Neben zwar strittigen, aber durchaus bedenklichen Fällen aus der Steuerverwaltung59 ist für Deutschland insbesondere der Fall Brigitte Heinisch interessant, weil damit der EGMR befasst wurde, dieser der Beschwerdeführerin Recht gab und dieses Urteil gemäß der Verpflichtung aus Art. 46 Abs. 2 EMRK in der deutschen Rechtsprechung innerhalb der Interessenabwägung berücksichtigt wurde. Frau Heinisch arbeitete als Krankenpflegerin in einem Altenheim in staatlicher Trägerschaft. Für dieses hatte der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) 2002 und, da offenbar keine Abhilfe erfolgte, erneut 2003 schwerwiegende, auf Personalmangel beruhende Mängel festgestellt. Zwischen 2003 und 2004 berichtete Frau Heinisch regelmäßig der Leitung des Altenheims über diese Mängel und dass als Folge der Überlastung des Personals die geforderten Pflegeleistungen nicht mehr erbracht werden könnten, ferner, dass diese nicht korrekt dokumentiert würden. Die Geschäftsleitung wies die Vorwürfe zurück. Daraufhin erstattete Frau Heinisch nach Konsultation eines Rechtsanwalts über diesen Strafanzeige gegen das Heim wegen schweren Betrugs (§ 263 Abs. 3 StGB). Das Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Nachdem Frau Heinisch wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten personenbedingt gekündigt wurde, initiierte sie eine Solidaritätsgruppe, die in einem Flugblatt auf die Strafanzeige hinwies. Daraufhin wurde ihr fristlos und hilfsweise ordentlich gekündigt. Nach erfolgloser Erschöpfung des Rechtswegs bis hin zum BVerfG60 erhob Frau Heinisch Individualbeschwerde zum EGMR. Die Straßburger Richter sahen in der fristlosen Kündigung eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsfreiheit), in dessen Geltungsbereich Strafanzeigen von Arbeitnehmern gegen ihren Arbeitgeber mit dem Ziel, Missstände in 59  Vgl. dazu Dieter Deiseroth / Annegret Falter (Hrsg.), Whistleblower in der Steuerfahndung. Preisverleihung 2009, 2010. 60  Dies ist gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Menschenrechtsbeschwerde (Individualbeschwerde) gemäß Art. 34 EMRK.



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ihren Unternehmen oder Institutionen offenzulegen (whistleblowing), falle. In einer demokratischen Gesellschaft sei das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen so wichtig, dass es gegenüber dem Interesse dieses Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen überwiegt. Die deutschen Gerichte hätten keinen angemessenen Ausgleich herbeigeführt zwischen der Notwendigkeit, den Ruf des Arbeitgebers zu schützen einerseits, und der Notwendigkeit, das Recht der Arbeitnehmerin auf Freiheit der Meinungsäußerung zu schützen andererseits.61 Das Urteil des EGMR stieß in einzelnen Punkten auf Kritik,62 überwiegend aber auf Zustimmung.63 Für den EGMR war sicher ein wesentlicher Punkt das besondere öffentliche Interesse an der menschenwürdigen Erbringung von Pflegeleistungen, was für das Überwiegen der Aspekte der Meinungsfreiheit in der gebotenen Abwägung sprach. Dies lässt sich auf andere Fälle wichtiger Rechtsgüter (Lebensmittelsicherheit in „Gammelfleisch“-Fällen64; Mängel in der Arbeitssicherheit, gefährliche Produkte, Umweltschäden) übertragen. Wichtig ist, dass der EGMR am grundsätzlichen Erfordernis einer vorhergehenden innerbetrieblichen Klärung festhält. Dies sollte Unternehmen veranlassen, effektive innerbetriebliche Beschwerdewege zu etablieren. Denn wenn diese nicht bestehen oder wenn sie sich wie hier als wirkungslos erweisen, darf der

61  EGMR, Urteil vom 21.  Juli 2011  – Nr. 28274 / 08; deutsche Übersetzung in NZA 2011, S. 1269 ff. Vgl. die Orientierungssätze in RdA 2012, S. 108. 62  So Jobst-Hubertus Bauer, FD-ArbR 2911, 320916: Vorwurf des schweren Betrugs nach Feststellung des LAG leichtfertig, was vom Arbeitgeber nicht hingenommen werden müsse. 63  Vgl. z. B. Andrei Király, Whistleblower in Deutschland und Großbritannien. Lehren aus dem Fall Heinisch, RdA 2012, S. 236 ff. 64  Vgl. dazu den von LAG Stuttgart, NZA, S. 756 f. entschiedenen Whistleblower-Fall. Vgl. zu Lebensmittelrechtsfällen auch Dieter Deiseroth, Whistleblowing in Zeiten von BSE. Der Fall der Tierärztin Dr. Margrit Herbst, 2001. Zur Whistleblower-Regelung in Art. 140 VO (EG) Nr. 882 / 2004 siehe unten III. 1. c).

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Whistleblower nach außen gehen.65 Schließlich verneinte der EGMR auch unbillige Motive der Beschwerdeführerin. c) Deutschland / Schweiz: Kauf von Disketten mit Steuerdaten Ein besonderes und aktuelles Problem von Whistleblowing ist der Ankauf von nach Schweizer Recht illegal beschafften Informationen durch deutsche Behörden. Dies wirft nicht nur eine Reihe von Grundsatzfragen auf, sondern kann auch zu erheblichen zwischenstaatlichen Verwicklungen durch die konträre Rechtsverfolgung in Deutschland und der Schweiz führen: Nicht nur, dass der Whistleblower  – so man ihn wegen des Verkaufs und nicht der bloßen Übergabe der nach dem Recht seines Herkunftstaats illegal beschaffter Daten so nennen kann  – in Deutschland fürstlich belohnt,66 in der Schweiz, so man seiner habhaft wird, strafrechtlich verfolgt wird. Darüber hinaus droht den am Ankauf beteiligten deutschen Beamten in der Schweiz die Strafverfolgung als „Hehler“ der gestohlenen Daten,67 während umgekehrt offenbar von der Schweiz beauftragten Fahndern nach eben diesen Beamten in Deutschland die Strafverfol65  Vgl. zur Würdigung des Urteils und seiner Folgen Monika Schlachter, Fristlose Kündigung wegen Whistleblowing  – Schutz der Meinungsfreiheit vor dem EGMR, RdA 2012, S. 109 ff. 66  So wurden für den Ankauf einer CD mit Daten von 1500 deutschen Geldanlegern der Schweizer Bank Credit Suisse durch die Steuerfahndung Wuppertal durch die damalige Landesregierung von NRW 2,5 Millionen Euro bezahlt, wovon der Bund die Hälfte übernahm. Für Daten aus Liechtenstein wurden 4,2 Millionen Euro bezahlt. Vgl. dazu Heribert Ostendorf, Gekaufte Strafverfolgung. Die Strafbarkeit des Erwerbs von „geklauten“ Steuerdaten und ihre Beweisverwertung, ZIS 2010, S. 301 ff. (301). 67  Vgl. zur (fehlenden) Strafbarkeit nach deutschem Recht Ostendorf, Gekaufte Strafverfolgung (Fn. 66), S. 302 ff. m. w. N. auch zur teilweisen Gegenmeinung hinsichtlich § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG, § 27 bzw. § 26 StGB (Beihilfe bzw. Anstiftung zur Geheimnisverwertung). Das LG Bochum, Beschluss vom 22. April 2008 – 2 Qs 10 / 08, Rdnr. 40 sah im Ankauf einer in Liechtenstein illegal erstellten Steuer-DVD eine Begünstigung im Sinne von § 257 Abs. 1 StGB, weil die Vortat den Tatbestand der Betriebsspionage nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UWG ausfülle.



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gung droht. Dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu den eben genannten besonders wichtigen Rechtsgütern gehört, steht außer Frage. Fraglich ist aber, ob sich der Staat wie die Kritiker sagen, für diesen Zweck als „Hehler“68 betätigen darf oder ob der Zweck die Mittel heiligt. Von letzterem geht offenbar das BVerfG aus, das in der Verwendung der angekauften Steuerdaten kein Verwertungsverbot sieht. Auch strafbares Handeln führe nicht dazu, dass die Daten nicht verwertet werden dürfen. Zwar sei die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheits­ erforschung um jeden Preis gerichtet. Der Rechtsstaat könne sich aber nur verwirklichen, wenn Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass Straftäter verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden.69 Die dagegen erhobene Beschwerde zum EGMR war erfolglos.70 Strittig ist, ob „Whistle­ blowing“ Uneigennützigkeit voraussetzt, d. h., ob die Motive des Whistleblowers71 überhaupt relevant sind.72 Für die positive Konnotation des Begriffs wird man dies  – vielleicht abgesehen 68  „Hehlerei“ im Umgangssprachgebrauch. Da Daten (anders als der Datenträger, auf den es aber hier nicht ankommt) kein körperlicher Gegenstand im Sinne des § 257 StGB sind, wird der Tatbestand des § 257 StGB verneint, vgl. Ostendorf, Gekaufte Strafverfolgung (Fn. 66), S. 303 m. w. N. 69  BVerfG(K) 18, 193; A.  A. Ostendorf, Gekaufte Strafverfolgung (Fn. 66), S. 307 f.: Unverwertbarkeit im strafrechtlichen Verfahren. 70  EGMR, Urteil vom 6.  Januar 2017, Nr.  33696  /  11. Vgl. auch EGMR, Urt. vom 27.  Mai 2011, Nr. 33696 / 11. Einschränkend jetzt allerdings VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. Febuar 2014, NJW 2014, S. 1434 ff.: Der Staat müsse sich die Umstände der Beschaffung zurechnen lassen. Die Zulässigkeit der Verwertung im Besteuerungsverfahren führe nicht notwendig zur Verwertung im Strafverfahren. 71  Vgl. zu den Motiven „Weltverbesserer aus Gewissensgründen“, „neutraler Beobachter“, „der Gierige“ und „Rächer der Enterbten“ Ulrich Nöhle, Der Whistleblower – Gutmensch, Verräter oder neuer Kollege der amtlichen Überwachung?, ZLR 2017, S. 256 ff. (257 ff.). 72  Zur Rolle der Motivation des Whistleblowers vgl. Simone Kreis, Whistleblowing als Beitrag zur Rechtsdurchsetzung. Das öffentliche Informationsinteresse im Arbeitsrecht, 2017, S. 16 und 170 ff.; zu Vergütungsanreizen für Whistleblower ebd., S. 211 f.

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von vorteilhaften Nebeneffekten für den Whistleblower  – verlangen müssen. Eine andere Frage ist, ob und inwieweit sich dies in der rechtlichen Bewertung auswirken soll. 4. Schwierige Abwägungsfragen Problematisch ist die Veröffentlichung von Dokumenten, an deren Geheimhaltung ein plausibles öffentliches oder privates Interesse besteht. Als öffentliche Interessen kommen z. B. Staatsgeheimnisse, Behördeninterna, Details von Ermittlungsverfahren in Betracht; als private Interessen z. B. Betriebsgeheimnisse von Unternehmen oder Persönlichkeitsrechte. Letztlich ist dies eine Abwägungsfrage. In den USA machten dies die Erwägungen des Supreme Court zur Veröffentlichung der Pentagon Papers deutlich, in Deutschland traf eine solche Abwägung z. B. das OLG Köln  – allerdings in einem speziellen Fall, da es um Urheberrechtsverletzungen ging  – hinsichtlich der sog. Afghanistan Papiere.73 Kriterien dafür sind die konkrete Bedeutung sowohl des öffentlichen Interesses als auch des Interesses der Öffentlichkeit sowie deren jeweilige Begründung. Pauschale Behauptungen genügen nicht. Daher muss beim öffentlichen Interesse der Geheimhaltungspflicht der Staat die Notwendigkeit der Geheimhaltung darlegen.74 Falls dies selbst mit problematischen Punkten verbunden ist, kommt vor Gericht ein „in camera“-Verfahren75 73  OLG Köln, NJW-RR 2016, S. 165 ff. (Ls. 3). Vgl allgemein zu dieser Fallkonstellation Thomas Hoeren / Eva-Maria Herring, Urheberrechtsverletzung durch WikiLeaks? Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit vs. Urheberinteressen, MMR 2011, S. 143 ff. 74  Vgl. zum Fall der Afghanistan Papiere OLG Köln, NJW-RR 2016, S.  165 ff., Rdnr. 38. 75  Da BVerfGE 101, 106 die frühere Regelung, durch vorrangige Geheimschutzinteressen gebotene Einschränkungen der Sachaufklärung bzw. des Akteneinsichtsrechts allein von einer Glaubhaftmachung abhängig zu machen, wegen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG für verfassungswidrig erklärte, wurde § 99 Abs. 2 VwGO neu gefasst (zur Zuständigkeit siehe § 189 VwGO) und hinsichtlich der Fälle der auf § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestützten Verweigerung der Vorlage von Urkunden, der Übermittlung elektronischer Dokumente oder der Erteilung



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in Betracht. Ein besonderes Geheimhaltungsinteresse besteht dann, wenn die Publikation von Dokumenten zur Gefährdung des Lebens von Personen führt, z. B. durch die Enttarnung von Agenten oder Mitarbeitern in Krisengebieten. 5. Verbreitung von Falschnachrichten („Fake News“) Besonders problematisch sind Falschnachrichten („Fake News“).76 Neben Verletzungen des Persönlichkeitsrechts können diese auch erhebliche wirtschaftliche (z. B. Manipulation von Aktienkursen)77 und politische Folgen haben. Ein Beispiel ist der sog. „Fall Lisa“, ein angeblicher Vergewaltigungsfall in Berlin, den es nachweislich nie gegeben hat.78 Die Bundesregierung, so der damalige Außenminister Steinmeier, war überzeugt, dass damit, ausgehend von Russland, bewusst Stimmung gegen Bundeskanzlerin Merkel und die Flüchtlingspolitik gemacht werden sollte.79 Ferner ein Fall über frei erfundene Vergewaltigungen durch in Litauen stationierte deutsche Soldaten.80 Soweit sich von Auskünften zur Ermöglichung der Überprüfung der dafür vor­ gebrachten Gründe das sog. „in camera“-Verfahren eingeführt. Vgl. dazu Ferdinand O. Kopp / Wolf-Rüdiger Schenke, VwGO-Kommentar, 23. Aufl. 2017, § 99 Rdnr. 2. 76  Vgl. zu diesem Begriff Cambridge Dictionary: „False stories that appear to be news, spread on the internet or using other media, usually created to influence political views or as a joke.“, verfügbar unter: ­https: /  / dictionary.cambridge.org / dictionary / english / fake-news (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 77  Vgl. dazu den Verlust der Aktie des französischen Baukonzerns Vinci aufgrund einer Falschmeldung: Betrug. Baukonzern-Aktie stürzt nach Fake-News, Handelszeitung vom 23.  November 2016, verfügbar unter: http: /  / www.handelszeitung.ch / invest / baukonzern-aktie-stuerztnach-fake-news-1273889 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 78  Vgl. dazu Pörzgen, Informationskrieg (Fn. 5). 79  Bundesregierung weist Lawrows Vertuschungs-Vorwurf zurück, DW vom 27.  Januar 2016, verfügbar unter: http:www.dw.com / a-1900 7814 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 80  Vgl. dazu Matthias Gebauer, Einsatz in Litauen. Nato vermutet Rußland hinter Fake-News-Kampagne gegen Bundeswehr, Spiegel online vom 16.  Februar 2017, verfügbar unter: http:www.spiegel.de / poli

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Falschinformationen aus dem Ausland gezielt an im Zielland lebende Menschen richten, die aus dem Land der Informanten kommen und noch Verbindungen zu diesem haben, besteht die Gefahr, dadurch Unruhe und Spaltungen im Zielland zu provozieren.81 Falschinformationen über Politiker können neben der Verletzung des Persönlichkeitsrechts auch erhebliche Auswirkungen auf deren Beruf haben, sei es die Wiederwahl oder das Verbleiben im Amt. Dies wirft die Frage nach der Prüfungspflicht von Whistleblowing-Portalen wie WikiLeaks bzw. von weiterverbreitenden Medien auf. 6. Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung Die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung erfolgt nicht nur durch den Versuch, auf die Ergebnisse von Wahlen in anderen Staaten Einfluss zu nehmen, sondern auch durch die generelle Unterstützung von politisch positiv bewerteten Gruppierungen durch den Staat selbst oder durch von ihm unterstützte Organisationen. Entscheidend ist die Frage der Zurechenbarkeit, die bei den parteinahen Stiftungen verneint wird, weil hier nicht der Staat handle.82 Die Tätigkeit deutscher parteinaher Stiftungen wird in Ägypten83 und in Russland84 behindert. Israel hat ein Gesetz erlassen, das Nichtregierungsorga-

tik / ausland / bundeswehr-fake-news-attacke-gegen-deutsche-soldatenin-litauen-a-1134925.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 81  Dies war im Fall Lisa hinsichtlich der aus Russland kommenden Deutschen der Fall. An die in Deutschland lebenden Türken sowie deutsche Staatsbürger türkischer Abstammung richteten sich auch die Aktionen des türkischen Staatspräsidenten Erdogan. 82  So v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 42), Rdnr. 362. 83  Vgl. dazu Antrag der Fraktionen der CDU / CSU und FDP. Verfahren gegen deutsche politische Stiftung einstellen  – Demokratisierungsprozess in Ägypten fortsetzen vom 7. Februar 2012, BT-Drs. 17 / 8578. 84  Vgl. dazu Lars Peter Schmidt  / Johann C. Fuhrmann, Nichtregierungsorganisationen in Russland, KAS-Auslandsinformationen 29  /  5 (2013), S. 118.



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nisationen (NGOs), die von ausländischen Regierungen Zuwendungen erhalten, zur Transparenz verpflichtet.85 Die offene Unterstützung von Parteien und Kandidaten durch entsprechende Aufrufe aus dem Ausland erfolgt nicht allein durch Aufrufe wie jüngst durch den türkischen Staatspräsidenten Erdogan, sondern auch zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (zuletzt Wahlen in Frankreich und den Niederlanden) und hinsichtlich des Wahlkampfs um die US-Präsidentschaft. Für die (völker-)rechtliche Bewertung ist relevant, ob die „Intervention“ durch ein Staatsorgan oder andere Akteure erfolgt und welche Nebenfolgen die Aktion haben kann. Davon zu unterscheiden sind Aktionen, die durch Manipulationen, die durch neue Techniken ermöglicht werden, die Wahlergebnisse in anderen Staaten im eigenen Interesse verfälschen können. Entsprechende Untersuchungen einer Einflussnahme Russlands hinsichtlich US-Wahlen laufen, haben aber bislang zu keinen beweiskräftigen Ergebnissen geführt.86 Auch in Deutschland gab es eine Diskussion über entsprechende Befürchtungen hinsichtlich der Bundestagswahl 2017.87 III. Folgen für die rechtliche Bewältigung 1. Schutz von Whistleblowern und Wikileaks a) Initiativen auf internationaler und europäischer Ebene Neben rechtspolitischen Initiativen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), insbesondere Transparency International,88 85  Vgl. Israel. Knesset verabschiedet umstrittenes NGO-Gesetz, Spiegel online vom 12.  Juli 2016, verfügbar unter: www.spiegel.de / politik /  ausland / israel-knesset-verabschiedet-umstrittenes-ngo-gesetz-a-110 2531.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 86  Vgl. aber zur aktuelle Erhebung von Anklagen in den USA oben Fn. 43. 87  Vgl. dazu Pörzgen, Informationskrieg (Fn. 5). 88  Transparency International, Recommended Draft Principles for Whistleblowing Legislation, 2009. Vgl. dazu Andreas Fischer-Lescano, Internationale Regulierung des Whistleblowing. Anpassungsbedarf im

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haben das Europäische Parlament,89 die Parlamentarische Versammlung90 und das Ministerkomittee des Europarats91 und die G 2092 den verbesserten Schutz von Whistleblowern gefordert. Ausdrückliche Ansätze dazu finden sich in der UN-Konvention gegen Korruption,93 dem OECD-Übereinkommen zur Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr,94 im ILO-Übereinkommen 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber und den im Rahmen des im Europarats geschlossenen Zivilrechtsübereinkommen95 und Strafrechtsübereinkommen96 über Korruption.97 deutschen Recht (Juristisches Kurzgutachten im Auftrag des DGB), 2015, S. 12. 89  Europäisches Parlament, Entschließung 2013 / 2107 / INI vom 23. Oktober 2013, Nr. 14: Aufforderung an die Kommission zur Vorlage eines Gesetzgebungsvorschlags (vgl. Art. 225 AEUV). Kritisch zum von der Kommission vorgelegten Richtlinienentwurf, der diese Initia­ tive nicht umsetze, Fischer-Lescano, Regulierung (Fn. 88), S. 12, Fn. 23. 90  Parlamentarische Versammlung des Europarats, Schutz von Informaten, Entschließung 1729 (2010) vom 29.  April 2010, Empfehlung 13791 vom 19. Mai 2015. 91  Ministerkommitee des Europarats, Empfehlung vom 30. April 2014. 92  Abschlusserklärung des Gipfels in Seoul vom 12. November 2010, Anti-Korruptions-Aktionsplan (Annex III Nr. 7); Anti-KorruptionAktionsplan 2013–2014, Nr. 9. Vgl. dazu Fischer-Lescano, Regulierung (Fn. 88), S. 13 f. 93  United Nations Convention against Corruption (UNAC), Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 31. Oktober 2003 gegen Korruption vom 27.  Oktober 2014, BGBl. II, S. 762. Durch Deutschland ratifiziert und in Kraft seit 12. Dezember 2014, Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Korruption vom 8. Januar 2015, BGBl. II, S. 140. Vgl. zu diesem Abkommen Fischer-Lescano, Regulierung (Fn. 88), S. 17 ff. m. w. N. 94  Gesetz zu dem Übereinkommen vom 17. Dezember 1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (Gesetz zu Bekämpfung internationaler Bestechung – IntBestG) vom 10. September 1998, BGBl. II, S. 2327. 95  Übereinkommen vom 4. November 1999, Sammlung Europäischer Verträge (SEV) NR. 174 (Art. 9: Schutz von Beschäftigten). Von Deutsch­



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b) Bestehende völkerrechtliche Rechtsgrundlagen Der Schutz der Meinungsfreiheit967 in völkerrechtlichen Verträgen (Art. 19 Abs. 2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte;98 Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention) kann Regelungen zugunsten von Whistleblowern fordern. Deutlich und verbindlich wurde dies im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Heinisch / Bundesrepublik Deutschland. Dem trug die deutsche Rechtsprechung zum Arbeitsrecht Rechnung. c) Rechtsvorschriften der Europäischen Union Für die Organe der Europäischen Union selbst, d. h. für deren interne Organisation, sehen entsprechende Vorschriften den Schutz von Whistleblowern vor, die innerhalb der Organe Missstände anzeigen.99 Die Vorgaben des EU-Sekundärrechts für die Mitgliedstaaten beziehen sich auf das Antidiskriminierungsrecht und auf sektorale Regelungen des Arbeitsrechts und des Finanzrechts, die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, das Kartellrecht.100 Die Richtlinie über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformatioland unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Vgl. dazu Bericht der Bundesregierung vom 31. März 2017, BT-Drs. 18 / 11866, S. 5. 96  Übereinkommen vom 27. Januar 1999, Sammlung Europäischer Verträge (SEV) Nr. 173 (Art. 22: Schutz von Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten, und von Zeugen), in Kraft seit 1. Juli 2002, BGBl. II, S. 1322, Ratifikation durch Deutschland am 10. Mai 2017. 97  Art.  5 lit. c ILO-Übereinkommen Nr. 158 vom 22.  Juni 1982, ­verfügbar unter: http://www.ilo.org / wcmsp5 / groups / public / ---ed_ norm / ---normes / documents / normativeinstrument / wcms_c158_de.htm (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). In Kraft seit 23. November 1985. Von Deutschland nicht ratifiziert. 98  Gesetz zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte vom 15.  November 1973, BGBl. II, S. 1534. Deutsche Übersetzung in Sartorius II (Fn. 10), Nr. 20. 99  Vgl. allerdings zu Defiziten dieses Schutzes Kreis, Whistleblowing (Fn.  72), S.  219 m. w. N. 100  Vgl. dazu Kreis, Whistleblowing (Fn.  72), S.  217 ff. m. w. N.

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nen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung101 wird unterschiedlich beurteilt. Während Kritiker darin einen bedenklichen Rückschritt sehen,102 halten Befürworter entgegen, dass Art. 5 lit. b, wonach die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen zur Aufdeckung eines beruflichen oder sonstigen Fehlverhaltens oder einer illegalen Tätigkeit erlaubt ist, sofern der Hinweisgeber in der Absicht gehandelt hat, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen, ausdrücklich Fallgruppen festlegt, in denen der Schutz von Geschäftsgeheimnissen hinter andere schutzwürdige Belangen zurücktritt.103 Für den speziellen Fall des Lebensmittelrechts verpflichtet die Verordnung über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel104 in Art. 140 die EU-Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass die zuständigen Behörden über wirksame Mechanismen verfügen, die die Meldung tatsächlicher oder potenzieller Verstöße gegen diese Verordnung ermöglichen, was „zumindest“ geeignete Verfahren für den Eingang von Meldungen und Folgemaßnahmen, einen angemessenen Schutz für die Personen, die Verstöße melden, vor Sanktionsmaßnahmen, Diskriminierung oder andere Arten ungerechter Behandlung und den Schutz von deren personenbezogenen Daten gemäß dem Unionsrecht oder dem nationalen Recht umfasst.

101  Richtlinie (EU) 2016  / 943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2016, ABl.EU 2016 L 157 / 1. 102  Vgl. dazu Andreas Zielcke, Den Hals in der Schlinge, Süddeutsche Zeitung vom 26.  April 2016, verfügbar unter: www.sueddeutsche.de /  kultur / whistleblower-kalte-abschreckung-1.2967938 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 103  Alexander Eufinger, EU-Geheimnisschutz und Schutz von Whistleblowern, ZRP 2016, S. 229 ff. (230). 104  Verordnung (EU) 2017 / 625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017, ABl.EU 2017 L 95 / 1. In Kraft seit 27. April 2017, gilt ab 14.  Dezember 2019 und hebt dann u. a. die Lebensmittelkontrollverordnung Nr.  882 / 2004 auf.



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d) Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Ein ausdrücklich gesetzlich verankerter Schutz von Whis­tle­ blowern besteht nach einer Studie von Transparency International (2013)105 in der EU in Luxemburg,106 Slowenien, Großbritannien und Rumänien („advanced“). Letzteres Beispiel zeigt, dass dies nicht unbedingt mit effektiver Korruptionsbekämpfung einhergeht.107 Für sieben Staaten (Bulgarien, Finnland, Griechenland, Litauen, Portugal, Slowakei und Spanien), deren Korruptionsbewertung sehr unterschiedlich ist,108 wird er als nicht 105  Transparency International, Whistleblowing in Europe. Legal Protections for Whistleblowers in the EU, 2013. 106  Allerdings wurden wegen der Enthüllung des LuxLeaks-Skandals (dubiose Praktiken der Förderung von Steuervermeidung von ansiedlungswilligen Unternehmen in Luxemburg unter dem damaligen Regierungschef Juncker, jetzt Präsident der EU-Kommission) die Whistle­ blower, die PWC-Mitarbeiter Antoine Deltour und Raphael Halet, in zwei Instanzen (in der Berufungsinstanz mit geringeren Strafen) verurteilt (wegen Diebstahl und Verletzung von Berufsgeheimnissen), während immerhin der Journalist Edouard Perrin entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft freigesprochen wurde, Lux-Leaks. Gericht bestätigt Urteil gegen Lux-Leaks-Whistleblower, Süddeutsche Zeitung vom 15.  März 2017, verfügbar unter: www.sueddeutsche.de / wirtschaft / eilgericht-bestaetigt-urteil-gegen-lux-leaks-whistleblower-1.3420359 (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 107  Vgl. dazu den hinsichtlich seiner Verlässlichkeit nicht unumstrittenen, für Europa aber doch relativ aussagekräftigen Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) von Transparency International von 2016, Korruptionswahrnehmungsindex, Lexas, verfügbar unter: http: /  / www.laen derdaten.de / indizes / cpi.aspx (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017). In der hinsichtlich der Korruption ansteigenden Tabelle ist Rumänien zusammen mit Ungarn und Jordanien auf Rang 57 von 176 Staaten, innerhalb der EU immerhin noch knapp vor Italien (Rang 60) und vor Griechenland (Rang 69) und Bulgarien (Rang 75, zusammen mit Kuwait, Tune­sien und der Türkei), aber hinter den anderen Mitgliedstaaten der EU, von denen Dänemark die Liste insgesamt anführt, Deutschland zusammen mit Luxemburg und dem Vereinigten Königreich auf Rang 10, Österreich auf Rang 17 geführt wird. 108  Vgl. den CPI (Fn. 105): Slowenien (Rang 31, u. a. zusammen mit Katar); Finnland (Rang 3); Litauen (Rang 38), Portugal (Rang 29, zu-

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vorhanden oder sehr gering („none or very limited“) bezeichnet. In allen anderen Mitgliedstaaten, darunter Deutschland und Österreich, wird er als „teilweise vorhanden“ („partial“) bewertet. e) Rechtslage in Deutschland Gesetzesinitiativen zu einem systematischen Schutz von Whistleblowern im Arbeitsrecht, öffentlichen Dienstrecht und Strafrecht109 fanden bislang im Deutschen Bundestag keine Mehrheit. Der Schutz durch bestehende Gesetze und darauf basierender Rechtsprechung wird für hinreichend gehalten.110 f) Argumente für den Schutz von Whistleblowern und Enthüllungsplattformen Für einen ausdrücklichen Schutz von Whistleblowern spricht eine höhere Rechtssicherheit hinsichtlich der Befreiung von zivilrechtlichen, dienstrechtlichen und strafrechtlichen Risiken. Problematisch bleiben die Zuordnung von Verantwortlichkeit, sammen mit Polen); Slowakei (Rang 54), Spanien (Rang 41, u. a. zusammen mit Georgien). 109  Vgl. zu den eingebrachten Gesetzesentwürfen Kreis, Whistleblowing (Fn. 72), S. 196 ff. m. w. N. Am umfassendsten: Gesetzentwurf der Abgeordneten Ströbele u. a. und der Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN. Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Transparenz und zum Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern (Whistleblower-Schutzgesetz) vom 4. November 2014, BTDrs. 18 / 3039. 110  So die Fraktion der CDU / CSU, auch mit dem Argument, dass die Thematik stark auf den Einzelfall bezogen sei. Die SPD-Fraktion begründete ihre Ablehnung damit, dass der Vorschlag nicht hinreichend sei und auch der Schutz der Beschuldigten gewährleistet werden müsse. Die Fraktion DIE LINKE befürwortete zwar ein Gesetz als Orientierung, enthielt sich aber. Somit stimmte allein die Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN zu. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (BT-Drs. 18 / 5148), S. 10 und Antrag der Abgeordneten Pfeiffer u. a.: Entwicklungsfinanzierung vor dem Hintergrund universeller Nachhaltigkeitsziele vom 18.  Juni 2015, Ple­ narprotokoll 18 / 112, S.  10827.



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die Konkretisierung von Tatbeständen, insbesondere hinsichtlich der Interessenabwägung, die Verteilung der Beweislast und die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Schutz berechtigter Interessen des Staates und Privater vor unberechtigten Vorwürfen. Die konkrete Bewertung des Einzelfalls bleibt mit entsprechenden Risiken letztlich der Rechtsprechung überlassen. Zum Schutz von WikiLeaks und anderen Enthüllungsplattformen werden Verbesserungen des Informantenschutzes durch entsprechende Regelungen (insbesondere Aussageverweigerungsrecht, Schutz vor Durchsuchungen) hinsichtlich der Verbreitungsmedien vorgeschlagen.111 2. Schutz vor Whistleblowern und Wikileaks a) Kriterien für die gebotene Abwägung Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen von Unternehmen und von Staatsgeheimnissen ist gegenüber dem Interesse der Öffentlichkeit an Transparenz abzuwägen. Präzisere rechtliche Vorgaben wären für die Rechtssicherheit und die gerichtliche Kontrolle von Streitfällen hilfreich, stoßen aber durch die zwangsläufige Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe an die Grenzen. b) Bekämpfung von Falschinformationen Wegen der dadurch verursachten Rechtsverletzungen und erheblichen Schäden (bei Fehlinformationen über Unternehmen nicht nur für diese, sondern auch für die betroffenen Arbeitnehmer und die Allgemeinheit) kommt der Bekämpfung von Fehlinformationen entscheidende Bedeutung auch für die prinzipielle 111  Vgl. den Antrag der Abgeordneten Ströbele u.  a. und Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN. Lehren aus den Ermittlungen hinsichtlich Landesverrats – Pressefreiheit und Journalistinnen und Journalisten besser schützen vom 19. Oktober 2016, BT-Drs. 18 / 10036, Hintergrund dafür waren die (eingestellten) Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Blogger von „netzpolitik.org“ aufgrund einer Strafanzeige des Bundesamts für Verfassungsschutz.

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Akzeptanz „berechtigten“ Whistleblowings mit Wikileaks zu. Während vorsätzliche Fehlinformationen strikt zu sanktionieren sind, werfen fahrlässige Fehlinformationen schwierige Abwägungsfragen auf. Problematisch ist der Fall, dass der Whistleblow­ er die Sachlage zwar korrekt schildert, diese aber sachlich oder rechtlich nicht richtig beurteilt, und dieses „falsch-positive blowing“ von den Medien ungeprüft und überhastet übernommen wird, was zu erheblichen wirtschaftlichen Folgen führen kann.112 c) Zuordnung von Verantwortlichkeit Gleiches gilt für die Zuordnung der Verantwortlichkeit an Whistleblower und Verbreitungsmedien. Die kontroverse Diskussion um das vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken („Netzwerkdurchsetzungsgesetz“) und seine Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit113 macht dies deutlich.

112  Vgl. dazu den von Nöhle, Whistleblower (Fn. 71), S. 261 f. geschilderten Fall: Auf YouTube wurde ein Video von einem LKW-Fahrer gepostet, das den LKW-Auflieger eines Kollegen in Form eines Transportbehälters mit der Aufschrift „Nur für Lebensmittel“ und der Gefahrentafel „80  /  2790“ nach GefahrgutVO, ergänzt mit dem Gefahrzettel „Klasse 8 / Ätzende Stoffe“, zeigte. Der Informant war der Überzeugung, hier würden in einem Lebensmitteltransportbehälter unzulässig ätzende Chemikalien transportiert, was für einen Laien nachvollziehbar ist, sodass ein Skandal vermutet wurde. Transportiert wurde aber Essigsäure, die für die Lebensmittelerzeugung bestimmt ist und daher in einem entsprechenden Behälter transportiert werden muss, zugleich aber ein entsprechend zu deklarierendes „Gefahrgut“ darstellt. Wird eine solche Nachricht ungeprüft weiterverbreitet, kann eine erhebliche Ruf­ schädigung eintreten. 113  Siehe oben Fn. 3. Vgl. dazu auch Armin Steinbach, Meinungsfreiheit im postfaktischen Umfeld, JZ 2017, S. 653.



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3. Maßnahmen gegen die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung a) Völkerrechtliche Bewertung: Tragweite und Grenzen des Interventionsverbots Das klassische völkerrechtliche Interventionsverbot verbietet die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Erfolgt diese Einmischung mit militärischer Gewalt, wird darüber hinaus gegen das Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta) verstoßen. Das Interventionsverbot hat daher eine eigenständige Bedeutung allein bei Einmischungen unterhalb der Gewaltschwelle. Für die völkerrechtliche Bewertung der Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung ist zunächst die Frage nach zulässiger politischer Kritik zu prüfen. Bereits bei der Verabschiedung der Friendly Relations Deklaration von 1970,114 einer Resolution der Generalversammlung, die zwar als Empfehlung nicht verbindlich ist, aber die Charta mit universeller Akzeptanz interpretieren möchte, stellte die britische Regierung im Rahmen der Verhandlungen klar, dass eine politische Stellungnahme zu den Verhältnissen in anderen Staaten nicht bereits als verbotene Einmischung angesehen werden kann.115 Dies gilt jedenfalls für die Menschenrechte, weil diese, soweit die universellen Garantien reichen, keine innere Angelegenheit sind. Allerdings ist die Tragweite des Interventionsverbots durch politische Propaganda auch nach dem Ende des „Kalten Krieges“ streitig. Im Verhältnis zu den damals vertretenen, allerdings zwischen Ost und West sehr kontrovers vertretenen Auffassungen erscheint das Interventionsverbot angesichts der Praxis heute derart aufgeweicht, dass die Einflussnahme auf die politische Willensbildung durch Äußerungen selbst seitens verantwortlicher auswärtiger Staaten nicht bzw. nur in extremen Fällen der Hetzpropaganda oder Aufstachelung zum Um114  Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1970; deutsche Übersetzung in Sartorius II (Fn. 10), Nr. 4. 115  Vgl. dazu v. Arnauld (Fn. 42), Rdnr. 357 m. w. N.

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sturz116 dagegen verstößt. Als Abwehrmaßnahmen kommen neben der Reaktion im politischen Meinungskampf Beschränkungsmaßnahmen gegenüber Politikern ausländischer Staaten (Auftrittsverbote) und (problematisch wegen der Reziprozität) gegenüber Institutionen in Betracht. Allerdings darf kein Staat gegenüber einem anderen Staat aktiv eine Politik des Regimewechsels (regime change) verfolgen. Dies gilt jedenfalls für den Einsatz mit Gewalt, weshalb der von den USA und der „Koalition der Willigen“ 2003 mit dem Ziel der Absetzung des irakischen Diktators Saddam Hussein geführte Golfkrieg völkerrechtswidrig war. Auch gegen Einrichtungen des Staates gerichtete Anschläge und Sabotageakte unterhalb des Gewaltverbots sind eine verbotene Intervention. Fraglich ist aber, inwieweit allein verbale Forderungen, die auch zur Destabilisierung des anderen Staates beitragen können, heute noch vom Interventionsverbot erfasst sind.117 Untersagt ist durch das Interventionsverbot die Unterstützung von Aufständischen durch Finanzierung, Ausbildung oder Versorgung118 oder die Bereitstellung von Rückzugsräumen. Dagegen ist die Unterstützung oppositioneller Bewegungen, die sich mit der Regierung ihres Landes auf politischer Ebene gewaltfrei auseinandersetzen, differenziert zu sehen. Die Beurteilung hängt wohl von der Reaktion des betroffenen Staates ab. Verbietet er Unterstützungsmaßnahmen wie z. B. Parteispenden, liegt ein Verstoß gegen die Gesetze des betreffenden Staates und wegen einer Einmischung in dessen innere Angelegenheiten auch gegen das Interventionsverbot vor.119

dazu Hanno Kube (in diesem Band). dazu Kerstin Odendahl, Regimewechsel und Interventionsverbot, AVR 50 (2012), S. 318 (zu Libyen und zur Elfenbeinküste); H. Woolaver, Pro-democratic Intervention in Africa and the „Arab Spring“, African Journal of International Law 22 (2014), S. 151 (zu Tunesien, Ägypten und Libyen). 118  v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 42), Rdnr. 361. 119  v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 42), Rdnr. 362. 116  Näher 117  Vgl.



Informationsfluss und Recht237

Hinsichtlich der völkerrechtlichen Bewertung diskutiert wurden die 2007 erfolgten Cyber-Angriffe auf Websites der estnischen Regierung, die zu einem zeitweisen Zusammenbruch der Server führten und für die Russland verantwortlich gemacht wurde. Angesichts der zentralen Bedeutung von Computersystemen verstoßen solche Angriffe (cyber attacks) gegen das Interventionsverbot. Gehen die Folgen darüber hinaus und verursachen Schäden, wie sie mit konventionellen Mitteln (Panzer, Bomben) gezielt verursacht werden, liegt beim Überschreiten einer Erheblichkeitsschwelle wie dort ein Verstoß gegen das ­Gewaltverbot vor.120 2013 wurden zur Orientierung im „Tallin Manual“,121 das von einer Expertengruppe im Auftrag der NATO erarbeitet wurde, Kriterien u. a. für die Schwere und ­ Unmittelbarkeit der Wirkungen, für den militärischen Charakter und die Verwicklung eines Staates in den Angriff festgehalten, die das geltende Völkerrecht wiedergeben sollen.122 b) Schutz vor Falschinformationen Gegen gesteuerte Falschinformationen (Fake News) kommen neben technischen Maßnahmen ggf. koordinierte Aufklärungsmaßnahmen in Betracht, deren Wirkung sicher differenziert zu sehen ist. c) Schutz vor technischen Manipulationen Gegenüber technischen Wahlmanipulationen helfen nur entsprechende technische Sicherheitseinrichtungen (vgl. die Diskussion anlässlich der Bundestagswahlen 2017).

120  v.

Arnauld, Völkerrecht (Fn. 42), Rdnr. 864 und 1033. N. Schmitt, Tallin Manual on the International Law Applicable to Cyber Warfare, 2013. 122  Vgl. dazu v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 42), Rdnr. 1033. Zum Einsatz von Social Bots im Wahlkampf zur Beeinflussung von Wahlergebnissen Armin Steinbach, Social Bots im Wahlkampf, ZRP 2017, S. 101 ff. (104) m. w. N. 121  Michael

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d) Social Bots Manipulationswirkung können auch sog. Social Bots haben. Denn durch diese „Meinungsroboter“, nämlich speziellen Computerprogrammen, die nach einem festgelegten Algorithmus arbeiten und sich als reale Nutzer von sog. Social-Media-Plattformen ausgeben, wird über die tatsächliche Relevanz von Meinungen getäuscht, was die öffentliche Meinung vor allem im Wahlkampf beeinflussen kann.123 Sie dienen insbesondere auch der Verbreitung von Falschnachrichten. Ihr Einsatz wird rechtlich unterschiedlich beurteilt.124 IV. Zusammenfassung Das Internet hat die Rahmenbedingungen für Whistleblower und Wikileaks verändert und die Effektivität von Whistleblowing erheblich gesteigert. Dies gilt auch für die Einflussnahme aus auswärtigen Staaten. Dies stellt das Recht freiheitlich-demokratischer Staaten, die die Balance zwischen gerechtfertigten Abwehrmaßnahmen und dem Schutz der Meinungs- und Informationsfreiheit wahren müssen, vor neue Herausforderungen. Whistleblow­er und Wikileaks werden ungeachtet der damit verbundenen Rechtsverletzungen und grundsätzlicher Vorbehalte gegen Denunziantentum wegen ihrer positiven Effekte (Aufdeckung von Missständen, Skandalen, insbesondere Korruption) für die Ö ­ ffentlichkeit, ggf. aber auch für betroffene Unternehmen, ambivalent beurteilt. Dies gilt auch für die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung, je nach Urheber, Adres­sat und politischem Ziel, soweit es sich hier nicht um gezielte Manipulationen von Wahlen oder gar durch technische Einflussnahme von Wahlergebnissen handelt. Besonders 123  Vgl. dazu Jens Milker, „Social-Bots“ im Meinungskampf. Wie Maschinen die öffentliche Meinung beeinflussen und was wir dagegen unternehmen können, ZUM 2017, S. 216 ff. (216 f.). 124  Vgl. zur Erfassung durch die Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) Steinbach (Fn. 120), S. 105. Zur noch nicht abschließenden Klärung durch die Rechtsprechung vgl. Milker (Fn. 121), S. 217 f., zu möglichen Abwehrmaßnahmen ebd., S.  221 f. m. w. N.



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problematisch sind wegen ihrer Folgen (Verletzung von Persönlichkeitsrechten; Manipulation von Wirtschaftsdaten und Aktienkursen; Erfindung von Handlungen von Politikern oder von Straftaten  – z. B. Fall Lisa  – mit politischen Auswirkungen) Falschnachrichten („Fake News“) von privater, aber auch gezielt von staatlicher Seite. Seitens Nichtregierungsorganisationen (NGOs), aber auch seitens des Europäischen Parlaments, des Europarats und der G 20 wurde der verbesserte Schutz von Whistleblowern gefordert. Ausdrückliche Ansätze dazu finden sich in mehreren völkerrechtlichen Dokumenten sowie in Rechtsakten der Europäischen Union. Rechtliche Folgen für Deutschland hatte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall der Whistleblowerin Heinisch, der eine Entschädigung zugesprochen wurde und das zu einem intensiveren Schutz von Whistleblowern durch die deutsche Rechtsprechung führte. Der Schutz von Whistleblowern ist in den 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterschiedlich ausgeprägt, wobei sich dies nicht unbedingt in der Korruptionsbekämpfung niederschlägt. In Deutschland wurden Gesetzesinitiativen zu einem umfassenden Schutz von Whistleblowern vom Bundestag bislang abgelehnt, da der Schutz durch bestehende Gesetze und darauf basierender Rechtsprechung für hinreichend gehalten wird. Für einen ausdrücklichen Schutz von Whistleblowern spricht eine größere Rechtssicherheit hinsichtlich der Befreiung von zivilrechtlichen, dienstrechtlichen und strafrechtlichen Risiken. Problematisch sind aber die Zuordnung von Verantwortlichkeit und die Konkretisierung von Tatbeständen, insbesondere hinsichtlich der Interessenabwägung, die Verteilung der Beweislast und die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die konkrete Bewertung verbleibt auf der Basis unbestimmter Rechtsbegriffe letztlich bei der Rechtsprechung. Zum Schutz von Wikileaks werden Verbesserungen des Informantenschutzes gefordert. Während vorsätzliche Fehlinformationen strikt zu ahnden sind, werfen fahrlässige Fehlinformationen schwierige Abwägungsfragen auf. Die Probleme der Zuordnung von Verantwortlichkeit zeigen sich in der Diskussion um das sog. Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Gegen die Einflussnahme auswärtiger Staaten auf die politische Willensbildung kann recht-

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lich das klassische Interventionsverbot nicht eingewandt werden, soweit es allein um politische Stellungnahmen geht. Es verbleibt insoweit die politische Auseinandersetzung durch Information sowie Aufklärungsmaßnahmen gegen Fake News, ggf. auch Beschränkungsmaßnahmen wie Auftrittsverbote. Gegen das Interventionsverbot verstößt allerdings die Destabilisierung des politischen Systems durch auswärtige Staaten, wobei sich die Frage der Eingriffsschwelle stellt. Gegen gezielte technische Manipulationen helfen nur entsprechende technische Sicherheitseinrichtungen. Generell hilft oft nur Aufklärungsarbeit. Insoweit kommt den Medien, die sich als „Qualitätsmedien“ sehen, eine besondere Verantwortung zu. Dies gilt vor allem für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland, deren Finanzierung durch  – neutral formuliert  – von jedem zu erbringende Gebühren sich  – wenn überhaupt  – nur so rechtfertigen lässt. Aber: Dies ist ein mühsames Geschäft. Denn wie schon Martin Luther erkannte: „Kein Irrtum ist so groß, dass er nicht seinen Zuhörer hat“.

Der Rahmen des Sagbaren. Überlegungen zur Offenheit demokratischer Willensbildung aus zeitgeschichtlicher Perspektive Von Andreas Rödder I.

Rahmen: Die Grenzen des Sagbaren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

II. Das Ende der Modernisierungsideologie 1973  . . . . . . . . . . . . . 243 III. Das marktliberale Paradigma  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 IV. Die Kultur der Inklusion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 V. Sprache und Macht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

I. Rahmen: Die Grenzen des Sagbaren Warum lassen sich Japaner in einen überfüllten Zug stopfen, während sich Menschen in England in eine Schlange stellen, wenn sie an eine Bushaltestelle kommen? Warum wurden in den sechziger Jahren Verkehrsschneisen durch Altstädte geschlagen, die einige Jahre später in Tempo 30-Zonen umgewandelt wurden? Und warum wurde ein Viersternegeneral der Bundeswehr in den 1980er Jahren mit dem Argument entlassen, ein Schwuler sei als General nicht tragbar, während der Chef des InternetUnternehmens Mozilla 2014 zurücktreten musste, weil er bei einem Volksentscheid in Kalifornien die Gegner der Homo-Ehe unterstützt hatte?1

1  Zur Wörner-Kießling-Affäre vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, 2006, S. 60; zum Rücktritt von Brendan Eich vgl. Firefox. Spende gegen Homo-Ehe zwingt Mozilla-Chef zum Rücktritt, Zeit online vom

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Um das Alltagsverhalten von Menschen zu erklären, hat der Soziologe Erving Goffman das Konzept des „Rahmens“ entwickelt.2 Rahmen organisieren Alltagserfahrungen auf der Ebene der Wahrnehmungen wie der des Handelns. Die Erkenntnisse der Sozialpsychologie bestätigen die alte Volksweisheit, der Mensch sei ein Herdentier. Er richtet sich in seinem sozialen Verhalten nach dem, was in seiner Umgebung als richtig angesehen wird. Eindrücklich hat dies Salomon Asch Anfang der fünfziger Jahre in einem Experiment gezeigt: Eine Gruppe von Versuchspersonen sollte die Längen von Linien vergleichen, die ­ihnen gezeigt wurden. Die Probanden, die ihre Einschätzung als letzte abgaben, wussten nicht, dass die Teilnehmer vor ihnen in das Experiment eingeweiht waren und absichtlich eine falsche Einschätzung abgegeben hatten. Drei Viertel der Versuchspersonen richteten sich in ihrer Antwort nach der Mehrheit der zuvor abgegebenen Einschätzungen und gaben eine offenkundig falsche Antwort; wenn sie die Aufgabe allein zu lösen hatten, gaben sie hingegen die richtige Antwort.3 Solche Muster des Denkens, Redens und Handelns sind den Beteiligten meist nicht bewusst. Rahmen umschreiben eine unhinterfragte, als solche wahrgenommene Normalität und sind gerade deshalb von großer Verbindlichkeit. Diese Erklärungsfigur lässt sich von der Mikroebene auf größere Gruppen und Gesellschaften übertragen. Hier organisieren Rahmen, was Elisabeth Noelle-Neumann als „öffentliche Meinung“ beschrieben hat: „Meinungen im kontroversen Bereich, die man öffentlich äußern kann, ohne sich zu isolieren“. Da Menschen die Isolation meist zu vermeiden suchen, orientieren sie sich an den angenommenen Mehrheitsverhältnissen ihrer Umwelt und halten eine als Minderheitsposition empfundene 4. April 2014, verfügbar unter: http: /  / www.zeit.de / digital / 2014-04 / mo zilla-eich-ruecktritt (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 2  Vgl. Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, 1. Aufl. 1977, insb. S. 9 ff. 3  Vgl. Salomon E. Asch, Effects of Group Pressure upon the Modification and Distortion of Judgements, in: Guetzkow (Hrsg.), Groups, Leadership and Men, 1951, S. 177 ff.



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Meinung tendenziell zurück.4 Abweichende Meinungen sind nicht ausgeschlossen, befinden sich aber von Anfang an in der Defensive und dringen gegen die Mehrheitsmeinung nur schwer oder gar nicht durch. Rahmen überwölben auch tagespolitische Konfliktlinien und parlamentarische Mehrheitsverhältnisse (jedenfalls wenn in der politischen Kultur kein Fundamentaldissens herrscht wie im Deutschland der Weimarer Republik). Sie trennen das allgemein Akzeptierte vom mehrheitlich Abgelehnten und unterscheiden den Generalkonsens der ingroup von der abweichenden outgroup. Als „kulturelle Hegemonie“ haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe dieses Phänomen beschrieben: als Universalisierung von partikularen diskursiven Bedeutungsfixierungen durch Grenzziehung von Regelhaftem und Regelwidrigem.5 Rahmen organisieren das Reden, Denken und Handeln. Sie machen Vorgaben, aber sie sind nicht statisch. Sie wandeln sich, zum Einen infolge von Machtkonflikten, zum Anderen infolge von unerwarteten, plötzlichen Ereignissen. Zwei solcher Ereignisse, die zu Veränderungen kultureller Hegemonien führten, verbinden sich mit den Jahreszahlen 1973 und 2008: dem Ende der staatsorientierten Modernisierungsideologie, das vom marktliberalen Paradigma abgelöst wurde, und der Krise der marktradikalen Modernisierungsideologie, die der Kultur der Inklusion Platz machte. II. Das Ende der Modernisierungsideologie 1973 Das Jahr 1973 ging wie eine Schockwelle durch die westliche Welt. Wirtschaftlich ging der Nachkriegsboom zu Ende, kultu4  Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale, 1996, S. 91, ausführliche Definition S. 343 f. Vgl. dies., Öffentliche Meinung, in: Noelle-Neumann / Wilke / Schulz (Hrsg.), Fischer Lexikon Publizistik. Massenkommunikation, 2009, S. 427 ff.; Uwe Sander, Theorie der Schweigespirale, in: Sander / Gross / Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik, 2008, S. 278 ff. 5  Ernesto Laclau / Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 1991.

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rell bedeutete es das Ende des Glaubens an die „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“, wie es Willy Brandt 1970 formuliert hatte:6 an die Erkennbarkeit der Welt und die Machbarkeit der Dinge. Der lang anhaltende Nachkriegsboom der fünfziger und sechziger Jahre hatte den Glauben an permanentes Wachstum und die Möglichkeit eröffnet, die konjunkturelle Entwicklung durch staatliche Interventionen zu steuern. Die keynesianische „Globalsteuerung“ in der Bundesrepublik wurde von einer auf fünfzehn und mehr Jahre angelegten Reformplanung auf der Basis wissenschaftlicher Politikberatung begleitet, die Kanzleramts­ minister Horst Ehmke nach dem Regierungswechsel von 1969 einführte.7 Ein allgemeiner und international verbreiteter wissenschafts- und technikgläubiger Funktionalismus beruhte auf der Vorstellung, die Wirklichkeit sei durch objektivierbare Quantifizierung vollständig und adäquat zu erfassen, komplexe Entwicklungen könnten gesteuert und die Zukunft könne geplant werden. Staatlich betriebene Großprojekte waren ein wesentliches Kennzeichen der Hochmoderne zwischen 1880 und den siebzi6  Willy Brandt, Ansprache zum Jahreswechsel 1970  / 71, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1971, Nr. 1, S. 2. 7  Vgl. zu Reformplanung und wissenschaftlicher Politikberatung die zeitgenössischen Erfahrungsberichte von Horst Ehmke, Planen ist keine Sünde, Die Zeit vom 10. Dezember 1971, S. 48; ders., Computer helfen der Politik, Die Zeit vom 17. Dezember 1971, S. 42, sowie ders., Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, 1994, insb. S.  113 ff.; Gabriele Metzler, Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 57 ff.; dies., Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, 2005, S. 362 ff. und 383 ff.; vgl. zur Reformplanung zu Beginn der sozial-liberalen Koalition Wolfgang Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969–1974, in: Bracher / ders. / Link, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Republik im Wandel. 1969–1974. Die Ära Brandt, 1986, S. 15 ff. (27 ff.).



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ger Jahren des 20. Jahrhunderts8, wie etwa die „autogerechte Stadt“9. Altstädte fielen dem Flächenabriss zum Opfer; dafür entstanden Trabantenstädte an den Peripherien der Städte.10 Gestaltungsprinzip war eine streng funktionalistische Architektur, wie sie sich in den „Wohnmaschinen“ Le Corbusiers, der RuhrUniversität Bochum und dem Großklinikum in Aachen niederschlug. Sie korrelierte mit dem verkehrspolitischen Autobahnbauprogramm: Der „Leber-Plan“ sah eine Ausdehnung des Autobahnnetzes in der Bundesrepublik von ca. 4.400 auf 19.000 km vor. Auf dem britisch-französischen Projekt des Überschallflugzeugs Concorde ruhten ähnliche Hoffnungen in der Luftfahrt wie auf der Kernkraft in der Energiepolitik.11 Zu Beginn der siebziger Jahre begann sich allerdings Widerstand gegen den weiteren Flächenabriss von Altstädten zu formieren, und ein allgemeines Umdenken zeichnete sich ab. Der endgültige Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods und der erste Ölpreisschock im Krisenjahr 1973 markierten eine ökonomische Zäsur, die weit über den darauf folgenden Konjunktureinbruch hinausging. Dem Ende des 8  Vgl. dazu und zum Folgenden Christof Dipper, Moderne, Version: 1.0, Docupedia Zeitgeschichte vom 25.  August 2010, verfügbar unter: http: /  / docupedia.de / zg / Moderne (zuletzt abgerufen am 15.  Dezember 2017), S.  13 ff. 9  Hans Bernhard Reichow, Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrschaos, 1959. 10  Vgl. Jörn Düwel / Niels Gutschow, Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert. Ideen – Projekte – Akteure, 2001, S. 222; Tilman Harlander, Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik, in: Flagge (Hrsg.), Geschichte des Wohnens. Von 1945 bis heute. Aufbau  – Neubau  – Umbau, 1999, S. 233 ff., insb. S. 287 ff.; Klaus von Beyme, Wohnen und Politik, in: Flagge (Hrsg.), Geschichte des Wohnens. Von 1945 bis heute. Aufbau – Neubau – Umbau, 1999, S. 115. 11  Vgl. zum Leber-Plan Jäger Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969–1974 (Fn. 7), S. 142 f.; vgl. zur Kernenergie Joachim Radkau, Die Geschichte der Kerntechnik, in: Varchim  /  ders., Kraft, Energie und Arbeit. Energie und Gesellschaft, 1988, S. 170 ff.; Otto Keck, Der Schnelle Brüter. Eine Fallstudie über Entscheidungsprozesse in der Großtechnik, 1984.

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Nachkriegsbooms folgten niedrige oder gar negative Wachstumsraten, Inflation und Arbeitslosigkeit sowie wachsende Staatsverschuldung. Das war im Konzept der keynesianischen Globalsteuerung nicht vorgesehen und beförderte die „große Ernüchterung“ (Tim Schanetzky) über die Modernisierungsideologie der sechziger Jahre noch zusätzlich. Innerhalb kurzer Zeit wurden die Globalsteuerung und die Reformplanung aufgegeben, und es war eine bezeichnende Koinzidenz, dass der visionäre Willy Brandt im Bonner Kanzleramt von Helmut Schmidt abgelöst wurde, der zu „Realismus und Nüchternheit“12 aufrief. Im Juni 1974 beendete auch das bei der FDP angesiedelte Institut für politische Planung und Kybernetik seine Publikationstätigkeit.13 Das Autobahnbauprogramm wurde ebenso eingestellt wie der Bau der Concorde nach 16 Maschinen. Die Abwendung von Großsiedlungen bereitete den Weg für die Wiederentdeckung der historischen Stadt und des Dorfes.14 In der Architektur verfiel der Stil der sechziger Jahre dem Verdikt der „Behälterarchitektur“ und des „Bauwirtschaftsfunktionalismus“. Die Gegenbewegung firmierte unter dem 1975 aufgebrachten Begriff der „Postmoderne“15, die auf „Mehrsprachig12  Helmut Schmidt, Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung vom 17. Mai 1974, Plenarprotokoll 07 / 100, S. 6593 ff. 13  Friedrich Naumann Stiftung. Archiv des deutschen Liberalismus, verfügbar unter: https: /  / faust.comdok.de / zeig.FAU?sid=5B26713D5& dm=1&ind=2&ipos=Institut+f %FCr+Politische+Planung+und+Kyber netik (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 14  Vgl. Düwel / Gutschow, Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert (Fn. 10), S. 228 ff.; Harlander, Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik (Fn.10), S. 354 ff. 15  Harlander, Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik (Fn. 10), S. 333; Heinrich Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne. Postmoderne. Zweite Moderne. 2. Aufl. 1999, S. 109; Charles Jencks, The Rise of Post Modern Architecture, Architectural Associa­tion Quarterly 7 (1975), S. 3 ff.; Werner Durth, Die postmoderne Architektur und die Wiederentdeckung der Stadt, in: Junker / Gassert / Mausbach / Morris (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch. Bd. 2, 2001, S. 580 ff.; Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert (Fn. 15).



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keit“ statt funktionalistischer „Univalenz“ baute und auf eine Kombination von Heterogenem setzte.16 James Stirlings Neue Staatsgalerie in Stuttgart avancierte mit ihrer funktionalen Uneindeutigkeit und ihrer unorthodoxen Fülle verschiedener Architekturzitate von Schinkel über Le Corbusier bis zur Pop Art zum postmodernen Bau der Bundesrepublik par excellence. Schon die Zeitgenossen erkannten diesen kulturellen Umschlag als „Tendenzwende“  – so der Titel einer zeitdiagnostischen Konferenz in der Münchener Akademie der schönen Künste im November 1974:17 als eine „radikale Wende gegen den Fortschrittsoptimismus“18 der sechziger Jahre. Der Umschlag von der Modernisierungsideologie in Zukunftsangst ließ sich an den Protestbewegungen ablesen. Folgten die Achtundsechziger noch der Utopie einer neuen Welt, so einte die neuen sozialen Bewegungen der siebziger Jahre die Angst vor der Zerstörung der Lebensgrundlagen, sei es durch sauren Regen oder Atomkraft; letztere wurde zur Chiffre für den Paradigmenwechsel. Dem Ende der keynesianischen Modernisierungsideologie folgten zwei für die nächsten Jahrzehnte prägende Entwicklungen: ein politisch-ökonomischer Paradigmenwechsel hin zur Orientierung an freien Märkten statt an staatlicher Intervention sowie die postmoderne Dekonstruktion politisch-kultureller Ordnungsentwürfe der Moderne.

16  Wolfgang

Welsch, Unsere postmoderne Moderne. 5. Aufl. 1997, S. 20, 117 f. und 129; Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen ­Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition, 2. Aufl. 1980, S. 15. 17  Clemens Podewils (Hrsg.), Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik, 1975. 18  Karl-Dietrich Bracher, Politik und Zeitgeist. Tendenzen der siebziger Jahre, in: ders. / Jäger / Link, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Republik im Wandel. 1969–1974. Die Ära Brandt, 1986, S. 283 ff. (347).

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III. Das marktliberale Paradigma Mit dem Scheitern des Keynesianismus schlug die Stunde der Marktliberalen und der Chicagoer Schule in den Wirtschaftswissenschaften. Milton Friedman ging davon aus, dass keyne­ sianische Nachfragestimulierung und Inflation nur kurzfristige  Effekte für Beschäftigung und Wachstum brächten, diese vielmehr durch die Erwartung steigender Preise und die Erhöhung der Reallöhne langfristig ins Gegenteil verkehrten. Überzeugt von der Stabilität sich selbst regulierender Märkte, plädierte er hingegen für die Stärkung der Marktkräfte und größtmögliche Enthaltsamkeit des Staates. In seinen eigenen Worten: „Chicago stands for the belief in the efficiency of the free market as a ­means of organizing resources, for scepticism about government intervention into economic affairs, and for emphasis on the quantity theory of money as a key factor in producing infla­tion.“19 Das war marktoptimistischer gedacht als das, was klassischerweise als „Neoliberalismus“ bezeichnet wurde: der Ordo-Liberalismus der Freiburger Schule. Freiburg ging es um Ordnung für den Markt durch einen starken regelsetzenden Staat, während Chicago an Ordnung durch den Markt glaubte.20 Wirtschaftspolitisch vollzogen die westlichen Industrieländer in den achtziger Jahren eine marktorientierte Abkehr vom Keynesianismus. Die britische Regierung Thatcher setzte zwischen 1979 und 1983 primär auf Haushaltskonsolidierung und ging danach zu einer Privatisierungsoffensive über. Haushaltskonsolidierung war auch die Parole der bundesdeutschen Politik nach dem Regierungswechsel von 1982, die zugleich von Steuer­ erleichterungen (und unter dem Strich steigenden Sozialausgaben) begleitet wurde. Später und zögerlicher als im Vereinten 19  Vgl. Toni Pierenkemper, Geschichte des modernen ökonomischen Denkens. Große Ökonomen und ihre Ideen, 2012, S. 200 ff.; Milton Friedman, Schools at Chicago, University of Chicago Magazine 64 (1974), S. 11 ff. (11). 20  Vgl. dazu und zum Folgenden Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge / MA 2011, S.  41 ff.



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Königreich wurden Bundesbeteiligungen und in den neunziger Jahren die Staatsunternehmen Bahn und Post privatisiert und 1996 der Telekommunikationsmarkt liberalisiert. Frankreich verfolgte nach der Wahl François Mitterrands zum Staatspräsidenten 1981 zunächst einen Kurs expansiv staatsinterventionistischer Politik, vollzog aber 1983 eine Kehrtwende zur Haushaltskonsolidierung. Die USA waren schon in den siebziger Jahren Vorreiter von Privatisierungen (zum Beispiel auf dem Flugmarkt) gewesen, ohne sie allerdings durch eine Politik der Haushaltskonsolidierung zu flankieren. Die Freisetzung der Marktkräfte und dynamisches Wachstum, neue Medien und die Digitalisierung schlugen sich Ende der achtziger Jahre in einem neuen Fortschrittsoptimismus nieder. Mit dem Durchbruch der global economy in den neunziger Jahren verbreitete sich der shareholder value-Kapitalismus. Orientiert an kurzfristigen Gewinnen auf den Finanzmärkten, führte er einen weitreichenden Kulturwandel mit sich. Finanzmathematische Risikomodelle und Rating-Agenturen ersetzten die erfahrungsgestützte Intuition des langfristig planenden Kaufmanns. In den Wirtschaftswissenschaften verdrängte eine an Mikroökonomik, Spieltheorie und rational choice orientierte Betriebswirtschaftslehre eine in größeren Zusammenhängen denkende Volkswirtschaftslehre, die sich ihrerseits mathematisierte. In den USA wurde der „Markt“ zur neuen dominanten Argumentationsfigur. Er galt als Ort schneller Reaktionen und rationaler Entscheidungen, an dem sich Preise, Löhne und Nachfragen ausgleichen, an dem optimierende Ausgleichsmechanismen wirken und der sich selbst reguliert. Schließlich wurde die gesamte Gesellschaft als Markt gedacht;21 in einem spill overRodgers, Age of Fracture (Fn. 20), mit Bezug auf die USA, S. 10 f., 42, 65 ff. und 76; Gary S. Becker / Guity N. Becker, Ökonomik des Alltags. Von Baseball über Gleichstellung zur Einwanderung: was unser Leben wirklich bestimmt, 1998; Uwe Schimank / Ute Volkmann, Ökonomisierung der Gesellschaft, in: Maurer (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie, 2008, S. 382 ff.; Friedericke Hardering, Unsicherheiten in Arbeit und Biographie. Zur Ökonomisierung der Lebensführung, 2011, S. 7 ff. 21  Vgl.

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Effekt wurden immer weitere Lebensbereiche der Funktionslogik und der Organisation nach den Prinzipien des Marktes unterworfen. Im Zentrum des marktorientierten Umbaus der Gesellschaft standen Bildung und Wissenschaft. Als Leitbild diente die unternehmerische Universität mit „Vorstand“ und „Aufsichtsrat“, in der die „Kundenbeziehung“ zu den Studierenden die Treuhänderschaft von Bildung ersetzte. Bildung wurde zur Ware, inklusive werbender Selbstinszenierung von Universitäten, um ein Markenimage aufzubauen.22 Die Universitäten stellten auf erfolgsabhängige Mittelverteilung um, und ein bundesweites Reformgesetz von 2002 führte eine „leistungsorientierte Professorenbesoldung“ ein.23 Was aber sind die Kriterien von „Erfolg“ und „Leistung“ in ursprünglich nichtkommerziellen Bereichen wie der Wissenschaft? Ein neuer, ökonomisch quantifizierbarer Maßstab wurde eingeführt: Durch die Einwerbung von Drittmitteln, d. h. von außeruniversitären Forschungsgeldern, sollten Wettbewerb und Markt als Gestaltungsprinzipien auch im kulturellen Bereich eingeführt werden. In den Hochschulen zog eine neue Dynamik ein, und die Aufwendungen des Bundes und der Wirtschaft für Forschung und Entwicklung verdoppelten sich zwischen 1991 und 2011 (wodurch zugleich eine erhebliche Schieflage gegenüber der Grundfinanzierung der Universitäten durch die Länder entstand).24 Eine Korrelation zwischen Drittmitteln und der 22  Vgl. das Gesetz über die Hochschulen in Baden-Württemberg vom 1. Januar 2005, § 15 (dort die Begriffe „Vorstand“ und „Aufsichtsrat“); Dietmar Klenke, Die Einführung der W-Besoldung. Ihre Entstehung aus zeitgeschichtlicher Perspektive, Forschung und Lehre 3 / 12 (2012), S.  190 ff. (191); Richard Münch, Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, 2011, S. 346 ff. 23  Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung (Professorenbesoldungsreformgesetz – ProfBesReformG) vom 16. Februar 2002, BGBl. I, S. 686. 24  Vgl. Wissenschaftsstatistik GmbH im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.), FuE-Datenreport 2013. Analysen und Vergleiche, 2013, S. 15.



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Qualität von Forschung ließ sich unterdessen empirisch nicht nachweisen.25 Stattdessen setzte der staatlich administrierte Wettbewerbsgedanke innerhalb der Wissenschaft Dysfunktionalitäten frei.26 Eine selbstanpreisende Sprache des Marktes  – „exzellent“, „antragsfähig“, „sichtbar“  – ersetzte den Habitus der Dezenz, den die Wissenschaften angesichts des Wissens um die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit klassischerweise für angemessen hielten. Dass die Einwerbung von Drittmitteln zum Indikator von Markterfolg wurde, begründete neue Mechanismen der Ressourcenzuteilung und etablierte mit finanzstarken Wissenschaftsorganisationen und einer neuen Schicht von Wissenschaftsfunktionären neue gatekeepers. Wissenschaftler folgten vorgegebenen Anreizstrukturen und antizipierten als Antragsteller von Drittmitteln das Erwartete. Drittmittelorientierung und Bildungsökonomie waren Elemente eines übergreifenden Prozesses der gesellschaftlichen Steuerung durch Zahlen in Form von Ratings und Rankings, Absolventen- und Frauenquoten, workload und credit points, die nunmehr den Rahmen dessen zogen, was öffentlich gesagt werden konnte, ohne sich zu isolieren. Zahlen und Modelle reduzieren Komplexität und dienen der Systematisierung und der Ordnung einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit. Sie sind ein elementarer Bestandteil des neuzeitlichen Rationalismus, der modernen Wissenschaften und der Naturbeherrschung. Generalisierende empirisch-quantifizierende Daten liefern berechenbare Grundlagen der Urteilsbildung über subjektive Intuition, individuelle Erfahrung oder normative Vorgaben hinaus. Quantifizierende Formalisierung diente als Objektivitätsersatz, entlastete von Sinnbegründungen und neutralisierte die Frage nach „falsch“ und „richtig“. Doch auch statistische Daten werden gemacht; ihnen liegen Vorannahmen und 25  Jürgen Gerhards, Deutscher Sonderweg. Drittmittel als „Ersatzmessung“ der eigentlichen Leistung, Forschung und Lehre 2 / 14 (2014), S.  104 ff. 26  Vgl. Gerhard Vogt, Der Druck wächst. Drittmittelfinanzierung der Hochschulen, Forschung und Lehre 2 / 14 (2014), S. 96 ff. (97 f.).

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Interessen zugrunde, die sich auf Erkenntnis oder auf Macht und Einfluss richten. Zahlen sind nicht an sich, sondern nur in einem qualifizierenden Kontext aussagekräftig; so sagt zum Beispiel die Akademikerquote in einem Land mit dualer Berufsausbildung etwas anderes aus als in einem Land, in dem Krankenschwestern und Köche nach abgeschlossener Berufsausbildung über einen akademischen Abschluss verfügen, und Absolventenzahlen allein besagen nichts über die Qualität von Bildung. In historischer Perspektive zeigt sich aber, dass sich Zahlen und Modelle wellenartig zu Zielvorgaben und Richtgrößen verselbständigten. Dann aber tritt die Regel des britischen Ökonomen Charles Goodhart in Kraft, dass ein statistisches Hilfsmittel seinen Wert verliert, wenn es zum Ziel gemacht wird.27 So offenbarte sich auf der Ebene der politischen Kultur dasselbe Problem wie auf der allgemeinen wirtschaftlichen Ebene, „dass ein richtiger Gedanke, bis zum Extremen getrieben, gerade diejenigen Möglichkeiten zerstört, die er eigentlich eröffnen sollte“, wie Ralf Dahrendorf auf der Tendenzwende-Konferenz im November 1974 sagte.28 Das Problem des marktliberalen Paradigmas lag nicht in den Marktliberalisierungen der achtziger Jahre, sondern in seiner Verselbständigung seit den Neunzigern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts aber zeigte sich, dass Märkte nicht nur Orte schneller Reaktionen und rationaler Entscheidungen sind, sondern ebenso Handelsplätze von kurzfristigen Erwartungen, Gerüchten und Irrationalitäten. In Verbindung mit der Digitalisierung setzten die Deregulierungen der Finanzmärkte gewaltige ökonomische Kräfte frei. Immer speziellere Finanzinstrumente, immer längere Verschuldungsketten und immer komplexere Vernetzungen nahmen schließlich ein Ausmaß an, das die Akteure bzw. ihr Scheitern „systemrelevant“ machte. Dies verführte zur subjektiven 27  Vgl. Charles A. E. Goodhart, Problems of Monetary Management. The U.K. Experience, in: Courakis (Hrsg.), Inflation, Depression and Economic Policy in the West, 1981, S. 111 ff. (116). 28  Ralf Dahrendorf, Zukunft der Freiheit, in: Podewils (Hrsg.), Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik, 1975, S. 101 ff.



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Versuchung, zum sog. moral hazard, auf eine Rettung durch den Staat zu vertrauen und immer höhere Risiken ohne Blick auf Langzeitfolgen einzugehen – vor allem in Verbindung mit einer Sozialpolitik auf amerikanisch, die einkommensschwachen Teilen der Bevölkerung durch niedrige Zinsen der Erwerb von Immobilienbesitz erleichtern sollte. Als dieses System 2007 / 08 außer Kontrolle geriet, brach auch die marktliberale Modernisierungsideologie als kulturelles Paradigma zusammen. Die Folge war eine anhaltende parametrische politisch-ökonomische Verunsicherung und die Rückkehr der Makroökonomie, wie es in den weltweiten Debatten um Thomas Pikettys Buch „Le Capital au XXIe siècle“ 2013 / 14 zum Ausdruck kam. Zugleich wurden in Deutschland Reformen der marktliberalen Ära wie das achtjährige Gymnasium oder Studiengebühren zurückgenommen bzw. die „Rente mit 67“ durch frühere Renteneintrittsmöglichkeiten abgemildert. Hinter dem Vorhang hatte ein neuer kultureller Hegemon die Bühne betreten. IV. Die Kultur der Inklusion Die Kultur der Inklusion geht zurück auf die Debatten um Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus in den achtziger Jahren, die in erstaunlicher Geschwindigkeit von den akademischen Höhen der philosophischen Seminare in Paris und Berkeley in die Breite der westlichen Gesellschaften durchsickerten. Michel Foucault erhob den Anspruch, grundsätzlich „anders zu denken“, vor allem über Macht. Jacques Derrida postulierte, „es gibt nichts außer Text“. Und Jean-François Lyotard verkündete: „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren.“29 Der gemeinsame Nenner all dieser Äußerungen liegt darin, dass sie grundlegende normative Ordnungsvorstellungen der westli29  Michel

Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, 2. Aufl. 1991, S. 16; ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 8. Aufl. 1989, S. 250, Jacques Derrida, De la grammatologie, 1967, S. 227 („il n’y a pas de hors-texte“); Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, 1999, S. 112.

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chen Moderne wie Nation, Geschlecht oder den Westen in Frage stellten. Von Simone de Beauvoir stammt der Satz, als Frau werde man nicht geboren, zur Frau werde man gemacht.30 Einen großen Schritt weiter ging Judith Butler mit ihrem radikalen Konstruktivismus.31 Körperliche Gestalt werde nicht durch eine v­ orgängige Materialität bestimmt, sondern durch Diskurse und performative Akte. In einem performativen Modell von Geschlecht gelten die Kategorien männlich und weiblich nicht als natürliche Größen, sondern als Produkte wiederholter Sprechakte, indem zum Beispiel einem Kind gesagt wird: „Du bist ein Junge.“ Dass der Konsens über die Zweigeschlechtlichkeit andere, nicht einzuordnende Formen ausschließt, ist die Grundlage der queer-Theorie. Sie betont die Nichtnotwendigkeit des Zusammenhangs von anatomischen Körpermerkmalen und performativer Geschlechtsidentität und orientiert sich stattdessen an alternativen Geschlechteridentitäten. Neben der Geschlechterordnung fiel auch die klassisch-moderne Vorstellung der Nation der postmodernen Dekonstruktion zum Opfer. Nationen seien keine vorgegebenen, gleichsam natürlichen Einheiten, so Benedict Anderson, sondern „imagined communities“32, also „vorgestellt“ oder (so der etwas unpräzise Titel der deutschen Übersetzung) „erfunden“. Instrumente dieser Erschaffung waren vor allem Mythen, in Deutschland insbesondere der Mythos von der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“, der nach der Rheinkrise von 1840 entstand.33 30  Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, 1951, S. 285. 31  Vgl. Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, 1990 (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter); dies., Bodies that matter. On the Discursive Limits of Sex, 1993 (dt.: Körper von Gewicht). 32  Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 1983 (dt.: Die Erfindung der Na­tion. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts). 33  Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, 1983, S. 300 ff.; Karen Hagemann, Aus Liebe



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Identitätsbildung durch Abgrenzung nach außen, Integration durch Exklusion des Anderen – das war nicht nur ein Phänomen der Nationalstaatsbildung in Europa, sondern auch des Kolonialismus und ein zentraler Gegenstand der postkolonialen Per­ spektive. In ihrem Fokus stehen nicht kulturelle Zivilisationsleistungen wie das Verbot der Witwenverbrennung und der Tötung neugeborener Mädchen in Indien oder Entwicklungs- und Infrastrukturprojekte, wie sie dem westlichen Selbstbild und der Legitimation des Kolonialismus entsprechen. Im postkolonialen Fokus stehen vielmehr Unterwerfung und Ausbeutung, Rassismus und Zerstörung indigener Kulturen. Als Instrument der Machtausübung galt auch die Vorstellung, die europäische Entwicklung sei die gleichsam natürliche Entwicklung und ein globales Modell, der die Postkolonialisten unter der Devise „Europa provinzialisieren“34 das Konzept von gleichberechtigten „multiplen Modernen“ entgegensetzten. Das Prinzip der Ganzheit (unitotalité) diene dazu, Vielfalt auszuschließen, so Lyotard, und das Prinzip des Konsenses sei ein Instrument, um das Dissente zu unterdrücken. Seine „Skepsis gegenüber Metaerzählungen“ bewog ihn dazu, das Verbindliche zurückzuweisen und Zersplitterung (éclatement) an die Stelle von Ganzheit zu setzen.35 Solche „radikale Pluralität“36 wurde in den achtziger Jahren, so etwa von Hans-Magnus Enzensberger, als Pluralisierung begrüßt:

zum Vaterland. Liebe und Hass im frühen deutschen Nationalismus, in: Aschmann (Hrsg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, 2005, S. 101 ff.; Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag  – Wahrnehmung  – Deutung 1792–1841, 2007, S. 471 ff. und 620 ff. 34  Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, 2000. 35  Lyotard, Das postmoderne Wissen (Fn. 29), S. 39  f., 52, 59, 112, 119 f. und 175 ff. 36  Vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne (Fn. 16), insb. S. 5 f., 11, 39 und 65.

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„Niederbayerische Marktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit Figuren, von denen noch vor 30 Jahren niemand sich träumen ließ. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Männer mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitees, Mercedes-fahrende Land­streicher, Autonome mit Biogärten, waffensammelnde Finanzbeamte, taubenzüchtende Kleinbauern, militante Lesbierinnen, tamilische Eisverkäufer, Altphilologen mit Warentermingeschäft, Söldner auf Heimaturlaub, extremistische Tierschützer, Kokaindealer mit Bräunungsstudios und Dominas mit Kunden aus dem höheren Management […], Schreiner, die goldene Türen nach Saudi-Arabien liefern, Kunstfälscher, Karl-May-Forscher, Bodyguards, Jazz-Experten, Sterbehelfer und Pornoproduzenten.“

Nun waren Pluralisierung und Pluralität an sich nichts Neues. Im Gegenteil, sie waren Phänomene der gesamten Moderne. Der Unterschied, den die Postmoderne machte, lag darin, so Lyotard, dass nun nicht nur Ganzheit an sich verloren ging, sondern auch die Sehnsucht nach ihr.37 Und genau hier irrte Lyotard. Denn das Ende der großen Erzählung führte zu einem neuen Hunger nach Ganzheit und brachte eine neue normative Ordnung hervor: eine Leitkultur von Antidiskriminierung und Diversität, Gleichstellung und Inklusion. Sie zielt auf die proaktive Anerkennung, die programmatische Gleichstellung und den Ausgleich der in der bisherigen Ordnung Benachteiligten: Frauen, Behinderten, Homo- und Transsexuellen, Minderheiten und Randgruppen. Öffentliche Bekanntheit gewann der Begriff der Inklusion zunächst über die Schulpädagogik. Dort bezeichnet er die Einbeziehung von Kindern mit körperlicher oder geistiger Behinderung in die Regelbeschulung, im weiteren Sinne auch die Teilhabe von sozial schwachen Kindern und Jugendlichen, vor allem solchen mit Migrationshintergrund oder anderen Randständigkeiten. „Wenn alle mitmachen dürfen“, so definierte die Aktion Mensch Inklusion in einem Comicspot, wenn „Nebeneinander zum Miteinander wird“ und „wenn die Ausnahme zur Regel wird“.38 37  Vgl.

Lyotard, Das postmoderne Wissen (Fn. 29), S. 13 f. und 112 ff.



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Zur 38vorrangigen Kategorie politisch-sozialer Ausgleichsbedürftigkeit wurde unterdessen das Geschlecht. Gender main­ streaming beruht auf der Unterscheidung zwischen angeborenem biologischem Geschlecht (sex) und dem kulturellen Geschlecht (gender), das historisch gewachsen, gesellschaftlich bedingt und politisch veränderbar ist, wobei die Vorstellungen darüber aus­ einandergehen, wie weit das biologische Geschlecht reicht. Während physiologische Merkmale lange Zeit weithin als gegebene Unterscheidung akzeptiert wurden, deklarierte Judith Butler auch das biologische Geschlecht als kulturelle Interpretation des Körperlichen, und die queer theory stellt das gesamte Schema der Zweiteilung der Geschlechter in Frage. Gemeinsam ist diesen Positionen die Überzeugung, dass ­ nterschiede der Lebenssituationen der Angehörigen verschieU dener Geschlechter kulturell gemacht und gesellschaftlich bedingt und dass sie nicht Resultat individueller Lebensentscheidungen sind. Gesellschaftliche Geschlechterdifferenzen gelten als illegitim. Behördensprachlich formuliert bedeutet gender main­streaming, „bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebens­ situationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt. […] Das Leitprinzip der Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet die politischen Akteure, bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse von Frauen und Männern zu analysieren und ihre Entscheidungen so zu gestalten, dass sie zur Förderung einer tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter bei­ tragen.“39

Die atemberaubende globale Karriere des gender mainstreaming begann mit der dritten Weltfrauenkonferenz in Nairobi 38  Aktion Mensch, Inklusion, YouTube vom 23. Februar 2012, verfügbar unter: http: /  / www.youtube.com / watch?v=COJyb3D_JjA (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 39  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Strategie „Gender Mainstreaming“ vom 19. Februar 2016, verfügbar unter: http: /  / www.bmfsfj.de / BMFSFJ / gleichstellung,did=192702.html?view= renderPrint (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).

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1985.40 Ähnlich wie der Monetarismus in den siebziger Jahren hielt es in den politischen Entscheidungszentren Einzug und wurde als bürokratischer Top-Down-Prozess implementiert.41 Der Amsterdamer Vertrag von 1997 verpflichtete die Staaten der Europäischen Union, bei allen Tätigkeiten darauf hinzuwirken, „Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern“. Schon 1994 hatte der Deutsche Bundestag den Artikel 3 des Grundgesetzes über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen um den Zusatz ergänzt, dass der Staat „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ fördert und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“ hinwirkt. Und im Juli 2000 gab die Gemeinsame Geschäftsordnung den Bundesministerien die Aufgabe, Gender-Mainstreaming bei allen politischen, normgebenden und verwaltenden Maßnahmen der Bundesregierung zu berücksichtigen.42 Während die Kultur der Inklusion mit einer wertschätzenden Kommunikation verbunden ist, die zugleich scharfe Kontroversen meidet, haben sich zugleich neue sprachliche Dichotomien wie „Gleichstellung“ versus „Diskriminierung“ verbreitet. Paradoxerweise hat die Dekonstruktion von Geschlechterdifferenz dabei zu einer moralisch-normativen Aufladung von Geschlechterstereotypen geführt. Die geschlechtergerechte Schreibweise des großen Binnen-I wird zwar für ProfessorInnen und Mana­ 40  United Nations, Report of the Fourth World Conference on Women, Beijing, 04–15 September 1995, 1996. 41  Barbara Stiegler, Wie Gender in den Mainstream kommt. Konzepte, Argumente und Praxisbeispiele zur EU-Strategie des Gender Mainstreaming, in: Bothfeld / Gronbach / Riedmüller (Hrsg.), Gender Mainstreaming – eine Innovation in der Gleichstellungspolitik. Zwischenberichte aus der politischen Praxis, 2002, S. 19 ff. (27). 42  Vgl. Art. 8 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in der Fassung vom 13.  Dezember 2007; Art. 3 Abs. 2 GG nach der Änderung von 1994, vgl. Rüdiger Breuer / Josef Isensee (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, S. 844; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Die Bundesregierung. Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, 2011, S. 6 (Gleichstellung von Frauen und Männern).



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gerInnen, weniger hingegen für BetrügerInnen und MörderInnen verwendet. Der Genderforscher Stefan Hirschauer schrieb: „Der Kern des feministischen Bekenntnisses liegt in einer großen, stillen Hoffnung: das Böse in der Welt in einem Geschlecht verorten zu können und insofern selbst ‚das andere‘ zu bleiben.“43 V. Sprache und Macht Die Paradoxie hat freilich ihre Logik, und sie liegt in der reflexiven Anwendung des postmodernen Dekonstruktivismus: Diskurse sind Machtformationen (Foucault), und das Prinzip des Konsenses ist ein Mechanismus zur Unterdrückung des Dissenten (Lyotard). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft verpflichtet die Antragsteller auf bestimmte Gleichstellungsstandards,44 ansonsten folgt Ausschluss von der Mittelvergabe. Auch der Diskurs über Inklusion ist ein Machtdiskurs: Für wen gelten welche Quoten? Die Frauenquote für Aufsichtsräte in börsennotierten Unternehmen gibt einer kinderlosen Unternehmertochter aus München-Bogenhausen den Vorzug vor einem vierfachen Familienvater aus einer Einwandererfamilie in BerlinNeukölln, denn als ausgleichsbedürftiges Kriterium ist das Geschlecht festgelegt, nicht soziale oder ethnische Herkunft, Kinderzahl oder anderes. Der frühere Personalvorstand der Telekom Thomas Sattelberger, selbst ein Beförderer von gender mainstreaming, spricht von einer Hierarchie der Diversity-Themen: an erster Stelle die Frauen, zuletzt die Behinderten.45

43  Stefan

Hirschauer, Wozu Gender Studies? Ein Forschungsfeld zwischen Feminismus und Kulturwissenschaft, Forschung und Lehre 11 / 14 (2014), S. 881. 44  Vgl. Die „Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards“ der DFG, Deutsche Forschungsgemeinschaft vom 5.  Juli 2017, verfügbar unter: http: /  / www.dfg.de / download / pdf / foerderung / grundlagen_dfg_ foerderung / chancengleichheit / forschungsorientierte_gleichstellungsstandards_2017.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017). 45  Vgl. Sven Astheimer / Roland Lindner, Hauptsache Vielfalt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. September 2017, S. C1.

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Schon der amerikanische Soziologe Talcott Parsons hat festgestellt, dass Exklusion jeder Inklusion als „logischer Schatten“ folgt.46 Ein Homosexueller lebt in der Bundesrepublik 2018 unvergleichlich viel freier als dreißig Jahre zuvor, während sich eine Vollzeitmutter von der Bundesfamilienministerin sagen lassen muss, ihr Lebensentwurf sei „problematisch“47. Die Frage, welche Kriterien als inklusions- oder ausgleichsberechtigt gelten, ist immer auch eine Machtfrage, die durch Sprache ausgetragen wird. Das Konzept der ever closer union immunisierte sich durch suggestive Sprachformeln wie derjenigen vom Fahrrad, das immer bewegt werden müsse, damit es nicht umfällt, oder durch Eindeutigkeit suggerierende sprachliche Dichotomien: Die Alternative zur europäischen Währungsunion, so Helmut Kohl 1990, „heißt zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts“. Auch Angela Merkels „scheitert der Euro, scheitert ­Europa“ oder Mario Draghis „whatever it takes“48 dienten der sprachlichen Konstruktion von Alternativlosigkeit, mit der sich die europäische Integration zugleich um Kritikfähigkeit und 46  Zitiert nach Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, 1995, S. 262; zur Gleichzeitigkeit von Inklu­ sion und Exklusion als unhintergehbares Problem vgl. auch Rudolf Stichweh, Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und Exklusion, in: ders. / Windolf (Hrsg.), Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, 2009, S. 29 ff. (37). 47  „Mütter, geht mehr arbeiten!“, Interview mit Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) und Eric Schweitzer (Präsident der DIHK), Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6.  April 2014, S.  20 f. 48  Helmut Kohl vor dem Bundesvorstand der CDU, 22.  Oktober 1990, Helmut Kohl, Berichte zur Lage 1989–1998. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands, 2012, S. 191 (erstes Zitat); ders., Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung vom 13. Dezember 1991, Plenarprotokoll 12 / 68, S. 5797; Angela Merkel, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag vom 19.  Mai 2010, Plenarprotokoll 17 / 42, S.  4126; Mario Draghi, Rede auf der Global Investment Conference in London, European Central Bank vom 26.  Juli 2012, verfügbar unter: http: / / www.ecb.europa.eu / press / key / date / 2012/  html / sp120726.en.html (zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017).



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Korrekturbereitschaft brachte. Ein Musterbeispiel der Verbindung von Inklusion und Exklusion stellte die deutsche „Willkommenskultur“ des Herbstes 2015 dar, als Regierungsparteien, Kirchenvertreter und Massenmedien über mehrere Wochen hinweg einen diskursiven Konsens zugunsten offener Grenzen etablierten, der Kritiker moralisch delegitimierte.49 Kritiker beklagten dies als Diktat der political correctness, und so formierten sich Gegenbewegungen gegen den Konsens der Kultur der Inklusion, der als Ausgrenzung des Dissenten erfahren wurde. Auf philosophischer Ebene ist dies ein neuer Realismus, auf politischer Ebene sind es die populistischen Bewegungen. Wenn dabei die Geschlechterordnung (in Form der Kritik an der „Ehe für alle“), Staat und Nation (in der Kritik an einer Politik offener Grenzen oder der Aussage, der Staat können seine Grenzen nicht schützen) oder die deutsche Geschichte (in Form der Kritik an der deutschen Gedenkkultur an historische Schuld) thematisiert werden, dann geht es um eine Neuaushandlung des Sagbaren und seiner Grenzen, die nicht durch Zufall an den zentralen Gegenständen des postmodernen Dekonstruktivismus der achtziger Jahre ansetzt. Es geht also um Grundsätzliches, wobei Auseinandersetzungen um den Rahmen des Sagbaren ein zentrales Element demokratischer Öffentlichkeiten sind. Gerade Michel Foucault und die Dekonstruktivisten haben dabei die Einsicht befördert, dass Sprache kein herrschaftsfreier Raum ist, sondern eine Arena von Machtkonflikten. Der Rahmen des Sagbaren bedarf daher der permanenten Selbstreflexion und der Revision durch eine kritische Öffentlichkeit – und einer „Kultur offener Diskussion und robuster Zivilität“50 anstelle selbstgewisser Affirmation und Reproduktion durch eine sich selbst definierende und damit immer auch ausgrenzende, moralisierende Mitte. 49  Vgl. dazu Michael Haller, Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Eine Studie der Otto Brenner-Stiftung, OBS-Arbeitsheft 93 (2017). 50  Timothy G. Ash, Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt, 2016, S. 145.

Autoren und Herausgeber Christian von Coelln, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft, Promotion sowie Habilitation an der Universität Passau. Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Wissenschaftsrecht und Medienrecht an der Universität zu Köln sowie Direktor des dortigen Instituts für Deutsches und Europäisches Wissenschaftsrecht. Frank Fechner, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Tübingen und Lausanne, Promotion sowie Habilitation an der Universität Tübingen. Leiter des Fachgebiets Öffentliches Recht, insbesondere öffentlich-rechtliches Wirtschafts- und Medienrecht an der TU Ilmenau. Matthias Friehe, Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie an den Universitäten Marburg und Poitiers. Seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Öffentliches Recht der Universität Marburg, Lehrstuhl Prof. Dr. Steffen Detterbeck. Hanno Kube, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Genf, Promotion und Habilitation an der Universität Heidelberg. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Finanz- und Steuerrechts an der Universität Heidelberg sowie Direktor des dortigen Instituts für Finanz- und Steuerrecht. Markus Möstl, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft, Promotion sowie Habilitation an der Universität München. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht II an der Universität Bayreuth sowie Direktor der dortigen Forschungsstelle für Wirtschafts- und Medienrecht. Andreas Rödder, Prof. Dr., Studium der Geschichte und Germanistik an den Universitäten Bonn, Tübingen und Stuttgart, Promotion an der Universität Bonn, Habilitation an der Universität Stuttgart. Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Rudolf Streinz, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft sowie Promotion an der Universität München. Habilitation an der Universität Passau. Inhaber des Lehr-

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Autoren und Herausgeber

stuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität München. Arnd Uhle, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn, Promotion und Habilitation an der Universität München. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verfassungstheorie an der Universität Leipzig sowie Richter des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen. Leiter der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft.