In Würde lernen: Wege des Kompetenzerwerbs - selbstbestimmt, einprägsam und angstfrei 9783839451304

The subjective perception of learning worlds and the potential of particularly effective moments. For fearless and digni

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German Pages 166 Year 2020

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Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Forschungsgegenstand
3. Stand der Forschung
4. Methodische Vorgehensweise
5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie
6. Entwurf einer Theorie: Lernwelten im Kontext wirksamer Momente
7. Diskussion und Ausblick
8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung
Literatur
Anhang
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
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In Würde lernen: Wege des Kompetenzerwerbs - selbstbestimmt, einprägsam und angstfrei
 9783839451304

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Inga Reimann-Pöhlsen In Würde lernen

Pädagogik

Für Liza und Jonas

Inga Reimann-Pöhlsen (Dr. phil.), geb. 1963, ist Grundschullehrerin in Bad Oldesloe und hat an der Europa-Universität Flensburg im Bereich der Sportwissenschaften promoviert.

Inga Reimann-Pöhlsen

In Würde lernen Wege des Kompetenzerwerbs - selbstbestimmt, einprägsam und angstfrei

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Inga Reimann-Pöhlsen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5130-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5130-4 https://doi.org/10.14361/9783839451304 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ................................................................................................. 7 1. Einleitung ........................................................................................... 9 2. Forschungsgegenstand ........................................................................ 11

2.1 Fragestellung, Begründung und Konkretisierung ............................ 11 2.2 Lernen als Voraussetzung zur Entfaltung der Persönlichkeit ............. 11 2.3 Begriffliche Konkretisierung .......................................................15 3. Stand der Forschung ........................................................................... 17

3.1 Zusammenfassung ................................................................... 22 4. Methodische Vorgehensweise .............................................................. 25

4.1 Die Erhebungsmethode ............................................................. 25 4.2 Auswertungsmethode ............................................................... 26 4.3 Beschreibung der Stichprobe ...................................................... 29 5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie .............................................31

5.1 Unterrichtsinhalte .....................................................................31 5.2 Umgang mit Schulmaterial ........................................................ 35 5.3 Rahmenbedingungen ................................................................ 38 5.4 Beziehungsfeld ........................................................................ 47 5.5 Lernökonomie ......................................................................... 55 5.6 Orte im Feld der Schule ............................................................. 63 5.7 Ziele ...................................................................................... 69 5.8 Kernkategorie: Wirksame Momente ............................................ 73

6. Entwurf einer Theorie: Lernwelten im Kontext wirksamer Momente .......... 83

6.1 Exkurs: Strategien der Bewältigung (Reimann-Pöhlsen, 2017)........... 86 6.2 Bezug zu den Untersuchungsergebnissen ..................................... 88 6.3 Zusammenfassung ................................................................... 90 7. Diskussion und Ausblick ..................................................................... 93 8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung ...................................... 95

8.1 Reaktionen auf Misserfolge ........................................................ 95 8.2 Positive wirksame Momente schaffen .......................................... 99 8.3 Momente der Würde schaffen ................................................... 142 Literatur ............................................................................................. 145 Anhang ............................................................................................... 155 Tabellenverzeichnis ............................................................................. 159 Abbildungsverzeichnis .......................................................................... 161 Abkürzungsverzeichnis ......................................................................... 163

Vorwort

Im März 2017 wurden Ergebnisse einer Studie, die ich an einer Grundschule über Niederlagen im Sportunterricht durchgeführt habe, veröffentlicht. Ich zeigte auf, wie unterschiedlich sich Schüler*innen angesichts einer Niederlage im Sportunterricht verhalten, welche Strategien sie anwenden, um diese zu bewältigen und welche Mechanismen hier wirksam sind. Daraus wurde ein Vorschlag zur Vorgehensweise in diesbezüglichen problematischen Situationen, »S.P.A.S.S.«, entwickelt. Er zielt auf den Umgang mit Kindern ab, die aufgrund verschiedener Faktoren noch keine eigenen Strategien entwickelt haben, um diesen Situationen in zufriedenstellender Weise zu begegnen. Weiter habe ich mich dafür ausgesprochen, den Umgang mit Niederlagen in das Sportcurriculum von Schulen als gleichberechtigtes Lernziel mit einem angemessenen Zeitrahmen aufzunehmen. Bei der Analyse der Daten fiel mir auf, dass die Ergebnisse möglicherweise auch für die kognitiven Fächer von Relevanz sein könnten. Niederlagen und Misserfolge begleiten Menschen in allen Bereichen des Lebens. An unterschiedlichen Orten gilt es, dem zu begegnen und damit so umzugehen, dass im Resultat ein annehmbares Ergebnis und ein Zustand der Zufriedenheit (wieder)hergestellt werden kann. Fatal ist es, wenn Heranwachsende in einen Kreislauf aus sich aneinanderreihenden persönlichen Misserfolgen und andauernder Hilflosigkeit geraten. Täglich lässt sich auffälliges Verhalten und psychisches Leid in der Schule beobachten. Daher sollte der Umgang mit Misserfolgen ein Thema im Unterricht aller Fächer sein und nicht vernachlässigt werden. Was geht in Kindern mit guten Noten und weniger guten Beurteilungen vor, wenn sich der gewünschte Lernerfolg nicht einstellt? Welche Faktoren bestimmen eine erfolgreiche und glückliche Schulzeit? Die Ergebnisse der Sportstudie zeigen, dass die Befragung von Kindern zu ihren Themen eine weitaus fruchtbarere Grundlage zum Erwerb detaillierter Kenntnisse und Lösungsansätze bietet, als es Beobachtungen und Erfahrungen von Lehrkräften und Erziehungspersonen allein sein können.

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Daraus erwuchs die Idee, den Blickwinkel vom Spielfeld in der Sporthalle auf die Klassenzimmer zu erweitern. Ich möchte ein regional umfassendes und aktuelles Bild der Themen zeichnen, die Grundschülerinnen und -schüler im Schulalltag bewegen. Daraus lassen sich Schlüsse hinsichtlich der Lernmotivation und des Lernverhaltens ziehen. Die Ergebnisse sollen Wegen erfolgreichen Lernens zugeführt werden, die nicht nur Lernenden, sondern auch Lehrenden, Eltern und Erziehungspersonen zugute kommen.

1. Einleitung »Denn was man voller Freude tut, schmeckt uns wie Kuchen gut.« Mary Poppins

Die Entfaltung der Persönlichkeit und individuelle Lernfortschritte von Kindern zu verfolgen, gehören zu den schönsten Aspekten, die der Beruf einer Lehrperson mit sich bringt. Es ist allerdings auch zu beobachten, dass für einige Schülerinnen und Schüler der vorgegebene Weg belastend ist. Im schlimmsten Fall bringt der Schulvormittag keine Freude, Befriedigung und Selbstbestätigung hervor, und ein Kind ist vornehmlich damit beschäftigt, diesen mittels Strategien der Vermeidung und Bewältigung von Frustration und Leid durchzustehen. Positiv ist die Entwicklung von Schulen zu bewerten, die heute im Gegensatz zu früheren Zeiten in weitaus größerem Maße darauf eingestellt sind, Kindern neben dem regulären Unterricht zusätzliche Hilfe anzubieten, seien diese lerngegenständlicher oder psychologischer Art. Dies geschieht u.a. durch zusätzliche Lernangebote der Förderung und Forderung, durch den Einsatz schulischer Hilfskräfte, die einzelne Kinder individuell unterstützen, durch schulpsychologische Betreuung, die akut zur Verfügung steht oder der Gestaltung von Rückzugs- und Ruheoasen. Maßnahmen dieser Art sollen helfen, Lerndefizite abzubauen und Kinder in psychischen Krisensituationen zu stützen. In diesem Sinne wirft die Forschungsarbeit Fragen nach den Ursachen von Lernmotivation und Schulunlust auf. Mittels der Aussagen der Schülerinnen und Schüler, welche die eigentlichen Expert*innen auf diesem Gebiet sind, soll herausgearbeitet werden, welche Sicht diese auf ihren Schulalltag haben. Ihre positiven und negativen Gedanken, freudige Aspekte einerseits und belastende Gedanken andererseits, sollen Hinweise darauf geben, was ihr Lernumfeld in beiderlei Hinsicht beeinflusst. Es geht im Ergebnis darum aufzuzeigen, welche Wege angstfreies, motiviertes und freiwilliges Lernen fördern und drohendes schulaversives Verhalten abwenden. Es ist fatal, wenn einige Schüler*innen Schule als »Ort des Miss-

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erfolges, des Versagens, der Enttäuschung und des Abgelehntwerdens« (Wachtel & Wittrock, 1999, S. 171) empfinden. Eine sich manifestierende Schulmüdigkeit oder Schulabsentismus, das sogenannte »Schwänzen«, gilt es unbedingt zu vermeiden. Das Buch ist in acht Kapitel unterteilt. Der erste Teil widmet sich der diesbezüglichen Studie. Dazu wird im folgenden Kapitel zunächst die Fragestellung erläutert und danach die Thematik eingehender beschrieben. Kapitel vier stellt die Methode der Datenerhebung und ihre Auswertung vor. Des Weiteren wird die Stichprobe beschrieben. Im fünften Kapitel kommen Expert*innen zu Wort. Hier sind für die Fragestellung bedeutsame Aussagen der Schülerinnen und Schüler und deren Interpretationen, nach Kategorien angeordnet, aufgeführt. Die Ergebnisse werden dann in systematisierter und anschaulicher Form abgebildet. Im sechsten Kapitel wird diesbezüglich eine Theorie entfaltet. Basierend auf den zugrundeliegenden Fragen und Fakten zeigt sie einen Ist-Zustand auf. Es werden Schlussfolgerungen hinsichtlich des Lernens und Lehrens gezogen. Das achte Kapitel enthält auf die Studienergebnisse aufbauende und dadurch inspirierte Anregungen und praktische Lösungsvorschläge. Sie sollen Pädagog*innen und am Lernprozess Beteiligte, die Heranwachsende auf dem nicht immer einfachen Weg zu selbständig und selbstverantwortlich handelnden Personen begleiten und bestmögliche Ergebnisse erzielen wollen, dienlich sein. Das Rad wird hier im metaphorischen Sinne nicht neu erfunden. Da sich äußere Bedingungen allerdings ständig verändern, ist eine stete Nachjustierung erforderlich. Dies betrifft z.B. die Spielwelt Heranwachsender und Einsparungsbemühungen der öffentlichen Hand bei gleichzeitigen Inklusions- und Integrationsbestrebungen in der Schule. Ersteres ist im Zuge einer fortschrittlichen Umwelt als natürlicher Prozess zu betrachten, Letzteres wäre in einem rational und vernünftig denkenden Umfeld zu vermeiden. Es ist die Aufgabe Erwachsener, in die Bildung der Kinder zu investieren.

2. Forschungsgegenstand 2.1

Fragestellung, Begründu ng und Konkretisierung

In dieser Forschungsarbeit wird folgenden Fragestellungen nachgegangen: x x x x

Welches sind die Gedanken und Themen der Kinder angesichts eines bevorstehenden Schultages? Haben sich diese Gedanken im Laufe des Schultages manifestiert bzw. realisiert? Beeinflussen diese Gedanken/Gegebenheiten den Vorgang des Lernens in positiver oder negativer Weise? Wie lassen sich Lernvorgänge mithilfe des erworbenen Expert*innenwissens optimieren?

2.2 Lern en als Voraussetzung zur Entfaltung der Persönlichkeit Das Konzept der Grundbildung des Lehrplans Schleswig-Holstein für die Primarstufe (2002) soll Schülerinnen und Schülern dazu verhelfen, x x x x x

die Vielfalt der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie leben, differenziert wahrzunehmen, zu empfinden und zu beurteilen, das Eigene zu schätzen, das Fremde anzuerkennen und sich mit anderen darüber verständigen zu können, Wege verantwortbaren Handelns zu finden und dabei mit anderen zusammenzuwirken, der eigenen Erfahrung zu folgen, kritisch zu urteilen, Informationen sinnvoll zu nutzen, eigene Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln und gestaltend umzusetzen,

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x x

Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und die eigene Persönlichkeit zu entwickeln sowie Lernen als Teil des Lebens zu begreifen.

Dresel und Lämmle entwickelten ein Rahmenmodell der Lern- und Leistungsmotivation (2011, S. 86f.), um Zusammenhänge zwischen den Bedingungen motivationalen Lernens und deren Konsequenzen aufzeigen zu können. Sie stellen dar, dass in einer Lernsituation sowohl eigene bestehende motivationale Tendenzen als auch die Lehr – Lernumwelt auf eine Person einwirken. Zusammen bilden sie die Motivationsgrundlage für eine aktuelle Lernsituation. Auf der einen Seite stehen die eigenen Vorlieben und das Selbstkonzept. Das entspricht dem Bild der eigenen Person u.a. über Fähigkeiten, Möglichkeiten, Wirkung auf andere und der Vorstellung, was von einem erwartet wird. Auf der anderen Seite wirken externe Bedingungen wie z.B. das Verhalten der Lehrperson, ihre methodische Vorgehensweise, die Gelegenheit zur Selbstbestimmung und zum Kompetenzerwerb, das Verhalten der Mitschüler*innen, die Möglichkeit zur Interaktion, die Gestaltung der Lernumgebung und die Art und Schwierigkeit der Aufgaben. Die so generierte Lernmotivation bestimmt die Planung, Initiierung und Ausführung des Lern- und Leistungshandelns. Dies beinhaltet x x x x

die kognitive Verarbeitung, den Problemlöseprozess, handlungsbezogene Emotionen, Persistenz oder den vorzeitigen Abbruch der Arbeit.

Es erfolgt eine anschließende Bewertung der Schwierigkeit der Aufgabenstellung unter Mitwirkung korrespondierender Emotionen. Der qualitative Ablauf dieser Prozesse ist allerdings nicht isoliert zu betrachten, sondern stets im Kontext des Reifegrades der Schüler*innen. Im Grundschulbereich durchlaufen Heranwachsende mehrere Entwicklungsstufen. Dieser Aspekt ist für Pädagog*innen von Bedeutung, um deren Beurteilungen, Reaktionen und Emotionen zu deuten und darauf bedürfnisgerecht reagieren zu können. Im Folgenden wird daher ein diesbezogenes Modell erläutert. 2.2.1 Das Modell interpersonalen Verstehens (Selman, 1984) Selman entwickelte ein Modell interpersonalen Verstehens (1984), das nicht zuletzt auch hilfreich bei der Beobachtung und Auslegung von Verhaltensmustern hinsichtlich Aufgabenstellungen und schulischen Anforderungen ist. In fünf

2. Forschungsgegenstand

Stufen unterteilt, zeigt es jeweils die Vorstellungen von Personen und Beziehungen auf. Die folgende Tabelle soll dies überblicksartig veranschaulichen (vgl. Selman 1984, S. 50ff.). Die Altersangeben sind als Annäherungswerte zu verstehen. Auch ist davon auszugehen, dass ein Wechsel in eine andere Stufe »weich«, d.h. in Übergangsphasen erfolgt. Tabelle 1: Fünf Niveaus interpersonalen Verstehens nach Selman (1984) Vorstellung von Personen

Vorstellungen von Beziehungen

0. etwa 3-8 J.

undifferenziert

egozentrisch

1. etwa 5-9 J.

differenziert

subjektiv

2. etwa 7-12 J.

selbstreflexiv, Zweite-Person-Perspektive

reziprok

3. etwa 10-15 J.

Dritte-Person-Perspektive

gegenseitig

4. ab etwa 12 J.

tiefenpsychologisch

gesellschaftlich-symbolisch

Auf der Stufe 0 betrachten Kinder alle physischen und psychologischen Eigenschaften einer Person undifferenziert. Ihre Handlungen und Emotionen sowie beabsichtigtes und unbeabsichtigtes Verhalten stellen für sie eine noch untrennbare Einheit dar. Auf der Beziehungsebene werden Perspektiven nur räumlich unterschieden und Personen nur physisch wahrgenommen. In Bezug auf erlebte Ereignisse wird angenommen, dass die Wahrnehmung der eigenen Person und anderer identisch ist. Auf der ersten Stufe entwickeln Kinder ein Bewusstsein hinsichtlich physischer und psychischer Merkmale von Personen und nehmen ihre Einzigartigkeit deutlich wahr. Sie unterscheiden beabsichtigtes und unbeabsichtigtes Verhalten. Charakteristisch ist, dass nur ein Gefühlszustand zu einer Zeit vorherrscht und bei anderen wahrgenommen werden kann. Auf der Beziehungsebene können sie verschiedenen Personen unterschiedliche Standpunkte zuordnen. In Interaktionen und subjektiven Beurteilungen werden Ergebnisse aber noch lediglich auf die eigene Person bezogen. Das äußere Erscheinungsbild und Befinden einer Person stellt für sie eine Einheit dar. Sie erkennen nicht, wenn jemand sich verstellt. Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist eine typische Intention auf diesem Niveau. Auf der zweiten Stufe ist ein Kind in der Lage, die sogenannte »Zweite-Person-Perspektive« (ebd., S. 52) einzunehmen. Es kann über sich und vollzogene Handlungen aus einem anderen Blickwinkel reflektieren und ist sich der

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Fähigkeit auch bei anderen Personen bewusst. Kennzeichnend ist, dass mehrere Emotionen in einem Zusammenhang wahrgenommen und benannt werden können. Heranwachsende differenzieren zwischen dem Auftreten und der inneren Verfassung, echten, verborgenen und vorgetäuschten Emotionen sowie beabsichtigten und unbeabsichtigten Handlungen. Auf der Beziehungsebene herrscht eine zweiseitige Reziprozität nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch auf der mentalen und emotionalen Ebene vor. Man kann sich in andere hineinversetzen. Obwohl Personen und Gruppierungen, ungeachtet äußerer Bedingungen und Zusammenhänge, isoliert betrachtet und bewertet werden, ist es auf dieser Basis möglich, einen Zustand der Ausgewogenheit und Gerechtigkeit anzustreben bzw. zu erzielen. Das besondere Merkmal der dritten Stufe ist, dass Heranwachsende nun eine »Dritte-Person-Perspektive« (ebd., S. 52) einnehmen können. Sie sind in der Lage, eine Situation zu überblicken, die auch die eigene Person aus einer neutralen, außenstehenden Perspektive beinhaltet. Sie selbst, andere und ihre Handlungen können Gegenstand objektiver Betrachtung und Selbstreflektion sein. Die Fähigkeit, weitreichendere Schlussfolgerungen zu ziehen, ist in diesem Stadium ausgebildet. Personen werden als Träger und Mittler von Werten betrachtet, die sich zu Fragen und Aspekten des Lebens positionieren. Auf der Beziehungsebene werden reziproke Verbindungen, sich selbst inbegriffen, aus einer übergeordneten Position betrachtet. Standpunkte und Sichtweisen werden verglichen, zueinander in Beziehung gesetzt und für sich bewertet. Heranwachsende nehmen ihren Platz in der sozialen Ordnung wahr. Zwischenmenschliche Beziehungen werden als Aspekt dieser Ordnung über die Zeit angesehen, die auf Verständnis und gemeinschaftlichem Auskommen beruhen. Auf der vierten Stufe sehen sich Jugendliche und Erwachsene in einem größeren Bezugsrahmen. Der derzeitige Standpunkt wird in einen Kontext zur vergangenen und zukünftigen Lebensgeschichte gestellt. Sie verstehen, dass Vorgänge auch durch das Unterbewusstsein wahrgenommen werden können. Auf der Beziehungsebene ist eine tiefgründigere und vielschichtigere Kommunikation möglich als zuvor. Sie sind sensibilisiert, unterschiedliche Sichtweisen zu differenzieren und sie als Aspekt gesellschaftlichen Zusammenseins zu verstehen. Hier können Kategorien, z.B. die moralische oder rechtliche Perspektive, zu einem Ereignis unterschieden werden. Regelungen und Verständigung mit Personen oder Systemen basieren auf der Annahme, dass alle Personen dieses Reifegrads fähig sind, Perspektiven zu einem gemeinsamen Blickwinkel zu generalisieren.

2. Forschungsgegenstand

Schulische Aufgabenstellungen und Anforderungen sind im methodischen Aufbau an den Reifegrad einer jeweiligen Klassenstufe angepasst. Lerninhalte sollten damit mühelos vom Gros einer Gruppe aufgenommen werden können. Berücksichtigt werden muss, dass die Vermittlung neuer Lerninhalte seitens der Lehrkräfte oder Erziehungspersonen auch immer ein Beitrag zur Unterstützung des Reifeprozesses darstellt. Treten innerhalb einer Lerngruppe Probleme auf, die auf den Reifegrad einer oder eines Heranwachsenden hindeuten, so wirkt sich dies in doppelter Weise belastend aus. Sie oder er nimmt keine Lerninhalte auf, die wiederum der allgemeinen Entwicklung förderlich wären. Dass gerade aber hier besondere Förderung vonnöten ist, um den Anschluss an eine Gruppe nicht zu verlieren, steht außer Frage. Es kann insbesondere im Grundschulbereich nicht davon ausgegangen werden, dass eine Homogenität hinsichtlich des Reifegrades innerhalb einer Klassenstufe gewährleistet ist. Daher ist die Kenntnis um Phasen der Entwicklung von Heranwachsenden und deren Berücksichtigung bei schulischen Lernprozessen von größter Wichtigkeit. Die Persönlichkeit kann durch Lernen reifen und sich entfalten, wenn der Unterricht den Bedürfnissen gerecht wird. Sie kann Schaden nehmen und in der Entwicklung zusätzlich gehemmt werden, wenn Heranwachsende, durch ein vorgegebenes Raster fallend, nicht aufgefangen werden. Anzumerken ist hier, dass die Selbstwahrnehmung, insbesondere bei jüngeren Schüler*innen, noch als sehr hoch einzuschätzen ist (Biemann, 2006; Martschinke & Kammermeyer 2006; Seyda, 2011). Sie sind in der Regel optimistisch und haben kommenden Anforderungen gegenüber eine positive Erwartungshaltung. Diese natürliche Anlage unterstützt die Kinder, ihre Anstrengungsbereitschaft auch im Fall widriger Umstände bis zu einem gewissen Grad aufrechtzuerhalten. Es wirkt sich negativ aus, wenn eine Überforderung dauerhaft nicht wahrgenommen oder als gegeben hingenommen wird. Nur wenn es gelingt, unterschiedliche Lernvoraussetzungen differenzierend einzubeziehen, können sich alle Persönlichkeiten einer Gruppe entwickeln und Selbständigkeit, Verantwortung, Kritikfähigkeit und Toleranz gefördert werden.

2.3

Begriffliche Konkr etisierung

Einige Begriffe, die häufig im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand genannt werden, sollen eingangs genannt und bestimmt werden. Bei Schüler*innen, die eine allgemeine negative Einstellung zur Schule haben und diese in irgendeiner Weise zum Ausdruck bringen, wird bei Overmeyer,

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Schmidt und Blanz (1994) von »Schulverweigerung« als Oberbegriff für alle schulaversiven Verhaltensformen gesprochen (vgl. auch Knollmann, M., Sicking, A., Hebebrand, J., & Reissner, V. (2017). Diese ist gekennzeichnet durch x

x

x

das Vermeiden negativer Effekte (Vermeidung von schulbezogenen Gegenständen und Situationen, die negative Gefühle hervorbringen, z.B. Klassenraum, Lehrer, Arbeiten, Schulbus) das Vermeiden aversiv sozialer Situationen oder Prüfungssituationen (vorhersehbar negative soziale Situationen, in der es zu unbefriedigten Kontakten zu Gleichaltrigen und ausgeprägten Angstgefühlen kommt) spürbare positive Verstärkung durch eigenes Verhalten (beim Beschäftigen mit angenehmen Erfahrungen außerhalb der Schule, z.B. Fernsehen, Spielen, Aufenthalt bei Freunden (ebd., S. 238-239).

Schüler*innen befinden sich hier in einem »Teufelskreis zwischen Versagen und Vermeiden« (Ricking, 2000, S. 308). Neukäter und Ricking (1999) fordern daher, dass Unterricht und andere Lernprozesse derart organisiert werden, dass alle Lernenden auch Erfolgserlebnisse verzeichnen können. Schulze und Wittrock (2000) verwenden »Unterrichtsmeidende Verhaltensmuster« als Oberbegriff für dem Unterricht anwesende und abwesende sowie schulaversive und auch nicht schulaversive Schüler*innen. Sie bezeichnen damit ein »Privatisieren des Unterrichts, d.h., Heranwachsende gehen im Unterricht eigenen Interessen nach, spielen, lesen, verhalten sich zurückgezogen oder stören andere« (ebd., S. 316). Die Forscher*innen sehen in derartigem Verhalten während des Unterrichts im Klassenzimmer eine milde Vorform des SchuleSchwänzens.

3. Stand der Forschung

Über Themen, die die Grundschüler*innen angesichts eines bevorstehenden Schultags bewegen, ist in dieser Form noch nicht geforscht worden. Bedingungsfaktoren von Schulunlust und Lernbereitschaft bei Grundschüler*innen hingegen sind eher Gegenstand von Untersuchungen und rücken zunehmend stärker in den Fokus wissenschaftlicher Forschung (vgl. z.B. Bräutigam, M., 2013; Deinet, Gumz & Muscutt, 2015; Kanders, Rösner & Rolff, 1996; ReimannPöhlsen, 2017). Im Folgenden wird auf einige Studien und Abhandlungen hingewiesen, die für die hier anberaumte Untersuchung relevante Informationen enthalten. Über die Schulangst und Prüfungsängste als mögliche Ursache von Schulunlust und/oder dem Erbringen geringerer Leistungen ist, allerdings eher bei älteren Schülerinnen und Schülern, bei Hembree (1988), Krohne (2010), Lange, Kuffner, & Schwarzer (1983), Schnabel (1998), Seipp (1990) und Strittmatter (1997) nachzulesen. Oftmals stehen hier mangelnde Kompetenzen und Lernschwierigkeiten im Vordergrund (Busch & Peter 2004; Pekrun 1998). Allerdings ist nicht der Schluss zu ziehen, dass schwache Leistungen immer mit einer Lernunlust oder Ablehnung der Schule einhergehen (Helmke, 1983). Ursachen für geringe Leistungen, Schulunlust und Ängste können durch die Peergroup und Personen im schulischen Umfeld hervorgerufen werden ( Schnabel 1998; Schwarzer 2000 ). Einen Zusammenhang zwischen familienbedingten Ursachen und schulvermeidendem Verhalten sehen hingegen u.a. Fuß (2006), Gärtner-Harnach (1972), Pekrun & Helmke (1991), Sarason et al. (1971), Schwarzer (1981), Rost & Schermer (2006) und Weber (2011). Ein für den schulischen Erfolg nicht zu vernachlässigender Faktor sind lernförndernde Strukturen, die am Alltag sowie Sprach-, Denk- und Verhaltensmustern aller sozialen Schichten orientiert sind (Geißler, 2011; Rost & Schermer, 2006). Bisweilen werden schulische Situationen, unabhängig vom schulischen oder familiären Umfeld, subjektiv als bedrohlich empfunden (Schnabel, 1998). Pekrun

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(1991, S. 165) spricht hier von Wahrnehmungsdiskrepanzen. Das Selbstkonzept, die entwickelte Vorstellung über die eigenen Fähigkeiten und mögliche Leistungsstärke, ist ein bedeutender Faktor hinsichtlich der Erreichung positiver Lernergebnisse (Buff, 1991; Helmke, 1983; Pekrun, 1991; Pekrun, 1998; Lange, Kuffner & Schwarzer, 1983). Martschinke & Kammermeyer (2006) stellten hierzu im Ergebnis ihrer SCHOLASTIK- Studie fest, dass Kinder in der Einschulungsphase noch über ein höheres Selbstkonzept verfügen, dies aber im Laufe der Jahre stetig abnehme (vgl. auch Seyda, 2011). Als Ursachen werden hier u.a. die Leistungsanforderungen in der Schule und das Vergleichen der selbst erbrachten Leistung innerhalb der Bezugsgruppe genannt (vgl. auch Jerusalem & Schwarzer, 1991). Weber (2011, S. 217) stellt allerdings fest, dass es Lehrkräften nicht immer gelingt, Ursachen schulvermeidenden Verhaltens und eine geringe bis nicht vorhandene Leistungsbereitschaft richtig zu interpretieren. Daher ist es auch nicht möglich, in adäquater Weise zu reagieren und Hilfestellungen zu leisten. Sauer und Gamsjäger (1996) gehen der Frage nach, ob Schulerfolg vorhersehbar ist. Dazu wurden 651 Schülerinnen und Schüler der vierten Klassenstufe und ihre Eltern befragt. Hierzu wurden Fragebögen vorgelegt und unterschiedliche Lerntests durchgeführt. Als Längsschnittstudie angelegt, wurden diese Kinder bis zum Ende der achten Klassenstufe begleitet. Die Auswertung erfolgte mittels der Pfadanalyse mit latenten Variablen. Ein Teil der Ergebnisse betrifft die Einteilung in fünf spezifische Typen von Schülerinnen und Schüler. Die folgende Tabelle stellt diese zusammenfassend dar (vgl. ebd., S. 313, 314): Tabelle 2: Fünf Schülertypen nach Sauer und Gamsjäger (1996) Typ

Beschreibung

I

Kind: überdurchschnittliche Intelligenz (verbale Leistung, logisches Denken, räumliche Vorstellung), überdurchschnittliche erfolgsorientierte Leistungsmotivation, positives Selbstkonzept, gute Noten Eltern: durchschnittliche elterliche Anregung, extrem wenig Leistungsdruck, geringe Belohnung oder Bestrafung bezüglich der Schulleistungen, wenig intensive Hilfe und Kontrolle der Schularbeiten, geringe Maßnahmen zur Förderung der Schulleistungen; schaffen günstige Bedingungen zum Erledigen der Hausaufgaben

II

Kind: gute Intelligenz (logisches Denken, Sprache), durchschnittliche Wahrnehmungsschnelligkeit und Konzentration, wenig Erfolgszuversicht und Zutrauen zur eigenen Begabung, gute bis mittlere Noten Eltern: durchschnittliches Anregungsniveau, etwas überhöhter Leistungsdruck, Bestrafung und Unzufriedenheit überwiegen gegenüber Belohnungsverhalten, Lob und emotionale Zuwendung nach erbrachter Schulleistung

3. Stand der Forschung

III

Kind: durchschnittliche Intelligenz bei unterdurchschnittlichen Leistungen in den Bereichen Sprache, Konzentration und Wahrnehmungsschnelligkeit, überdurchschnittliche Leistungen im Bereich figuraler und räumlicher Aufgaben; überdurchschnittliche Furcht vor Misserfolg, sehr wenig Zutrauen zu eigenen Fähigkeiten, schlechte Noten Eltern: wenig Anregung, hoher Leistungsdruck, überdurchschnittlich ausgeprägtes Bestrafungsverhalten

IV

Kind: extrem gute Intelligenz, positives Selbstkonzept, erfolgsorientierte Leistungsmotivation, überdurchschnittlich gute Noten Eltern: überdurchschnittliches Anregungsniveau, etwas unterdurchschnittlicher Leistungsdruck, ausgeprägtes emotionales Belohnungsverhalten bei guten Leistungen

V

Kind: unterdurchschnittliche Intelligenzleistungen, Furcht vor Misserfolg, kein Zutrauen zu eigenen Fähigkeiten, durchschnittliche Disziplin, Noten besser als bei Typ III Eltern: besonders wenig Anregungen, geringer Leistungsdruck (auch geringe Unterstützung), extrem wenig Belohnung, besonders große Unzufriedenheit mit den Leistungen

Meier (2015) stellte in einer Fragebogenstudie mit 370 Grund- und Mittelstufenschüler*innen im Alter von 9-14 Jahren u.a. Zusammenhänge zwischen individuellen Voraussetzungen der Kinder und den erlebten Emotionen und deren Verhalten während der Bearbeitung und nach Beenden einer Aufgabe heraus. Die Untersuchung wurde im zweiten Teil durch die Videografie mit 40 weiteren Schülerinnen und Schülern im Alter von 9 bis 13 Jahren ergänzt. Wenig überraschend ist das Ergebnis, dass Schüler*innen mit einer hohen Lernzielorientierung, großem Interesse und einem guten Selbstkonzept die Aufgaben lösten und überwiegend zu Ende führten. Ein hohes Vorwissen konnte aber die Arbeit beeinträchtigen, wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler unterfordert fühlte. Ansonsten wurde dem individuellen Vorwissen nur eine geringe Bedeutung hinsichtlich der Emotionalität beim Arbeiten zugeschrieben. Desinteressierte Kinder mit einer negativen Lernzielorientierung und wenig Zutrauen zu den eigenen kognitiven Fähigkeiten erbrachten weniger gute Ergebnisse, brachen häufiger ab. Auch das Alter der Proband*innen wirkte sich auf die Fertigstellungen von Aufgaben aus. Jüngere Kinder beendeten ihre Aufgaben in geringerem Maße als ältere. Analog dazu sind einer hohen Lernzielorientierung bei Nicht-Unterforderung begleitende positive Emotionen zuzuschreiben. Aufgabenstellungen ohne Anleitungen wurden von leistungsorientierten Schüler*innen und Kindern mit Vorwissen gegenüber denen mit Anleitungen bevorzugt und besser bearbeitet. Schüler*innen, die Arbeit eher meiden, bevorzugten hingegen klare Aufgabenstellungen und waren auf ihren Lernzuwachs eher stolz und zufrieden. Dies sind positive Ergebnisse, die Handlungskrisen wie Schwierigkeiten, Desinteresse oder dem Fokussieren auf attraktivere Aktivitäten gegenübergestellt

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werden. Die Kosten für Zielverfolgung, Anstrengung und Durchhaltevermögen stehen dem Nutzen eines Zielabbruchs, Beenden von Unangenehmen und der Hinwendung zu Interessanterem entgegen. Lenz (2012) führte Fragebogeninterviews mit sieben Schülerinnen und Schülern im Alter von acht bis zwölf Jahren sowie mit deren Eltern und Lehrer*innen durch. Sie geht der Frage nach, wie die Kinder eigene Interaktionen mit der Schule und dem Elternhaus wahrnehmen und welche dieser Interaktionen als bedrohlich bewertet werden. Es werden Zusammenhänge zwischen schulischen Ängsten, der eigenen Wahrnehmung und den schulischen sowie häuslichen Interaktionen deutlich gemacht. Lenz stellt heraus, dass Ängste im Schulalltag sich negativ auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirken. Diese beziehen sich auf Leistung und Bewertung, das soziale Umfeld in der Schule, dem häuslichen Bereich und auf die eigene Person. Lenz sieht häufig bei Lernproblemen eine doppelte Überforderung, einerseits des Kindes, andererseits Erwachsener angesichts einer unbefriedigenden Lernleistung. Eltern und Lehrpersonen können eine wichtige Rolle im Prozess der Bewältigung von schulischen Problemsituationen einnehmen, indem sie Kinder zunächst unabhängig von schulischen und sozialen Leistungen respektieren und wertschätzen. Heranwachsende lernen am besten in einer Atmosphäre, in der sie eigene Bedürfnisse einbringen, Ängste äußern und Schwächen ohne Angst vor negativen Folgen zeigen können (ebd., S. 340). Die Überbetonung des Leistungsaspekts wird als ein gesellschaftliches Problem angesehen, das sich kontraproduktiv auf Schülerinnen und Schüler, die geringere Leistung zeigen, auswirkt. Kuhl, Völker und Hirschauer (2015) führten eine Fragebogenstudie mit über 300 Dritt- und Viertklässler*innen, deren Eltern und Lehrkräften über die Zusammenhänge von Begabung, Selbststeuerung, Leistung und Motivation durch. Die Bedeutung der Entwicklung von emotionalen Selbstkompetenzen und Prozessen der Handlungssteuerung wird für das schulische Lernen als bedeutend herausgestellt: Tabelle 3: Entwicklung emotionaler Selbstkompetenzen und Handlungssteuerung Fremdregulation

Selbstregulation

Erwachsene beruhigen, trösten, ermutigen, …

Das Kind kann sich selbst beruhigen, trösten, ermutigen, …

Erwachsene erkennen Ziele der Kinder, unterstützen Ziele, integrieren sie in tägliche Abläufe

Das Kind kennt seine Ziele, nähert sich den Zielen an, integriert sie in tägliche Abläufe

3. Stand der Forschung

Erwachsene geben Strukturen vor, unterstützen Problemlösungsprozesse, setzen stimmige Konsequenzen

Das Kind strukturiert sich selbst, sucht selbst nach Lösungen, beachtet Konsequenzen

Im Idealfall passen Bezugspersonen ihr Ausmaß an Fremdregulation dem Reifegrad des Kindes an und üben positive Verstärkung beim Prozess des Selbständig – Werdens aus. Ein Kind muss sich als selbstkompetent erleben, um seine Selbstkompetenzen entfalten zu können. Dabei stellen eine geringe Selbstkompetenz und ein jüngeres Alter eine Herausforderung für das Kind und Erwachsene dar, die hier sehr feinfühlig fremdregulieren sollen. Die Studie (ebd., S. 2650) zeigt im Ergebnis, dass x x x x x x x x x

x

Mädchen der Stichprobe mehr Freude beim Lernen empfinden als Jungen, Jungen der Stichprobe ehrgeiziger sind als Mädchen, eine hohe Freude am Lernen mit größer Konzentrationsfähigkeit einhergeht (und umgekehrt), großer Ehrgeiz mit geringerer Konzentrationsfähigkeit einhergeht (und umgekehrt), selbst empfundene Konzentrationsfähigkeit in keinem Zusammenhang mit der Lernfähigkeit steht, die Lernbegabung unabhängig ist von der Konzentrationsfähigkeit, der Lernfreude und dem Ehrgeiz, bessere Schulnoten bei einer höheren Begabung, besserer Konzentrationsfähigkeit und größerer Lernfreude erzielt werden, bessere Schulnoten nicht abhängig sind vom Ehrgeiz, der Konkurrenzorientierung und dem Leistungsstreben, es einen Zusammenhang gibt zwischen Lernfreude und positivem Lernverhalten, Annehmen von Herausforderungen, positiver Selbsteinschätzung, Emotionsregulation, guten Schulnoten, Konzentration und einem geringen Belastungsempfinden, es einen Zusammenhang gibt zwischen Ehrgeiz, einem ausgeprägten Leistungswillen, Konkurrenzorientierung (Zensuren), Prüfungsangst, Belastung durch Aufgaben, größerer emotionaler Belastung im Leben und starkem Wunsch nach Anerkennung.

Es wird herausgestellt (ebd., S. 56), dass sich eine sorgenvolle Leistungsorientierung der Eltern ungünstig auf leistungsbezogene Selbstkompetenzen der Kinder auswirkt. So würden beispielsweise eher kindliche Konzentrationsprobleme bei einer stärkeren Leistungsorientierung Erwachsener auftreten. Eine zuversicht-

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22

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liche Leistungsorientierung von Eltern hingegen stärkt und fördert kindliche leistungsrelevante Selbstkompetenzen. Für Aufsehen sorgte eine umfangreiche Metastudie Hatties (2015), der nach Durchsicht allen verfügbaren Datenmaterials im angloamerikanischen Raum eine Rangliste verschiedener Einflussfaktoren auf den Lernerfolg von Schüler*innen erstellte. Aus diesen berechnete er die sog. Effektstärke, einem Erfolgsfaktor für gelungenen Unterricht. Eine fortlaufend aktualisierte Rangliste mit ca. 250 Einflussgrößen ist im Internet einzusehen (Hattie, 2018). Demnach sind Faktoren wie die Fähigkeit, das eigene Leistungsniveau selbst einzuschätzen, das allgemeine Verhalten der Klasse, die Klarheit der Lehrkraft, bestimmte Lehr- und Lernstrategien, die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler*innen, die Visualisierung von Zielen und Peereinflüsse als hochwirksam einzuschätzen. Faktoren, wie z.B. jahrgangsübergreifende Klassen, die Klassengröße, Nachmittagskurse, Freiarbeit, Hausaufgaben und die Familienstruktur hingegen haben nur einen geringen Effekt auf den Lernerfolg. Für die hier durchgeführte Untersuchung ist die Rangliste allerdings eher von qualitativem Wert, denn angesichts individueller Lernstärken und –problemen einer Einzelfallbetrachtung ist es unerheblich, an welcher Position sich ein korrespondierender Faktor befindet. Sie kann hingegen Aufschluss darüber geben, ob es sich um ein häufiges oder eher seltenes Phänomen handelt.

3.1

Zusammenfassu ng

Zu Bedingungsfaktoren von Schulunlust und Lernbereitschaft bei Grundschülerinnen und Grundschülern aus ihrer Sicht ist bisher wenig geforscht worden. Als Faktoren von Schulangst, Demotivation, Schulunlust und dem Erbringen geringerer Leistungen sind mangelnde Kompetenzen, Lernschwierigkeiten, Probleme, die Peergroup und Personen im schulischen Umfeld betreffend, familienbedingte Ursachen, zu hohe Leistungsanforderungen, mangelnde Interpretationsfähigkeit von Lehrkräften und subjektiv als bedrohlich empfundene Situationen beschrieben worden. Joachim Sauer und Erich Gamsjäger (1996) gehen der Frage nach, ob Schulerfolg vorhersehbar ist und zeichnen ein Bild von fünf Schülertypen. Elterliche Anregung und Bestärkung sowie ein geringer Leistungsdruck wirken sich positiv auf das eigenständige Lernverhalten aus. Meier (2015) stellt fest, dass Kinder die Kosten der Zielverfolgung, Anstrengung und Durchhaltevermögen, dem Nutzen eines Zielabbruchs, dem Beenden von Unangenehmen und der Hinwendung zu Interessanterem, entgegensetzen. Lenz (2012) sieht die Überbetonung des Leistungsaspekts als gesellschaftliches Problem, das

3. Stand der Forschung

sich kontraproduktiv auf Schülerinnen und Schüler, die geringere Leistung zeigen, auswirkt. Sie fordert eine Atmosphäre, die eigene Bedürfnisse, Ängste und Schwächen ohne die Befürchtung negativer Folgen zulässt. Kuhl, Völker und Hirschauer (2015) betonen die Bedeutung der Entwicklung von emotionalen Selbstkompetenzen und Prozessen der Handlungssteuerung für das schulische Lernen. Sie prägen den Begriff der »feinfühligen Fremdregulation« Erwachsener. Bezugspersonen sollten idealerweise ihr Maß an Fremdregulierung dem Reifegrad des Kindes anpassen und positiv verstärkend wirken. Die Metastudie Hatties (2015) stellt diesbezüglich eine der umfangreichsten Untersuchungen im angloamerikanischen Raum dar. Er berechnet die sogenannte »Effektstärke« als Faktor erfolgreichen Unterrichts.

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4. Methodische Vorgehensweise 4.1

Die Erhebungsm ethode

Der qualitative Forschungsansatz bestimmt den Untersuchungsprozess dieser Forschungsarbeit. Er wurde gewählt, um ein umfassendes Bild von den Themen der Grundschüler*innen aufzeichnen und analysieren zu können. Ziel in der qualitativen Sozialforschung ist es, »Prozesse zu rekonstruieren, durch welche die soziale Wirklichkeit in ihrer sinnhaften Strukturierung hergestellt wird« (Lamnek, 2010, S. 30). Die Aussagen der Schüler*innen zu ihren schulischen Themen stellen einen Aspekt sozialer Wirklichkeit dar. Dieser soll hier untersucht und erklärt werden. Die Begriffe »interpretativ«, »naturalistisch«, »kommunikativ« und »qualitativ« beschreiben (vgl. ebd., S. 31f.) die besondere Art und Weise dieses Vorgangs. Diese durch Lamnek zusammengefassten Merkmale qualitativer Forschung haben folgenden Bezug zum aktuellen Forschungsgegenstand: x x

x x

»interpretativ«: Die schulische Realität der Schüler*innen soll durch Interpretation und Bedeutungszuweisung rekonstruiert werden. »naturalistisch«: Der Untersuchungsgegenstand ist im schulischen Umfeld lokalisiert. Es stellt einen Teil des alltäglichen, natürlichen Lebensraums der Schüler*innen dar. Zur Erfassung wird eine an das Umfeld angepasste Methode gewählt. »kommunikativ«: Die methodologische Vorgehensweise ist bestimmt durch den alltäglichen Kommunikationsprozess der Schüler*innen. »qualitativ«: Ein offener Zugang zum Forschungsfeld »Schule« wird durch nicht-standardisierte Methoden gewährleistet.

Ziel ist es, die subjektive Sichtweise der Kinder zum Forschungsgegenstand zu erfassen, ohne sie durch Vorgaben und verbal vorformulierte Anregungen zu beeinflussen. Bisweilen entwickelt sich eine themenbezogene Fragestellung erst im

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Verlauf des Interviews, dessen diesbezügliche Ausführungen sich als Daten der Untersuchung zuführen lassen. Dem qualitativen Forschungsansatz wird aus diesem Grunde der Vorzug gegenüber dem quantitativen gegeben. Die Erhebung der Daten erfolgte in der Form von Experteninterviews. Über diese besondere Form der Befragung wird ausgesagt: »Das besondere Erkenntnisinteresse und die herausgehobene Befragtengruppe sind die Spezifika des Experteninterviews« (ebd., S. 658). Die Schüler*innen stellen als Expert*innen die Hauptakteure dar, die einzig über das zu erforschende Wissen in allen Facetten verfügen. Die Heranwachsenden sind in Einzel-, Partner- und Gruppeninterviews zu ihren schulischen Themen befragt worden. Die Interviews folgten einem differenziert angelegten Leitfaden, dessen Verlauf sich in Abhängigkeit der Erzählinhalte auffächert. Er ist in Anlehnung an diesbezügliche Ausführungen der Sozialwissenschaftlerin Helfferich (2005, S. 158ff.) konstruiert worden. Nach den Gesprächen wurden interviewbegleitende Dokumentationen in Form von anonymisierten Personalbögen und Interviewprotokollen angefertigt. Wortwahl und Gesprächsführung sind dem Vokabular und Verständnis der Kinder angepasst worden (vgl. Krieger, 2008, S. 60).

4.2

Auswertungsm ethode

Für die Darstellung und Analyse der Themen der Grundschüler*innen wurde die Forschungsmethodologie der »Grounded Theory« (Strauss & Corbin, 1996) gewählt. Sie hat sich bereits, ebenso wie die zuvor beschriebene Erhebungsmethode für die Untersuchung von Niederlagen im Sportunterricht (ReimannPöhlsen, 2017), bewährt. Die Grounded Theory ist in unterschiedlichen Forschungsbereichen anwendbar, da ihre Verfahren an keine spezifischen Disziplinen gebunden sind. Die »Grounded Theorie« nach Glaser und Strauss (1967)

Die »Grounded Theory« ist ein Forschungsstil, der von den amerikanischen Soziologen Anselm Strauss und Barney Glaser entwickelt wurde. Sie wird als eine »qualitative Forschungsmethodologie« bezeichnet, weil sie sich aus verschiedenen ineinandergreifenden Kodierverfahren zusammensetzt. »Grounded« ist hier im Sinne von »begründet« zu verstehen. Ziel der »Grounded Theorie« ist die Analyse von Daten zum Zweck einer Theoriebildung nach intensiver Auseinan-

4. Methodische Vorgehensweise

dersetzung mit einem Forschungsgegenstand. Diese wird aus der Analyse der erhobenen Daten induktiv und deduktiv abgeleitet. Der deduktive Aspekt leitet sich daraus ab, dass in der hier vorgenommenen Studie die Forschungsfrage zu Beginn im Fokus steht, dann die Datenerhebung, Auswertung und die Erstellung einer Theorie erfolgt. Die Forschungsfrage sollte zunächst offen gehalten sein, weil im Laufe der Datenerhebung und Analyse zu erwarten ist, dass sich weitere Fragestellungen und Hypothesen entwickeln. Das zentrale Phänomen des Forschungsbereichs kann durch diese Vorgehensweise herausgearbeitet, weiter konkretisiert und expliziert werden. Der deduktive Anteil ergibt sich aus dem Hinzuziehen bestehender Theorien und diesbezüglich erforschter Daten, die sich zum Vergleich eignen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede können herausgestellt, Ergebnisse unterstützt, differenziert oder widerlegt werden. Es ist eine »theoretische Sensibilität« (Strauss & Corbin, 1996, S. 25) bezüglich des zu untersuchenden Phänomens seitens der Forschenden vonnöten. In der Datenerhebung muss Wichtiges von Unwichtigem unterschieden werden können, um zu Einsichten und Erkenntnissen zu gelangen. Unterstützt werden kann dieser Prozess durch Hinzuziehen unterschiedlicher geeigneter Quellen. Diese können z.B. literarischer Art oder auch persönliche und berufliche Erfahrungen sein. »Erst die theoretische Sensibilität erlaubt es, eine gegenstandsverankerte, konzeptuell dichte und gut integrierte Theorie zu entwickeln« (ebd., S. 25). Die Erhebung der Daten und ihre Analyse erfolgen wechselseitig. Das »theoretische Sampling«, die Auswahl der Datenquellen, »erfolgt auf der Basis von Konzepten, die eine bestätigende theoretische Relevanz für die sich entwickelnde Theorie besitzen« (ebd., S. 148). Aus den gewonnenen Erkenntnissen gehen oftmals neue Fragestellungen hervor, die weiteren Erhebungen zugrunde liegen. Die auf diese Weise verdichteten Daten stehen im Anschluss einer Theoriegenerierung zur Verfügung. Der Forschungsprozess gilt dann als abgeschlossen, wenn keine weiteren erkenntnisbringenden Informationen mehr vorhanden sind und damit »eine theoretische Sättigung der Kategorien erreicht ist« (ebd., S. 165). Das »offene Kodieren« ist der erste Analyseschritt innerhalb der Grounded Theory, in dem konzeptionelle Bezeichnungen unterschiedlichen Phänomenen zugewiesen und hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Dimensionen bestimmt werden. Die Zuordnung zu korrespondierenden Kategorien erfolgt im nächsten Schritt. Anschließend werden Subkategorien durch das »axiale Kodieren« zueinander in Beziehung gesetzt und zusammengefasst. Jede Kategorie kann auf diese Weise in ihrer eventuellen Vielfalt durch sog. »Muster« dargestellt werden.

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Dies erfolgt parallel zu weiteren offenen Kodiervorgängen. Das »Paradigmatische Modell« ist das Werkzeug zur Herausarbeitung jeder Kategorie. Im Folgenden wird dies in vereinfachter Weise dargestellt (ebd., S. 78): x x x x x x

(A) ursächliche Bedingungen Î (B) Phänomen Î (C) Kontext Î (D) intervenierende Bedingungen Î (E) Handlungs- und interaktionale Strategien Î (F) Konsequenzen

Das »Phänomen« (B) ist der zentrale Gegenstand oder ein Ereignis, um das es in dem Forschungsvorhaben geht. Seine Erfassung geschieht mittels der Analyse der Eigenschaften und dimensionalen Ausprägungen in einem Kontext (C). Informationen werden in einen Kontext mit ursächlichen Bedingungen (A), begründete Ursachen der Entstehung, gestellt. »Intervenierende Bedingungen« (D) fließen als Ereignisse oder Umstände in das Geschehen in handlungsfördernder oder beschränkender Weise ein. Schließlich stellen »Handlungs- und interaktionale Strategien« (E) den Umgang mit dem Phänomen oder die Art seiner Bewältigung dar. Bisweilen resultiert aus den Handlungen eine Konsequenz (F), als »prozessual« und »zielgerichtet« bezeichnet (vgl. ebd., S. 83), wenn sie erfolgt. Frei äußert sich über die Sinnhaftigkeit des Paradigmatischen Modells in folgender Weise: »Erst die Frage nach Bedingungen, Kontexten, Strategien und Konsequenzen verleihen einem in den Daten entdeckten Konzept eine kategoriale Tiefe, so dass einer Ebene der Paraphrasierung und Vorläufigkeit eine solche der Theoriegeleitetheit folgt« (2005, S. 65). Kodiervorgänge, die auf diese Weise durchgeführt worden sind, bilden eine Grundlage für das nachfolgende selektive Kodieren. Durch das In-BeziehungSetzen aller Kategorien wird die Kernkategorie, eine allesumfassende Kategorie, entwickelt. Die Forscherin oder der Forscher erhält nun das Bild einer Pyramide, von deren Spitze aus, der Kernkategorie, sich Kategorien und ihre Muster auffächern. Das Vorgehen ist dem des axialen Kodierens ähnlich. Es erfolgt allerdings auf einem höheren und abstrakteren Niveau. Der sog. »Rote Faden« (vgl. Strauss & Corbin, 1996, S. 96ff.) unterstützt diesen Vorgang durch das Zusammenfassen der Ergebnisse in Form einer Geschichte. Zum Prozess des Ausarbeitens gehört ihre Übersetzung in eine »analytische Geschichte« (ebd., S. 117). Als abgeschlossen gilt der Analysevorgang, wenn alle kategorialen Beziehungen zueinander überprüft worden sind und in einem angemessenen Kontext zueinander stehen.

4. Methodische Vorgehensweise

Mögliche Lücken gilt es mittels letzter Datenerhebungen zu füllen. Dem Forscher erschließt sich jetzt ein Bild des Phänomens, dem alle bekannten wirkenden Faktoren, zueinander in Beziehung stehenden Komponenten und Wechselwirkungen zu entnehmen sind. In der nachfolgenden Theoriebildung, dem Herzstück des Forschungsprozesses, präsentiert die Forscherin oder der Forscher auf der Kernkategorie basierende aktuelle Ergebnisse. Die Theorie, oft in einem Modell festgehalten, stellt die Aufarbeitung der Daten in forschungseigener »Handschrift« dar.

4.3

Beschreibung d er Stichprob e

An der Untersuchung nahmen 47 Schüler*innen teil. Davon waren N=23 Schülerinnen und N=24 Schüler. Alle besuchten im Untersuchungszeitraum die Schulklassen 1-4 einer Grundschule des Kreises Stormarn in Schleswig Holstein. Es sind 30 Befragungen in Form von Einzel-, Gruppen- oder Partnerinterviews durchgeführt worden. Innerhalb dieser lieferten 51 personenbezogene Episoden die zur Verfügung stehenden Daten zu den schulischen Themen. Einige Schüler*innen haben sich ein zweites Mal einer Gruppe angeschlossen und Aussagen zu Themen gemacht, die aktuell ihren Schul(all)tag bestimmen. Unter den sechsbis achtjährigen nahmen neun weibliche und elf männliche, unter den neun- bis elfjährigen zwölf weibliche und ebenso viele männliche Schüler*innen teil. Zu den Befragungen wurden jeweils Rücksprachen mit den jeweiligen Lehrkräften und einigen Elternteilen geführt, die Angaben durch ihre Sichtweisen komplettieren und validieren konnten. Während die jüngsten Schüler*innen aufgrund ihrer kürzeren Verweildauer in der Schule überwiegend aktuelle Themen ansprachen, schöpften insbesondere die älteren auch aus ihrem reichhaltigeren Erinnerungsschatz. Daher reflektierten einige der Älteren spontan über Themen, die auch zurückliegende Klassenstufen betrafen. Diese waren zum Teil einerseits abgeschlossen, andererseits besaßen sie aber auch über die Zeit bis zur Befragung Gültigkeit. Zurückliegende Themen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Schüler*innen in besonderem Maße berührt haben und von subjektiv empfunden hoher Brisanz sind. In derartigen Aussagen Heranwachsender spiegelt sich das Erleben einer Situation oder Vorkommnisses zum Zeitpunkt des Stattfindens durch eine reifere und bereits reflektierte Sichtweise wider. Bei den jüngsten Schüler*innen hingegen stehen altersspezifische Erzählperspektive und Erzählinhalt ausschließlich in einem engeren zeitlichen Zusammenhang.

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Um ein möglichst breites Spektrum an individuell unterschiedlich geprägten Aussagen zu erhalten, ist im Zuge des theoretischen Samplings nach folgenden Kriterien unterschieden worden: x

x x

x

x

x

x

x

Alter: Es wurden Kinder aus allen vier Klassenstufen befragt. Dabei ist hinsichtlich des Reifegrades der Schüler*innen berücksichtigt worden, dass sich die Anzahl der jüngeren (sechs bis acht Jahre) und älteren (neun bis elf Jahre) die Waage hält. Gender: Die Befragungen wurden unter der Vorgabe des Gleichgewichts von weiblichen und männlichen Teilnehmer*innen durchgeführt. Schullust oder Frustration: Durch Beobachtungen und Aussagen ihrer Lehrkräfte konnten Schüler*innen für Befragungen gewonnen werden, die gerne zur Schule gehen oder eine diesbezüglich ausgeprägte aversive Haltung entwickelt haben. Offenheit, Verschlossenheit: Während kontaktfreudige und offene Schüler*innen sich sofort zu einem Interview bereit erklärten, konnten auch Heranwachsende, die sich in den Aussagen ihrer Lehrkräfte oder während eigener Beobachtungen zumeist still verhielten und einen schüchternen Eindruck machten, ermutigt werden, sich zu ihren Themen zu äußern. Im Verhalten impulsiv oder ausgeglichen: Aufgrund der Aussagen ihrer Lehrkräfte oder eigener Beobachtungen konnten Schüler*innen für Interviews gewonnen werden, die sich einerseits im Verhalten durch Temperament und Impulsivität, andererseits durch Ruhe und Ausgeglichenheit auszeichneten. Positive oder negative soziale Kontakte innerhalb der Peergruppe: Während einige Heranwachsende befragt wurden, die gute soziale Kontakte zu anderen Mitschüler*innen pflegten, äußerten sich andere, die sich im Umfeld der Schule eher alleine bewegten oder Probleme im Umgang mit Peers hatten. Positive oder negative Haltung zu schulbezogenem Handeln und Wirken Erwachsener: Es wurden Schüler*innen befragt, auf die Persönlichkeit, Vorgaben und Einstellungen von Lehr- und Erziehungspersonen besonders positiv oder negativ wirkten. Häusliche und familiäre Bedingungen: Innerhalb dieser Kategorie wurde darauf geachtet, Schüler*innen unterschiedlicher häuslicher oder familiärer Bedingungen zu befragen. Als besondere sind hier Migrationshintergründe oder Heimunterbringung zu nennen.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

In diesem Kapitel werden die Themen dargestellt, die für befragte Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihres Schulalltags relevant sind. Damit setzen sich die Heranwachsenden in besonderem Maße auseinander. Sie beeinflussen Gedanken und Handeln in positiver oder negativer Weise bereits, bevor sie morgens in der Schule ankommen. Zum einen sind dies Inhalte, die sich positiv auf die Motivation, zur Schule zu gehen und zu lernen, auswirken. Zum anderen müssen aber auch solche Gegebenheiten zur Kenntnis genommen werden, die Heranwachsenden den Schulbesuch erschweren, mitunter auch verleiden und letztlich ein Lernhemmnis darstellen.

5.1

Unterrichtsinhalte

Aktuelle Ereignisse stellen einen Themenbereich voller Brisanz dar. Sie wecken umso mehr das Interesse, je größer die persönliche Betroffenheit ist. Bietet der Unterricht Möglichkeiten, hier anzuknüpfen, dürfte sich das positiv auf das Lernklima auswirken. Ein Unterrichtsthema kann durch die Verbindung eines Kindes zur realen Umwelt motivieren. Das Anknüpfen an persönlichem Interesse, das sich mehr auf die individuellen Neigungen und Anknüpfungspunkte eines Kindes bezieht, stellt eine vergleichbare motivationale Situation dar. Diese ist beispielsweise durch ein Hobby oder ein tägliches häusliches Ritual gegeben. Als eine Art von Anknüpfungspunkt werden hier auch fachübergreifende Themen angesehen.

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5.1.1 Dimensionierung und Musterbildung: Darstellung und Interpretation Abbildung 1: Dimensionierung »Unterrichtsinhalte«

Die Abbildung zeigt, dass die Motivation, sich mit Unterrichtsinhalten zu beschäftigen, mit dem Finden von Anknüpfungspunkten in Form von Realitätsbezug, persönlichem Interesse oder in fächerübergreifend hergestellten Bezügen steigt. Bei den konkreten Ankerbeispielen M1, M2 und M3 gehen große persönliche Betroffenheit und eine hohe Lernmotivation einher. Je mehr Berührungspunkte eine Schülerin oder ein Schüler zwischen dem Lerngegenstand und seinem realen Leben erkennen kann, desto positiver wirkt es sich auf das Lernverhalten aus. Gleiches lässt sich über das persönliche Interesse sagen. Während Letzteres bereits vorhanden sein kann, wird der Realitätsbezug beim Einstieg in ein Thema hergestellt. Die Muster dieser Kategorie lauten: x Muster 1: Realitätsbezug »Ich find halt so die Sachen am Meer schön, weil ich ganz oft im Wasser sein kann.« (Lisa, 9 J.) x Muster 2: Persönliches Interesse »Ich habe manchmal das Gefühl, ich könnte noch viel mehr machen.« (Kyra, 9 J.)

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

x Muster 3: Fächerübergreifende Themen »Das ist ein Mädchen zu meiner Deutscharbeit ›Dieb im Baumhaus‹.« (Tina, 8 J.) Muster 1: Realitätsbezug − Lisa, 9 J., 22.2.2018 L: Ich denke immer beim Frühstück an die Hausaufgaben wegen Mathe, weil wir da immer Sterne kriegen. Die Lehrerin malt sie immer auf, und wenn wir halt laut sind und irgendwie reinrufen, dann geht einer weg. Und wenn die weg sind, bekommen wir viele Hausaufgaben auf. Wir kriegen die Sterne nur Freitag. Ich wollte heute mehr spielen, weil ich gestern erst um 3 zu Hause war, dann noch Deutsch Hausaufgaben und etwas für den Sachunterricht gemacht habe, und weil meine Schwester mich die ganze Zeit geärgert hatte […] und ich das dann ganz doof fand. Und deswegen habe ich die Befürchtung, dass wir heute viele Mathehausaufgaben aufkriegen. I:

Woran arbeitest du zurzeit gerne?

L: Gerade arbeite ich gerne für den Sachunterricht. Da suche ich vielleicht heute noch was raus. Ich find halt so die Sachen am Meer schön, weil ich ganz oft im Wasser sein kann, weil ich auch Schwimmtraining habe und wir oft an der Ostsee sind, weil wir Dauercamper sind.

Die Befragte wurde an einem Freitag interviewt. Ihr ist es sehr wichtig, dass an diesem Freitagnachmittag genügend Spielzeit zur Verfügung steht. Am Tag davor war dies nicht der Fall. Ein langer Schultag bis 3 Uhr, anschließende Hausaufgaben und ein Streit mit der Schwester ließen ihr weniger Zeit zum Spielen als gewünscht. Bemerkenswert ist, dass sie trotz der Aussicht auf einen freien Spielnachmittag erwägt, für die Schule zu arbeiten. Sie begründet dies mit ihrer Affinität zum Schwimmen und zur Ostsee. Lisa sieht eine Verbindung zwischen dem Lerngegenstand und ihrem außerschulischen Leben. Mithilfe dieser imaginären Brücke gelingt es ihr, die sonst bestehende Kluft zwischen Schule und außerschulischer Welt freiwillig und ohne äußeren Lernstress, zu überwinden. Der Schülerin Heidi, 9 J., ergeht es ebenso: »Am Mittwoch da war Sachunterricht, und darauf habe ich mich gefreut, weil wir ein tolles Thema hatten. Kyra und ich arbeiten an einem Buch für die Klassenfahrt.« Der persönliche, reale Zugang zu einer Schulaufgabe erfüllt diese mit subjektiver Bedeutung, Aktualität und Wichtigkeit. Daraus ergeben sich ideale Lernbedingungen für beide Schülerinnen.

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Muster 2: Persönliches Interesse − Kyra, 9 J., 22.2.2018 K: Ich freue mich immer auf Religion, und wenn wir in Deutsch ein schönes Thema haben, freue ich mich auch darauf. In Religion dürfen wir ganz viel malen. Die Lehrerin baut da immer ein Bodenbild auf und spielt damit was vor. Das macht mir ganz, ganz viel Spaß. Geschichten schreiben hat mir in Deutsch ganz viel Spaß gemacht. Ich habe manchmal das Gefühl, ich könnte noch viel mehr machen.

Die Befragte Kyra hat eine Vorliebe für gedankliche Reisen in fremde und fantastische Welten. Sie zeigt daher auch im Religionsunterricht großes Interesse an der Aufarbeitung von Bibelgeschichten. Zu Hause wurde regelmäßig vorgelesen, später gemeinsam gelesen. Mit dem Erwerb der eigenen Lesefähigkeit gewann die Drittklässlerin zunehmend an Selbständigkeit im Umgang mit Kinderliteratur und eigenen Textproduktionen. Im Fall dieser Schülerin ist es ersichtlich, dass insbesondere das persönliche Interesse an gehörten oder selbst erdachten Geschichten ihren Lernerfolg in Bereichen wie Religion, Lesen, Malen und Textproduktion positiv beeinflusst. Zu erwähnen ist eine dem entgegenstehende unausgereifte Rechtschreibung1, welche die Motivation der Befragten jedoch nicht im Geringsten negativ beeinflusst. Das persönliche Interesse an den inhaltlichen Themen überwiegt und ist derart ausgeprägt, dass die qualitativ sehr hochwertigen Aufsätze auf die Bereitschaft, in diesem Bereich auch freiwillig intensiv zu arbeiten, zurückzuführen ist. Muster 3: Fächerübergreifende Themen − Tina, 8 J., 2.3.2018 T: Am Donnerstag habe ich mich auf Kunst gefreut, aber das ist dann ja ausgefallen, und das fand ich ein bisschen doof. Dass wir einen Helden der Geschichte machen, das finde ich toll. Lotta, das ist ein Mädchen zu meiner Deutscharbeit »Dieb im Baumhaus«. Da haben wir Geschichten geschrieben, und das fand ich auch ganz toll, weil man sich dann immer mehr Sachen ausdenken konnte. Das Bild hänge ich dann vielleicht in mein Zimmer, und dann sage ich: »Das war mal ein Held.«

Die Schülerin Tina beschreibt eine Schulaufgabe, die sie in zwei Fächern ausführt, im Deutsch- und Kunstunterricht. Sie ist mit großer Freude dabei. Zum 1

Derartige Hinweise sollten zu einer Überprüfung auf eine mögliche Lese-Rechtschreibschwäche führen.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

einen schreibt sie gerne Geschichten, weil sie sich »Sachen ausdenken« kann. Zum anderen darf sie im Kunstunterricht daran weiterarbeiten. Sowohl im Deutschunterricht, als auch im Kunstunterricht hat sie jeweils einen bekannten Punkt, an den sie voller Freude anknüpfen kann. Ein stündlicher Themenwechsel im Schulvormittag hingegen wirkt sich auf das Lernverhalten einiger Kinder ungünstig aus. Jede Stunde erfordert eine gedankliche Trennung und Umstellung von einem Thema auf ein anderes. Insbesondere die motivationale Umstellung ist vergleichbar mit einem Motor, der ständig neu gestartet werden muss. Das kann, besonders bei kleineren Kindern, auch ermüdend wirken. Stolz schlägt die Befragte eine Brücke zwischen der Schule und ihrem Zuhause, indem sie »ihren« Helden dort an die Wand hängen will. Sie identifiziert sich mittlerweile mit dem Thema und hat, motivational betrachtet, sehr gute Lernvoraussetzungen. 5.1.2 Zusammenfassung Die Kategorie »Unterrichtsinhalte« beinhaltet die Muster »Realitätsbezug«, »Persönliches Interesse« und »Fächerübergreifende Themen«. Beim Aufnehmen neuer Unterrichtsinhalte ist es förderlich, dem Kind Anknüpfungspunkte an sein reales Leben zu bieten. Das erhöht die Bedeutsamkeit des Lernens im Sinne des Sprichworts: »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.« Der Lerngegenstand geht einher mit der Aussicht auf einen praktischen Nutzen für die Schüler*innen, was im Fall der Befragten zur Erhöhung der Lernmotivation führte. Dies ist bedingt auch auf die Muster »Persönliches Interesse« und »Fächerübergreifende Themen« übertragbar. Eine Vorliebe für ein Thema ist gleichsam ein Anknüpfungspunkt an eine subjektiv empfundene persönliche Bedeutsamkeit, die ein Ansporn zum Arbeiten darstellt und »beflügelt«. Seitens der Schule dargebotene Anknüpfungspunkte innerhalb des Schulvormittags bieten auch Inhalte, die in unterschiedlichen Fächern aufbereitet werden. Als ein wirkender Mechanismus wird hier gesehen, dass Kinder sich bei diesem Modell in geringerem Maße motivational auf unterschiedliche Themen umstellen müssen.

5.2

Umgang mit Schulmaterial

Oftmals ist es die Beschaffenheit des Handwerkzeugs, das am Gelingen eines Projekts maßgeblich beteiligt ist. Der Schüler Max äußert sich diesbezüglich über seine Messwerkzeuge:

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Das [Geodreieck] macht eigentlich mehr Spaß als das Lineal. Ich habe so ein Biegelineal, und das ist schon ganz verbogen, so ganz labberig. Wenn ich es so halte, biegt es halt nach unten, und man kann nicht mehr messen. Es ist durchsichtig – war es mal. Es ist ein bisschen zerkratzt. Es ist auch Jahre alt, von meinem Bruder in der ersten Klasse. Man erkennt die Zahlen nicht mehr. (Max, 9 J.)

Das Lineal ist keine inspirierende Hilfe mehr. Für dieses Muster ist jedoch nicht nur die Qualität primär ausschlaggebend, sondern das angenehme Gefühl, dass es subjektiv beim Benutzen auslöst. Ein Arbeitsmaterial kann einen hohen Aufforderungscharakter haben, wenn es gefällt. 5.2.1 Dimensionierung und Musterbildung: Darstellung und Interpretation Abbildung 2: Dimensionierung Umgang mit Schulmaterial

Das Arbeitswerkzeug kann, ob es beim Lernprozess primär im Vordergrund steht oder nicht, einen hohen Aufforderungscharakter haben und das Lernen begünstigen. Je mehr ein Kind dem Arbeitsmaterial zugetan ist, desto größer ist die Motivation, (damit) zu arbeiten (M1, M2). Ein langweiliges Arbeitsmaterial würde, wenn es eine Schülerin oder einen Schüler demotiviert, im Schaubild links unten angesiedelt werden. Folgende Muster ergeben sich aus der Analyse der Interviews:

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

x Muster 1: Das eigene Equipment »Das liegt an dem Gold.« (Heidi, Kyra, Lisa, 9 J.) x Muster 2: Schulausstattung »Wir machen da Sachen mit den Tabletts.« (Daniel, 8 J.) Muster 1: Das eigene Equipment − Heidi, Kyra, Lisa, 9 J., 22.02.2018 H: Ich habe mich am Montag ganz doll auf die Schule gefreut, weil ich eine neue Federtasche hatte. Ich arbeite gerne mit der. Ich arbeite mehr. In Deutsch habe ich nicht eine Seite geschrieben, sondern zwei. Ich habe mehr Lust zu schreiben. Das liegt an dem Gold. K: Als ich die neue Federtasche am Ende der zweiten Klasse bekommen habe, da habe ich mich richtig gefreut auf die Schule. Sonst freue ich mich nicht so auf die Schule. Weil da neue Sachen drin sind, habe ich irgendwie mehr gearbeitet, hatte ich das Gefühl. Mir hat es mehr Spaß gebracht, damit zu arbeiten. L: Als ich meine neue Federtasche bekommen habe, habe ich mich auch richtig gefreut aufs Arbeiten, und ich habe auch mehr gearbeitet.

Als die Drittklässlerin Heidi auf ihre neue Federtasche zu sprechen kommt, pflichten die beiden Klassenkameradinnen ihr sofort bei. Die neuen Schreibutensilien lösten bei den Mädchen ein gleichermaßen erhöhtes Bedürfnis aus, diese zu benutzen. Der Vorgang des Lernens und Arbeitens wird hier als Mittel zum Zweck der Benutzung der neuen Federtaschen untergeordnet. Im Ergebnis ist aber die Dauer, mit der sich die Mädchen der Aufgaben gewidmet haben, größer als ohne die neuen Utensilien. Auch die Lern- und Arbeitsfreude beschrieben die Kinder als erhöht. Dabei scheinen zwei Aspekte von Bedeutung zu sein. Zum Einen die Funktionalität und zum Anderen die Ästhetik (Das liegt am Gold.) In allen Bereichen des Lebens kann neues und hochwertiges Material zum Handeln motivieren: Neue Laufschuhe zum Laufen, ein neues Fahrrad zum Radfahren, ein Ball zum Werfen, Prellen und Spielen usw. Roland Ullmann prägte den Begriff »Objektempathie« (2017, S. 118ff.) für Materialien im Sportunterricht, der sich hier auch treffend anwenden lässt. Er betont, dass Objekte bei Kindern und Jugendlichen Gefühlsbewegungen auslösen, die ihre Lernmotivation beeinflussen. Muster 2: Schulausstattung − Daniel, 8 J., 26.3.2018 D: Es gibt auch Fächer, die ein bisschen leichter sind, zum Beispiel Musik. Wir machen da Sachen mit den Tabletts. Wir brauchen zwei Partner oder drei. Dann

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stellen wir das Tablett auf den Boden. Dann müssen wir erst mal diese Tanzschritte angucken, die auf dem Tablett angezeigt sind. Da müssen wir die dann nachtanzen.

Der Schüler Daniel unterscheidet im Interview »leichte« und »schwere« Fächer. Im Verlauf des Gesprächs stellt sich heraus, dass »leicht« auch mit guten und mittleren, »schwer« hingegen mit weniger guten Ergebnissen einhergeht. Er arbeitet gerne mit dem Tablett und erzielt hier gute Ergebnisse, weil es als Medium für ihn einen hohen Aufforderungscharakter hat. Hier lernt der Befragte nicht nur den Unterrichtsinhalt der Musikstunde, sondern auch den Umgang mit dem Medium. Zunächst kann der Befragte seine Neugier und das Interesse an dem Objekt befriedigen, dann im Handeln ein Lernziel persönlich erfolgreich abschließen. Auch hier regt das Arbeitsmittel den Lernvorgang an. 5.2.2 Zusammenfassung Elternhaus und Schule sorgen für die Ausstattung des Kindes. Bisweilen ist die Affinität zu neuen Gebrauchsgegenständen und bestimmtem Schulmaterial hoch. So kann eine schöne Federtasche oder ein goldfarbener Stift Schüler*innen dazu anregen, mehr zu arbeiten. Es beschert ihnen zunächst nicht mehr als ein subjektiv empfundenes tolles Gefühl. Doch mit dem Gebrauch des Werkzeugs wird schließlich gearbeitet und das tolle Gefühl überträgt sich gleichsam auf den aktuellen Lerngegenstand. Verschlissenes und in der Funktion bereits eingeschränktes Material wie das vom Schüler Max beschriebene Lineal dürfte diese anregende Eigenschaft lange verloren haben und dem Lernen kaum noch förderlich sein. Seitens der Schule verwendetes Material kann im selben Maße die Lernmotivation steigern. Der Einsatz der hier beschriebenen Tabletts umfasst zwei Ziele bzw. Kompetenzen: den sachgerechten Umgang mit dem Medium und das Lernen eines Tanzes. Der hohe Aufforderungscharakter des Mediums zieht die Aufmerksamkeit auf das primäre Lernziel nach sich. Es ist anzunehmen, dass die Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft der Kinder durch den Einsatz ansprechender und anregender Gegenstände erhöht wird.

5.3

Rahmenb edingungen

Die Muster ergeben sich aus Schulprofilen, die den schulspezifischen Rahmen für den Unterricht einer jeden Schule festlegen.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

Diese Kategorie berührt u.a. zwei kontrovers diskutierte Fragen: Sind Zensuren und Hausaufgaben in der Grundschule noch zeitgemäß? Ein Urteil soll hier nicht gefällt werden. Vielmehr geben die Aussagen der Kinder Anlass zu bedenken, dass eine Schulklasse aus unterschiedlichen Individuen besteht und dementsprechend unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse befriedigt werden müssen. 5.3.1 Dimensionierung und Musterbildung: Darstellung und Interpretation Abbildung 3: Dimensionierung »Rahmenbedingungen«

Das Schaubild bildet Stressfaktoren in Zuordnung zu vier möglichen Quadranten ab, denen einige Kinder angesichts der Rahmenbedingungen ihrer Schule ausgesetzt sind. Es sollen aber hier keine Hinweise auf die Intensität der Faktoren entnommen werden. So sind die Muster der Ankerbeispiele M1a, M2a, M2b, M3a und M3b dem Quadranten zugeordnet, der bei Kindern negative Emotionen wie Ängste unter Stress darstellt. Das Muster M1b ist dem Feld zugeordnet, das die Eigenschaften »Positive Emotionen« und »Entspannung/Ansporn« hat. Die Kategorie »Rahmenbedingungen« lässt sich in folgenden Mustern darstellen: x Muster 1a: Zensuren, Stress »Ich habe immer Angst vor Arbeiten und Tests.« (Lia, 9 J.) x Muster 1b: Zensuren, Selbstbestätigung »Dass ich gut bin.« (Lennard, 9 J.)

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x Muster 2a: Hausaufgaben »Habe ich etwas vergessen?« (Lotta, 9 J.) x Muster 2b: Hausaufgaben »Ich würde eigentlich lieber draußen sein.« (Jannis, 9 J.) x Muster 3a: Unterrichtsbeginn »Ich bin noch ziemlich müde.« (Fritz, 9 J.) x Muster 3b: Unterrichtsbeginn »Manchmal vergisst Papa, den Wecker zu stellen.« (Jannis, 9 J.) Die Ankerbeispiele der Muster M1 und M2 werden gemeinsam beschrieben, um zwei gegensätzliche Ansichten vergleichen zu können. Muster 1a: Zensuren, Stress – Lia, 9 J., 23.3.2018 L: Ich habe immer Angst vor Arbeiten und Tests. Dann habe ich immer Angst, dass ich die Wörter, oder was das auch immer ist, nicht kann. I:

Wie ist dir das bei der letzten Arbeit ergangen?

L: Ich hatte halt Angst, dass ich so viele Rechtschreibfehler habe und dass die Schrift nicht so gut ist. Ich hatte mir wehgetan und konnte nicht so gut schreiben. Dann hatte ich Angst davor, dass das nicht so schön ist. Ich hatte Angst, dass ich eine schlechte Note bekomme. Vor Mathearbeiten habe ich auch immer Angst. In Deutsch habe ich eine Zwei gehabt im Zeugnis und in Mathe eine Eins. Ich muss Deutsch verbessern, finde ich.

Muster 1b: Zensuren, Selbstbestätigung – Lennard, 9 J., 6.3.2018 I:

Worauf hast du dich heute gefreut?

L: Auf Mathe, wegen der Arbeit. Dass ich gut bin. I:

Welche Note hattest du im Zeugnis?

L: Eine Eins. I:

Wie hast du für die Arbeit geübt?

L: Mit Arbeitsblättern. Zu Hause ein bisschen geübt und dann noch einmal das große Einmaleins durchgegangen. Alleine.

Beide Befragte, sowohl Lia, als auch Lennard, weisen gute und sehr gute Noten auf. Während für Lennard Noten insbesondere in Mathematik positiv besetzt sind, lösen sie bei Lia in allen Fächern Ängste und Unwohlsein aus. Lennard sieht sich durch erarbeitete Zensuren in seinem Können und seinen Fähigkeiten

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

bestätigt. Sie wirken wie eine Belohnung, die freudig und mit Spannung erwartet wird. Es wirkt positiv auf sein Selbstbewusstsein. Auffällig ist, wie häufig die Schülerin Lia den Begriff »Angst« gebraucht. Noten wirken auf sie bedrohlich. Obwohl sie eine gute Schülerin ist, hat sie für sich bisher das Ziel, auch in Deutsch eine Einserschülerin zu sein, nicht erreicht. Dies mag, besonders für Kinder mit weniger guten Noten, kaum nachvollziehbar sein. Doch es zeigt, dass Leistungsängste nicht nur für Kinder mit schlechteren Leistungen existent sind, sondern alle Niveaus betreffen. Im Resultat besteht für beide Kinder die Lernmotivation, zumindest anteilig, in dem Wunsch nach sehr guten Noten. Insofern ist die Notengebung für Lennard uneingeschränkt positiv zu beurteilen. Für Lia ist dies differenzierter zu betrachten. Noten spornen sie zu Leistungen an und lassen sie mindestens gute Ergebnisse erzielen. Dennoch fühlt sie sich sehr unwohl damit. Das wirft die Frage auf, ob die Schülerin gewünschte Leistungen auch ohne Notendruck erzielen könnte. Die Frage ist hypothetisch, dennoch lässt sich feststellen, dass es hier für viele Individuen, wie sie schon in einer Klassengemeinschaft auftreten, keinen »Königsweg« gibt. Muster 2a: Hausaufgaben − Lotta, 9 J., 8.3.2018 I:

Hattest du heute Morgen Gedanken an die Schule?

L: Eher schlechte. Ich denke oft abends und morgens daran: »Mist, hatte ich jetzt noch Hausaufgaben? Habe ich etwas vergessen?« Oft ist das bei mir so. Heute habe ich darüber nachgedacht, ob ich vielleicht noch etwas in Mathe aufhatte. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich dann Ärger bekomme. Das möchte ich halt auch nicht. Frau H. Ist schon ein bisschen sauer, weil es oft viele sind und immer die Gleichen.

Die Schülerin Lotta verspürt einen Druck, der einerseits durch die Praxis des Aufgebens von Hausaufgaben und andererseits durch die Lehrkraft ausgelöst wird. Sie beobachtet im Unterricht die Reaktion der Lehrerin auf nicht gemachte Hausaufgaben. Diese bewertet sie derart für sich, dass die hypothetische Situation, selbst in diese Lage zu geraten, Ängste auslöst. Diese muss man in ihrer Intensität mit hoch bewerten, da dieses Thema die Drittklässlerin häufig sowohl abends, als auch morgens beschäftigt. Hinzugefügt sei hier, dass die Schülerin gute und sehr gute Leistungen erbringt und zuverlässig arbeitet. Nicht wenige Kinder äußerten sich in dieser Art: »Dann zittere ich immer ganz doll in der Schule. Als ich hier in der Schule angekommen bin, habe ich wegen Englisch gezittert« (Kyra, 9 J.). Hingegen gibt es diesbezüglich auch positive Stimmen: »Zu Hause finde ich es [das

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Lernen, d. Verf.] immer am schönsten, weil es die gewohnte Umgebung ist. Wenn ich zu Hause noch Hausaufgaben machen muss, dann ist immer noch Mama da« (Larissa, 8 J.). Als Fazit gilt: Hausaufgaben können bisweilen, je nachdem, wie diese subjektiv bewertet werden, ein nicht unerheblicher Stressfaktor für die kindliche Psyche darstellen. Muster 2b: Hausaufgaben − Jannis, 9 J., 6.3.2018 J:

Manchmal ist es für mich anstrengend, viele Hausaufgaben zu machen. Ich würde eigentlich lieber draußen sein. Ich wünsche mir nicht mehr so viele Hausaufgaben.

Der Schüler Jannis bringt es auf den Punkt: Die mit Hausaufgaben verbrachte Zeit steht in Konkurrenz zur freien Spielzeit. An dieser Stelle soll noch einmal die Aussage der Schülerin Lisa (9J.) herangezogen werden, um die Aussage des Ankerbeispiels zu stützen: »Ich wollte heute mehr spielen, weil ich gestern erst um 3 zu Hause war, dann noch Deutsch Hausaufgaben gemacht habe und denn noch etwas für den Sachunterricht«. Sowohl Lernzeit, als auch Zeit zum freien Spielen sind für die Entwicklung von Kindern wichtig. Es ist sowohl die Aufgabe der Schule, als auch des Elternhauses, einen ausgewogenen Plan auszuarbeiten, der beiden Komponenten genügend Raum lässt. Die Hausaufgaben sollten keinesfalls übergewichtet werden. Vielmehr sind individuelle Absprachen erforderlich, wenn ein Kind am Nachmittag zu lange arbeitet. Muster 3a: Unterrichtsbeginn − Fritz, 9 J., 7.3.2018 I:

Wie wirkt sich das frühe Aufstehen aus?

F: Ich bin noch ziemlich müde, und manchmal werde ich auch dadurch ein bisschen aufgehalten. I:

Hatte das Auswirkungen auf den Unterricht bisher?

F: Ein bisschen nur. Ich konnte mich nach dem Wochenende kaum konzentrieren. Von Freitag auf Samstag und von Samstag auf Sonntag gehen wir um 8 Uhr ins Bett, sonst um 7.

Diesem Phänomen ist nichts hinzuzufügen. Es lässt sich auch nicht diskutieren. Am Morgen sind viele Schülerinnen und Schüler müde. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Es könnte am natürlichen Schlafrhythmus liegen, an zu kurz bemessenen Schlafzeiten oder, wie der Schüler Fritz beschreibt, an der Umstellung der Schlafzeiten vom Wochenende auf die Arbeitswoche. In diesem Fall

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

handelt es sich um ein Art »Montags-Lag«. In der Regel erfolgt der Einstieg in die Schulwoche auch sanft, indem nicht sofort mit dem Lernen begonnen wird. Es ist jedoch darauf zu achten, dass Kinder in der Nacht genügend Schlaf bekommen und bei voller Gesundheit sind, damit eine gute Konzentrationsfähigkeit als Lernvoraussetzung gegeben ist. Muster 3b: Unterrichtsbeginn − Jannis, 9 J., 6.3.2018 I:

Gibt es etwas, was dir morgens vor der Schule Sorgen macht?

J:

Dass ich meinen Bus verpasse. Dann bringt mich mein Papa immer. Das war meistens so, dass ich noch meine Sachen packen muss. Manchmal vergisst Papa, den Wecker zu stellen.

Der Befragte Jannis spricht einen anderen Aspekt der Zeit des Schulbeginns an. Für einige Kinder und Eltern ist es mit Stress verbunden, früh aufzustehen und alle nötigen Handlungen wie Waschen, Zähneputzen, Anziehen usw. bis zum Schulbesuch vorzunehmen. Ursachen kommen hier mehrere infrage. Möglich wäre die Verweigerung seitens der Kinder, sich zu beeilen oder es entsteht Druck durch das Verspäten selbst. Es ist auf jeden Fall ein ungünstiger Start in den Schulvormittag, wenn morgendlicher Stress von Dauer ist. Der Anreiz zur Schule zu gehen mag bisweilen durch andere Gründe von vornherein gering sein. Ein ermüdeter oder gestresster Zustand stellt auf jeden Fall einen Faktor dar, die Arbeitsmotivation zu mindern. 5.3.2 Exkurs: Hausaufgaben in der Diskussion Studien, das Aufgeben von Hausaufgaben betreffend, warten mit unterschiedlichen Ergebnissen auf. Übereinstimmend lässt sich sagen, dass es an eindeutigen Ergebnissen ohne Einschränkungen für das gesamte Schulfeld mangelt. Zunächst gilt es, Ganztagsschulen von anderen Formen der Beschulung abzugrenzen. Hier liegt es auf der Hand, dass die Integration von Hausaufgaben sinnvoll ist. Es ist nicht zu erwarten, dass Schüler*innen sich nach einem langen Schultag auch noch daheim mit schulischen Belangen beschäftigen wollen und konzentriert arbeiten können. Abgesehen davon wird durch die Untersuchung des Hausaufgabenverhaltens deutlich, dass es für individuelle Bedingungen keine einheitliche Lösung geben kann. Hattie (2015) stellt in seinen Untersuchungsergebnissen insgesamt einen leicht positiven Effekt durch Hausaufgaben heraus. Dieser sei allerdings abhängig von unterschiedlichen Faktoren, z.B. dem Alter und Leistungsstand der Schüler*innen, der Art der Hausaufgaben, der Invol-

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viertheit der Eltern und dem Aufgreifen der Themen im nachfolgenden Unterricht. Von den Hausaufgaben würden eher ältere und leistungsstarke Heranwachsende profitieren, im Grundschulbereich und bei lernschwächeren Schüler*innen seien diese Effekte nicht erkennbar. Elternhilfe hingegen wirke sich negativ beim Erlernen organisatorischer Fähigkeiten aus. Auch diesen Aspekt betreffend gibt es keine einheitlichen Meinungen. Cooper et al. (2001) sehen generell einen positiven Effekt durch häusliche Unterstützung auf die Beurteilung von Schüler*innen. Brügelmann (2005), Trudewind und Wegge (1989) hingegen differenzieren, dass Ermutigung und Unterstützung des autonomen Arbeitens ein wirksamer Beitrag zur Förderung der Sebständigkeit sei (Brügelmann, 2005; Trudewind & Wegge, 1989). Göllner et al. (2017) betrachten Hausaufgaben unter dem Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung. Demnach sind diese nicht nur für schulische Leistungen wichtig, sondern leisten auch einen Beitrag zur Entwicklung von Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit. Wiederum einschränkend ist hinzuzufügen, dass diese auch gründlich ausgeführt werden müssen. Unterschiedliche häusliche Bedingungen dürften dem allerdings entgegenstehen. Diese stellten bereits Paschal, Weinstein und Walberg 1984 als Faktor für das Gelingen oder Nicht-Gelingen von Hausaufgaben heraus. Schüler*innen, die über einen ruhigen und gut ausgestatteten Ort zum Lernen verfügen, können zu Hause besser Gelerntes festigen als diejenigen, die über keinen Arbeitsplatz verfügen. Für Aufsehen sorgten die Studienergebnisse der TU Dresden im Ganztagsbereich (Gängler & Markert, 2010). Sie regten die Debatte zu diesem Thema weiter an, indem herausgestellt worden ist, dass Hausaufgaben keinen nachweislichen Einfluss auf die Benotung von Schüler*innen haben. Während lernstarke Heranwachsende Inhalte bereits im Unterricht begreifen, stellen Hausaufgaben für Lernschwache eine zusätzliche Belastung dar, da seitens der Lehrkräfte keine Unterstützung gegeben werden kann. Als Fazit lässt sich festhalten, dass Hausaufgaben in jedem Fall differenziert, d.h., an schulische Bedingungen und die Bedürfnisse des einzelnen Heranwachsenden angepasst sein müssen, damit diese positive Effekte nach sich ziehen können. Hinsichtlich der häuslichen Elternhilfe lässt sich ebenfalls kein allgemeingültiges abschließendes Urteil fällen. Seitens der Schule ist ein selbständiges Ausführen der Hausaufgaben erwünscht, in der Praxis wird jedoch viel Elternhilfe geleistet. Auch hier wird nur die Betrachtung von Einzelfällen zu eindeutigen Schlüssen führen, da diesbezügliche Bedingungen ebenso vielfältig wie die individuelle Ausprägung und Lernsituation der Schüler*innen sind.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

5.3.3 Exkurs: Zensurengebung in der Diskussion Kaum ein Aspekt der Schule wird über die Zeit so vehement kontrovers diskutiert wie die Zensurengebung. Das Für und Wider wirft unterschiedliche Fragestellungen auf. Krampen (1984) ging der Einschätzung von Pädagog*innen, Eltern und Schüler*innen hinsichtlich der Funktion von Zensuren nach. Er bezieht sich in seiner Forschungsarbeit auf Zielinski (1974), der den Zweck der Rückmeldung an die Lehrkraft, Schüler*innen und Eltern über Unterrichtserfolg und Leistungsstand herausstellt. Zensuren sollen zudem einen Anreiz zum Lernen und diszipliniertem Arbeiten darstellen. Hinsichtlich gesellschaftlicher Leistungsnormen dienen sie der Sozialisierung. Zur inneren und äußeren Differenzierung würden Noten die erbrachte Lernleistung klassifizieren, selektierten und schließlich der späteren beruflichen Zuteilung dienen. Er fügt eine Chancenausgleichsfunktion an, wenn Zensuren den Zweck erfüllen, die Chancengleichheit in der Schule zu erhöhen. Krampen stellte rollenbedingte bedeutsame Unterschiede in der Funktionswahrnehmung heraus. Bemerkenswert ist, dass Lehrkräfte die rückmeldende und motivierende Funktion hoch gewichten, Schüler*innen diesen Aspekten hingegen nur einschränkend zustimmen. Lernende sprechen dem äußeren Differenzierungsaspekt, der Außenwirkung von Zensuren, mehr Bedeutung zu. Dies zeigt sich auch in der hier durchgeführten Studie. Einige Schüler*innen fühlen sich durch Benotungen angespornt und durch Erfolg positiv verstärkt. Andere leiden unter dem Druck und erleben vor, während und nach dem Schreiben von Klassenarbeiten Gefühle der Angst. Sie müssen nicht nur selbst negative Rückmeldungen verarbeiten. Kinder vergleichen ihre Zensuren nach Rückgabe der Arbeiten oder Verteilung der Zeugnisse. Dies impliziert eine sekundäre Beurteilung der eigenen Person durch die Peers. Auch vor ihren Eltern gilt es, sich zu erklären. Dieser Aspekt spielt für Lehrende in ihrer Beurteilungsfunktion kaum eine Rolle, es sei denn, die erbrachten Leistungen fallen im individuellen Fall unter Notendruck geringer aus als im normalen Unterricht. Krampen kommt letztlich zu dem Schluss, dass es »kaum möglich sein dürfte, allgemeine Klassifikationssysteme der Funktionen von Noten zu erstellen« (Krampen, 1984, S. 101). Ein Klassiker der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur stellt die Kritik Ingenkamps, »Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung« (1972), an der Benotungspraxis dar. Sie hat bisher nichts an Aktualität eingebüßt. Noch heute wird auf seine Zusammenfassung von Forschungsbefunden aus den 1920er bis 1970er Jahren Bezug genommen (z.B. Lintorf, 2012; Tent, 2006; Wild & Krapp, 2006). Ingenkamp stellt die Objektivität Zensuren gebender Personen sowie die

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Reabilität und die Validität der Messverfahren infrage. Als problematisch wird herausgestellt, dass Notengebung soziale Unterschiede in der Schule hervorheben würde. Sie stellt aktuell eine Grundlage für die Einteilung in unterschiedliche Schulniveaus dar, welche soziale Ungleichheit konstruiert und aufrecht hält (Buchmann & Sacchi, 1998; Graf & Lamprecht, 1991; Spiess Huldi, 2009; Rolff, 1984). Da Schulkonferenzen über die Notengebung beschließen, werden Leistungsbeurteilungen in der Praxis uneinheitlich gehandhabt. Dies betrifft hauptsächlich die Grundschulen, sonst den Unterricht bis zur achten Klassenstufe. Brügelmann (2003) verweist als Kritiker der Notengebung darauf, dass Zensuren keine differenzierte Auskunft über eine erbrachte Leistung geben. Auch sind sie nicht vergleichbar, wie z.B. die Ergebnisse der VERA-Arbeiten2, da in der Regel der Klassendurchschnitt zur Bewertung herangezogen wird. Daher können sie auch nicht den individuellen Lernfortschritt dokumentieren, der bei der Beurteilung eines Einzelnen einen wichtigen Faktor darstellt. Hinsichtlich der Lehrkräfte wird angezweifelt, dass diese über ein diesbezüglich benötigtes Maß an Objektivität verfügen. In dieser Hinsicht sind Schulen gefordert, verfügbare Ressourcen für die Fortbildung und Unterstützung der Lehrkräfte zu nutzen. Beutel (2005) fordert eine Professionalisierung der Beurteilungskompetenz von Lehrpersonen, die auf der Kommunikation untereinander und mit den Schüler*innen basieren müsse. Ihre Untersuchungsergebnisse belegen, dass Lernende über ein hohes Bewusstsein hinsichtlich ihrer Lernfortschritte verfügen. Es sei daher sinnvoll und motivierender, diese eingehender als mit einer Ziffer zu kommunizieren. Bisher hat sich lediglich teilweise in der Grundschule und bis zur Klasse 8 der Mittelstufe die Praxis durchgesetzt, auf Zensuren zugunsten von Berichten und Gesprächen zu verzichten. Bisweilen werden Mischformen angewendet, die Zeugnisnoten und einige Klassenarbeiten, typischerweise Textproduktionen, verbal ergänzen. Seitens der Elternschaft werfen Berichte hingegen die Frage nach der Eindeutigkeit hinsichtlich der Auslegung auf. Dies mag ein Grund dafür sein, dass in den Schulen weiter an Zensuren festgehalten wird. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Zensurengebung rollenbedingt durch Lehrende, Eltern und Schüler*innen unterschiedlich beurteilt wird. Im Fokus des Geschehens stehen jedoch die Heranwachsenden. Dies sollte bei Entscheidungsfindungen im Vordergrund stehen. 2

Vergleichsarbeiten an Grundschulen und allgemeinbildenden weiterführenden Schulen (vgl. z.B.

https:///www.schleswig-holstein.de/DE/Schwerpunkte/Schulqualität/VERA/vergleichs

arbeiten_node.html)

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

5.3.4 Zusammenfassung Die Kategorie »Rahmenbedingungen« umfasst die Muster M1, »Zensurenstress« und M2, »Selbstbestätigung«, M3 a und b, »Hausaufgaben« und M4 a und b, »Unterrichtsbeginn«. Die Muster M1 bis M3 zeigen, wie unterschiedlich Kinder auf den Noten- oder Hausaufgabendruck reagieren. Diesbezüglich verdeutlichen zwei Exkurse, dass die Schwierigkeit, das Für und Wider von Hausaufgaben und Notengebung zu beurteilen, in verschiedenen schulischen, häuslichen und individuellen Bedingungen begründet liegt. Ebenso wie in politischen Debatten um Zensurengebung und Hausaufgaben in der Grundschule gibt es auch unter Schüler*innen verschiedene Einstellungen zu diesem Thema. Für diejenigen, die erfolgreich lernen, stellen Zensuren einen Beleg ihres Erfolges dar, der das Selbstbewusstsein stärkt. Zensuren können aber auch, sogar für Kinder mit guten Noten, Stress bedeuten und Ängste auslösen. Diese Kinder werden in Zeiten, in denen Arbeiten benotet werden, ständig von einem unguten Gefühl begleitet. Hausaufgaben sehen einige überwiegend in Konkurrenz zur Spielzeit, die ihnen am Nachmittag zur Verfügung steht. Einen anderen Aspekt stellen oft unbegründete Ängste dar, die für einige Schüler*innen den Schulalltag bestimmen. Zu nennen sind hier das mögliche Vergessen der Hausaufgaben und eine befürchtete Bestrafung, der noch keine rationale Ursache zugrunde liegt. Der Unterrichtsbeginn zu einem frühen Zeitpunkt zieht es nach sich, dass Heranwachsende mitunter an Konzentrationsmangel aufgrund von Müdigkeit leiden. Auch wurde von Stressfaktoren berichtet, die sich auf morgendliche Routinehandlungen vor dem Schulbesuch beziehen.

5.4

Beziehungs feld

Das Grundschulalter ist u.a. gekennzeichnet durch eine noch enge Bindung an das Elternhaus, an außerschulische und innerschulische Kontakte und die Beziehung zu Lehrkräften. Die Motivation zu arbeiten steht daher auch in Relation zu einem positiven oder negativen Beziehungsstatus.

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5.4.1 Dimensionierung und Musterbildung: Darstellung und Interpretation Abbildung 4: Dimensionierung »Beziehungen«

Hier wird aufgezeigt, dass sich Beziehungen zur Peergruppe (M1), zur Lehrkraft (M2) und zu Eltern und Erziehungspersonen (M3) sowohl lernfördernd als auch lernhemmend auswirken können. Externe Ereignisse außerhalb des schulischen Umfelds (M4) können durch ihren ablenkenden Charakter ebenfalls zu einer Lernhemmung führen, müssen aber nicht zwangsläufig negativer Art sein. Daher ist M4 gesondert aufgeführt. Die Bezeichnungen der Muster lauten wie folgt: x Muster 1a: Peergruppe, Mobbing »In der Schule hat er mich immer »Frosch« genannt.« (Fritz, 9 J.) x Muster 1b: Peergruppe, Empathie »Als das mal passiert ist, war ich voll beunruhigt und konnte halt nicht so gut denken.« (Levin, 10 J.) x Muster 1c: Peergruppe, Freunde »Es macht Spaß mit meinen Freunden was zu machen.« (Meike, 10 J.) x Muster 1d: Peergruppe, Interne Ablenkung »Wenn es laut ist, dann geht das nicht.« (Kyra, 9 J.) x Muster 1e: Peergruppe, Respekt »Die haben ganz doof über die Geschichte gelacht.« (Lisa, 9 J.) x Muster 2: Die Traumlehrkraft »Sie ist besser als Lehrerinnen, die SEHR streng sind.« (Martin, 10 J.)

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

x Muster 3: Eltern und Erziehungspersonen »Ich lerne hier, dass ich da mitkomme.« (Tino, 9 J.) x Muster 4: Externe Ablenkung »Es war am Montag, da wollte ich nicht in die Schule, weil meine Schwester Geburtstag hatte.« (Max, 9 J.) Muster 1a: Peergruppe, Mobbing − Fritz, 9 J., 2.3.2018 F: Ich hatte Angst, dass ich schon wieder geärgert werde, denn ich werde ganz oft in der Schule geärgert. Deswegen finde ich das manchmal ein bisschen nervig. Und das frühe Aufstehen nervt auch ganz schön. Ich hab daran gedacht, dass vor allem Jens mich nervt. Der hat mich nämlich auf der Klassenfahrt ganz viel genervt. Er hat ständig alles der Klasse erzählt. Wenn ich ausrutsche, hat er es erzählt. In der Schule hat er mich immer »Frosch« genannt. I:

Hat das Auswirkungen auf die Unterrichtsstunden?

F: Ein bisschen schon. Ich bin dann ganz schön genervt von ihm und dann kann ich mich kaum konzentrieren. Das hat in allen Fächern immer gestört. Heute in gar keiner, weil er mich noch nicht geärgert hat.

Der Drittklässler Fritz leidet sehr darunter, dass er andauernd geärgert wird, insbesondere von einem Schüler. Versuche, dem zu begegnen, indem er die Hänseleien ignoriert, sind teilweise von Erfolg gekrönt: »Nicht jeder nervt. Und einige, die das gemerkt haben, haben auch damit aufgehört. Das finde ich ganz schön.« Leider ist es dem Befragten bisher nicht gelungen, sich gegenüber Jens durchzusetzen. Das Problem scheint allgegenwärtig zu sein, auch im Unterricht. Hier wirkt sich diese Beziehung negativ auf sein Lernverhalten aus. Im Grunde motiviert und an Unterrichtsinhalten interessiert, führen die dauernden Gängeleien zu einer geringeren Fokussierung auf die Unterrichtsinhalte. Nicht nur für ein entspanntes und angstfreies Lernen ist es erforderlich, dieses Problem in einem für den Befragten zufrieden stellenden Maß aufzulösen. Es ist anzunehmen, dass nicht nur seine Lernmotivation und erbrachten Leistungen davon profitieren würden, sondern in diesem Fall die Lebensqualität im Allgemeinen. Es besteht die Möglichkeit, dass der Schüler das zugrundeliegende Problem mit Ausprobieren unterschiedlicher Strategien allein bewältigt. In einem andauernden Nicht-Erfolgsfall ist die Klassenlehrkraft gefragt, entsprechende Maßnahmen auf der persönlichen Schüler-Lehrerebene oder Klassen-Lehrerebene durchzuführen. Im letzteren Fall könnten gezielte Sequenzen aus einem sozialen Trainingsprogramm die Klassengemeinschaft für derartige Probleme sensibilisieren und stärken.

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Muster 1b: Peergruppe, Empathie − Levin, 10 J., 28.3.2018 L: Ich wünsche mir, dass die Klassensprecher sich nicht immer überall einmischen. Wenn zum Beispiel mein Freund ausrastet, dann mischen sie sich immer ein. Frau L. hat gesagt, sie sollen ihn nicht anfassen. Wenn wir denen sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollen, dann machen sie es nicht. Mein Freund muss ja erst mal wieder runterkommen, und sie lassen ihn nicht, weil sie ihn immer provozieren. I:

Wirkt sich das auf das Arbeiten aus?

L: Mein Freund muss dann zu einer Therapeutin, die in der Schule arbeitet. Dann habe ich immer so ein schlechtes Gefühl wegen ihm, weil er dann da ausrastet. Er rastet nämlich so schnell aus, dass er dann vielleicht einen richtigen Anschiss kriegt. Als das mal passiert ist, war ich voll beunruhigt und konnte halt nicht so gut denken. Da hat ihn jemand geärgert. Der Lehrer hat gesagt »beruhige dich!« und hat ihn am Arm angefasst. Und mein Freund hat ihn dann getreten.

Der Schüler Levin ist ergriffen von den Ereignissen, die sich um seinen Freund herum abspielen. Probleme im sozialen Bereich bringen diesen immer wieder in Situationen der Bedrängnis. Es kommt häufig vor, dass Levi um sein Wohlergehen besorgt ist. Er kennt die Reaktionsweisen seines Freundes genau und beobachtet, wie andere Personen in einer Weise mit ihm umgehen, die er nicht ertragen kann: »Sie sollen ihn nicht anfassen … dann machen sie es nicht.« Als empathischer Schüler kann er sich in seinen Freund hineinversetzen und empfindet nach, was der in einer derartigen Krisensituation fühlt. Dabei kann er ihm nicht zur Seite stehen. Dies belastet ihn derart, dass er sich nicht mehr in gewünschter Weise auf den Unterricht konzentrieren kann. Er beschreibt das mit dem Begriff »schlechtes Gefühl« und dass er »nicht mehr so gut denken kann«. Muster 1c: Peergruppe, Freunde − Meike, 10 J., 16.9.2018 M: Ja, an meine Freunde. Es macht Spaß mit meinen Freunden was zu machen. Gestern habe ich mit meinen Freunden noch »Schwimmen« gespielt. Das macht mir auch sehr viel Spaß. In den Pausen da spielen wir auch ganz viel. Ich spiele mit meiner Freundin ganz viel Fußball. I:

Ist das ein Ansporn für dich, in die Schule zu gehen?

M: Ja, es würde einen sehr großen Unterschied machen, wenn sie nicht da wären.

Meike, eine Viertklässlerin, ist sehr gesellig. Sie freut sich morgens darauf, ihre Freund*innen zu sehen und die Zeit vor und nach dem Unterricht mit ihnen spielend zu gestalten. Zudem liebt sie Fächer, in denen sie sich aktiv betätigen

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kann: »Schwimmen macht viel mehr Spaß als in der Klasse zu hängen und einen Test zu schreiben.« »Zu hängen« ist ihre Umschreibung für das Sitzen und Lernen im Klassenraum. Weil einerseits dem sozialen Aspekt und andererseits dem Bewegungsaspekt ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird, geht M. morgens dennoch gern in die Schule. Das fachliche Lernen erfolgt eher lustlos und mit nicht zufrieden stellenden Ergebnissen. Mehr »Learning by Doing« unter Berücksichtigung ihrer engeren Peerbeziehungen könnte ihren Motivationslevel voranbringen. Erwähnt sei hier die Bedeutung des Sportunterrichts insbesondere für Schüler*innen mit einer derartigen Haltung. Hier erfüllt dieser nicht nur eine physische Ausgleichsfunktion zum »Hängen« in dem Klassenraum, sondern auch eine psychische. Im Sportunterricht gelingt es ihr, Ziele zu verfolgen und zu erreichen. Der Kommunikation sind weniger Grenzen als am Schreibtisch gesetzt. Aspekte des Sportunterrichts in anderen Fächern einzubeziehen, würde sich nicht nur für diese Befragte positiv auswirken3. Muster 1d: Interne Ablenkung − Kyra, 9 J., 22.2.2018 K: Ich möchte, dass es manchmal ruhiger ist in Mathe. Wenn es laut ist, dann geht das nicht, und dann kann ich auch nicht so schnell arbeiten.

Die Schülerin Kyra lernt und arbeitet gern in der Schule. So ist das Thema »Lernen« für sie wichtig, wenn sie morgens an die Schule denkt. Primär würde sie gerne die Hausaufgaben zugunsten von mehr Spielzeit kürzen: »Dass ich nicht immer so viele Hausaufgaben aufkriege, dass ich immer noch spielen kann.« Für den Unterricht wünscht sie sich ein ruhiges Umfeld. Sie hat für sich erkannt, dass sie nur so fokussiert und effektiv arbeiten kann. Die Voraussetzungen dafür liegen nicht in ihrer Hand, sollten aber von ausgebildeten Pädagog*innen geschaffen werden können. Muster 1e: Respekt − Lisa, 9 J., 22.2.2018 L: Und in Religion, da möchte ich gerne zuhören. Und heute, auch eben, war das sehr doof, weil ich neben Andreas und Mirco saß. Die haben ganz doof über die Geschichte gelacht und die ganze Zeit Quatsch gemacht. Und das soll leise sein. Sie waren auch respektlos.

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Zur Wirkung des Sportunterrichts auf Schüler*innen s. Kruber (1996), Opper (1996), Pache (1978).

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Dieses Ankerbeispiel zeigt, dass auch allgemeine Umgangsformen, das Einhalten ethischer Normen, für die Qualität des Lernklimas von Belang sind. Die Befragte bemerkt, dass die Verhaltensnormen zweier Schüler mangelnden Respekt gegenüber dem Unterrichtsinhalt aufweisen. L. stellt eine Diskrepanz zwischen ihren Moralvorstellungen und denen der Mitschüler fest. Das negative Verhalten hätte unterbunden werden müssen, um ein positives Lernklima zu schaffen. So verbleibt die Schülerin gleichermaßen mit einer vorhandenen Grundmotivation und der Enttäuschung, dass dem Thema nicht genügend Würdigung entgegengebracht wurde. Es gibt viele Formen, mangelnden Respekt gegenüber gültigen Verhaltensnormen und Personen im schulischen Umfeld auszudrücken. Eine weitere ist beispielsweise das Zeigen des Mittelfingers. Die Drittklässlerin Kati (9 J.) ist bemüht, dies beim Arbeiten auszublenden: »Es zieht mich herunter. Es macht mich morgens traurig, dass die Jungen das machen.« Sozialer und sachbezogener Respekt im schulischen Umfeld stellt für die Befragte und auch für Gleichgesinnte eine Lernbasis dar, die tradiert anmutet, aber Voraussetzung gelungener zwischenmenschlicher Beziehungen und Handlungsabläufe ist. Muster 2: Die Traumlehrkraft − Martin, 10 J., 6.3.2018 M: Wenn ich morgens aufwache, dann freue ich mich ein bisschen auf die Schule, z.B. Sport und Religion. Wir haben eine nette Lehrerin. Gerade eben, als wir Religion hatten, da war sie halt nett. Bei Religion müssen wir nicht so viel arbeiten. I:

Gibt es da einen Unterschied in deiner Arbeitsweise im Vergleich zu anderen Fächern?

M: (nickt) Ich melde mich öfter. Als die Lehrerin heute gefragt hat, was letzte Religionsstunde passiert ist, da habe ich mich dann gemeldet. Ich habe gesagt, dass Jesus gesprochen hat: »Wenn der Hahn dreimal gekräht hat, hat Petrus mich dreimal verleugnet.« I:

Wie unterscheidet sie sich von anderen Lehrkräften?

M: Sie ist besser als Lehrerinnen, die SEHR streng sind, und sie ist halt sehr nett. I:

Was macht denn ein strenger Lehrer zum Beispiel?

M: Hausaufgaben aufgeben und all so Sachen. Ich wünsche mir, dass es gar keine Hausaufgaben mehr gibt.

Der zehnjährige Martin ist ein sehr zurückhaltender Schüler, der sich in den Hauptfächern ungerne meldet. Das Fach Religion bildet hier eine Ausnahme, und das führt der Befragte auf die sympathische Persönlichkeit der Lehrerin zurück. Ihr weist er die Attribute »nett« und »nicht streng« als positive Merkmale zu. Sie bereitet ihm keinen Leistungsdruck. Er müsse nicht »so viel arbeiten«.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

Dieses Empfinden lässt sich neben dem Umstand, dass es hier keine Hausaufgaben gibt, darauf zurückführen, dass er scheinbar mühelos und erfolgreich lernt. Durch seine erhöhte Aufmerksamkeit in ihren Stunden verinnerlicht er die Unterrichtsinhalte. Das spiegelt sich in seiner gesteigerten mündlichen Mitarbeit wider. Durch diese zeigt er, dass seine Lernleistung auch nachhaltig ist. Eine Lehrkraft, die sich in als angenehm empfundener Art und Weise ihren Schüler*innen zuwendet, vermag die Kinder auch allein durch ihr Charisma zum Lernen anzuregen. Sie hat die Fähigkeit einer Mary Poppins, die unangenehmes Lernen zu einem freudigen Ereignis werden lässt: »Wenn ein Löffelchen voll Zucker bittre Medizin versüßt, rutscht sie gleich nochmal so gut.« Muster 3: Eltern und Erziehungspersonen − Tino, 9 J., 12.6.2018 T: Auf dem Gymnasium muss man mehr tun. Wenn du hier eine Eins schreibst, bekommst du da eine Drei. Das ist eine höhere Leistungsstufe als an der Grundschule. Ich lerne hier, dass ich da mitkomme. I:

Gerne oder nicht?

T: Gerne! Z.B. Englisch. Mehr auswendig lernen, dass ich flüssiger reden kann. Ich schreibe Vokabeln auf. Meine Eltern helfen mir oft. Die schreiben mir Vokabeln auf, und ich mache daraus Sätze und rede dann. Meinem Vater ist es schon wichtig, dass ich Englisch kann. I:

Wie kommt die Hilfe an?

T: Erfreulich eher.

Eltern nehmen hinsichtlich des Lernens in der Schule unterschiedliche Positionen ein. Der Schüler T. beschreibt hier, wie seine Eltern ihn beim Lernen unterstützen. Zugrunde liegt hier aber eine Einsicht, die auf einen schon fortgeschrittenen Reifegrad des Schülers hinweist, auch wenn er sich auf die Autorität seines Vaters bezieht, dem ein gutes Englisch wichtig ist. Der Befragte adaptiert die Haltung seines Vaters. Trotzdem erkennt er auch für sich die Notwendigkeit des Lernens für seine zukünftigen Ziele. Dies ist von vielen Kindern in der Grundschule u.a. aufgrund ihres Reifegrades noch nicht zu erwarten (vgl. Kategorie »Ziele«). Die Eltern des Viertklässlers T. ergänzen den Unterricht und fungieren hier als Lehrende und Orientierung gebende Personen. Sie vertiefen mit ihrem Sohn nicht nur die Unterrichtsinhalte, sondern vermitteln auch weiterführende Anschauungen, indem Prioritäten gesetzt und vorgelebt werden. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle auch auf die eingenommene Rolle der Motivatoren (s. Ankerbeispiel »Positive Ersatzziele« der Kategorie »Ziele«). Eltern nehmen oft die Rolle der Motivatoren durch den Einsatz von Belohnungs-

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oder Bestrafungssystemen ein. Dem Schüler Fritz wird eine Belohnung avisiert, die seiner Lebenswirklichkeit und seinem Entwicklungsgrad entspricht. Es ist eine sanfte Motivation seitens der Eltern, die ihn zum Arbeiten anspornt, zufriedenstellt und positive Resultate erzielt. Muster 4: Externe Ablenkung − Max, 9 J., 7.5.2018 M: Es war am Montag, da wollte ich nicht in die Schule, weil meine Schwester Geburtstag hatte. Und da musste ich ausgerechnet in die Schule. Ich habe mich gar nicht auf die Schule gefreut. Sie ist drei geworden. [Ich habe gesagt, d. Verf.], dass ich nicht sehr gern in die Schule möchte. Und die [Eltern, d. Verf.] haben gesagt: »Irgendwann ist die Schule ja auch vorbei, und es ist ja nicht so, dass ich um zwölf Uhr abends nach Hause komme.« Ich konnte mich nicht recht konzentrieren. In Mathe haben wir eine Aufgabe gemacht, einen Arbeitszettel. Von dem habe ich erst zwei Aufgaben geschafft.

Äußere Einflüsse können von einer großen subjektiven Wichtigkeit für ein Schulkind sein und Ablenkung und/oder Demotivation nach sich ziehen. In Fall des Schülers Max ist die Ablenkung einmalig. Der Geburtstag der Schwester übt einen derartigen Reiz auf ihn aus, dass seine Aufmerksamkeit hier verankert bleibt. Der Fall des Schülers Max stellt jedoch im Gegensatz zu einer längerfristigen externen Ablenkung negativen Ursprungs, z.B. einer Krankheit, eine eher harmlose »Krise« dar. Der Umgang mit externen Einflüssen, die einen Großteil der Aufmerksamkeit der Kinder auf sich ziehen, ist in jedem Fall individuell zu bewerten. Die Einflüsse lassen sich nicht ignorieren oder beiseite schieben. Bisweilen bleiben sie auch Bestandteil des gesamten Lernverhaltens. Hier begegnen die Eltern dem Schüler einerseits mit Konsequenz, andererseits mit Humor. Die temporäre Abgelenktheit wird keine gravierenden Konsequenzen nach sich ziehen. 5.4.2 Zusammenfassung Die Kategorie »Beziehungsfeld« umfasst die auf Peergruppen bezogenen Muster M1a bis e, »Mobbing«, »Empathie«, »Freunde«, »Interne Ablenkung« und »Respekt«, das Muster M2, »Die Traumlehrkraft«, M3, »Eltern und Erziehungspersonen« und M4, »Externe Ablenkung«, welche sowohl personen-, als auch sachbezogen zu verstehen ist. Unterschiedliche Personen üben einen Einfluss auf das Verhalten und Lernverhalten des Kindes aus. Die Beziehung zur Peergruppe ist maßgeblich

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

entscheidend dafür, ob eine Schülerin oder ein Schüler sich in der Schule wohl fühlt. Ein Verhältnis, dass durch unsoziales Verhalten und Gängeleien eines oder mehrerer Gegenspieler geprägt ist, bietet eine schlechte Lernvoraussetzung. Auch ethisch geprägte Aspekte sind hier zuzuordnen, die sich aber nicht nur auf Personen beziehen, sondern auch auf Gegenstände und Inhalte des schulischen Umfelds. Es wurden zwei Arten von Ablenkung vom Unterricht unterschieden: die interne durch Mitschüler*innen und die externe durch Ereignisse oder Personen, welche die Aufmerksamkeit der Lernenden aus dem außerschulischen Bereich einfordern. Einen großen motivationalen Einfluss hat die Lehrkraft. Hier üben nicht nur Lernmittel und Methodenwahl, sondern auch die Persönlichkeit einen Einfluss auf erfolgreiches Lernen aus. Im Elternhaus werden in unterschiedlichem Umfang Maßnahmen getroffen, Kinder in der Schule zu unterstützen. Ein sanfter Weg, der das Kind zum Arbeiten motiviert, dabei in der Methode sein Selbstwertgefühl und die Eigenverantwortlichkeit stärkt, ist hier als positives Beispiel von Elterneinwirkung dargestellt worden.

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Lernökonomie

Die Kategorie »Lernökonomie« beinhaltet Muster, die sich auf die Art und Weise der Bearbeitung und Bearbeitbarkeit der Unterrichtsinhalte in den Fachstunden beziehen.

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5.5.1 Dimensionierung und Musterbildung: Darstellung und Interpretation Abbildung 5: Dimensionierung »Lernökonomie«

Das Schaubild veranschaulicht, dass die Schüler*innen der Stichprobe die genannten Muster M1, M2, M4, M5, M6 und M7 als zum Lernen auffordernd und unterstützend, M1 in anderer Form und M3 hingegen als hemmend empfunden haben. Im Wesentlichen lassen sich die Aussagen der Befragten auf das methodische Vorgehen der Lehrkraft und die damit korrespondierende Wahl ihrer Arbeitsmittel zurückführen. Die Musterbildung gestaltet sich wie folgt: x Muster 1: Arbeitsmethode »Ich kann am besten mit Vorgaben arbeiten.« (Larissa, 8 J.) x Muster 2: Effizienz »Ich freue mich besonders, wenn wir nicht so viel abschreiben müssen.« (Gerrit, 8 J.) x Muster 3: Überforderung »Rechnen mag ich halt nicht, weil es schwierig ist.« (Max, 9 J.) x Muster 4: Herausforderung »Die sind schwerer.« (Lennard, 9 J.) x Muster 5: Altersgerechter Zugang (z.B. spielerisch, forschend, …) »Da war ein Pinguinbild.« (Franzi, 8 J.) x Muster 6: Differenzierung »Jetzt konnte ich auswählen, ob ich eine kleine Geschichte oder ein paar Sätze zum tz schreibe.« (Leroy, 9 J.)

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

x Muster 7: Mitbestimmung »Eine Wahlaufgabe für die Klasse, eine Pflichtaufgabe für mich« (Tom, 9 J.) Muster 1: Arbeitsmethode − Larissa, 8 J., 8.3.2018 L: Ich arbeite am liebsten in Deutsch. Das hat etwas damit zu tun, was ich machen darf. Einmal in der ersten Klasse hatten wir einen Schreibschatz, und da sollten wir etwas hinschreiben, was wir uns selber ausgedacht haben. Da hatte ich so gar keine Idee. Ich kann am besten mit Vorgaben arbeiten, die in etwa sagen, was man machen soll. In Mathe rechne ich nicht so gerne. Ich mag da das Thema »Körper« und »Längen«. »Körper« macht mir Spaß, weil das ja Formen sind, die einem jeden Tag begegnen, und dann beschäftigt man sich noch mal ein bisschen mehr damit.

Die Schülerin Larissa ist in der Lage, die Qualität ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten selbst einzuschätzen und ist sich zudem bewusst, welches methodische Vorgehen den größten Effekt auf ihren Lernerfolg hat. Sie arbeitet lieber nach genauen Anleitungen als ohne Input seitens der Lehrkraft. Der Ausdruck »darf« in Zusammenhang mit ihrem Lieblingsfach bezieht sich darauf, dass Lerngegenstände in ihrem Deutschunterricht individuell dem Leistungsstand und der bevorzugten Arbeitsweise eines Kindes zugeschnitten sind. Den Kindern wird ein Lernziel verdeutlicht, das sie erreichen sollen. Dieses wird dann in verschiedenen Anforderungsstufen und möglichen Formen zur Verinnerlichung angeboten. Sie darf dann beispielsweise wählen, wie viele Vorgaben sie für eine Textproduktion zu Hilfe nehmen will und ob sie lieber einen fertigen Text bearbeiten, ändern oder selbst schreiben möchte. Diese Arbeitsweise ermöglicht ihr einen individuellen Zugang und minimiert Frustrationserlebnisse. Anzumerken sei hier noch, dass ein persönlicher Bezug (vgl. Kap. 5.1 »Unterrichtsinhalte«, M1: Realitätsbezug) auch für sie einen Motivationsfaktor darstellt. Muster 2: Effizienz − Gerrit, 8 J., 26.3.2018 G: Ich arbeite im Moment gerne in Mathe, Geteiltaufgaben ausrechnen. Ich freue mich besonders, wenn wir nicht so viel abschreiben müssen, wenn wir Arbeitsblätter machen. Da schaffe ich viel.

Der Befragte Gerrit plädiert in seiner Aussage für ökonomische Arbeitsweisen, die ohne Umschweife zum Lernziel und -erfolg führen. Viele Mathematikbücher

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basieren auf Rechenblöcken, die zunächst abgeschrieben und dann erst ausgerechnet werden müssen. Für Kinder, welche die Schreibung von Zahlen und den Aufbau einer Aufgabe beherrschen, bedeutet dies einen nicht unerheblichen zusätzlichen Zeitaufwand, um zum Ziel zu gelangen. Eine effektive Arbeitsökonomie, die die Lerneffizienz steigert, lässt sich in vielerlei Hinsicht herstellen. Diese Thematik würde beispielsweise auch Arbeitsblätter betreffen, die mit einer großzügigen Aufmachung nur wenig Inhaltliches zum Ausfüllen bieten. Dies führt dazu, dass Kinder oft mit einer Flut von Arbeitspapieren beim Systematisieren überfordert sind und dicke Sammelmappen den Ranzen unnötig beschweren. Muster 3: Überforderung − Max, 9 J., 5.3.2018 M: In Mathe zum Beispiel arbeite ich nicht gerne. Rechnen mag ich halt nicht, weil es schwierig ist, und Kopfrechnen kann ich noch nicht so gut. Aber das Thema Geometrie und Messen ist eigentlich ganz einfach und macht mir auch Spaß. Malaufgaben sind schwieriger als Plus und Minus. Minus ist auch schwierig, besonders im Tausenderbereich. Im Zehnerbereich war Minus noch eigentlich ganz einfach. Aber als wir mit Hundert angefangen haben, hatte ich ganz große Schwierigkeiten damit. Das jetzige Thema, das kenne ich. Das haben wir ja schon einmal gemacht. Messen ist eigentlich ganz einfach.

Der Schüler Max drückt klar aus, dass er Unterrichtsinhalte, die ihm schwierig erscheinen, nicht mag. Das Rechnen ab dem Hunderterbereich bereitete ihm Probleme. Daher kann er im Tausenderbereich nicht auf ein gesichertes Vorwissen zurückgreifen und findet keine Ankerpunkte, die ihm das Verständnis erleichtern. Als motivierende Herausforderung wird dieser Schüler derartige Aufgaben nicht empfinden, weil sie ihn überfordern. Seine Haltung gegenüber der Algebra manifestiert sich zwangsläufig im negativen Bereich. Die deutet sich auch bereits bei einer Erstklässlerin an, die morgens keine Lust auf Mathematik hat: »Ich mag überhaupt nicht Mathe. Wir müssen rechnen (langgezogen), zum Beispiel 19 plus 1« (Viola, 6 J.). Sie gibt zu verstehen, an welchem Punkt sie sicher anknüpfen könnte: »Zum Beispiel eins plus eins und vier plus vier.« Spaß hingegen bringt dem Befragten M. die Geometrie, weil er die Aufgaben verstanden hat und lösen kann. Zugute kommt es ihm, dass ihm die Lernformate aus einer früheren Unterrichtseinheit geläufig sind. Hier kann er an Bekanntes anknüpfen und mit neuen Lerninhalten verbinden. Schülerin A. formuliert Selbiges so: »Ich arbeite gerne an manchen Themen in Deutsch und in Mathe, wenn ich was

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

kapietscht habe. In Deutsch Personenbeschreibungen. Ich schreibe gerne selber Geschichten« (Alina, 9 J.). Muster 4: Herausforderung − Lennard, 9 J., 6.3.2018 I:

Was gefällt dir an Mathematik?

L: Dass sie so spannend ist. Dass da so Überraschungsaufgaben sind. So was, was wir fast noch nie hatten. Die sind schwerer.

Zunächst ließe sich vermuten, dass der Schüler L. ein anderer Lerntyp als der Schüler M. des vorherigen Musterbeispiels ist. Die Lernmotivation des Drittklässlers hat ihren Ursprung in der Herausforderung durch schwierige Aufgaben und ihm unbekannte Formate. Erst dadurch wird sein Interesse geweckt, während Schüler M. keine Aussicht auf Erfolg sieht und möglicherweise hier resignieren würde. Es ist allerdings anzunehmen, dass der Befragte L. ebenso auf Gelerntes zurückgreift wie der Schüler M, wenn er geometrische Aufgaben löst. L. hat im Unterschied zu M. aber bereits alle Lernschritte bewältigt, die er zur Lösung von »Überraschungsaufgaben« benötigt. Der Umstand, dass beide Schüler geeignete Aufgaben zum Erreichen ihres nächsten persönlichen Leistungslevels benötigen, eint die Lernenden. Es macht gleichzeitlich deutlich, dass Kinder individuelle Bedürfnisse haben, die auch im großräumigen Schul- und Klassenverband berücksichtigt werden müssen. Muster 5: Altersgerechter Zugang − Franzi, 8 J., 5.5.2018 I:

Hast du schon einmal gearbeitet, obwohl du es nicht musstest?

F: Wir haben in den Osterferien ein kleines Heftchen mitgekriegt, da habe ich gern was gemacht. Da war ein Pinguinbild mit ganz vielen Eisschollen und Pinguinen. In den Eisschollen steht so etwas wie PIN und GUIN, und dann muss man sie verbinden.

Ansprechendes Arbeitsmaterial ist ein motivationaler Faktor zur Auseinandersetzung mit einer Thematik. Ein Kriterium für dessen Anfertigung und Bereitstellung seitens der Lehrkräfte ist das Alter und der Reifegrad, in dem sich Schüler*innen einer Lerngruppe befinden. Die Schülerin Franzi hat sicherlich Gefallen an der Aufmachung des kleinen Übungsheftchens gefunden, mit dem sie sich aus eigener Motivation heraus beschäftigt hat. Es ist gestaltet mit altersgerechten Bildern und führt die Kinder spielerisch an den Lerngegenstand heran.

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Welches Arbeitsmaterial generell als inspirierend empfunden wird, ist abhängig von Trends, Vorlieben und der Persönlichkeit einer/eines Lernenden oder einer Lerngruppe. Dies bei der Auswahl und Ausgestaltung von Arbeitsmaterial zu berücksichtigen, trägt dazu bei, die Lern- und Leistungsmotivation zu erhöhen. Muster 6: Differenzierung − Leroy, 9 J., 31.5.2018 L: In meiner neuen Schule finde ich, dass man mehr Auswahl hat. In der alten Schule durften wir immer nur eine Sache machen. Jetzt konnte ich auswählen, ob ich eine kleine Geschichte oder ein paar Sätze zum tz schreibe. Man konnte auch tz-Wörter aus dem Wörterbuch heraussuchen und die dann aufschreiben. Ich habe mich für das Wörter-Raussuchen entschieden. Ich kann das nicht so gut erklären, aber ich mag einfach so Wörter schreiben. I:

Macht diese Art zu lernen einen Unterschied?

L: Ja! Gestern hatte ich die Aufgabe, dass wir eine kleine Geschichte im Präsens, Perfekt oder Präteritum schreiben sollten. Das war eine Wahlaufgabe. Da habe ich mehr geschrieben, als ich eigentlich wollte. Da habe ich meinen Tag beschrieben, was ich heute so mache. I:

Hast du heute morgen schon an die Schule gedacht?

L: Ich habe mich heute auf Deutsch gefreut. Inzwischen mag ich immer mehr Deutsch. Ich habe heute gehofft, dass ich wieder ein paar Sätze schreiben konnte. Und dann kam noch etwas Besseres: dass ich lesen konnte. Ich lese »Gregs Tagebuch 5«. I:

Kannst du noch etwas zu den Sätzen sagen?

L: Ich habe jetzt um die 12 Sätze geschrieben und bin ziemlich zufrieden. Habe sehr wenige Fehler gemacht.

Der Schüler L. ist ein sehr guter Schüler in Mathematik. Die deutsche Rechtschreibung bereitet ihm hingegen große Schwierigkeiten, so dass er hier zusätzlich gefördert wird. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Befragte aussagt, gerne im Fach Deutsch zu schreiben. Damit schafft er die besten Voraussetzungen für sich, genannte Defizite möglichst rasch abbauen zu können. Ermöglicht wird ihm dies durch eine strukturelle Binnendifferenzierung der Lernangebote zu dem Unterrichtsthema. Er hat zudem die Möglichkeit, zwischen diesen selbst auszuwählen. Durch die Differenzierung kann ausgeschlossen werden, dass der Schüler sich überfordert fühlt. »Lernökonomie« bedeutet hier, dass er nur auf dem Level arbeitet, der einen guten Lernzuwachs hervorbringen kann. Durch die Arbeitsweise auf der alten Schule fühlte sich der Befragte eingeschränkt. Im

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

Vergleich beider Unterrichtsweisen erkennt L. selbst die Ursache für die neu gewonnene Motivation, in dem Fach zu arbeiten, das ihm weniger liegt: »Habe sehr wenige Fehler gemacht.« Muster 7: Mitbestimmung − Tom, 9 J., 31.5.2018 I:

Hast du dich schon vor der Schule auf etwas gefreut?

T: Ich habe mich gefreut, dass ich Hausaufgaben vorlesen könnte und dass ich zu Hause die Hausaufgaben, die Buchzettel, so gemacht habe. Mir gefällt, dass man erklären kann, wie man das Buch findet oder was man auch liest. I:

Über welches Buch hast du zuletzt geschrieben?

T: Das mit dem kleinen Bären habe ich beschrieben. Mir hat gefallen, dass es ein paar mehr Seiten hatte und dass die Schrift ein bisschen kleiner war als sonst. An manchen Stellen wurde sie größer. I:

Was hat es mit den Buchzetteln auf sich?

T: Ich lese ja immer so viele Bücher. Immer, wenn ich ein Buch durch habe und ein bisschen Zeit habe, dann mache ich einen. Ich lese so viel, weil ich Lesen gern mag, und Geschichten schreiben mag ich auch gerne. I:

Ist das eine Pflicht- oder Wahlaufgabe?

T: Eine Wahlaufgabe für die Klasse, eine Pflichtaufgabe für MICH. Wenn ich Bücher lese, schreibe ich mehr, weil ich dann auch mehr die Wörter kenne. Und dann kann ich sie auch immer mehr auswendig. Ich möchte auch fragen, ob einer eines von meinen Büchern ausleihen und lesen will.

Vorauszuschicken wäre hier, dass die »Buchzettel« von den Kindern immer dann ausgefüllt werden, wenn eins gelesen worden ist. Diese Arbeit hat vor anderen Aufgaben eine höhere Priorität. Der Schüler Tom hat diese Aufgabe gewählt und mit Freude ausgeführt. Er hat also gerne die Hausaufgaben gemacht. Dabei scheint es für ihn von größerer Bedeutung zu sein, dies auch mit der Klasse zu teilen. Zwei Aspekte spielen hier hinein: Würdigung und Interaktion. Es ist anzunehmen, dass das Vorlesen der Hausaufgaben eine Würdigung nach sich zieht. Schließlich hat der Schüler ein betreffendes Buch über einen längeren Zeitraum zuvor gelesen und darüber schriftlich reflektiert. Es ist auch davon auszugehen, dass seine Mitschüler*innen zum Teil ein echtes Interesse an seinen Ansichten über das Buch zeigen, was die subjektive Wichtigkeit seiner Arbeit im Vergleich zu anderen Hausarbeiten erhöht. Der Schüler Leroy, der sich zum Thema »Differenzierung« geäußert hat, ist in derselben Klasse wie Tom. Er sagt über eine Hausaufgabe aus: »Da habe ich mehr geschrieben, als ich eigentlich wollte. Da habe ich meinen Tag beschrieben, was ich

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heute so mache.« Wenn die Kinder ihre Ergebnisse vorlesen, ist davon auszugehen, dass eine größere Varietät vorherrscht. Dies hebt die Individualität der Kinder hervor und gibt deren Arbeitsergebnissen ein größeres Gewicht. Die Heranwachsenden können sich eher mit ihrer Arbeit identifizieren und auf die selbst erarbeiteten Ergebnisse stolz sein. Der Aspekt der Kommunikation ergibt sich aus der individuellen Arbeit. Dadurch, dass ein Schüler mitteilt, welchen Aufgabentypus er bearbeitet hat, entsteht für die zuhörenden Kinder mehr Abwechslung. Es werden nicht nur Ergebnisse verglichen, sondern auch unterschiedliche Arbeitsweisen. Die Kinder werden angehalten, darüber zu reflektieren, unter welchen Umständen und mit welchem Aufgabentyp sie die besten Lernergebnisse erzielen. Sie erfahren dadurch zudem mehr über sich selbst und ihre Mitschüler*innen. Der Befragte Tom berichtet daher nicht nur über das gelesene Buch, sondern auch über seine Lesevorlieben und Einstellung zu einigen Dingen. Er sagt aus: »Ich möchte auch fragen, ob einer eines von meinen Büchern ausleihen und lesen will«. Hier findet eine Interaktion statt, die über das Maß an schulischen Aufgaben hinausgeht. Der Unterricht findet Bezug zum realen Leben. 5.5.2 Zusammenfassung Die Kategorie »Lernökonomie« beinhaltet die Kategorien M1, »Arbeitsmethode«, M2, »Effizienz«, »M3, Überforderung«, M4, »Herausforderung«, M5, »Altersgerechter Zugang«, M6, »Differenzierung« und M7, »Mitbestimmung«. Die Muster dieser Kategorie zeigen auf, welche Faktoren das Lernen im Unterricht in methodischer Hinsicht und bezogen auf das Arbeitsmaterial erleichtern oder erschweren. Arbeitsmaterial sollte das Lernen zielgerichtet erleichtern und auf Überflüssiges verzichten. Dabei darf es nicht über- oder unterfordern. Die Aussagen der Schüler*innen machen allerdings deutlich, dass es hinsichtlich von Lernhilfen und Arbeitsmaterial keine allgemeingültigen und idealen Patentlösungen geben kann. Lernvoraussetzungen, Vorlieben, der Reifegrad von Schüler*innen und Lerntypen sind auch innerhalb einer Lerngruppe unterschiedlich. Es kann bestenfalls hinsichtlich Faktoren wie z.B. des Alters ein größter gemeinsamer Nenner gefunden werden, der Methodik und Aufmachung von Arbeitsmaterial determiniert. Innerhalb dessen sind Differenzierungen und die Möglichkeit der Mitgestaltung von Lernwegen seitens der Lernenden probate Möglichkeiten, Lernen individuell zu erleichtern und Misserfolgserlebnisse zu reduzieren.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

5.6

Orte im Feld der Schule

Der Begriff »Orte im Feld der Schule« beinhaltet jene, die sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gebäude der Institution befinden. Dass diese für einige Schülerinnen und Schüler eine wesentliche Rolle angesichts eines bevorstehenden Schultags haben, wird hier herausgestellt. Damit soll gleichermaßen der subjektive Belang für die Heranwachsenden und deren mögliches Potenzial als lernmotivierender oder inspirierender Aspekt herausgestellt werden. 5.6.1 Dimensionierung und Musterbildung: Darstellung und Interpretation Abbildung 6: Dimensionierung »Orte im Feld der Schule«

Die Muster M1 bis M8 bezeichnen schulbezogene Orte, die Gegenstand der Aussagen in den Ankerbeispielen sind. Sie wurden überwiegend positiv beschrieben und den Eigenschaften »lässt Raum für Individualität«, »inspirierend« und »+« für insgesamt ansprechend zugeordnet. Das Muster M1 hingegen trägt für eine befragte Schülerin das Merkmal »schränkt ein«. Je nach Zustand und Ausstattung derartiger schulischer Räume ist die positive oder negative Wirkung im Allgemeinen variabel. Je inspirierender Orte im Feld der Schule auf Lernende wirken und je mehr Raum für Individualität vorbehalten wird, desto bessere motivationale Bedingungen sind für erfolgreiches Lernen gegeben. Auf dieser Grundlage ergeben sich folgende Musterbildungen:

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x Muster 1: Der Klassenraum »Da habe ich gar keinen Platz.« (Heidi, 9 J.) x Muster 2: Der Pausenhof »Ich mag da Fußball spielen oder Ticker spielen.« (Max, 9 J.) x Muster 3: Der Kiosk »Alleine einkaufen? Nee! Immer war Mutti mit.« (Franzi, 8 J.) x Muster 4: Die Mensa »Dann habe ich mich halt darauf gefreut.« (Levin, 10 J.) x Muster 5: Die Betreuung »In der Betreuung spielen wir sonst mit Lego.« (Hugo, 7 J.) x Muster 6: Außerschulische Lernorte »Da sind wir mit einem Fischkutter aufs Meer gefahren und haben Fische und Krebse gesammelt.« (Tino, 10 J.) x Muster 7: Der Bus »Ein anderes Mal habe ich wieder diesen bunten Vogel gesehen.« (Franzi, 8 J.) x Muster 8: Sportstätten »Schwimmen macht viel mehr Spaß als in der Klasse zu hängen.« (Maike, 10 J.) Muster 1: Der Klassenraum − Heidi, 9 J., 22.2.2018 H: Ich würde mir gerne wünschen, dass Elke ihren Ranzen da weglegt. Morgens stellt sie den hier so hin, da habe ich gar keinen Platz für meinen. Das sage ich ihr immer, aber sie hört damit nicht auf. Da würde ich mir wünschen, dass der Tisch vielleicht ein bisschen weiter dahin kommt und dass wir unseren ein bisschen weiter nach da schieben können.

Tische und Stühle gehören im weiteren Sinne zum Equipment dazu, denn es wird mittelbar damit gearbeitet. Der Sitzplatz kann aus unterschiedlichen Gründen eine gute oder schlechte Lernvoraussetzung darstellen. Die Schülerin Heidi stört sich jeden Tag an ihrem zu knapp bemessenen Arbeitsplatz. Bisher ist es ihr nicht gelungen, dieses Problem zu lösen. Andere Faktoren, die hier wirksam sein könnten, wären z.B. die Nähe zu Freund*innen oder unruhige Tischnachbarn: »Ich finde es nur doof, wenn es immer so laut in der Klasse ist und am Tisch gequasselt wird, dann kann man nicht richtig lernen« (Lotte, 9 J.). Diese Schülerin hingegen bevorzugt zum Lernen die Gemeinschaft: »Ich kann am besten lernen, wenn es leise ist und ich nicht ganz alleine in einem Raum bin, dann fühle ich mich irgendwie geborgener« (Larissa, 8 J.). Der Arbeitsplatz sollte an die Bedürfnisse der Kinder angepasst sein und idealerweise durch seine Beschaffenheit oder Lokalisation zum Arbeiten

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

auffordern. Das bedeutet, dass alle Kinder einen Platz bekommen sollten, der lokal, materiell und auch ästhetisch die besten Bedingungen für das Lernen erfüllt und dazu einlädt. Hier ist besondere Rücksichtnahme auf besondere Bedürfnisse, z.B. das Sehen und Hören betreffend, erforderlich. Muster 2: Pausenhof − Max, 9 J., 7.3.2018 M: Da kommt ja die ganze Schule auf den Pausenhof, es sei denn, man muss nachsitzen. Ich mag da Fußball spielen oder Ticker spielen. Als es jetzt die Tage geschneit hat, und zwei Tage danach war das alles platt getrampelt, da konnte man auf dem Fußballfeld schlittern. Irgendwann ist ja auch die Schule vorbei.

Der Schüler Max denkt angesichts der Schule auch gerne an die Zeit auf dem Pausenhof. Es stellt für ihn eine Gelegenheit zum Spielen mit anderen Kindern dar. Die Aussage, dass die Schule irgendwann vorbei sei, weist darauf hin, dass die Lernmotivation weniger ausgeprägt ist als das Bedürfnis zu spielen. Auch hier deutet sich an, dass die Lernzeit für den Schüler, gleich der Hausaufgaben im Muster 2a, in Konkurrenz dazu steht. Positiv ist zumindest zu bewerten, dass er überhaupt gerne in die Pause geht und einen Ausgleich zum Arbeiten im Klassenraum findet. Hier sei auf die Bedeutung der Pausenhofgestaltung hingewiesen. Ein kindgerechter Schulhof bietet Platz zum Ruhen, Erholen, Kommunizieren, Bewegen, Spielen und der Bewältigung von Stresssituationen. Er kann das Schulleben dann attraktiver machen, wenn er einen hohen Aufforderungscharakter auch für die Schüler*innen hat, die weniger gerne lernen. Muster 3: Der Kiosk − Franzi, 8 J., 5.5.2018 I:

Hast du heute morgen schon an die Schule gedacht?

F: Eigentlich habe ich nur daran gedacht, dass ich schnell zum Bus kommen muss und hab gehofft, dass heute Kiosk ist. Da kann man sich was Leckeres kaufen, nur für 50ct. Ich würde mir ein Salamibrötchen kaufen, wenn es da so ein Brötchen gibt. I:

Gehst du sonst auch alleine einkaufen?

F: Alleine einkaufen? Nein! Immer war Mutti mit. Aber beim Kiosk natürlich nicht. Da kann sie ja nicht dabei sein. I:

Ist das für dich etwas ganz Besonderes?

F: Ja! Da sind ganz viele andere Kinder.

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Für die Schülerin Franzi ist der Kiosktag ein Ereignis, das Anlass zu höherer Freude als der Klassenunterricht gibt. Er findet einmal wöchentlich an jedem Freitag statt. Die Kinder können sich dort in der ersten großen Pause für Centbeträge Obst, belegte Brötchen usw. kaufen. Anhand der Aussage der Schülerin Franzi wird deutlich, dass auch der Kiosk einen Lernort darstellt. Von Haus aus darf sie noch nicht alleine einkaufen gehen. Der Kiosk ermöglicht ihr erste Erfahrungen im Umgang mit Geld. Im geschützten Bereich der Schule hat sie Gefallen an der Erprobung ihrer Selbständigkeit in einer Verkaufssituation. Auch hier wird der soziale Aspekt positiv herausgestellt: »Da sind ganz viele andere Kinder.« Dass ein Stück reale, außerschulische Lebenswirklichkeit in den Schulalltag hereingetragen wird, trägt hier zur schulischen Motivation bei. Die Aussagen der Schülerin verdeutlichen anhand des Kioskbeispiels, wie interessant und bedeutungsvoll der Schulalltag durch die Schaffung von Lebensnähe gestaltet werden kann. Ein realer Bezug zur Lebenswirklichkeit kann Kindern in der Schule thematische Zugänge zu Lerngegenständen unterschiedlicher Art erleichtern. Muster 4: Die Mensa − Levin, 10 J., 28.4.2018 I:

Woran hast du vor dem Schulbesuch gedacht?

L: Meine Mutter hat Essen für die Mensa bestellt. Da gab es Königsberger Klopse. Das ist eins meiner Lieblingsgerichte. Dann habe ich mich halt darauf gefreut.

Die Mensa und die Qualität des Essens sind ein nicht zu vernachlässigender Faktor hinsichtlich der Attraktivität einer Schule. »Liebe geht durch den Magen«, sagt der Volksmund. Eine Mensa kann ein Aushängeschild der Schule sein, wenn sie ästhetisch und funktional gestaltet ist und qualitativ hochwertiges Essen liefert. Für die Kinder bedeutet dies, es muss schmecken. Der Schüler Levin freut sich schon vor dem Schulbesuch auf das Mittagessen in der Schule. Dies ist ein Motivationsfaktor, der zumindest den bevorstehenden Tag in ein positives Licht rückt und sich möglicherweise auch positiv auf das Lernverhalten auswirkt. Muster 5: Die Betreuung − Hugo, 7 J., 05.05.2018 I: J:

Hast du heute morgen schon an die Schule gedacht? Ja, dass ich endlich wieder in der Schule bin, weil ich zwei Tage krank war. Ich hatte Fieber, Husten und Schnupfen. Und dass ich wieder mit Tim spielen kann. In der Pause gehen wir immer an Arno vorbei, aber dann jagt er uns immer und stellt uns Beinhaken. In der Betreuung spielen wir sonst mit Lego. Als Letztes habe ich an einer ganzen Armee gebaut.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

Der Erstklässler geht gern zur Schule. Seine Äußerungen legen nah, dass soziale Aspekte für ihn im Vordergrund stehen. Positiv beschreibt er seine Beziehung zu Tim. Gern verbringt er seine Zeit mit ihm. Als Negativbeispiel führt er einen anderen Mitschüler an, der beide ständig auf dem Schulhof ärgert. Spielen ist ihm sehr wichtig. Unterricht und Lernen hingegen werden gar nicht erwähnt. Die Betreuung bietet ihm die Möglichkeit, seinem natürlichen Bedürfnis nach spielerischer Betätigung, das ganz seinem Alter entspricht, nachzukommen. Die Schule ist aus diesem Grund für ihn ein Ort, an dem er sich gerne aufhält. Hinsichtlich seines Lernverhaltens lässt sich daraus eine spielerische Herangehensweise an Aufgabenstellungen zum erfolgreichen Lernen ableiten. Muster 6: Außerschulische Lernorte − Tino, 10 J., 12.06.2018 I:

Hast du dich auf etwas besonders gefreut?

T: Als wir auf Klassenfahrt gefahren sind, nach Eckernförde. Das war in der vierten Klasse im September. Da sind wir mit einem Fischkutter aufs Meer gefahren und haben Fische und Krebse gesammelt. Dann waren wir in einem Freizeitpark. Freizeit ist etwas anderes als Schule. Da haben wir mehr mit der Klasse gemacht als Rechnen, Kopfaufgaben und Schreiben.

Der Befragte hat zweifellos etwas auf der Klassenfahrt gelernt, sei es über das Fischen, Meerestiere der Ostsee oder das soziale Miteinander. Er empfindet die Inhalte, die damit verbunden sind, allerdings als »etwas anderes als Schule«. Letztlich unterscheidet er zwischen zwei Lernorten. Den einen, die Schule, empfindet er als einen solchen, den anderen, Eckernförde, nicht. Der außerschulische ist für ihn besonders attraktiv, weil er mit vielen und einprägsameren Inhalten gefüllt ist. Hier wird seine Neugier und das Interesse »by doing« im realen Leben geweckt. Das empfindet er nicht als Lernen. Anscheinend ist der Begriff »Lernen« für T. recht einseitig besetzt, d.h., er verknüpft damit bloße Theorie, das Klassenzimmer als Lernort ohne Realbezug und die ausschließliche Kopfarbeit. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig praxisorientiertes Lernen ist. Vielfach fällt es Kindern leichter zu begreifen, wenn sie einen Realitätsbezug für sich erkennen. Muster 7: Der Bus − Franzi, 8 J., 5.5.2018 I:

Freust du dich auch morgens auf die Schule?

F: Manchmal freue ich mich. Ich habe nämlich mal so einen Vogel gesehen. Ich glaube, er heißt »Fasan«, einen ganz bunten, und einmal habe ich einen Storch

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gesehen. Ein anderes Mal habe ich wieder diesen bunten Vogel gesehen – bei der Busfahrt.

Für die Schülerin Franzi stellt auch die tägliche Busfahrt hin zur Schule und zurück bisweilen ein Highlight dar. Wie im vorhergehenden Ankerbeispiel herausgestellt, ist es nicht nur der Unterricht im Klassenraum, den Heranwachsende mit »Schule« assoziieren. Die beeindruckenden Erlebnisse während ihrer Busfahrten eignen sich hervorragend als Anknüpfungspunkte an viele unterrichtliche Themen. Sie lassen sich nutzbringend dem Lernen zuführen. Muster 8: Sportstätten − Maike, 10 J., 6.9.2018 I:

Wie ist das Lernen an anderen Orten für dich?

M: Ich finde Schwimmen macht viel mehr Spaß als in der Klasse zu hängen und einen Test zu schreiben. Wir haben da eine tolle Lehrerin und lernen sehr viel. Gestern haben wir einen Kopfsprung gelernt und richtig tauchen, ohne die Nase zuzuhalten.

Die Viertklässlerin stellt einen Vergleich zwischen dem Unterricht im Klassenzimmer und der Schwimmhalle an. Ihre Präferenz ist offensichtlich. Sie stellt grobmotorische Bewegungsziele, Tauchen und Kopfsprung, dem Sitzen und Schreiben gegenüber. Der Klassenunterricht wird negativ dargestellt. Sie »hängt« herum. Hier fehlen positive Anspannung, Inspiration und Konzentration. Der Test versinnbildlicht Langeweile und Eingeschränktheit im Denken und Handeln, möglicherweise auch zu hohe Anforderungen, die demotivieren. Der Schwimmunterricht hingegen erfüllt sie mit Freude, die nicht zuletzt auch durch die Persönlichkeit der Lehrkraft verstärkt wird. Hervorzuheben ist hier, dass die Viertklässlerin ihre Lernerfolge herausstellt. In dieser Stunde konnte sie ihre Fähigkeiten erweitern, im Unterricht fällt ihr dies nicht so leicht. Für die Befragte als »Bewegungsmensch« stellt der Schwimmunterricht einen Ausgleich zum vornehmlich kognitiven und bewegungsarmen Lernen im Klassenraum dar. Es wäre für sie sicherlich hilfreich, wenn Aspekte des Schwimm- bzw. Sportunterrichts auch im Klassenraum realisiert werden könnten. Die Möglichkeit zur lokalen Öffnung und eine Abkehr vom Lernen an einem als beengt und einschränkend empfundenen Arbeitsplatz könnten der »hängenden« Haltung beim Lernen entgegenwirken.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

5.6.2 Zusammenfassung Die Kategorie »Orte im Feld der Schule« umfasst die Muster M1, »Klassenraum«, M2, »Pausenhof«, M3, »Der Kiosk«, M4, »Die Mensa«, M5, »Die Betreuung«, M6, »Außerschulische Lernorte«, M7, »Der Bus« und M8, »Sportstätten«. Alle Lokalitäten wurden von den Schüler*innen als bedeutsam für ihren Schulbesuch erachtet. Sie habe nicht nur einen Einfluss auf das Wohlbefinden am Lernort, sondern stellen teilweise neben einer anderen Funktion einen solchen dar, wie z.B. der Kiosk oder der Bus. Der Reiz für die Heranwachsenden besteht in der Möglichkeit, außerschulische Realität mit schulischen Lerninhalten zu verknüpfen. Der Pausenhof, die Betreuung und Sportstätten werden u.a. aufgrund ihrer Offenheit und Bewegungs- und Spielmöglichkeiten geschätzt. Sie erfüllen zum Teil eine Ausgleichsfunktion zum Lernen im Klassenraum. Diese Orte stellen einen motivationalen Faktor dar und inspirieren die Lernenden, wenn sie auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Gleichermaßen kann auch das Gegenteil eintreten, wenn dies nicht der Fall ist.

5.7

Ziele

Zu erreichende Ziele stellen einen intrinsischen oder extrinsischen Motivationsfaktor dar, sich benötigtes Wissen anzueignen. D.h., die Motivation kommt entweder aus der Schülerin oder dem Schüler selbst heraus oder anderen Personen gelingt es, Ziele für das Kind zu setzen, die seine Lebenswirklichkeit betreffen. Letztlich resultieren hieraus die Bemühungen einiger Eltern, gelungene Arbeiten mit Belohnungen zu bedenken. Von der gewählten Art der Belohnung darf man annehmen, dass sie den Kindern mehr zusagt als das Ziel, für die eigene Zukunft zu lernen.

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5.7.1 Dimensionierung und Musterbildung: Darstellung und Interpretation Abbildung 7: Dimensionierung »Ziele«

Die vertikale Achse veranschaulicht die Intensität der Lernmotivation. An der horizontalen Achse ist abzulesen, wie groß die persönliche Akzeptanz hinsichtlich der Lernaufgaben ist. Es ist abzulesen, dass die höchste Motivation eigenen Engagements durch das Muster M1, »Eigene Ziele« abgebildet wird. Das Muster M2 weist zunächst bei einer geringeren Akzeptanz eine geringere Lernmotivation auf. Dies ist jedoch durch Einwirkung von Pädagog*innen und Erziehungspersonen positiv beeinflussbar. Das Muster M3 deutet auf die geringste persönliche Akzeptanz und Lernmotivation hin. Die Bezeichnungen der Muster lauten wie folgt: x Muster 1: Eigene Ziele »Ich denke an das Gymnasium.« (Anke, 9 J.) x Muster 2: Positive Ersatzziele »Wir haben zu Hause mit meinen Geschwistern ein Punktesystem.« (Fritz, 9 J.) x Muster 3: Negative Ersatzziele »Kann ich einmal sagen, welche Strafen ich am meisten hasse?« (Emely, 9 J.)

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

Muster 1: Eigene Ziele − Anke, 9 J., 13.6.2018 A: Ich denke an das Gymnasium. Deswegen versuche ich immer in Tests gute Noten zu schreiben und lerne dann auch dafür ganz viel: In Deutsch die Lernwörter und manchmal in Mathe und für den Sachunterricht etwas. Das mache ich auch zu Hause mit meiner Mutter. Die diktiert mir dann. I:

Was macht das mit dir im Unterricht?

A: Ich möchte mich konzentrieren und gut arbeiten.

Die Drittklässlerin ist eine ehrgeizige Schülerin und erzielt in der Regel sehr gute bis gute Noten in der Schule. Ihr Ziel ist es, auf das Gymnasium zu gehen. Dieses nahe gelegene Ziel teilt sie sich mit einer Reihe anderer Schüler*innen, die deshalb im Unterricht und zu Hause ihr Bestes geben, um gute Resultate zu erzielen. Das besondere Merkmal dieses Musters ist, dass das erklärte Ziel von der Schülerin oder dem Schüler selbst generiert wird. Es basiert auf Grundintelligenz und vernünftiger Einsicht, die von einem fortgeschrittenen Reifegrad zeugt (vgl. Tabelle 1). Heranwachsende erkennen den Zusammenhang für sich, dass schulische Bemühungen zur späteren Erfüllung beruflicher Ziele führen. Da viele der Grundschüler*innen sich noch nicht im Prozess des Loslösens und vornehmlichen Selbständig-Werdens befinden, überlassen sie viele Probleme und Angelegenheiten den Eltern zur Lösungsfindung (vgl. Reimann-Pöhlsen, 2017, S. 220ff.). Das heißt, Gedanken an eine Zukunft und damit verbundene Ziele sind für viele Kinder kein Thema, das ihre Welt berührt. Muster 2: Positive Ersatzziele − Fritz, 9 J., 2.3.2018 F: Wir haben zu Hause mit meinen Geschwistern ein Punktesystem. Da haben wir Magneteulen. Die können wir zum Fernsehgucken oder iPod-Spielen einlösen. In ein Kästchen passen 12, und 10 reichen auch schon dafür aus. Ich habe viel geübt, weil ich eine gute Punktzahl kriegen wollte.

Die Eltern wirken auf ihre Kinder in der Absicht ein, sie zum Arbeiten für die Schule zu motivieren. Sie ersinnen hier ein Ersatzziel, das für den Befragten in seiner Welt eine Bedeutung hat. Diese ist real und betrifft ihn. Der geflügelte Satz, dass man für sein Leben und nicht für die Schule lerne, hätte für F. bestenfalls eine fiktive, abstrakte Bedeutung, die zu Motivationszwecken (noch) nicht ausreichend ist. Dem Befragten hingegen sagt diese Art der sanften Motivation zu, die ihm Fernseh- oder iPod – Spielzeiten einbringt. Es spornt ihn in positiver Weise zum Arbeiten an: »Ich finde schon, dass meine Schrift sehr gut ist und ich

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schreibe auch viel ab. Ich kann das gut und ich habe auch viel dafür geübt.« Nicht nur die so verdiente Freizeitbeschäftigung, sondern auch das Arbeitsergebnis nach den Bemühungen stellt ihn zufrieden und sorgt so für eine Kontinuität in der Motivationsbilanz. Muster 3: Negative Ersatzziele − Emely, 9 J., 16.4.2018 I:

Was findest du so toll am Schreiben von Geschichten?

E: Wenn ich dann eine Eins kriege, ich kriege ja fast immer eine Eins dafür, dann bekomme ich fünf Euro. Ich habe über den Zirkus geschrieben. I:

Erinnerst du dich an einen Tag, an dem du morgens ein ungutes Gefühl hattest?

E: Eigentlich wäre ich gerne zu Hause geblieben, weil Frau K. immer etwas in mein Hausaufgabenheft schreibt. Das ist schon ganz oft vorgekommen. Dann meckert meine Mama immer, und mein Papa gibt immer so extreme Strafen. Kann ich einmal sagen, welche Strafen ich am meisten hasse?

Ein Ersatzziel kann auch negativ sein. Einerseits nimmt die Mutter zwar an, dass ihre Tochter bereit ist, Geld als Ziel für ihre Lernanstrengungen zu setzen, andererseits vertraut der Vater auf die Wirkung von Strafen. Die Schülerin E. soll derart zu positiven Leistungen motiviert werden, dass sie Strafe bei Nichterfüllung fürchtet. Zum einen liegt hier keine verlässliche Ordnung seitens der Eltern vor, die der Schülerin Emely Orientierung bietet. Zum anderen ist anzunehmen, dass sie auf Druck und unter Angst nicht die gewünschten Leistungen erbringen kann, denn im Ergebnis baut die Schülerin ein schulaversives Verhalten auf und ist inzwischen trotz ihres jungen Alters den sogenannten »Schulschwänzern« zuzuordnen: »Eigentlich gehe ich immer zu dem Spielplatz neben Rewe. Ich mag es so gerne, wenn die Tauben immer ankommen.« 5.7.2 Zusammenfassung Die Kategorie »Ziele« umfasst folgende Muster: M1, »Eigene Ziele«, M2, »Positive Ersatzziele« und M3, »Negative Ersatzziele«. Das Kapitel zeichnet in M1 das Idealbild von einem Kind, welches aus eigener Motivation lernt und dabei eigene Ziele vor Augen hat. Die Muster M2 und M3 verdeutlichen aber, dass das nicht alle Kinder leisten oder leisten können. Auch hier stellt sich wieder die Frage nach dem Realbezug für die Kinder. Sind Lernziel und Zweck für Lernende persönlich greifbar und gehen sie etwas an, dann ist die Chance auf einsichtiges Lernen, verbunden mit eigenen Zielen, groß. Schulkinder, für die höhere Ziele, z.B. der Schulwechsel, noch nicht vorstellbar sind oder für die Lerninhalte außerhalb

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

des eigenen Interessensgebietes liegen, verfügen oftmals noch nicht über einen entsprechenden Reifegrad, der weiterführende Einsichten ermöglicht (vgl. Modell Selmans, Kap. 2.2.1). Diese Kinder sind, dem natürlichen Lauf der Entwicklung folgend, eher auf sich selbst bezogen und haben den hierfür entscheidenden nächsten Entwicklungsschritt noch vor sich. Hier können Eltern sanfte Unterstützung durch das Kreieren von Ersatzzielen leisten, die das Kind versteht und anspricht, letztlich zum Lernen motiviert. Negativ ist es zu bewerten, wenn Druck und Angst die Basis bilden. Das birgt die Gefahr des Aufbaus einer Haltung, die sich auf die Bereitschaft zur Bewältigung von Herausforderungen und Aufgaben negativ auswirkt. Letztlich wird Raum zur Förderung selbständigen Arbeitens beschnitten.

5.8

Kernkategorie: Wirksame Mom ente

5.8.1 Einführung Die Felder, welche die Heranwachsenden angesichts eines Schultags als bedeutsam erachten, werden in diesem Kapitel bildhaft dargestellt, zusammengefasst und in Beziehung zu der Kernkategorie »Wirksame Momente« gesetzt. Das Zusammenfügen dieser Teile zeichnet ein Bild von den Belangen der Schülerinnen und Schüler, die als sehr bedeutend und vornehmlich eingestuft werden. Ziel ist es, den Kategorien und Mustern motivationale bez. demotivationale Hinweise zu entnehmen und Kindern den Zugang zum Lernen zu erleichtern. 5.8.2 Begründung der Kernkategorie Die Kernkategorie umfasst in übergeordneter Weise alle sieben Kategorien mit ihren untergeordneten Mustern. Jeder Bereich, den die Schülerinnen und Schüler angesichts eines Schulvormittags beschreiben, stellt für sie in positiver oder negativer Weise etwas Besonderes dar, denn die Episoden erzählen von den Ereignissen oder Gegebenheiten, an die Heranwachsende morgens als erstes denken, bevor sie in die Schule gehen. Ihnen darf ein höheres Maß an Gewicht zugemessen werden als Themen, an die sie durch einen Moderator oder Umfragebögen herangeführt werden. Die geschilderten Episoden beeinflussen Einstellungen und Befindlichkeiten der Schüler*innen hinsichtlich des Gesamtkonzepts »Schule«. Es handelt sich um beeindruckende und bewegende Momente, die erstrangig sind. Daher ist auch anzunehmen, dass deren Wirkung in temporärer Hinsicht und angesichts ihrer Intensität nachhaltig ist. An dieser Stelle soll

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herausgearbeitet werden, welche Faktoren und/oder Mechanismen auf die schulbezogene Befindlichkeit der Kinder in diesem besonderen Maße wirken. Das folgende Schaubild zeigt die Kernkategorie »Wirksame Momente« und die Faktoren, Mechanismen bzw. Ereignisse, die hier relevant sind. Abbildung 8: Wirksame Momente, sieben Kategorien und eine Kernkategorie

Orte im Feld der Schule als wirksame Momente

Es liegt sicherlich für einige genannte Orte auf der Hand, dass diese einen Einfluss auf die Befindlichkeit und allgemeine Lernmotivation der Kinder haben. Ein ansprechender Klassenraum, ein kindgerechter Pausenhof, eine gut ausgestattete Sporthalle, intakte Außenanlagen etc. bieten variablere und facettenreichere Nutzungsmöglichkeiten als veraltete und einem Renovierungsstau unterliegende Gegebenheiten. An dieser Stelle sei daher betont, dass nicht nur pädagogische Professionalität, sondern auch finanzielle Zuwendungen an Schulen

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

ein wesentlicher Faktoren ist, der wirksame Momente im positiven Sinne bedingt. Diese Kategorie macht auch deutlich, dass sich Erwachsene zum besseren Verständnis der Sicht auf die Welt Heranwachsender einem Feld öffnen müssen, das ebenso weit ist wie die Individualität der Schüler*innen, die dieses ausfüllen. Dass nebensächlich anmutende Ereignisse wie eine Busfahrt oder ein Kioskbesuch ein Highlight darstellen können, ist bemerkenswert und sollte auf der Liste der Faktoren, die einem lernbezogenen Nutzen zugeführt werden können, nicht übersehen werden. Umgang mit Schulmaterial als wirksamer Moment

Das Material betreffend sei auf eben Genanntes verwiesen. Zum einen Teil liegt die Ausgestaltung der Lernumgebung im Verantwortungsbereich der Schule, zum anderen in dem des Elternhauses. Es herrscht große Angebotsvielfalt an Material wie Federtaschen, Stiften und anderen Schulsachen, die zeitbedingten Trends unterliegen und einen hohen Aufforderungscharakter haben. Den Aussagen der Kinder ist zu entnehmen, dass motiviertes Arbeiten bei einigen auf Objektempathie, der Vorliebe für ein bestimmtes Material, zurückzuführen ist. Dies soll nicht den Schluss zulassen, dass es angezeigt ist, allen Wünschen in dieser Hinsicht nachzugeben. Unerlässlich ist es von Elternseite dennoch, Heranwachsende mit allem Notwendigen auszustatten und verbrauchtes bzw. abgenutztes Material zeitig zu ersetzen. Dies stellt für Schüler*innen im Gegensatz zu ansprechenden Materialien einen negativ wirksamen Moment dar. Rahmenbedingungen als wirksame Momente

Der Unterrichtsbeginn ist als Stressfaktor oder Grund für Unkonzentriertheit von einigen Schüler*innen negativ beurteilt worden. Hausaufgaben und Zensuren sind hingegen Faktoren, die sich, je nach individueller Ausprägung, sowohl positiv als auch negativ auf das Befinden der Heranwachsenden auswirken. Hier verweise ich zur eigenen Meinungsbildung auf Studienergebnisse (z.B. Göllner et al., 2017; Hattie, 2015; Ingenkamp, 1995; Lipowski, 2007), die unterschiedlichsten Ansichten gerecht werden. Den Aussagen der Kinder kann entnommen werden, dass einige eine Beurteilung nach Noten als persönlichen Anreiz und Selbstbestätigung wünschen, während es bei anderen Druck und Angstgefühle hervorruft, die unbeschwertem Lernen entgegenstehen. Die Hausaufgaben hingegen werden von den Heranwachsenden einerseits unreflektiert hingenommen oder gern angenommen, um Unterrichtsinhalte allein oder mit Hilfe anderer in Ruhe

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zu vertiefen. Andererseits stehen sie für viele Kinder dem natürlichen Spielbedürfnis entgegen und sind bisweilen Ursache kritischer Situationen, da die Lernzeit subjektiv ausschließlich dem Ort »Schule« und den Unterrichtsstunden zugeordnet wird. Unterrichtsinhalte als wirksame Momente

Zum Einstieg in eine Thematik ist es für Heranwachsende von Vorteil, wenn diese auf Erfahrungen oder Bekanntes aus ihrem Lebensumfeld zurückgreifen können. Der wirksame Moment ist die Erinnerung an vorhandenes Wissen, das sofort zur Verfügung steht und bei diversen Aufgabenstellungen die Ideenfindung und das Verständnis beim Lernen erleichtert. Als hochwirksam lässt sich der Moment beschreiben, wenn dieser sich mit persönlichem Interesse deckt. Im Falle fächerübergreifenden Unterrichts profitieren die Schüler*innen davon, dass sich Vorkenntnisse und neu Gelerntes bis zum Ziel des Kompetenzerwerbs spiralartig erweitern und sich die Anzahl der wirksamen Momente in diesem Prozess erhöht. Wirksame Momente durch Lernökonomie

Es kann davon ausgegangen werden, dass Schüler*innen beste Ergebnisse erzielen wollen und unglücklich darüber sind, wenn dies nicht gelingt. Positiv wirksam sind Momente, in denen Lernziele als erreichbar wahrgenommen werden und sich daher der Einsatz lohnt. Unterschiedliche alters- und typbedingte Voraussetzungen determinieren hier das Feld. Übereinstimmend gilt, dass alle Lernenden möglichst rasch gesteckte Ziele erreichen und Überflüssiges, z.B. Aufgabenstellungen abschreiben, aussparen möchten. Jeder möchte im Rahmen des Machbaren gefordert und nicht überfordert werden. Dazu sind seitens der Lehrpersonen Differenzierungsmaßnahmen nötig. Dies betrifft auch ansprechende Lernzugänge hinsichtlich des Reifegrades von Kindern, der innerhalb einer Lerngruppe variieren kann. Ein hoher Grad an Wirksamkeit wird den Aussagen der Kinder nach in einer Gruppe erreicht, wenn die Möglichkeit besteht, Lernziele auf individuellen, zum Teil selbst gestalteten Wegen zu erreichen. Nötig ist dazu die Bereitstellung unterschiedlichen Materials und/oder verschiedener Aufgabenstellungen zu einem Inhalt, unter denen Schüler*innen Passendes wählen können. Als wirksam haben sich z.B. für einige Lerntypen offene und kreative Zugänge erwiesen, für andere hingegen konkrete Vorgaben zum Abarbeiten.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie Ziele als wirksame Momente

Schüler*innen der Klassenstufen drei und vier gaben an, dass der Schulwechsel ihr Lern- und Arbeitsverhalten bestimmen würde. Die Aussicht, ein persönliches Ziel zu erreichen, ist hinsichtlich ihres Ehrgeizes und ihrer Motivation ein bedeutender wirksamer Moment. Oftmals sind verfolgte Ziele Heranwachsender sekundärer Art, wenn sie über einen Vermittler an tatsächliche oder vermeintliche Bedürfnisse des Kindes angepasst werden. Vermittler können Lehr- oder Erziehungspersonen sein, die Ersatzanreize durch Belohnungen unterschiedlicher Art schaffen, wenn das primäre Bildungsziel keinen motivationalen Lernfaktor darstellt. Negativ besetzt sind Ersatzziele, die einhergehen mit wirksamen Momenten der Furcht vor physischem oder psychischem Leid, wenn der Anreiz zu arbeiten durch Androhung von Strafen erhöht werden soll. Die Wirksamkeit persönlicher Ziele ist als zuverlässig einzustufen. Im Gegensatz dazu stehen negative Ersatzziele. Häufig gehen problematische Situationen auf der Beziehungsebene zwischen Heranwachsenden und Elternhaus voraus und ziehen selbige nach sich. Es lässt sich erahnen, dass gewünschte Ergebnisse auf diese Weise kaum und ohne negative Folgen für die Psyche eines Kindes zu erreichen sind. Das Beziehungsfeld als wirksamer Moment

Personen im Umfeld der Heranwachsenden haben einen erheblichen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Motivation, zu lernen. Innerhalb der Peergruppe unterstützen Faktoren wie Freundschaft und Respekt den Mitschüler*innen, Lehrkräften und Unterrichtsinhalten gegenüber eine positive Einstellung hinsichtlich Schule und Lernen. Die Lehrkraft, welche die Sympathie der Kinder auf ihrer Seite hat, fügt sich hier ein. Seitens des Elternhauses wirkt sich Beistand und Unterstützung positiv aus, wenn dies einvernehmlich und ohne Unmut geschieht. Soziale Spannungen hingegen wirken sich sowohl negativ auf das Lernverhalten involvierter als auch nahestehender Personen aus. Der wirkende Moment ist hier die akute oder dauerhafte Sorge um das eigene Wohl und das befreundeter Kinder, die bedrohliche Situationen im schulischen Feld erleben. Ablenkung im Unterricht durch entsprechendes Verhalten der Peergruppe ist ein weiterer Faktor, der das Lernverhalten negativ beeinflussen kann. Allerdings ist mangelndes Konzentrationsvermögen auch bisweilen darauf zurückzuführen, dass bedeutende externe Ereignisse den schulischen Ablauf überlagern. Sind diese nur von kurzer Dauer, so sind die Auswirkungen gering

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einzuschätzen. Extern ablenkend wirkende Momente von längerfristiger Dauer hingegen sind als kritisch zu bewerten. Wirksame Momente erfolgreichem Lernen zuführen

Während es gilt, negative wirksame Momente für die Schüler*innen zu reduzieren bzw. aufzulösen, sollten positive genutzt werden, um sie erfolgreichem Lernen zuzuführen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass wirksame Momente, die Schule betreffend, sich sowohl auf die Lernumgebung als auch auf Nebenbereiche beziehen, die pädagogisch nicht unbedingt im Fokus stehen. Zu nennen wären hier Orte wie die Mensa, der Kiosk oder die Fahrt mit dem Bus zur Schule. Dies weist darauf hin, dass sich Einschätzungen Erwachsener hinsichtlich schulischer Präferenzen der Kinder sehr unterscheiden können. Es ist davon auszugehen, dass das didaktische und methodische Vorgehen von Pädagog*innen einer Lerngruppe bestmöglich angepasst wird, um größtmögliche motivationale Effekte zu erzielen. Angesprochen wird dadurch stets der Großteil einer Lerngruppe, die hier wirksame Momente erfahren, die lernförderlich sind. Doch einige Kinder fallen in der Regel aus diesem Raster heraus, weil sie sich nur schwer motivieren lassen oder angenommen wird, dass sie nicht genügend Lernpotenzial haben. Fatal ist es, wenn die Lernenden selbst annehmen, dass sie allgemeine Lernziele mangels Intelligenz nicht erreichen können. Gerade für diese Schüler*innen ist es lohnend, ihre persönlich positiv wirksamen Momente zu entdecken, um ihnen den Zugang zu erfolgreichem Lernen zu erleichtern. Es wird hier davon ausgegangen, dass sich bei normal entwickelten Schüler*innen die Erfahrungen und persönlichen Neigungen unterscheiden, weniger aber die kognitiven Potenziale. Dies berücksichtigend, soll im Folgenden auf Grundgedanken konstruktivistischen Lernens aufmerksam gemacht werden, die der theoretischen Anreicherung der Kernkategorie dienlich sind. 5.8.3 Exkurs: Leitgedanken des Konstruktivismus Grundgedanke des Konstruktivismus ist die Abkehr vom Gedanken eines objektiven Weltbilds hin zu einer subjektiven Realität, die Personen mithilfe aufgenommener Eindrücke für sich konstruieren. Die individuelle Ausprägung eines Menschen, seine Erfahrungen und sein Wissen bestimmen demnach das Bild, das eine Person von seiner Umwelt hat, maßgeblich. Reize werden über die Sinne visuell, auditiv, haptisch etc. aufgenommen und erfahren eine Interpretation, die auf Bekanntem basiert. Abbildung 9 zeigt, dass die Aufmerksamkeit demnach stets auf eine zuvor subjektiv gefärbte Realität

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

gelenkt wird. Diese wird um neue Sinneseindrücke ergänzt und wiederum zu einem persönlichen Bild wahrgenommener Ereignisse/Elemente vervollständigt. Abbildung 9: Konstruktivistisches Abbild der Wahrnehmung

Bezogen auf schulischen Unterricht bedeutet dies, dass sich die Vermittlung von Wissen nicht ungefiltert von einer Person zur anderen vollziehen lässt. Die aufgenommenen Sinneseindrücke und Inhalte entsprechen Bausteinen, die in ein bereits bestehendes Gefüge von Eindrücken integriert werden. So konstruieren die Lernenden, basierend auf deren Persönlichkeit und Vorwissen, ein eigenes und individuelles Abbild der Realität (vgl. Neubert, Reich & Voß, 2001). Dies ist ein aktiver mentaler Vorgang, der durch die Lehrenden angeregt werden muss. Im Prozess schulischen Lernens steht der Grundidee konstruktivistischen Denkens nach das selbständige Entdecken der Unterrichtsinhalte im Vordergrund. Dies deckt sich mit der Hinwendung zum kompetenzorientierten Unterricht, dessen Einstieg in eine Thematik das selbständige Entdecken korrespondierender Fakten favorisiert. Eine Lehrkraft organisiert und strukturiert dabei den Lernvorgang mehr, als dass sie das Wissen direkt vermittelt. Sie schafft Lernwelten und begleitet Schüler*innen dabei, sich Inhalte zu erschließen, Zusammenhänge zu erkennen und Lernziele zu erreichen. Die Aufnahme von Wissen geschieht unter emotionaler Beteiligung der Lernenden und gilt daher als effektiver und nachhaltiger (vgl. Thissen, 1997, S. 69ff.). 5.8.4 Bezug auf die Kernkategorie Hinsichtlich der Problematik, alle Lernenden bei der Vermittlung von Unterrichtsinhalten zu erreichen, erscheint es sinnvoll, Aspekte des Konstruktivismus zu berücksichtigen. Lernstarken Schüler*innen fällt es leicht, sich verschiedenen

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Unterrichtsstilen anzupassen. Sie finden müheloser einen Zugang zu Lernthemen und können unter unterschiedlichen motivationalen Bedingungen lernen. D.h., auch bei geringerem Interesse sind sie in der Lage, vorgegebene Inhalte abzuarbeiten. Jenen, die hingegen keine Anknüpfungspunkte an neue Lerninhalte finden, gelingt der Einstieg oft nicht. Mindert dies die Motivation, zusätzliche Ressourcen zu aktivieren, verbleiben einige Schüler*innen angesichts der Fremdartigkeit des Lernstoffs in einem Zustand der Ideenlosigkeit und Blockade. Die folgende Abbildung soll die Diskrepanz vermuteter und tatsächlicher Ankerpunkte zwischen Lehrperson und Lernenden veranschaulichen. Abbildung 10: Diskrepanz zwischen vermuteten und tatsächlichen Ankerpunkten

Grau ausgefüllte Kreise symbolisieren eine gelungene Ankerbindung. Ein Lerngegenstand entwickelt sich unter didaktischer und methodischer Aufarbeitung für eine spezifische Lerngruppe als wirksamer Moment. Die Schüler*innen fühlen sich angesprochen. Die Thematik berührt und betrifft sie in irgendeiner Art und Weise, so dass das geweckte Interesse den Lernprozess ebnet.

5. Sieben Kategorien und eine Kernkategorie

Zum überwiegenden Teil gelingt Teilnehmer*innen einer Lerngruppe ein thematischer Einstieg. Handlungsbedarf besteht bei denjenigen, die motivational nicht erreicht werden können, dargestellt durch einen weißen Zielpfeil, der ins Leere läuft. Bei vielen Themen ist ein entdeckendes Lernen, das verschiedene Pfade zum Erreichen eines Ziels zulässt, möglich. Hier lassen sich positiv wirksame Momente, wie sie von Befragten der Stichprobe geschildert worden sind, nutzbringend dem Lernen zuführen. Voraussetzung dafür ist, dass diese den Lehrenden durch Beobachtungen und Gesprächen als Ankerpunkte und Lernhilfe ins Bewusstsein rücken. Bei problematischem Lernverhalten reichen in der Regel Erfahrungen und Mutmaßungen über Lernzugänge nicht aus. Wie zuvor beschrieben, hat jede Person eine eigene, subjektive Sicht auf Dinge und ihre Umwelt. Es ist also davon auszugehen, dass diese Bilder nicht nur generationsbedingt zwischen Lehrendem und Lernendem grundverschieden sein können. Hier wird davon ausgegangen, dass nicht grundsätzlich alle Themen für den Unterricht nach lerntheoretisch konstruktivistischen Vorgaben geeignet sind. Grundschüler*innen einen persönlichen Zugang zum Gebrauch des Akkusativs und Dativs zu verschaffen, ist kaum möglich. Dennoch bleiben genügend Bereiche, in denen Interesse und Arbeitshaltung über einen individuellen Lernzugang positiv beeinflusst werden können. Auf diese Weise finden sich sonst problembehaftete Lernende Seite an Seite mit den Lernstarken in einem unblockierten und damit unbeschwerten Lernprozess wieder. Gleiche Ziele werden anvisiert, aber in der Arbeitsweise auf unterschiedlichen Wegen verfolgt. Was sich einstellt, ist Lernerfolg. Es muss berücksichtigt werden, dass auch das Lerntempo divergiert. 5.8.5 Zusammenfassung Insgesamt konnten sieben Kategorien aus den Daten extrahiert werden. Diese sind: Unterrichtsinhalte, Rahmenbedingungen, Beziehungsfeld, Ziele, Lernökonomie, Umgang mit Schulmaterial und Orte im Feld der Schule. Es sind Ereignisse, Zustände und Bedingungen, die Schüler*innen der Stichprobe angesichts eines bevorstehenden Schultags am meisten in positiver oder negativer Weise bewegen und beeindrucken. Diese werden hier unter der Kernkategorie »Wirksame Momente« subsummiert. Sie werden als Ankerpunkte verstanden, die erfolgreichem Lernen zugeführt werden können. In einem Exkurs wurde diesbezüglich auf Leitgedanken des Konstruktivismus eingegangen, die eine Grundlage von Lerntheorien bilden. Neubert, Reich und Voß (2001) legen dar, dass Schüler*innen Konstrukteure

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ihres eigenen Wissens und Weltbildes sind, das nie das Merkmal der Objektivität tragen kann. Daraus lässt sich folgern, dass Desinteresse und geringe Lernmotivation lernaversiver Schüler*innen ihre Ursache in einer nicht vollzogenen Ankerbindung haben. Diese Lernenden finden aus unterschiedlichen Gründen keinen Zugang zum Lerngegenstand. Die Ansprache misslingt oft aufgrund einer Diskrepanz vermuteter und tatsächlicher Ankerpunkte seitens der Lehrenden. Während »guten« Schüler*innen mehr mögliche Ankerpunkte zum Einstieg in eine Thematik zur Verfügung stehen, gilt es die weniger leistungsstarker zu erkennen und verfügbar zu machen. Auf diese Weise können Heranwachsende verborgene und nicht erkannte Potenziale müheloser entfalten und sich ebenbürtig in die Gemeinschaft der »Könner« und »Entdecker« und aktiv Arbeitender einfügen.

6. Entwurf einer Theorie: Lernwelten im Kontext wirksamer Momente

Die Aussagen der Schüler*innen zu ihren bedeutsamen Momenten in der Schule lassen sich zwei grundlegenden Tendenzen zuordnen. Zum einen werden positive Erfahrungen und Erwartungen geschildert, die Schulaffinität und Lernmotivation begünstigen und zum anderen negative Erlebnisse und Befürchtungen, die mit schulaversivem Verhalten und Lernhemmung einhergehen können. Es wird davon ausgegangen, dass für negativ wirksame Momente im Bereich Lernen eine Diskrepanz, wie im vorausgegangenen Kapitel dargelegt, zwischen vermuteten und tatsächlichen Ankerpunkten zur Stoffvermittlung ursächlich ist. Das bedeutet, dass im einzelnen Fall von Lernschwierigkeiten hervorragende didaktische und methodische Kenntnisse nicht ausreichen, um diese zu beheben. Es ist vielmehr notwendig, sich zunächst von aller Theorie und der Lerngruppe als Einheit zu lösen und sich dem Einzelnen zuzuwenden. Das vermeintlich lernschwache Kind gilt es genauer kennen zu lernen und sich mit seiner subjektiven Sicht auf die Dinge auseinanderzusetzen, damit mögliche Lernzugangspunkte zutage gefördert werden können. Bisweilen ist es jedoch »nur« nötig, ablenkende Faktoren aufzuarbeiten, zu minimieren oder zu beseitigen, damit vorhandene Ankerpunkte dem Lernen wieder zur Verfügung stehen. Generell ist davon auszugehen, dass bei lernstarken Schüler*innen dem Lernen akut eine höhere Anzahl von Ankerpunkten zur Verfügung steht, die ihre Neugier und Interesse an einem Thema weckt, Lernbereitschaft steigert und zu eigenmotiviertem und konzentriertem Arbeiten führt. Dies zieht rasche Lernerfolge nach sich. Auf dem nachfolgenden Schaubild ist dies durch Pluszeichen dargestellt.

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Abbildung 11: Lernergebnisse im Kontext unterschiedlicher Lernwelten

Nicht verknüpfte Ankerpunkte hingegen, dargestellt durch ein Minuszeichen, führen zu Unverständnis. Eine Lehrkraft erreicht mit den vorbereiteten didaktischen und methodischen Mitteln eine lernende Person nicht. In einigen Fällen gelingt es Schüler*innen aus eigener Kraft, neue Ansatzpunkte zu finden und sich einem Lernstoff zu nähern. Dies ist im Schaubild mit den Worten »selbstmotiviertes Annäherungsverhalten« umschrieben. Hier können Lernende die Motivation bzw. den Lernwillen aufrecht halten. Anfängliche Misserfolge führen dann nicht zu einer Lernhemmung, sondern zu vermehrter Anstrengungsbereitschaft. Oftmals werden Heranwachsende in dieser Situation auch durch das häusliche Umfeld unterstützt, indem Eltern mit ihrem Kind zusätzlich üben, sich Belohnungssysteme ausdenken oder Nachhilfe organisieren. Die Wahrschein-

6. Entwurf einer Theorie: Lernwelten im Kontext wirksamer Momente

lichkeit, dass nahe Angehörige vorhandene Ankerpunkte zu einem Themenbereich finden, ist hoch. Schließlich sind sie mit der Persönlichkeit des/der Lernenden vertrauter als eine Lehrkraft. Auch eine fremde Nachhilfekraft hat in einer Eins-zu-Eins-Situation oft mehr Gelegenheit, Ankerpunkte offenzulegen als eine Lehrkraft vor einer großen Lerngruppe. Tolle Ergebnisse sind dann eher der erfolgreichen Ankerbindung externer Hilfe zuzuschreiben als dem Lernen in der Schule. Oft fällt der Lehrkraft hier eine Diskrepanz zwischen der Qualität der Hausaufgaben und dem im Unterricht Geleisteten auf. Wenn Eltern erklären, dass das Kind zu Hause die Aufgaben bewältigt und Probleme überwiegend in der Schule auftreten, so ist das daher bis zu einem gewissen Grad nachzuvollziehen. Der thematische Zugang ist im häuslichen Bereich gelungen, da beim Lernen individuelle Bedürfnisse berücksichtigt werden konnten. Erstrebenswert ist es, dass dies auch in der Schule gelingt! Externe zusätzliche Lernhilfe ist jedoch meistens sowohl seitens der Erwachsenen als auch der Lernenden gar nicht erwünscht. Kinder empfinden das oft als eine belastende Reduzierung der Spielzeit: »Dass ich nicht immer so viele Hausaufgaben aufkriege, dass ich immer noch spielen kann« (Kyra, 9 J.). Spielen ist wichtig, es ist die Profession der Kinder und wichtiger Bestandteil deren Entwicklung. Der Spielzeit sollte nach Möglichkeit nicht mit der Lernzeit konkurrieren. Hinsichtlich des Steigerns von Lernmotivation durch angedrohte oder tatsächliche Bestrafungen, »mein Papa gibt immer so extreme Strafen« (Emely, 9 J.), soll hier noch einmal auf die Ausführungen zum Muster »Negative Ersatzziele« der Kategorie »Ziele« (Kap 7.5) hingewiesen und damit zum Ausdruck gebracht werden, dass Hilflosigkeit bisweilen nicht nur Heranwachsende, sondern auch involvierte Erwachsene betrifft. Eine Form der Bestrafung schlechter schulischer Leistungen erscheint dann mitunter als letztes Mittel der Wahl, nachdem alle anderen Unterstützungsversuche gescheitert sind. Nicht immer jedoch gelingt es durch positive Zuwendung, Ankerpunkte für den Einstieg in eine Thematik zu finden. Die Situation kann für Eltern und Kinder sehr belastend sein. Misslungene thematische Einstiege rufen bei einem Teil der Schüler*innen Gefühle der Hilflosigkeit hervor. Sie zeigen, wenn sie keine Aussicht auf Erfolg sehen, Reaktionen von Desinteresse und Frustration. Sie beinhalten eine Bandbreite von passivem Verhalten bis hin zu massiven Unterrichtsstörungen und sozial-aversivem Verhalten. Es ist anzunehmen, dass dies unausgereifte Strategien der Bewältigung sind. Die Schüler*innen versuchen, mit der unzufriedenstellenden Situation umzugehen, sie zu kontrollieren, den Respekt vor sich selbst und anderen nicht zu verlieren und der negativen Grundsituation Momente von Spaß und Freude abzuringen.

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6.1 Exkurs: Strategien der Bewältigung (Reimann-Pöhls en, 2017) Die 2017 veröffentlichte Forschungsarbeit, auf welche hier Bezug genommen wird, hat das Verhalten Heranwachsender im Niederlagenfall zum Gegenstand. Die Erhebungen wurden im Umfeld des Sportunterrichts durchgeführt. Den für diese Untersuchung durchgeführten Befragungen liegt u.a. die Annahme zugrunde, dass sich die Ergebnisse auch auf andere Bereiche übertragen lassen. Unter denen wird der Fokus hier auf den innerschulischen Bereich gelegt. Es wird hier davon ausgegangen, dass der Sinn bewussten, als auch unbewussten Handelns von Personen in konkreten Situationen seinen Zweck normalerweise in der Aufrechterhaltung physischen und psychischen Wohlergehens hat. Dies dient der Sicherung von Lebensqualität und Gesundheit. Situationen, die im Fokus stehen, sind jene, in denen eine Schülerin oder ein Schüler sich außerstande fühlt, dem Unterricht zu folgen, weil sie oder er keinen thematischen Zugang findet und nachfolgende Frustration und Hilflosigkeit zu bewältigen sucht. Die Aussagen der Schüler*innen (6-11 Jahre) zu ihren Niederlageerlebnissen führten zu einer Einteilung in vier kritische Zustände (ebd., S. 261). Diese sind x x x x

die normative Krise, die selbstbezogene Krise, die peerbezogene Krise und die emotionsbezogene Krise.

Die selbstbezogene Krise bezieht sich auf das Selbstwertgefühl der Schüler*innen, das unter den Niederlageerlebnissen Schaden zu nehmen droht. In der peerbezogenen Krise liegt der Fokus auf der Beziehungsebene. Der subjektiv empfundene Verlust Sicherheit gebender Maßstäbe, Übereinkünfte und Regeln geht der normativen Krise voraus. Zu einer emotionsbezogenen Krise führen mangelnde Freude und das Fehlen von Spaß. Die Art der Krise, in der sich Heranwachsende befinden, steht in Abhängigkeit von Persönlichkeit und Erfahrungen, die in ein Niederlageerlebnis einfließen. Der Prozess der Bewältigung kann von kurzfristiger, mittelfristiger oder längerfristiger Dauer sein. Von einer Spirale andauernder Hilflosigkeit ist die Rede, wenn Niederlageerlebnisse über die Zeit problematisch bleiben und nicht bewältigt werden. Es ist davon auszugehen, dass Schüler*innen, die augenscheinlich nicht betroffen sind, sich bereits eine Strategie angeeignet haben, die über die Zeit wirksam ist.

6. Entwurf einer Theorie: Lernwelten im Kontext wirksamer Momente

Die vier kritischen Zustände, die von Schüler*innen beschrieben wurden, lassen sich wiederum vier psychischen Grundbedürfnissen zuordnen, die in Anlehnung an Epsteins »Cognitive-Experimental Self-Theory (CEST)« (Epstein, 1996, p. 404ff.) von Grawe (2004, S. 185f.) folgendermaßen benannt wurden als x x x x

das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung, das Bedürfnis nach Bindung und das Bedürfnis nach Lusterhöhung und Vermeidung von psychischem Leid.

Im Handeln streben Menschen nach der Erfüllung dieser Grundbedürfnisse. Gelingt es nicht, diese zu befriedigen, erwächst daraus seelisches Leid. Längerfristig drohen psychische Erkrankungen. Ein Niederlageerlebnis stellt nicht selten eine Bedrohung der Grundbedürfnisse dar. Die Strategien der Bewältigung der befragten Schüler*innen sind ein Mittel, die Grundbedürfnisse wieder in Einklang mit den Vorstellungen über die eigene Person, Beziehung zu anderen und der Umwelt zu setzen. Typbedingt geht es einigen mehr um die Befriedigung des Bedürfnisses nach Orientierung und Kontrolle. Wenn der Misserfolg nicht den eigenen Wertevorstellungen oder Ansichten über die eigene Person entspricht, resultiert daraus das Bemühen, das Erlebte aufzuarbeiten und zu bewältigen, bis sich wieder ein Zustand der Zufriedenheit einstellt. In derselben Absicht handeln andere, denen es vornehmlich um den Erhalt oder die Erhöhung des bedrohten Selbstwertes geht. Heranwachsende, die negative Folgen auf der Beziehungsebene zu Freunden oder Mitschüler*innen fürchten, suchen dies zu bewältigen. Zum Teil beziehen sich negative Emotionen und daraus resultierende Handlungen auch einfach auf nicht erlebte Freude und erwarteten Spaß. Jedem Projekt oder Vorhaben gehen Wünsche, Erwartungen, Ziele und Hoffnungen voran. Bereits diese sind im Kontext der Grundbedürfnisse zu sehen. Im Bereich Sportspiel stehen der Wunsch nach einem Regelspiel und fairen Wettkampf in Beziehung zum Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle. Dem Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung geht der Wunsch nach eigenen guten Spielzügen und einem Sieg voraus. Die Hoffnung, mit Freunden im Team spielen zu können und angefeuert zu werden, steht im Kontext des Bedürfnisses nach Beziehung. Das Spüren der Endorphine und die Freude, mit sportspezifischem Material umgehen zu können, ist dem Bedürfnis nach Lusterhöhung zuzuordnen (Reimann-Pöhlsen, 2017, S. 278ff.). Werden diese Wünsche, Ziele, Hoffnungen oder Erwartungen nicht erfüllt, entsteht eine Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen und dem

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tatsächlichen Ergebnis, was es zu verarbeiten gilt. Ein Großteil der Schüler*innen hat sich über die Zeit Strategien angeeignet, dem erfolgreich zu begegnen. Generell befinden sich Heranwachsende aber in einem Stadium des Ausprobierens, Verwerfens, Entdeckens, Lernens und Festigens. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Strategien der Bewältigung bisweilen skurril anmuten. Es entsteht leicht der Eindruck, sie wollten sich widersetzen und mutwillig stören. Derartige Handlungen lassen sich eher darauf zurückführen, dass in solchen Fällen noch keine geeigneten Strategien der Bewältigung für akute Krisensituationen entwickelt und gefunden worden sind. Es ist davon auszugehen, dass auch diese Kinder ihr seelisches Gleichgewicht gerne wiedererlangen möchten, die geeigneten Wege aber (bisher) nicht zur Verfügung stehen. Es handelt sich um einen Lernprozess, der nicht nur im Sportunterricht unterstützt werden kann.

6.2

Bezug zu den Unter suchu ngserg ebniss en

Ein Alleinstellungsmerkmal des Sportunterrichts ist es, dass Schüler*innen innerhalb eines kurzen Zeitraums häufig mit Sieg und Niederlage konfrontiert werden. Doch auch im Unterricht der anderen Fächer haben Kinder Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse. Während es im Sportunterricht »nur« das Spiel betrifft, das in seiner Bedeutung von den Heranwachsenden unterschiedlich eingeschätzt wird, haben Misserfolgserlebnisse in den Lernfächern weitreichendere Folgen. Hier geht es um fachliche Beurteilungen, schulisches Fortkommen und eine Grundlage für einen bestmöglichen Schulabschluss. Das Erleben von Niederlagen und Misserfolgen in den Lernfächern geht gleichsam einher mit negativen Emotionen und dem Bestreben, Erlebtes zu bewältigen. Hinsichtlich dessen lassen sich auch hier Verhaltensweisen und Motive den vier psychischen Grundbedürfnissen zuordnen. Orientierung und Kontrolle

»Lernen« als ein Vorgang des Verstehens und Begreifens der Umwelt ist per se bereits in einem Zusammenhang mit den Begrifflichkeiten »Orientierung« und »Kontrolle« zu sehen. Aneignung von Wissen dient der Orientierung in Raum und Zeit und letztlich der aktiven Teilnahme am Leben. Summa summarum stellen Lernprobleme immer auch ein Orientierungshindernis dar, bei dem Lernende keinen persönlichen Bezug finden. In dem Sinne dient alles, was Kinder sich vor dem Eintritt in die Schule von sich heraus spielerisch aneignen, einerseits der Orientierung in der Umwelt und andererseits als Rüstzeug für

6. Entwurf einer Theorie: Lernwelten im Kontext wirksamer Momente

kommende schulische Anforderungen. Die Schule soll hier anknüpfen und den Lernprozess in systematisierter und geordneter Weise fortsetzen bzw. um bestimmte Unterrichtsinhalte ergänzen. Angeborene Neugier unterstützt diesen Prozess. Es ist davon auszugehen, dass diese zum Zeitpunkt des Schuleintritts bei jedem Kind in genügendem Maße vorhanden ist und seine Ankerpunkte dem schulischen Lernen zur Verfügung stehen. Möglicherweise liegen Anknüpfungspunkte nicht offen zutage und es dauert länger, bis es einer Lehrkraft gelingt, diese dem Prozess des Lernens zuzuführen. Allerdings gebieten es der Lehrauftrag und die Berücksichtigung unterschiedlicher Hintergründe, hier ausdauernd und kreativ vorzugehen. Auch eine geringe Anzahl von Ankerpunkten kann, von Lehrenden wahrgenommen und genutzt, zu signifikanten Lernfortschritten führen. Selbstwert

Misserfolgserlebnisse gehen häufig einher mit dem Verlust des Selbstwertgefühls. Während jüngere Kinder in der Regel über ein positives Selbstkonzept verfügen, nimmt dies über die Zeit im Durchschnitt ab. Das bedeutet, dass sich insbesondere junge Grundschulkinder noch viel zutrauen und davon ausgehen, dass sie unterschiedliche Anforderungen mit Erfolg bewältigen werden (vgl. Seyda, 2011, S. 245). Lernanforderungen, die in der Schule jedoch von außen an die Kinder herangetragen werden, zeigen ihnen auf, dass ihre Vorstellungen vom idealen Selbst nicht immer mit der Realität übereinstimmen. Higgins geht in seiner Theorie der Selbstdiskrepanz (2012) davon aus, dass in Situationen des Misserfolgs nicht das zugrundeliegende Ereignis, sondern die Diskrepanz zwischen dem idealen und dem aktuellen oder geforderten Selbst negative Emotionen hervorruft. Der drohende Verlust des Selbstwerts ist demnach auch ursächlich für das Bestreben, schulische Misserfolge zu bewältigen. Bindung

In einem engen Zusammenhang dazu ist auch die Befriedigung des Bedürfnisses nach Bindung zu sehen. Die Befürchtung, dass schlechte Leistungen sich auf Ansehen und Anerkennung der Persönlichkeit auswirken, steht hier im Vordergrund. Im Bemühen um Bewältigung dieses subjektiv empfundenen Defizits versuchen Heranwachsende, sich anderweitig Respekt vor der Peergruppe oder ihren Eltern zu verschaffen. Konkret stellen gute Leistungen in anderen Bereichen, z.B. im Sportunterricht, einen geeigneten Ausgleich dar. Bisweilen bemüht sich aber auch ein selbsternannter »Klassenclown« um Anerkennung,

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indem er sein Unterhaltungstalent zur Geltung und sein Umfeld zum Lachen bringt. Nicht zu tolerieren ist diesbezügliches Verhalten, wenn Gewalt und Angst als Mittel des Respekterhalts eingesetzt werden. Eine schulische Intervention ist dann vonnöten. Dennoch ist der Ursache nachzugehen, die nicht selten aus der Bewältigung misslungener Lernbemühungen resultieren. Lust

Das Grundbedürfnis nach Lusterhöhung lässt sich in diesem Zusammenhang besser formulieren als das Bedürfnis, Freude zu erleben und glücklich zu sein. Mittlerweile hat sich die Glücksforschung als eigenständige Wissenschaft etabliert. Es wird erforscht, in welchem Maße die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses ein zufriedenes und erfolgreiches Leben bedingt und welche Faktoren und Mechanismen hier wirksam sind (Bellebaum & Hettlage, 2010). Als psychisches Grundbedürfnis ist dessen Befriedigung lebensnotwendig! Das andauernde Erleiden schulischer Misserfolge ist demnach in seinen Folgen für die Psyche eines Heranwachsenden nicht zu unterschätzen. Gelingt es einer Schülerin oder einem Schüler dennoch, in einer für sich halbwegs zufriedenstellenden Weise damit umzugehen, ist dies oft dennoch keine Lösung des zugrundeliegenden Lernproblems.

6.3

Zusammenfassu ng

Dem konstruktivistischen Leitgedanken folgend gelingt es teilweise nicht, die subjektive Sicht der Lehrenden und Lernenden auf die Welt in Einklang zu bringen. Schülerinnen und Schüler finden zu Unterrichtsinhalten, die vermittelt werden sollen, keinen Zugang, weil eine Diskrepanz zwischen den tatsächlichen und allgemein vermuteten Ankerpunkten seitens der Lehrpersonen vorherrscht. Didaktisch und methodisch vorbereitete Themen werden dann nicht von einer ganzen Lerngruppe erfasst. Gründe finden sich entweder in mangelnder Aufmerksamkeit, dann stehen vorhandene Ankerpunkte vorübergehend nicht zur Verfügung, oder Zugängen, die für die Lehrkraft im Verborgenen liegen. Entweder gelingt es Schüler*innen über die Zeit, aus eigener Kraft durch Beharrlichkeit und Optimismus Anschluss zu finden, oder zusätzliche häusliche Maßnahmen führen zum Ziel. Andererseits kann wachsendes Desinteresse, Frustration und andauernde Hilflosigkeit zu negativen Ergebnissen führen, die eine Spirale schulischen Aversionsverhaltens nach sich zieht.

6. Entwurf einer Theorie: Lernwelten im Kontext wirksamer Momente

Strategien, die darauf abzielen, Misserfolge im Unterricht zu bewältigen, wurden auf vier Krisengruppen, basierend auf vier psychischen Grundbedürfnissen nach Grawe (2004) und den Untersuchungen zu Niederlageerlebnissen im Sportunterricht (Reimann-Pöhlsen, 2017), zurückgeführt. Kenntnisse über derartige Bewältigungsstrategien, z.B. Formen des Störens im Unterricht, unterstützen den Prozess der Problemlösung für Lehrkräfte und Erziehungspersonen. Ein bestimmtes Verhalten ist zum einen leichter nachvollziehbar, zum anderen ergeben sich in der Auseinandersetzung mit der Schülerin oder dem Schüler Lösungsansätze, welche die Lernsituation erheblich verbessern können.

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7. Diskussion und Ausblick

Es ist eine Errungenschaft der modernen Zivilisation, dass in der westlichen Welt alle Kinder die Schule besuchen dürfen, ungeachtet des Geschlechts, der Religionszugehörigkeit und sozialer Abstammung. Um dieses Recht wird anderenorts gestritten. Hier möchte ich auf den beispiellosen Einsatz der jungen Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai verweisen, die für gleichberechtigte Bildung von Mädchen und Jungen kämpft. Dennoch sind in unseren Schulen viele Kinder weit davon entfernt, dieses als Privileg zu empfinden. Hindernisse beim Bemühen, sich im Schulalltag zu integrieren und Misserfolge stören das seelische Gleichgewicht einiger Heranwachsender erheblich. Sie fühlen sich in der Schule unwohl und durch schlechte Leistungen eher ausgegrenzt als integriert. Dabei ist es jedem gesunden Kind möglich, Lernfortschritte zu erzielen. Die Freude darüber ist jedoch bisweilen gedämpft, wenn diese in der Notengebung keine Berücksichtigung finden und Teilerfolge doch nur z.B. mit einer Vier honoriert werden. Die Herausstellung und Würdigung individueller Lernfortschritte erscheint hier das Mittel der Wahl, Rückmeldungen über Leistungsstände zu geben. Nur auf diese Weise kann Schüler*innen für Handeln und Einsatz der nötige Respekt gezollt werden, der ihnen zusteht. Mögliche Ursachen, in einer Lerngemeinschaft keinen Fuß zu fassen, sind vielfältig. Lernhemmende Faktoren sind in den vorangegangenen Kapiteln als negativ wirkende Momente herausgearbeitet worden. Um hier pädagogisch nachhaltige Verbesserungen vornehmen zu können, ist es angezeigt, Lernende als Individuen in den Fokus der Betrachtung zu rücken. Diejenigen, die angesichts einer gesamtheitlichen Sicht auf die Lerngruppe immer wieder durch das Raster fallen, können so aufgefangen und gefördert werden. Das gilt ebenso für lernstärkere Schüler*innen, die nicht genügend Raum finden, ihre Potenziale zu entfalten. Dieser Weg erfordert seitens der Lehrenden mehr Offenheit, sowohl in der didaktischen und methodischen Aufarbeitung der Lerninhalte, als auch dem Umgang mit den Voraussetzungen und Bedürfnissen Einzelner. Dabei sollte die Thematik der Sinnhaftigkeit von Noten, die bereits seit Anfang der 70er

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Jahre im Fokus vieler Kritiker steht (vgl. Ingenkamp, 1995), nicht aus den Augen verloren werden. Es ist ein Desiderat der Forschung, durch weitere Langzeitstudien eindeutige Ergebnisse zu erzielen, die möglicherweise zum Aufbrechen tradierter Wege führen. Im Bereich der Erziehungswissenschaften ist es wünschenswert, Methoden zu generieren, die ein größeres Maß an Individualität und Vielfalt der Lernenden zulässt, als es bisher der Fall ist. »Vielfalt« wird eher den Begriffen »Inklusion« und »Eingliederung« zugeordnet. Die vermeintliche Homogenität einer schulischen Lerngruppe basiert auf zu wenigen Faktoren, eigentlich nur auf dem Alter der Schüler*innen, als dass diese tatsächlich als solche bezeichnet werden kann. Lerngruppen und Schulklassen sind immer vielfältig und facettenreich, ungeachtet dessen, ob es sich um Inklusionsklassen handelt oder wie hoch der Anteil an Migrant*innen ist! Facettenreichtum findet sich nicht nur in körperlichen Merkmalen, Nationalitäten und Religionen, sondern auch in Lernvoraussetzungen, Vorlieben und Neigungen. Er wird sowohl durch auffällige, als auch durch zurückhaltende und leise Kinder begründet. Findet dieser Facettenreichtum mehr Raum im Unterricht der kognitiven Fächer, ist einerseits anzunehmen, dass sich mehr Lernende dazugehörig, angenommen und eine geringere Anzahl deplatziert und ausgegrenzt fühlen. Es ist insofern eine Art von Würdigung und Respekt den Schüler*innen gegenüber, dass man ihr »So-Sein« dem Lernprozess zugrunde legt und dessen Entfaltung zulässt, auch wenn es Umwege oder andere/neue Pfade braucht.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Im Folgeteil des Buches wird direkter Bezug auf die Unterrichtpraxis genommen und der Frage nachgegangen, auf welche Weise und in welchen Bereichen eine Individualisierung und Erhöhung positiv wirkender Momente möglich ist. Wie Kinder auf Misserfolge in den kognitiven Fächern reagieren, wenn äußere Bedingungen nicht ihren Bedürfnissen entsprechen, soll einleitend anhand einiger erlebter Episoden Befragter der Stichprobe aufgezeigt werden.

8.1

Reaktionen auf Misserfolge

Schülerinnen der Stichprobe haben sich in einem offenen Gesprächskreis über jüngste Misserfolgserlebnisse im Unterricht geäußert, die sie als intensiv empfunden haben. In jedem Fall stand das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle über den Lerngegenstand im Vordergrund, das nicht befriedigt werden konnte. Inwieweit die Bedürfnisse nach Selbstwerterhalt und Selbstwerterhöhung, Beziehung und Freude dabei eine Rolle spielten, ist in der Gruppe nicht erörtert worden. Bei Aufarbeitung eines individuellen, langanhaltenden Lernproblems ist es jedoch hilfreich, diesem Aspekt hinsichtlich der aufzubauenden Motivation Aufmerksamkeit zu schenken. Bei einem optimalen Lernverlauf erkennen Schüler*innen auftretende Probleme selbst und bemühen sich um Lösungen, bis das Ziel erreicht ist. Das erfordert ein gewisses Maß an Selbstsicherheit, Durchhaltevermögen und Motivation, bei Rückschlägen nicht aufzugeben: »Ich habe im Fach Mathematik etwas nicht verstanden. Dann habe ich mich immer wieder gemeldet. Es wurde erklärt, bis ich es dann konnte« (Kyra, 10 J.). Voraussetzung für eine derartige Haltung ist ein positives Selbstkonzept, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Doch auch ein

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positives Selbstkonzept ist nicht unendlich strapazierbar, wenn erdachte Strategien keine Erfolge nach sich ziehen: Weil die Malaufgaben so schwer waren, flippte ich zu Hause aus und machte erst mal keine Hausaufgaben. Ich heulte und schrie. Im Unterricht mache ich das nicht. Ich probierte es in der Schule, es ging dann aber nicht. Mama sagte: »Du musst das wieder wegradieren«. (Lia, 10 J.)

Die Schülerin gab an, dass Klassenarbeiten für sie aufgrund des Erfolgsdrucks belastend sein würden. In der Schule gibt sie sich große Mühe und lässt sich das nicht anmerken. Zu Hause jedoch zeigt sie ihre Frustration, wenn sie etwas nicht verstanden hat. Die Befragte befindet sich in einem Wechselbad der Gefühle zwischen Ehrgeiz und Frustration. Sie möchte sich selbständig im Lernfeld orientieren können und beste Leistungen erzielen. In der Schule ist ihr das aber nicht gelungen. Die Schülerin hat Glück, dass sie häusliche Unterstützung findet. Die Bewältigung des Misserfolgs erfolgt zielgerichtet durch die Aufarbeitung des nicht verstandenen Unterrichtsinhalts. Doch für helfende Eltern ist eine derartige Situation ebenfalls belastend. Der häusliche Friede ist zunächst gestört. Bisweilen erwächst aus der Frustration Wut, die dann gegen ein Objekt gerichtet wird: Ich habe Geometrie nicht verstanden. Das gab Probleme bei den Hausaufgaben. Da kam der Moment, da hab ich gesagt, ich mach da nicht mehr weiter, und da habe ich das Heft ins Zimmer geschmissen. Hilfe bekam ich von meinem Vater und Bruder. (Alic, 9 J.)

Hier erfolgt zunächst, wie auch im Fall der Schülerin Lia, die akute Bewältigung der negativen Emotionen. Auch A. gewinnt dadurch Abstand zum Misserfolgserlebnis, dass die Arbeit ruht, bis externe Hilfe geleistet wird. Dem Ausbruch von Wut oder Aggressionen gehen in der Regel Bemühungen, sich der Thematik auf unterschiedlichen Wegen zu nähern, voraus. Scheitern diese, ist auch das konstruktive Bewältigen des zugrundeliegenden Problems nicht mehr möglich. Affekte können dann mitunter nicht in die richtigen Bahnen gelenkt werden, weil keine Lösungsstrategien verfügbar sind: Ich habe Geometrie nicht verstanden und mich immer wieder gemeldet, bin aber lange nicht drangekommen. Als es doch soweit war, habe ich nur »Bla Bla« verstanden.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Das hat nicht viel geholfen. Zu Hause dann habe ich mich mit meinem Bruder geprügelt. (Nils, 9 J.)

Das Verhalten des Schülers N. lässt den Schluss zu, dass nach eigenen Bemühungen Rat- und Hilflosigkeit vorherrschte. Es ist anzunehmen, dass die Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbstwerterhalt der Grund für das Anwenden physischer Stärke ist. Wenn keine externen Unterstützungsmaßnahmen erfolgen und Lernende ihr Repertoire an Lösungsversuchen ausgeschöpft haben, weicht die Motivation oft der Passivität: In der zweiten Klasse hatten wir Geteiltaufgaben. Ich habe das die ganze Zeit nicht verstanden. Die Lehrerin hat es mir tausendmal erklärt. Es half nichts. Die Arbeit war so schlecht, das war gar keine Zensur mehr. Da habe ich nichts mehr gemacht! (Tim, 10 J.)

Der Ansporn zu lernen ist im Keim erstickt worden, weil die Erklärungsversuche keinen aktiven Ankerpunkt erreicht haben. Letztlich hat T. aufgegeben, ohne weiter auf seine Lage aufmerksam zu machen. Für die Lehrkraft mag es unbemerkt geblieben sein, da er sich im weiteren Verlauf passiv verhalten hat. Häufig ist durch Beobachten von Ersatzhandlungen erkennbar, ob Aufgabenstellungen Schüler*innen über- und unterfordern: Frau J. hat richtig viel erklärt, aber ich habe das nicht verstanden. Es war zu schwer. Ich habe zwei Fünfen bekommen. Ich war sauer und habe manchmal Blumen in mein Buch gemalt. Das sah dann schön aus und ich habe mich darüber gefreut. (Kati, 10 J.)

Die negativen Emotionen resultieren aus dem andauernden Misserfolg. Ihre akute Strategie der Bewältigung ist das Malen angenehmer Motive, das ihr Wohlbefinden steigert und zumindest für die Zeit der Ausblendung das Gefühl der Zufriedenheit wiederherstellt. Es ist der Befriedigung des Grundbedürfnisses, Freude zu erleben, zuzuordnen. Diesbezüglich drückt der Schüler L. in direkter Weise aus, dass er die negativen Erfahrungen auszublenden sucht: In Mathematik habe ich in der zweiten Klasse Aufgaben nicht verstanden. Die Lehrerin kam zu mir, aber ich habe es trotzdem nicht kapiert. Ich war sauer und ein wenig wütend. Dann habe ich Tiere und anderes in mein Heft gemalt. Das hat mich halt so etwas abgelenkt. (Lennard, 10 J.)

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Reaktionen auf Misserfolge einiger Schüler*innen haben weitreichende Auswirkungen, bis hin zu massiven Störungen, die andere ablenken und den Unterrichtsablauf behindern. Der Schüler M. hat einen Sitznachbarn in dieser Weise in seine Frustration einbezogen: »Als wir das Einmaleins bekommen haben, habe ich gar nichts verstanden. Ich wusste nicht, was das sollte. Es klappte nichts. Dann habe ich halt andere genervt, den Henrik« (Max, 10 J.). Die Wahrscheinlichkeit, dass Unterrichtsstörungen, d.h., Ersatzhandlungen, wie sie zuvor beschrieben worden sind, und Ablenkungen ihre Ursache in nicht verstandenen Unterrichtsinhalten haben, ist groß. Betroffene Schüler*innen können sich nicht mehr in der gleichen Weise am Unterricht beteiligen, wie diejenigen, die noch in der Thematik verhaftet sind. Dies bezieht sich sowohl auf den aktuellen Zeitpunkt, als auch auf die Dauer der behandelten Thematik. Wird absehbar, dass sich durch den verlorenen Anschluss keine Erfolge einstellen können, versuchen Heranwachsende, dieses Vakuum zu füllen. Das ursächliche Problem kann zwar so nicht gelöst werden, doch die negativen Emotionen lassen sich durch Ersatzhandlungen lindern. Diese zielen auf die jeweiligen Grundbedürfnisse ab, die als bedroht empfunden werden. Die folgende Abbildung (Abb. 12) soll dies veranschaulichen. Abbildung 12: Beispiel nicht befriedigter psychischer Grundbedürfnisse unter Misserfolgsbedingungen

Der Misserfolg in Form nicht verstandener Unterrichtsinhalte zieht das Bedürfnis nach sich, nicht befriedigte Grundbedürfnisse zu regulieren. Aussagen der Stichprobe zugrundeliegend, zeigt das Schaubild einen fiktiven Schüler, der die Orientierung im Lernfeld verloren hat. Das wird durch einen besonders

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

niedrigen Level hinsichtlich der Erfüllung des Grundbedürfnisses nach Orientierung und Kontrolle (OK) dargestellt. Die Bedürfnisse nach Selbstwerterhalt, Selbstwerterhöhung (S), Beziehung (B) und Lust (L) bedürfen ebenfalls eines Ausgleichs. In der unbefriedigenden Lernsituation ist eine Diskrepanz zwischen den Wünschen, Zielen und der tatsächlichen Lage entstanden. Möglicherweise belasten das Kind Selbstzweifel, ob es den Anforderungen genügen kann. Sie sind in der Abbildung größer dargestellt als eine befürchtete Bedrohung auf der Beziehungsebene. Die Angst, an Ansehen unter den Peers zu verlieren, ist vorhanden, wiegt jedoch weniger als das sinkende Selbstwertgefühl. Dies geht einher mit einer erheblich verminderten Lust auf das Lernen. Zur Bewältigung der akuten Unlust beginnt dieser Schüler, lustige Bemerkungen auf Schnipsel zu schreiben und sie an die Nachbarn weiterzuleiten. Als diese mit einem Lächeln darauf reagieren, stellt sich eine Befriedigung des Bedürfnisses, von den Freunden respektiert zu werden, ein. Auch sein Selbstbewusstsein profitiert davon, wenn auch nicht in dem erwünschten Maße, den Erfolg beim Lernen nach sich gezogen hätte. Er findet Gefallen an der Ersatzhandlung. Damit wird auch das Bedürfnis nach Lust befriedigt. In der darauffolgenden Sportstunde gelingt es ihm durch sein Können, sein Selbstwertgefühl deutlich zu erhöhen. Es bleibt die Lösung des ursächlichen Problems. Wie dem von Seiten der Lehrenden begegnet werden kann, soll im Folgenden erörtert werden.

8.2

Positive wirksame Momente schaff en

8.2.1 Einführung Grundsätzlich gilt, dass Leistungssteigerung und Verbesserung von Ergebnissen eine intrinsische und eine extrinsische Komponente haben. Erstere beruht auf der Motivation, lernen zu wollen und sich für etwas zu interessieren. Die extrinsische ist durch Faktoren bedingt, die von außen an den Lernenden herangetragen werden, um ihm dies zu erleichtern. Lernschwierigkeiten können nachhaltig verbessert werden, wenn es gelingt, die intrinsische Lernmotivation zu aktivieren. Als Lehrperson oder Elternteil trägt man zunächst dafür Sorge, dass äußere Bedingungen den Bedürfnissen der Lernenden gerecht werden. Diese lassen sich auf zwei Ebenen unterscheiden. Auf der Sichtstrukturebene befinden sich die Umgebung, das Material und die Wahl der Methoden, alles Ersichtliche und Greifbare. In der Tiefenstruktur geht es um die tatsächlichen Lernprozesse der Schüler*innen und Faktoren, die diese unter der Oberfläche beeinflussen (vgl.

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Oser & Baeriswyl, 2001). Hier sind u.a. die Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden sowie anderen beteiligten Personen und Emotionen, die in Zusammenhang mit einer Lernsituation entstehen, zu nennen. Sind die Bedingungen auf beiden Ebenen stimmig, ist eine Basis zum Lernen geschaffen. Die Abbildung 13 führt noch einmal vor Augen, worauf es beim Anregen der intrinsischen Motivation ankommt. Wirksame Momente nehmen maßgeblichen Einfluss auf das Lernverhalten von Kindern. Abbildung 13: »Wirksame Momente« als Bedingungsfaktor erfolgreichen Lernens

Daher gilt es zunächst, negative zu beseitigen. Dazu soll in den folgenden Unterkapiteln auf die Aussagen der Schüler*innen der Stichprobe Bezug genommen werden. Vorhandene wirksame Momente sollten hingegen bestmöglich genutzt und ausgeschöpft werden. Eine Aufgabe der Lehrenden besteht darin, diese überhaupt zu sehen und dem Lernen verfügbar zu machen. Dabei geht es sowohl um das Erkennen von Ankerpunkten, die einer ganzen Gruppe zugute kommen, als auch um solche, die im individuellen Fall einen thematischen Zugang erleichtern. Es ist motivationsfördernd, neue positive schulische und häusliche Momente zu schaffen. Wenn diese in einen Bezug zum Lernfeld gestellt werden können, gelingt es eher, Heranwachsende mit Freude und ohne Lerndruck an eine Thematik heranzuführen.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

In den folgenden Abschnitten sollen entlang der herausgearbeiteten Kategorien Praxisbeispiele aufzeigen, wie wirksame Momente generell und insbesondere im Fall von Lernschwierigkeiten erfolgreichem Lernen zugeführt werden können. 8.2.2 Unterrichtsinhalte Themen der einzelnen Klassenstufen werden durch das Curriculum eines jeweiligen Fachs weitgehend festgeschrieben. Die Herausforderung seitens der Lehrenden besteht darin, diese Themen so zu präsentieren, dass sich Schüler*innen in ihrer Eigenschaft als Lernende damit identifizieren und Aufgabenstellungen zu ihrem Belang machen können. In Kapitel 5.1, »Unterrichtsinhalte«, konnten die Muster »Realitätsbezug«, »Persönliche Interessen« und »Fächerübergreifende Themen« als lernfördernde Aspekte herausgestellt werden. Sie haben die Eigenschaft, den kognitiven Zugang zu einer Thematik zu erleichtern, da davon ausgegangen werden kann, dass durch persönliche Erfahrungen und Neigungen besonders viele Ankerpunkte zur Verfügung stehen. Dies kommt insbesondere den Kindern zugute, die im Allgemeinen nicht die erwarteten Leistungen erbringen. Realitätsbezug und persönliches Interesse

1. Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir. 2. Relevanz erweckt Interesse. Ein Realitätsbezug impliziert nicht unbedingt persönliches Interesse und umgekehrt. Dennoch können die Begrifflichkeiten hinsichtlich Lernmotivation und Ankerbindung in einem Zusammenhang genannt werden, da ein Bezug zur subjektiven Wirklichkeit der Schüler*innen eher Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft erregt als bezugsferne Themen. Die Schüler*in Larissa äußert sich diesbezüglich vor dem Hintergrund des Mathematikunterrichts: In Mathe rechne ich nicht so gerne. Ich mag da das Thema »Körper« und »Längen«. »Körper« macht mir Spaß, weil das ja Formen sind, die einem jeden Tag begegnen, und dann beschäftigt man sich noch mal ein bisschen mehr damit. (Larissa, 8 J.)

Der Realitätsbezug unterliegt bisweilen einer gewissen Subjektivität, da Erlebtes sich auch im fiktiven Raum bewegen kann. Gemeint sind hier sowohl real erlebte Episoden und Ereignisse im näheren und weiteren persönlichen Umfeld als auch

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solche aus Büchern, Filmen, Theater und Computerspielen, die Kinder in hohem Maße emotional bewegen. Diese stellen eine subjektive Realität dar und müssen, ebenso wie reale Begebenheiten, verarbeitet werden. Die Schule stellt eine geeignete Plattform der Aufarbeitung unterschiedlicher Themen in allen Fachbereichen dar, die von Interesse oder brisanter Aktualität sind. Es ist zu beobachten, dass freie Textproduktionen häufig als probates Mittel der Bewältigung genutzt wird, um einen kritischen Gegenstand zu kommunizieren (vgl. Reimann-Pöhlsen, 2017, S. 186ff.). Manchmal konsumieren Kinder Medien, die nicht für die Altersgruppe geeignet sind und tragen belastende Inhalte auf diese Weise in die Schule. Es ist anzunehmen, dass zumindest bei jüngeren Kindern eher das Bedürfnis zugrunde liegt, Gesehenes zu verarbeiten, als der Wunsch, sich positiv darzustellen und anzugeben. Ebenso anregend, aber weniger problembehaftet sind Themen, die Schüler*innen positiv berühren. Ein Drittklässler beschreibt anschaulich seine Motivation, aus eigenem Interesse und häufig über das geforderte Maß hinaus zu arbeiten: Ich mag auch Batman. Den kenne ich. Da habe ich auf dem PC ganz viele Spiele gespielt. Ich habe ungefähr drei Seiten geschrieben. Es kommt eigentlich nicht auf das Superheldenteam an, sondern darauf, ob ich da Spaß habe und auch die Kinder das möchten. Ich schreibe für meine Freunde, für meine Klasse und meine Zensuren. (Leif, 9 J.)

Die Comicfigur stellt für den Schüler insofern einen starken Realbezug dar, dass sie einen großen Raum in seiner Freizeitgestaltung einnimmt und er sich mit ihr identifizieren kann. Als motivierenden Faktor stellt er den Spaß an der Arbeit, seine Rezipienten und Schulnoten heraus. Das entspricht auf einer übergeordneten Ebene der Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse nach Lust, Beziehung und Selbstbestätigung. Dies unterstreicht den Wert des Realbezugs als Ankerbindung für diesen Schüler. Hinsichtlich des Bereichs »Textproduktion« ist anzumerken, dass es besonders bei jüngeren Schüler*innen häufiger vorkommt, dass sie angesichts vorgegebener Themen ratlos sind und ihr Potenzial zum Schreiben überhaupt nicht entfalten können. Generell sollten Schreibanlässe nicht einschränken, wenn noch keine eigene Motivation vorliegt. Dem Erstklässler Torben fällt es noch schwer, sich selbst auszudrücken. Der vorgegebene Schreibanlass erregt in keiner Weise seine

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Phantasie. Daher arbeitet er nicht mit. Er beobachtet bei seinen Freunden eine vergleichbare Ratlosigkeit, allerdings mehr Bemühen um Lösung des Problems: Ja, da mussten wir eine Geschichte schreiben, und die ist langweilig. Da mussten wir das und dies und das schreiben. Irgendwas im Schreibschatz, aber das habe ich nicht zu Ende geschrieben. Da haben wir letztens über einen Löwen geschrieben, über irgendeinen Löwen. Hans hat zum Beispiel geschrieben: »Wenn ich ein Löwe wäre, würde ich [dem Ritter, der Verf.] ein Wappen wegreißen und darauf Würstchen grillen.« Und Ralf hat geschrieben: »Wenn ich ein Löwe wäre, würde ich Kinder fressen.« Ich habe gar nichts geschrieben. (Torben, 6 J.)

Den Schüler*innen sollte klar sein, dass freies Schreiben einen Kommunikationsweg und ein Ausdrucksmittel der eigenen Persönlichkeit darstellt. Es soll Prozesse im Leben vereinfachen und nicht erschweren! In Hinblick auf dieses übergeordnete Ziel sind Lernende eher motiviert, sich im freien Schreiben zu üben. Der Schüler Torben hat weder den Sinn einer Schreibübung verinnerlicht, noch einen persönlichen Ankerpunkt zu »Löwe« gefunden. Vielleicht hätte er mehr Freude daran gehabt, wenn er im Schreiben ein unmittelbares Ziel erkannt hätte. Dies ist eher der Fall, wenn die Aufgabe als Spiel mit sofortigem Output gestaltet wird. In einem derartigen Spiel könnten Schüler*innen ein anderes Kind schriftlich beschreiben. Anschließend müssten alle raten, wer gemeint ist. Oder es werden eine bis mehrere Bewegungsanweisungen in vollständigen Sätzen geschrieben, die es von Mitspieler*innen im Spiel auszuführen gilt. Für jüngere Kinder wie Torben haben als Spiel formulierte Aufgabenstellungen reifegradbedingt einen höheren persönlichen Bezug. Sie erregen damit eher die Aufmerksamkeit als abstrakte Konstruktionen, mit denen sich Lernende schwerer identifizieren können. Fächerübergreifende Themen

1. Fächerübergreifendes Arbeiten ermöglicht eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einer Thematik. 2. Das Schaffen von Zusammenhängen erleichtert den Lernprozess. In einer Projektwoche beschäftigen sich Schüler*innen ausschließlich mit einer Thematik. Dies ist besonders für diejenigen von Vorteil, die einen längeren Zeitraum benötigen, sich mental und mit dem Umräumen der Materialien auf neue Inhalte einzustellen, wie es der Stundenplan vorschreibt. Oft ist es in der Praxis

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nicht möglich, alle Fächer in einen Themenbereich zu integrieren. Doch schon im Zusammenlegen zweier Fachbereiche lässt sich der Unterricht in methodischer Hinsicht offener gestalten (vgl. Kap. 8.2.6, »Lernökonomie«). Schüler*innen können sich länger und intensiver in eine Thematik vertiefen, der Zeitdruck sowie Unterbrechungen fallen geringer aus. Als Beispiel fächerübergreifenden Arbeitens sollen hier Vorhaben der Schülerin Tina aus dem Kapitel 5.1, »Fächerübergreifende Themen«, näher ausgeführt werden. Am Donnerstag habe ich mich auf Kunst gefreut, aber das ist dann ja ausgefallen, und das fand ich ein bisschen doof. Dass wir einen Helden der Geschichte machen, das finde ich toll. Lotta. Das ist ein Mädchen zu meiner Deutscharbeit »Dieb im Baumhaus«. Da haben wir Geschichten geschrieben. (Tina, 8 J.)

Die Lerngruppe hatte im Fach Deutsch im Zusammenhang mit eigenen Lektüren Texte erstellt. Die Hauptfiguren, ihre »Helden«, waren ebenfalls Gegenstand des Kunstunterrichts. Es ist möglich, dieselbe Thematik auch in den anderen Fächern mit folgenden Inhalten aufzugreifen, wie in Tabelle 4 dargestellt: Tabelle 4: Beispiel fächerübergreifenden Arbeitens zum Thema »Helden« Fach Deutsch Mathematik Sachunterricht Englisch Religion Kunst Sport

Inhalt »Helden« in Kinderbüchern (eigene Literatur) Sachaufgaben mit thematischem Bezug Polizei, Feuerwehr Greta Thunberg – »Fridays for Future« Malala Yousafzai – Recht auf Bildung Steckbrief eines »Helden« Thema »helfen«, faires Verhalten Portrait eines »Helden« Geräteaufbau in Anlehnung eines Kinderbuchhelden

Englisch könnte mit einem Steckbrief angegliedert werden, Sport mit einem Geräteaufbau, der sich inhaltlich an ein oder mehrere Helden der Kinderbücher anlehnt und Religion mit Überlegungen zu »anderen helfen« und »Fairness«. Im Sachunterricht bietet es sich an, über Berufsgruppen oder Einzelpersonen zu sprechen, die sich für Mensch und Umwelt einsetzen. Zu nennen sind hier zum einen Polizei und Feuerwehr, zum anderen Persönlichkeiten wie die Schwedin Greta Thunberg mit der Bewegung »Fridays for Future« oder die pakistanische Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai. Für Mathematik eignen sich Sachaufgaben, in denen Inhalte der »Heldengeschichten« aufgegriffen werden. Im Einzelfall sind hier Kreativität und

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Ideenreichtum von Lehrpersonen gefragt, deren Aufgabe es ist, inhaltliche Zusammenhänge herzustellen und Szenarien zu gestalten. Die Heranwachsenden können sich im Sinne der Kompetenzorientierung hier forschend, ausprobierend, übend und festigend bewegen. Das Vorbereiten von fächerübergreifenden Aufgabensets bietet den Vorteil, dass der zeitliche Rahmen variabler gestaltet werden kann, so dass Arbeiten weniger häufig durch wechselnde Stunden unterbrochen werden müssen. 8.2.3 Material als Lern- und Motivationshilfe Der motivationale Aspekt von Material, das Schule und Elternhaus zum Lernen bereitstellen, ist unbestritten (vgl. Kap. 5.2). Erwachsene sollten Heranwachsenden eine optimale Lernbasis schaffen, indem sie sie mit bestem Material ausstatten. Für Schulen gilt: Je besser diese räumlich und materiell ausgestattet sind, desto mehr wirkt sich dies auf angenehmes und stressfreies Lernen aus. In diesem Abschnitt möchte ich auf Material eingehen, das sich erst auf den zweiten Blick als Hilfsmittel zu erkennen gibt und hinsichtlich einiger Lernschwierigkeiten und Spaßfaktor große Effekte erzielen kann. Es ist Material, das dem grobmotorischen Bereich und dem »Learning by Doing« zuzuordnen ist. Insbesondere die jüngsten Schüler*innen werden auch in den kognitiven Fächern noch grobmotorisch geschult. Es werden beispielsweise Sandkästen zum Nachspuren von Zeichen bereitgestellt oder Buchstaben übergroß in der Sandkiste dargestellt. Arbeiten über die Körpergröße hinaus schulen das Orientierungsvermögen (Haun & Rapold, 2009). Sie sind ein probates Mittel, die RechtsLinks-Orientierung zu stabilisieren und spiegelverkehrtem Schreiben, z.B. bei den Buchstaben b und d, entgegenzuwirken. Untersuchungsergebnisse belegen, dass mehr grobmotorische Bewegungsangebote im Schulalltag einen positiven Einfluss auch auf das kognitive Lernen haben (Hunger, 2008; Müller & Petzold, 2002; Osterroth, Spang & Gießing, 2012). Daher ist es angebracht, auch Kleingeräte, die sich eher in der Sporthalle finden, als Lernhilfe im Klassenraum zu verwenden. Eine Viertklässlerin berichtet hier von grammatischen Übungen im Deutschunterricht, die grobmotorisch mithilfe von Hula-Hopp-Reifen durchgeführt werden: Am Montag habe ich mich gefreut, weil ich meinen Klassenraum wiedergesehen habe. Ich habe ihn eine Woche nicht gesehen. Ich freue mich, wenn ich da drin bin, weil wir immer ganz schöne Sachen machen in der Klasse. Mit dem Springen in die Reifen, das finde ich toll. (Anke, 9 J.)

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Hier werden Reifen, welche die Farben der Satzglieder haben, in die Mitte des Klassenraums gelegt. Die Abstände sind so bemessen, dass sie eine sportlich zu bewältigende Herausforderung darstellen. Ein vorgetragener Satz wird nun entsprechend seiner Satzglieder gehüpft, wie in Abbildung 14 dargestellt. Diese Übung dient sowohl der Koordination, der Auflockerung als auch dem Begreifen des Lerngegenstands. Kinder, die sich später beim Verschriftlichen unsicher sind, können erneut in die Reifen hüpfen und diesen ganzkörperlichen Lernzugang in der Übungsphase zusätzlich nutzen. Abbildung 14: Beispiel grobmotorischer Lernhilfe im Deutschunterricht

Insbesondere im Mathematikunterricht lässt sich durch grobmotorische Bewegungsabläufe das Zahlenverständnis ganzheitlich festigen. Zahlenräume bis zehn, zwanzig und hundert lassen sich mit dem Seil springen, Ball prellen und Trampolin hüpfen. Der Umgang mit Stoppuhren schult in diesem Sinne nicht nur das Begreifen des Zahlenraums, sondern auch das Gefühl für die Zeit. Das Messen von Distanzen beim Weitwurf und Weitsprung erfüllt diese Bedingungen hinsichtlich Zahlenraum und Distanz. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lernhilfen nicht nur im Rahmen des Möglichen großzügig angeschafft, sondern auch aus anderen Bereichen, z.B. Obst aus dem Schulgarten, Kastanien eines nahegelegenen Baums oder Kleingeräte aus dem Sportunterricht, hinzugezogen und kreativ verwendet werden sollten. Zum einen weckt insbesondere externes Material das Interesse der Schüler*innen, zum anderen dient es der Erhöhung von Ankerpunkten zum Einstieg in eine Thematik.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

8.2.4 Gestaltung angenehmer Rahmenbedingungen Materielle und personelle Bedingungen

Kann Schule ein Wohlfühlort sein? Heranwachsende verbringen zu einem großen Teil den überwiegenden Tag in dieser Einrichtung. Sie bestimmt das Denken und Befinden im hohen Maße. Es liegt daher in der Verantwortung Erwachsener, dies nicht nur als Lernbasis zu erfüllen. Hoch auf der Strukturebene anzusiedeln sind die Bereitstellung der bestmöglichen Lernumgebung und bestmöglichen Lernmaterials (vgl. Kap. 5.2, Kategorie »Umgang mit Schulmaterial«). Dass hier Politik und Staat gefordert sind, genügend Geldmittel bereitzustellen, soll hier noch einmal betont werden. Klassenstärken sollten möglichst klein gehalten werden. Eine ausreichende Anzahl von ausgebildeten Lehrkräften ist notwendig, effektives Lernen überhaupt erst zu ermöglichen. Zurzeit sind die Klassenstärken in den staatlichen allgemeinbildenden Schulen hierzulande zu groß, die Anzahl der Lehrkräfte hingegen zu gering. Kindern mit besonderem Förderbedarf gerecht zu werden, gestaltet sich bisweilen schwierig, weil Wege der Anerkennung oft zeitaufwendig sind. Besonderen Bedürfnissen intensiver Zuwendung kann daher nicht immer in lernfördernder Weise nachgekommen werden. Eine erfolgreiche Integrierung in unterschiedlicher Hinsicht ist nicht zuletzt von der Möglichkeit einer akuten Einleitung geeigneter Maßnahmen im Bedarfsfall abhängig. Die Lernorte sollten ästhetisch ansprechend und mit zeitgemäßen Lernmitteln ausgestattet sein, so dass sowohl Wohlfühlfaktor, als auch Aufforderungscharakter eine angenehme und anregende Lernatmosphäre gestalten. Das soll an dieser Stelle deutlich betont werden, da Ursachen für Lernhemmungen bereits auf der Strukturebene liegen können! Eltern und Erziehungspersonen haben mehr Möglichkeiten, im häuslichen Umfeld ein Übriges zu tun und hinsichtlich benötigten Materials für optimale Vorbedingungen zu sorgen. Kein Faktor behindert das Lernen akuter als fehlende Bücher, Hefte, Schreibmaterial, Klebestifte etc. Bei allen Bemühungen, Selbständigkeit im Bereich der Ordnung zu fördern, benötigen einige Schülerinnen und Schüler hier noch länger Unterstützung, als erwünscht. Diese sollte gewährt werden, wenn es alleine noch nicht klappt. Trendartikel, besondere Stifte oder Mappen mit unterschiedlichen Motiven, stellen bisweilen einen besonderen Anreiz dar, der dieses Bemühen sanft, d.h., nicht im Übermaß, unterstützen kann.

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In Würde lernen Zensurengebung

1. Zensuren sind kein Endbahnhof! 2. Zensuren beurteilen nicht DEN Lernenden, sondern geben Auskunft über den Lernstand zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Bereich. Schulische Rahmenbedingungen müssen so gestaltet sein, dass sie dem Lernen zuträglich sind. Kinder sollten sich nicht ängstigen und Anforderungen nicht erdrücken. Der zeitliche Rahmen für das Lernen sollte andere wichtige Aspekte des Lebens wie Spielen und Unternehmungen mit der Familie nicht überlagern. Allerdings wird durch die Aussagen der Stichprobe deutlich, dass es auch von ihrer Seite unterschiedliche Meinungen zum Thema gibt. Während die Zensurengebung einigen Lernenden als Ansporn und Möglichkeit der Selbstbestätigung dient, lässt sie andere angesichts von benoteten Klassenarbeiten erstarren und blockiert sonst abrufbare Inhalte. Bei der Zensurengebung sind die Lehrkräfte an die Beschlüsse der jeweiligen Schulen gebunden. Dennoch ist es nach Absprache durchaus möglich, Noten bei einzelnen Kindern auszusetzen, wenn triftige Gründe vorliegen. Generell ist zu benoteten Klassenarbeiten folgendes anzumerken: Es ist erstrebenswert, dass Grundlagen auch wirklich von allen Kindern verstanden werden. Ist erkennbar, dass es im Einzelfall trotz motivierten Übens nicht gelungen ist, eine abschließende Klassenarbeit mit durchschnittlichen Ergebnissen zu bestehen, sollte die Möglichkeit, sich zu verbessern, eingeräumt werden. Das Kind lernt, seine Leistung als veränderbaren Wert zu begreifen und Verantwortung für eigenes Handeln zu übernehmen. Selbstbestimmtes Lernen wird gefördert! Auch wenn das Annehmen dieses Angebotes ein zusätzliches Nacharbeiten nach sich zieht, ist davon auszugehen, dass trotz Misserfolgs bei den meisten Lernenden genügend intrinsische Lernmotivation vorhanden ist, das Erforderliche zu schaffen. Es ist dadurch ein probates Mittel für die Bewältigung von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen, dass ein zufriedenstellender Abschluss durch eigenes Handeln in Aussicht gestellt wird. Es liegt auf der Hand, dass man Lerneifer in der Schule nicht unterdrücken sollte! Zur allgemeinen Rechtfertigung könnten Lehrende Wiederholungen mit »zweite Schreibung« kennzeichnen und die Ergebnisse zu einem gewissen Prozentsatz in die Gesamtwertung mit einbeziehen. Auswirkungen dürften nur auf der positiven Seite zu verzeichnen sein.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung Hausaufgaben

1. Hausaufgaben müssen derart beschaffen sein, dass sie ohne Hilfe bewältigt werden. 2. Hausaufgaben dürfen die Eltern-Kind-Beziehung nicht beeinträchtigen! Auch die Vergabe von Hausaufgaben weist zwei Seiten der Medaille auf. Einige Schüler*innen sehen in diesen eine Lernhilfe. Für andere stellen sie eine reale mentale Belastung und Einschränkung der Spielzeit dar. Bezüglich »Zensurengebung« und »Hausaufgaben« ist daher festzuhalten, dass Öffnung einerseits und Individualisierung andererseits Bedingungen für erfolgreiches Lernen für einen Teil der Schülerinnen darstellen. Das Pro und Contra von Hausaufgaben zu diskutieren ist müßig. Aktuelle Studien führten bisher zu unterschiedlichen Ergebnissen (vgl. Kap. 5.3.2, »Exkurs: Hausaufgaben in der Diskussion«). An den meisten Schulen ist die Hausaufgabenpraxis verbreitet, und sowohl für Schüler*innen als auch teilweise für Eltern sind diese ein fester Bestandteil des Tagesablaufs. Werden Hausaufgaben aufgegeben, ist es sinnvoll, diese so zu differenzieren, dass nur auf gut verstandenem Niveau gearbeitet wird. Häusliche Frustration und Lernstress sind zu vermeiden. Das Gefühl der Sicherheit hingegen, etwas Gelerntes auch zu Hause selbständig zu bewältigen, ist eine fruchtbare Basis, in der Schule auch den nachfolgenden Lernschritt zu gehen. Widerspricht dem der Leistungsdruck, etwas akut erfüllen zu müssen, so sei an dieser Stelle gesagt, dass Lernschritte in jedem Fall bis zur Verinnerlichung einzeln begangen werden müssen. Kinder, die bereits firm sind, sollten durch zusätzliche thematische Anreize positiv verstärkt werden. Zu erörtern ist die Frage, ob Eltern sich aktiv an den Hausaufgaben beteiligen dürfen. Unter den vielen Studien, die Hausaufgaben thematisieren, finden sich auch solche, die einen positiven Effekt bei der Elternhilfe herausstellen (Cooper et al., 2001). Hier wird generell die Meinung vertreten, dass Kinder ihre Hausaufgaben alleine durchführen sollen! Es ist jedoch in der Praxis so, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Eltern am Nachmittag Wissenslücken schließt, die sich im Unterricht zuvor aufgetan haben. Auf Elternabenden der ersten Klassenstufe wird oft gefragt, ob Fehler der Kinder beim schriftlichen Arbeiten verbessert werden dürfen. Einige Lehrkräfte beharren darauf, Fehler in den Hausaufgaben selbst sehen zu wollen, um den Leistungsstand besser einschätzen zu können. Aus Sportlehrer*innensicht ist jedoch eher die Ansicht zu vertreten, dass Fehler, wenn schon erkannt, besser sofort korrigiert werden sollten. Beim Gebrauch

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eines Rückschlagutensils würde sich auf diese Weise eine falsche Griffhaltung manifestieren, die auf längere Sicht umso schwerer zu korrigieren ist. Sollten Eltern, die Hausaufgaben der Kinder ansehen und Fehlerquellen nicht zur Sprache bringen, so müsste das Kind davon ausgehen, dass alles in Ordnung ist. Eltern kontrollieren schließlich sonst auch im Alltag Diverses und geben Orientierung in unterschiedlichen Bereichen. Wenn also Hausaufgaben angesehen werden, gilt es, Fehler nicht zu »verschweigen«. Bereits beim Vorlesen der Hausaufgaben in der Schule ergibt sich daraus im Deutschunterricht der Vorteil, dass Wörter in der korrekten Schreibweise gelesen und so besser eingeprägt werden. Zu diesem Zweck wäre es von Nutzen, wenn die Lehrkraft wiederum vor dem Vorlesen Korrekturen vornehmen kann. Bei nicht allzu langen Texten ist dies während der Vorlesephase immerhin gut möglich. Ansonsten muss besonders hinsichtlich Klassengröße und der personalen Situation nach dem Prinzip des Machbaren vorgegangen werden. Die Lehrergesundheit als Faktor für guten Unterricht anzuführen (Möbius-Hastedt, 2018; Wesselborg, 2015), erscheint hier auch einmal angebracht. 8.2.5 Beziehungsfeld Wirksame Momente werden in nicht geringem Ausmaß durch Personen des schulischen Umfelds in positiver und negativer Weise hervorgerufen. Einerseits geht es um Eigenschaften und Kompetenzen einer Lehrkraft, die guten Unterricht determinieren, andererseits rückt die Peergruppe in den Vordergrund, wenn es um freundschaftliche, lernfördernde und gegenseitige Interaktionen zwischen Schüler*innen geht. Wie auch der Hattie-Studie (2015) und nachfolgender Literatur (Hattie & Zierer, 2018) zu entnehmen ist, stellen Klarheit der Lehrperson, das Beziehungsfeld, das Verhalten der Klasse als Gruppe, Intervention für Lernende mit besonderem Förder- und Forderbedarf, Anregungen durch das häusliche Umfeld, Lehrer-Schülerbeziehungen und Peer-Einflüsse Faktoren für Lernerfolge dar. In diesem Zusammenhang ist als bemerkenswert zu erwähnen, dass das Anfertigen von Hausaufgaben von vergleichsweise geringem Einfluss ist. Peer-Beziehungen

1. Freunde halten fest zusammen – auch bei Arbeitsprozessen. 2. »Feinde« (zer)stören.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Die Befragung der Stichprobe hingegen hat auch für diesen Bereich gezeigt, dass die Bedeutung diesbezüglicher Faktoren ausschließlich individuell zu bewerten ist. Während Peerbeziehungen beispielsweise im Ranking der Hattie-Studie einen mittleren Stellenwert einnehmen, kann dies für einen einzelnen Schüler oder eine Schülerin von herausragender positiver oder negativer Bedeutung für den Lernerfolg sein. Ein Negativbeispiel ist folgendes: »Ich bin dann ganz schön genervt von ihm und dann kann ich mich kaum konzentrieren. Das hat in allen Fächern immer gestört« (Fritz, 9 J.). Angesichts derartiger Probleme ist es notwendig, negativ wirkende Momente zu minimieren bzw. auszuschalten. Ein Schulbesuch ist unter solchen Bedingungen eine andauernde Belastung, die nicht nur der persönlichen Entwicklung schadet, sondern letztlich auch den Lernerfolg schmälert. Hier sind Unterstützungsmaßnahmen seitens der Lehrkräfte punktuell oder auf eine ganze Gruppe bezogen nötig, die interpersonales Verhalten in den Fokus rücken. Curricula, die in den Stundenplan integriert Sozialverhalten und Selbstwahrnehmung fördern, sind dabei sehr hilfreich. An vielen Grundschulen und im Sekundarstufenbereich werden Programme wie »Faustlos« (Cierpka, 2011) durchgeführt, um derartigen Problemen entgegenzuwirken und positive Beziehungen zu fördern. Auf der anderen Seite profitieren Lernende oft davon, wenn positive Peerbeziehungen im Arbeitsprozess berücksichtigt werden. In der methodischen Aufbereitung von Unterrichtsinhalten ist es Lehrkräften meistens möglich, Partneroder Gruppenarbeiten zuzulassen. Für einige Schüler*innen ist diese Form des Arbeitens besonders geeignet. Bisweilen ist es bereits motivierend, mit Freund*innen zusammenzuarbeiten. »Weil es auch Spaß macht, mit meinen Freunden hier eine Geschichte zu schreiben« (Theo, 10 J.), antwortet ein Viertklässler auf die Frage, warum er sich in einer Auswahl für dieses Aufgabenformat entschieden hat. Zudem stellt die gegenseitige Unterstützung eine wertvolle Lernhilfe dar, wenn Schüler*innen sich gegenseitig ergänzen und inspirieren können: »T. ist ein bisschen besser in Deutsch als wir. Ich finde, er hat mir was beigebracht, dass man nach einem Doppelpunkt ein Leerzeichen und dann Gänsefüßchen unten macht« (Jannis, 10 J.). Schüler-Lehrer-Beziehung

1. Die Lehrkraft sieht hinter der Lerngruppe idealerweise einzelne Persönlichkeiten. 2. Auch bestens strukturierte und organisierte Planungen bedürfen ständiger situativer »Updates« in der praktischen Durchführung.

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Die Wirkung von Lehrkräften auf Heranwachsende stellt innerhalb ihrer personalen Kompetenz einen Faktor dar, der die Motivation der Schüler*innen beeinflusst. Lehrende erreichen innerhalb der Tiefenstruktur, die jenseits von Methoden und äußeren Bedingungen angesiedelt ist, die Lernenden leichter, wenn sie eine positive Ausstrahlung auf Schüler*innen haben. Persönlichkeitsbereiche wie Selbstkonzept und Wohlbefinden rücken daher zunehmend in den Fokus der Lehrer*innenforschung und werden als wichtige Faktoren für erfolgreiches Unterrichtshandeln herausgestellt (Fink-Pomberger & Volkmer, 2015). Junge Lernende hingegen definieren ihre Wünsche an die Lehrkraft nicht über Begriffe wie »Persönlichkeitsaspekte«, »Professionswissen«, »Überzeugungen« und »Werthaltungen«. Ein Viertklässler der Stichprobe sagt über eine Lehrerin aus, in deren Unterricht er sich mündlich mehr eingibt als in anderen Fächern: »Sie ist besser als Lehrerinnen, die SEHR streng sind, und sie ist halt sehr nett« (Martin, 10 J.). Die Begriffe »streng« und »nett« gilt es vorsichtig zu interpretieren, da sie mit subjektiven Wahrnehmungen seitens des Schülers belegt sind. Es ist sicher anzunehmen, dass die Lehrkraft ihn in seiner Arbeit positiv bestärkt und er hier selbständig oder durch ihre Hilfe mit Misserfolgserlebnissen konstruktiv umgehen kann. Die positive Haltung dem Schüler gegenüber stärkt seinen Selbstwert und das Wohlbefinden. In diesem Sinne stellen auch Hattie und Zierer (2018) die Entwicklung einer positiven Beziehung, die durch Geborgenheit, Vertrauen und Zutrauen gekennzeichnet ist, zwischen Lehrenden und Lernenden als Basis erfolgreichen Lernens heraus. Das Aufbauen einer Fehlerkultur, die Schüler*innen anregt und Ziele aufzeigt, ohne ihren Selbstwert zu schmälern, kommt dabei dem Lernen zugute, da es Zuversicht und Zufriedenheit fördert. Eine grundlegende Bedingung dafür ist, dass eine Lehrkraft in der Lage ist, auch angesichts großer Lerngruppen einzelne Kinder in ihrer Individualität zu sehen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Dies erfordert die Kompetenz, große Mengen an Informationen aufnehmen, zu strukturieren und flexibel sich verändernden Bedingungen anzupassen. Detaillierte Unterrichtsvorbereitungen sollten dabei nicht mehr als einen Anhalt bietenden roten Faden darstellen. Rückmeldungen durch die Schüler*innen, Beobachtungen und diverse externe Einflüsse erfordern eine ständige »Feinjustierung« unterrichtlicher Planungen. Letztlich sind nur die eigenen Vorstellungen vom Unterricht exakt planbar. Eine professionell durchgeführte Lehrpraxis zeichnet sich durch ständige »Updates« aus, die Schüler*innen situativ Hindernisse aus dem Weg räumen und Lernwege erleichtern. Heranwachsende, die in der Regel bemüht sind, sich schulischen Gegebenheiten anzupassen und alles »richtig« zu machen, erwarten im Gegenzug auch,

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

dass Lehrende ihre Bedürfnisse wahrnehmen und ihrer Person gerecht werden. In diesem Sinne soll hier der Begriff »nett« gedeutet werden. »SEHR streng« weist auf Bedürfnisse hin, die zumindest subjektiv gesehen seitens des Schülers M. nicht wahrgenommen werden. Schüler-Eltern-Beziehung

1. Eltern und Erziehungsberechtigte geben Orientierung und Sicherheit. Schulische Krisen sollten die Beziehung nicht belasten. 2. Sie stehen den Heranwachsenden im Prozess des Selbständig-Werdens zur Seite. 3. Sie erwägen, welche Anforderungen herausfordernd und zu bewältigen sind. Eine zu hohe Erwartungshaltung führt zur Verunsicherung. Die Frage, die im Raum steht, ist folgende: Inwieweit sollen Eltern ihre Kinder in schulischen Belangen unterstützen. Die Heranwachsenden sollen zur Selbständigkeit erzogen werden und nach Möglichkeit ihren Schulalltag alleine bewältigen. Hilfestellung sollte auf jeden Fall geleistet werden, wenn Schüler*innen von sich aus mit Problemen auf ihre Eltern zugehen und sie einfordern. Bei generellen schulischen Problemen ist eine an die Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse angepasste Vorgehensweise seitens der Lehrkräfte das probate Mittel, Motivation und Steigerung der schulischen Leistung und Selbständigkeit zu fördern. Dies sollte derart kleinschrittig erfolgen, dass Kinder die Anforderungen tatsächlich selbst bewältigen können und Eltern die Rolle der Beobachtenden und Ermutigenden einnehmen können. Zusätzliche Elternhilfe, die zu Streit und Wutausbrüchen führt, ist eher kontraproduktiv und familiär belastend. Absprachen zwischen Elternhaus und Schule sollten dahingehend erfolgen, dass Eltern zumindest in dieser Hinsicht entlastet werden. Dies kommt der Erziehungsarbeit jenseits schulischer Aufgaben, sofern diese sonst zu Konflikten führen, zugute. 8.2.6 Lernökonomie Der Bereich »Lernökonomie« beinhaltet viele Möglichkeiten, den Schüler*innen Gutes zu tun. Lernbezogene Forderungen nach »Offenheit« und »Individualisierung« lassen sich hier in einer derartigen Weise realisieren, dass Heranwachsende eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Förderung und Forderung erfahren. Mit der Hinwendung zum kompetenzorientierten Unterricht ist bereits ein wichtiger Schritt getan. Dieser begünstigt durch die Art der Aufgabenstellungen

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individuelle Lern- und Bearbeitungswege auf unterschiedlichen Leistungsniveaus. Es gilt, Lernumgebungen und Lernwege so zu gestalten, dass Lernende ihre Fähigkeiten entwickeln können. Bis zum Erreichen einer Zielkompetenz werden mehrere Lernschritte nacheinander durchlaufen. Lerntempo und aktuelle Leistungsebene sind dabei am Lernstand des Kindes orientiert. Ein thematischer Einstieg sollte stets durch ein hohes Maß an Offenheit gekennzeichnet sein, damit alle Kinder ihre Ankerpunkte finden. Offenheit

1. »Offenheit« ist der Weg zu unterschiedlichsten Ankerpunkten. 2. Sie schafft Raum für individuelle Lernprozesse. Dieser Abschnitt stellt eine Forderung an Lehrende dar, Schüler*innen jede zur Verfügung stehende Möglichkeit zu geben, sich mit eigenen Beiträgen in den Unterricht einzubringen und Einschränkungen hinsichtlich dessen, was sie einbringen dürfen, abzubauen. Für viele Heranwachsende gestaltet sich die mündliche Beteiligung aus unterschiedlichen Gründen schwierig. Zum einen besteht die Angst, sich vor den Peers und Lehrkräften zu blamieren, zum anderen sind einige nicht in der Lage, Beiträge zu leisten, da sie fachlich unsicher sind oder bereits den Anschluss an eine Thematik verloren haben. Als Grundsatz dabei gilt: Alle Beiträge der Schüler*innen sind positiv zu werten, auch jene Versuche, die nicht mit erfolgreichen Ergebnissen aufwarten. Eine freiwillige Beteiligung erfordert bisweilen Mut und bezeugt den Willen, sich fachlich einzubringen. Allein dies ist schon ein anzustrebendes Kompetenzziel! Die Neuorientierung bestehender Lernpläne an Kompetenzzielen kommt dieser Forderung sehr entgegen. In jüngster Zeit zunehmend Gegenstand der Fachliteratur, wird insbesondere die Einführungsphase im Unterricht als Möglichkeit thematischer Öffnung beschrieben, um Schüler*innen entdeckend an Inhalte heranzuführen (Brandl, 2014; Büchter & Leuders, 2005; Maier, Kleinknecht & Metz, 2010; Wilhelm, Luthiger & Wespi, 2014): 1. Arbeitsaufträge können zu unterschiedlichen Lösungen führen. 2. Arbeitsaufträge können auf unterschiedlichen Wegen gelöst werden. 3. Arbeitsaufträge können methodische Spielräume lassen. 4. Aus Problemstellungen können sich unterschiedliche Fragestellungen entwickeln.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Am Beispiel der Einführung des Themas »Schleswig-Holstein« im Sachunterricht der vierten Klassenstufe soll die Wirksamkeit offener Unterrichtsabschnitte für alle Lernenden erläutert werden. Vorab ist zu erwarten, dass Vorkenntnisse unterschiedlich ausgeprägt sind. Während einige Schüler*innen schon Himmelsrichtungen beherrschen, größere Ortschaften und Nachbarländer kennen und eine Karte lesen können, verfügen viele noch nicht über ein derartiges Wissen. Bisweilen fällt es auch schwer, die Abbildung einer Karte als real existierende Landschaften zu verstehen. Es ist daher wichtig, Schüler*innen zu Beginn viel Zeit einzuräumen, da sie hier ihre persönlichen thematischen Bezüge herstellen. Das ausgiebige Erzählen über bisherige Erfahrungen mit der Thematik erfordert noch keine Aufgabenstellung, bietet aber schon die Möglichkeit, Wissen mitzuteilen. Auch die Ausgabe eines Kartenwerks bedarf zum Einstieg keiner Anleitung. Die Ausgabe neuer Materialien ist zunächst Anreiz genug, sich damit auseinanderzusetzen. Bindende Einstiegsfragen schränken Lernende auf dem Weg des Selbst-Entdeckens hier unnötig ein. Umso vielfältiger werden die Ergebnisse der ersten Erkundungen sein, da die persönlichen Bezüge unterschiedlich sind. Um die Motivation aufrecht zu erhalten, müssen nun entlang der Ergebnisse der Kinder Aufgabenstellungen entwickelt werden, die die Lernenden an die avisierte Zielkompetenz heranführen. Dies erfordert seitens der Lehrkraft ein gewisses Maß an Flexibilität, wirkt aber effektiv dem »Abschalten« einiger Schüler*innen entgegen. Offenheit ist in einem gewissen Maße auch in temporärer Hinsicht vonnöten. Eine Übersicht (Halbjahres- oder Quartalsplan) der Themen und Kompetenzziele sollte gut ausgearbeitet sein, innerhalb der Gliederung jedoch im wahrsten Sinne des Wortes »Spielräume« lassen. Eine gut strukturierte Unterrichtsplanung bietet der Lehrkraft Sicherheit, wird aber nie der Vielfalt an individuellen Bedürfnissen einer Lerngruppe gerecht. Als problematisch erweist sich eine zu enge Bindung an selbst gesetzte zeitliche Vorgaben, wenn Lernende intensive und interessante Arbeitsphasen unterbrechen müssen. Eine erste Erzählphase dauert so lange, bis jedes Kind seinen freiwilligen Unterrichtsbeitrag geleistet hat. Wenn das Entdecken des Kartenwerks 45 Minuten intensiver Auseinandersetzung mit dem Material darstellt, wird die Anbindung an das Thema umso nachhaltiger sein! Das Engagement von Kindern mit vermeintlichen Lernproblemen wird sich von dem leistungsstarker Heranwachsender nicht unterscheiden. Sie können nichts falsch machen und stolz darauf sein, Entdecktes mitteilen zu können. Da das Gewähren eines angemessenen zeitlichen Rahmens Rücksicht auf das Tempo der Lernenden nimmt, werden langsamen Schüler*innen diesbezüglich keine Hürden gestellt. Raum für Öffnungen sind nicht allen

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Themenbereichen gleichermaßen gegeben. Es gilt ihn aber nach Möglichkeit herauszuarbeiten und Schüler*innen zur Verfügung zu stellen. Das Einbringen von mehr Offenheit im Unterricht befriedigt in dieser Hinsicht sowohl das Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle als auch das nach Beziehung. Es ist anzunehmen, dass sich dies auch positiv auf das Selbstwertgefühl und die Freude am Lernen allgemein auswirkt. An dieser Stelle ist es angebracht, auch einen Transfer zum Kunstunterricht herzustellen. Insbesondere in diesem Fach kann sich eine Öffnung positiv auf Schüler*innen und Unterricht auswirken. Der wirkende Moment ist hier die Möglichkeit der persönlichen, kreativen Entfaltung. Es sollte erlaubt sein, mutige Gestaltungsversuche zuzulassen. Der Kunstunterricht stellt eine geeignete Plattform dar, sich in einem geschützten Raum auszuprobieren, auch mal ungewöhnliche und gewagte Wege zu beschreiten oder Gefühle auszudrücken, ohne negative Folgen, auch hinsichtlich der Benotung, fürchten zu müssen. Dazu wird mir eine Kunststunde in Erinnerung gerufen, in der Erstklässler*innen handtellergroße Marienkäfer gebastelt haben. Eines dieser Tiere stach aus der Menge heraus, denn es hatte sorgfältig gezeichnete Flügel mit bunten, filigranen Mustern drauf. Schließlich war nur dieser Käfer besonders und erregte das Interesse der anderen Kinder. Er war mehr als die anderen Gegenstand des Gesprächs. Im Ergebnis hatten nun alle Kinder das Bedürfnis, auch einen Käfer mit persönlicher Note zu gestalten. Differenzierung

1. Jeder Heranwachsende ist einzigartig. 2. Lernvoraussetzungen sind verschieden. Ergebnisse benoteter Leistungsnachweise belegen, dass Lernziele nie hundertprozentig von einer Lerngruppe erreicht werden. Nur etwa zehn bis zwanzig Prozent der Kinder schließen mit »sehr gut« ab. Für Lernende ist es erleichternd, zu Beginn einer Unterrichtseinheit einen Mindeststandard für ein jeweiliges Kompetenzziel als »Basic« zu definieren, den sich alle Schüler*innen zutrauen zu bewältigen. Dies entspricht im Ergebnis einer durchschnittlichen Leistung. Ergänzend sollte erläutert werden, welche Faktoren den Unterschied einer guten zu einer sehr guten Leistung ausmachen. Dies sollte altersgemäß verdeutlicht werden. Es genügt bereits eine humorvolle metaphorische Darstellung, Niveaus zu veranschaulichen: Das erste entspricht beispielsweise einem Eis, das zweite einem mit Sahnehäubchen, Niveau drei bekommt obendrauf Streusel.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Ein Beispiel aus dem Deutschunterricht einer dritten oder vierten Klasse kann dies verdeutlichen. Schüler*innen sollen die Zeichen der wörtlichen Rede anwenden können. Als »Basic« wird erwartet, dass einfache Begleit- und Redesätze korrekt geschrieben werden. Er rief: »Ich habe den Ball!« Die Stufe zwei könnte beinhalten, dass nachgestellte und eingeschobene Redesätze ebenfalls beherrscht werden. »Ich habe den Ball!«, rief er. Die Stufe drei stellt den versierten Gebrauch in einer eigenen Textproduktion dar. Generell lässt sich sagen, dass der Deutschunterricht neben Textverständnis im Grunde dazu befähigen soll, sich mündlich und schriftlich zu unterschiedlichen Themen äußern zu können. Dies beinhaltet Kritik, Meinungsäußerung, Mitteilungen und die Fähigkeit, Geschichten zu verfassen. Schreiben ist ein Mittel, sich selbst auszudrücken. Wird dies vor Schüler*innen deutlich formuliert, begreifen auch Jüngere schnell, dass Schreiben ein Zugewinn für die eigene Persönlichkeit ist und vielfältige Möglichkeiten eröffnet. Insofern ist Niveau drei generell überwiegend an die praktische Anwendung im freien Schreiben geknüpft. Hier lassen sich Rechtschreibphänomene, Stilmittel des Ausdrucks und einige grammatische Phänomene anwenden. Die Übungsphase sollte ebenso differenziert dargeboten werden. Sehr einfache Übungen erleichtern vielen Schüler*innen, die sich angesichts neuer Thematiken unsicher fühlen, den Einstieg: »Am leichtesten fällt mir Abschreiben. Das mache ich besser. Ich habe heute ›die Kartoffel‹ abgeschrieben. Ich werde heute noch aufschreiben, was ich herausgefunden habe, und ich werde an einem Buchblatt arbeiten. Ich teile mir das ein« (Alec, 8 J.). Anspruchsvollere Aufgabenstellungen ergänzen die Übungsmöglichkeiten bis hin zum freien Schreiben auf dem Niveau drei. Die Hausaufgaben sollten ein Nacharbeiten verstandener Elemente des Unterrichts darstellen, damit sie eher Erfolge unterstreichen als Probleme aufwerfen. Lernende erkennen bei diesem Modell, auf welcher Stufe des Kompetenzerwerbs sie sich befinden und stecken sich in gewissem Rahmen eigene Ziele. Die Lehrkraft wirkt hier kontrollierend, unterstützend und ggf. vermittelnd. Dies ist der Fall, wenn sich bei Einzelnen herausstellt, dass gegenseitige Hilfe aus den Reihen der Lernenden am wirksamsten ist. Das Besprechen der Hausaufgaben ist dadurch interessant, dass an unterschiedlichen Aufgabenformaten gearbeitet wird. Insbesondere nach Verfassen eigener Sätze und Texte lassen sich die Arbeiten würdigen, indem Rückmeldungen durch Schüler*innen eingebunden werden. Zu erwähnen ist nicht zuletzt, dass alle Elemente der psychischen Grundbedürfnisse hier angesprochen werden: Selbstbestätigung, Würdigung durch die Peers, Kontrolle über den Verlauf der Übungsphasen und Lust durch positive Verstärkung.

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In Würde lernen Individualisierung

1. Auf individuelle Bedürfnisse eingehen bedeutet respektieren. 2. Entgegengebrachter Respekt erhöht die Selbstsicherheit. 3. Selbstsicherheit fördert eigene Aktivität und kommt dabei selbstbestimmtem Lernen zugute. Eine Schulklasse kann von den Lehrenden als Einheit oder Gefüge von Individuen wahrgenommen werden. In der Praxis stellt es sich häufig so dar, dass die Klasse als Einheit angesehen wird, auffällige Kinder hingegen eher als Individuen wahrgenommen werden. Gerne ziehen sich einige Klassenmitglieder auch in die Anonymität zurück, um sich dem »Mainstream« anzupassen und nicht negativ aufzufallen. Dies ist, anders als im Klassenraum, im Sportunterricht nicht möglich und wirft hier fachspezifische Probleme auf. In der Offenheit des Raumes kann jede Leistung sofort gesehen, verglichen und bewertet werden. Bisweilen fühlen sich Heranwachsende bloßgestellt und können sich dem z.T. dauerhaft nicht entziehen (Miethling & Krieger, 2004; Möhwald, 2014; Reimann-Pöhlsen, 2017). Diese klassenraumbezogene Anonymität in der Betrachtungsweise der Lehrenden aufzuheben und Lernende zur Selbstdarstellung zu ermutigen, sollte ein übergeordnetes Kompetenzziel für beide Seiten darstellen. In Hinblick auf diesbezügliche Ergebnisse aus Sportstudien sollte hier aber behutsam vorgegangen werden, damit Effekte des Bloßgestelltseins nicht auftreten. Sind Lehrende mit der Persönlichkeit Heranwachsender vertraut, erleichtert dies die Schaffung von »Ankerpunkten«, den individuellen Lernzugängen. Schüler*innen hingegen lernen, sich in ihrer einzigartigen Ausprägung positiv zu bewerten und den Wert für eine Gemeinschaft zu erkennen. Ein Schüler, der als Erstklässler erhebliche Probleme im Anfangsunterricht Lesen und Schreiben hatte, machte schließlich große Fortschritte, als er anstelle der üblicherweise verwendeten Lernwörter wie »Lokomotive« oder »malen« die Namen von Fußballspielern und Mannschaften erlesen und schreiben durfte. Diese stellten nicht nur einen realen Bezug zu seiner subjektiven Welt dar, sie hatten auch für ihn als Fußballfan einen hohen motivationalen Aufforderungscharakter: »Ich hatte das da mal von einem Fußballspieler. Von Marco Reus. Der hat das ja auch so, als er noch bei Gladbach war, gemacht« (Reus, 9 J.). Die anfängliche Zurückhaltung, die mit den Lese- und Schreibschwierigkeiten einherging, wich einem zunehmenden Selbstbewusstsein, da er sich mit der Fußballthematik auch in anderen schulischen Bereichen als Experte in die Klassengemeinschaft einbringen und Respekt verschaffen konnte. Dieses Beispiel soll insbesondere für die Schüler*innen stehen, die in der Anonymität

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

einer Klasse weniger wahrgenommen werden oder mangels gelungener Ankerbindungen nicht in der Lage sind, ihre Potenziale voll zur Entfaltung zu bringen. »Individualisierung« bezeichnet hier das Einbeziehen, Zulassen und Fördern der Schülerpersönlichkeit mit eigenen Ideen, eigener Lernweise und auch dem Nutzen besonderer Materialien, wenn dies einer Thematik zuträglich ist. Im Bereich der Inklusion wird »Individualisierung« praktiziert, um Unterschieden in der Ausprägung normal beschulter und integrierter Kinder nach besten Möglichkeiten zu begegnen. Einige körperliche Defizite können mit entsprechendem Material ausgeglichen werden. Im Falle einer Sehschwäche beispielsweise verbessern digitale Lesegeräte, Computer, Hefte mit kontrastreicher Lineatur usw. die Lernbedingungen. Auf integrierte Schüler*innen wird hinsichtlich Arbeitszeit, -ort, –umfang und –weise besondere Rücksicht genommen, sie erhalten individuellen Bedingungen angepasste Lernhilfen und Ausdrucksmöglichkeiten. Da letztlich alle Heranwachsende besondere Eigenschaften und Vorbedingungen zum schulischen Lernen aufweisen, ist anzunehmen, dass ein höherer Grad an Individualisierung dem Lernen nur zuträglich sein kann. Dafür sprechen folgende Faktoren: x Letztlich sind auch individualisierte Maßnahmen notwendig, sobald ein normal beschultes Kind Lernschwierigkeiten aufweist. x Kinder ohne Lernschwierigkeiten haben Potenziale, die durch individualisiertes Lernen hervorgebracht werden können. x Leistungsstarke Schüler*innen können ihre Potenziale nicht ohne besondere Förderung frei entfalten. Es ist bereits üblich, den Arbeitsumfang und die Arbeitszeit persönlichen Lernvoraussetzungen anzupassen. Besonders für die Kleinsten sind Klassenräume in der Regel mit Rückzugsorten zum Spielen und Ausruhen ausgestattet. Aufgabenstellungen, Klassenarbeiten und Hausaufgaben werden in allen Klassenstufen bei Bedarf im Umfang gekürzt oder mit zusätzlichen Aufgabenstellungen versehen. Räumliche Möglichkeiten, die Platz zum individuellen Arbeiten lassen, sind im Wesentlichen abhängig von der jeweiligen Ausstattung einer Schule. Den Aussagen der Schüler*innen über unterschiedliche Orte im schulischen Feld (Kap. 5.6) ist zu entnehmen, dass diese die Lernmotivation wesentlich beeinflussen können. Je größer die Affinität zu einem Lernort, »am besten klappt das in der Klasse, keine Ahnung, warum, und ansonsten auch in der Küche am Esstisch« (Lotte, 9 J.), oder die Voraussetzung zur Realisation individueller Bedürfnisse ist, desto größer fällt die kognitive Anregung aus. Dies trifft auf außerschulische Lernorte, z.B. die einer Klassenfahrt oder eines Schulausflugs, in besonderem

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Maße zu. Hier können sich Heranwachsende freier bewegen, alleine oder in der Gruppe agieren, sich auch alleine Gegenständen von Interesse zuwenden. Aber auch dem Schulgebäude und Klassenzimmer selbst sind Gestaltungsräume vorbehalten, die mehr Eigenständigkeit zulassen. Hier gilt es, alle zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen! Lernende wollen gerne ungestört arbeiten, recherchieren und üben. Dafür sollten alle zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten und Lernnischen genutzt bzw. geschaffen werden. Mehr Individualisierung bezieht sich hier auch auf das Zulassen unterschiedlicher Arbeitsformen hinsichtlich Einzel- Gruppen- oder Partnerarbeit. Hinsichtlich individueller Arbeitsweise und dem Gebrauch von Material ist an dieser Stelle bereits auf den folgenden Abschnitt, »Mitbestimmung«, hinzuweisen, der mit hier Dargelegtem eine enge Symbiose eingeht. Ein Praxisbeispiel individualisierten Lernens, ein »Erfolgsmodell« nicht nur im Optimieren des Leseverständnisses, soll hier zur Veranschauung angefügt werden. Praxisbeispiel: Umgang mit eigener Literatur

Eltern lesen kleinen Kindern im Idealfall regelmäßig vor. Mit Erreichen der eigenen Lesefähigkeit bietet es sich für den Deutschunterricht ab dem Ende der ersten Klassenstufe an, besondere Leseanreize zu schaffen. Dies lässt sich durch Besuche in der lokalen Bücherei, Lesepässe, Urkunden oder Belohnungen z.B. in Form von Murmeln realisieren. Ab der zweiten Klassenstufe können eigene Lektüren fester Bestandteil des Deutschunterrichts sein und neben dem Bereich der Lesefähigkeit auch anderen Lernfeldern zugeführt werden. Wird seitens der Deutschlehrkraft Wert darauf gelegt, dass täglich gelesen wird, werden Schüler*innen mit der Zeit Vorlieben für bestimmte Lektüren entwickeln, die ihrem Interesse und Lesestand entsprechen. Dies gilt auch für diejenigen, die dem Lesen zunächst ablehnend gegenüberstehen. Als fester Bestandteil des Tages integriert, entwickelt sich nach und nach eine Lesekultur. Diese Lektüren stellen als Unterrichtsmaterial einen hohen Motivationsfaktor dar, weil die Kinder einen persönlichen Bezug dazu aufgebaut haben, der Inhalt von persönlichem Interesse ist und sie mit einzigartigen Arbeitsergebnissen aufwarten können, die nicht sofort in Vergleich zu anderen Ergebnissen gestellt werden können. Nicht zuletzt können Bücher dazu genutzt werden, einen Realbezug zwischen Schule und Umwelt herzustellen. »Literatur« stellt eine Form der praktischen Anwendung geübter sprachlicher Phänomene dar und verdeutlicht nicht zuletzt in dieser Form, warum Rechtschreibung und Ausdrucksschulung Lerngegenstände in der Schule sind. Die Sinnhaftigkeit ist ein Motivationsfaktor. Im Folgenden werden einige Nutzungsmöglichkeiten vorgestellt:

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

1. Der Aspekt, literarisches Kulturgut kennen zu lernen, liegt auf der Hand und ist daher als Erstes zu nennen. Durch das Erstellen eigener Büchermappen, für die Inhaltsangaben und Bewertungen geschrieben werden, erhalten Kinder und Lehrkräfte eine Übersicht, was gelesen wurde. Es wird von Schüler*innen gerne angenommen, diese »Buchblätter« zu jeder Zeit in der Schule oder zu Hause als vorrangig in Eigenbestimmung anfertigen zu dürfen. Der Aussage, dass eine erwartete Hausaufgabe wegen einer Bucharbeit nicht angefertigt worden ist, klingt oft mit Stolz erfülltem Unterton mit. Schließlich ist dies eine individuelle Arbeit, der höchste Priorität eingeräumt worden ist. Schüler*innen bei diesen schriftlichen Arbeiten nicht mit einem Rotstift zu behelligen, ist angezeigt. Das Ergebnis stößt bei Mitschüler*innen u.a. dadurch auf Interesse, weil sie selbst potenzielle Leser*innen der Lektüre werden könnten. Die Anzahl gelesener Lektüren und Reflektionen in das Zeugnis als fachliche Bemerkung aufzunehmen, unterstreicht erneut die Wichtigkeit dieser selbstbestimmten Arbeit. Eine vergleichende Betrachtung gelesener Werke am Ende eines Schuljahrs führt zu neuen Anregungen und kann zum Büchertausch oder Verleih genutzt werden. Eine regelmäßige Lesestunde sollte zu diesem Zweck in den Stundenplan integriert werden: »Ich mag gerne, wenn wir in den Stunden lesen dürfen. Ich finde die Schule toll « (Anke, 9 J.). 2. Eigene Bücher eignen sich zum Rechtschreibtraining. Es lassen sich eine Vielzahl von Aufgabenstellungen entwickeln. Beginnend mit einfachen Abschreibeübungen können zusätzlich bestimmte Wörter (Nomen, Verben, Wörter mit tz, ck, …) unterstrichen oder herausgeschrieben werden. Als Forscheraufgabe lässt sich die Häufigkeit von Rechtschreibphänomenen bestimmen. Ein Arbeitsauftrag könnte lauten: Welches Phänomen kommt auf 5 Buchseiten häufiger vor, »ss« oder »ß«? Schreibe zunächst deine Einschätzung auf, dann die gefundenen Wörter in eine Tabelle. Hattest du recht? 3. In Zusammenhang mit einer Textproduktion könnten Stilmittel, z.B. der Gebrauch ausschmückender Adjektive oder Wortwiederholungen, untersucht werden. 4. Die Tempusbestimmung eines literarischen Werks unterstützt das Erlernen der Zeitformen. Es lassen sich Aufgabenstellungen zu nahezu allen Themen des Umgangs mit Sprache, auch Satzglieder und Wörtliche Rede, finden. Diese können als ein individualisiertes Angebot unter anderen Aufgabenstellungen zu einem Thema

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stehen. Da Arbeitsergebnisse sich hier nicht gleichen, ist anzunehmen, dass sie im Vergleich für zusätzlichen Gesprächsstoff sorgen. Aspekte der Individualisierung finden sich sonst z.B. im Wählen von Referatsthemen, Mitbringen von Gegenständen in die Schule, Nutzen besonderen Materials und dem Gestalten des Arbeitsplatzes. In dieser Hinsicht werden Lehrkräfte häufig eingangs mit Fragen konfrontiert, die mit »darf ich« in Bezug auf die Peergruppe, den Arbeitsort oder die Arbeitsweise beginnen. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung könnte man geneigt sein, Anfragen dieser Art abzulehnen. Inhaltlich bedeuten »Darf-ich-Fragen« stets: »Darf ich meine Bedingungen zum Lernen optimieren?« Wenn Lernende überhaupt fragen, ob sie (so) lernen dürfen, ist dies positiv zu bewerten. Man sollte sie nicht vom Lernen abhalten, auch nicht davon, auch noch Spaß dabei zu haben! Diese individualisierte Lernweise geht allerdings nicht einher mit einem laissez-fairen, sondern mit einem streng kontrollierenden und den Überblick behaltenden Lehrstil, dessen Lehrinhalt und Ziel für alle Schüler*innen auf einer übergeordneten Ebene identisch ist. Dieses Vorgehen lässt viel Gestaltungs- und Entwicklungsraum für Schüler*innen unterschiedlicher Ausprägung zu. Mitbestimmung

1. Die Möglichkeit zur Mitbestimmung macht aus passiven Konsument*innen Akteure. 2. Sie fördert selbständiges Handeln und das Bewusstsein, »Schmied des eigenen Glücks«, zu sein. 3. Heranwachsende lernen, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Mitbestimmung von Unterrichtsprozessen ist ein zentraler Moment im Bemühen um Leistungssteigerung aller Schüler*innen. Die Schüler*innen tragen durch einen hohen Grad an Selbstbestimmung ihren Beitrag zur Gestaltung des Unterrichts, im Bestreben selbstverantwortlich zu handeln, bei. Das betrifft zunächst die Einschätzung und Beurteilung ihres aktuellen Leistungsstands und das Setzen eigener Ziele. Die Gefahr, dass sich Lernende über- und unterfordern, ist gering. Wie auch in der Freizeitgestaltung, setzen sich Lernende nicht unnötig kritischen oder langweiligen Situationen aus. Die Lernmotivation lässt sich nicht nur dadurch erhöhen, dass Schüler*innen ein passendes Angebot auswählen können: »Ich lerne am liebsten in Deutsch. Das hat etwas damit zu tun, was ich machen darf« (Lotti, 9 J.). Gegenüber eindimensional vorgefertigten Aufgabenstellungen erhöht sich die Identifikation mit der zu lernenden Thematik. Die

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Möglichkeit der Wahl beinhaltet auch das Respektieren der Individualität der Schüler*innen. Heranwachsende fühlen sich hier in ihrer Eigenart eher angenommen, als wenn sie lediglich rezipieren. Diejenigen, die eine andere Arbeitsweise bevorzugen, sind in ihrer Entscheidung gleichermaßen zu respektieren. Sie handeln aus Erfahrung und ebenso aus dem Motiv heraus, erfolgreich zu lernen. Für derartige Wünsche übernimmt die Lehrkraft die Einschätzung hinsichtlich der Zusammenstellung eines bestmöglichen Aufgabenformats. In Erinnerung rufen möchte ich hier die Aussage der achtjährige Larissa: »Ich kann am besten mit Vorgaben arbeiten, die in etwa sagen, was man machen soll.« Ein gewisser Grad an Unsicherheit resultiert bei einigen Schüler*innen dadurch, dass das Selbstbild stets mit konkreten Ereignissen und Einschätzungen anderer konkurriert. Schüler*innen fragen sich, wer sie selbst sind und wie sie von anderen wahrgenommen werden. Anerkennung für Ergebnisse, die eigene Persönlichkeitsmerkmale tragen, stärkt hingegen das Selbstbewusstsein und hat positive Auswirkungen auf Zutrauen und Arbeitshaltung. Dies lässt sich z.B. bei der Vergabe von Referatsthemen beobachten. In der Regel sind Schüler*innen bereits dadurch motiviert, dass sie eine Möglichkeit der Wahl haben, ihre persönlichen Neigungen und Vorlieben einbringen und selbständig recherchieren zu können. Ein breit angelegtes Angebot von Aufgabenstellungen realisiert das Gelingen wirksamer Momente, die einen Einstieg in das Lernen bieten, für möglichst alle Heranwachsende. Einerseits sollen unterschiedliche Lernstände und individuelle Lernzugänge angesprochen werden, andererseits geht es um ein und dieselbe Kompetenz, die alle erreichen sollen. Ein praktisches Beispiel aus dem Deutschunterricht, das eine Weiterführung der Lernfelds »Wörtlichen Rede« des Abschnitts »Differenzierung« darstellt, soll das veranschaulichen. Thematisiert ist das Wortfeld »sagen« mit den Kompetenzzielen, die wörtliche Rede anwenden zu können. Dies beinhaltet sowohl den Gebrauch der Zeichen als auch die abwechslungsreiche Anwendung in eigenen Texten. Es ist hier zunächst angebracht, ein Kompetenzziel als Minimalkonsens zu entwickeln, das zunächst alle Kinder anstreben. Diese sollen Sätze, wie beispielsweise der folgenden Art, selbst formulieren können: Die Geschwister rufen erfreut: »Das war ein tolles Spiel!« Lerninhalte sind dabei folgende: 1. Korrektes Setzen der Zeichen bei einem einfachen Wörtliche-Rede-Satz 2. Abwechslungsreiches Verwenden von Begriffen aus dem Wortfeld »sagen« 3. Ausschmücken des Begleitsatzes z.B. durch ein Adjektiv

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Zur Einführung muss der Begriff »Wörtliche Rede« mit Leben gefüllt werden, bis die Kinder verstanden haben, um was es genau geht. Das lässt sich mithilfe drehbuchartiger Texte realisieren, in denen mit verteilten Rollen gelesen wird, durch Comics, die durch die Verwendung von Sprechblasen das Lernfeld verdeutlichen und im Gestalten von Interviews. Wenn die Kinder eigene Lektüren parallel zum Unterricht haben, können sie hier die Verwendung der Wörtlichen Rede untersuchen. Die Aufgabenstellungen werden zunächst bis zum Minimalkonsens formuliert und den Kindern zur Wahl gestellt. Beginnend mit den einfachen Aufgaben werden die folgenden anspruchsvoller. 1. Abschreiben geeigneter Passagen aus dem eigenen Buch, unterstreichen der Wörtlichen Rede 2. Arbeitsblätter zum Einsetzen der Wörtlichen Rede 3. Geeignete Aufgabenstellungen aus dem Lehrbuch (Angabe von Seiten und Aufgaben) 4. Formulieren eigener Sätze (Wörtliche-Rede-Satz und Begleitsatz) 5. Umformulieren eines »langweiligen« Textes, in dem nur »sagte« verwendet wird Über den Minimalkonsens hinaus werden weitere Aufgaben angeboten, die schnell lernende Kinder bearbeiten können. 6. Arbeitsblätter zu eingeschobenen und nachgestellten Redesätzen 7. Herausschreiben besonders gelungener und interessanter Formulierungen aus dem eigenen Buch 8. Schreiben eigener Texte unter korrekter und abwechslungsreicher Verwendung der Wörtlichen Rede Es empfiehlt sich, zu Beginn nur mit vier Aufgabenstellungen zu arbeiten, um die Lernenden nicht zu überfordern. Nach und nach können andere Angebote zur Abwechslung eingebracht werden. Nach Erläuterung der Aufgaben sollte jedes Kind angeben, mit welcher Aufgabenstellung es sich beschäftigt. Kinder, denen der Beginn schwerfällt, werden in einem Einzelgespräch unterstützt. Die zeitlichen Vorgaben sind großzügig zu halten. Das Maß der Bewertung ist, dass ein Kind konzentriert an seiner selbstgewählten Aufgabe arbeitet und Fortschritte macht. Die Hausaufgaben schließen sich hier an und werden mehr qualitativ als quantitativ beurteilt. Zeitliche Vorgaben können die Hausaufgaben determinieren. Auch hier gilt es, sich

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

häusliche Vorhaben mündlich oder schriftlich bestätigen zu lassen, um den Heranwachsenden ggf. beratend oder korrigierend zur Seite zu stehen. Selbstgewähltes zu bearbeiten erfüllt Kinder mit einem gewissen Stolz und erleichtert den persönlichen Zugang zum Lerngegenstand. Das Vorlesen der Hausaufgaben gestaltet sich dementsprechend abwechslungsreich. Eine hohe Aufmerksamkeit der Zuhörenden ist dadurch zu erwarten, dass unterschiedliche Ergebnisse dargeboten werden, die in hohem Maße eine persönliche Ausprägung haben. Es empfiehlt sich vor dem Verlesen der Hausaufgaben zu fragen, wie gut man mit den selbst gewählten Arbeiten zurechtgekommen ist, wie lange tatsächlich gearbeitet worden ist und welche Ergebnisse erzielt werden konnten. Die Rückmeldung ist für Schüler*innen und Lehrkraft sehr wichtig, da er den Verlauf des Lernprozesses und die Zufriedenheit einer Gruppe widerspiegelt. Schüler*innen, die über das erwartete Maß hinaus gearbeitet haben, dürfen erwarten, durch Zuhörer*innen und Lehrkraft gewürdigt zu werden. Stößt jemand hingegen an seine Grenzen, kann schnell gegenseitige organisiert werden. Auch dies entspricht einer Form der Würdigung, da der Einzelne beachtet und mit seinen Problemen nicht zurückgelassen wird. Ist abzusehen, dass ein oder mehrere Schüler*innen von einer Partnerarbeit und gegenseitiger Unterstützung profitieren, so sollte dem, sofern diese darum gebeten haben, kein (lernhemmender) Riegel vorgeschoben werden. Auch wenn aus unterschiedlichen Gründen weniger gearbeitet wurde, ist das in gewissem Rahmen im Zuge selbstbestimmten Lernens zu tolerieren. In meiner Unterrichtspraxis hat diese Arbeitsweise für Schüler*innen durchweg positive Auswirkungen gezeigt, nur selten wurde »wenig« gearbeitet. Im pädagogisch relevanten Ergebnis werden Lernende für die Wertigkeit eigenen Arbeitens sensibilisiert. Was auf diese Weise hervorgebracht wird, trägt das Merkmal des Einzigartigen und Besonderen. Die Heranwachsenden wissen, dass ihr Eigenanteil an den Ergebnissen besonders hoch ist. Dies unterstützt eine Arbeitshaltung, die sich vom passiven Rezipieren und Arbeiten zum selbstbestimmten Lernen und kreativen Gestalten entwickelt. 8.2.7 Orte im Feld der Schule 1. Orte sind immer auch Lernorte. 2. Sich Orte selbständig erschließen, ist ein Aspekt des Reifeprozesses. Im Zusammenhang mit einprägsamen Faktoren angesichts ihres Schulbesuchs sind von Schüler*innen der Stichprobe verschiedene Orte genannt worden, die eine besondere Wirkung haben. In ihrer Eigenart sind sie motivierend,

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inspirierend oder geben Anlass zur Kritik. Als Lernorte haben sie das Potenzial, positive oder negative Emotionen hervorzurufen, welche die Prozesse des Lernens unterstützen, erleichtern oder hemmen. Angesichts dieser Tatsache ist es angebracht, Gestaltungsmöglichkeiten sorgfältig, kreativ und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abzuwägen, um Prinzipien des Wohlfühlens, Lernens und Lehrens gerecht werden. Das Klassenzimmer

Der am häufigsten genutzte Ort ist das Klassenzimmer, idealerweise ein Wohlfühlort und Inspiration für Lernende. Die Anforderungen, welche an ihn hinsichtlich der Lernwirksamkeit gestellt werden, sind vielfältig. Es bedarf Strukturen, die 1. den akustischen und optischen Standards der Informationsaufnahme genügen, 2. körperlichen Bedingungen der Lernenden angepasst sind, 3. Ordnung und Orientierung ermöglichen, 4. ästhetischen Ansprüchen genügen, 5. Lernzeiten maximieren, 6. unterschiedlichen Arbeitsformen genügen, 7. Kommunikation fördern, 8. Rückzugsmöglichkeiten bieten, 9. Bewegungsmöglichkeiten vorbehalten, 10. und eine respektfördernde Klassengemeinschaft begünstigen. Im Folgenden sollen diese Strukturen näher praxisbezogenen ausgeführt werden: 1. Standards der Akustik und des Lichts müssen in einem Klassenraum eingehalten werden, um den Geräuschpegel minimal zu halten und eine optimale Aufnahme optischer Eindrücke zu gewährleisten. Bisweilen müssen individuelle Anpassungen für Schüler*innen mit besonderen Bedürfnissen vorgenommen werden. Dies ist bei Mängeln unbedingt einzufordern. 2. Das Mobiliar muss in den Ausmaßen der Körpergröße der Schüler*innen entsprechen und nach Bedarf ausgetauscht werden. 3./4. Ablagemöglichkeiten sollten dem aktuellen Unterricht zur Verfügung stehen. Oftmals werden diese durch Altlasten, die nicht entsorgt werden, reduziert. Fächer für einzelne Schüler*innen schaffen Ordnung. Es müssen allerdings nicht alle namentlich beschriftet werden. Sich den eigenen

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Aufbewahrungsort zu merken, stellt einen Aspekt selbstverantwortlichen Denkens und Handelns dar. Es ist eine spielerische Herausforderung, die geleistet werden kann. Hinsichtlich der Ausgestaltung der Freiflächen besteht die Gefahr, dass diese rasch mit Dekorationsobjekten und Sachinformationen aus verschiedenen Fächern überfrachtet wird. Gut strukturierte Informations- und Dekorationsfelder sorgen für Klarheit und ein ästhetisches Ambiente. 5./6. Unterrichtsprozesse variieren in der methodischen Darbietungsweise. Bisweilen geht viel Lernzeit verloren, wenn ein Methodenwechsel ansteht. Die Schüler*innen wechseln oft, je nach Arbeitsauftrag, von ihrem Schreibtisch an einen Gruppenarbeitsplatz, einen Sitzkreis, eine Arbeitsnische oder an Stationen. Berücksichtigt die Grundanordnung des Mobiliars eine derartige Methodenvielfalt, können Positionswechsel und ein Umstellen einiger Möbel rasch erfolgen. Dies kommt der reinen Lernzeit zugute. 7./8. Rückzugsmöglichkeiten, sofern es die Raumgröße zulässt, sind in zweierlei Hinsicht von Vorteil: Für einzelne Schüler*innen stellen sie eine Ruhezone dar, in der sie abschalten, sich ggf. von negativen Emotionen erholen und neue Kraft schöpfen können, wenn die Konzentration nachlässt. Auf der anderen Seite kann ein solcher Ort zu kommunikativen Zwecken unterrichtlicher oder privater und spielerischer Art genutzt werden. Ideal ist es, wenn dafür einsehbare Gruppenräume zur Verfügung stehen. Eine abgeteilte Sitz-, Lese- und Spielecke im Klassenraum erfüllt allerdings auch diesen Zweck. 9. Langandauerndes Sitzen an einem Platz wird dem Bewegungsdrang der meisten Kinder nicht gerecht (Müller & Petzold, 2002; Thiel, Teubert & Kleindienst-Cachay, 2002). Daher wird der Unterricht mitunter durch Bewegungseinheiten musischer, darstellerischer, gymnastischer oder spielerischer Art aufgelockert. Steht dafür im Klassenraum eine größere freie Fläche zur Verfügung, können diese Abläufe zeitsparend und ohne größeres Aufkommen von Unruhe in den Unterricht integriert werden. 10. Ein respektvolles Beziehungsgefüge impliziert nicht nur das soziale Miteinander, sondern auch den Umgang mit dem privaten und schuleigenen Material. Wird ein Klassenraum mit den Kindern gestaltet und in Ordnung gehalten, betrachten diese ihn eher als ihren Lern- und bestenfalls auch Wohlfühlort. Diesbezügliche Aufgaben tragen dazu bei, das Gemeinschaftsgefühl und Verantwortungsbewusstsein zu stärken. Das soziale Miteinander selbst zu fördern, liegt im Geschick der Klassenlehrkraft. Auf die Räumlichkeit bezogen bietet sich die Möglichkeit, das Mobiliar für Einzelne und Lerngruppen hinsichtlich Beziehungsförderung und effizienten Arbeitens anzuordnen und zu variieren.

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Das folgende Schaubild soll eine Möglichkeit der Raumaufteilung veranschaulichen, die mit einfachen Mitteln hergestellt werden kann. Abbildung 15: Beispiel eines funktionalen Klassenraums

Diese Raumgestaltung bietet einen zentral gelegenen, freien Platz. Dadurch lässt sich das Klassenzimmer ohne größere Umstrukturierungen variantenreich nutzen. In der Mitte lassen sich mühelos Sitzkreise gestalten sowie Rollenspiele und andere Bewegungseinheiten durchführen. Er eignet sich zudem zum Darbieten von Anschauungs- und Arbeitsmaterial. Zwei frei zur Verfügung stehende Tische können dazu mühelos in das Zentrum gerückt werden. Eine Arbeit an Stationen benötigt keinen Umbau. Die vorderen freien Plätze bieten zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten bei Bedarf. Die abgeteilte Ecke bietet eine Rückzugsmöglichkeit, die mangels fehlender Gruppenräume vieler Schulgebäude sonst nicht vorhanden wäre.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Diesbezügliche Begriffe, Geborgenheit, Stabilität, Aktivität, Individualität und Gemeinschaft, sind die Grundpfeiler des »Würzburger Modells« (Bayer, 1995), eines Forschungsprojekts des Diakonischen Werks Bayerns. Auch die Schülerin Larissa (8 J.) äußert sich dahingehend, dass Geborgenheit für sie ein wichtiger Aspekt einer Lernumgebung darstellt: »Ich kann am besten lernen, wenn es leise ist und ich nicht ganz alleine in einem Raum bin, dann fühle ich mich irgendwie geborgener.« In dieser Hinsicht ist es für Lernende wichtig, Arbeitsflächen zu haben, die unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten zulassen. Außerschulische Lernorte

Außerschulische Lernorte tragen das Merkmal des Besonderen, da der Schulalltag unterbrochen wird. Ausflüge, beispielsweise in einen Zoo oder eine Phänomenta, bieten Schüler*innen einen vergleichsweise großen Raum, sich intensiv mit einer Thematik auseinanderzusetzen. Oft bietet sich die Möglichkeit, selbständig etwas zu erkunden und mit allen Sinnen zu erfahren. Dies geht einher mit mehr Freiheiten hinsichtlich des Bewegungsumfelds und der Gruppierungen der Peers. Oftmals wird außerschulisches Lernen gar nicht als solches empfunden, obwohl es bleibende Eindrücke hinterlässt: »Da sind wir mit einem Fischkutter aufs Meer gefahren und haben Fische und Krebse gesammelt. Dann waren wir in einem Freizeitpark. Freizeit ist etwas anderes als Schule« (Tom, 10 J.). Unter dem Aspekt, dass Heranwachsenden Freude durch Abwechslung und besondere Anreize vermittelt werden kann, sollten außerschulische Lernorte vielfältig genutzt werden. Sie stellen den nötigen Theorie-Praxisbezug her, der den Einstieg in einen Lernprozess erleichtert. In der Regel haben Schüler*innen das Bedürfnis, sich mit Erlebnissen der besonderen Art auch im Nachhinein auseinanderzusetzen und diese so zu verarbeiten. Sie bieten beispielsweise Anlässe zum Schreiben und darstellendem Spiel im Deutschunterricht, zum Gestalten im Kunstunterricht, zum Erkunden im Sachunterricht und zum Bewegen im Sportunterricht. Schulische Orte jenseits des Unterrichts

In den Aussagen der Stichprobe wurden schulbezogene Orte genannt, die auf den ersten Blick nicht mit der Aneignung von Kenntnissen in Verbindung gebracht werden würden. Dennoch scheinen diesen Lokalitäten in besonderer Weise anregend auf Schüler*innen zu wirken und zu faszinieren. Im Falle des Schulkiosks und des Schulbusses stellt sich der Realitätsbezug als positiv wirkender Moment heraus. Die Schüler*innen befinden sich diesbezüglich in der Rolle der Entdeckenden. Den Schulkiosk nehmen sie für sich ein, indem sie

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beobachten, ihn ausprobieren, nutzen und in letzter Kompetenz den Umgang mit diesem beherrschen können. Hier spiegelt sich ein Reifeprozess von einer noch angeleiteten zur selbständig agierenden Persönlichkeit wider. Insofern sind letztlich alle Räume innerhalb einer Schule, z.B. der Geräteraum der Sporthalle und der Heizungsraum, die vornehmlich nicht dem Kenntniserwerb dienen, auch Lernräume im praktischen Sinne, die erobert werden wollen. Schüler*innen erkunden dessen Funktion und lernen raumspezifische Verhaltensweisen, um diesen beherrschen und sich hier sicher bewegen zu können. Unter dem Aspekt, besondere Lernanreize zu schaffen, lohnt es sich, Kinder bei der Entdeckung verborgener Lernorte innerhalb eines Schulkomplexes zu beobachten bzw. zu begleiten. Pausenhof

Der Pausenhof ist in erster Linie eine Spiel- Bewegungs- und Ruhezone. Für Abwechslung im eher bewegungsarmen und beengten Unterricht eines Klassenraums kann jedoch auch ein Pausenhof sorgen. Er bietet für den Kunstunterricht viele Gestaltungsmöglichkeiten in Sand, Schnee und auf bemalbarem Untergrund. Zur Schulung der Rechts-Links-Orientierung lassen sich übergroße Buchstaben zeichnen und abschreiten. Mit Kreide aufgemalte Zahlenfelder laden ein zur spielerischen und bewegungsreichen Nutzung. Er lädt ein zu Lesestunden oder Anschauungsunterricht im Freien. Auch hier stellen die Abwechslung und der große Raum, der auch variable Peergruppierungen zulässt, einen Motivationsfaktor dar, der den Unterricht seines oft starren Korsetts enthebt. Sportstätten

Sport wird von Schüler*innen oft unter den beliebtesten Fächern genannt (Aust, 2009; Gerlach, Kussin, Brandl-Bredenbeck, & Brettschneider, 2006). Der Unterricht wird durch seine Anlagen und Material zu einem Ereignis- Spiel und Erlebnisfeld, in dem Schüler*innen ihre physischen Fähigkeiten erproben, erweitern und unter Beweis stellen können. Für die Schüler*innen ist der Sportunterricht zudem ein Ausgleich zur kognitiven Arbeit. Dies ist besonders für diejenigen hervorzuheben, die in anderen Unterrichtsfächern weniger gute Ergebnisse erzielen und hier mehr Anerkennung erfahren. Daher stellt der Sportunterricht bei schulaversiv eingestellten Heranwachsenden hinsichtlich der Motivation vielfach eine Ausnahme dar: »Ich finde Schwimmen macht viel mehr Spaß als in der Klasse zu hängen« (Maike, 10 J.).

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Diesen Umstand berücksichtigend, ist der Sportunterricht eine fruchtbare Basis, eine positive Lehrer-Schüler-Bindung aufzubauen. Das ist dem Kompetenzerwerb insbesondere im sozialen Bereich förderlich. Hier bildet der Sportunterricht eine geeignete Plattform, da im Vergleich zu anderen Fächern besonders viele Erfolge, Misserfolge, Siege und Niederlagen erlebt und verarbeitet werden müssen. Der Umgang mit daraus resultierenden Emotionen kann hier zeitnah und effektiv geschult werden (Reimann-Pöhlsen, 2018). Schüler*innen mit Verhaltensproblemen, die dennoch gerne am Sportunterricht teilnehmen, bietet sich hier mehr als im Unterricht anderer Fächer die Gelegenheit, Umgangsformen zu lernen und über eigenes Verhalten zu reflektieren. Es ist wichtig, Freude am Sportunterricht aufrecht zu erhalten. Hinsichtlich Heranwachsender mit Problemen im Sozialverhalten ist dies besonders zu betonen. Strafen, die aus unangemessenen Verhalten anderenorts resultieren, sollten nicht auf den Sport übertragen werden, weil es die Heranwachsenden hier »trifft«. Es wäre kontraproduktiv, die sich bietenden Möglichkeiten einer positiven Motivationslage zum Training von Verhaltensnormen nicht zu nutzen. 8.2.8 Ziele Die Curricula der Fächer geben Kompetenzziele vor, die erreicht werden sollen. Den Schüler*innen erschließt sich jedoch nicht immer der Nutzen von Unterrichtseinheiten. Daraus ergeben sich folgende mögliche Haltungen, welche Heranwachsende angesichts der Aufgabenstellungen annehmen können: Schüler*innen x x x x x x x

lernen, weil sie sich ein nahes oder weitläufiges Ziel gesetzt haben, lernen, weil sie sich dafür interessieren, lernen, weil sie allgemein gute Leistungen erzielen wollen, lernen, weil sie Erwartungen anderer gerecht werden wollen, lernen unreflektiert, weil Anweisungen der Lehrkräfte befolgt werden, oder lernen, weil Druck ausgeübt wird. Sie lernen nicht.

Einige Motive mögen sich überschneiden. So kann es sein, dass Schüler*innen sich Ziele gesetzt haben, sich interessieren, gute Leistungen erbringen und Erwartungen gerecht werden möchten. Oder sie lernen, weil ein Thema vorgegeben wird und sie gute Zensuren vorweisen möchten. Da nicht immer zu erwarten ist, dass Lernende sich aus Interesse mit einer Thematik intensiv auseinandersetzen, sind neben Vorlieben, Neigungen und

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anderen motivationalen Bedingungen Ziele ein tragender Aspekt von Motivation und Fleiß. Studien weisen darauf hin, dass Ziele einen Einfluss auf den Lernerfolg haben (z.B. Hattie, 2015; Kuhl, Völker & Hirschauer, 2015). Hatties Rangliste (2018) zufolge befindet sich dieser Faktor im mittleren Bereich, angesiedelt noch unterhalb dem vorausgegangenen Leistungsniveau und der Lehrer-Schüler-Beziehung. Die Aussagen der Stichprobe machen hingegen deutlich, dass differenziert werden muss. Neben selbst gesteckten Zielen sind auch die hier als »Ersatzziele« bezeichneten Intentionen wirksam (vgl. Kap. 5.7). Es bedarf eines gewissen Reifegrades, sich aus eigener Motivation heraus Ziele zu stecken. Daher werden viele Kinder in den ersten Schuljahren von ihren Eltern unterstützt, wie der 9jährige Fritz, für den ein Belohnungssystem einen Anreiz darstellt. Kurzfristige Ziele dieser Art sind für jüngere Heranwachsende greifbar und lassen sich in ihr derzeitiges Lebensbild integrieren. Auch für Lehrkräfte ist die Wahl dieses Mittels geeignet, wenn ein externer Anreiz die Motivation zu lernen erhöht. Zu realisieren ist dies beispielsweise im Deutschunterricht mit Lesepässen und Urkunden, wenn Schüler*innen der ersten und zweiten Klasse an das Lesen herangeführt werden. Auch stellt es eine Belohnung dar, wenn nach Erfüllung der Grundanforderungen weiterführende Aufgaben zur Wahl gestellt, Hausaufgaben reduziert oder temporär begrenzte Freiräume unterschiedlicher Art, z.B. die Wahl eines kleinen Spiels im Sportunterricht, angeboten werden. Schüler*innen, die bereits über einen längerfristigen und realistischen Lebensplan verfügen, sind einem höheren Reifegrad zuzuordnen. »Ich denke an das Gymnasium. Deswegen versuche ich immer in Tests gute Noten zu schreiben und lerne dann auch dafür ganz viel« (Anke, 9 J.). Dazu bedarf es der Fähigkeit, die eigenen Leistungen einschätzen und das eigene Streben auf potenzielle Fähigkeiten ausrichten zu können. Es ist möglich, dass Schüler*innen sich ehrgeizige Ziele gesetzt haben und auch lernen, ohne am Stoff interessiert zu sein, um gute Ergebnisse zu bringen. Aus diesem Grund wird hier die Bedeutung des Faktors »Ziele setzen können« höher eingeschätzt als in der Studie Hatties (2018). Er vermag eine selbst generierte Lernmotivation hervorzubringen, die im ungünstigen Fall auch negative Faktoren wie Bezugs- Interessen- und Lustlosigkeit überlagern kann. In der Praxis wird man in einer Lerngemeinschaft, die nicht das Merkmal der Freiwilligkeit trägt, nur einige Schüler*innen treffen, auf die dies zutrifft. Es ist daher wichtig, Lernende mithilfe geeigneter Methoden im Unterricht schrittweise dahin zu führen, sich selbst Ziele zu setzen. Dies kann nur gelingen, wenn Schüler*innen die Möglichkeit haben, Akteure im Prozess des Lernens zu sein: Sie müssen nicht nur im Frage-Antwort-Dialog

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in den Unterricht einbezogen werden, sondern in die Gestaltung der einzelnen Lernschritte selbst. Die Lehrkraft kann diesbezüglich das ideale und in der Gruppe zu erwartende curriculare Kompetenzziel in seiner Basisform sowie methodische Möglichkeiten der Erlangung vorgeben. Die Lernenden würden an der individuellen Ausgestaltung und Ausdifferenzierung der Lernwege durch Wahlmöglichkeiten mitwirken. Ihre persönlichen Visionen des Machbaren sind zunächst maß- und orientierungsgebend. Im Verlauf des Arbeitsprozesses können erste subjektive Einschätzungen der eigenen Fähigkeiten verifiziert oder angepasst werden. Aus schrittweise erreichten Zielen ergeben sich neue, bis die Grundanforderung erreicht ist. Auch hier besteht die Möglichkeit, darauf aufzubauen. Es ist anzunehmen, dass in dieser Weise geschulte Kinder nicht nur ein höheres Maß an Kreativität freisetzen, sondern über die Zeit auch mehr Eigeninitiative entwickeln, was die Verbalisierung ihrer Bedürfnisse in einem Lernprozess anbelangt. Dies ist wiederum hilfreich für die Lehrkraft, die ihre Schüler*innen Rat gebend, unterstützend und rückmeldend begleitet. 8.2.9 Vergleich: Belohnung als wirksamer Moment in Gaming und Schule Ziele, sofern sie nicht durch Handeln und Unterstützung Dritter erreicht werden, erfordern ein gewisses Maß an Anstrengung und Arbeit, um erreicht zu werden. An diesem Punkt angekommen, erfolgt nach der Anstrengung die Entspannung, bis auf seltene Ausnahmesituationen begleitet von positiven Emotionen. Doch warum stellt sich die Bildung und Verfolgung von Zielen im schulischen Bereich für einige Heranwachsende so problematisch dar, insbesondere in Hinblick auf den beliebten Freizeitbereich »Gaming«, in dem es selbigen mühelos gelingt, Ziele zu setzen und sie motiviert, konzentriert und ausdauernd zu verfolgen. Grund genug, ein derartig erfolgreiches Modell eingehender zu betrachten und zu hinterfragen, ob Aspekte des Systems nicht auch in der Schule methodisch übertragbar wären. An dieser Stelle soll ausdrücklich nicht das Spielverhalten von Schüler*innen in der Freizeit bewertet werden. Es geht vielmehr um die Frage, ob das schulische System von Rückmeldungen angesichts der veränderten Freizeitgestaltung durch neue PC- und Internetgames für Schüler*innen noch zeitgemäß ist. Kann hier eine Adaption erfolgen oder sind konservative Methoden die besseren Mittel der Wahl? Zwei Viertklässler veranschaulichen als Experten des beliebten Spiels »Brawl Stars« das Belohnungssystem eines Internetgames.

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In Würde lernen Levin, 11 J. und Yan, 10 J., 22.05.19 Y: Nach der Schule gehe ich nach Hause, dann esse ich etwas, dann habe ich Freizeit. Dann spiele ich gewöhnlich ein bisschen Brawl Stars. Gestern war ich um fünf dabei und habe bis sechs gespielt. I:

Wie oft spielst du das?

Y: Ich spiele es mindestens jeden Tag einmal, weil es jeden Tag eine Gratisbelohnung gibt. Um nichts zu verpassen sollte man das am besten jeden Tag einsammeln. I:

Was für Belohnungen gibt es?

Y: Man kann in den verschiedenen Runden kleine Brawl-Münzen sammeln. Man kann am Tag immer 200 sammeln. 100 sind eine kleine Kiste. Je länger man in den Runden überlebt, desto mehr bekommt man. Bei jedem Event gibt es noch mal Starmarken. Wenn du alle freigeschaltet hast plus das Bonus-Event, kannst du fünf am Tag holen. I:

Was ist dein Ziel?

Y: Ich will spätestens zu den Sommerferien 1500 Pokale haben. Mein weitestes Ziel ist 3000 noch vor Weihnachten. L: Ich bin bald bei 2000 Pokalen. Mein Ziel ist es, bis Weihnachten bei 4000 Pokalen zu sein. Dafür muss ich viel tun. Wir haben davor noch Ferien. Dann kann ich da eigentlich sehr viel spielen. Dann werde ich fragen, ob ich die ganze Zeit spielen darf. I:

Wie ist es mit Belohnungen in der Schule?

Y: Dass man schlauer wird. L: Ja!. Dass meine Eltern sich für mich freuen. Meistens gehen wir ein Eis essen oder bestellen etwas. Y: Wenn man jeden Tag in die Schule gehen würde und man bekommt was, das wäre lustig.

Brawl Stars wartet mit einem differenzierten System unterschiedlicher Belohnungen auf. Es ist übersichtlich gestaltet. Die Benefits werden zuverlässig nach erbrachten Leistungen ausgeschüttet, so dass eine Erwartungshaltung zu keiner Zeit enttäuscht wird. Die Minimalleistung für den Erhalt einer ersten Belohnung besteht darin, ein Spiel, ungeachtet der Ergebnisse, überhaupt zu beginnen. Dies zielt auf eine erwünschte Kontinuität der Spieler*innen ab. Ligen klassifizieren die Leistung. Es gibt insgesamt 27 Ligen von Holz I ab 500 Pokalen bis Stern V ab 14 000. Im unteren Feld und beim Aufstieg in eine höhere Liga werden zu den Pokalen Belohnungen in Form von Spielern, Spielmodi, Powerpunkten, Münzen, Juwelen, Überraschungsboxen und Markenverdopplern ausgeschüttet. Während diese erstrebenswert sind, um die Erfolgsaussichten zu erhöhen,

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

bilden Ligen, Pokale und der Besitz unterschiedlicher Figuren den sozialen Status innerhalb der Community ab, den es aufzuwerten gilt. Der genannte »El Primo« beispielsweise ist sehr selten und verfügt zusammen mit »Frank« über die höchste Anzahl von Lebenspunkten. Die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse durch Belohnung

Das Gefüge aus verschiedenen Belohnungen, die Rangliste, Spielmodi und die Möglichkeit einer Clubmitgliedschaft bedienen alle psychischen Grundbedürfnisse. Das Spiel zu verstehen und zu beherrschen, die Zuverlässigkeit eintretender Ereignisse nach Sieg oder Niederlage und die Abbildung der eigenen Wertigkeit in der Rangliste befriedigen das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle. Der Faktor »Selbstwert« wird durch den Besitz diverser Features, dem Aufstieg in der Liga und der Zugehörigkeit einer höherwertigen Hierarchie in einem sog. »Club« angesprochen. Der Stolz auf erbrachte Leistungen wird mit jedem Schritt der Weiterentwicklung durch die Zugabe von Pokalen noch verstärkt. Der Spielverlauf im Erfolgsfall sowie die zusätzliche Belohnung durch Figuren etc. bedienen das Grundbedürfnis nach Lust und setzen Glückshormone frei. Niederlagen, die »Schaden« nach sich ziehen, werden durch die Regenerierungsfähigkeit der Spielfiguren abgemildert, so dass im Grunde die Erfolgsaussichten gegenüber der Möglichkeit eines Abstiegs überwiegen. Das psychische Grundbedürfnis nach Beziehungen wird angesprochen, indem die meisten Spielmodi durch mehrere Mitspieler*innen ausgeführt werden. »Freunde« können über soziale Netzwerke kontaktiert, eingeladen und in einem Club mit eigenem Clubchatroom zusammengeführt werden. Vergleichende Betrachtung schulischer und spielbezogener Belohnungssysteme

Im Vergleich zu möglichen Belohnungen in der Schule besteht das Prinzip »Brawl Stars« im Sammeln von Punkten über einen langen Zeitraum. Die Anzahl und Menge der spielerischen Belohnungskomponenten sind, gemessen am denkbaren Maß in der Realität, extrem hoch. In der Schule erfüllen für einige Schüler*innen Zensuren nach Arbeiten und im Zeugnis diese Funktion (vgl. Kap. 5.3, »Rahmenbedingungen«). Diese lassen sich allerdings nicht aufaddieren, sammeln und als »Trophäen« summieren. Üblich hingegen ist die Form der Rückmeldung über die Qualität erbrachter Leistungen durch verbales Lob, Stempel mit entsprechenden Symbolen und der Möglichkeit, sich Freiheiten, z.B. in der Auswahl weiterführender Arbeiten, zu erwerben.

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Auf der Suche nach Feldern innerhalb der Schule, in denen eine Summierung von Belohnungswerten vorkommt, wird man dennoch punktuell fündig: Im Bereich Lesen entspricht die Teilnahme bei »Antolin«1 und dem Ausgeben von Lesepässen und Murmeln, die im Interview genannt wurden, eher dem Prinzip des Internetspiels. Dies liegt in der Möglichkeit des Sammelns begründet, die erbrachte Leistungen visualisiert. Eine Ausnahme bilden zudem Heftchen, die um das Bemühen von Verhaltensänderungen ein gängiges Mittel der Wahl sind. Rückmeldungen mittels Sternchen oder Ähnlichem erfolgen stunden- oder tageweise und werden bisweilen in eine zusammengefasste Belohnung umgewandelt. Dieses Vorgehen entspricht eher dem Belohnungssystem des Gaming, das den Erhalt begehrter Objekte in den Vordergrund rückt. Folgende Abbildung soll dies veranschaulichen, da die visuelle Darstellung der Unterschiede die Problematik besonders hervorhebt.

1

»Antolin« ist ein webbasiertes Leseprogramm der Westermann Gruppe, das, 2001 erstmals im Netz verfügbar, vielfach in Schulen genutzt wird (www.antolin.westermann.de).

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Abbildung 16: Vergleichende Betrachtung von Belohnungen in Schule und Gaming

Im oberen Bereich symbolisieren geometrische Formen gegenständliche Belohnungen (ZW= Zuwendungen) wie z.B. Geld oder Süßigkeiten. Teilweise werden diese auch direkt benannt (Urkunden etc.). Nichtgegenständliche Belohnungen wie Lob und Umarmungen sind dem unteren Feld zugeordnet. Mündlich gelobt wird in der Schule und im häuslichen Bereich vieler Schüler*innen eher häufiger, aber selten in einem extremen Ausmaß. Daher ist das Fragezeichen im rechten unteren Bereich eher karikaturistisch zu verstehen. Es stellt einen fiktiven Bereich überzogener Bekundungen von Lob und anderer nichtgegenständlicher Belohnungsformen dar, von dem ebenso wenig wie vom darüber liegenden anzunehmen ist, dass die intendierte Wirkung in der erwünschten Weise erreicht wird. Mit Inhalt lässt sich dies zumindest mit einem historischen Beispiel füllen: Am Hof der Kaiserin Maria Theresia wurden ihren Kindern Aufmerksamkeiten gegenständlicher und nichtgegenständlicher Art über die Maße zuteil: So wurden Adlige und Gesandte auswärtiger Fürsten z.B. 1753 genötigt, bei Audienzen nicht nur dem Herrscherpaar, sondern auch den Kindern ihre Aufwartungen zu machen und ihre Hände zu küssen.2 In deren reiferem Alter bemängelte die

2

Stolberg-Rilinger, B. (2017). Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie. München: Beck.

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Mutter bisweilen resultierende Untugenden wie eine zu hohe Selbsteinschätzung und den Hang zur Verschwendung. Eine vernünftige und maßvolle Anwendung von Belohnungssystemen, die grafisch im linken Bereich angesiedelt ist, dürfte erwünschten Zielen am nächsten stehen. Sonderstellung des Sportunterrichts

Auch das Fach Sport/Schwimmen bietet Vergleichbares. Zu nennen sind hier Urkunden der Bundesjugendspiele, Sport- und Laufabzeichen, Pokale interner und externer Turniere sowie die üblicherweise abgenommenen Jugendschwimmabzeichen in Gold, Silber, Bronze und das Seepferdchen. Die begehrten Objekte sind allerdings vergleichsweise selten zu erreichen, und das Ansammeln kann nur über einen großen Zeitraum erfolgen. Gerade das Fach Sport bietet daher unter Pädagog*innen Raum für kontroverse Erörterungen über die Bewertung hier erbrachter Leistungen. Sollte man beispielsweise einen Nichtschwimmer, der nach Abschluss des Schulhalbjahres größere Fortschritte erzielt hat als ein Inhaber des Goldabzeichens, besser benoten? In der Diskussion um akute Leistung vs. Lernfortschritt dürfte es unentschieden ausgehen. Der Lernfortschritt ist, ungeachtet der Leistungsstufe, in die Bewertung einzubeziehen. Schüler*innen erwarten zu Recht eine Würdigung ihrer Leistungen. Es stärkt das Selbstbewusstsein und erhöht die Anstrengungsbereitschaft. Auf der anderen Seite ist die akut messbare Leistung eines Goldschwimmers wesentlich höher. Möglicherweise ist eine derartige Leistungssteigerung auf diesem Niveau schwerer zu erzielen. Eine niedrigere Bewertung könnte im Vergleich dem Gerechtigkeitsempfinden des Heranwachsenden widersprechen und, das Selbstbewusstsein verletzen, eine niedrigere Anstrengungsbereitschaft nach sich ziehend. Das Fach Sport erfreut sich großer Beliebtheit. Ein Aspekt ist die Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbstwerterhalt und Selbstwerterhöhung (Reimann-Pöhlsen, 2017, S. 282ff.) durch das Messen der Kräfte und dem direktem Vergleich physischer und taktischer Fähigkeiten. Anders als in den kognitiven Fächern ist erbrachte Leistung stets für alle ersichtlich, wie im Kapitel 8.2.4 »Gestaltung angenehmer Rahmenbedingungen« bereits ausgeführt. Niemand kann sich dem Geschehen, anders als im Klassenraum möglich, durch Passivität entziehen. Es wird abgewogen: Wer springt höher, wirft weiter, wirft mehr Körbe etc.? Das ist, insbesondere aber für Schüler*innen, die in den kognitiven Fächern weniger erfolgreich sind, eine Grundlage, das Selbstbewusstsein zu stärken. Daraus ergibt sich die Frage, welche Art der Bewertung erbrachte Leistungen in den Augen der Schüler*innen am besten abbildet und als gerecht empfunden wird.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

Dies herauszufinden, wäre gerade hinsichtlich des Erfolgs im Gamingbereich eine dankbare Forscheraufgabe. Der Korrumpierungseffekt

Grundsätzlich ist Folgendes festzuhalten: Lernende in der Schule zu klassifizieren, widerspricht der pädagogischen Doktrin. Zur Einstufung der Leistungen werden zwar Benotungen und/oder Bewertungen in einem Raster vorgenommen, dennoch gibt es keine Ranglisten, die Bestleistungen vor Augen halten. Vergleiche unter den Schüler*innen können, bis auf zuletzt genannte Ausnahmen, im Wesentlichen hinsichtlich der schulischen Bewertung vorgenommen werden. Für Brawlerspieler*innen hingegen sind die Leistungen und Besitztümer anderer einsehbar, sofern die Aliasnamen bekannt sind. Neben dem Ansporn, für sich neue Level zu erreichen, herrscht hier der Konkurrenzgedanke vor. Schulisch hingegen stehen individuelle Fortschritte im Vordergrund, die im Vergleich der Schüler*innen untereinander eine hohe Wertigkeit innehaben. Es werden, bis auf wenige Ausnahmen, keine begehrten Objekte gesammelt und aufsummiert. Im sog. »Sternchenheft« scheint dies jedoch ein probates Mittel der Wahl zu sein, Schüler*innen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, wenn andere Maßnahmen nicht greifen. Positive Effekte mögen dem Umstand geschuldet sein, dass ein Kind Gefallen am Sammeln von Bonuspunkten findet und eine rasche Abfolge visualisierter Erfolge als Motivationsstütze benötigt. Die Annahme, dass das Sammeln von Boni einen starken Anreiz darstellt, bestätigen nicht nur die Schüler des Brawl Stars Interviews. Kann es als Zugeständnis an ein erfolgreiches Konzept angesehen werden, das sonst kaum Einzug in den Unterricht findet? Yan wäre erfreut: »Wenn man jeden Tag in die Schule gehen würde und man bekommt was, das wäre lustig.« Der Begriff »lustig« hätte nicht treffender gewählt werden können, denn in der Fachwelt wird angezweifelt, dass ein andauerndes System von Belohnungen nachhaltige positive Veränderung zu bewirken vermag. Ursächlich dafür ist der bereits in den 70er Jahren herausgestellte »Korrumpierungseffekt« (Lepper, Greene, & Nisbett, 1973). Demnach würden Schüler*innen sich für die Belohnungen anstrengen und der eigentliche Lerngegenstand in den Hintergrund treten. Nach Weglassen der Belohnungen tritt der negative Effekt ein, dass die Anstrengungsbereitschaft sinkt. Es ist anzunehmen, dass viele Spiele im Gamingbereich ihren Anreiz verlieren würden, da andauernde und reichliche Belohnungen ein wesentliches Merkmal darstellen. Dem Schüler Yan würde der Einzug derartiger Belohnungssysteme in der Schule auf jeden Fall

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positive Emotionen bescheren. Es besteht allerdings die begründete Gefahr, dass das Interesse am Lerngegenstand nur zweitrangig wäre. Daraus den Schluss zu ziehen, dass Belohnungen im Umfeld des Lernens grundsätzlich vermieden werden sollten, würde zu weit gehen. Ein Drittklässler freut sich über ein System von Belohnungen für gute Leistungen, weil sie ihm naheliegende und persönlich reizvolle Ziele bieten: »Die können wir zum Fernsehgucken oder I-Pod-Spielen einlösen« (Fritz, 9 J.). Dies ist, wie im Kapitel 5.7., »Ziele«, beschrieben, eine Art von »sanfter Motivation«. Sie unterscheidet sich in der Vergabe der Boni durch den dimensionalen Aspekt »Zeit«. Die Eltern des Schülers dosieren die Vergabe über einen noch überschaubaren, aber längeren Zeitraum als in dem Game »Brawl Stars«. Ein Konditionierungseffekt erfolgt u.a. in Abhängigkeit der Faktoren »Quantität der Boni« und »zeitlicher Abstand zueinander«. Wird eine Spielerin oder ein Spieler damit im wahrsten Sinn des Wortes überflutet, ist die Gefahr, sich zu fixieren und nicht lösen zu können, groß. Es ist anzunehmen, dass spielähnliche Belohnungssysteme seitens der Schule oder des Elternhauses die beste Wirkung erzielen, wenn sie vereinzelt und wohl dosiert als Motivationsstütze in besonderen Fällen eingesetzt werden. Ein Gewöhnungseffekt sollte vermieden werden, da dieser die ursprüngliche Intention über die Dauer überlagert. Negative Folgen wie ungeduldiges, uneinsichtiges und unersättliches Verhalten könnten die Verfolgung des ursprünglichen Ziels zusätzlich erschweren. Ein Belohnungssystem wie in Brawl Stars auf die Schule zu übertragen, wäre demnach kontraproduktiv. Vereinzelte Anreize dieser Art zu schaffen, die eine willkommene Abwechslung bieten und Freude hervorrufen, dürften hingegen einer lernförderlichen Atmosphäre und positiven Lehrer-Schülerbeziehung eher zuträglich sein. Eine schulbezogene Belohnung stellt für den Schüler Yan dar, dass »man schlauer wird«. Ohne näher zu differenzieren, fokussiert er damit das übergeordnete Ziel, das für ihn eine Aufnahme in die Bundeswehr und der Schulabschluss bedeutet. Für Levin ist es akut die geteilte Freude seiner Eltern, die mit unterschiedlichen gemeinschaftlichen Aktionen wie Eis Essen reagieren und im zeitlich ferner gelegenen Bereich selbiges Ziel der Berufswahl und des Abschlusses. Es ist im schulischen Bereich wichtig, dass Emotionen, wie Belohnungen sie nach sich ziehen, durch positive wirksame Momente hervorgerufen werden. Auf diese Weise beschäftigen Schüler*innen sich primär mit dem Lerngegenstand und erreichen, wenn der Einstieg in die Thematik per Ankerbildung gelungen ist, eine länger anhaltende Freude am Unterrichtsgegenstand selbst und an persönlichen Erfolgen innerhalb der Lernschritte.

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

8.2.10 Zusammenfassung In dem Kapitel »Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung« sind alle Kategorien und Muster hinsichtlich ihres Potenzials, Schüler*innen unterschiedlicher Ausprägung das Lernen zu erleichtern, in den Fokus gerückt worden. Eingangs äußern sich Heranwachsende über konkrete Misserfolgserlebnisse und daraus resultierendem Verhalten. Sie begegnen Gefühlen der Frustration, Wut und Hilflosigkeit in unterschiedlicher Weise, die seitens der Lehrenden oft als Störung empfunden wird. Es wird deutlich gemacht, dass es sich hier um vergebliche oder nicht erfolgreiche Versuche der Bewältigung des zugrundeliegenden Problems »Nichtverstehen«, »Nichttangieren« oder »Überforderung« handelt. Die Heranwachsenden erreichen bestenfalls eine Linderung der negativen Emotionen, indem sie verletzte psychische Grundbedürfnisse durch Ersatzhandlungen zu befriedigen suchen. Anhand pragmatischer Beispiele ist nachfolgend aufgezeigt worden, wie es gelingen kann, unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen gerecht zu werden, ohne negative Emotionen durch Über- und Unterforderung hervorzurufen. Die Aussagen der Schüler*innen wurden kategorienweise dahingehend überprüft, inwieweit sich ihre schulisch positiven Momente erfolgreichem Lernen in der Unterrichtspraxis zuführen lassen. Dies impliziert die Minimierung negativ wirkender Momente. Eine günstige Basis ist gegeben, wenn eine Beziehung zwischen allen am Lernprozess beteiligten Personen in ihren Tiefenstrukturen positiv geprägt ist bzw. daran gearbeitet wird. Es bedarf einer der Lerngruppe und dem Lerngegenstand entsprechenden Methodenvielfalt, die über ein genügendes Maß an Offenheit verfügt, um Schüler*innen in ihrer Diversität zu erreichen. Der Lerngegenstand muss für die Heranwachsenden greifbar und von Belang sein. Der Phase der Bezugnahme sollte in einem großzügigen temporären und offenen Rahmen erfolgen, da eine gelungene Ankerbindung eine wichtige motivationale Voraussetzung für erfolgreiches Lernen darstellt. Die Schüler*innen bewegen sich in den aufgezeigten Unterrichtsbeispielen innerhalb einer klaren und Orientierung gebenden Struktur, die persönliche Lernhindernisse minimiert und Erfolge sichtbar macht. Hinsichtlich der Vorstrukturierung von Lernprozessen durch die Lehrkraft ist darauf hingewiesen worden, dass diese im Unterrichtsverlauf durch die tatsächlich erbrachten Leistungen und Ideen der Lernenden eines ständigen »Updates« bedürfen, um den Lernfluss zu fördern. Nicht zuletzt die Gestaltung des Lernorts unterstützt kreatives und effektives Arbeiten.

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Die aktive Mitgestaltung am Lernprozess macht aus den Heranwachsenden Akteure, die für sich erreichbare Ziele setzen und in ihrem eigenen Modus arbeiten. Sie sind die Konstrukteure ihrer Fortschritte und des Lernerfolgs. Schüler*innen können auf diese Weise angeleitet werden, Verantwortung für eigene schulische Belange zu übernehmen. Dies ist ihrer Selbständigkeit und der Bildung eines positiven Selbstbewusstseins förderlich. Eine vergleichende Betrachtung schul- und gamingbezogener Belohnungssysteme führt zu dem Schluss, dass das Sammeln von Boni in einigen wenigen schulischen Bereichen vorkommt, Häufigkeit und zeitliche Abstände aber gering sind. Daher ist die Gefahr des Korrumpierungseffekts, auf welchen abschließend eingegangen wurde, im Gamingbereich gegeben, in der Schule hingegen nicht, sofern nicht von Elternseite ein entsprechend intensives Belohnungssystem angewendet wird. Der Nutzen schulisch positiv wirksamer Momente erfolgt in der Regel ohne diesen und vermag auch auf dem direkten Weg Gefühle der Anregung und Zufriedenheit von längerer Dauer hervorrufen.

8.3

Momente der Wür de schaffen

Ergebnisse von Lern- und Arbeitsprozessen werden im Normalfall, wie dargestellt, in materieller und immaterieller Form belohnt. Belohnungen können ein verbales Lob, eine Umarmung, Eis Essen mit der Familie oder eine Geldprämie sein, wenn ein Ziel in den Augen der oder des Belohnenden erreicht worden ist. Dadurch, dass vergleichbare Leistungen von nahestehenden Personen subjektiv bewertet werden, fallen Belohnungen auch unterschiedlich aus. Eine sehnlichst erwartete gute oder durchschnittliche Note mag höher bewertet werden als eine ebenso gute Bewertung eines Kindes, das nur gute Zensuren vorweist. Belohnungen stellen einen motivationalen Faktor dar, wenn und solange sie vom Empfänger als reizvoll empfunden werden. Im Unterschied zu einer Belohnung wird bei einer Würdigung der herausragende Wert einer individuellen Leistung hervorgehoben. Dem Initiator wird infolgedessen in einer besonderen Weise Respekt gezollt. Der Schwerpunkt liegt auf der immateriellen Ebene, dem angegliedert ist oftmals ein materielles Symbol. Der Begriff »Würde« ist sprachgeschichtlich vom mittelhochdeutschen Wort »wirde« abgeleitet und bedeutet »Wert«. Der während einer Würdigung zugemessene Wert eines Handlungsergebnisses überträgt sich gleichsam auf die Persönlichkeit der oder des Gewürdigten. Sie macht deutlich, dass das Handeln und

8. Schulpraktische Möglichkeiten der Umsetzung

die Einstellung dieser Person in ihrer Besonderheit und dem So-Sein akzeptiert und anerkannt, mitunter auch bewundert wird. Eine Entwürdigung steht in konträrer Position dazu. Hier verliert das Handlungsergebnis eines Menschen an Wert, was sich negativ auf die Person selbst auswirkt. Für Heranwachsende stellen unterschiedliche schulische Situationen eine Gefahr der Entwürdigung dar. Als Beispiele lassen sich Mobbing durch die Peers, Bloßgestelltsein beim mündlichen Abfragen von Wissen im Klassenraum oder Turnen im Sportunterricht, wenn sich dies als problematisch herausstellt, anfügen. »Entwürdigung« als Schwerpunktthema würde ein Studienobjekt darstellen, zu dem noch viele Fragen offen sind. Angeregt durch die Ergebnisse der Stichprobe lässt sich feststellen, dass die entwickelten Kategorien viel Raum für Würdigungen der Schüler*innen beinhalten. Das impliziert, dass auch einigen Situationen die subjektiv empfundene oder objektive Gefahr einer Entwürdigung entzogen wird. Dies kann durch die Ausstrahlung der Lehrerpersönlichkeit, ihrem pädagogischen Wissen, ihrer Kenntnisse auf dem Forschungsgebiet, dem methodischen Vorgehen und Optimierung der Rahmenbedingungen geschehen. Dadurch, dass wirksame Momente für Lernende besser genutzt werden und ihnen ein genügendes Maß an Offenheit und Selbstbestimmtheit angeboten wird, sind Lernergebnisse mehr auf einer persönlicheren Ebene anzusiedeln. Da das Bestreben darauf ausgerichtet ist, Anforderungen und Lerntempo den Bedürfnissen der Lernenden ideal anzupassen, rücken individuelle Lernfortschritte von Heranwachsenden unterschiedlicher Lernvoraussetzungen in den Fokus. Es geht selbstverständlich auch hier darum, Anforderungen und ein geringes Lerntempo zu steigern, allerdings in einem zu bewältigenden Rahmen. Leistungen, die nicht ad hoc mit denen aller anderen Schüler*innen verglichen werden, tragen eher das Merkmal des Persönlichen und Besonderen. Aus diesem Grunde stellen positive Lernergebnisse und dahinterstehende Heranwachsende hier weniger eine zu belohnende, als zu würdigende Einheit dar. Es wird vermittelt, dass sie in ihrer Individualität respektiert werden und beim Arbeiten an ihren Zielen zwar gewisse Freiräume haben, allerdings auch die nötigen Voraussetzungen und Unterstützung finden. Das Entwickeln einer Arbeitskultur, Selbständigkeit, Kreativität und Respekt anderen gegenüber sind Kompetenzziele, die in den Arbeitsprozess hineinfließen. Individuell geschieht dies auch hier zu unterschiedlichen Anteilen, den Bedürfnissen und Voraussetzungen entsprechend. Ein höheres Maß an Zufriedenheit unter Schüler*innen und interessante Ergebnisse stehen als »Belohnung« auf Seiten der Lehrenden.

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Literatur

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Anhang

Interviewfragen Einstiegsfrage: Gibt es etwas Schulisches, an das du schon vor Beginn des Unterrichts gedacht hast? Folgende mögliche Fragen: x x x x x x x

Inwiefern ist das besonders? Erkläre bitte die Situation. Wie ist es dazu gekommen? Ist das ein Einzelfall oder kommt es häufiger vor? Beschreibe bitte den Ablauf (z.B. das Lernen für eine Arbeit, Hausaufgaben machen, …) Gab es Zeiten, in denen es nicht so/anders war? Kannst du einen (konkreten) Umstand (oder eine Situation, Beziehung… aus diesem Umfeld beschreiben, die deinen idealen Vorstellungen entspricht (oder wo es gut läuft)?

Fragen zu möglichen Folgen: x x x

Wie geht es dir dabei? Wie reagierst du/die Mitschüler*innen, die Lehrkraft/die Eltern darauf? Welche Auswirkungen hat das (beim Arbeiten, Spielen, emotionsbezogen)?

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In Würde lernen

Aufrechterhaltungsfragen: x x x x

Kannst du das ausführlicher erzählen? Kannst du die Gefühle näher beschreiben? Erinnerst du dich noch an Einzelheiten? Kannst du das mit anderen Worten sagen?

Interview Levin, 11 Jahre und Leroy, 10 Jahre, 22.5.19 Y: Nach der Schule gehe ich nach Hause, dann esse ich etwas, dann habe ich Freizeit. Dann spiele ich gewöhnlich ein bisschen Brawl Stars. Gestern war ich um fünf dabei und habe bis sechs gespielt. L: Ich habe gestern um fünf angefangen. Dann habe ich bis acht gespielt. Für das Spiel braucht man Internet. Wir waren verbunden. I:

Wie oft spielst du das?

Y: Ich spiele es mindestens jeden Tag einmal, weil es jeden Tag eine Gratisbelohnung gibt. Um nichts zu verpassen sollte man das am besten jeden Tag einsammeln. L: Ich spiele auch eigentlich jeden Tag. Erst bin ich draußen und spiele mit meinen Freunden. Wenn ich Brawl Stars spiele, hole die Gratissache und spiele mit den Leuten aus dem Clan. I:

Was für Belohnungen gibt es?

Y: Man kann in den verschiedenen Runden kleine Brawl-Münzen sammeln. Man kann am Tag immer 200 sammeln. 100 sind eine kleine Kiste. Je länger man in den Runden überlebt, desto mehr bekommt man. Bei jedem Event gibt es noch mal Starmarken. Wenn du alle freigeschaltet hast plus das Bonus-Event, kannst du fünf am Tag holen. I:

Was ist dein Ziel?

L: So viele Pokale wie möglich zu kriegen. Du kannst auch aufleveln, je nachdem, was du gelernt hast. Wenn das viel ist, erreichst du ein neues Level. Ich bin jetzt auf Level 35. Man kann Clans erstellen. Leroy und ich sind in einem Clan. Man kann das Profil angucken, welche Trawler die anderen haben. Zum Beispiel sehe ich bei Leroy, dass er Carl und Darryl hat und wie viele Pokale und Sterne da sind. I:

Was nimmst du dir heute vor zu schaffen?

L: Pokale zu kriegen und zu gewinnen. Ich möchte 1800 Pokale schaffen. Y: 850 oder 900 Pokale. 800 habe ich gerade. Dafür brauche ich ungefähr eine halbe Stunde, wenn ich Glück habe in den Runden. I:

Hast du auch ein ferneres Ziel?

Y: Ich will spätestens zu den Sommerferien 1500 Pokale haben. Mein weitestes Ziel ist 3000 noch vor Weihnachten.

Anhang

L: Ich bin bald bei 2000 Pokalen. Mein Ziel ist es, bis Weihnachten bei 4000 Pokalen zu sein. Dafür muss ich viel tun. Wir haben davor noch Ferien. Dann kann ich da eigentlich sehr viel spielen. Dann werde ich fragen, ob ich die ganze Zeit spielen darf. Also, erst abwaschen und so, und dann werde ich spielen. Ich kucke, ob Leroy online ist und lade ihn ein. Ich glaube, man muss jeden Tag spielen. Man muss ja die Pokale kriegen. Wenn du im Solo gewinnst, kriegst du acht Pokale. In Teamspielen kriegst du beim Verlieren zwei Minuspokale Y: Die Pokale, die man hat, werden im Counter dazugezählt. Im Solo-ShowdownModus bekommst du für den zehnten Platz Minuspokale und für den ersten acht Pokale plus. L: Es gibt einen Battlepass. Wenn du 50 Pokale erreichst, kriegst du etwas, Brawler: Nita, Colt, Bull, Jesse, Brock, Dynamike, Bo. Der hat Pfeil und Bogen. Wenn du den bekommst, wird es richtig entspannt und cool. Heute ist ein neuer Brawler herausgekommen, Bibi. Die ist eigentlich ziemlich stark. Ihre Ulti ist eine Kaugummiblase. Dann werde ich fragen, ob ich die ganze Zeit spielen darf. Also, erst Hausarbeit, und dann werde ich spielen. Ich kucke, ob Yan online ist und lade ihn ein. Ich glaube, man muss jeden Tag spielen. Man muss ja die Pokale kriegen. Wenn du im Solo gewinnst, kriegst du acht Pokale. In Teamspielen kriegst du beim Verlieren zwei Minuspokale und 1000fachen Schaden. Bibi hat einen Baseballschläger und ist einer der stärksten Brawler, die es gibt. Man kann ihn auch durch eine Truhe bekommen. I:

Wie ist es mit Belohnungen in der Schule?

Y: Dass man schlauer wird. L: Ja!. Dass meine Eltern sich für mich freuen. Meistens gehen wir ein Eis essen oder bestellen etwas. Y: Wenn ich zu meiner Mutter mit einer Eins oder Zwei im Test nach Hause komme, dann gibt sie mir Geld. Für eine Zwei zwei Euro und für eine Eins drei Euro. L: Wenn wir ein Buch gelesen haben, gibt es eine Murmel. Eine große Murmel ist wie zwei kleine Murmeln, die wir für die Blätter in der Lesemappe bekommen. Das sind dann halt die Belohnungen in Deutsch. Wenn du dich meldest, gibt es gute Kreuze im Zeugnis. I:

Welche Ziele hast du für die Schule?

L: Wir schreiben heute eine Mathearbeit. Dass wir das auch schaffen. Dafür habe ich ganz viel geübt. Ich gehe auf jeden Fall auch noch aufs Abi. Das mache ich nicht auf dem normalen Weg. Wenn ich gesund bleibe, dann kann ich bei der Bundeswehr Abitur machen. Ich habe mir vorgenommen, auf die Ernährung zu achten. Ich bin in letzter Zeit auch viel draußen. Ich fahre Skateboard, Roller, Fahrrad. Ab und zu jogge ich zur Schule. Zur Schule fahre ich sonst mit dem Fahrrad.

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Y: Ich habe auch ein Ziel im Fach Schwimmen, dass ich noch Gold schaffe. Da fehlen mir nur noch die 24 Bahnen. Fünf Wochen habe ich dafür Zeit. Das weiteste Ziel ist den besten Abschluss kriegen. Ich achte auf die Ernährung, trainiere und gehe Schwimmen. Ich will auch zur Bundeswehr, wie mein Vater. Y: Wenn man jeden Tag in die Schule gehen würde und man bekommt was, das wäre lustig.

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Fünf Niveaus interpersonalen Verstehens nach Selman (1984) .........13 Tabelle 2: Fünf Schülertypen nach Gamsjäger und Sauer (1996) ................... 18 Tabelle 3: Entwicklung emotionaler Selbstkompetenzen und Handlungssteuerung ..................................................................... 20 Tabelle 4: Beispiel fächerübergreifenden Arbeitens zum Thema »Helden« .... 104

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Dimensionierung »Unterrichtsinhalte« ................................. 32 Abbildung 2: Dimensionierung Umgang mit Schulmaterial ....................... 36 Abbildung 3: Dimensionierung »Rahmenbedingungen« ............................ 39 Abbildung 4: Dimensionierung »Beziehungen« ........................................ 48 Abbildung 5: Dimensionierung »Lernökonomie« ..................................... 56 Abbildung 6: Dimensionierung »Orte im Feld der Schule« .......................... 63 Abbildung 7: Dimensionierung »Ziele« ................................................... 70 Abbildung 8: Wirksame Momente, sieben Kategorien und eine Kernkategorie .................................................................. 74 Abbildung 9: Konstruktivistisches Abbild der Wahrnehmung ..................... 79 Abbildung 10: Diskrepanz zwischen vermuteten und tatsächlichen Ankerpunkten .............................................................................. 80 Abbildung 11: Lernergebnisse im Kontext unterschiedlicher Lernwelten ....... 84 Abbildung 12: Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse unter Misserfolgsbedingungen (OK = Orientierung und Kontrolle, S = Selbstwert, B = Beziehung, L = Lust) ................................................................. 98 Abbildung 13: »Wirksame Momente« als Bedingungsfaktor erfolgreichen Lernens .................................................................. 100 Abbildung 14: Beispiel grobmotorischer Lernhilfe im Deutschunterricht ...... 106 Abbildung 15: Beispiel eines funktionalen Klassenraums ........................... 128 Abbildung 16: Vergleichende Betrachtung von Belohnungen in Schule und Gaming (ZW = Zuwendung) ........................................................... 137

Abkürzungsverzeichnis

B ESV L M OK S RETHESIS SRAS VERA ZW

Beziehung Einschätzungsskala der Schulverweigerung Lust Muster Orientierung, Kontrolle Selbstwert Rekonstruktion von Themen und Situationen des Sportunterrichts aus Schülersicht School Refusal Assessment Scale Vergleichsarbeiten Zuwendung

Pädagogik Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause

Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz 2019, 242 S., kart., 1 SW-Abbildung 22,99 € (DE), 978-3-8376-4248-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4248-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4248-3

Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)

Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart., 13 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7

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Pädagogik Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman, Hans Karl Peterlini (Hg.)

Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven 2019, 312 S., kart., Dispersionsbindung, 11 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4312-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4312-5

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Ina Henning, Sven Sauter, Katharina Witte (Hg.)

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