In Haft bei der Staatssicherheit: Das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen 1951-1989 9783666351204, 9783647351209, 9783525351208


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German Pages [432] Year 2015

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In Haft bei der Staatssicherheit: Das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen 1951-1989
 9783666351204, 9783647351209, 9783525351208

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Analysen und Dokumente Band 44

Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

Vandenhoeck & Ruprecht

Julia Spohr

In Haft bei der Staatssicherheit

Das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen 1951–1989

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung: Wachturm vor dem Bürotrakt der MfS-Hauptabteilung IX auf dem Gelände der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen (Foto: Stephan Horn)

Mit 23 Diagrammen und 3 Tabellen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-35120-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Die Dissertation wurde im August 2013 unter dem Titel »… mit politischer Klugheit und Besonnenheit die Feinde bekämpfen … Die MfS-Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen 1951–1989« am Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaft der Freien Universität Berlin eingereicht und am 11. Dezember 2013 »magna cum laude« verteidigt. Gutachter: Prof. Dr. Arnd Bauerkämper, Prof. Dr. Paul Nolte

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt Vorwort ........................................................................................................... 7  Einleitung........................................................................................................ 9  Fragestellung und Aufbau der Studie ......................................................... 9  Forschungsstand ......................................................................................14  Quellenlage .............................................................................................22  1  Die Ermittlungs- und Untersuchungshaftzentrale des DDRStaatssicherheitsdienstes in Berlin-Hohenschönhausen ............................27  1.1  Ermittlungsarbeit und Untersuchungshaftvollzug des MfS: Normative Grundlagen ................................................................29  1.2  Hauptsitz des Untersuchungsorgans (Hauptabteilung IX) ............52  1.3  Hauptsitz der Abteilung Haftvollzug (Abteilung XIV) .................60  2  Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen in BerlinHohenschönhausen .................................................................................71  2.1  Hafthintergründe und Tatvorwürfe: Die strafrechtlichen Untersuchungen des MfS .............................................................74  Die fünfziger und sechziger Jahre ............................................75  Die siebziger und achtziger Jahre .............................................93  Die Ermittlungsverfahren der MfS-Untersuchungsorgane 1956–1988: Quantitative Entwicklungen ..............................129  2.2  Inhaftiert in Hohenschönhausen: Delikttypische Fallbeispiele ....133  Widerstand und Spionage als »Boykotthetze« ........................134  Fluchtversuche.......................................................................141  Fluchthilfe .............................................................................148  »Staatsfeindliche Hetze«.........................................................156  Ausreiseantragsteller...............................................................162  »Sabotage« und Wirtschaftsdelikte .........................................168  NS-Verbrechen ......................................................................173  Ermittlungsverfahren gegen MfS-Angehörige ........................187  2.3  Die Hohenschönhausener Untersuchungsgefangenen: Quantitative Daten ....................................................................196  Einlieferungen zwischen 1951 und 1989 ...............................196  Alter zum Zeitpunkt der Einlieferung ....................................198  Geschlecht .............................................................................200  Dauer der Untersuchungshaft ................................................207  Ort der Verurteilung .............................................................209 

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Inhalt

3  Haftalltag und Ermittlungsmethoden im zentralen MfSUntersuchungsgefängnis ........................................................................215  3.1  Baugeschichtliche Entwicklung des Untersuchungshaftkomplexes .....................................................215  Exkurs: Haftkrankenhaus und »Lager X« ...............................227  3.2  Haftbedingungen .......................................................................231  Alltag in der Zelle ..................................................................231  Außenkontakte ......................................................................248  Hygienische Bedingungen und medizinische Versorgung ......260  3.3  Ermittlungsmethoden und Prozessvorbereitung .........................270  Vernehmungs- und Ermittlungspraxis ...................................270  Zelleninformatoren................................................................287  Rechtsbeistand .......................................................................292  Gerichtliche Hauptverhandlung und Verurteilung ................300  3.4  Freiräume der Häftlinge, widerständiges Verhalten und politischer Protest .......................................................................306  Übergriffe durch das MfS-Personal ........................................307  Aufbegehren in der Zelle und während des Verhörs...............314  Zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe: Nahrungsverweigerung und Suizid ........................................325  4  Zur Rolle des MfS-Untersuchungsorgans bei Normierung und Umsetzung des politischen Strafrechts ...................................................331  4.1  Auswirkungen der Haftvollzugs- und Ermittlungspraxis auf die MfS-Mitarbeiter in Berlin-Hohenschönhausen .....................334  4.2  Das MfS-Ermittlungsorgan und die Ausgestaltung des politischen Strafrechts der DDR .................................................351  4.3  Verfahren der Hauptabteilung IX vor Gericht ............................367  Resümee ......................................................................................................381  Anhang ........................................................................................................391  Abkürzungsverzeichnis ..........................................................................392  Literatur- und Quellenverzeichnis .........................................................397  Personenregister ....................................................................................427  Angaben zur Autorin .............................................................................430 

Vorwort

Die vorliegende Arbeit entstand zwischen 2010 und 2013 als Dissertationsschrift am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Bei der Konzeption wie bei der Niederschrift dieser Studie haben mich viele Menschen unterstützt und begleitet. Ihnen gelten die nachfolgenden Worte. Zuerst danke ich meinem Doktorvater Arnd Bauerkämper, der sich der wissenschaftlichen Betreuung der Arbeit angenommen hat, für Fragen stets ein offenes Ohr hatte und mich bis zuletzt mit inhaltlichen wie methodischen Anregungen fundiert unterstützt hat. Dieser Dank richtet sich ebenfalls an Paul Nolte für die Erarbeitung eines äußerst konstruktiven Zweitgutachtens und für zahlreiche wertvolle Hinweise für die Publikation. Zum Zweiten möchte ich mich bei der Stiftung »Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen« erkenntlich zeigen. Vornehmlich gilt dies ihrem Direktor Hubertus Knabe für die Ermutigung und Bestärkung, mich dieser Arbeit zu widmen. Vor allem aber danke ich von Herzen den Mitarbeitern der Stiftung, die mir während meiner Forschungen mit Rat und Tat zur Seite standen. Besonders möchte ich das langjährige Engagement des gedenkstätteneigenen Zeitzeugenarchivs hervorheben: Die dort zusammengetragenen Interviews mit ehemaligen Hohenschönhausener Häftlingen bildeten eine unverzichtbare Grundlage für die umfassende Darstellung der Alltagssituation in diesem Gefängnis. Daran anknüpfend gilt mein wahrhaftiger Dank den vielen ehemaligen Insassen der früheren Haftanstalt, die ich während der vergangenen Jahre persönlich kennenlernen und »abschöpfen« durfte. Viele von ihnen legen bis heute als freiberufliche Referenten im stillgelegten Untersuchungsgefängnis Zeugnis ab von ihren Repressionserfahrungen, die sie in der DDR sammeln mussten. Sie haben mir in unzähligen Gesprächen einen lebhaften Eindruck davon vermittelt, was es im Einzelfall bedeuten konnte, die oft sehr willkürlich gezogene Grenze zum »Feindlichen« überschritten zu haben. Allein für dieses Privileg, mich mit ihnen über derartig Außergewöhnliches, unter den Bedingungen einer Diktatur dennoch so Geläufiges austauschen zu können, bin ich allen von ihnen große Anerkennung schuldig. Mein besonderer Dank richtet sich an die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin, die die Studie schließlich zur Veröffentlichung angenommen hat. Über insgesamt drei Jahre wurden mir dort nicht nur wahrliche Berge von Akten des DDR-Staatssicherheitsdienstes zur Verfügung gestellt; zahlreiche Anregungen, die ich in Gesprächen mit den dortigen Mit-

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Vorwort

arbeitern erhalten habe, sind ebenfalls in diese Arbeit eingeflossen. Stellvertretend für viele weitere, die an den Recherchen mitgewirkt haben, möchte ich mich insbesondere bei Evelyn Küter (Abteilung Auskunft) für ihre Beratung, die zuverlässige Bereitstellung von Archivunterlagen und nicht zuletzt für ihre unerschöpfliche Geduld erkenntlich zeigen. Ebenso sind Christian Booß, Roger Engelmann und Frank Joestel (Abteilung Bildung und Forschung) zu nennen, die meine Arbeit durch ihre kenntnisreiche Expertise sehr bereichert haben. Finanziell wurde die Studie durch ein Promotionsstipendium der KonradAdenauer-Stiftung e. V. gefördert. Ohne diese Unterstützung hätte ich mein Forschungsvorhaben wohl nie in die Tat umsetzen und in so konzentrierter Form zum Abschluss bringen können. Ich danke ebenfalls Judith Esders und Elisabeth Weber, deren freundschaftlicher Beistand und Sachkunde wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Gewidmet ist die Studie schließlich meinen Eltern Renate und Helmut Spohr. Danke für einfach alles.

Einleitung

Fragestellung und Aufbau der Studie Fragestellung und Aufbau der Studie

Von 1951 bis 1989 befand sich im Stadtbezirk Hohenschönhausen im Nordosten Berlins das zentrale Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Rund ein Jahr nach seiner Gründung im Februar 1950 übernahm das MfS das Gelände innerhalb eines weitläufigen Sperrgebiets vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst. Das MfS unterhielt eigenständige Abteilungen für Ermittlungen in Strafsachen und betrieb eigene Untersuchungshaftanstalten in Berlin sowie in den Bezirkshauptstädten der DDR. Von Hohenschönhausen aus wurden sämtliche MfS-Haftanstalten und Ermittlungseinheiten landesweit angeleitet und kontrolliert. Bis 1989 bearbeitete die Hauptabteilung (HA) Untersuchung, die dem Minister für Staatssicherheit direkt unterstellt war, an insgesamt 17 Standorten rund 80 000 Ermittlungsverfahren.1 Allein in Berlin-Hohenschönhausen, dem Dienstsitz des MfS-Untersuchungsorgans (HA IX) und der Haftvollzugsabteilung XIV, waren zwischen 1951 und 1989 rund 11 000 Menschen von der strafrechtlichen Verfolgung durch das »Schild und Schwert« der SED betroffen. Die Aufgabe des MfS bestand im Kern darin, die Herrschaft der DDRStaatspartei zu sichern und jegliche Form von Widerstand sowie andere ver1 Diese Zahl beruht auf internen Aufzeichnungen der MfS-Untersuchungsorgane, die indes erst 1955 einsetzen. Aufgrund von weiteren Teilbeständen in den Archiven des BStU sind der HA IX in der Zentrale und den Bezirken vermutlich sogar rund 95 000 Ermittlungsverfahren zuzuschreiben. In der DDR wurden zwischen 1949 und 1989 schätzungsweise 280 000 Personen aus politischen Gründen inhaftiert und verurteilt, wofür jedoch nicht allein das MfS verantwortlich zeichnete. Unter »politischen Häftlingen« werden im Folgenden Personen verstanden, die – wie im Einigungsvertrag und in der Rehabilitierungsgesetzgebung formuliert – »Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaatswidrigen und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind«. Vgl. Schröder, Wilhelm Heinz; Wilke, Jürgen: Politische Strafgefangene in der DDR. Versuch einer statistischen Beschreibung. In: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 23(1998)4, S. 10 und 37. Unter »politischen« Delikten sind im Folgenden auch solche zu verstehen, die nicht allein direkt das politische Strafrecht betreffen, sondern in denen übergeordnete politische Interessen geltend gemacht wurden. Dies berührt auch sogenannte Tatbestandsüberdehnungen, d. h. die Anwendung von Straftatbeständen in »Überschreitung ihres Wortlauts zur Verfolgung von Andersdenkenden«. Vgl. Eser, Albin; Arnold, Jörg (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse: Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik (Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht; S 82.14), Berlin 2012, S. 134. Vgl. auch Raschka, Johannes: »Staatsverbrechen werden nicht genannt«. Zur Zahl politischer Häftlinge während der Amtszeit Honeckers. In: DA 30(1997)2, S. 196–208.

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Einleitung

meintliche oder tatsächliche systemgefährdende Aktivitäten im Keim zu ersticken. Die in Hohenschönhausen Inhaftierten waren aus verschiedenen Gründen mit dem Regime in Konflikt geraten, wurden festgenommen und zur Durchführung geheimdienstlicher Ermittlungen an diesen Ort verbracht. Obwohl es sich bei der Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen um das zentrale Untersuchungsgefängnis des Staatssicherheitsdienstes auf Ministeriumsebene handelte, ist dieser bedeutsame Ort politischer Repression nach wie vor nur in Grundzügen erforscht. Bislang ist über die Untersuchungsgefangenen in ihrer Gesamtheit wie auch über die Gründe für ihre Verhaftung wenig bekannt. Wie Analysen zu anderen MfS-Untersuchungshaftanstalten jedoch aufzeigten, ging die Stasi im Laufe der rund 40-jährigen Bestehensgeschichte der DDR gegen sehr unterschiedliche Personengruppen mit den Mitteln des Strafrechts vor. Es ist anzunehmen, dass sich das zentrale Untersuchungsorgan in Berlin besonders exponierten Verfahren widmete, die für das SED-Regime von außerordentlicher Bedeutung waren und von denen sich das MfS eine herrschaftsstabilisierende Wirkung versprach. Dennoch fehlen zum wichtigsten DDR-Gefängnis für politisch Verfolgte und andere MfS-Untersuchungshäftlinge mehr als 20 Jahre nach Öffnung der Stasi-Archive repräsentative Untersuchungen zu den dort Inhaftierten, den Bedingungen des Haftalltags und insbesondere zu den Verfolgungsgründen zwischen 1951 und 1989. Kurzum sind weder die Arbeitsschwerpunkte der MfS-Ermittlungsabteilung noch die Methoden des Staatssicherheitsdienstes im Umgang mit den Gefangenen und damit verbunden die Relevanz dieser Einrichtung für die Verfolgung politischer Opposition systematisch untersucht. Die vorliegende Arbeit versteht sich somit als ein notwendiger Beitrag zur Grundlagenforschung zu diesem zentralen Ort strafrechtlicher Repression in der DDR. Die Studie geht dabei drei Fragekomplexen nach: Einem kurzen Überblick über die normativen Grundlagen des MfS-eigenen Untersuchungshaftvollzugs und der strafrechtlichen Ermittlungstätigkeit folgend stehen erstens die in Berlin-Hohenschönhausen geführten und von dort aus kontrollierten Ermittlungsverfahren des MfS im Mittelpunkt. Dabei soll in den Blick genommen werden, wer sich zu welchem Zeitpunkt aus welchen Gründen im Fokus strafrechtlicher Untersuchungen der Ermittlungsleitstelle befand und welche innen- wie außenpolitischen Faktoren hierfür ausschlaggebend waren. Die Anlässe für Verhaftungen wie auch die Tatvorwürfe gegen die an diesem Ort inhaftierten Personen werden zunächst quantitativ untersucht, einzelne haftbezogene Biographien exemplarisch vorgestellt und damit die Schwerpunkte der MfS-internen Verhaftungen und Ermittlungen qualitativ konturiert. Größtenteils politisch motivierte juristische Tatvorwürfe werden dabei explizit den Hafthintergründen gegenübergestellt.

Fragestellung und Aufbau der Studie

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Die gewählten Fallbeispiele illustrieren nicht nur im Detail, wen die Ermittler des Staatssicherheitsdienstes seit den frühen fünfziger Jahren bis zum Ende der DDR aus politischen Gründen durch Haft und Verurteilung auszuschalten versuchten. Sie zeichnen ebenfalls ein Bild von »politisch-operativ bedeutsamen Straftaten der Allgemeinen Kriminalität«2, welche die Hauptabteilung der MfS-Untersuchungsorgane in Hohenschönhausen im Zuge ihrer Ermittlungen bearbeitet hat: Hierzu zählen insbesondere Verfahren gegen straffällig gewordene MfS-Mitarbeiter, gegen NS-Belastete oder Untersuchungen in Wirtschaftsstrafsachen. Zudem sollen die zwischen 1951 und 1989 Inhaftierten der Haftanstalt auf soziale Merkmale hin analysiert werden, um durch einen Vergleich mit Untersuchungshaftanstalten des Staatssicherheitsdienstes in den übrigen DDRBezirken die Spezifik der zentralen Berliner Haftanstalt herauszuarbeiten.3 Diese Gefängnisse werden als kontrastierender Vergleichsgegenstand herangezogen, wenn auch mangels weiterer Studien nicht alle 17 MfS-Untersuchungsgefängnisse in den Blick genommen werden können.4 Die Gegenüberstellung muss somit zwar asymmetrisch bleiben, sie liefert dennoch aussagekräftige Hinweise für das Vorgehen des MfS in der Zentrale in Abgrenzung zur Bezirksebene. Eine Analyse zur Belegung und den Hafthintergründen der in Berlin-Hohenschönhausen Inhaftierten, zu deren Behandlung wie auch zu den Auswirkungen strafrechtlicher Repression verspricht insgesamt Aufschluss über Gegnerschaft und Widerständigkeit in der DDR. Sie vermittelt ein detailliertes Bild von den Bedrohungsszenarien und der damit einhergehenden Ausrichtung strafrechtlicher politischer Verfolgung durch das MfS. Zweitens widmet sich die Studie den lokalen Haftpraktiken wie auch den straf(prozess)rechtlichen Ermittlungsmethoden zwischen 1951 und 1989. Es ist zu erwarten, dass nicht nur die Unterbringung im Gefängnis selbst, sondern auch die Arbeitsmethoden des MfS-Ermittlungsorgans einem ständigen Wandel unterlagen. Schließlich trafen Sicherheitsanforderungen, welche für den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen im Allgemeinen charakteristisch sind, auf die Interessen einer geheimdienstlich agierenden Strafverfolgungsbehörde. So ist zu zeigen, dass die HA IX mit der Inhaftierung nicht allein das Ziel der Sanktionierung von Straftaten verfolgte; die Verhaftung diente zudem unterschiedlichen »operativen« Zwecken im Rahmen der Verfolgung politi-

2 Juristische Hochschule Potsdam: Lehrbuch – Strafprozessrecht, Potsdam 1987, S. 39. 3 Seit 1952 war die DDR territorial in insgesamt 15 Bezirke aufgeteilt: Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Magdeburg, Halle, Potsdam, Frankfurt/Oder, Suhl, Gera, Erfurt, Leipzig, Dresden, Cottbus, Groß-Berlin und Karl-Marx-Stadt. 4 Lediglich zu den MfS-Untersuchungshaftanstalten in Rostock, Dresden, Schwerin, Magdeburg, Halle, Potsdam und Erfurt liegen Forschungsarbeiten unterschiedlichen Zuschnitts vor. Siehe Abschnitt »Forschungsstand«.

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Einleitung

scher Gegner. Neben den Intentionen des Staatssicherheitsdienstes bilden die individuellen Erfahrungen ehemaliger Insassen den Kern der Untersuchung. Als elementare Aspekte des Haftalltags werden der Tagesablauf, die Vorschriften für die Häftlinge, Möglichkeiten der Selbstbeschäftigung, Kontakte zu Mithäftlingen und zum Gefängnispersonal, Außenverbindungen, die hygienischen und medizinischen Bedingungen, psychische und physische Gewalt gegen Insassen, Hafterleichterungen und Sanktionsarten und nicht zuletzt die Vernehmungspraxis des MfS-Untersuchungsorgans näher betrachtet. Darüber hinaus untersucht die Arbeit Möglichkeiten und Strategien der Gegenwehr seitens der Gefangenen wie auch insbesondere die Auswirkungen dieser widerständigen Handlungsweisen.5 So ist anzunehmen, dass die Auseinandersetzung der Angehörigen der HA IX und der Abteilung XIV mit den Inhaftierten vor Ort die Arbeitsweise und die künftigen Zielsetzungen des Staatssicherheitsdienstes »von unten« beeinflusste. Die Handlungsspielräume der Häftlinge unter den Bedingungen der Untersuchungshaft werden als Indikator für den Wirkungsgrad von Repression und damit nicht zuletzt für den Charakter und die Wandlung der Untersuchungshaft des MfS beleuchtet. Dabei wird die Haftanstalt Hohenschönhausen als Institution begriffen, in der sich die hegemonialen Ansprüche, Feindbilder und Gefahrenperzeptionen des SEDRegimes in ihrem Aufeinandertreffen mit als widerständig wahrgenommenen und aus politischen Gründen kriminalisierten Individuen unmittelbar rekonstruieren und in ihrer konkreten Wirkung auf den einzelnen Häftling beobachten lassen. Die Studie fragt drittens nach den Rückwirkungen der Ermittlungstätigkeit und des Untersuchungshaftvollzugs auf die Praxis der involvierten MfSDiensteinheiten und der DDR-Justizorgane. Sie folgt dabei der Hypothese, 5 Zur methodischen Abgrenzung zwischen Selbstbehauptung, Dissidenz, verbaler Devianz, politischem Protest und unpolitischer Renitenz unter den Bedingungen des Haftvollzugs vgl. Wunschik, Tobias: Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDR-Strafvollzug, insbesondere S. 268–270. Zur begrifflichen und methodischen Problematik der Oppositions- und Widerstandsforschung, die die DDR-Gesellschaft außerhalb von Gefängnismauern untersucht, vgl. Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Opposition, Widerstand und widerständiges Verhalten in der DDR. Forschungsstand – Grundlinien – Probleme. In: Dies. (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, Berlin 1995, S. 9–26. Vgl. auch Hüttenberger, Peter: Vorüberlegungen zum »Widerstandsbegriff«. In: Kocka, Jürgen (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft, 3), Göttingen 1977, S. 126; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. VII, 2: Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur, Baden-Baden 1995, S. 1216; Stadelmann-Wenz, Elke: Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära, Paderborn 2009, Einleitung.

Fragestellung und Aufbau der Studie

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dass die Ermittler des Staatssicherheitsdienstes tätigkeitsbezogene Konsequenzen aus ihrer Arbeit »unmittelbar am Feind«6 zogen und bestrebt waren, insbesondere die Instrumente zur strafrechtlichen Verfolgung politischer Gegnerschaft im diachronen Verlauf den eigenen Anforderungen gemäß unentwegt anzupassen. Die Standpunkte der Ermittlungs- und Haftzentrale des Staatssicherheitsdienstes im Vorfeld strafrechtlicher Gesetzesänderungen wie auch deren Ergebnisse werden beleuchtet und dadurch nachgezeichnet, dass die HA IX dabei ihre geheimdienstlichen Interessen stark machte und geltendes Recht in der DDR ihren »operativen« Erfahrungen und Anforderungen gemäß zu manipulieren versuchte.7 Somit fragt die Studie implizit nach der spezifischen institutionellen Bedeutung von »Hohenschönhausen« als herrschaftssichernde Stütze der SEDDiktatur. Unter der Annahme, dass die Hohenschönhausener HA IX bereits politische Strafrechtsnormen mitgestaltet hat, geht die Arbeit schließlich auf empirischer Grundlage der Frage nach, ob und inwiefern die Ermittlungsabteilung des MfS prinzipiell auf politische Strafverfahren und deren Ausgang einwirkte beziehungsweise überhaupt einwirken musste. Eine unmittelbare Einflussnahme auf gerichtliche Verfahren, so die Hypothese, war aufgrund der Beteiligung an der Normensetzung im Regelfall nicht vonnöten. Die hier gewählte mikroperspektivische Annäherung an den zentralen Haftund Ermittlungsort Berlin-Hohenschönhausen soll letztendlich Einblicke in allgemeine Funktionsweisen von Herrschafts-und Repressionsmechanismen wie auch Widerständigkeit oder Gegenwehr in der SED-Diktatur ermöglichen, welche über den konkreten Ort hinausgehen.8 Durch die »Erforschung im Kleinen – nicht des Kleinen«9 soll die Studie zur Veranschaulichung innerstaatlicher politischer Verfolgung, individueller Selbstbehauptung und internationaler Verflechtung in der Repressions- und Diktaturgeschichte als Bestandteil der Gesellschaftsgeschichte der DDR beitragen.10 6 Pfütze, Peter: Besuchszeit. Westdiplomaten in besonderer Mission, Berlin 2006, S. 159. Pfütze war bis 1989 als sogenannter Untersuchungsführer der HA IX in der Haftanstalt BerlinHohenschönhausen tätig. 7 Dies gilt ebenso für Rechtsgebiete und verwaltungsrechtliche Verordnungen jenseits des Strafrechts, mit denen staatliche politische Interessen durchgesetzt werden konnten und wurden. Vgl. Marxen, Klaus: »Recht« im Verständnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999, S. 15–24. 8 Vgl. Engelmann, Roger: Eine Regionalstudie zu Herrschaft und Alltag im Staatssozialismus. In: Gieseke, Jens (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 167. 9 Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 2009, S. 13. 10 Einen zusammenfassenden Überblick zu Interpretationsansätzen in der sozialhistorischen DDR-Forschung gibt Hüttmann, Jens: DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Berlin 2008, insbesondere S. 352 ff. Vgl. ebenso Linden-

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Einleitung

Forschungsstand Forschungsstand

Die Ortsgeschichte der zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt (UHA) in Berlin-Hohenschönhausen ist bislang nur in Ansätzen erforscht: Neben einer allgemeinen Überblicksdarstellung haben Mitarbeiter der seit dem Jahr 2000 bestehenden Stiftung »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen« in fachwissenschaftlichen Zeitschriften einzelne strukturgeschichtliche Beiträge zur Bauund Institutionenhistorie des Nordostberliner Sperrbezirks veröffentlicht.11 2011 erschien ferner eine Studie zum ebenfalls in Hohenschönhausen untergebrachten Haftkrankenhaus (HKH), die die Entwicklung dieser Einrichtung wie auch einzelne Biographien von Mitarbeitern und insbesondere der dort behandelten Häftlingspatienten nachzeichnet.12 Eine jüngst publizierte Studie zum Haftort widmet sich den Alltagserfahrungen und Lebenswelten der in Hohenschönhausen eingesetzten MfS-Mitarbeiter.13 Zu den Insassen des Untersuchungsgefängnisses und den Ursachen ihrer Verhaftung liegen indes nach wie vor keine Forschungsergebnisse vor, welche den gesamten Bestandszeitraum dieser Einrichtung abdecken. Die konkreten Haftbedingungen und die Arbeitsweise der MfS-Ermittlungseinheit in BerlinHohenschönhausen sind jedoch für einzelne Zeitabschnitte von ehemaligen

berger, Thomas: SED-Herrschaft als soziale Praxis, Herrschaft und »Eigen-Sinn«: Problemstellung und Begriffe. In: Gieseke, Jens: Staatssicherheit und Gesellschaft: Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 23–47; ebenso Ders.: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: Ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 13–44. Vgl. weiterhin Weil, Francesca: Einleitung. Zur Bedeutung von Alltagsgeschichte, Mikrohistorie und der Vielfalt von Untersuchungsmethoden. In: Dies.: Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit. Zwei sächsische Betriebe in der DDR während der Honecker-Ära, Köln 2000, S. 3–20; ferner auch Meuschel, Sigrid: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: GG 19(1993)1, S. 5–14; Jessen, Ralph: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR. In: GG 21(1995)1, S. 96–110. 11 Vgl. Erler, Peter; Knabe, Hubertus: Der verbotene Stadtteil. Stasi-Sperrbezirk BerlinHohenschönhausen, Berlin 2005; Knabe, Hubertus: Die deutsche Lubjanka. Das zentrale Untersuchungsgefängnis des DDR-Staatssicherheitsdienstes in Berlin-Hohenschönhausen. In: DA 35(2002)1, S. 74–81; Erler, Peter: Das geheime Arbeitslager des sowjetischen Geheimdienstes in BerlinHohenschönhausen. In: ZdF (2002)12, S. 98–117; Ders.: Ein Geheimdienst richtet sich ein. Zur Baugeschichte, Strukturentwicklung und Sicherung des MfS-Sperrgebietes in BerlinHohenschönhausen (1. Hälfte der fünfziger Jahre). In: ZdF (2003)14, S. 93–108; Ders.: Ein Geheimdienst erweitert seine materielle Basis. Zur Baugeschichte und Strukturentwicklung des MfSSperrgebietes in Berlin-Hohenschönhausen. In: ZdF (2004)16, S. 117–131; Ders.: Ein Geheimdienst reagiert auf die Entspannungspolitik. Zur Baugeschichte und Strukturentwicklung des MfSSperrgebietes Berlin-Hohenschönhausen in den siebziger Jahren. In: ZdF (2006)20, S. 123–141. 12 Vgl. Voigt, Tobias; Erler, Peter: Medizin hinter Gittern. Das Stasi-Haftkrankenhaus in Berlin-Hohenschönhausen, Berlin 2011. 13 Vgl. Martin, Elisabeth: »Ich habe mich nur an das geltende Recht gehalten«. Herkunft, Arbeitsweise und Mentalität der Wärter und Vernehmer der Stasi-Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen, Baden-Baden 2014.

Forschungsstand

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Untersuchungsgefangenen beschrieben worden14 – als zweifellos bedeutsamste Aufzeichnung sind die »Vernehmungsprotokolle« des von 1976 bis 1977 inhaftierten Schriftstellers und Psychologen Jürgen Fuchs zu erachten.15 2009 erschien eine Darstellung einzelner Facetten der Vollzugsgegebenheiten und Vernehmungsmethoden in Berlin-Hohenschönhausen auf der Basis von rund 180 Interviews mit früheren Inhaftierten.16 Daneben hat die Stiftung in den Jahren 2007 und 2009 Sammelbände mit Haftberichten ehemaliger Untersuchungsgefangener herausgegeben, welche – wenngleich aus sehr subjektiver Perspektive – wie die erwähnte Interviewauswertung den gesamten Bestandszeitraum der MfS-Haftanstalt abbilden.17 Nach wie vor fehlt es allerdings an einer Studie, welche die Schilderungen einzelner Betroffener im Kontext von archivalischen Quellen des Ermittlungsorgans und der Haftvollzugsabteilung für die vollständige Periode zwischen 1951 und 1989 aufbereitet. Die Funktionsweise des Untersuchungshaftvollzugs der Stasi insgesamt wie auch die Strukturen der Hauptabteilung IX und der Abteilung XIV des MfS sind erst nach Öffnung der geheimdienstlichen Archive des DDRStaatssicherheitsdienstes systematisch ins Blickfeld institutionsgeschichtlich ausgerichteter historischer Forschung gerückt – allerdings nicht mit explizitem Bezug auf die zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt in Hohenschönhausen.18 14 Vgl. exemplarisch Brandt, Heinz: Ein Traum, der nicht entführbar ist: mein Weg zwischen Ost und West. Mit einem Vorwort von Erich Fromm, München 1967; Bath, Matthias: 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft, Berlin 1987 (auch erschienen als: Bath, Matthias: Gefangen und freigetauscht: 1197 Tage als Fluchthelfer in der DDR-Haft (Reihe: Inhaftiert in Berlin-Hohenschönhausen), Berlin 2007); Schlotterbeck, Anna: Die verbotene Hoffnung. Aus dem Leben einer Kommunistin: Mit einem Vorwort von Hans Noll, Hamburg 1990; Wollenberger, Vera: Virus der Heuchler. Innenansicht aus Stasi-Akten, Berlin 1992; Fichter, Horst: Verflucht sei die Menschenwürde. Erlebnisbericht aus den Zuchthäusern der ehemaligen DDR, Frankfurt/M. 1996, insbesondere S. 129 ff.; Rüegg, Peter: Wenn Mielke unterschrieben hätte … Vorschlag: Todesstrafe, Berlin [Erscheinungsdatum unklar]; Lengsfeld, Vera: Von nun an ging's bergauf … Mein Weg zur Freiheit, München 2002; Krawczyk, Stephan: Der Narr, Zürich 2003; Kaiser, Regina; Karlstedt, Uwe: Zwölf heißt »Ich liebe Dich«. Der Stasi-Offizier und die Dissidentin, Köln 2003; Paul, Sigrid: Mauer durchs Herz, Berlin 2007; Furian, Gilbert (Hg.): Mehl aus Mielkes Mühlen. Politische Häftlinge und ihre Verfolger (Erlebnisse, Briefe, Dokumente), Berlin 2012. 15 Vgl. Fuchs, Jürgen: Vernehmungsprotokolle. November '76 bis September '77, Hamburg 1978. 2009 erschien das Werk als kommentierte Neuausgabe. Vgl. Fuchs, Jürgen: Vernehmungsprotokolle. November '76 bis September '77, Berlin 2009. 16 Vgl. Lazai, Christina; Spohr, Julia; Voß, Edgar: Das zentrale Untersuchungsgefängnis des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes in Deutschland im Spiegel von Opferberichten. Die Haftbedingungen in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen 1947–1989, Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Berlin 2009. 17 Vgl. Knabe, Hubertus (Hg.): Die vergessenen Opfer der Mauer. Inhaftierte DDRFlüchtlinge berichten (unter Mitarbeit von Jessica Steckel), Berlin 2009; Ders. (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Stasi-Häftlinge berichten (unter Mitarbeit von Sandra Gollnest), Berlin 2007. 18 Vgl. Beleites, Johannes: Der Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Engelmann; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 433–465; Ders.: »Feinde bearbeiten wir!«. Die Haftbedingungen im Untersuchungshaftvollzug des MfS. In:

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Zuvor basierten wissenschaftliche Annäherungen an diese Themenkomplexe im Wesentlichen auf Berichten ehemaliger Inhaftierter, von denen insbesondere Karl Wilhelm Fricke eine intensive Auseinandersetzung mit Funktion und Ausmaß politischer Verhaftungen und Verurteilungen in den fünfziger Jahren vorangetrieben hat.19 Die Haftbedingungen in DDR-Gefängnissen wurden bis 1990 vor allem von Betroffenen für ausgewählte Perioden oder für den Strafvollzug im Anschluss an die Verurteilung geschildert.20 Ebenso liegen Studien zu den Vernehmungstechniken der HA IX und zu deren konzeptionellen Grundlagen vor.21 Für einzelne andere MfS-Untersuchungshaftanstalten sind die Belegung und die jeweiligen Haftgründe analysiert worden, allerdings ohne dass diese Daten weiterführend interpretiert worden wären.22 Zuletzt entstanDA 32(1999)5, S. 787–798; Ders.: Abteilung XIV: Haftvollzug (MfS-Handbuch, III/9), Berlin 2004; Sélitrenny, Rita: Doppelte Überwachung. Geheimdienstliche Ermittlungsmethoden in den DDRUntersuchungshaftanstalten (Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin 2003. Vgl. ferner Knabe, Hubertus: »Weiche« Formen der Verfolgung in der DDR. Zum Wandel repressiver Strategien in der Ära Honecker. In: DA 30(1997)5, S. 709–719; Ders.: Strafen ohne Strafrecht. Zum Wandel repressiver Strategien in der Ära Honecker. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR. Recht und Justiz als politisches Instrument (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V., Bd. 89), Berlin 2000, S. 91–109. 19 Vgl. Fricke, Karl Wilhelm: »So werden Schauprozesse vorbereitet«. Vernehmungstechnik und Geständniserpressung beim Staatssicherheitsdienst. In: SBZ-Archiv 10(1959)14, S. 210 ff.; Ders.: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR, Köln 1988. Zu seinen Forschungen nach 1990 vgl. Ders.: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1990; Ders.: Kein Recht gebrochen? Das MfS und die politische Strafjustiz der DDR. In: APuZ (1994)40, S. 24–33; Ders.: Zur politischen Strafrechtsprechung des Obersten Gerichts der DDR. (Vortrag: 21. März 1994), Heidelberg 1994; Ders.: Zur Manipulierung und Präjudizierung politischer Strafurteile durch das MfS. In: DA 29(1996)6, S. 887–896; Ders.: Das MfS als Instrument der SED am Beispiel politischer Strafprozesse. In: Suckut, Siegfried; Süß, Walter (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997, S. 199–212; Ders. (Hg.): Humaner Strafvollzug und politischer Missbrauch. Zur Geschichte der Strafvollzugsanstalten in Bautzen 1904 bis 2000 (Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, 10), Dresden 1999; Ders.: Die Technik der psychologischen Einkreisung. In: Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen, Berlin 2007, S. 164–173. 20 Vgl. beispielsweise Rose, Norman: Politische Häftlinge in der Untersuchungshaft des MfS. Haftbedingungen von 1971 bis 1989, Hamburg 2002; Wunschik, Tobias: Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDR-Strafvollzug. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht: Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, Bremen 2001, S. 267–292; Müller, Jörg: Die Haftbedingungen politischer Häftlinge in der DDR im Spiegel persönlicher Erinnerungen sowie staatlicher Überlieferungen. MA, TU Dresden 2004; Ders.: Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR. Sachsen in der Ära Ulbricht, Göttingen 2012; Meyer, Juliane: Humanmedizin unter Verschluss. Die medizinische Versorgung und Behandlung politischer Häftlinge in den Strafvollzugsanstalten der DDR, Berlin 2013. 21 Vgl. Zahn, Hans-Eberhard: Haftbedingungen und Geständnisproduktion in den Untersuchungshaftanstalten des MfS (Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 5), Berlin 2011; Richter, Holger: Die operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Frankfurt/M. 2001. 22 Zu einzelnen Untersuchungshaftanstalten vgl. Schnell, Gabriele (Hg.): Das »Lindenhotel«. Berichte aus dem Potsdamer Geheimdienstgefängnis, Berlin 2012; Scherrieble, Joachim (Hg.): Der

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den Studien zu den Haftanstalten in Rostock und Magdeburg-Neustadt; letztere zeichnet sich durch einen innovativen und geschlechterhistorischen Zuschnitt aus.23 Ein Gesamtüberblick über die Tätigkeit und Strukturgeschichte der HA IX, welcher deren anzunehmend eminent bedeutsamer Rolle als »operativer« Diensteinheit des Staatssicherheitsdienstes gerecht wird, existiert nach wie vor nicht.24 Zum MfS-Untersuchungsorgan liegen lediglich Studien vor, die sich einzelnen Aufgabenschwerpunkten widmen: Frank Joestel hat die Arbeit der HA IX in den achtziger Jahren jenseits von Ermittlungsverfahren untersucht (Sachverhalts- und Vorkommnisprüfungen); ebenso hat er einen der zahlreichen statistischen Jahresberichte der Abteilung ediert und ereignisgeschichtlich kontextualisiert.25 Daneben haben sich insbesondere Roger Engelmann und Clemens Vollnhals mit der HA IX im Rahmen von politischen Verfahren auseinandergesetzt, jedoch ohne die Tätigkeit der Zentrale in BerlinHohenschönhausen oder der einzelnen Bezirksabteilungen gesondert zu skiz-

Rote Ochse Halle (Saale). Politische Justiz 1933–1945/1945–1989, Berlin 2008; Herz, Andrea: Die Erfurter Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit 1952 bis 1989 (unter Mitarbeit von Wolfgang Fiege), Erfurt 2006; Herz, Andrea; Fiege, Wolfgang: Untersuchungshaft und Strafverfolgung beim Staatssicherheitsdienst Erfurt/Thüringen. Die Haftanstalt Andreasstraße 37, 1952/54– 1989, Erfurt 2000; Weinke, Annette; Hacke, Gerald: U-Haft am Elbhang. Die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Dresden 1945 bis 1989/1990 (Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Bd. 9), Dresden 2004; Beleites, Johannes: Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Schwerin, Schwerin 2001; Drescher, Anne; Herbstritt, Georg; Mothes, Jörn: Gedenken – Erinnern – Lernen. Der Demmlerplatz in Schwerin 1914 bis 1997, Schwerin 1997; Sperk, Alexander: Die MfS-Untersuchungshaftanstalt »Roter Ochse« Halle/Saale von 1950 bis 1989. Eine Dokumentation (Gedenkstätten und Gedenkstättenarbeit im Land Sachsen-Anhalt, 4), Halle 1998. 23 Die Studie zur UHA Rostock beleuchtet zentral die an diesem Ort eingesetzten Zellenspitzel zur operativen »Bearbeitung« der Untersuchungshäftlinge. Vgl. Schekahn, Jenny; Wunschik, Tobias: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock. Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen in der Ära Honecker (BF informiert, 31), Berlin 2012; Bastian, Alexander: Repression, Haft und Geschlecht. Die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit MagdeburgNeustadt 1958–1989 (Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands, 1), Halle (Saale) 2012. 24 Eine Überblicksdarstellung zu dieser MfS-Diensteinheit ist in der Forschungsabteilung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen seit mehreren Jahren in Arbeit. 2015 wird die Studie von Roger Engelmann und Frank Joestel in der BStU-Reihe »Anatomie der Staatssicherheit, MfSHandbuch« publiziert. 25 Vgl. Joestel, Frank: Verdächtigt und beschuldigt. Statistische Erhebungen zur MfSUntersuchungstätigkeit 1971–1988. In: Engelmann; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 302–327; Ders.: Die »Rechtspfleger« von der Sicherheit. Zur Rolle der MfSUntersuchungsorgane bei der strafrechtlichen Verfolgung von widerständigem Verhalten in den späten achtziger Jahren. In: Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Recht und Rechtsprechung in der DDR? Vorträge in der Gedenkstätte »Roter Ochse« Halle (Saale), Magdeburg 2002, S. 44–62; Ders. (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988. Der letzte Jahresbericht der MfS-Hauptabteilung Untersuchung, Berlin 2003.

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zieren und damit deren jeweilige Funktionen bei der strafrechtlichen Bekämpfung widerständigen Verhaltens zu sondieren.26 Johannes Raschka hat in mehreren Studien den Umfang kriminalrechtlich orientierter politischer Verfolgung wie auch den Wandel strafrechtlicher Repressionsmechanismen grundlegend untersucht.27 Insbesondere seine quellengesättigte Darstellung der Strafrechtspolitik in der Ära Honecker konnte für die hier vorliegende Publikation nutzbringend berücksichtigt werden.28 Darüber hinaus erschienen seit den neunziger Jahren zahlreiche Arbeiten zum strategischen Vorgehen des DDR-Staatssicherheitsdienstes bei der Verfolgung abweichenden Verhaltens im Allgemeinen wie beispielsweise im Rahmen der Bekämpfung der Ausreisebewegung – ein Themenbereich, dem sich insbesondere Bernd Eisenfeld ausführlich gewidmet hat.29 26 Vgl. Engelmann, Roger: Diener zweier Herren. Das Verhältnis der Staatssicherheit zur SED und den sowjetischen Beratern 1950–1959. In: Suckut; Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit, S. 51–72; Ders.: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau. Zur Entwicklung geheimpolizeilicher und justitieller Strukturen im Bereich der politischen Strafverfolgung 1950–1963. In: Ders.; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 133–164; Ders.: Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit durch sowjetische Organe 1949–1959. In: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ/DDR 1945–1955, Dresden 2001, S. 55–64; Ders.: Schauprozesse und Staatssicherheit. Zur Schlüsselrolle der Geheimpolizei bei der Inszenierung des Strafrechts in der frühen DDR. In: Marxen, Klaus (Hg.): Inszenierungen des Rechts. Schauprozesse, Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, Berlin 2006, S. 85–100; Ders.: Blutjustiz als politisches Lehrstück. Todesurteile in DDR-Schauprozessen der fünfziger Jahre. In: Horch & Guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur 17(2008)59, S. 8–13; Vollnhals, Clemens: Der Schein der Normalität. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Suckut; Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit, S. 213–247; Ders.: »Die Macht ist das Allererste«; Ders.: Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 2000; Ders.: Denunziation und Strafverfolgung im Auftrag der »Partei«. Das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR. In: Ders.; Weber, Jürgen (Hg.): Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur, München 2002, S. 113–156. 27 Vgl. Raschka, Johannes: »Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik«. Zur Zahl der politischen Häftlinge während der Amtszeit Honeckers (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung: Berichte und Studien, 11), Dresden 1997; Ders.: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung. Zur politischen Repression in der Amtszeit Honeckers (Berichte und Studien/HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung, 14), Dresden 1998; Ders.: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers. In: Engelmann; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 273–302; Ders.: Herrschaftssicherung durch Strafrechtssprechung. Politische Justiz in der DDR als Instrument zur Bekämpfung von Flucht und Ausreise. In: Boyer, Christoph; Skyba, Peter (Hg.): Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der ČSSR (Berichte und Studien/Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 20), Dresden 1999, S. 99–107; Ders.: Zwischen Überwachung und Repression. Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989, Opladen 2001. 28 Vgl. Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers, Köln 2000. 29 Vgl. Eisenfeld, Bernd: Die Ausreisebewegung. Eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In: Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDRGeschichte, 6), Berlin 1995, S. 192–223; Ders.: Die Verfolgung der Antragsteller auf Ausreise. In:

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Ebenso wurden in der Forschung verschiedene Aspekte der Untersuchungshaft erörtert: Katrin Passens fragte zuletzt aus politikwissenschaftlicher Perspektive nach deren Funktionswandel innerhalb des Repressionssystems in der Ära Honecker.30 Ulrich Huemer beleuchtete die Wahrnehmung strafrechtlicher Verfolgung durch das MfS und insbesondere ihre Wirkung auf (noch nicht oder nicht mehr inhaftierte) Oppositionelle und Bürgerrechtler in den späten siebziger und achtziger Jahren.31 Generell sind somit einzelne Aspekte der MfS-Untersuchungshaft und der in den Gefängnissen des Staatssicherheitsdienstes angesiedelten Ermittlungseinheiten erforscht; die Zentrale in Berlin-Hohenschönhausen stand jedoch ungeachtet ihrer anzunehmenden Bedeutung als Repressionsinstrument in der DDR bislang nicht dezidiert im Mittelpunkt. Die politische Justiz in der DDR war bereits vor 1989 Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.32 Ohne allerdings auf Archivmaterialien in der DDR zurückgreifen zu können, basierten auch diese (in der Bundesrepublik erstellten) Analysen überwiegend auf Dokumentationen politisch Ver-

Baumann, Ulrich; Kury, Helmut (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung. Opfer von SED-Unrecht, Freiburg 1998, S. 117–136; Ders.: Strategien des Ministeriums für Staatssicherheit zur Steuerung der Ausreisebewegung. In: Ders.; Lochen, Hans-Hermann; Kukutz, Irena; Hilse, Werner (Hg.): Ausreisen oder dableiben? Regulierungsstrategien der Staatssicherheit (Analysen und Berichte, Reihe B, 1/97), Berlin 1998, S. 6–18; Ders.: Kampf gegen Flucht und Ausreise. Die Rolle der Zentralen Koordinierungsgruppe. In: Knabe, Hubertus (Hg.): Die West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von »Aufklärung« und »Abwehr«, Berlin 1999, S. 273–283; Ders.: Die Kriminalisierung der Antragsteller auf Ausreise. In: Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Recht und Rechtsprechung in der DDR?, S. 63–76; Ders.: Flucht und Ausreise. Erkenntnisse und Erfahrungen. In: Vollnhals; Weber (Hg.): Der Schein der Normalität, S. 341–372; Ders.: Die Abstimmung mit dem Ausreiseantrag. Ein Untergangsbazillus der DDR. In: Bleiben oder gehen? Ein deutsches Problem (Schriftenreihe des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung, 16), Berlin 2005, S. 25–42. Vgl. auch Engelmann, Roger: Funktionswandel der Staatssicherheit. In: Boyer; Skyba (Hg.): Repression und Wohlstandsversprechen, S. 89–97; Knabe: Strafen ohne Strafrecht. 30 Vgl. Passens, Katrin: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989, Berlin 2012. 31 Vgl. Huemer, Ulrich: Die Strategien der DDR-Opposition angesichts der Bedrohung durch das politische Strafrecht in der Ära Honecker. In: Härter, Karl; de Graaf, Beatrice (Hg.): Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 268), Frankfurt/M. 2012, S. 353–364. Huemer, Ulrich: »Ehrlich sitzt am Längsten«. Der Umgang der DDR-Opposition mit der MfS-Untersuchungshaft in den achtziger Jahren. In: Ansorg, Leonore; Gehrke, Bernd; Klein, Thomas; Kneipp, Danuta (Hg.): »Das Land ist still – noch!«. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989), Köln/Weimar/Berlin 2009, S. 303–325. Vgl. auch Bauer, Babett: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971–1989); historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 30), Göttingen 2006, insbesondere S. 97 ff. 32 Zur Definition politischer Justiz vgl. Kirchheimer, Otto: Funktionen des Staats und der Verfassung. Zehn Analysen (Edition Suhrkamp, 548), Frankfurt/M. 1972, S. 143: »Wenn gerichtsförmige Verfahren politischen Zwecken dienstbar gemacht werden, sprechen wir von politischer Justiz.«

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urteilter, die nach ihrer Freilassung in den Westen übersiedeln konnten.33 Die »Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen« in Salzgitter war hinsichtlich der Sammlung von Hinweisen zu politisch motivierter Verfolgung, entsprechenden gerichtlichen Verurteilungen oder auch Misshandlungen von Strafgefangenen in der DDR bis 1989/90 federführend.34 Mit Öffnung der geheimdienstlichen wie auch der übrigen staatlichen Archive im Zuge der Wiedervereinigung setzte schließlich in den neunziger Jahren eine breite geschichts-, politik-, aber auch rechtswissenschaftliche Forschung ein. Zum einen standen der organisatorische Aufbau und die Arbeitsweise der DDR-Justizorgane im Mittelpunkt; vor allem aber wurden unter der Frage nach politischer Steuerung der Rechtsprechung die Verschränkungen von Parteieinrichtungen der SED, Staatsanwaltschaften und Gerichten zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.35 Auch das der Justiz in der DDR

33 Vgl. insbesondere Fricke, Karl Wilhelm: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR, Köln 1988; Ders.: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968; Bericht und Dokumentation, Köln 1990. Vgl. ferner Lehmann, Hans-Dietrich: Politische Kriminalität/Politische Justiz. Überlegungen zu 40 Jahren politischer Strafjustiz in der DDR. In: Janssen, Helmut; Schubert, Michael (Hg.): Staatssicherheit. Die Bekämpfung des politischen Feindes im Innern, Bielefeld 1990, S. 170–186. 34 Vgl. Sauer, Heiner; Plumeyer, Hans-Otto: Der Salzgitter-Report. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat, Esslingen/München 1991. 35 Vgl. Marxen, Klaus (Hg.): Inszenierungen des Rechts. Schauprozesse, Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, Berlin 2006; Strempel, Dieter: Politische Steuerung der Justiz in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Timmermann (Hg.): Die DDR, S. 27–36; Mollnau, Karl A.: Die staatsanwaltliche Gesetzlichkeitsaufsicht in der DDR als gescheiterter Versuch eines sowjetischen Rechtstransfers. In: Bender, Gerd; Falk, Ulrich (Hg.): Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989). Bd. 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, Frankfurt/M. 1999, S. 241–277; Rottleuthner, Hubert: Steuerung der Justiz in der DDR. In: Drobnig, Ulrich (Hg.): Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel. Partei und Justiz, Mauerschützen und Rechtsbeugung, Berlin 1998, S. 25–41; Lehmann, Hans-Dietrich: Leitung und Lenkung der Rechtsprechung durch das Oberste Gericht der DDR. In: Drobnig (Hg.): Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel, S. 43–48; Keppler, Birte E.: Die Leitungsinstrumente des Obersten Gerichts der DDR. Unter besonderer Berücksichtigung von Richtlinien und Beschlüssen zum Recht der Untersuchungshaft (Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, S 75), Freiburg im Breisgau 1998; Behlert, Wolfgang: Staatsanwaltschaft und politisches System in der DDR. Außen-, Kontext-, Selbststeuerung. In: Drobnig (Hg.): Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel, S. 49–60; Wendel, Eberhard: Ulbricht als Richter und Henker. Stalinistische Justiz im Parteiauftrag: Zeugnisse deutscher Geschichte, Berlin 1996; Meyer-Seitz, Christian: SED-Einfluss auf die Justiz in der Ära Honecker. In: DA 28(1995)1, S. 32–42; Grasemann, Hans-Jürgen: »Wenn die Partei Weisung gibt, folgen die Richter«. Die politische Strafjustiz als Instrument von SED und Staatssicherheit. In: Weber, Jürgen (Hg.): Der SED-Staat. Neues über eine vergangene Diktatur, München 1994, S. 23–50; Fricke, Karl Wilhelm: Zur politischen Strafrechtsprechung des Obersten Gerichts der DDR (Vortrag: 21. März 1994), Heidelberg 1994; Rottleuthner, Hubert: Steuerung der Justiz in der DDR. In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1992, S. 147–167; Werkentin, Falco: Walter Ulbricht als oberster Gerichtsherr. DDR-Strafjustiz in den fünfziger Jahren. In: Vorgänge 30(1991)5, S. 1–15.

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zugrundeliegende Rechtsverständnis ist seitdem in mehreren Arbeiten beleuchtet worden.36 Insbesondere stand hier die Funktion der politischen Justiz als Instrument zur Herrschaftsimplementierung und -stabilisierung im Fokus der Untersuchungen.37 Für die Ära Ulbricht sei das nach wie vor einschlägige Werk von Falco Werkentin aus dem Jahr 1997 erwähnt, welches der Ausgestaltung und der Schwerpunktsetzung politischer Strafjustiz zwischen 1949 und 1970 nachgeht.38 Der Autor stellte hierin vornehmlich heraus, dass sich diese Epoche durch starke Verflechtungen zwischen SED-Führung und den Justizorganen, wenn nicht gar durch eine direkte Anleitung der Judikative durch die Staatspartei auszeichnete, bei der das Recht als Mittel zur Ausschaltung politischer Gegnerschaft kennzeichnend war und niemals infrage stand. Zudem erarbeitete Werkentin anhand zahlreicher Fallbeispiele, dass eine richterliche Unabhängigkeit in der frühen staatssozialistischen DDR zu keinem Zeitpunkt erwünscht war, sondern das Recht – politisch orientiert – als regelrechter »Hebel bei der sozialistischen Umgestaltung«39 fungierte. Für die siebziger und achtziger Jahre liegen mehrere Veröffentlichungen von Clemens Vollnhals vor, der der DDR-Strafjustiz insbesondere am Beispiel der Dissidenten Robert Have36 Vgl. Rottleuthner, Hubert: Vom »völkischen Rechtsdenken« zur »sozialistischen Gesetzlichkeit«. Geschichtspolitik und Vergleiche. In: Apelt, Andreas; Grünbaum, Robert; Gutzeit, Martin (Hg.): Von der SED-Diktatur zum Rechtsstaat. Der Umgang mit Recht und Justiz in der SBZ/DDR, Berlin 2012, S. 31–43; Stolleis, Michael: Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009; Gursky, André: Zum Rechtsverständnis des MfS zwischen 1950–1960. In: Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Recht und Rechtsprechung in der DDR, S. 31–43; Bender, Gerd; Falk, Ulrich (Hg.): Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989). Bd. 3: Sozialistische Gesetzlichkeit, Frankfurt/M. 1999; Marxen, Klaus: »Recht« im Verständnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Engelmann; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 15–24; Arnold, Jörg: Strafgesetzgebung und -rechtsprechung als Mittel der Politik in der DDR. In: Ders. (Hg.): Die Normalität des Strafrechts in der DDR. Bd. 1, Gesammelte Beiträge und Dokumente (unter Mitarbeit von Birte E. Keppler, Volker Kreft, Martin Kühl, Siegfried Lammich und Detlef Mäder) (Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, S 52/1), Freiburg 1995, S. 63–78; Brunner, Georg: Das Rechtsverständnis der SED (1961– 1989). In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland«: (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat (Bd. IV), Baden-Baden 1995, S. 293–336. 37 Vgl. dazu insbesondere den Sammelband, herausgegeben von Roger Engelmann und Clemens Vollnhals: Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999. 38 Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression (Forschungen zur DDR-Geschichte, 1), Berlin 1997. 39 Streit, Josef: Die Justizorgane sind wichtige Hebel bei der sozialistischen Umgestaltung. In: Neue Justiz, Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft 13(1959)23, S. 789–793. Streit war zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung Sektorenleiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim Zentralkomitee der SED, von 1962 bis 1986 war er Generalstaatsanwalt der DDR. Vgl. Müller-Enbergs, Helmut: Eintrag zu Streit, Josef Ernst. In: Ders. et al. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien (Bd. 2, M–Z), S. 1289 f.

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mann und Rudolf Bahro eine weitgehende »Normalisierung« der Rechtsanwendung bei mittlerweile überwiegend subtil ausgeübter Steuerung durch die SED-Führung attestiert.40 Hierbei handelte es sich allerdings um exponierte »Orchideenfälle«, bei denen die SED-Führung nachweislich offensiv ihre politischen Interessen durchsetzte. Derartig prominente Beispiele lassen allerdings kaum Rückschlüsse auf den Justizalltag im Fall von MfS-ermittelten Verfahren in der (späten) DDR zu. Eine Studie, welche die Funktion der in Berlin-Hohenschönhausen ansässigen Hauptabteilung IX für die Ausgestaltung rechtlicher Normen wie auch die Rolle bei deren konkreter Implementierung in den Blick nimmt, steht also nach wie vor aus. Insgesamt ist weder die Relevanz der zentralen MfSUntersuchungshaftanstalt im Gefüge der Repressionsinstrumente der DDR beleuchtet worden, noch liegen repräsentative Studien zu den biographischen Hintergründen der dort Inhaftierten vor. Welche Auswirkungen die Tätigkeit vor Ort auf die Arbeitsweise des Ermittlungsorgans und der Haftvollzugsabteilung entfaltete, muss ebenso als ein Forschungsdesiderat erachtet werden. Ob und in welchem Umfang die in Berlin-Hohenschönhausen ansässige Hauptabteilung Untersuchung Einfluss auf gerichtliche Verfahren nahm, ist bislang gleichfalls nicht auf breiter empirischer Grundlage erörtert worden.

Quellenlage Quellenlage

Die vorliegende Studie widmet sich der MfS-Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive. Zentrale Quellengrundlage bildet das Schriftgut des früheren DDR-Geheimdienstes beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin (BStU): Die Bestände der Hauptabteilung IX und der Abteilung XIV sind als maßgebliche Basis dieser Untersuchung berücksichtigt worden – daneben Materialien der HA Kader und Schulung (KuSch), des Büros der Leitung (BdL), der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG), der Rechtsstelle, der Juristischen Hochschule Potsdam (JHS) sowie des Sekretariats des Ministers (SdM). Um die Dynamiken in der strafrechtlichen Verfolgungspraxis nachzuvollziehen, wurden von der HA IX erstellte Monats- und Jahresberichte untersucht. Zwischen Oktober 1955 und Oktober 1989 fertigte das Ermittlungsorgan des Staatssicherheitsdienstes zu Auswertungszwecken durchgängig interne

40 Vgl. Vollnhals, Clemens: »Die Macht ist das Allererste«. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Ders.; Engelmann (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 227–271; Ders.: Der Schein der Normalität. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Suckut; Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit, S. 213–247. Vgl. auch Ders.: Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 2000.

Quellenlage

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Statistiken und Berichte an, in denen die Dimensionen strafrechtlicher Ermittlungstätigkeit quantitativ wie qualitativ analysiert wurden. Um Aussagen über die Zusammensetzung der Untersuchungsgefangenen insgesamt zu treffen, kann auf ein vollständiges Verzeichnis der Hohenschönhausener Häftlinge auf der Grundlage von Unterlagen der Haftvollzugsabteilung zurückgegriffen werden. Dieses Register gibt einen Überblick über die Anzahl derjenigen Personen, die zwischen 1951 und 1989 in das Untersuchungsgefängnis eingeliefert wurden.41 Es bietet daneben die wertvolle Möglichkeit, die Gesamtheit der Untersuchungshäftlinge statistisch in den Blick zu nehmen. Für 10 778 Hohenschönhausener Häftlinge können anhand dieser Materialien Angaben zu ihrem Geschlecht, zum Alter bei ihrer Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis und zur Dauer ihres Aufenthaltes in der Haftanstalt entnommen werden.42 Bislang liegen lediglich für drei weitere MfS-Untersuchungsgefängnisse valide Daten über die jeweilige Häftlingsbelegung vor, nämlich für das »Lindenhotel« in Potsdam, die Haftanstalt Magdeburg-Neustadt und zum Teil für die UHA »Roter Ochse« in Halle/Saale.43 Bei einer jüngst erschienenen Studie zum Rostocker MfS-Untersuchungsgefängnis hingegen lag der Schwerpunkt 41 Vgl. Kladden der Abt. XIV Berlin-Hohenschönhausen; BStU, MfS, Abt. XIV, Nrn. 16782, 16784, 16786, 16787, 16790, 16791, 16792, 16793, 16794, 16795, 16796 und 16798. Hier muss eingeräumt werden, dass dieses Datenmaterial sämtliche Personen umfasst, d. h. teilweise auch Strafgefangene oder bereits in anderen UHA Inhaftierte, die zur Vernehmung als Zeugen zeitweise nach Hohenschönhausen verlegt wurden. Die Abteilung XIV war aufgrund ihres Tätigkeitszuschnitts nicht darüber informiert, zu welchem Zweck sich die eingelieferten Personen in der Haftanstalt befanden. Um darüber letztendlich einen Überblick zu erhalten, müssten von allen Personen die dazugehörigen Untersuchungsvorgänge der HA IX bzw. die Beschuldigtenkarteikarten eingesehen werden – im Rahmen der hier durchgeführten Studie bei mehr als 10 000 Einlieferungen ein nicht zu bewältigendes Unterfangen. 42 In Hohenschönhausen waren unter der Ägide des MfS etwa 200 Personen mehr inhaftiert. Nicht bei allen Häftlingen sind die Daten für eine statistische Berechnung jedoch vollständig: So fehlen beispielsweise teilweise die Datumsangaben zur Einlieferung bzw. Entlassung, gelegentlich fehlt das Geburtsdatum. Auf das für die jeweilige statistische Untersuchung vorhandene Datenmaterial wird an entsprechender Stelle eingegangen. 43 Zur Erfurter Untersuchungshaftanstalt liegen nur äußerst bruchstückhafte Informationen vor, die Geschlechterzusammensetzung lässt sich für diese Haftanstalt lediglich für die Zeit ab 1966 nachvollziehen. Vgl. Herz, Andrea; Fiege, Wolfgang: Untersuchungshaft und Strafverfolgung beim Staatssicherheitsdienst Erfurt/Thüringen. Die Haftanstalt Andreasstraße 37, 1952/54–1989, Erfurt 2000, S. 57. Vgl. auch Herz, Andrea: Die Erfurter Untersuchungshaftanstalt der DDRStaatssicherheit 1952 bis 1989 (unter Mitarbeit von Wolfgang Fiege), Erfurt 2006. In letztgenannter Publikation finden sich allerdings keine Angaben zur sozialen Zusammensetzung der Häftlingsbelegschaft. In Magdeburg beginnen die Statistiken der Abt. XIV 1952. Für die UHA Halle sind bislang nur Daten zur Geschlechterverteilung veröffentlicht worden. Vgl. Schnell, Gabriele (Hg.): Das »Lindenhotel«, S. 7. Vgl. Bastian, Alexander: Repression, Haft und Geschlecht. Vgl. Sperk, Alexander: Die MfS-Untersuchungshaftanstalt »Roter Ochse« Halle/Saale von 1950 bis 1989. Eine Dokumentation, Halle 1998. Vgl. auch Sperk, Alexander; Bohse, Daniel; Vesting, Justus; Gursky, André (Red.): Katalogteil Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Scherrieble, Joachim (Hg.): Der Rote Ochse Halle (Saale). Politische Justiz 1933–1945/1945–1989, Berlin 2008, S. 372.

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Einleitung

auf den sogenannten Zelleninformatoren (ZI), die dort in den siebziger und achtziger Jahren zum Einsatz kamen.44 Neben Archivmaterialien der HA IX und der Abteilung XIV, welche die Dienstpraxis beider Einheiten zum Gegenstand haben,45 bilden interne Qualifizierungsarbeiten, die an der ministeriumseigenen Juristischen Hochschule (JHS) eingereicht wurden, eine wichtige Grundlage der Untersuchung. Da die MfS-Mitarbeiter in ihren Ausführungen unter anderem die alltägliche Dienstpraxis reflektierten, sind sämtliche Diplom- und Fachschularbeiten, die Angehörige des Ermittlungsorgans und der Vollzugsabteilung bis 1989 verfasst haben, im Hinblick auf den Haftalltag und vernehmungstaktische Gesichtspunkte einer Auswertung unterzogen worden.46 Um der Frage nach den Rückwirkungen der Ermittlungsverfahren und der Untersuchungshaft auf die Arbeitspraxis der involvierten Diensteinheiten wie auch nach möglichen Verflechtungen zwischen der Ermittlungszentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen und der politisch orientierten Rechtsprechung in der DDR nachzugehen, sind neben den bereits genannten Beständen insbesondere diejenigen der Hauptabteilung IX, des MfS-Leitungsbüros (BdL), daneben der ZAIG, der MfS-Rechtsstelle, der JHS Potsdam sowie des Ministersekretariats (SdM) von Bedeutung. Hier finden sich beispielsweise Arbeitsvorlagen für die Beratungen mit den Justizorganen (Leiterberatungen), interne Positionspapiere zu diversen juristischen Problemstellungen oder Analysen zu praxisbezogenen Facetten des Untersuchungshaftvollzugs und der Ermittlungsarbeit. Im Unterschied zu bisherigen Studien zu Untersuchungshaft und Ermittlungsverfahren des Staatssicherheitsdienstes war es im Ergebnis der siebten und achten Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) möglich, auf breiter Basis personenbezogene Aktenbestände zu den in Hohenschönhausen durchgeführten Verhaftungen und Untersuchungsverfahren zu Forschungszwecken zu sichten.47 Um repräsentative Aussagen über die Vorgehensweise

44 Vgl. Schekahn, Jenny; Wunschik, Tobias: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock, Berlin 2012. 45 Beispielsweise Richtlinien, Dienstanweisungen, Durchführungsbestimmungen, Befehle oder Schulungsunterlagen. 46 Vgl. Förster, Günter: Die Juristische Hochschule des MfS. Absolventenverzeichnis der Diplomstudiengänge bis 1990. Bibliographie der Diplomarbeiten und Abschlussarbeiten im postgradualen Studium, Berlin 2005. 47 Die Einsichtnahme in diese Aktenbestände erfolgte auf der Grundlage von § 32 Abs. 1 Ziff. 7 StUG, bei der Verwendung werden die Kriterien nach § 32 Abs. 3 StUG befolgt. Namen und Personendaten von Betroffenen im Sinne des § 6 Abs. 1 StUG werden anonymisiert bzw. pseudonymisiert, sofern es sich nicht um Personen der Zeitgeschichte handelt, um Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger, um Personen, die seit mindestens 30 Jahren verstorben sind bzw. deren Geburtsdatum mehr als 110 Jahre zurückliegt, sie in die Veröffentlichung eingewilligt haben oder deren personenbezogene Informationen offenkundig sind. Vgl. Gesetz über die Unterlagen des Staatssicher-

Quellenlage

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und die dienstpraktischen Schwerpunkte der zuständigen MfS-Einheiten XIV und IX treffen zu können, wurden rund 470 Ermittlungsverfahren mit Haft der HA IX ausgewertet; exemplarisch rund zwölf für jedes Jahr zwischen 1951 und 1989. Die von der Stasi als Untersuchungsvorgänge bezeichneten Ermittlungsakten enthalten sämtliche MfS-internen sowie die nach der Strafprozessordnung erforderlichen offiziellen Unterlagen: Haftbeschlüsse, Verfügungen über die Einleitung eines Verfahrens, Effekten- und Beweismittelaufstellungen, Pläne für den Ablauf der Ermittlungen, Vernehmungsprotokolle, aber auch die staatsanwaltlichen Anklageschriften und gerichtlichen Urteile. Daneben wurden Haftakten der Abteilung XIV herangezogen, welche beim BStU – wie zuvor im Archiv des Staatssicherheitsdienstes (MfS-Abteilung XII) – in der »Allgemeinen Sachablage« (AS) abgelegt sind.48 Dieser Bestand beinhaltet personenbezogen erfasste Informationen über besondere Vorkommnisse im Vollzugsbetrieb und über Vergünstigungs- respektive Sanktionierungsmaßnahmen gegenüber den Häftlingen. Hier finden sich zudem Aufzeichnungen über den Post- und Besuchsverkehr der Insassen, das im Verfahren eingesetzte Vernehmungspersonal der HA IX sowie Nachweise über ärztliche Konsultationen und medizinische Behandlungen in der Haftanstalt. Zusätzlich wurden zu den ausgewählten Personen – sofern vorhanden und für die Untersuchung notwendig – Operative Vorgänge/Personenkontrollen (AOP), Vorgänge zu Inoffiziellen Mitarbeitern (AIM) und Unterlagen zu sogenannten Zelleninformatoren (AZI) gesichtet und ausgewertet. Da die konkrete Realität in der Haftanstalt in den offiziellen MfS-Akten nur bedingt Niederschlag fand beziehungsweise ausschließlich die Sichtweise der vor Ort eingesetzten Mitarbeiter abbildet, floss ein umfangreicher Bestand an Ego-Dokumenten wie Haftberichte sowie Interviews mit ehemaligen Gefangenen in die Studie ein. Seit 1996 unterhält die Stiftung »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen« zur Befragung früherer Insassen und zur Würdigung ihrer jeweiligen Haftschicksale ein »Zeitzeugenbüro«, dessen Sammlung für diese Arbeit genutzt werden konnte. Mehr als 400 lebensgeschichtliche narrative Erinnerungsinterviews liegen im dortigen Archiv49 in transkribierter Form vor; rund 200 von ihnen wurden bereits mit Schlagwörtern versehen und dadurch für weitere datenbankgestützte Recherchen aufbereitet.50 Diese heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik i.d.F. vom 22. Dezember 2011, BGBl. 2012 I, S. 442 ff. 48 Vgl. Abteilung Archivbestände (Hg. BStU): Findbuch zum »Archivbestand 2: Allgemeine Sachablage« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Archiv zur DDR-Staatssicherheit, 4), Münster 2001, insbesondere S. 143 ff. 49 Im Folgenden abgekürzt als »ZZA-HSH« (Zeitzeugenarchiv der Stiftung »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«). 50 Von 2008 bis 2009 war die Autorin gemeinsam mit Christina Lazai und Edgar Voß mit der Verschlagwortung und Auswertung betraut. Nicht alle der dort vorliegenden Interviews betreffen Häftlinge der UHA Berlin-Hohenschönhausen, sondern ebenso das Strafgefangenenarbeitskomman-

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Einleitung

Materialien ergänzen nicht nur die Quellen des Ministeriums für Staatssicherheit um die wertvolle Perspektive der früheren Insassen; sie liefern auch eindrückliche Belege für die individuelle Wahrnehmung der vom MfS im Rahmen von Ermittlungsverfahren und Untersuchungshaft angewendeten Maßnahmen und Arbeitstechniken sowie generell für die persönlichen Erfahrungen der Insassen während ihrer Inhaftierung.51 Insgesamt lassen sich aus diesem Interviewbestand umfangreiche Detailinformationen zu einzelnen Facetten des Haftalltags und der Ermittlungspraxis aus der Sicht ehemaliger Untersuchungsgefangener ableiten. Durch die Synthese unterschiedlicher Archivbestände und Quellenarten wird im Folgenden die Geschichte der MfSUntersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen zwischen 1951 und 1989 in deren Funktion und Bedeutung als zentralem Ort strafrechtlicher Repression in der DDR auf breiter Ebene nachvollzogen.

do, das »Lager X« nördlich des U-Haft-Komplexes sowie andere Untersuchungsgefängnisse. Für diese Studie wurden jedoch nur die Befragungstranskriptionen zur UHA Hohenschönhausen berücksichtigt. Zum methodologischen Konzept der narrativen Erinnerungsinterviews als Mittel historiographischer Erfahrungswissenschaft vgl. Bauer: Kontrolle und Repression, S. 38 ff. 51 Sofern aus den gedenkstätteneigenen Aufzeichnungen nicht ersichtlich war, dass die Befragten ihr ausdrückliches Einverständnis für eine forschungsbezogene Verwendung einschließlich der vollständigen Namensnennung erklärt haben, wurden die Namen und Personendaten wie bei der Verwendung personenbezogener Unterlagen des BStU anonymisiert oder (zur besseren Lesbarkeit) pseudonymisiert.

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Die Ermittlungs- und Untersuchungshaftzentrale des DDR-Staatssicherheitsdienstes in BerlinHohenschönhausen

Die Ermittlungs- und Untersuchungshaftzentrale Zu den zahlreichen Eigenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit zählte, dass unter dessen Dach üblicherweise getrennte Kompetenzbereiche geheimdienstlicher und polizeilicher Institutionen gebündelt waren: Das MfS war innerstaatliche Geheimpolizei, Auslandsnachrichtendienst und auch Ermittlungsbehörde mit weitreichenden strafverfahrensrechtlichen Befugnissen in einem. Wie einleitend erwähnt, verfügte der Staatssicherheitsdienst über 17 eigene Untersuchungshaftanstalten. Daneben befehligte die Stasi eigene bewaffnete Kräfte.1 Die einzelnen Diensteinheiten des Ministeriums waren in ihren Tätigkeitsfeldern zwar gewissermaßen arbeitsteilig spezialisiert; die Grenzen zwischen verdeckter polizeilicher Ermittlung im Inland, nachrichtendienstlicher Spionage im Ausland und strafrechtlicher Untersuchung waren indes fließend. In (vor allem politischen) Strafverfahren kam dem MfS eine besondere Funktion zu: Denn auch auf dem Gebiet der Rechtspflege hatte es nicht weniger als »die staatliche Sicherheit und den Schutz der Deutschen Demokratischen Republik«2 zu gewährleisten. Die Bandbreite an Zuständigkeiten, die die Staatssicherheit de facto ausfüllte, verdeutlicht in vielerlei Hinsicht, dass es sich bei dieser Institution keineswegs um einen gewöhnlichen Geheimdienst nach herkömmlichem, insbesondere westlich-demokratischem Verständnis handelte.3 Ein klar umrissenes und abgrenzbares, geschweige denn überhaupt per 1 Der Strafvollzug für verurteilte Häftlinge unterlag hingegen – mit Ausnahme der Sonderhaftanstalt Bautzen II – vollständig der Verantwortung des Ministeriums des Innern, wohin auch diejenigen Gefangenen zur Strafverbüßung gelangten, die zuvor während des Ermittlungsverfahrens in den MfS-geführten Untersuchungshaftanstalten einsaßen. Gleichwohl überwachte eine eigene Diensteinheit des Staatssicherheitsdienstes die Strafvollzugseinrichtungen in der DDR. Vgl. Wunschik, Tobias: Hauptabteilung VII: Ministerium des Innern, Deutsche Volkspolizei (MfS-Handbuch, III/15), Berlin 2009. Vgl. Ders.: Das »Organ Strafvollzug« im Ministerium des Inneren der DDR. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR. Politik und Ideologie als Instrument (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V., Bd. 86), Berlin 1999, S. 489–505. 2 Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969 (Dokument 29). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 183. 3 Vgl. Heidemeyer, Helge: SED und Ministerium für Staatssicherheit. »Schild und Schwert der Partei«. In: Gieseke, Jens; Wentker, Hermann (Hg.): Die Geschichte der SED. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2011, S. 116.

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Die Ermittlungs- und Untersuchungshaftzentrale

Gesetz definiertes Verantwortungsgebiet war ebenso wenig vorhanden wie andererseits staatliche Instanzen fehlten, die das Ministerium beaufsichtigten oder kontrollierten.4 Auch die Marschrichtung, die das MfS in Erfüllung seines staatsparteilichen Auftrags einschlug, ist tendenziell eher ein Spezifikum kommunistischer Geheimpolizeien als der von In- und Auslandsgeheimdiensten westlicher parlamentarischer Demokratien: Nicht der Schutz der Verfassungsgrundsätze und der darin verbrieften Individualrechte, sondern die Absicherung von der Staatspartei angeordneter politischer Maßnahmen war Sinn und Zweck des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Die Schlüsselaufgabe des MfS insgesamt bestand nach eigenem Verständnis grob umrissen darin, »feindliche Agenturen zu zerschlagen, Geheimdienstzentralen zu zersetzen und andere politisch-operative Maßnahmen gegen die Zentren des Feindes durchzuführen und [...] ihre geheimen subversiven Pläne und Absichten, ihre konspirative Tätigkeit […] offensiv aufzudecken«.5 Die »politisch-operative Abwehrarbeit« sollte und durfte dabei mit »spezifischen Mitteln und Methoden« erfolgen.6 Diese Mittel und Methoden hatten dabei so zum Einsatz zu kommen, dass die allzeit gefürchtete Offenbarung der internen Struktur und der überwiegend geheimdienstlichen Arbeitsweise des MfS vermieden wurde. So ist es zu erklären, dass sowohl gesetzlich-dienstliche als auch extralegale Normen, welche die Arbeit des DDR-Staatssicherheitsdienstes vornehmlich nach innen regelten, also an die eigenen Mitarbeiter gerichtet waren; außerhalb des Apparates waren sie nicht zugänglich und daher unbekannt. Denn die Stasi nahm als verdeckt operierendes Ministerium eine herausgehobene Stellung ein: Sie definierte ihre internen Bestimmungen aus ihrer praktischen Tätigkeit heraus, stets orientiert auf die Durchsetzung des politischen Kurses der SED als ihrer formellen und ideologischen Auftraggeberin.7 Diesen internen Dienstanweisungen, Richtlinien oder Beschlüssen haftete ein mindestens ebenso hoher Bindungscharakter wie anderen staatlichen Normen an. Die Tätigkeit

4 So trägt das »Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit« vom 8. Februar 1950 eher informativen Charakter: »Die bisher dem Ministerium des Innern unterstellte Hauptverwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft wird zu einem selbständigen Ministerium für Staatssicherheit umgebildet. Das Gesetz vom 7. Oktober 1949 über die Provisorische Regierung der Deutschen Demokratischen Republik […] wird entsprechend geändert.« GBl. 1950 I, S. 95. Über die inhaltliche Ausrichtung oder gar Befugnisse oder Beschränkungen enthält das Gesetz nichts. Das MfS war in der Praxis ausschließlich der SED rechenschaftspflichtig, ausschließlich diese war gegenüber dem MfS weisungsbefugt. 5 Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969, S. 184. 6 Ebenda, S. 183. Vgl. Eintrag »Abwehrarbeit, politisch-operative«. In: Suckut (Hg.): Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 7 ff. 7 So hieß es MfS-intern 1969: »Der Minister erlässt im Rahmen seiner Zuständigkeit allgemeinverbindliche Rechtsvorschriften, Befehle und andere dienstliche Bestimmungen«. Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969, S. 186.

Ermittlungsarbeit und Untersuchungshaftvollzug

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und die Kompetenzen der ermittelnden Organe der DDR – eingeschränkt gilt dies auch für das MfS – wurden zwar auf verschiedenen juristischen Ebenen geregelt. Allerdings zeichnen die Normen auf staatlicher Verwaltungsebene nur ein abstraktes Bild von den inhaltlichen und strukturellen Vorgaben, die den Ermittlungsorganen im Allgemeinen auferlegt waren. Formal an geltendes Recht und Gesetz gebunden, entstanden dem MfS gerade durch die ihm zugedachten sicherheitspolitischen Aufgabenbereiche Handlungs- und Ermessensspielräume jenseits gesetzlicher Richtlinien, die für die konkrete Ausgestaltung der (strafrechtlichen) Verfolgung politischer Gegner entscheidend waren. Im nachfolgenden Abschnitt 1.1 werden zunächst die grundlegenden gesetzlichen wie auch innerministeriellen Bestimmungen nachgezeichnet, die für die Tätigkeit des DDR-Staatssicherheitsdienstes als Ermittlungsbehörde mit haftvollziehenden Kompetenzen seit den fünfziger Jahren bis zum Ende der DDR bestimmend waren. Die daran anschließenden Abschnitte 1.2 und 1.3 vermitteln einen Überblick über die Struktur der in Berlin-Hohenschönhausen ansässigen Haftvollzugsabteilung und des MfS-Untersuchungsorgans.

1.1

Ermittlungsarbeit und Untersuchungshaftvollzug des MfS: Normative Grundlagen

Ermittlungsarbeit und Untersuchungshaftvollzug

Die gesetzlichen und innerdienstlichen Grundlagen für die Inhaftierung von Beschuldigten durch das MfS wurden im Wesentlichen bereits in den fünfziger Jahren gelegt und sind in den nachfolgenden Jahrzehnten angepasst oder novelliert worden. Mittlerweile sind diese normativen und dienstpraktischen Rahmenbedingungen in mehreren Studien dokumentiert.8 Nachfolgend soll daher der juristische Grenzbereich der geheimdienstlichen und strafprozessualen Ermittlungsgrundlagen der HA IX und der Abteilung XIV im Mittelpunkt stehen, die Rückschlüsse auf Entwicklungen der Ausrichtung und der Arbeitsmethoden erlauben. Gerade in der Ausweitung und steten Anpassung der gesetzlichen Bestimmungen und internen Dienstanweisungen zeigt sich die

8 Vgl. Beleites: Der Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, S. 433–465; Beleites: »Feinde bearbeiten wir!«, S. 787–798; Ders.: Abteilung XIV: Haftvollzug, Berlin 2004. Vgl. auch die einschlägigen Publikationen zu Untersuchungshaftanstalten in den Bezirken Schekahn; Wunschik: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock; Bastian: Repression, Haft und Geschlecht; Schnell (Hg.): Das »Lindenhotel«; Scherrieble (Hg.): Der Rote Ochse Halle (Saale); Herz: Die Erfurter Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit 1952 bis 1989; Dies.; Fiege: Untersuchungshaft und Strafverfolgung beim Staatssicherheitsdienst Erfurt/Thüringen. Die Haftanstalt Andreasstraße 37, 1952/54–1989, Erfurt 2000; Weinke; Hacke: UHaft am Elbhang; Beleites: Schwerin, Demmlerplatz; Sperk: Die MfS-Untersuchungshaftanstalt »Roter Ochse« Halle/Saale von 1950 bis 1989.

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Die Ermittlungs- und Untersuchungshaftzentrale

Aufgabenzuteilung, aber auch das Selbstverständnis des Untersuchungsorgans und der Haftvollzugsabteilung des MfS. Die kontinuierliche Nachjustierung und Umorientierung der Untersuchungstätigkeit geben andererseits Aufschluss über die Gefahrenkonzeptionen, die für die Praxis der Linien IX und XIV relevant und ausschlaggebend waren. Denn innerstaatliche wie außenpolitische Faktoren wurden reflektiert und beeinflussten das Handeln des MfS in Ermittlungsverfahren einschließlich des Untersuchungshaftvollzugs. Wenn auch für die Untersuchungstätigkeit des MfS nur wenige, für den Betrieb MfS-eigener Untersuchungshaftanstalten gar keine offiziellen gesetzlichen Grundlagen existierten, bieten die internen Regelungen des Ministeriums immerhin normative Einblicke in die Organisationsweise und in einzelne Arbeitsabläufe derjenigen Diensteinheiten der Staatssicherheit, die im »operativen Untersuchungshaftvollzug […] als Beauftragte […] von Partei und Regierung in einem spezifischen Kampfabschnitt eingesetzt« waren.9 Bereits seit seiner Gründung unterhielt die Staatssicherheit eine eigene Untersuchungsabteilung für Ermittlungen in Strafsachen, auch wenn das Ministerium erst 1963 im sogenannten Rechtspflegeerlass und im Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR als staatliches Ermittlungsorgan namentlich aufgeführt wurde.10 Verfahrensrechtliche Relevanz indes erhielt das MfS offiziell erst mit der Strafrechtsreform von 1968, die auch eine Neufassung der Strafprozessordnung und eine entsprechende Erwähnung des Staatssicherheitsdienstes als Ermittlungsbehörde beinhaltete.11 Mit der dortigen Nennung als staatliches Untersuchungsorgan war jedoch nicht das gesamte MfS gemeint – nur die Linie IX (die Hauptabteilung auf Ministeriumsebene sowie die entspre9 Liermann, Karl-Heinz: Probleme der Erziehung und Befähigung der Mitarbeiter zur Herausbildung und Weiterentwicklung tschekistischer Persönlichkeiten und Kampfkollektive als wesentliche Voraussetzung für die umfassende Erfüllung der Aufgaben des politisch-operativen Untersuchungshaftvollzuges der BV Erfurt, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 8. Juni 1984; BStU, MfS, JHS VVS o001-778/84, S. 8 (MfS-Paginierung). 10 Vgl. Erlass des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. April 1963, GBl. 1963 I, S. 36 sowie Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 17. April 1963 (Staatsanwaltschaftsgesetz), GBl. 1963 I, S. 58. Zur Geschichte der Staatsanwaltschaft in der DDR vgl. Carsten, Ernst Sigismund; Rautenberg, Erardo Cristoforo: Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Beseitigung ihrer Weisungsabhängigkeit von der Regierung im Strafverfahren, Baden-Baden 2012, S. 260 ff. 11 »Untersuchungsorgane sind: 1. die Untersuchungsorgane des Ministeriums des Innern; 2. die Untersuchungsorgane des Ministeriums für Staatssicherheit; 3. die Untersuchungsorgane der Zollverwaltung«. Strafprozessordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 49–96. In der StPO von 1952 (§ 96) heißt es lapidar, ohne Erwähnung des MfS als Ermittlungsorgan: »Die Untersuchungen in Strafsachen führen die staatlichen Untersuchungsorgane«. Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der Deutschen Demokratischen Republik (Strafprozessordnung) vom 2. Oktober 1952, GBl. 1952 I, S. 996–1029. Wer unter »staatliche Untersuchungsorgane« zu subsumieren war, ging hieraus nicht hervor.

Ermittlungsarbeit und Untersuchungshaftvollzug

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chenden Abteilungen der MfS-Bezirksverwaltungen) galt als Ermittlungsorgan im Sinne der Strafprozessordnung. Zuvor verlieh das Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS) seinen Angehörigen nur in einem geheimen Statut von 1953 nominell das Recht, »Verhaftungen von feindlichen Spionen, Agenten und Diversanten vorzunehmen« und fortan »alle erforderlichen Untersuchungen bis zum Schlussbericht an die Organe der Justiz zu führen« und sich schließlich »der Möglichkeit zu bedienen, die andere Polizeiorgane oder sonstige Einrichtungen haben, um die feindliche Tätigkeit erfolgreich zu bekämpfen«.12 Bei welchen Delikten oder Delikttypen genau die MfS-Ermittler und nicht die Volkspolizei auf den Plan treten sollten, blieb im engeren Sinn unklar – eine erste Richtlinie aus dem Jahr 1950 hatte dem MfS jedoch die »Verhaftung von Verbrechern, die eine aktive feindliche antidemokratische Tätigkeit ausüben«, zugestanden.13 Das zweite Statut des Ministeriums von 1969 führte zwar »Straftaten, insbesondere gegen die Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik, den Frieden, die Menschlichkeit und Menschenrechte sowie gegen die Deutsche Demokratische Republik« als Schwerpunktausrichtung der MfS-Ermittler auf.14 Allerdings benannte erst der Kommentar zur Strafprozessordnung von 1987 amtlich das 1. und 2. Kapitel des Strafgesetzbuches (Besonderer Teil), also »Staatsverbrechen« offiziell als Zuständigkeitsbereich des MfS in Strafsachen.15 Internes Lehrmaterial der ministeriumseigenen Juristischen Hochschule in Potsdam (JHS) wies in etwas nebulöser Form darauf hin, dass das MfSUntersuchungsorgan »vom damaligen Minister für Staatssicherheit [Wilhelm Zaisser] etwa im Jahre 1950 beauftragt« worden sei, »die in den Zuständigkeitsbereich des MfS gehörenden und bis dahin von der K 5 (Struktureinheit des MdI)16 bearbeiteten Straftaten als staatliche Untersuchungsorgane im Rahmen eines Strafverfahrens aufzuklären und zu verfolgen«.17 In der Praxis 12 Statut des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 6. Oktober 1953 (Dokument 11). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 62. Das Statut ist eher als interne Satzung denn als gesetzliche Norm zu verstehen. Es war jedoch dem Vorsitzenden des Ministerrats, Otto Grotewohl, vorgelegt und es ist von ihm bestätigt worden. Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 32. 13 Richtlinien zur Erfassung der durch die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR verhafteten Personen vom 20. September 1950 (Dokument 5). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 42. 14 Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969, S. 184. 15 Vgl. Ministerium der Justiz der Deutschen Demokratischen Republik: Strafprozessrecht der DDR. Kommentar zur Strafprozessordnung (unter Mitarbeit von Hans Heilborn), Berlin 1987, S. 124. Das Statut des MfS benannte diese Kapitel des Strafgesetzbuches bereits 1969 als Hauptzuständigkeitsbereich bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Vgl. Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969, S. 184. 16 Hier irrt der anonyme Autor der JHS. Die K 5 war zu keinem Zeitpunkt eine Struktureinheit des MdI, denn sie wurde bereits im Frühsommer 1949, Monate vor der Gründung des MdI, aufgelöst. Sie war (auf zentraler Ebene) eine Struktureinheit der Deutschen Verwaltung des Innern. 17 Juristische Hochschule Potsdam: Lehrbuch – Strafprozessrecht, S. 44.

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fühlte sich der Staatssicherheitsdienst nunmehr immer dann verantwortlich, wenn ein staatsfeindlicher Tathintergrund potenziell denkbar war, öffentliches Aufsehen nicht ausgeschlossen werden konnte oder wenn die Stasi die ins Visier genommenen Personen für ihre eigenen Zwecke einsetzen wollte.18 Dies bedeutete, dass das MfS sich auch bei Ermittlungsverfahren im primären Zuständigkeitsbereich des DDR-Innenministeriums nach eigenem Ermessen einschalten und auch bereits laufende Verfahren aus »politisch-operativen« Gründen an sich ziehen konnte.19 Wie unscharf und zugleich konkret der Befugnisbereich des Untersuchungsorgans tatsächlich abgegrenzt war, legt ein mittlerweile berüchtigtes Zitat des Staatssicherheitsministers Erich Mielke im Rahmen einer Dienstkonferenz im Frühsommer 1979 nahe: »Um es noch einmal deutlich zu sagen: Feinde bearbeiten wir!«20 Praktisch definierte das MfS seine Kompetenzen also selbst.21 Der Tätigkeit staatlicher Untersuchungs- und Haftvollzugsorgane als solcher lagen dennoch gesetzliche Regelungen zugrunde. Auch in der DDR galt die Anordnung der Untersuchungshaft für Beschuldigte oder Angeklagte wenigstens formal als einer der gravierendsten staatlichen Eingriffe in die Rechte des Einzelnen.22 So fand die Untersuchungshaft als staatliche Zwangsmaßnahme im Rahmen von Ermittlungsverfahren in den Verfassungen von 1949 (Artikel 136, Abs. 1–3), 1968 und 1974 (Artikel 100, Abs. 1–3) zumindest knappe Erwähnung. Dort war gleichwohl nur festgehalten, dass ein Richter über die Zulässigkeit der Haft zu entscheiden habe und die Notwendigkeit der Untersuchungshaft jederzeit zu überprüfen sei. Ihm oblag weiterhin die Pflicht, die nächsten Angehörigen über die Verhaftung zu informieren; Ausnahmen von dieser Regel seien nur dann legitim, »wenn durch die Benachrichtigung der Zweck der Untersuchung gefährdet wird«.23 Faktisch konnte somit jederzeit die Inhaftierung aus »politisch-operativen« Gründen vor dem familiären Umfeld eines Beschuldigten geheim gehalten werden. 18 Vgl. Joestel: Die »Rechtspfleger« von der Sicherheit, S. 48. 19 So heißt es im Lehrbuch für das Strafprozessrecht der Juristischen Hochschule Potsdam: »Dementsprechend sind die Untersuchungsorgane des MfS zuständig für die Bearbeitung sämtlicher Ermittlungsverfahren, die wegen des Verdachts des Vorliegens von Staatsverbrechen oder von politisch-operativ bedeutsamen Straftaten der Allgemeinen Kriminalität eingeleitet werden, die Fragen der staatlichen Sicherheit tangieren oder tangieren können.« Juristische Hochschule Potsdam: Lehrbuch – Strafprozessrecht, S. 39. 20 Referat Erich Mielkes auf der Zentralen Dienstkonferenz der HA IX vom 24. Mai 1979; BStU, MfS, DSt. 102565 (GVS MfS 0008 11/79). 21 Vgl. Joestel: Die »Rechtspfleger« von der Sicherheit, S. 48. 22 So bezeichnet auch Minister Erich Mielke 1986 die Untersuchungshaft als »schwerwiegendste strafprozessuale Sicherungsmaßnahme mit Zwangscharakter«. Dienstanweisung Nr. 1/86 über den Vollzug der Untersuchungshaft und die Gewährleistung der Sicherheit in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8151, Bl. 5. 23 Artikel 100, Abs. 3, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, GBl. 1949 I, S. 5 ff.

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Vor allem der Anlass der Verhaftung wurde den Familien grundsätzlich nicht mitgeteilt. Allerdings tappten die Betroffenen nicht nur darüber im Dunkeln, warum das MfS gegen ihre Verwandten ermittelte. Sie wussten erst recht nicht, an welchem Ort sich ihre Verwandten überhaupt befanden. So musste die Ehefrau eines vermeintlichen Militärspions, der 1955 von den sowjetischen »Freunden«24 verhaftet wurde, so lange auf eine Nachricht warten, bis die HA IX den Fall einen Monat später übernahm und den Verhafteten in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen überführte. Im Benachrichtigungsschreiben des Staatsanwalts über die Festnahme ihres Mannes hieß es lapidar: »Nach Abschluss der Untersuchungen erhalten Sie weiteren Bescheid.«25 Insbesondere in den fünfziger Jahren stellte ein Kontakt zwischen Inhaftierten und ihren Angehörigen während laufender Ermittlungen die absolute Ausnahme dar. So besagt eine im Januar 1951 erlassene Richtlinie des Ministers für Staatssicherheit, dass erst »nach gründlicher Überprüfung der Angelegenheit und nach Rücksprache mit den Freunden zu entscheiden [ist], ob dem Angehörigen eine Mitteilung gegeben werden kann«.26 In den frühen fünfziger Jahren entschied die DDR-Staatssicherheit in dieser Frage also keineswegs autonom. Lag die Zustimmung der sowjetischen Sicherheitsorgane schließlich vor, hatte das MfS lediglich mündlich zu äußern, dass die betreffende Person vom Staatssicherheitsdienst festgenommen wurde und weitere Informationen erst nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens an Außenstehende herausgegeben würden.27 Ab 1953 übernahm der zuständige Staatsanwalt die nunmehr schriftliche Benachrichtigung der Angehörigen, allerdings nach wie vor unter dem vage definierten Vorbehalt, dass dadurch der Untersuchungsverlauf nicht gestört oder beeinträchtigt würde.28 Ermittelte der sowjetische Sicherheits24 Gemeint sind die sowjetischen Sicherheitskräfte und Militärs in der DDR. 25 Benachrichtigungsschreiben des ermittlungsführenden Staatsanwalts vom 14. April 1955; BStU, MfS, AU 236/55, Bd. 1, Bl. 11. Der Betreffende war am 4. März verhaftet worden, am 12. April wurde er aus dem sowjetischen Sperrbezirk in Berlin-Karlshorst in die UHA BerlinHohenschönhausen verlegt. Am 21. Juli 1955 wurde er vom BG Frankfurt/Oder zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt, da ihm zur Last gelegt wurde, mit dem Amt Blank, einer Vorgängerorganisation des Bundesministeriums der Verteidigung, zusammengearbeitet und Informationen über Militärstützpunkte der sowjetischen Truppen in der DDR weitergegeben zu haben. Am 20. September 1962 wird er vorzeitig auf Bewährung in die DDR entlassen. 26 Richtlinie Nr. 4 betr. Anfragen von Angehörigen verhafteter oder festgenommener Personen vom 6. Januar 1951; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 2368, DSt 101094. In: Mörstedt-Jauer, Christa; Erler, Peter (Hg.): Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED (Katalog), Leipzig 1994, S. 204. Unter den »Freunden« waren die sowjetischen Behörden zu verstehen. 27 Ebenda. 28 »Angehörige Inhaftierter sind, soweit es der Verhaftete nicht ausdrücklich anders wünscht, von der Verhaftung zu benachrichtigen, sofern der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird. Die Benachrichtigung erfolgt nach vorherigem Einverständnis der Untersuchungsorgane des Staatssekretariats für Staatssicherheit durch den Staatsanwalt.« Dienstanweisung Nr. 38/53: Zusammenarbeit der

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dienst selbst, konnten sich Inhaftierte wie auch deren Angehörige nicht einmal auf diese immerhin noch sehr willkürliche Vorgehensweise verlassen.29 Die zuvor genannten Artikel der DDR-Verfassung, wie auch die weiterführenden Normen zur Untersuchungshaft in der Strafprozessordnung (StPO), beziehen sich jedoch nicht ausdrücklich auf Befugnisse des MfS.30 Zwar wird die Hauptabteilung IX des MfS in § 88 StPO (1968) als staatliches Untersuchungsorgan genannt, das Ermittlungen in Strafsachen durchführt, doch fehlte bis zur Auflösung der DDR jegliche explizite gesetzliche Grundlage für die Unterbringung von Personen in MfS-eigenen Untersuchungshaftanstalten.31 Offiziell existierten die 17 Untersuchungsgefängnisse des MfS also überhaupt nicht. Die zentrale Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen und die daran angrenzenden Dienstgebäude des MfS waren nicht einmal in Ostberliner Stadtplänen kartographiert. Aus Sicht der Stasi allerdings gab es durchaus Gründe, die es nötig machten, sich im Geheimen und »in Ruhe« ihren Beschuldigten zu widmen. Schließlich diente die Arbeit der Haftvollzugsabteilung vorrangig der strafrechtlichen Verfolgung von Personen, »die gegen die Deutsche Demokratische Republik, den Aufbau des Sozialismus und gegen die Erhaltung des Friedens Verbrechen begangen haben«.32 Den MfS-Ermittlern der Linie Untersuchung war es zwar erlaubt, in den Haftanstalten des Innenministeriums (MdI) Beschuldigte zu vernehmen – allerdings immer unter Beobachtung der dortigen Mitarbeiter.33

Organe des Staatssekretariats für Staatssicherheit mit den Organen der Staatsanwaltschaft vom 1. Dezember 1953 (Dokument 12). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 65. 29 Bis 1954 Министерство государственной безопасности (MGB), danach Комитет государственной безопасности (KGB). 30 So regeln die §§ 95 und 96 der StPO von 1952 die Leitung eines Ermittlungsverfahrens und die Untersuchungsführung, die §§ 141 und 147 die Anordnungsvoraussetzungen sowie den Vollzug der Untersuchungshaft. Vgl. GBl. 1952 I, S. 996–1029, hier 1004, 1008–1009. In der reformierten Fassung der StPO von 1968 gelten hierfür die §§ 87, 88 und 89 sowie 122, 128 und 130. Vgl. GBl. 1968 I, S. 49–96, hier 61, 66–67. Dem Ministerium des Innern (MdI) – nicht dem Ministerium der Justiz (MdJ) – waren per Verordnung sämtliche Aufgaben in Verbindung mit dem Vollzug von Freiheitsstrafen übertragen worden. Vgl. Verordnung zur Übertragung der Geschäfte des Strafvollzugs auf das Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. November 1950, GBl. 1950 I, S. 1165 f. 31 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 28. 32 II. Lektion über den Untersuchungshaftvollzug in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 13. Mai 1953; BStU, MfS, JHS, MF Z 57/53, Bl. 3 (MfSPaginierung). 33 Vgl. Dienstanweisung Nr. 18/54 des Staatssekretärs für Staatssicherheit zu Vernehmungen von inhaftierten Personen durch die Organe des Staatssekretariats für Staatssicherheit in den Objekten der HVDVP und deren nachgeordneten Dienststellen des Strafvollzuges vom 26. Februar 1954; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 3059, Bl. 1–5 sowie Dienstanweisung Nr. 15/54 des Ministers des Innern zur Vernehmung von Strafgefangenen in den SV-Dienststellen durch die Organe des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 17. März 1954; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 50511, Bl. 1 f.

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Um die Emittlungsverfahren besser geheimhalten und die Untersuchungshäftlinge besser isolieren zu können, entschied man sich von Anfang an – nach sowjetischem Vorbild – für die Einrichtung eigener Untersuchungsgefängnisse, die für einen unbeeinträchtigten Ablauf der Ermittlungsverfahren sorgen sollten.34 Daher waren für die Arbeitspraxis der Linien IX und XIV die nur intern kursierenden »Befehle, Weisungen und Orientierungen des Ministers [für Staatssicherheit]«, die gerade auf die »Spezifik d[er] politisch-operativen Untersuchungsarbeit des MfS« zugeschnitten waren, deutlich relevanter als allgemeingültige Gesetze und Verordnungen.35 In der Praxis hielt sich das MfS bei der Führung von Ermittlungsverfahren mit Haft ab 1956 zumeist an die allgemeinen strafverfahrensrechtlichen Vorschriften, um die Rechtsbindung der eigenen Tätigkeit zu demonstrieren:36 An der JHS wurden die strafprozessualen Befugnisse des MfS noch 1987 als »bedeutende Ergänzung und Erweiterung« der Arbeit anderer operativer Linien und Diensteinheiten des MfS vermittelt – der instrumentelle Charakter des Rechts wird hier mehr als deutlich.37 Das Ministerium für Staatssicherheit als »Schild und Schwert« der SED nahm sich den Anspruch auf eigene, dem Untersuchungshaft- und Strafvollzugsystem des Innenministeriums entkoppelte Haftanstalten somit qua Amt heraus. Aus der Perspektive des Staatssicherheitsdienstes ergab sich »die konkrete Verantwortung der Untersuchungsorgane […] aus der speziellen Verantwortung und Gesamtaufgabenstellung«38 des Ministeriums: »Der dem MfS erteilte Klassenauftrag und der damit übereinstimmende Verfassungsauftrag [...] zur zuverlässigen Gewährleistung der staatlichen Sicherheit unter allen Lagebedingungen« war der Freibrief, durch den sich die Stasi den Betrieb eigener Untersuchungsgefängnisse genehmigt hatte.39 Die strafrechtliche Zuständigkeit des MfS bezog sich in erster Linie auf die sogenannten Staatsverbrechen, das heißt auf diejenigen Straftaten, die bis Januar 1958 nach Artikel 6 der Verfassung (»Boykott- und Kriegshetze«), von 1958 bis 1968 nach den politischen Paragraphen des Strafrechtsergänzungsgesetzes von 1957 und anschließend gemäß des 2. StGB-Kapitels von 1968 geahndet wurden. Darüber hinaus lag es weitgehend im Ermessen des MfS, wann, warum und mit welcher Art von Untersuchungsgefangenen es die eige34 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 26. 35 Juristische Hochschule Potsdam: Lehrbuch – Strafprozessrecht, S. 44. Vgl. auch Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969, S. 186. 36 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 29. 37 Juristische Hochschule Potsdam: Lehrbuch – Strafprozessrecht, S. 45. 38 Ebenda, S. 39. 39 Ebenda. Noch 2003 begründete der ehemalige stellvertretende Leiter der HA IX, Karli Coburger, gemeinsam mit seinem früheren Kollegen Dieter Skiba die »Zuordnung eigener Untersuchungsorgane zum Ministerium für Staatssicherheit« mit »der Einheitlichkeit der Staatsgewalt«, die eine »hohe Kompetenz, Effektivität und Qualität der Arbeit« gewährleistet habe. Coburger; Skiba: Die Untersuchungsorgane des MfS (HA IX im MfS; Abt. IX der BV), S. 42.

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nen Haftanstalten »befüllte«. Bei der Übernahme von Strafsachen der sogenannten allgemeinen Kriminalität handelte es sich im Prinzip um Einzelfallentscheidungen, auch wenn sich allein aufgrund des sicherheitspolitischen Zuständigkeitszuschnitts des MfS gewisse Routinen und Schwerpunkte bildeten. Nicht nur deliktspezifische oder personenabhängige Faktoren galt es einzubeziehen. Auch als »politisch-operative Lagebedingungen«40 bezeichnete äußere Umstände hatten für das MfS-Untersuchungsorgan Richtschnur dafür zu sein, ob ein Ermittlungsverfahren (mit Haft) eingeleitet oder ob darauf zugunsten anderer »Maßnahmen oder Maßnahmekomplexe«41 verzichtet wurde, zumal man in der Bundesrepublik permanent ein wachsames Auge auf die politischen Repressionsmechanismen in der DDR warf. Um im westlichen Ausland nicht unnötig SED-kritische Stimmen laut werden zu lassen und gleichzeitig innenpolitisch die größtmögliche Durchschlagskraft zu erzielen, hatte die Linie IX ihre Befugnisse innerhalb der strafrechtlich und strafprozessual möglichen Ermessensspielräume daher »so einzusetzen, […] dass in jedem Einzelfall größtmöglicher politischer und politisch-operativer Nutzen entsteht«.42 Die strafrechtliche Untersuchungsarbeit musste sich für das MfS und nicht zuletzt für das staatliche Ansehen der DDR nach innen wie nach außen rentieren. Aus Sicht der Stasi waren vor allem als sicherheitspolitisch neuralgisch empfundene Ermittlungsverfahren dafür prädestiniert, von ihr eingeleitet oder zumindest von anderen Untersuchungsorganen, also von denen des Innenministeriums (MdI) oder der Zollverwaltung, übernommen zu werden. Immerhin war das Ministerium für Staatssicherheit, wie allein schon die Bezeichnung signalisiert, für all das zuständig, was für die Staats- und Parteiführung von halbwegs sicherheitsrelevantem Interesse erschien. Für mehr oder minder geheimschutzwürdige Ermittlungsverfahren einschließlich des Untersuchungshaftvollzugs galt dies in gleichem Maße wie für andere Einsatzbereiche des MfS. Formal war ein richterlicher Haftbefehl Grundlage für die Verhaftung und die damit einhergehende Unterbringung eines Beschuldigten in einer Untersuchungshaftanstalt.43 Tatsächlich war die Verhaftung jedoch bereits mit dem sogenannten Haftbeschluss44 besiegelt, der außer bei Festnahmen auf frischer

40 Darunter verstand man im MfS: »Der objektiv im Aufeinandertreffen sicherheitspolitisch bedeutsamer Faktoren entstandene und sich verändernde gesellschaftspolitische Zustand im jeweiligen Verantwortungsbereich, welcher die politisch-operativen Ziele und Aufgaben sowie das operativ taktische Vorgehen zur Gewährleistung des Schutzes der sozialistischen Gesellschaft und ihrer staatlichen Ordnung bestimmt«. Suckut (Hg.): Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 235. 41 Juristische Hochschule Potsdam: Lehrbuch – Strafprozessrecht, S. 45. 42 Ebenda. 43 Vgl. § 142 StPO vom 2. Oktober 1952, GBl. 1952 I, S. 1008; § 124 StPO vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 66; § 124 StPO von 1968, in der Fassung vom 19. Dezember 1974, GBl. 1975 I, S. 78. 44 »Innerdienstliches Leiterdokument im MfS, mit dem auf der Grundlage des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen und der politisch-operativen Notwendigkeit die Entscheidung über die

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Tat vor einer Inhaftierung durch die jeweilige operative Diensteinheit der Staatssicherheit zu erlassen war.45 Die zeitnah auszufertigende Einlieferungsanweisung beauftragte die entsprechenden MfS-Mitarbeiter mit dem Transport des Betroffenen in eine bestimmte Haftanstalt.46 Eine interne Richtlinie legte hierzu im Jahr 1950 die technischen Details fest und verwies der Vollständigkeit halber auf die »gültige […] Strafprozessordnung«, die es nebenbei erforderlich mache, »beim Staatsanwalt bzw. Richter einen Haftbefehl für den Verbrecher« – wohlgemerkt nicht für den Tatverdächtigen – »zu erwirken«.47 Haftbeschluss und Einlieferungsanweisung waren somit in den Anfangsjahren die entscheidenden Dokumente, mit denen vom MfS notabene »die Verhaftung des Verbrechers angeordnet« wurde.48 Faktisch blieb das auch später noch so, auch wenn sich die MfS-Terminologie im Laufe der Zeit an die Rechtslage anpasste und die Vorschriften der Strafprozessordnung von den Untersuchungsoffizieren in formaler Hinsicht zumeist eingehalten wurden. Dies deutet an, dass eine ergebnisoffene, objektive und neutrale Prüfung des dringenden Tatverdachts und des Haftgrunds durch den Ermittlungsrichter nicht durchgeführt wurde, sobald sich das MfS einmal für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausgesprochen hatte. Ein Haftgrund im strafprozessualen Sinne ergab sich offenbar für die Ermittlungsrichter schon angesichts der vermuteten Deliktspezifik, sobald das MfS in einen Fall eingeschaltet war und über den zuständigen Staatsanwalt die Notwendigkeit artikulierte, eine Person im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens zu inhaftieren.49 So verwundert auch die Tatsache nicht, dass im Grunde jedem staatsanwaltlichen Antrag Einholung eines Haftbefehls gegen eine straftatverdächtige Person getroffen wird.« Eintrag »Haftbeschluss«. In: Suckut (Hg.): Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 161. 45 Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 7/52 betr. Verhaftung und vorläufige Festnahme vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 68, Bl. 1; Befehl Nr. 264/62 zur Durchsetzung des Staatsratsbeschlusses über die weitere Entwicklung der Rechtspflege vom 18. Mai 1962 (Dokument 22). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 139. Roger Engelmann wies darauf hin, dass trotz des Bemühens um Rechtssicherheit den operativen Linien des MfS die Entscheidung über eine Festnahme überlassen blieb. Diese zeichneten sich durch noch mangelhaftere juristische Kenntnisse aus als beispielsweise die Angehörigen des frühen MfSErmittlungsorgans. Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 149. 46 In der Regel Angehörige der HA/Abt. VIII. Zur Strukturgeschichte dieser Diensteinheit vgl. Schmole, Angela: Hauptabteilung VIII. Beobachtung, Ermittlung, Durchsuchung, Festnahme (unter Mitarbeit von Tilman Peters) (MfS-Handbuch), Berlin 2011. 47 Richtlinien zur Erfassung der durch die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR verhafteten Personen. In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 42. Von dieser internen Dienstvorschrift der Stasi wusste das Personal der Judikative freilich nichts. Vgl. auch Beleites: Abteilung XIV, S. 37. 48 Richtlinien zur Erfassung der durch die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR verhafteten Personen. In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 43. 49 Vgl. »Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft« in § 141 StPO vom 2. Oktober 1952, GBl. 1952 I, S. 1008; § 122 StPO vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 66; § 122 StPO vom 19. Dezember 1974, GBl. 1975 I, S. 77.

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auf Erlass eines Haftbefehls entsprochen wurde. »Dringende Verdachtsgründe« sowie Flucht- und Verdunklungsgefahr als notwendige Bedingungen für die Anordnung einer Untersuchungshaft setzten Staatsanwälte und Haftrichter hier offenbar voraus.50 Vor allem Straftaten mit besonderer Schwere der Tat nach §§ 212 bis 217a StGB sowie Delikte, die die öffentliche Ordnung gefährdeten und unter dem Rubrum des »asozialen Verhaltens« (§ 249 StGB) einzuordnen waren, waren in erster Linie »klassenmäßig zu werten«.51 Die Untersuchungshaft war hier nicht nur strafprozessuales Mittel zur Absicherung des Ermittlungsverfahrens. Eindeutig erzieherische und unmittelbar disziplinierende Erwägungen sollten darüber hinaus den Ausschlag beim Erlass eines Haftbefehls geben.52 Dem MfS als ermittelndem Rechtspflegeorgan wurden somit keine unnötigen Steine in Form formaler Schranken in den Weg gelegt, die die Ermittlungen gegen potenzielle Staatsfeinde hätten behindern können. War die Entscheidung zur Verhaftung einmal getroffen und die notwendigen bürokratischen Schritte erledigt, so war die Bahn frei für die Inhaftierung in einer der 17 Untersuchungshaftanstalten des Staatssicherheitsdienstes. Den eigentlichen Haftvollzug und die Ermittlungsarbeit mit Beschuldigten regelten fortan hauptsächlich ministeriumsinterne Instruktionen, in bis 1989 mehrfach angepasster und veränderter Form. Nachdem der DDR-Ministerrat im März 1952 beschlossen hatte, der Staatsanwaltschaft die Aufsicht über alle Haftanstalten zu übertragen,53 richtete der Generalstaatsanwalt wenige Tage später eine Rundverfügung an seine nachgeordneten Amtskollegen, die sich mit der Überwachung der inoffiziellen Untersuchungsgefängnisse der Stasi und der daran geknüpften Ermittlungstätigkeit auseinandersetzte.54 Hiernach

50 Ebenda. 51 Oberstes Gericht der DDR, Präsidium: Beschluss zu Fragen der Untersuchungshaft (I PrB 1112 2/1977) vom 20. Oktober 1977; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1128, Bl. 238. Bei besonderer »Schwere der Missachtung der Strafgesetze« war aus Sicht der Präsidiumsmitglieder des Obersten Gerichts die Untersuchungshaft bei »Sexualdelikten, Trickbetrug, Grenzdelikten u. a. unumgänglich«. Ebenda, Bl. 239. 52 Vgl. ebenda. Der Generalstaatsanwalt kritisierte noch 1980 in einem Schreiben an das MfS die Praxis, dass »bei Straftaten nach dem 8. Kapitel des StGB […] mitunter mit dem Ziel, eine unverzügliche Disziplinierung des Täters zu bewirken, Untersuchungshaft angeordnet [würde], obwohl die Schwere der Tat dies nicht erfordert«. Generalstaatsanwalt der DDR: Schreiben an Dr. Rolf Fister betr. Vorlage für die Leiterberatung zu Problemen der U-Haftpraxis vom Mai 1980; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2576, Bl. 159. 53 Vgl. Beschluss über Maßnahmen zur weiteren Festigung der demokratischen Gesetzlichkeit vom 27. März 1952, Ministerialblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1952, S. 35. 54 Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 12/52 betr. Aufsicht über die Haftanstalten der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 73. Eine gesonderte Verfügung beschäftigt sich mit der MfS-Ermittlungsarbeit: Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 11/52 betrifft Aufsicht über die Untersuchungen in Strafsachen der Untersuchungsorgane des Ministeriums für Staatssicherheit vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 72.

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waren die Haftanstalten in den Ländern55 den »bestätigten Staatsanwälte[n] der Landesstaatsanwaltschaften« untergeordnet – für das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen zeichnete der Generalstaatsanwalt höchstpersönlich verantwortlich.56 Im Mai 1952 griff Staatssicherheitsminister Wilhelm Zaisser die Anweisungen in einem Befehl auf, in dem er seine Mitarbeiter zur strikten Einhaltung der Strafprozessordnung aufforderte.57 Er insistierte, dass die Vorgaben aus der generalstaatsanwaltlichen Rundverfügung streng zu befolgen seien. Aus diesem Schreiben wird nicht nur deutlich, dass ausschließlich vom MfS bestätigte Staatsanwälte die ordnungsgemäße Ermittlungstätigkeit in den MfSHaftanstalten zu überprüfen hatten. Es wurde auch klargestellt, dass sämtliche Untersuchungshandlungen bis zum Abschluss der Ermittlungen von der Linie IX des Staatssicherheitsdienstes selbstständig durchgeführt würden. Innerdienstlich wurde zusätzlich festgehalten, dass das Aufsichtsrecht des zuständigen Staatsanwaltes bei der »Gesamtstärke und Sonderbewaffnung des Wachpersonals«, den »Signalanlagen« und beim »internen Dienstbetrieb der Verwaltungen der Haftanstalten« aufzuhören hatte.58 Das zuvor betonte Aufsichtsrecht der Staatsanwälte wurde damit gleich wieder eingeschränkt.59 Für den Zeitraum vor 1953 finden sich keine normativen Dokumente, die über das Innenleben des MfS-Untersuchungshaftvollzugs Auskunft geben. Lehrmaterialien, die im MfS zur Ausbildung von Mitarbeitern angefertigt wurden, bilden erst in diesem Jahr den Grundstock an Schriftgut über den Haftvollzug des Staatssicherheitsdienstes.60 Zwei Jahre später wurden große Teile dieses Unterrichtsmaterials in die erste diesbezügliche Dienstanweisung des Staatssekretärs für Staatssicherheit übernommen.61 Die Schulungsunterlagen von 1953 machten den MfS-Schülern klar, dass die Untersuchungshaftan55 Nach der Verwaltungsreform im Sommer 1952 wurden aus den 5 Ländern Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen 14 Bezirke und die Verwaltung Groß-Berlin. 56 Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 12/52 betr. Aufsicht über die Haftanstalten der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 73, Bl. 2. 57 Vgl. Befehl Nr. 74/52 zum Beschluss des Ministerrates vom 27. März 1952: Strafrechtliche Untersuchungstätigkeit vom 15. Mai 1952 (Dokument 7). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 49 f. Wilhelm Zaisser war erster Minister für Staatssicherheit und bis 1953 im Amt. 58 Dienstanweisung Nr. 1/52 zum Befehl Nr. 74/52 vom 15.5.1952: Strafrechtliche Untersuchungstätigkeit vom 15. Mai 1952 (Dokument 8). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 54. 59 Vgl. zur Bedeutung respektive Machtstellung der Staatsanwaltschaft in der DDR-Judikative Carsten; Rautenberg: Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart, S. 311 ff. 60 Vgl. II. Lektion über den Untersuchungshaftvollzug in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 13. Mai 1953; BStU, MfS, JHS, MF Z 57/53. Die Lehrmaterialien beziehen sich ebenfalls auf den Beschluss über Maßnahmen zur weiteren Festigung der demokratischen Gesetzlichkeit vom 27. März 1952. 61 Vgl. Dienstanweisung für den Dienst und die Ordnung in den Untersuchungs-Haftanstalten des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 2. Oktober 1955; BStU, MfS, SdM 1872.

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stalten des Staatssicherheitsdienstes »im Gegensatz zu den Einrichtungen im Strafvollzug […] natürlich […] wesentlich anders sein« müssten. Dort habe man es immerhin »mit Menschen zu tun, […] denen man ihre Verbrechen nachweisen muss. Jede Möglichkeit der Verständigung untereinander […] muss [daher] genommen werden«.62 Das Dokument ließ schließlich auch keine Fragen dahingehend offen, zu welchem Zweck die Stasi eigene Haftanstalten betrieb: Die Inhaftierung in separierten Untersuchungsgefängnissen »dient[e] der Isolierung von Personen, die gegen die Deutsche Demokratische Republik, den Aufbau des Sozialismus und gegen die Erhaltung des Friedens Verbrechen begangen haben«.63 »Erfüllt mit einem hohen Klassenbewusstsein« hätten die MfS-Beschäftigten »in den Häftlingen Verbrecher und Feinde des Friedens und des Fortschritts zu sehen«, welche eine Gefahr darstellten, »die ernste, nicht wieder gut zu machende Folgen nach sich ziehen« konnte.64 Die Unschuldsvermutung als eines der fundamentalen Prinzipien rechtsstaatlicher Ermittlungs- und Strafverfahren hatte offenkundig selbst für das Wachpersonal des MfS-Haftvollzugs im Umgang mit den Gefangenen nicht zu gelten. Den Mitarbeitern wurde eingeschärft, dass sie durch etwaige Eigenmächtigkeiten in ihrer Amtsausübung nicht etwa eine objektive, alle be- und entlastenden Faktoren einbeziehende strafrechtliche Untersuchung gefährden, sondern die »Entlarvung der einsitzenden Verbrecher […] erschweren« würden.65 Als umso wichtiger wurde auch die enge Zusammenarbeit der Linien XIV und IX beurteilt, um »das Ermittlungsverfahren effektiver zu gestalten, den Umerziehungsprozess des Verhafteten zu fördern und den Vollzug der Untersuchungshaft ordnungsgemäß durchzuführen«.66 Es sollte penibel darauf geachtet und schlussendlich vermieden werden, dass »durch eine einseitige Einleitung von Maßnahmen durch Mitarbeiter der Abteilung XIV […] empfindlich die operativen Interessen der Untersuchungsabteilung gestört werden und Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Ermittlungsverfahren entste-

62 II. Lektion über den Untersuchungshaftvollzug in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 13. Mai 1953; BStU, MfS, JHS, MF Z 57/53, Bl. 3 (MfSPaginierung). 63 Ebenda. 64 Dienstanweisung für den Dienst und die Ordnung in den Untersuchungs-Haftanstalten des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 2. Oktober 1955; BStU, MfS, SdM 1872, Bl. 283. 65 Ebenda. 66 Schmidt, Dietmar: Das Untersuchungshaftrecht der Deutschen Demokratischen Republik und die auf seiner Grundlage erfolgende Vollzugspraxis in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 20. Oktober 1975; BStU, MfS, JHS, MF VVS 001-339/75, Bl. 47.

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hen«.67 Offenbar ließ die Disziplin der Mitarbeiter in den Untersuchungsgefängnissen bis Ende der sechziger Jahre vereinzelt zu wünschen übrig.68 So befahl Minister Mielke im September 1969, dass in den MfSHaftanstalten folgerichtig auch »nur solche Kader eingesetzt werden [sollen], die die politisch-ideologische Reife besitzen, über entsprechende Lebens- und Parteierfahrungen verfügen und für den Gegner unangreifbar sind«.69 Die Abteilungsleiter der Linie XIV waren daher verpflichtet, »für die qualifizierte politisch-ideologische und politisch-operative Schulungs- und Erziehungsarbeit die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen und ihre Realisierung planmäßig zu sichern«.70 Dabei galt der »individuellen klassenmäßigen Erziehung und operativen Befähigung« besonderes Augenmerk.71 Die Vollzugsangestellten hatten »vom Grundsatz her […] unter Beachtung der spezifischen Aufgaben als Beauftragte […] [des] Staates in der Uniform eines sozialistischen Sicherheitsorgans auch als Erzieher zu wirken«.72 Als Hauptmotiv der Tätigkeit eines Mitarbeiters der Linie XIV galt dementsprechend »seine ideologische Überzeugtheit von der Richtigkeit seines Tuns und Handelns, in der Einheit von Wort und Tat bei der Erfüllung seines Klassenauftrages«.73 Schließlich leiteten die Angehörigen der Abteilung XIV ihre eigene operative Bedeutung von der Unterstützung des MfS-Ermittlungsorgans ab, indem sie »dazu beitr[u]gen, die Ziele der jeweiligen Strafverfahren zu erreichen, […] dass vom Verhafteten ausgehende Gefahren ausgeschaltet bzw. auf ein Minimum reduziert werden, kein Verhafteter sich dem Strafverfahren entziehen und die strafrechtliche Verantwortlichkeit Beschuldigter oder Angeklagter umfassend geprüft werden kann«.74 1968 ist in einer allgemeinen Anweisung zur Untersuchungshaft zumindest davon die Rede, dass dabei »die sozialistische Gesetzlichkeit streng einzuhalten, die Menschenwürde und die Persönlichkeit des Verhafteten zu achten« sei.75 Allerdings vorrangig wohl deshalb, weil sich 67 Ebenda. 68 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 34. Vgl. auch entsprechende Vermerke in der Kader- und Disziplinarakte des ersten Leiters der MfS-Haftvollzugsabteilung, Hans Bialas; BStU, MfS, KS II 69/65 sowie BStU, MfS, Diszi Nr. 269/92. 69 Befehl Nr. 28/69 (Durchsetzung der UHVO) vom 20. September 1969; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 1365, Bl. 3. 70 Ebenda. 71 Ebenda. 72 Liermann, Karl-Heinz: Probleme der Erziehung und Befähigung der Mitarbeiter zur Herausbildung und Weiterentwicklung tschekistischer Persönlichkeiten und Kampfkollektive; BStU, MfS, JHS VVS o001-778/84, S. 12 (MfS-Paginierung). 73 Ebenda, S. 13 (MfS-Paginierung). 74 Kätzel, Christian: Anforderungen an die qualifizierte Sicherung von Beweismitteln bei der Aufnahme Inhaftierter in eine Untersuchungshaftanstalt des MfS, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 31. August 1988; BStU, MfS, JHS 21369, Abt. XIV, Nr. 310, S. 74 (MfS-Paginierung). 75 Weiterhin heißt es dort, »die Wahrnehmung der Rechte des Verhafteten, insbesondere das Recht auf Verteidigung, auf Einlegung von Rechtsmitteln und sonstige Beschwerden, sind zu sichern«.

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diese vom DDR-Generalstaatsanwalt mit verfasste Vorschrift auch an die Haftvollzugsmitarbeiter des MdI richtete. Letztere hatten es von ihrem Tätigkeitszuschnitt her freilich mit vergleichsweise »harmlosen« Inhaftierten zu tun. So enthielt dieses Dokument eher allgemein gehaltene Weisungen, die den Minimalkonsens beider Vollzugsorgane widerspiegelten. Auf die Spezifika des MfS-Haftvollzugs »zur Sicherung von politisch-operativen Aufgaben der […] Linie IX« konnte und sollte ein so generell formuliertes Regelwerk nicht eingehen.76 In Abgrenzung zu den Untersuchungsorganen des MdI, die sich überwiegend mit gewöhnlichen Kriminellen befassten, betrachtete sich schließlich auch die HA IX als eine Diensteinheit, die den Auftrag zu erfüllen hatte, »die Feinde der Arbeiter-und-Bauern-Macht zu entlarven und einer gerechten Strafe zuzuführen; die aggressive Politik, besonders des westdeutschen Imperialismus und seine dabei angewandten strategischen und taktischen Konzeptionen zum Scheitern zu bringen«.77 Letztlich hatte das Untersuchungsorgan mittels seiner Ermittlungsverfahren nach eigenem Verständnis »die sozialistische Gesetzlichkeit wirksam durchzusetzen« und dazu »die offensive Arbeit am Feind weiter qualitativ und quantitativ zu stärken«.78 Die Ermittler der Stasi dachten dabei (systemgebunden) durchaus universell: Ihre Arbeit sollte nicht zuletzt dazu beitragen, »die offensive Politik von Partei- und Staatsführung als integrierter [sic!] Bestandteil der Politik der sozialistischen Staatengemeinschaft […] durchzusetzen« und darüber hinaus »die DDR und die gesamte sozialistische Staatengemeinschaft allseitig zu stärken«.79 Viel mehr noch: Die Geheimpolizisten der HA IX sollten es »im Rahmen der Gesamtaufgabenstellung des MfS« leisten, »die Angriffe des Feindes auf die sozialistische Ordnung und das sozialistische Bündnis, vor allem mit der Sowjetunion, zunichte zu machen und die Souveränität sowie die Unantastbarkeit der Staatsgrenzen zu gewähr-

Gemeinsame Anweisung des Generalstaatsanwaltes der Deutschen Demokratischen Republik, des Ministers für Staatssicherheit und des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei über die Durchführung der Untersuchungshaft (Untersuchungshaftvollzugsordnung) – UHVO – vom 8. November 1968; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 11285, Bl. 2. 1973 wird in einer Dienstanweisung der Abteilung XIV ebenfalls diese Formulierung verwendet. Vgl. Dienstanweisung zur politisch-operativen Dienstdurchführung der Abteilung XIV des Ministeriums für Staatssicherheit und den Abteilungen XIV der Bezirksverwaltungen/Verwaltungen für Staatssicherheit vom 12. Februar 1973; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1223, Bl. 9. 76 Dienstanweisung Nr. 1/86 über den Vollzug der Untersuchungshaft und die Gewährleistung der Sicherheit in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8151, Bl. 5. 77 HA IX/8: Konzeption für die Erarbeitung einer dienstlichen Bestimmung über die Stellung, die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Linie Untersuchung des Ministeriums für Staatssicherheit vom 27. Juli 1972; BStU, MfS, HA IX, MF 11651, Bl. 4 (MfS-Paginierung). 78 Ebenda, Bl. 4 f. (MfS-Paginierung). 79 Ebenda, Bl. 4 (MfS-Paginierung).

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leisten«.80 Bei diesem Selbstbild verbot sich ein direkter Vergleich zu den Untersuchungshaftanstalten des MdI einschließlich der deliktspezifischen Zusammensetzung ihrer Häftlinge geradezu von selbst. Trotz der gemeinsamen ähnlichen Aufgaben bei der strafrechtlichen Ermittlungsarbeit hatten für den »politisch-operativen« Untersuchungshaftvollzug des Staatssicherheitsdienstes offenkundig andere Regeln zu gelten. Anfang des Jahres 1973 erließ Minister Erich Mielke eine weitere Dienstanweisung an die Mitarbeiter der Linie XIV, die offenbar ihr operatives Profil schärfen sollte.81 Schließlich genoss die Abteilung stets den zweifelhaften Ruf als »Assistentin« der HA IX, die die Strafverfahren des Ministeriums durch die »Isolierung feindlicher Agenturen und anderer einer Straftat verdächtiger Personen« technisch abzusichern hatte.82 Darüber hinaus wurde ihr allerdings kein allzu herausragendes Gewicht unter den operativen Diensteinheiten des MfS beigemessen. Um dieses randständige Image aufzupolieren, wurde in der Anweisung die »politisch-operative« Relevanz der Abteilung XIV im Prinzip mit der Zusammensetzung der Beschuldigten in den Haftanstalten begründet und herbeidekretiert. Durch den Umstand, dass in den MfS-Gefängnissen Häftlinge »zur Untersuchung von Verbrechen gegen die Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik, gegen den Frieden, die Menschlichkeit sowie von Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik« einsaßen, käme der Abteilung inhärent ein hoher »politisch-operativer« Stellenwert zu.83 So sollte sie nicht nur die Untersuchungshaft als solche vollziehen, sondern im Sinne einer »zielgerichtete[n] Unterstützung des Untersuchungsorgans« für die Arbeit des MfS wichtige Hinweise erarbeiten und an die HA IX weitergeben.84 Kam es im Haftvollzugsbetrieb zu bedeutsamen Auffälligkeiten unter den Inhaftierten, informierte die Abteilung XIV die Kollegen des Ermittlungsorgans und erwartete weitere Anweisungen. Im Falle einer bei einem Fluchtversuch festgenommenen weiblichen Inhaftierten, die sich mittels Klopfzeichen mit anderen Gefangenen der UHA Berlin-Hohenschönhausen zu »unterhalten« versuchte, wurde beispielsweise »nach gemeinsamer Absprache mit dem U[ntersuchungs]-Organ […] festgelegt, die Beschuldigte […] mit dem Entzug der ihr gewährten Vergünstigungen für die Dauer von 10 Tagen zu bestrafen«.85 Weiterhin wurde nun »empfohlen, die Beschuldigte […] so unterzu80 Ebenda. 81 Vgl. Dienstanweisung zur politisch-operativen Dienstdurchführung der Abteilung XIV des Ministeriums für Staatssicherheit und den Abteilungen XIV der Bezirksverwaltungen/Verwaltungen für Staatssicherheit vom 12. Februar 1973; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1223. 82 Vgl. ebenda, Bl. 5. 83 Ebenda. 84 Ebenda, Bl. 6. 85 Bericht der Abt. XIV vom 23. Februar 1977; BStU, MfS, AS 204/83, Nr. 7700/76, Bl. 11. Die Untersuchungsgefangene hatte versucht, mit einem Fluchthelfer über die Transitautobahn über die Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn in die Bundesrepublik zu fliehen, wobei die Festnahme

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bringen, dass sie keine Möglichkeit bekommt, Kontakte mit anderen Inhaftierten aufzunehmen«.86 Die Abteilung Haftvollzug war somit ebenfalls dafür zuständig, die von den MfS-Ermittlern festgelegten Bestrafungsmaßnahmen gegen die Beschuldigten in der Haftanstalt umzusetzen. Bei der weiteren Aufzählung der »Hauptaufgaben der Abteilungen XIV« drückte man sich in genannter Dienstanweisung allerdings nach wie vor technisch aus. Die »Verwahrung« der Untersuchungsgefangenen im Sinne einer »ausbruchssichernde[n] und verständigungsverhindernde[n] Unterbringung in entsprechenden Verwahrräumen und Transportmitteln« wurde weiterhin als die zentrale Aufgabe der Diensteinheit benannt.87 »Ständige Beobachtung, Kontrolle und Bewachung« galten dabei als oberste Prinzipien, um »unter strenger Einhaltung der Konspiration und revolutionären Wachsamkeit« den reibungslosen Untersuchungshaftvollzug zu gewährleisten.88 Der Handlungsspielraum der Abteilung XIV bei der Behandlung der Untersuchungshäftlinge war allerdings gering. Bei hafterleichternden Maßnahmen wie der verbesserten Verpflegung von Inhaftierten oder der Gewährung des Einkaufsrechts, die nicht alle Häftlinge gleichermaßen betrafen und die die HA IX teils aus ermittlungstaktischen Gründen einsetzte, hatte die Vollzugsabteilung grundsätzlich das Einverständnis der Untersuchungsabteilung einzuholen.89 Im Sommer 1975 ergingen schließlich Festlegungen zur MfSUntersuchungshaft, die gemeinsam von den beiden Leitern der Abteilung XIV und der HA IX ausgefertigt wurden und den Anforderungen des Stasi-eigenen Haftvollzugs Rechnung tragen sollten.90 So finden sich in diesem Dokument zunächst administrative Detailvorgaben zur Leibesvisitation, zur Aufbewahrung von Effekten, also persönlicher Wertgegenstände, oder zur Anstaltskleidung. Den Untersuchungsgefangenen war es hiernach beispielsweise erlaubt, während des Ermittlungsverfahrens eigene Garderobe zu tragen. »Ohne […] erfolgte. Am 18. April wurde sie vom BG Cottbus aufgrund §§ 106 Abs. 1, Ziff. 1, Abs. 2, § 100 Abs. 1, § 213 Abs. 1, 2 Ziff. 2, 3 Abs. 3 StGB und § 6 Abs. 1 Nr. 2 GrenzschutzVO zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Am 9. Dezember 1977 verlässt sie die DDR in Richtung Bundesrepublik. Vgl. handschriftlicher Vermerk »BRD-Entlassung« auf der entsprechenden personenbezogenen Deliktekartei der HA IX; BStU, ohne Signatur. 86 Ebenda. 87 Dienstanweisung zur politisch-operativen Dienstdurchführung der Abteilung XIV des Ministeriums für Staatssicherheit und den Abteilungen XIV der Bezirksverwaltungen/Verwaltungen für Staatssicherheit vom 12. Februar 1973; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1223, Bl. 8. 88 Ebenda, Bl. 9 f. 89 So wurde beispielsweise das Recht auf Einkauf unter ermittlungstaktischen Gesichtspunkten durch die HA IX gewährt. Vgl. ebenda, Bl. 86 f. 90 Zu diesem Zeitpunkt Siegfried Rataizick (Abt. XIV) und Rolf Fister (HA IX). Vgl. Gemeinsame Festlegungen der Hauptabteilung IX und der Abteilung XIV des MfS zur einheitlichen Durchsetzung einiger Bestimmungen der Untersuchungshaftvollzugsordnung – UHVO – in den Untersuchungshaftanstalten des MfS vom 13. August 1975; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 166.

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dieses Recht einzuschränken«, war in den Haftanstalten des MfS allerdings »nach Möglichkeit das Tragen von anstaltseigener Kleidung anzustreben«.91 Vor allem aber sind in dem Dokument Anweisungen enthalten, welche die Besonderheiten des Ermittlungsverfahrens und des sogenannten operativen Haftvollzugs der Stasi betreffen. So waren gerade hafterleichternde Maßnahmen explizit nur dann zur Anwendung zu bringen, wenn dadurch »der Zweck der Untersuchung und der Untersuchungshaft nicht gefährdet wird«.92 Ob die Inhaftierten also Briefe schreiben, Besuch empfangen oder anstaltseigene Literatur lesen durften, entschied der zuständige Untersuchungsführer nach eigenem taktischem Ermessen.93 Vor allem die Genreauswahl derjenigen Bücher, die die Beschuldigten nach dieser Festlegung zu lesen bekamen, erfolgte »seitens des Untersuchungsführers […] in Zusammenarbeit mit dem dafür verantwortlichen Mitarbeiter der Abteilung XIV unter Berücksichtigung operativer Erfordernisse, deliktspezifischer Besonderheiten sowie der Täterpersönlichkeit«.94 Die Mitarbeiter der HA IX hatten bei der Auswahl der Lektüre darauf zu achten, »dass die in der Bibliothek vorhandenen Bücher geeignet sind, das Aussageverhalten und die Disziplin der Verhafteten positiv zu beeinflussen. Bücher, die Methoden des illegalen antifaschistischen Kampfes, Verhältnisse in Haftanstalten, Methoden staatsfeindlicher Tätigkeit oder die Untersuchungshaft beschreiben«, sollten den Häftlingen nicht zur Verfügung gestellt werden.95 Waren einige der Vergünstigungen, die gemäß der geltenden Untersuchungshaftverordnung (UHVO) immerhin zu den Rechten des Verhafteten 91 Ebenda, Bl. 6. 1973 wurde in der Dienstanweisung der Abteilung XIV Ähnliches festgehalten. Die Inhaftierten sollten demnach eigene Kleidung und »Leibwäsche« tragen dürfen, wobei aus Gründen der »Werterhaltung der eigenen Kleidung des Inhaftierten […] geeignete Kleidung und Wäsche der Abteilung ausgegeben werden« konnte – eine optionale Regelung, die in der Praxis häufig nahezu schikanös gegen die Häftlinge eingesetzt wurde. Vgl. Dienstanweisung zur politisch-operativen Dienstdurchführung der Abteilung XIV des Ministeriums für Staatssicherheit und den Abteilungen XIV der Bezirksverwaltungen/Verwaltungen für Staatssicherheit vom 12. Februar 1973; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1223, Bl. 85. 92 Gemeinsame Festlegungen der Hauptabteilung IX und der Abteilung XIV des MfS zur einheitlichen Durchsetzung einiger Bestimmungen der Untersuchungshaftvollzugsordnung – UHVO – in den Untersuchungshaftanstalten des MfS vom 13. August 1975; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 166, Bl. 10. 93 »Die Aufnahme des Brief- und Besucherverkehrs wird Verhafteten grundsätzlich durch Genehmigung des Staatsanwaltes […], sofern der Zweck der Untersuchung und der Untersuchungshaft nicht gefährdet wird, gestattet«. »Wird der Haftzweck sowie die Ordnung und Sicherheit in der UHA nicht beeinträchtigt, sollte den Verhafteten in der Regel bereits in der ersten Woche nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens Leseerlaubnis erteilt werden. [Sie] wird auf Vorschlag des Untersuchungsführers […] erteilt. Dieser beachtet dabei mögliche deliktspezifische Besonderheiten […].« Ebenda, Bl. 10 bzw. 15. 94 Ebenda, Bl. 15 f. 95 Wittum, Peter: Die strikte Einhaltung und Durchsetzung der sich aus der Untersuchungshaftvollzugsordnung (UHVO) ergebenden Rechte und Pflichten inhaftierter Personen und deren untersuchungstaktische Nutzung in der Vernehmung von Beschuldigten, als JHS-Diplomarbeit 1979 eingereicht; BStU, MfS, JHS, MF VVS 001-352/79, S. 17 (MfS-Paginierung).

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zählten,96 aus taktischen Gründen einzuschränken oder unter Umständen vorzuenthalten, sollten sie den Beschuldigten wiederum andererseits bei freigiebiger Gewährung Anreize bieten, sich im Ermittlungsverfahren, also bei den Vernehmungen durch die HA IX, im Sinne des MfS kooperativ zu zeigen. Mit der Erlaubnis, Briefe an Angehörige abzuschicken, war demnach bei günstigem Ermittlungsstand »großzügig zu verfahren und diese in die vernehmungstaktische Konzeption einzubeziehen«.97 Die Schriftstücke mussten im Beisein des Untersuchungsführers verfasst werden, der jeweils »aus vernehmungstaktischen und organisatorischen Gründen […] den günstigsten Zeitpunkt für die Aufnahme bzw. Weiterführung des Briefverkehrs« bestimmte.98 Auch die Besuche von Häftlingen durch ihre Angehörigen, die in der MfSUntersuchungshaftanstalt Berlin II in Lichtenberg stattfanden, konnten aus strategischen Erwägungen länger als die festgelegten 30 Minuten pro Monat dauern.99 Die Erlaubnis, Bücher und Tageszeitungen zu lesen, sollte den Inhaftierten auf Vorschlag des Untersuchungsführers bereits in der ersten Woche nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens erteilt werden, um die Häftlinge durch verhältnismäßig gefällige Haftumstände möglichst zur Zusammenarbeit zu bewegen.100 Lediglich die für die Ermittler ständig lauernde Gefährdung des Haftzwecks und der »Ordnung und Sicherheit in der UHA« begründete Ausnahmen von dieser Regel.101 Mitte der siebziger Jahre hatten sich die Linien IX und XIV offenbar gut aufeinander abgestimmt, um die Ermittlungsverfahren gestützt durch die Untersuchungshaft in ihrem Sinne effizient abzuwickeln.102 Nach MfSOberleutnant Dietmar Schmidt, der 1975 als Mitarbeiter der Linie XIV seine Diplomarbeit über das Untersuchungshaftrecht der DDR an der JHS Potsdam anfertigte, wurde dies vor allem durch ständigen Austausch über haftvollzugsrelevante Erscheinungen zwischen den Leitungsebenen der beiden Diensteinheiten erreicht.103 So käme deren abteilungsübergreifende Kooperation auch 96 Vgl. Gemeinsame Anweisung des Generalstaatsanwaltes der Deutschen Demokratischen Republik, des Ministers für Staatssicherheit und des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei über die Durchführung der Untersuchungshaft (Untersuchungshaftvollzugsordnung) – UHVO – vom 8. November 1968; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 11285. 97 Gemeinsame Festlegungen der Hauptabteilung IX und der Abteilung XIV des MfS zur einheitlichen Durchsetzung einiger Bestimmungen der Untersuchungshaftvollzugsordnung – UHVO – in den Untersuchungshaftanstalten des MfS vom 13. August 1975; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 166, Bl. 15 f. 98 Ebenda, Bl. 10. 99 Vgl. ebenda, Bl. 12. 100 Vgl. ebenda, Bl. 15. 101 Ebenda. 102 Schmidt, Dietmar: Das Untersuchungshaftrecht der Deutschen Demokratischen Republik und die auf seiner Grundlage erfolgende Vollzugspraxis in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 20. Oktober 1975; BStU, MfS, JHS, MF VVS 001-339/75, Bl. 47. 103 Vgl. ebenda.

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deutlich bei der Vorbereitung und schließlich der Durchführung von Gerichtsverhandlungen zum Ausdruck – »alle auftretenden Probleme« seien »abgesprochen« und Lösungen »durchgesetzt« worden.104 Schmidts Einschätzung zufolge gelang es dadurch, dass die gerichtlichen Hauptverhandlungen durch das MfS »richtig abgesichert wurden und es zu keinen Zwischenfällen kommen konnte«.105 Die nachfolgende, ebenso für die Vollzugsorgane des Ministeriums des Innern gültige Dienstanweisung aus dem Jahr 1980 war wiederum vom Generalstaatsanwalt, dem Minister des Innern und dem Minister für Staatssicherheit gemeinsam erlassen und ist wie das Dokument von 1968 nur als grobe Richtlinie für MfS-interne Bestimmungen zum konkreten Vollzug der Untersuchungshaft einzuschätzen.106 Erst sechs Jahre später erließ Erich Mielke im Januar 1986 neue Vorgaben ausschließlich für seine Mitarbeiter, die auf der Grundlage der »Gemeinsamen Anweisung« von 1980 die Untersuchungshaft des Ministeriums für Staatssicherheit regeln sollten.107 Dem damaligen Leiter der Abteilung XIV, Siegfried Rataizick, wurde hierin aufgetragen, eine Haus-, Besucher- und Effektenordnung wie auch eine Transportanweisung einschließlich Bestimmungen zur Sicherung der Gerichtsvorführungen und eine Anweisung zur Überführung Inhaftierter in zivile medizinische Einrichtungen auszuarbeiten.108 Die sechs anhängigen Dokumente sind auf den gleichen Tag datiert.109 Die Hausordnung wurde den Inhaftierten zu lesen gegeben und nannte 104 Ebenda, Bl. 48. 105 Ebenda. 106 Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR; Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei; Minister für Staatssicherheit: Gemeinsame Anweisung über die Durchführung der Untersuchungshaft vom 22. Mai 1980; BStU, MfS, HA IX, Nr. 718, Bl. 235–262. Zu dieser Einschätzung kommt auch Beleites: Abteilung XIV, S. 4. 107 Dienstanweisung Nr. 1/86 über den Vollzug der Untersuchungshaft und die Gewährleistung der Sicherheit in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8151. Zur vorangehenden (erstmaligen) inhaltlichen Diskussion zwischen Generalstaatsanwalt (GStA), MdI sowie MfS, bei der der GStA zuletzt vergeblich die Dauer der Freistunde der Häftlinge von 30 auf 60 Minuten heraufzusetzen versuchte vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 35. 108 Vgl. Dienstanweisung Nr. 1/86 über den Vollzug der Untersuchungshaft und die Gewährleistung der Sicherheit in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8151, Bl. 43 f. 109 Vgl. Abteilung XIV, Leiter: Ordnungs- und Verhaltensregeln für in die Untersuchungshaftanstalt aufgenommene Personen – Hausordnung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 8153; Abt. XIV, Leiter: Ordnung Nr. 2/86 zur Organisierung, Durchführung und Kontrolle des Besucherverkehrs in den Untersuchungshaftanstalten des MfS – Besucherordnung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8154; Abt. XIV, Leiter: Ordnung Nr. 3/86 über den Umgang mit den Effekten Verhafteter in den Untersuchungshaftanstalten des MfS – Effektenordnung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8156; Abt. XIV, Leiter: Anweisung Nr. 4/86 zur Sicherung der Transporte Inhaftierter durch Angehörige der Abt XIV – Transportsicherungsanweisung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8158; Abt. XIV, Leiter: Anweisung Nr. 3/86 zur Sicherung Inhaftierter bei den Vorführungen zur gerichtlichen Hauptverhandlung durch Angehörige der

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deren »Rechte und Pflichten« wie sie auch die »Ordnungs- und Verhaltensregeln verbindlich fest[legte]«.110 Sie beinhaltete Vorschriften zu den Angehörigenkontakten, zur Verpflegung, zu den Nachtruhezeiten, zum Freigang und zur Bekleidung der Gefangenen. Sie erlaubte den Häftlingen, sich individuell zu beschäftigen, »(Rauchen, Lesen, genehmigte Unterhaltungsspiele zu benutzen), […] sich mit den aktuellen Tagesereignissen vertraut zu machen« oder sich »im Verwahrraum in angemessener Form religiös zu betätigen«.111 Andererseits hatten die Inhaftierten wiederum grundsätzlich »die in [der] Hausordnung festgelegten Ordnungs- und Verhaltensregeln einzuhalten«.112 Sie mussten die Weisungen des Wachpersonals »umgehend« befolgen, den vorgeschriebenen Tagesablauf einhalten, das Zelleninventar pfleglich behandeln, medizinischen Versorgungsmaßnahmen nachkommen und »Gefahren für Personen und Sachen« abwenden oder melden.113 Den von der Außenwelt räumlich ohnehin völlig isolierten Untersuchungshäftlingen war es weiterhin untersagt, in der Zelle »zu lärmen, zu pfeifen, zu klopfen, zu singen« oder »in jeder Form der akustischen und optischen Zeichengebung […] unerlaubte Kontakte herzustellen«.114 Sie hatten die Wände der »Verwahrräume« und deren spärlichen Einrichtungsgegenstände nicht »zu verunstalten, zu beschmutzen, zu beschädigen oder zu zerstören«.115 Ungenehmigte Aufzeichnungen anzufertigen war ebenso verboten wie andere Häftlinge gegen das Personal aufzuwiegeln, sich selbst oder einander gegenseitig zu tätowieren oder in anstaltseigenen Büchern und Zeitungen Markierungen vorzunehmen, Textstellen unkenntlich zu machen oder zu entfernen.116

Abt. XIV – Vorführungsanweisung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, HA IX, Nr. 659, Bl. 430–435; Abt. XIV, Leiter: Anweisung Nr. 5/86 zur Sicherung der Einweisung Inhaftierter in zivile medizinische Einrichtung des Gesundheitswesens – Anweisung zivile medizinische Einrichtungen vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, HA IX, Nr. 659, Bl. 482–485. 110 Abteilung XIV, Leiter: Ordnungs- und Verhaltensregeln für in die Untersuchungshaftanstalt aufgenommene Personen – Hausordnung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8153, Bl. 2. Gleiches gilt für die vorangegangenen Dokumente aus den Jahren 1971 und 1977. Vgl. Befehl Nr. 6/71 über die Ordnungs- und Verhaltensregeln von Inhaftierten in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit vom 1. März 1971; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 1408 sowie Ordnungs- und Verhaltensregeln für Inhaftierte in den Untersuchungshaftanstalten (Hausordnung) (undatiert 1977); BStU, MfS, Rechtsstelle, Nr. 276. 111 Abteilung XIV, Leiter: Ordnungs- und Verhaltensregeln für in die Untersuchungshaftanstalt aufgenommene Personen – Hausordnung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8153, Bl. 2 f. 112 Ebenda, Bl. 3. 113 Ebenda. 114 Ebenda. Verstöße gegen diese Bestimmung ahndete die Abt. XIV in enger Absprache mit dem Untersuchungsorgan beispielsweise mit dem Entzug von gewährten Vergünstigungen. Vgl. Bericht der Abt. XIV vom 23. Februar 1977; BStU, MfS, AS 204/83, Nr. 7700/76, Bl. 11. 115 Abteilung XIV, Leiter: Ordnungs- und Verhaltensregeln für in die Untersuchungshaftanstalt aufgenommene Personen – Hausordnung vom 29. Januar 1986; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8153, Bl. 4. 116 Ebenda.

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Um zu verhindern, dass die Gefangenen gegen die Vorschriften verstießen, führte das Wachpersonal der Abteilung XIV in regelmäßigen Abständen »Sicht- und Horchkontrollen« durch.117 Wichtig war dabei ein »geräuschloses Verhalten«, um sicherzustellen, dass sich die Häftlinge »nicht auf die bevorstehende Kontrolle einrichten können«.118 Derartige Kontrollen wurden auch in der Nacht durchgeführt, um Störungen oder gar Suizidversuche der Verhafteten zu verhindern. Hierzu schalteten die Mitarbeiter von außen das Licht in der Zelle an: »Auf plötzliche Geräusche oder Bewegungen beim Einschalten […]« war dabei besonders »zu achten«.119 Die Hausordnung verbot den Inhaftierten, die Kontrollen durch das Wachpersonal tags wie nachts in jedweder Form zu behindern, beispielsweise indem sie die »Sichtkontrollöffnung«120 in der Zellentür, das Guckloch, mit der Hand verdeckten. Akustische Kontrollen sollten unter anderem dazu dienen, Informationen über »Absichten, Stimmungen und Meinungen« der Verhafteten zu erfahren und sie »zur schnelleren Aufklärung von Straftaten« an das Untersuchungsorgan zu melden.121 Da die Gefangenen »an die normalen Geräusche entsprechend dem Tagesablaufplan gewöhnt« wären, hatte auch bei den Horchkontrollen »geräuschloses Verhalten« oberste Priorität.122 Die Beschuldigten sollten möglichst keinen Verdacht schöpfen, was vor ihrer Zellentür vor sich ging. Unter dem Motto »Viel hören, ohne selbst bemerkt zu werden!« hatten die Wachmannschaften selbst die »Verwendung von Parfüm und Rasierwasser [zu] vermeiden«.123 Mit diesen Ordnungen und Anweisungen vom Januar 1986 war für die Verantwortlichen der Linie XIV erst- und letztmalig zugleich ein umfassendes und hinlänglich übersichtliches Regelwerk geschaffen worden, das die tatsächlichen Arbeitsschwerpunkte und Zuständigkeiten der Haftvollzugseinheit strukturierte.124 Offenkundig brauchte ein solches Konvolut an Vorschriften jedoch Zeit, um zu reifen: Letztlich waren es nach Ansicht des Abteilungsleiters Siegfried Rataizick »die umfangreichen theoretischen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen […] in allen Abteilungen XIV, die uns [die einzelnen Abteilungsleiter] in die Lage versetzten, dienstliche Dokumente zu erarbeiten,

117 Ministerium des Innern; Publikationsabteilung: Handbuch für operative Dienste. Für SVAngehörige der operativen Dienste (Nur für den Dienstgebrauch!) (unter Mitarbeit von Hermann Kühnel, Willi Hässelbarth, Armin Schmid et al.), Berlin 1982, S. 67 f. 118 Ebenda, S. 67. 119 Ebenda. 120 Ebenda, S. 68. 121 Ebenda. 122 Ebenda. 123 Ebenda. 124 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 36.

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die gegenwärtigen und perspektivischen Erfordernissen im politisch-operativen Untersuchungshaftvollzug des MfS gerecht werden« konnten.125 Bis zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit im Herbst 1989 gehörten intransparente Arbeitsmethoden und fehlende Kontrollmöglichkeiten zu den Wesensmerkmalen der Stasi und deren Untersuchungsorgan. Gut zwei Wochen nach dem Fall der Mauer versuchte jedoch die HA IX des nun in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umgetauften Staatssicherheitsdienstes angesichts der »zu erwartende[n] zunehmende[n] parlamentarische[n] Kontrolle des Untersuchungsorgans […] eine neue und exakte Abgrenzung der operativen von der Untersuchungsarbeit« vorzunehmen.126 Die Verfasser eines Papiers mit Vorschlägen zur Ausgestaltung einer künftigen Ermittlungsabteilung pochten darauf, dass von jetzt an strafprozessuale Untersuchungshandlungen »nur auf der Grundlage nachprüfbarer Begründungen, letztlich auf der Basis offizieller Beweismittel« stattfinden sollten.127 Offenbar mussten die AfNS-Ermittler erst so sehr in Bedrängnis geraten wie angesichts der drohenden Abwicklung ihres Dienstherrn im Spätherbst 1989, bevor sie sich – stellenweise widerwillig – den veränderten politischen Gegebenheiten anpassen und sogar vorherige Rechtsverletzungen durch die Hintertür eingestehen konnten. So sollte auch die bisher angewandte Praxis, nach der die Haftrichter zur richterlichen Vernehmung der Beschuldigten in die Haftanstalten kamen, modifiziert werden. Die bisherige Vorgehensweise sei »zu prüfen«, »die notwendige Unabhängigkeit des Gerichts […] [ließe] es geboten erscheinen, Untersuchungsgefangene künftig […] in den Räumen des Gerichts vorzuführen«.128 Bereits wenige Tage zuvor hatte Oberstleutnant Konrad Lohmann, Mitarbeiter des Arbeitsbereichs Grundsatzfragen der HA IX,129 in einem Schreiben die »seit Jahren« schwelende Debatte »um die Vorführung des Verhafteten […] vor das zuständige Gericht« aufgegriffen und den DDR-Justizorganen die mahnende Frage »Wer wird wem vorgeführt? Der Richter dem Verhafteten oder umgekehrt?« in den Mund gelegt.130 Für die UHA Berlin-Hohenschönhausen bot er 125 Rataizick, Siegfried: Referat zur Dienstkonferenz der Abteilung XIV des MfS Berlin vom 5. bis 6. März 1986 zum Thema: »Die politisch-operativen Aufgaben zur einheitlichen Durchsetzung der Dienstanweisung 1/86 des Genossen Minister über den Vollzug der Untersuchungshaft und der Gewährleistung der Sicherheit in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit« (Entwurf mit handschriftlichen Änderungen), 20. Februar 1986; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 533, Bl. 57. 126 HA IX: Vorschläge zu Verantwortung, Aufgaben und Arbeitsweise eines künftigen Untersuchungsorgans vom 20. November 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 11416, Bl. 19. 127 Ebenda. 128 Ebenda, Bl. 20. 129 Unterstruktur innerhalb der AKG der HA IX. 130 HA IX/AKG/Arbeitsbereich Grundsatzfragen, OSL Lohmann, Konrad: Einige Überlegungen zur weiteren Profilierung der Tätigkeit der Hauptabteilung Untersuchung vom 17. November 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 10823, Bl. 8. Vgl. hierzu ebenfalls Beleites: Abteilung XIV, S. 36.

Ermittlungsarbeit und Untersuchungshaftvollzug

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eine »Kompromisslösung« an, nach der die dort einsitzenden Personen nun statt in der Haftanstalt selbst im Gebäude des Stadtbezirksgerichts (SBG) Berlin-Lichtenberg richterlich vernommen werden könnten.131 Die Arbeit des Staatsanwaltes, speziell sein formales Aufsichtsrecht über Ermittlungsverfahren, wurde hier gleichfalls thematisiert. So fragte sich der Verfasser dieses MfSinternen Diskussionspapiers, ob »es nicht ihm [dem Staatsanwalt] überlassen bleiben [sollte], wie er seine Aufsicht ausübt [Hervorhebungen i. Orig.]«.132 Lohmann empfahl schließlich, dass »auf alle Fälle […] der Staatsanwalt den Antrag auf Haftbefehl nicht nur zu stellen, sondern auch selbstständig zu formulieren [habe]« und wohlgemerkt »nicht die Untersuchungsabteilung« des MfS.133 Der Mitarbeitervorschlag der HA IX vom 20. November 1989 stellte weiterhin zwei Alternativen zur Disposition, wie ein neu aufgestelltes Ermittlungsorgan strukturiert sein könnte. Die erste Variante sah vor, die Untersuchungsabteilung im Amt für Nationale Sicherheit zu belassen. Dabei sollte die Weisungsbefugnis des neuen Amtsleiters Wolfgang Schwanitz so ausgestaltet werden, »dass den strafprozessualen Vorschriften stets Rechnung getragen wird«.134 Den Vorteil hiervon sahen die Verfasser darin, dass die langjährig aktiven Mitarbeiter des ehemaligen Staatssicherheitsministeriums durch ihre Berufserfahrung »die Lagebedingungen exakter kennen«, diese »in ihrer Untersuchungsarbeit berücksichtigen können«, sie der »Lösung der Gesamtaufgaben des Amtes unmittelbar verpflichtet« seien und nicht zuletzt mit dessen operativen Diensteinheiten »wirksame[r]« kooperieren könnten.135 Beinahe schon selbstkritisch wurde jedoch eingeräumt, dass »eine solche Integration antisozialistischen Kräften Anlass für Angriffe auf das Amt« geben könnte.136 Daher bestand die zweite Option in der Ausgliederung der AfNS-Untersuchungsabteilung, die mit den Ermittlungseinheiten des MdI und der Zollverwaltung »zu einem einheitlichen Organ zur Untersuchung schwerer Kriminalität zusammengeführt« und dem Justizminister oder dem Generalstaatsanwalt unterstellt werden sollte.137 Hierfür wurde vor allem als Argument ins Feld geführt, »dass die zum Demokratieverständnis von Teilen der internationalen Öffentlichkeit gehörende Unabhängigkeit der Untersuchungsorgane von Polizei und Sicherheitsorgan betont würde und den genannten Angriffen [gegen die erste 131 HA IX/AKG/Arbeitsbereich Grundsatzfragen, OSL Lohmann, Konrad: Einige Überlegungen zur weiteren Profilierung der Tätigkeit der Hauptabteilung Untersuchung vom 17. November 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 10823, Bl. 8. 132 Ebenda. 133 Ebenda. 134 HA IX: Vorschläge zu Verantwortung, Aufgaben und Arbeitsweise eines künftigen Untersuchungsorgans vom 20. November 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 11416, Bl. 20. 135 Ebenda, Bl. 20 f. 136 Ebenda, Bl. 21. 137 Ebenda.

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Variante] vorgebeugt werden könnte«.138 Doch all diese Überlegungen liefen ins Leere. Zu einer Umsetzung der Pläne ist es bekanntlich nicht mehr gekommen: Am 14. Dezember 1989 wurde das Amt für Nationale Sicherheit ersatzlos aufgelöst.

1.2

Hauptsitz des Untersuchungsorgans (Hauptabteilung IX)

Hauptsitz des Untersuchungsorgans (Hauptabteilung IX)

Auf dem Gelände der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen war von 1951 bis zur Stilllegung des Gefängnisses im Januar 1990 das MfSeigene Untersuchungsorgan, die Hauptabteilung (HA) IX ansässig. Im Gefüge des MfS stellte die HA IX eine Besonderheit dar, da sie als Ermittlungsabteilung über die im Staatssicherheitsdienst üblichen geheimdienstlichen und -polizeilichen Befugnisse hinaus offizielle strafverfahrensrechtliche Aufgaben bei politischen oder »politisch-operativ« bedeutsamen Ermittlungsverfahren wahrnahm. Als eigenständige Abteilung wurde das Untersuchungsorgan bereits 1950 gegründet;139 vermutlich am 25. November 1953 erhielt sie den Rang einer Hauptabteilung und war unmittelbar dem Minister für Staatssicherheit unterstellt.140 Die HA IX bearbeitete sogenannte Untersuchungsvorgänge auf der Basis eines formal eingeleiteten Ermittlungsverfahrens, das in der Regel mit der Inhaftierung des jeweils Beschuldigten in MfS-eigenen Untersuchungshaftanstalten (UHA) einherging.141 Welcher Delikte sich die Ermittler des MfS in Abgrenzung zum Zuständigkeitsbereich des Ministeriums des Innern annehmen durften, war nicht genau definiert.142 In der Praxis sah sich 138 Ebenda. 139 Das Gefängnisgelände wurde allerdings erst im März 1951, also über ein Jahr nach der Gründung des MfS, vom sowjetischen Staatssicherheitsministerium (Министерство государственной безопасности, MGB) an die DDR-Regierung übergeben. Vgl. Erler, Peter: Ein Geheimdienst richtet sich ein. Zur Baugeschichte, Strukturentwicklung und Sicherung des MfS-Sperrgebietes in BerlinHohenschönhausen (1. Hälfte der fünfziger Jahre). In: ZdF (2003)14, S. 93. 140 Vgl. Kaderakte von Kurt Richter, der bis zum 24. November 1953 als Oberstleutnant der Abteilung IX, ab dem 25. November 1953 als Oberstleutnant der Hauptabteilung IX geführt wird. BStU, MfS, KS I 15/84, Bd. 1, Bl. 2. Vgl. Kaderakte von Alfred Scholz, der bis zum 24. November 1953 als Oberst der Abteilung IX, ab dem 25. November 1953 als Oberst der Hauptabteilung IX geführt wird. BStU, MfS, KS I 4/86, Bd. 1, Bl. 2. Bei Erler und Knabe wird der Dezember 1953 als Datum der Umwandlung in eine Hauptabteilung angegeben, allerdings ohne dazugehörige Quellenangabe. Vgl. Erler; Knabe: Der verbotene Stadtteil, S. 47. 141 Daneben untersuchte die Hauptabteilung auch politisch oder politisch-operativ bedeutsame Vorkommnisse im Rahmen eines strafrechtlichen Prüfungsverfahrens auf der Grundlage des § 95 StPO (»Prüfen von Anzeigen und Mitteilungen«), Strafprozessordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 62. 142 Die Sicherheitskommission des Politbüros hatte allerdings 1959 festgelegt, dass »Vorgänge, die die Tatbestände des Staatsverbrechens enthalten können«, vom MfS und dessen Untersuchungsorgan bearbeitet werden sollen. Konkret sollte der Einsatz erfolgen »bei Anzeichen von Feindtätigkeit,

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die Stasi bei Straftaten verantwortlich, »bei denen ein staatsfeindlicher Hintergrund von vornherein nicht auszuschließen war, die Auswirkungen der Delikte öffentlichkeitswirksam und/oder besonders schädlich sein konnten und das MfS ein geheimdienstliches Interesse an den Tätern hatte«.143 Eine interne Richtlinie aus dem Jahr 1950 definierte den Personenkreis, den der Staatssicherheitsdienst unter anderem durch dessenVerhaftung unschädlich machen sollte, pauschal als »Verbrecher […], die eine aktive feindliche antidemokratische Tätigkeit ausüben«.144 Die HA IX bearbeitete Ermittlungsverfahren in den Bereichen der sogenannten »politischen Untergrundtätigkeit« und in Fällen von »Angriffen gegen die Staatsgrenze«, also Versuchen, die DDR zu verlassen. Sie übernahm die Untersuchungen bei Wirtschaftsverbrechen, Havarien und Bränden sowie vereinzelt auch bei Tötungsvergehen oder Suiziden, die als sicherheitsrelevant erachtet wurden. Darüber hinaus wurde die Hauptabteilung bei Militärstraftaten und in Fällen von NS-Verbrechen aktiv.145 Sie bildete das Verbindungsglied zu den Staatsanwaltschaften und den Gerichten und arbeitete vor allem bei Ermittlungen zu Fluchtdelikten mit den Geheimpolizeien anderer sozialistischer Länder zusammen. Die HA IX war ähnlich wie andere MfS-Diensteinheiten in einzelne spezialisierte Schwerpunktabteilungen aufgegliedert, die sich nach und nach herausbildeten. Zuletzt bestand folgende Struktur: Die Abteilung 1 war für Ermittlungsverfahren bei Spionageverdacht, die Abteilung 2 für die Bearbeitung von Verfahren gegen »politische Untergrundtätigkeit« zuständig. Die Abteilung 3 ermittelte bei Wirtschaftsdelikten, die Abteilung 5 gegen straffällig gewordene hauptamtliche und inoffizielle MfS-Angehörige sowie bei Delikten gegen Angehörige des MfS.146 Die Unterabteilung 6 war für Ermittlungsverfahren bei bei Vorgängen, die für die DDR von großer politischer und wirtschaftlicher Bedeutung sind [sowie] bei Vorgängen, die nur mit den spezifischen Mitteln des Ministeriums geklärt werden können«. Beschluss der Sicherheitskommission des Politbüros vom 22. Januar 1959 zur Koordinierung der Aufklärung von Staatsverbrechen, bestätigt vom Politbüro am 24. Januar 1959. In: Hoffmann, Dierk; Schmidt, Karl-Heinz; Skyba, Peter (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949–1961, München 1993, S. 328. 143 Joestel: Die »Rechtspfleger« von der Sicherheit, S. 48. 144 Richtlinien zur Erfassung der durch die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR verhafteten Personen, S. 42. 145 In Hohenschönhausen wurden von der HA IX/11 nach bisherigen Kenntnissen in 45 Fällen Ermittlungsverfahren wegen NS- oder Kriegsverbrechen geführt, unter anderem im Zentralen Untersuchungsvorgang (ZUV) 65 (BStU, MfS, HA IX/11 ZUV 65 sowie dazugehörige Teilvorgänge (TV)), zuvor Zentraler Operativ-Vorgang (ZOV) »Bestien« der HA XX/2. 146 Ursprünglich existierte auch eine Abteilung 4 (Auswertungs- und Kontrollgruppe, Statistik) – die Abteilung ist 1982 aufgelöst und in die Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der HA IX integriert worden. Ebenso verhält es sich bei der bis 1982 bestehenden Abteilung 8. Vgl. Wiedmann, Roland: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989 (MfS-Handbuch, V/1), Berlin 1995, S. 131.

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Militärstraftaten zuständig, so beispielsweise bei Fahnenflucht- bzw. »Republikflucht«-Delikten der NVA-Grenzsoldaten, aber auch bei Straftaten von respektive gegen in der DDR stationierte sowjetische Armeeangehörige.147 Die Abteilung 7 befasste sich mit »politisch-operativ« bedeutsamen Vorkommnissen wie Tötungsdelikten, Suiziden, Havarien oder Bränden,148 die HA IX/9 mit Straftaten im Bereich des »staatsfeindlichen Menschenhandels«, worunter sowohl Fluchthilfevergehen als auch sämtliche Verstöße im Zusammenhang mit »Republikflucht« und Kontaktaufnahmen zu westlichen Institutionen mit dem Ziel der Ausreise aus der DDR zu fassen waren. Schließlich bearbeitete die 1968 gegründete Abteilung IX/11 Ermittlungsverfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher, wozu auch die Archivierung von relevanten Schrift- und Filmdokumenten, die Materialerfassung über die antifaschistische Widerstandsbewegung und ein eigener Informationsspeicher gehörten.149 Im Jahr 1989 verfügte die Hauptabteilung darüber hinaus über eine eigene Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG),150 eine SED-Grundorganisation, die Arbeitsgruppe des Leiters (AGL) sowie über das Selbstständige Referat Sonderaufgaben des Ministers (SR S), das im Wesentlichen mit der strafprozessualen Abwicklung des Häftlingsfreikaufs betraut war.151 Zusätzlich existierte innerhalb der HA IX die Arbeitsgruppe Koordinierung. Hinter dieser etwas schmucklosen Bezeichnung verbarg sich diejenige Einheit, welche für die Koordination des Einsatzes sogenannter »Zelleninformatoren« oder von Abhöranlagen in den Untersuchungsgefängnissen verantwortlich zeichnete.152 Diese Zuständigkeit bezog sich auch auf deren Einsatz im Strafvollzug der Sonderhaftanstalt Bautzen II, die – obwohl Teil der MdI-Strafvollzugsverwaltung – 147 Diese Untereinheit der HA IX hatte ihren Dienstsitz jedoch nicht in Hohenschönhausen, sondern in der Lichtenberger Magdalenenstraße. Die im Zuge dieser Ermittlungsverfahren Inhaftierten wurden im dortigen Untersuchungsgefängnis Berlin II in Haft gehalten. 148 Vgl. Wiedmann: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 132. 149 Vgl. ebenda, S. 133. Die Abteilung 12 war für die materiell-technische und finanzielle Sicherstellung der Hauptabteilung zuständig. Wegen ihrer marginalen Bedeutung für die Praxis der Ermittlungsführung soll sie hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt sein. 150 Seit Mitte der sechziger Jahre unter der Bezeichnung HA IX/8 aktiv. Die AKG war noch einmal in 9 Unterbereiche aufgeteilt: Auswertung, EDV, Anleitung und Kontrolle, Grundsatzfragen, Arbeitsgruppe Koordinierung (AG K), Arbeitsgruppe Analyse, Arbeitsgebiet Auswertung, Arbeitsgebiet Technik, Arbeitsgebiet mit spezifischen Aufgaben. Vgl. ebenda, S. 129 f. 151 Vgl. ebenda, S. 130. Vgl. zum sogenannten Häftlingsfreikauf ab 1962/63 Wölbern, Jan Philipp: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, Göttingen 2014; Jenkis, Helmut: Der Freikauf von DDR-Häftlingen. Der deutschdeutsche Menschenhandel (Zeitgeschichtliche Forschungen, 45), Berlin 2012 sowie Hammer, ElkeUrsel (Hg.): »Besondere Bemühungen« der Bundesrepublik, Bd. 1: 1962 bis 1969. Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch (Dokumente zur Deutschlandpolitik, Sonderedition), München 2012, insbesondere S. IX–XXI. Vgl. weiterhin Rehlinger, Ludwig A.: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1961–1989, Berlin/Frankfurt/M. 1991 und Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, insbesondere S. 133. 152 Vgl. Vollnhals: »Die Macht ist das Allererste«, S. 248.

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unter besonderer Obhut der HA IX stand. Im Gegensatz zu den meisten anderen operativen Abteilungen des MfS führte die Untersuchungseinheit keine inoffiziellen Mitarbeiter im eigentlichen Sinne; allerdings bemühte sie sich innerhalb der MfS-eigenen Haftanstalten jenseits offizieller Vernehmungen um größtmögliche Informationsgewinnung mit geheimdienstlichen Methoden, indem die Mitarbeiter unter den Untersuchungsgefangenen Spitzel anwarben.153 Der Personalumfang der HA IX in Berlin-Hohenschönhausen entwickelte sich zwischen 1954 und 1989 im Gegensatz zu dem der Haftvollzugsabteilung erheblich.154 In diesem Zeitraum wuchs der Mitarbeiterbestand um das Siebeneinhalbfache von anfänglich 64 auf zuletzt 484 Angestellte an.155 Im Zuge der ständigen Strukturausdehnung des Ermittlungsorgans wurden immer mehr Mitarbeiter benötigt, die den spezialisierten Aufgaben gerecht werden konnten. Die strafrechtliche Ahndung von Fluchtdelikten und die Kriminalisierung von Menschen, die ihre Ausreise aus der DDR beantragten, verlangten nach entsprechendem Personal, welches derartige Fälle professionell und effizient bearbeiten konnte. Den größten Einstellungsschub erlebte die Abteilung in der zweiten Hälfte der sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre: Waren im Jahr 1966 noch 182 Angestellte in der Untersuchungsabteilung tätig, arbeiteten 1976 bereits 407 Mitarbeiter in der Hohenschönhausener Diensteinheit. Demgegenüber fiel der Zuwachs an Hauptamtlichen in den achtziger Jahren von 419 (1980) auf 484 im letzten Jahr der DDR vergleichsweise gering aus. Dies entspricht den wichtigsten Ausbauphasen innerhalb der Hauptabteilung: Mitte der sechziger Jahre trat die HA IX/9 zur Bearbeitung von Fluchtund Fluchthilfefällen auf den Plan, als nach dem Bau der Berliner Mauer und dem deutsch-deutschen Transitabkommen zu Beginn der siebziger Jahre derartige Delikte zahlenmäßig deutlich zu Buche schlugen. In diesen Zeitraum fiel auch die Bildung der Auswertungs- und Kontrollgruppe, die zu Analysezwekken statistische Arbeiten innerhalb der Abteilung übernahm. 1968 richtete man zusätzlich die HA IX/11 speziell für die Sammlung und Erschließung von Unterlagen zu NS-Verbrechen ein. Daneben wurden Anfang der siebziger Jahre in allen ermittelnden Abteilungen der HA IX Unterreferate für die sogenannte Vorkommnisuntersuchung eingerichtet, die jenseits formal eingeleite-

153 Dabei endete die Verpflichtung zur Informationssammlung nicht zwingend mit dem Abschluss des Ermittlungsverfahrens und der Untersuchungshaft – zahlreiche »Zelleninformanten« wurden im Strafvollzug in DDR-Gefängnissen nach deren Verurteilung eingesetzt. Vgl. Wunschik, Tobias: Der DDR-Strafvollzug unter dem Einfluss der Staatssicherheit in den siebziger und achtziger Jahren. In: Engelmann; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, insbesondere S. 470 ff. 154 Für den Zeitraum davor liegen den Studien von Jens Gieseke zufolge für die Berliner Zentrale keine Zahlen vor. Vgl. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS-Handbuch, IV/1), Berlin 1996, statistisches Beilagenblatt. 155 Vgl. ebenda.

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ter Ermittlungsverfahren Geschehnisse von »feindlichem Charakter oder hoher Gesellschaftsgefährlichkeit« zu überprüfen hatten.156 Für das Untersuchungsorgan des Staatssicherheitsdienstes waren zwischen 1951 und 1990 Alfred Scholz, Kurt Richter, Walter Heinitz und schließlich Rolf Fister als Leiter zuständig: Der frühere Laborant Alfred Scholz (1921– 1978) leitete die Abteilung und spätere Hauptabteilung IX von 1950 bis 1956. Scholz, der nach kurzer sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1943 eine »AntifaSchule« in Tallinn durchlief, war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Mitglied im Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD). Er schloss sich Partisanenbrigaden in Weißrussland und Polen an und beteiligte sich seit Januar 1945 als Soldat der 70. Armee am Vormarsch der sowjetischen Truppen bis Güstrow. Im Herbst 1945 trat Scholz in die KPD ein. Am 1. Oktober 1949 wurde er Angehöriger der Länderverwaltung Mecklenburg, schließlich Abteilungsleiter in der mecklenburgischen Verwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft, einer Vorgängerorganisation des Ministeriums für Staatssicherheit. Noch vor der offiziellen Übernahme der Haftanstalt durch das MfS wurde Scholz mit Wirkung zum 1. April 1950 Leiter des Untersuchungsorgans, bis er schließlich am 1. Mai 1956 die Hauptabteilung II der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) übernahm.157 1964 wurde Scholz zum Generalmajor ernannt.158 Ende der sechziger Jahre absolvierte er einen Fernstudienlehrgang an der JHS in Potsdam und schloss als Diplom-Jurist ab. Mittlerweile Generalleutnant, wurde Scholz 1975 stellvertretender Minister für Staatssicherheit und erhielt zwei Jahre später den »Vaterländischen Verdienstorden« in Gold.159 Am 11. August 1978 verstarb er im DDR-Regierungskrankenhaus in BerlinBuch.160 Im Mai 1956 beerbte ihn Kurt Richter (1919–1975) im Amt des Leiters der HA IX. Der gebürtige Berliner kam im Januar 1945 im Alter von 25 Jahren als Wehrmachtsangehöriger in sowjetische Gefangenschaft,161 wo er das »Antifa156 Wiedmann, Roland: Die Diensteinheiten des MfS 1950–1989. Eine organisatorische Übersicht (MfS-Handbuch, V/3), Berlin 2012, S. 302. 157 Vgl. die Dienstzeitauflistung Alfred Scholz' in dessen Kaderakte; BStU, MfS, KS I 4/86, Bd. 1, Bl. 2 f. 158 Vgl. ebenda, Bd. 1, Bl. 3 und 57. 159 Vgl. Gieseke (Hg.): Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit, S. 67. Vgl. Kaderakte von Alfred Scholz; BStU, MfS, KS I 4/86, Bd. 1, Bl. 9. 160 Vgl. ebenda, Bl. 3. 161 Richter wurde bereits im September 1939 zur Infanterie der Wehrmacht einberufen, der er bis 1945 angehörte. Von November 1940 bis zum Frühjahr 1942 war Richter zur Rüstungsindustriearbeit in Berlin-Neukölln (Farbenfabrik Zollner Werke GmbH) beurlaubt (Deutsche Arbeitsfront). Im Juli 1942 kam er als Angehöriger der 15. Panzerdivision zu einem Fronteinsatz bei El Alamein/Ägypten unter Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Er wurde verwundet und mit dem Panzerkampfabzeichen in Bronze ausgezeichnet. Nach einem Einsatz in Neapel/Italien 1943 wurde er noch im Januar 1945 in Polen in einer Panzerdivision eingesetzt. Vgl. Kaderakte von Kurt Richter; BStU, MfS, KS I 15/84, Bd. 1, Bl. 13.

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Aktiv« seines Lagers in Kiew leitete.162 Nach seiner Entlassung im Mai 1948 trat er in die Berliner SED ein, wurde Lehrer an der Kreisparteischule in Berlin-Kaulsdorf und 1949 Sekretär einer SED-Betriebsgruppe in Treptow. Nach einem einjährigen Lehrgang an der SED-Parteihochschule »Karl-Marx« begann Richter am 1. Januar 1951 seine Laufbahn als Sachbearbeiter beim Ministerium für Staatssicherheit in der Abteilung IX in Berlin-Hohenschönhausen.163 Bereits ein Jahr später war er deren stellvertretender Leiter und dort verantwortlich für die »Leitung, Anleitung, Kontrolle und Schulung der Abteilungen IX in sämtlichen Bezirksverwaltungen und der Mitarbeiter im Besonderen«.164 Anlässlich des zwölften Jahrestags der DDR-Staatsgründung erhielt Richter am 7. Oktober 1961 die »Medaille für Verdienste in der Rechtspflege« in Gold, dotiert mit einer Prämienzahlung in Höhe von 1 000 Mark.165 Im März 1964 endete seine Tätigkeit in der Hauptabteilung. Er wechselte in das Büro der Leitung (BdL) beim Minister für Staatssicherheit. Erich Mielke betraute ihn mit der Durchführung sogenannter Sonderaufgaben, ab 1969 in der Zentralen Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (ZAGG).166 Nach einem Fernstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin wurde Richter 1966 zum Doktor der Rechtswissenschaften ernannt;167 ein Jahr später trat er der Vereinigung demokratischer Juristen Deutschlands bei. Er arbeitete seit 1964 an der Neufassung des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung der DDR mit, schließlich auch als Mitglied einer hierfür eingesetzten Staatsratskommission.168 Am

162 Seit Oktober 1947 war er schließlich Vorsitzender des Antifa-Komitees im Lager 7062. Vgl. ebenda, Bl. 14. 163 Offenbar wurde das MfS noch während Richters Lehrgang an der Parteihochschule »Karl Marx« auf ihn aufmerksam. In einem Schreiben mit dem Betreff »Verwendung der Teilnehmer des I. Einjahres- und II. Zweijahreslehrganges der Parteihochschule« findet sich die Notiz »Wer interessiert sich f. d. Genossen: Stasi. […] Unsere Meinung: Stasi [Unterstrichen i. Orig.]. Vgl. ebenda, Bl. 24. 164 Schreiben der Abt. IX an die HA Personal vom 16. September 1952 mit dem Vorschlag der Beförderung Richters; ebenda, Bl. 25. 165 Vgl. ebenda, Bl. 5. 166 Hier ist er bis zu seinem Tod im Alter von 55 Jahren tätig. Vgl. ebenda, Bd. 2, Bl. 1; zur Biographie Richters vgl. v. a. Gieseke (Hg.): Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit, S. 62. 167 Richter wurde mit der Arbeit »Zur Analyse von Staatsverbrechen gegen die Ökonomik der Deutschen Demokratischen Republik, die von imperialistischen Geheimdiensten ausgehen (theoretische Grundlagen)« am 7. Mai 1966 »magna cum laude« zum Dr. iur. promoviert. Vgl. Ernennungsurkunde in der Kaderakte von Kurt Richter; BStU, MfS, KS I 15/84, Bd. 1, Bl. 62. Die Kaderakte enthält im Lebenslauf unter der Kategorie »erlernte Berufe« neben der Berufsbezeichnung »Jurist« in der Spalte »wo gelernt (Betrieb, Institution)« den Vermerk »praktische Erfahrungen und Extern-Studium HumboldtUniversität Berlin«, worunter seine Praxis als Untersuchungsführer und Ermittler in der HA IX zu verstehen ist. Ebenda, Bl. 4. 168 Vgl. Dankesschreiben des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, an den Genossen Oberst Dr. Kurt Richter vom 12. Februar 1968; ebenda, Bl. 64.

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21. Juli 1969 wurde Richter mit dem »Vaterländischen Verdienstorden« in Silber ausgezeichnet.169 1964 übernahm Walter Heinitz (1915–1987) die Leitung der MfSErmittlungsabteilung. Der ausgebildete Orchestermusiker wurde 1937 zum NS-Reichsarbeitsdienst, wenig später zur Wehrmacht eingezogen.170 Wegen sogenannter Wehrkraftzersetzung von einem Militärgericht verurteilt wurde Heinitz 1944 der Strafdivision 999 zugeteilt und kehrte 1945 nach Deutschland zurück, wo er noch im gleichen Jahr der KPD beitrat.171 Er begann seine Dienstkarriere in der politischen Polizei in Chemnitz, der späteren K5; 1949 wechselte Heinitz in die sächsische Verwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft.172 Nach der Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit war er zunächst in den Kreisdienststellen Chemnitz und Stollberg sowie in Dresden eingesetzt, bis man ihn 1951 zum Untersuchungsorgan (Abteilung Spionage) in Berlin versetzte. Bereits 1952 stieg er zum Abteilungsleiter, 1957 zum stellvertretenden Hauptabteilungsleiter auf. Heinitz ermittelte in dieser Zeit unter anderem persönlich gegen den früheren DDR-Außenminister Georg Dertinger (CDU), der von Januar 1953 bis Juni 1954 in Hohenschönhausen inhaftiert war und schließlich wegen angeblicher Verschwörung und Spionage vom Obersten Gericht (OG) der DDR zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde.173 Nach einem zweijährigen Fernstudium an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität übernahm Heinitz 1964, mittlerweile Kriminalist mit Staatsexamen,174 die Leitung der HA IX. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde er bereits mehrfach für seine Dienste im MfS ausgezeichnet, unter anderem mit der »Medaille für treue Dienste der NVA« und mit dem »Vaterländischen Verdienstorden« in Bronze und Silber (1960 und 1964).175 169 Vgl. ebenda, Bl. 5. 1959 hatte er bereits den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze erhalten. 170 Zwischen 1937 und 1941 war Heinitz Angehöriger der Musikkorps in Chemnitz und Polen (Infanterie-Regiment 102), später in Frankreich (Ersatz-Bataillon 102). Vgl. Disziplinarakte von Walter Heinitz; BStU, MfS, Diszi 6037/92, Bd. 1, Bl. 14. 171 Zur Strafdivision 999 vgl. exemplarisch Klausch, Hans-Peter: Die 999er. Von der Brigade »Z« zur Afrika-Division 999: Die Bewährungsbataillone und ihr Anteil am antifaschistischen Widerstand, Frankfurt/M. 1986. Siehe auch die ursprünglich 1965 in der DDR erschienene Sammlung von Erinnerungsberichten: Strafdivision 999. Erlebnisse und Berichte aus dem antifaschistischen Widerstandskampf, Berlin (Ost) 1966. 172 Wie die Hauptverwaltung (und die Landesverwaltungen) zum Schutz der Volkswirtschaft war das Kommissariat 5 (K5) strukturell eine Vorgängerinstitution des 1950 gegründeten Ministeriums für Staatssicherheit. Vgl. Gieseke: Das Ministerium für Staatssicherheit (1950–1990), S. 373; Ders.: Die Stasi 1945–1990, München 2011, S. 23. 173 Vgl. BStU, MfS, AU 449/54. 174 Heinitz verfasste 1964 seine Examensarbeit zum Thema »Arbeitsweise und Methodik des Bundesnachrichtendienstes (BND) gegen die Deutsche Demokratische Republik (DDR)«. BStU, MfS, JHS, MF 393. 175 Die »Medaille für treue Dienste der NVA« erhielt er ebenfalls in Bronze und Silber (1957 und 1959). Vgl. BStU, MfS, Diszi 6037/92, Bd. 1, Bl. 14.

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Unter seiner Leitung kam es unter den Vernehmern in Hohenschönhausen des Öfteren zu schwerwiegenden Trinkgelagen, an denen er sich gemeinsam mit seinem späteren Amtsnachfolger Rolf Fister beteiligte.176 Bereits 1967 unterbreitete die HA KuSch Minister Erich Mielke den Vorschlag, »Genossen Oberst Heinitz von seiner Tätigkeit als Leiter der Hauptabteilung IX zu entbinden […], da […] er durch seine Verhaltensweise […] sich als Leiter […] unmöglich gemacht hat und es nicht mehr zu verantworten ist, ihn an der Spitze der Hauptabteilung zu belassen«.177 Im Dezember 1971 wurde Heinitz schließlich aus gesundheitlichen Gründen bis auf Weiteres von der Leitung der HA IX entbunden;178 1973 folgte die Entlassung aus dem Ministerium für Staatssicherheit.179 Von 1973 bis 1990 leitete Rolf Fister (1929–2007) das MfS-Untersuchungsorgan in Berlin-Hohenschönhausen. Der nahe Leipzig geborene Sohn eines Schlossers begann 1944 eine Ausbildung zum Chemigraphen; bis 1948 war er in diesem Beruf tätig. Am 21. Januar 1952 wurde der damals 22-Jährige in den Staatssicherheitsdienst aufgenommen und ein Jahr lang an der MfSSchule in Potsdam-Eiche ausgebildet.180 Im Mai 1953 nahm Fister seine Arbeit als Ermittler und Vernehmer in der Hauptabteilung IX auf, wo er »hauptsächlich mit der Bearbeitung schwieriger und politisch wichtiger Vorgänge« beauftragt wurde.181 1958 stieg er zum stellvertretenden Abteilungsleiter der HA IX/1 auf. Zusätzlich war er seit 1954 in der SED-Grundorganisation seiner Diensteinheit aktiv. Noch während seines Fernstudiums an der Humboldt-Universität zu Berlin (Fachrichtung Kriminalistik) wurde er 1966 Stellvertreter des Hauptab-

176 Vgl. Informationsschreiben der HA KuSch, Major Kynast vom 3. April 1967; ebenda, Bl. 16–20, hier 19. Informationsschreiben der HA KuSch, Oberst Mühlpforte vom 6. April 1967; ebenda, Bl. 25–31, hier 25 f. 177 Schreiben des Leiters der HA KuSch, Oberst Robert Mühlpforte an den Minister vom 8. April 1967; ebenda, Bl. 24. 178 Vgl. Vermerk von Generalmajor Mühlpforte, HA KuSch vom 20. Dezember 1971; BStU, MfS, Diszi 6037/92, Bd. 3, Bl. 3. In der Begründung zur Beschlussvorlage über die Entbindung Heinitz' und den Einsatz Fisters heißt es: »Genosse Oberst Heinitz ist bereits seit längerer Zeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, seine Funktion wahrzunehmen. Auf Grund eines vorliegenden ärztlichen Gutachtens macht es sich notwendig, ihn als Leiter der Hauptabteilung IX zu entbinden und entsprechend der Versorgungsordnung des Ministeriums für Staatssicherheit vorzeitig zu berenten.« Kaderakte von Rolf Fister; BStU, MfS, KS 3382/90, Bl. 121. 179 Vgl. Gieseke (Hg.): Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit, S. 29. Die Entlassung erfolgte am 21. März 1973. Heinitz erhielt eine Invalidenrente. Vgl. BStU, MfS, Diszi 6037/92, Bd. 1, Bl. 1. 180 Fister wurde zunächst im Dienstgrad eines Hauptwachtmeisters als operativer Mitarbeiter in der Bezirksverwaltung Leipzig, Abt. IV (Spionage) eingestellt. Vgl. Kaderakte von Rolf Fister; BStU, MfS, KS 3382/90, Bl. 11 f. 181 Vorschlag der Hauptabteilung IX (Walter Heinitz) zur Beförderung des Leutnant Fister […] zum Oberleutnant, 22. April 1955; ebenda, Bl. 60.

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teilungsleiters Walter Heinitz.182 Zwei Jahre nach Übernahme des Leitungspostens der HA IX wurde Fister 1975 an der Juristischen Hochschule Potsdam mit »summa cum laude« zum Dr. iur. promoviert;183 drei Jahre später erhielt er den militärischen Rang eines Generalmajors.184 In seine Amtszeit als Leiter der HA IX fallen Ermittlungsverfahren gegen zahlreiche prominente Oppositionelle wie den Schriftsteller und Psychologen Jürgen Fuchs, die Liedermacher Gerulf Pannach und Christian Kunert, den Systemkritiker Rudolf Bahro sowie gegen Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung der achtziger Jahre wie Stephan Krawczyk, Freya Klier, Bärbel Bohley und Vera Wollenberger. Für seine Arbeit im MfS wurde Rolf Fister mehrfach prämiert.185 Er leitete das Untersuchungsorgan bis zur Auflösung des DDR-Staatssicherheitsdienstes; am 14. Januar 1990 wurde er aus dem Dienst entlassen.186

1.3

Hauptsitz der Abteilung Haftvollzug (Abteilung XIV)

Hauptsitz der Abteilung Haftvollzug (Abteilung XIV)

Die Abteilung XIV war diejenige Diensteinheit des DDR-Staatssicherheitsdienstes, die für den Vollzug der Untersuchungshaft in den 17 MfSeigenen Haftanstalten verantwortlich zeichnete.187 Anfänglich von der Abtei-

182 Gemeinsam mit Richard Voigt schloss er 1965 sein Fernstudium an der HumboldtUniversität mit einer Arbeit »Zur Methodik der Anwerbung und Ausbildung von Agenten des amerikanischen Geheimdienstes für den Einsatz zur Spionagetätigkeit gegen die DDR« ab, die auch als internes Schulungsmaterial für auszubildende MfS-Mitarbeiter verwendet wurde. BStU, MfS, JHS, MF 546. 183 Fister, Rolf et al.: Organisierung der Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels, als JHSPromotionsarbeit eingereicht am 10. Juli 1975; BStU, MfS, JHS VVS 001-206/75. Noch im gleichen Jahr erließ der Minister für Staatssicherheit den Befehl Nr. 1/75 zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels vom 15. Dezember 1975. In: Lochen, Hans-Hermann; Meyer-Seitz, Christian (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern, Köln 1992, S. 73–85. 184 Auf Beschluss des Politbüros anlässlich des 28. Jahrestages der MfS-Gründung gemeinsam mit Joachim Büchner (Leiter der HA VII), Werner Großmann (stellv. Leiter der HV A), Günther Kratsch (Leiter der HA II) und Wolfgang Schwanitz (Leiter der BV Berlin); vgl. BStU, MfS, KS 3382/90, Bl. 137. 185 So unter anderem 1963 mit der »Verdienstmedaille der DDR«, 1969 mit dem »Vaterländischen Verdienstorden in Bronze«, 1973 mit dem sowjetischen »Orden des Roten Sterns« oder 1974 mit der »Medaille für Verdienste in der Rechtspflege in Gold«; vgl. ebenda, Bl. 18. 186 Vgl. Auflistung der MfS-Dienstposten von Rolf Fister in seiner Kaderakte; ebenda, Bl. 12 f., hier 13. 187 Neben den zwei Untersuchungsgefängnissen auf Ministeriumsebene in Berlin (UHA I in Hohenschönhausen und UHA II in der Lichtenberger Magdalenenstraße) existierten noch weitere 15 Haftanstalten in Berlin-Pankow (Kissingenstraße) sowie in den Bezirkshauptstädten Potsdam,

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lung Untersuchungshaft der Abteilung IX wahrgenommen, wurden die Vollzugsaufgaben 1952 auf die selbstständige, nun ausgegliederte Abteilung Gefängniswesen (später Abteilung XIV) des MfS übertragen.188 Eine gesetzliche Grundlage, die dem MfS gestattet hätte, eigene Untersuchungshaftanstalten zu betreiben, existierte nicht.189 Die Tätigkeit der MfS-Ermittler erforderte besonderen Geheimnisschutz, und so schien die Einrichtung eigener Haftkomplexe der »Feindbekämpfung« zweckdienlicher als es mit dem bisherigen Gaststatus möglich war, den die Ermittler der Linie IX bei Vernehmungen von Inhaftierten in den Gefängnissen des Innenministeriums genossen. Es handelte sich mutmaßlich um reine Praktikabilitätserwägungen, allen voran um die der Geheimhaltungswahrung, die den Betrieb eigener Untersuchungsgefängnisse rechtfertigten. Und auch innerhalb der Haftanstalten des MfS, zu denen nur die eigenen Mitarbeiter Zutritt hatten, galt die Anweisung, Häftlinge »ohne Störungen und Dekonspiration«190 durch die UHA zu führen. Die zentrale Funktion der Abteilung bestand in der technischen Sicherung der Haftanstalten, vorrangig des als UHA I bezeichneten Untersuchungsgefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen. Deren Angestellten hatten für die »pausenlose […] Bewachung der Häftlinge«191 zu sorgen, sie bewirtschafteten die Haftanstalt und stellten die medizinisch-sanitäre Betreuung der Insassen sicher. Uniformierte Wachmannschaften übernahmen die Durchsuchung und die Leibesvisitation der Häftlinge bei ihrer Einlieferung in die Haftanstalt und brachten sie auf Anweisung der Hauptabteilung IX zu den Verhören in die dem Zellentrakt angegliederten Vernehmungszimmer. Die Isolation der Gefangenen hatte dabei so weit zu gehen, dass »Häftlinge bei der Führung innerhalb der Haftanstalt auf Treppen oder Korridoren nicht von anderen Häftlingen gesehen werden oder sie selbst keine anderen Häftlinge sehen«.192 Den Mitarbeitern war es während ihres Dienstes nicht erlaubt, private, geschweige denn deliktbezogene Gespräche mit den Beschuldigten zu führen oder gar Geschenke oder Gegenstände entgegenzunehmen.193

Magdeburg, Leipzig, Halle, Suhl, Gera, Erfurt, Cottbus, Chemnitz bzw. Karl-Marx-Stadt, Schwerin, Rostock, Neubrandenburg, Dresden und Frankfurt/Oder. 188 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 47. 189 Im Gegensatz zur Hauptabteilung IX, die im Rechtspflegeerlass von 1963 und in der Strafprozessordnung von 1968 als staatliches Untersuchungsorgan genannt wurde, tauchte das MfS als Einrichtung, die zur Durchführung der Untersuchungshaft bemächtigt ist, in keinem offiziellen Dokument mit Normencharakter auf. Entscheidend waren interne Dienstanweisungen und Richtlinien – meist mit dem Status einer Vertraulichen oder Geheimen Verschlusssache –, die den Haftvollzug in den MfS-Untersuchungsgefängnissen regelten. 190 Dienstanweisung für den Dienst und die Ordnung in den Untersuchungs-Haftanstalten des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 2. Oktober 1955; BStU, MfS, SdM 1872, Bl. 302. 191 Ebenda, Bl. 297. 192 Ebenda. 193 Ebenda, Bl. 303.

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Neben diesen Aufgaben war die Abteilung XIV für die Sicherung von Beweismitteln bei der Aufnahme der Häftlinge und für die Aufbewahrung persönlicher Gegenstände der Inhaftierten verantwortlich. In den einzelnen MfSUntersuchungshaftanstalten leitete die Abteilung XIV sogenannte Strafgefangenenarbeitskommandos an. Diese setzten sich aus bereits verurteilten Häftlingen zusammen und waren damit betraut, die Haftanstalten materiell instandzuhalten und die Untersuchungsgefangenen zu verpflegen.194 Außer der Sicherung der zentralen Haftanstalten auf höchster Ebene195 lag die Anleitung und Kontrolle der UHA auf Bezirksebene ebenfalls im Zuständigkeitsbereich der Abteilung XIV. Bei Festnahmen von DDR-Bürgern im Ausland, beispielsweise bei Fluchtversuchen über andere sozialistische Staaten, sorgte sie für den Rücktransport in die DDR und die Einlieferung in die Untersuchungshaftanstalt. Auch die Überführung von Fahrzeugen und deren anschließende Beschlagnahme wurden von ihr übernommen. Die Abteilung XIV blieb in ihrem Tätigkeitszuschnitt als eine der wenigen MfS-Diensteinheiten über ihr gesamtes Bestehen hinweg weitestgehend konstant.196 Sie war – so zumindest seit den siebziger Jahren – in sechs Unterabteilungen mit unterschiedlichen Schwerpunktzuschnitten aufgeteilt.197 Die mitarbeiterstärkste Unterabteilung XIV/1 sorgte für die Sicherung der UHA Berlin I in Hohenschönhausen und der Abteilung Haftkrankenhaus (HKH) des Zentralen Medizinischen Dienstes (ZMD)198; darüber hinaus war sie auch für die Absicherung der Haftanstalten in den Bezirken zuständig. Die Mitarbeiter der Abteilung XIV/1, die Schließer und Wachmannschaften, kontrollierten die Untersuchungsgefangenen in ihren Zellen und bewachten das Gefängnisgebäude und den Vernehmertrakt von außen. Demgegenüber übernahm die Abteilung XIV/2 Vollzugsaufgaben innerhalb der Haftanstalt BerlinHohenschönhausen und im zugehörigen Haftkrankenhaus. Die Angestellten dieser Unterabteilung hatten den wohl intensivsten Kontakt zu den Untersuchungshäftlingen: Sie nahmen sie in die Haftanstalt auf, durchsuchten sie bei der Einlieferung, brachten sie zu den Vernehmungen und medizinischen Untersuchungen, nahmen Anfragen und Beschwerden entgegen und sorgten für die Einhaltung der Hausordnung. Außerdem führten diese Mitarbeiter die haftvollzugsbezogenen Anweisungen der Hauptabteilung IX aus. Das Untersuchungsorgan leitete der Abteilung XIV unter ermittlungsund vernehmungstaktischen Gesichtspunkten zu, welche Vergünstigungen 194 In der Regel handelte es sich um Strafgefangene, gegen die zuvor das MfS ermittelt hatte. 195 UHA Berlin I und II. 196 Vgl. Sélitrenny: Doppelte Überwachung, S. 319; vgl. auch Beleites: Abteilung XIV, S. 20–23. 197 Vgl. ebenda, S. 50. 198 Bis 1973 Abt. Medizinischer Dienst. Vgl. Richter, Klaus; Eiselt, Rainer (Hg.): Abkürzungsverzeichnis. Häufig verwendete Abkürzungen und Begriffe des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin 2009, siehe Anlage.

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und hafterleichternden Maßnahmen einem Untersuchungshäftling zu gewähren oder aber welche haftverschärfenden Sanktionen ihm aufzuerlegen sind. Die sogenannten Untersuchungsführer entschieden ebenfalls ermittlungsstrategisch, ob die Inhaftierten in Einzelhaft oder gemeinsam mit anderen Häftlingen unterzubringen sind. Eigene Ermessensspielräume waren der Abteilung Haftvollzug dabei kaum zugewiesen. Daneben war ein Referat der Abteilung XIV/2 für den Transport von Gefangenen der Haftanstalten in Hohenschönhausen und Lichtenberg (UHA II in der Magdalenenstraße) innerhalb Berlins zuständig.199 Die Unterabteilung XIV/3 war mit sämtlichen Sicherungs- und Vollzugsaufgaben in der UHA Berlin II, dem zweiten zentralen Untersuchungsgefängnis des MfS in der Lichtenberger Magdalenenstraße, betraut.200 Bei ausländischen beziehungsweise westdeutschen Untersuchungsgefangenen fanden alle Häftlingsbesuche durch Diplomaten oder Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in den Räumen dieser Haftanstalt statt.201 Dabei spielte es keine Rolle, in welcher der insgesamt 17 MfS-Haftanstalten der einzelne Gefangene eigentlich untergebracht war. Angehörigen- oder Rechtsanwaltsbesuche wurden ebenfalls in der Magdalenenstraße durchgeführt. Das MfS stellte auf diesem Wege sicher, dass kein Externer, mit Ausnahme des zuständigen Haftrichters, den Sperrbezirk in Hohenschönhausen jemals betrat.202 Für die Betreuung und die »politisch-operative« Leitung der Strafgefangenenarbeitskommandos in Hohenschönhausen zeichnete die Abteilung XIV/4 verantwortlich.203 Die hier eingesetzten, bereits verurteilten Strafgefangenen waren nach Geschlecht und damit einhergehend auch nach verschiedenen Tätigkeitsbereichen getrennt. Weibliche Häftlinge waren in der Regel im Reinigungs- und Küchendienst tätig, männliche Gefangene arbeiteten vorran199 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 21. 200 Das zuständige Referat 6 sorgte entsprechend zur Abteilung XIV/2 dafür, dass die Gefangenen in die Haftanstalt aufgenommen, durchsucht, zu den Vernehmungen und medizinischen Untersuchungen gebracht werden. Das Referat 5 der Abteilung widmete sich der Betreuung des männlichen Strafgefangenenarbeitskommandos und auch der Absicherung und organisatorischen Betreuung des Besucherverkehrs in der Haftanstalt. 201 »Im Berichtszeitraum [1975] wurden von der HA IX 284 Konsularbesuche abgesichert. Das ist gegenüber 1974 (113 Besuche) eine Steigerung auf 251 %. Dabei handelt es sich um 199 Besuche von Untersuchungsgefangenen und um 85 Besuche bei Insassen der Strafvollzugsanstalt Bautzen II. Allein von der Ständigen Vertretung der BRD wurden 235 Besuche (82,7 %) durchgeführt, wozu 26 Mitarbeiter der Ständigen Vertretung eingesetzt wurden.« Die »technische« Durchführung dieser Konsularbesuche oblag der Abt. XIV. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1975; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2802, Bl. 179. 202 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 21. 203 Gehörte dies bereits vorher zur gängigen Praxis, so war der Abt. XIV mit dem Befehl Nr. 17/86 explizit die Anwendung geheimdienstlicher Methoden gegen Strafgefangene im Arbeitseinsatz angeordnet. Vgl. Befehl Nr. 17/86 des Ministers vom 3. Oktober 1986 über den Vollzug von Freiheitsstrafen an Strafgefangenen in den Abt. XIV des MfS; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. o008-22/86.

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gig in Kfz-Werkstätten auf dem Gelände der Haftanstalt. Mitunter kam es je nach Beruf und Ausbildung der Strafgefangenen auch zu einem qualifikationsbezogenen Einsatz im SGAK.204 Die Mitarbeiter der Abteilung XIV/5 sicherten die Transporte der in Hohenschönhausen und Lichtenberg untergebrachten Häftlinge zwischen den beiden Haftanstalten, zu den Prozessterminen oder bei Verlegungen in andere Untersuchungshaft- und Strafvollzugsanstalten in der DDR.205 Sie sorgten auch für den Rücktransport von Personen, die in anderen Ländern des Warschauer Paktes festgenommen worden waren. Auch um die Überführung von dort zurückgelassenen Fahrzeugen kümmerte sich diese Unterabteilung.206 Die materiellen und finanziellen Fäden hielt die Abteilung XIV/6 in der Hand.207 Vergleichbar mit einer Verwaltung für rückwärtige Dienste sorgte sie neben der Finanzadministration für die Instandhaltung der Haftanstalten, der dazugehörigen Vernehmertrakte, der Räumlichkeiten des Haftkrankenhauses sowie für die Wartung von Dienstfahrzeugen und Sicherungsanlagen auf dem Gelände des Untersuchungsgefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen. Für den Küchenbetrieb und das dortige Lebensmitteldepot war diese Unterabteilung ebenso verantwortlich wie für die Verwaltung der Gefangenenkonten, die Untersuchungshäftlinge wie auch Inhaftierte des SGAK für die Zahlung zusätzlicher Lebensmittel, Hygieneprodukte oder für Luxusartikel wie Kaffee oder Zigaretten nutzten. Über diese Konten wurde auch die Vergütung der SGAK-Angehörigen und bei Unterhaltspflichtigen die Auszahlung entsprechender Beträge abgewickelt.208 Die Abteilung XIV war im Rahmen von Ermittlungsverfahren mit Haft grundsätzlich eine Art »Dienstleisterin« des Untersuchungsorgans.209 MfSintern hatte sie stets unter Imageproblemen zu leiden. Zeit ihrer Existenz wurde sie lediglich als Erfüllungsgehilfin der HA IX betrachtet. Eine bessere Ausbildung der Mitarbeiter und Versuche, »die politisch-operative Abwehrarbeit der Linie XIV weiter zu qualifizieren«210, sollten der Haftvollzugsabteilung zumindest in den achtziger Jahren zu einem gesteigerten Ansehen innerhalb

204 So berichtet die ehemalige Strafgefangene Sigrid Paul von ihrer Tätigkeit in einem Zahntechniklabor. Vgl. Paul, Sigrid: Mauer durchs Herz. In: Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen, S. 245. 205 Vgl. Wiedmann: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 140. 206 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 23. 207 Vgl. Wiedmann: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 141. 208 Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 23. 209 Vgl. ebenda, S. 50. 210 Lemke, Eberhard: Grundsätzliche Anforderungen an die Suche, Auswahl und Gewinnung geeigneter inoffizieller Kräfte unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Linie XIV und ihre planmäßige und systematische Vorbereitung für die Übergabe an operative Linien des MfS (ohne Datierung); BStU, MfS, JHS, MF GVS o001-79/84, S. 52 (MfS-Paginierung).

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des Ministeriums verhelfen. So stellte ein Hauptmann der Bezirksverwaltung Berlin 1988 fest: »Die Diensteinheiten der Linie XIV sind keine Untersuchungsorgane […]. Die Angehörigen der Abteilung XIV können jedoch durch ihre spezifische Tätigkeit in den Untersuchungshaftanstalten die Linie Untersuchung des MfS unterstützen und dazu beitragen, die Ziele der jeweiligen Strafverfahren zu erreichen, indem sie dafür Sorge tragen, dass vom Verhafteten ausgehende Gefahren ausgeschaltet bzw. auf ein Minimum reduziert werden, kein Verhafteter sich dem Strafverfahren entziehen und die strafrechtliche Verantwortlichkeit Beschuldigter oder Angeklagter umfassend geprüft werden kann.«211

Allerdings sah man in der Abteilung auch die Grenzen, die der eigenen Initiative bei der »Sicherung des Strafverfahrens« gesteckt waren, zumal durch »einseitige Einleitung von Maßnahmen durch Mitarbeiter der Abteilung XIV […] empfindlich die operativen Interessen der Untersuchungsabteilung gestört werden« und somit »Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Ermittlungsverfahren entstehen« konnten.212 Wenn auch die Linien IX und XIV dem Minister für Staatssicherheit direkt unterstellt waren, galten zwischen ihnen doch deutliche Hierarchien und Prestigeunterschiede. Der Personalumfang der Haftvollzugsabteilung insgesamt veränderte sich nur wenig.213 Dies hängt natürlich mit ihrer strukturellen Aufgabe im Gefüge des Ministeriums zusammen: Die Untersuchungshaftanstalten unter ihrer Obhut blieben in ihrer Anzahl konstant und erweiterten ihr Fassungsvermögen nur marginal und vereinzelt. In der Hohenschönhausener Zentrale wurde 1960 ein neues Vollzugsgebäude in Betrieb genommen, welches das bisher genutzte Kellergefängnis ablöste und im Vergleich wesentlich großzügiger gestaltet war.214 Und dennoch: Während für die meisten Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit eine Vervielfachung ihres Mitarbeiterbestandes zu verzeichnen ist, wuchs die Zentrale der Abteilung XIV von 110 Mitarbeitern im Jahr 1954 auf »lediglich« 255 im Oktober 1989 an.215

211 Kätzel, Christian: Anforderungen an die qualifizierte Sicherung von Beweismitteln bei der Aufnahme Inhaftierter in eine Untersuchungshaftanstalt des MfS, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 31. August 1988; BStU, MfS, JHS 21369, Abt. XIV, Nr. 310, S. 74 (MfS-Paginierung). 212 Schmidt, Dietmar: Das Untersuchungshaftrecht der Deutschen Demokratischen Republik und die auf seiner Grundlage erfolgende Vollzugspraxis in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 20. Oktober 1975; BStU, MfS, JHS, MF VVS 001-339/75, S. 47 (MfS-Paginierung). 213 Für die Linie XIV, also der vollständigen Diensteinheit, liegen den Forschungen von Johannes Beleites zufolge lediglich ab 1972 Gesamtzahlen vor. Für die Hohenschönhausener Zentrale kann allerdings auf Zahlenmaterial ab immerhin 1954 zurückgegriffen werden. Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 56 f. 214 Zur Baugeschichte vgl. Abschnitt 3.1 dieser Arbeit. 215 Für die Linie XIV insgesamt sind Personalstärken von 783 (1971) bis hin zu 941 (Oktober 1989), also eine Steigerung um rund 20 %, zu verzeichnen. Vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 56.

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Zwischen 1952 und 1990 führten insgesamt drei Personen die Geschäfte der Haftvollzugsabteilung des MfS: Paul Rumpelt, Hans Bialas und Siegfried Rataizick. Der gelernte Elektriker Paul Rumpelt (1909–1961) war erster Leiter der Abteilung.216 Er trat 1933 in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein und wurde noch im gleichen Jahr von der Gestapo in Schutzhaft genommen. Nachdem er eine fünfmonatige Gefängnisstrafe wegen unerlaubten Waffenbesitzes verbüßt hatte, arbeitete er von 1935 bis 1945 in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) als Schlosser in seiner Geburtsstadt Riesa (Sachsen). Eine Woche nach Kriegsende wurde er erneut Mitglied der KPD und späteren SED.217 Nach mehreren Stationen bei der Volkspolizei nahm er ab Oktober 1949 an einem einjährigen Lehrgang in Moskau teil. Zurück in Berlin, wurde Rumpelt 1950 als Leiter in der Abteilung IV (Spionageabwehr) des MfS eingesetzt.218 Im April 1952 übertrug man ihm schließlich die Leitung der Abteilung XIV; schon am 16. Dezember 1952 erhielt er wegen eines Verstoßes gegen seine dienstliche Aufsichtspflicht einen Verweis.219 1958 wechselte er als Abteilungsleiter in das Büro der Leitung (BdL) des Ministeriums. Er wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet, unter anderem 1959 mit dem »Vaterländischen Verdienstorden« (VVO) in Bronze.220 Dem Gefängniswesen sollte Rumpelt auch nach seinem Weggang aus Hohenschönhausen treu bleiben – 1960 übernahm er die neugegründete MfS-Abteilung XVI, zuständig für Sicherungsaufgaben im Bereich des Strafvollzugs.221

216 Vgl. ebenda, S. 51; vgl. Gieseke, Jens (Hg.): Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit. Kurzbiographien des MfS-Leitungspersonals 1950 bis 1989 (MfS-Handbuch, V/4), Berlin 2012 (aktualisierte Ausgabe), S. 65. 217 Die KPD wurde 1946 zwangsweise mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zusammengeschlossen. 218 Die handschriftliche »Eidesstattliche Verpflichtung«, vom späteren Minister für Staatssicherheit Erich Mielke als Verpflichtendem unterschrieben, findet sich in der Kaderakte von Paul Rumpelt. BStU, MfS, KS 252/61, Bl. 55 f. 219 In der Begründung heißt es: »Kommandeur Rumpelt hat als Leiter der Abt. XIV gröblichst gegen die ihm obliegende Aufsichtspflicht verstoßen. Hierdurch war es möglich, dass untragbare Zustände in der Strafvollzugsanstalt eintreten konnten.« Kaderakte Paul Rumpelt; BStU, MfS, KS 252/61, Bl. 96. Die Disziplinarstrafe wird mit dem Kaderbefehl Nr. 371/53 des Ministers vom 25. November 1953 gelöscht. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 194, Bl. 1. 220 1952 bis 1956 erhielt er 4 Prämienzahlungen in Höhe von 1 000 M, zweimal 750 M und einmal 600 M. 1957 wurde er mit der »Medaille für treue Dienste NVA« und der »Verdienst-Medaille der NVA in Bronze«, 1958 mit der »Medaille für Kämpfer gegen den Faschismus«, 1959 mit der »Medaille für treue Dienste in Silber« und schließlich 1960 mit der »Medaille für treue Dienste in Gold« ausgezeichnet. Vgl. Kaderakte Paul Rumpelt; BStU, MfS, KS 252/61, Bl. 12. 221 Die Abteilung XVI wurde 1960 gegründet. Ihr wurden Aufgaben aus dem vormaligen Zuständigkeitsbereich der Abt. XIV übertragen. 1974 wurde sie wieder Strukturteil der Abt. XIV, Teilaufgaben wurden der Verwaltung Rückwärtige Dienste (VRD) übertragen. Vgl. Engelmann, Roger et al. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR, Berlin 2012, S. 27.

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1958 folgte ihm Hans Bialas (1911–1964) als Leiter der Abteilung XIV.222 Der gelernte Drainagearbeiter trat 1929 der KPD bei und wurde 1933 von der Gestapo Ratibor in Schutzhaft genommen. 1937 wurde Bialas erneut wegen Verbreitung von Flugblättern unter dem Verdacht der Vorbereitung zum Hochverrat verhaftet, ein Jahr später allerdings ohne Urteil entlassen. 1943 erfolgte Bialas' Einberufung zur Wehrmacht, von Februar bis November 1945 befand er sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Deutschland. Noch im Dezember 1945 wurde Bialas als Kommissar bei der Berliner Kriminalpolizei eingestellt.223 Er trat erneut der KPD und späteren SED bei. Am 1. März 1950 stellte ihn schließlich das Ministerium für Staatssicherheit ein und er begann seine Tätigkeit in der Gefängnisverwaltung.224 1951 wurde Bialas erster Leiter der Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen,225 wo er seinen Vorgesetzten zufolge »aktiv am Aufbau des Haftwesens […] beteiligt«226 war und sich »verantwortungsbewusst, dienstfreudig und gewissenhaft«227 zeigte. Seit 1953 im Dienstgrad eines Majors Referatsleiter in der Abteilung XIV, wurde er im September 1957 kommissarisch stellvertretender Abteilungsleiter,228 »weil man sich zu jeder Zeit auf ihn verlassen kann«.229 Am 18. Oktober übernahm er schließlich die Abteilung Haftvollzug.230 In diesem Amt blieb Bialas offenbar nicht lange erfolgreich, er trat »[…] unkonsequent auf und leistet[e] keine zielstrebige Arbeit […]«.231 Bereits 1961 erwog man in der Hauptabteilung Kader und Schulung (HA KuSch), den »Genossen Bialas in der Perspektive als Leiter der Abteilung XIV abzulösen und durch einen poli222 Vgl. Beleites: Abteilung XIV: Haftvollzug, Berlin 2004, S. 51 f.; Gieseke (Hg.): Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit, S. 12. 223 Vgl. Kaderakte von Hans Bialas; BStU, MfS, KS II 69/65, Bd. 1, Bl. 2. 224 Vgl. ebenda. 225 Seit dem 1. Dezember 1952 in Personalunion Leiter der Haftanstalt I der Abt. XIV in BerlinHohenschönhausen; ebenda, Bl. 15. 226 Aktenvermerk zum Vorschlag zum Einsatz als Stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung XIV vom 26. August 1957; ebenda, Bd. 1, Bl. 5. 227 Beurteilung der Abteilungsleitung vom 30. November 1953; ebenda, Bd. 1, Bl. 20. In einer Beurteilung durch die SED-Grundorganisation XIV/I vom 28. August 1956 wird erwähnt, dass Bialas Leiter der Objekte I und IV sei. BStU, MfS, KS II 69/65, Bd. 1, Bl. 28. Bei letzterem handelte es sich vermutlich um das zur Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen gehörende Haftkrankenhaus. Zur Zuordnung des »Objektes IV« als Haftkrankenhaus vgl. Beleites: Abteilung XIV, S. 48, Anmerkung 250. 228 So bescheinigte man Bialas im November 1952, dass er »alle ihm gestellten Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit« erfüllt und er »seinen Mitarbeitern Vorbild« ist. Attestationsblatt vom 11. November 1952; BStU, MfS, KS II 69/65, Bd. 1, Bl. 15. 229 Aktenvermerk zum Vorschlag zum Einsatz als Stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung XIV vom 26. August 1957; ebenda, Bl. 5. 230 1959 steigt Bialas zum Oberstleutnant auf. Vgl. ebenda, Bl. 9. Anlässlich des 8. Jahrestages der DDR-Gründung erhält Bialas 1957 die »Medaille für treue Dienste in der NVA«. Zu seinem 50. Geburtstag erhält er die gleiche Auszeichnung in Gold (20. Juni 1961). Ebenda, Bd. 1, Bl. 12. 231 Bericht betr. Zustand der Abteilung XIV des MfS vom 7. Dezember 1959; ebenda, Bl. 93.

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Die Ermittlungs- und Untersuchungshaftzentrale

tisch qualifizierten und charakterlich stärkeren Genossen zu ersetzen«.232 In der Haftanstalt Berlin II in Lichtenberg war es im Sommer 1961 aktenkundig zu sexuellen Übergriffen einiger Wachmänner auf weibliche Untersuchungsgefangene gekommen; Bialas hatte die delikate Situation offenbar nicht unter Kontrolle.233 Einzelne Mitarbeiter der dortigen Haftanstalt waren alkoholisiert zum Dienst angetreten und mitunter so betrunken, dass sie nicht mehr arbeitsfähig waren.234 1962 ließ Bialas zudem entgegen geltender Vorschriften die eigene Wohnung von Strafgefangenen des Hohenschönhausener Arbeitskommandos renovieren.235 Am 1. Oktober desselben Jahres wurde er schließlich von seiner Funktion entbunden, da er »den ständig größer werdenden Aufgaben nicht mehr gewachsen« zu sein schien.236 Einen Monat später ging Oberstleutnant Bialas in den Altersruhestand.237 Der 31-jährige Hauptmann Siegfried Rataizick übernahm die kommissarische Leitung der Abteilung. Der gebürtige Hallenser Rataizick (geb. 1931) führte die Abteilung XIV fortan bis zur Auflösung des MfS. Nach seiner Lehre arbeitete er zunächst als Klempner, dann als Kraftfahrer. Im Sommer 1951 trat Rataizick in die SED ein; am 27. August 1951 begann schließlich seine Laufbahn bei den MfSWachmannschaften in Halle/Saale.238 Bereits zum 1. November versetzte man den damals 20-Jährigen in die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen, wo er als sogenannter Schließer anfing. Er führte »seinen Dienst gewissenhaft und zuverlässig durch[,] erledigt[e] ihm übergebene Aufträge stets zur Zufriedenheit«, war »dienstfreudig und verlässlich«, wie seine Vorgesetzten zu berichten wussten.239 Rataizick war ein MfS-Kader mit guten Karriereaussichten: Die Personalabteilung der Stasi bescheinigte ihm, stets »bemüht« zu sein, »sein fachliches Wissen zu erweitern« und »ständig mit seinen Aufgaben« zu wachsen.240 Bereits 1955 schlug Paul Rumpelt ihn »trotz seiner Jugend« zur

232 Beurteilung der HA KuSch vom 14. April 1961; ebenda, Bl. 159. 233 Vgl. Bericht vom 8. August 1961; Disziplinarakte von Hans Bialas; BStU, MfS, Diszi Nr. 269/92, Bl. 6 f. Vgl. Bericht der HA KuSch – Disziplinarabteilung, die Überprüfung in der Haftanstalt II der Abteilung XIV betreffend vom 20. August 1961; ebenda, Bl. 18–33. 234 Vgl. beispielsweise Straftenor gegen Oberfeldwebel Otto Pecher, Stationsposten im Objekt II der Abteilung XIV vom 28. August 1961; ebenda, Bl. 54. Am 18. Oktober 1962 wird die gegen ihn verhängte Disziplinarstrafe (strenger Verweis) durch Hauptmann Siegfried Rataizick, dem kommissarischen Leiter der Abteilung XIV, gelöscht. Vgl. ebenda, Bl. 70. 235 Vgl. Bericht der Parteiorganisation XIX über die Leitungs- und Führungstätigkeit von Hans Bialas (14. Juli 1962); BStU, MfS, KS II 69/65, Bd. 1, Bl. 123 f. 236 Antrag der HA KuSch auf vorzeitige Berentung des Genossen Oberstleutnant Bialas vom 26. September 1962 (unterschrieben von Robert Mühlpforte, Leiter der HA KuSch), von Erich Mielke am 1. Oktober 1962 handschriftlich bestätigt; ebenda, Bl. 126. 237 Vgl. Kaderakte von Hans Bialas, ebenda, Bl. 9. 238 Vgl. Kaderakte von Siegfried Rataizick; BStU, MfS, KS 25714/90, Bl. 3. 239 Beurteilung der Abteilung XIV vom 30. November 1953; ebenda, Bl. 53. 240 Vgl. Dienststellungs-Attestierungsblatt für 1955; ebenda, Bl. 54–58.

Hauptsitz der Abteilung Haftvollzug (Abteilung XIV)

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Beförderung zum Oberleutnant und Hauptsachbearbeiter vor.241 1962 wurde er Stellvertreter von Hans Bialas, am 1. Februar 1963, nach Absprache mit der Berliner SED-Kreisleitung, dessen Nachfolger im Amt des Abteilungsleiters und Leiters der Haftanstalt Berlin I.242 In dieser Position schlug sich Rataizick offenbar besser als sein Vorgänger: 1964 begann er ein Fernstudium an der Humboldt-Universität in Berlin, das er 1968 als Diplom-Kriminalist mit der Note »gut« abschließen sollte.243 Anerkennend wurde in einer Beurteilung erwähnt, dass es ihm »durch seine qualifizierte Leitungstätigkeit [gelänge,] die Mitarbeiter zu unversöhnlichem Hass gegen die Feinde unseres Staates und zu standhaften und der Partei treu ergebenen Genossen« zu erziehen.244 Sein Hohenschönhausener Kollege Walter Heinitz, Leiter des Untersuchungsorgans, bescheinigte Rataizick »Standhaftigkeit, Einsatzbereitschaft, Disziplin und revolutionäre Wachsamkeit«.245 Heinitz' Nachfolger Rolf Fister schrieb 1973 in einer Beurteilung, Rataizick »besuch[e] gern niveauvolle Kulturveranstaltungen und [sei] aktives Mitglied einer Jagdgesellschaft«.246 1975 erhielt er den Rang eines Obersts. 1984 wurde der ehemalige Klempner Rataizick schließlich mit einer Kollektivdissertation an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam »magna cum laude« zum Dr. iur. promoviert.247 1990 endete Rataizicks Dienst im Alter von 58 Jahren.

241 Beurteilung der Abteilung XIV vom 17. September 1955; ebenda, Bl. 59. 242 Vgl. Stellungnahme der SED-Kreisleitung VII/c/1 vom 24. Oktober 1962: »Das Büro […] hält den Vorschlag, den Genossen Rataizick als Leiter einer Abteilung im MfS einzusetzen, für richtig.« Ebenda, Bl. 90. Vgl. Bestätigung der Abteilung für Sicherheitsfragen beim Zentralkomitee (ZK) der SED vom 30. November 1962; ebenda, Bl. 95. 243 Vgl. Diplom der Juristischen Fakultät vom 1. Juli 1968; ebenda, Bl. 6. 244 Beurteilung vom 14. Januar 1966; ebenda, Bl. 104. 245 Vorschlag der Hauptabteilung IX zur Auszeichnung Rataizicks mit der Verdienstmedaille der DDR vom 9. November 1967; BStU, MfS, DOS Nr. 3284/92, Bl. 4. 246 Beurteilung vom 28. Dezember 1973; BStU, MfS, KS 25714/90, Bl. 113. 247 Rataizick, Siegfried et al.: Die aus den politisch-operativen Lagebedingungen und Aufgabenstellungen des MfS resultierenden höheren Anforderungen an die Durchsetzung des Untersuchungshaftvollzugs und deren Verwirklichung in den Untersuchungshaftanstalten des MfS, Forschungsarbeit vom 24. Juli 1984; BStU, MfS, JHS VVS o001-234/84.

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen in Berlin-Hohenschönhausen Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen Die Untersuchungsorgane des MfS haben seit Beginn der überlieferten internen Gesamtstatistik im Oktober 1955 bis zur Auflösung der Stasi DDR-weit insgesamt 76 240 Ermittlungsverfahren eingeleitet.1 Allein die Hohenschönhausener Zentrale bearbeitete davon mit 10 536 rund 14 Prozent.2 In den Aufzeichnungen der Haftvollzugsabteilung XIV lassen sich für die UHA Berlin-Hohenschönhausen seit Mai 1950 bis zum Herbst 1989 insgesamt 10 822 Einlieferungen nachweisen.3 Die strafrechtliche Verfolgung wandelte sich im Laufe der rund 40-jährigen DDR-Geschichte in dem Maße, wie sich auch die sogenannten »Erscheinungs-

1 Anhand von statistischen Teildaten aus den vorangegangenen Jahren kann die Gesamtzahl der Personen, gegen die die Stasi in den Jahren 1950 bis 1989 strafrechtliche Ermittlungsverfahren geführt hat, auf sogar rund 95 000 geschätzt werden. 2 Vgl. Monatsberichte der HA IX von Oktober 1955 bis Dezember 1969; BStU, MfS, HA IX, MF 11147 numerisch fortlaufend bis 11315. Vgl. Jahresanalysen der HA IX von 1970 bis 1987; BStU, MfS HA IX, Nrn. 5512, 2801, 2856, 2857, 2802, 2803, 2861, 2862, 3710, 2805, 2806, 2807, 3711, 540 und 422. Vgl. Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Oktober 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073. In den Ermittlungsverfahren der HA IX (mit Sitz in Berlin-Hohenschönhausen) sind bis 1958 auch diejenigen Verfahren des für Militärstraftaten zuständigen MfS-Untersuchungsorgans der HA I/9 hinzugerechnet (1956–1958 insgesamt 692), da es sich hierbei ebenfalls um Ermittlungsverfahren des MfS auf ministerieller Ebene handelte. Seit 1959 war die Bearbeitung aller MfS-Ermittlungsverfahren bei der HA IX gebündelt. 3 Schon vor der offiziellen Übernahme des Untersuchungsgefängnisses vom sowjetischen Geheimdienst MGB begannen die Mitarbeiter die Ein- und Abgänge von Häftlingen an diesem Ort zu registrieren. Vgl. Kladden der Abt. XIV Berlin-Hohenschönhausen; BStU, MfS, Abt. XIV, Nrn. 16782, 16784, 16786, 16787, 16790, 16791, 16792, 16793, 16794, 16795, 16796 und 16798. Trotz der zeitlichen Differenz zwischen den Aufzeichnungen der HA IX und der Abt. XIV darf nicht der falsche Schluss gezogen werden, dass zwischen 1950 und 1955 nur 568 Ermittlungsverfahren mehr eingeleitet wurden. Die Zahlen sind auf den gesamten Zeitraum bis 1989 zu beziehen und dürfen nicht in allzu direkten Bezug zueinander gesetzt werden: Zum einen ermittelte die HA IX grundsätzlich gegen mehr Personen im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens als sich Häftlinge in den jeweiligen MfS-eigenen Untersuchungshaftanstalten befanden. Zum anderen ist vor allem für die frühen fünfziger Jahre davon auszugehen, dass sich viele Menschen zunächst in Haft wiederfanden, ohne dass das Ermittlungsorgan förmlich gegen sie ermittelte. So zum Beispiel im Anschluss an den Volksaufstand des 17. Juni 1953.

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

formen von Straftaten«4 veränderten. Von Verhaftungen versprach sich das MfS allerdings stets eine herrschaftsstabilisierende Wirkung für den SEDStaat. Aufgrund der innen- und deutschlandpolitischen Entwicklungen sah sich das MfS als Ermittlungsbehörde dabei ständig vor neue Herausforderungen gestellt: Neu aufkommenden »Formen der Feindtätigkeit«5 war nach eigener Anschauung adäquat zu begegnen. Zur Sicherung der SED-Herrschaft galt es, sie effektiv und möglichst nachhaltig abzuwehren. Um die Tätigkeit der MfS-eigenen Ermittlungseinheit im Kontext innenund außenpolitischer Dynamiken nachvollziehen zu können, stehen im nachfolgenden Abschnitt 2.1 sowohl der Umfang als auch die Inhalte der Untersuchungsverfahren der HA IX im Mittelpunkt. Seit Oktober 1955 ließ das Ermittlungsorgan des Staatssicherheitsdienstes zu Auswertungszwecken interne Statistiken und Berichte anfertigen, in denen die Dimensionen strafrechtlicher Untersuchungen quantitativ wie qualitativ analysiert wurden. Die zunächst monatlich, ab 1970 jahresweise verfassten Papiere beinhalten Datenmaterial zur sozialen beziehungsweise beruflichen Herkunft der in Ermittlungsverfahren bearbeiteten Personen, zur Altersverteilung der Beschuldigten, zur jeweiligen Staatsbürgerschaft und – im Falle von DDR-Bürgern – teilweise auch zur Parteizugehörigkeit und zur Mitgliedschaft in Massenorganisationen und gesellschaftspolitischen Institutionen der DDR. Im statistischen Teil der Berichte verzeichneten die Verfasser ebenfalls die Gesetzesgrundlage eingeleiteter Ermittlungsverfahren im jeweils zurückliegenden Berichtszeitraum.6 Standortbezogen hat die Hauptabteilung IX in ihren quantitativen Tätigkeitsanalysen nur das Aufkommen an eingeleiteten Untersuchungsverfahren verzeichnet. Lediglich diesbezüglich kann eine vergleichende Bewertung des Arbeitsvolumens in Hohenschönhausen und in den restlichen Ermittlungsabteilungen vorgenommen werden. Soziologische Merkmale der Beschuldigten wie auch das Spektrum der strafrechtlichen Ausgangspunkte für die Ermitt4 Thiele, Peter: Zu Erscheinungsformen von Straftaten, die im Jahre 1984 zur Erzwingung der Übersiedlung begangen wurden, und Erfahrungen ihrer strafrechtlichen Bekämpfung, als JHSDiplomarbeit eingereicht im Juni 1985; BStU, MfS, JHS, MF VVS o001-1237/85. 5 Eppert, Norbert: Wesentliche im Zeitraum 1949 bis 1961 praktizierte Mittel und Methoden des Gegners zur Organisierung des Verlassens der DDR und Möglichkeiten der gerichtlichen Hauptverhandlung im Kampf zur Zurückdrängung dieser Formen der Feindtätigkeit, als JHS-Diplomarbeit eingereicht im September 1986; BStU, MfS, JHS, MF VVS o001-728/86. 6 Da sich das juristische Arsenal zur Verfolgung vorrangig politisch motivierter Delikte im Zuge etlicher Strafrechtsreformen oder wenigstens -ergänzungen bis 1989 mehrfach veränderte, ist eine durchgängige (graphische) Darstellung nur schwer möglich. Zwar ließen sich den genannten strafrechtlichen Tatbeständen über die einzelnen Normenänderungen hinweg durchaus inhaltliche Schwerpunkte zuordnen, aus welchen Gründen die MfS-Ermittler ein Untersuchungsverfahren letztendlich einleiteten. Eine von der Systematik der internen Meldungen losgelöste Einteilung in Hafthintergründe würde die quantitative Datenbasis des MfS-Untersuchungsorgans allerdings verzerren, weshalb im Folgenden das von der HA IX in ihren Berichten verwendete Ordnungsprinzip beibehalten wird.

Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

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lungen erfassten die Autoren der Monats- und Jahresberichte für die gesamte Linie, ohne die jeweilige Verteilung auf die Berliner Zentrale und die Abteilungen IX in den Bezirken in den Blick zu nehmen. Offenbar hatten nach Diensteinheit differenzierte Angaben für die Verantwortlichen keinen Erkenntnismehrwert. Welche Delikte am Haftort Berlin-Hohenschönhausen strafrechtlich untersucht wurden und wer hiervon betroffen war, lässt sich daher ausschließlich stichprobenartig und näherungsweise anhand ausgewerteter Ermittlungsakten rekonstruieren. Außer dem reinen Zahlenmaterial finden sich in den Berichtsunterlagen der HA IX Darstellungen zu den wichtigsten Untersuchungsschwerpunkten.7 Ihnen widmeten die Ermittler des Staatssicherheitsdienstes die meiste Aufmerksamkeit beziehungsweise ihnen maßen sie aus sicherheitspolitischer Perspektive die größte Bedeutung bei. Es handelte sich hierbei durchgängig um Delikte oder Deliktgruppen mit überwiegend politischem Tathintergrund, die das MfS-Untersuchungsorgan zum Anlass für ein Ermittlungsverfahren nahm. In ihren internen Berichten nahmen die Verfasser jedoch nicht nur die wesentlichsten aktuellen Untersuchungserfolge unter die Lupe. Sie hielten auch ihre Fortschritte gegenüber bestimmten wiederkehrenden oder aber konstant auftretenden Formen widerständigen Verhaltens fest, die nach Ansicht der Ermittler strafrechtlich zu verfolgen waren. Auffällig ist hierbei, dass vom Standpunkt der HA IX aus betrachtet nahezu alles als »Aktivität des Gegners«, als »Aufwiegelung« durch »gegnerische Kräfte« in der Bundesrepublik oder als »Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR« bewertet wurde. Dementsprechend häufig fallen im Zusammenhang mit der eigenen strafrechtlichen Untersuchungsarbeit Begriffe wie »Bekämpfung«, »Abwehr« oder »Zurückdrängung«. Politische, ökonomische oder sonstige Problemlagen im eigenen Land wurden durch derartige geradezu obsessiv aufrechterhaltene Wahrnehmungsmuster ignoriert und in ihren Ursachen verkannt.8 Als Urheber von Opposition und Widerstand in der DDR galt stets der zum Feind dämonisierte kapitalistische Westen, der, so die »Tschekisten«9 des MfS, als Bedrohung von außen die Herrschaft der SED im Inneren zu

7 Vgl. zum Aufbau dieser Berichte exemplarisch Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988, wohinter sich eine Edition der Jahresanalyse für das genannte Jahr verbirgt. 8 Zu dieser geradezu kognitiven Fehleinschätzung vgl. ebenda, S. 17. 9 Die Mitarbeiter des MfS verstanden sich bewusst in der Tradition der Tscheka (russische Abkürzungsform für Всероссийская чрезвычайная комиссия по борьбе с контрреволюцией, спекуляцией и саботажем, Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage), die in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution von 1917 von Felix Edmundowitsch Dserschinski gegründet und geleitet wurde. Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013, S. 19 f.

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

gefährden trachtete.10 Die Antwort des Untersuchungsorgans auf die vermeintlichen »Angriffe« blieb stets die aggressive geheimpolizeiliche Gegenwehr. »Dass politische Probleme nur mit politischen Mitteln gelöst werden können«, wollte man in der HA IX erst nach der Friedlichen Revolution und der damit einhergehenden Ablösung des alteingesessenen SED-Politbüros im Herbst 1989 erkennen.11 Hinter den statistischen Daten verbergen sich Menschen, die aus verschiedenen Gründen sowie auf völlig unterschiedliche Weise mit dem SED-Regime in Konflikt geraten waren und gegen die das MfS-Untersuchungsorgan in Berlin-Hohenschönhausen mit den Mitteln des Strafrechts vorging. Um einige von ihnen aus der Anonymität des Zahlenmaterials herauszuheben, werden im Abschnitt 2.2 einzelne haftbezogene Biographien von Personen vorgestellt, gegen die die HA IX in Hohenschönhausen ermittelt hat. Aus Gründen des Datenschutzes wurden die Namen der Betroffenen pseudonymisiert.12 Im Abschnitt 2.3 sollen schließlich die Häftlinge der Hohenschönhausener MfSUntersuchungshaftanstalt quantitativ in den Blick genommen werden.

2.1

Hafthintergründe und Tatvorwürfe: Die strafrechtlichen Untersuchungen des MfS

Hafthintergründe und Tatvorwürfe

Die Linie IX des DDR-Staatssicherheitsdienstes bearbeitete Ermittlungsverfahren, die in überwiegender Mehrheit mit der Inhaftierung des Beschuldigten in einem der 17 Untersuchungsgefängnisse des MfS einhergingen.13 Zwar war der 10 Galten »feindliche« politisch-ideologische Einflüsse zu Beginn noch als Ausdruck rückständiger, d. h. überkommener gesellschaftlicher Denkweisen aus der Zeit vor der Herrschaftsübernahme durch die »Arbeiterklasse«, traten zunehmend äußere Faktoren als Erklärungsmuster für abweichendes Verhalten hinzu, als solches allein aufgrund des angeblich erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstands nicht mehr ausreichend erklärbar war. Vgl. hierzu beispielsweise einleitend Süß, Walter: Wandlungen der MfS-Repressionstaktik seit Mitte der siebziger Jahre im Kontext der Beratungen der Ostblock-Geheimdienste zur Bekämpfung der »ideologischen Diversion«. In: Ansorg, Leonore et al. (Hg.): »Das Land ist still – noch!«. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989), Köln/Weimar/Berlin 2009, S. 111. 11 HA IX; Grundorganisation (GO) der SED: Schritte zur Erneuerung – Position der Leitung der Grundorganisation IX [mit handschriftlichen Ergänzungen] vom 21. November 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 16290, Bl. 10. 12 Von Personen, deren Ermittlungsakten auf der Grundlage von § 32 Abs. 1 Nr. 7 StUG gesichtet wurden, konnte mangels weiterer aktueller Daten keine Einwilligung zur Verwendung personenbezogener Informationen gemäß § 32 Abs. 3 Nr. 4 StUG eingeholt werden. Zur besseren Lesbarkeit werden nachfolgend die Namen von Betroffenen im Sinne von § 6 Abs. 3 StUG verfremdet, sofern es sich nicht um Fälle nach § 32 Abs. 3 Nr. 5 StUG (Informationen zu Verstorbenen, deren Tod mehr als 30 Jahre bzw. deren Geburt mehr als 110 Jahre zurückliegt) handelt. Im jeweiligen Fall wird gesondert auf den Umstand der Pseudonymisierung verwiesen. 13 Zum Tätigkeitsschwerpunkt dieser Diensteinheit gehörten ebenfalls Untersuchungen zu politisch oder »politisch-operativ« bedeutsamen Vorkommnissen im Rahmen eines strafrechtlichen Prü-

Hafthintergründe und Tatvorwürfe

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Zuständigkeitsbereich dieser Diensteinheit wie beschrieben formal nicht definiert, dennoch erachtete sich das MfS-Untersuchungsorgan de facto für all jene Straftaten verantwortlich, welche tatsächlich oder angeblich »staatsfeindlich« waren, für öffentliche Aufmerksamkeit sorgten oder aber wenn die Stasi ein besonderes »operatives« Interesse an den Tätern und deren Motivationshintergründen hegte.14 Im Folgenden werden die Schwerpunkte der MfSgeführten Ermittlungsverfahren für den gesamten Bestehenszeitraum der HA IX kontextualisierend nachgezeichnet.

Die fünfziger und sechziger Jahre Bis 1953 wurde die Ermittlungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit in der Regel nicht allein auf eigene Veranlassung hin aktiv.15 Das sowjetische »Bruderorgan« und sowjetische Justizeinrichtungen schalteten sich bis zu diesem Zeitpunkt in politisch besonders bedeutungsvollen Verfahren in die Ermittlungstätigkeit der Stasi ein.16 Von dieser »Zusammenarbeit« mit der MfSErmittlungsabteilung abgesehen, bearbeitete der sowjetische Geheimdienst entsprechende Untersuchungsverfahren auch völlig eigenständig.17 Aber nicht nur bei der inhaltlichen Ausrichtung der Ermittlungen blieben die Untersuchungsführer des MfS den sowjetischen Instrukteuren zunächst nachgeordnet. Den Angehörigen von Inhaftierten beispielsweise durften die Stasi-Mitarbeiter erst »nach gründlicher Überprüfung der Angelegenheit und nach Rücksprache mit den Freunden« Mitteilung über den Verbleib eines Verhafteten machen.18 Hatten die sowjetischen Kollegen hierzu ihre Einwilligung erteilt, durfte eine entsprechende Nachricht in ausschließlich mündlicher Form erfolgen.19 fungsverfahrens auf der Grundlage des § 95 StPO (»Prüfen von Anzeigen und Mitteilungen«), Strafprozessordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 62. 14 Vgl. Joestel: Die »Rechtspfleger« von der Sicherheit, S. 48. 15 Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 51–72. 16 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 137. Vgl. zur Rolle sowjetischer Justizorgane in der DDR beispielsweise Hilger, Andreas: Strafjustiz im Verfolgungswahn. Todesurteile sowjetischer Gerichte in Deutschland. In: Ders. (Hg.): »Tod den Spionen!«. Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006, S. 97–155. 17 Beispielsweise das Verfahren gegen Bruno Sattler, gegen den von 1947 bis 1951 in BerlinKarlshorst und Hohenschönhausen wegen NS-Verbrechen ermittelt wurde. Er war Mitglied der Einsatzgruppe B und Chef der Gestapo in Belgrad. Sattler wurde schließlich am 2. Juli 1972 vom Landgericht Greifswald auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes 10 Abschnitt II 1c, d 2 a, e und der Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II 1, 2, 3, 7 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Am 15. Oktober 1972 verstarb Bruno Sattler im Haftkrankenhaus in Leipzig Klein-Meusdorf. 18 Richtlinie Nr. 4 betr. Anfragen von Angehörigen verhafteter oder festgenommener Personen vom 6. Januar 1951; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 2368, S. 204. 19 Vgl. ebenda. Ab 1953 übernahm formell die Staatsanwaltschaft die schriftliche Benachrichtigung der Angehörigen. Vgl. Dienstanweisung Nr. 38/53: Zusammenarbeit der Organe des Staats-

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

Institutionell wurden die MfS-Ermittlungsabteilungen schrittweise an ostdeutsche Justizorgane angebunden. Dies erfolgte im generellen Kontext der systematischen Übernahme politischer Strafverfahren durch staatliche Einrichtungen der DDR.20 Nachdem speziell hierfür eingerichtete Kommissionen Funktionsträger der DDR-Justizapparate auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft hatten, wurden die Ermittlungsorgane des Staatssicherheitsdienstes ebenso wie dessen de jure nicht existierenden Untersuchungsgefängnisse schließlich im März 1952 den Staatsanwaltschaften unterstellt.21 In dem Maße, wie die Kader der Judikative sich den politisch-ideologischen Anforderungen anzupassen hatten, agierten auch die Angehörigen des MfS-Untersuchungsorgans in den frühen fünfziger Jahren vorrangig »unter dem Primat der Machtfrage«; es galt, den Sozialismus auf deutschem Boden zu etablieren und Gegner der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung – unterfüttert mit juristischen Mitteln – auszuschalten.22 Diesem Zweck fielen nicht nur prominentere »Feinde« zum Opfer, deren Schicksale mittlerweile gut dokumentiert sind und von denen ein nicht unerheblicher Teil die Untersuchungshaft in Hohenschönhausen verbüßen musste:23 So wurden an diesem Ort im Zuge groß angelegter politischer Säubesekretariats für Staatssicherheit mit den Organen der Staatsanwaltschaft vom 1. Dezember 1953, S. 65. 20 Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 138. 21 Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 7/52 betr. Verhaftung und vorläufige Festnahme vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 68. Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 9/52 betr. Festsetzung von Fristen für die Bearbeitung von Strafsachen vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 70. Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 11/52 betrifft Aufsicht über die Untersuchungen in Strafsachen der Untersuchungsorgane des Ministeriums für Staatssicherheit vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 72. Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Rundverfügung Nr. 12/52 betr. Aufsicht über die Haftanstalten der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit vom 31. März 1952; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 73. Grundlage der Verfügungen war ein vier Tage zuvor erlassener Beschluss des DDR-Ministerrates. Zur Tätigkeit der Überprüfungskommissionen vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 138 ff. 22 Ebenda, S. 137. 23 Vgl. beispielsweise Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht; Engelmann: Schauprozesse und Staatssicherheit; Ders.: Blutjustiz als politisches Lehrstück. Todesurteile in DDRSchauprozessen der fünfziger Jahre. In: Horch & Guck 17(2008)59, S. 8–13; Mampel, Siegfried: Entführungsfall Dr. Walter Linse. Menschenraub und Justizmord als Mittel des Staatsterrors, Berlin 2001; Weber, Hermann: Schauprozess-Vorbereitungen in der DDR. In: Ders; Staritz, Dietrich (Hg.): Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und »Säuberungen« in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993, S. 436–449; Weinke, Annette: Der Justizfall Kurt Müller und seine Bedeutung für die kommunistische Parteisäuberungswelle im geteilten Deutschland. In: ZfG 45(1997)4, S. 293–310; Werkentin, Falco: Die Waldheimer »Prozesse«. Ein Experimentierfeld für die künftige Scheinjustiz unter Kontrolle der SED? In: Bästlein, Klaus; Rosskopf, Annette; Werkentin, Falco (Hg.): Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte der DDR, Berlin 2009, S. 33–52; Gieseke: Das Ministerium für Staatssicherheit (1950–1990), S. 376 ff.; Jesse, Eckhard: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«: Möglichkeiten und Formen abweichenden und

Hafthintergründe und Tatvorwürfe

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rungsmaßnahmen in der SED die Ermittlungsverfahren beispielsweise gegen den ehemaligen Landesleiter der hessischen KPD, Leo Bauer, den SEDFunktionär Bruno Goldhammer oder den westdeutschen KPD-Vorsitzenden Kurt Müller geführt.24 Wenige Jahre später nahm das MfS-Untersuchungsorgan auf Geheiß der Staatsführung leitende Repräsentanten aller in der DDR zugelassenen Parteien ins Visier.25 In Hohenschönhausen ermittelte die HA IX unter anderem gegen den Minister für Handel und Versorgung Karl Hamann (LDPD), den Außenminister Georg Dertinger (CDU) oder den Justizminister Max Fechner (SED).26 Sie waren bei der SED-Führung und der sowjetischen Besatzungsmacht in Misskredit geraten, sodass sie nicht nur aus ihren Positionen entfernt, sondern, wie im Falle Dertingers, »wegen schweren Verrats an den nationalen Interessen des deutschen Volkes«27 mit harten Strafen belegt wurden.

widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur (Bd. VII, 1), Baden-Baden 1995, S. 1001 f.; Lapp, Peter Joachim: Georg Dertinger. Journalist, Außenminister, Staatsfeind, Freiburg 2005; Fricke, Karl Wilhelm: Das MfS als Instrument der SED am Beispiel politischer Strafprozesse. In: Suckut; Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit, S. 199–212. 24 Alle drei saßen seit 1950 in Untersuchungshaft. Vgl. Hartewig, Karin; Barth, Bernd-Rainer: Eintrag zu Leo Bauer (1912–1972). In: Müller-Enbergs, Helmut et al. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Berlin 2010, S. 72 f.; vgl. Barth, Bernd-Rainer: Eintrag zu Bruno Goldhammer (1905–1971). In: ebenda, S. 403 f.; vgl. Ders.: Eintrag zu Kurt Müller (1903– 1990). In: ebenda, S. 917. 25 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 138 f. 26 Karl Hamann (1903–1973) wurde im Mai 1954 nach rund anderthalb Jahren in Untersuchunghaft durch das Oberste Gericht wegen angeblicher Sabotage zu einer 10-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Mit ihm wurden auch andere leitende Angestellte des Ministeriums entlassen und später vor Gericht gestellt, unter ihnen Staatssekretär Paul Baender (1906–1985). Vgl. »Saboteure an der Versorgung verurteilt«. Zuchthausstrafen für Hamann, Baender und andere. In: Neues Deutschland vom 15. Juli 1954, S. 1. Vgl. auch Kowalczuk, Ilko-Sascha: Opfer der eigenen Politik? Zu den Hintergründen der Verurteilung von Minister Karl Hamann (LDPD). In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 2004, S. 221–271. Im Oktober 1956 wurde Hamann aus der Haft entlassen. Außenminister Georg Dertinger (1902–1968) wurden Kontakte zu westlichen Geheimdiensten vorgeworfen. Er wurde schließlich im Juni 1954 vor dem Obersten Gericht wegen Verschwörung und Spionage zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Vgl. Lapp: Georg Dertinger, S. 210 ff. Max Fechner (1883–1973) hatte sich als Justizminister kritisch zum Vorgehen gegen die Demonstranten des 17. Juni 1953 geäußert. Ihm wurde »Sabotage« und »Boykotthetze« vorgeworfen, wofür er schließlich im Mai 1955 vom Obersten Gericht zu einer 8-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Vgl. Suckut, Siegfried: »Als wir in den Hof unserer Haftanstalt fuhren, verstummte Genosse Fechner«. Neues aus den Stasi-Akten zur Verhaftung und Verurteilung des ersten DDR-Justizministers. In: Engelmann; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 165–189. 27 »Verschwörergruppe Dertinger vom Obersten Gericht abgeurteilt«. Hohe Zuchthausstrafen wegen schweren Verrats an den nationalen Interessen des deutschen Volkes. In: Neues Deutschland vom 9. Juni 1954, S. 1.

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Der Aufstand vom 17. Juni 1953 stellte die DDR-Staatssicherheit insgesamt wie auch sein Ermittlungsorgan vor erhebliche Herausforderungen.28 Zwar versuchte die Stasi der Lage Herr zu werden und reagierte mit Verhaftungsmaßnahmen fast schon panisch auf die Proteste und Streiks weiter Bevölkerungsteile, welche nicht zuletzt lautstark die Absetzung der DDRRegierung und freie Wahlen gefordert hatten. Es begann »die größte Festnahmewelle in der 40-jährigen Geschichte der DDR«.29 In Hohenschönhausen wurden am 17. Juni selbst lediglich 26 Personen eingeliefert, allein in den anschließenden zwei Wochen bis zum Monatsende folgten jedoch weitere 323.30 Insgesamt gelangten 1953 rund 820 Personen nach Hohenschönhausen, freilich nicht alle von ihnen im Zusammenhang mit dem Volksaufstand. Die HA IX verzeichnete demgegenüber für den Haftort exakt 100 Ermittlungsaufnahmen im Zusammenhang mit dem 17. Juni.31 Für das gesamte Jahr 1953 sind für die Berliner Hauptabteilung des Untersuchungsorgans nur 866 neu eingeleitete Verfahren belegt.32 Die verhältnismäßig geringe Anzahl der Emittlungsverfahren im direkten Kontext des Volksaufstands lässt sich unter anderem mit der geringen personellen »Schlagkraft« der Stasi im Vergleich zu anderen bewaffneten Organen erklären – denn immerhin kam es während der »heißen Tage« des Aufstands zu Festnahmen von mehreren Tausend Menschen.33 Die durch das MfS erfolgten Festnahmen fanden sich in den Statistiken der Linie IX zudem nicht vollständig wieder. In vielen Fällen sah man von der offiziellen Einleitung eines Untersuchungsverfahrens ab oder die Ermittlungen wurden bald darauf eingestellt und die Betroffenen aus der Haft entlassen.34 Im Zusammenhang mit der Volkserhebung 28 Vgl. Eisenfeld, Bernd; Kowalczuk, Ilko-Sascha; Neubert, Ehrhart: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte (Analysen und Dokumente, 25), Bremen 2004, insbesondere S. 174–178. 29 Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen (unter Mitarbeit von Gudrun Weber), Berlin 2003, S. 244. 30 Vgl. Kladde der Abteilung XIV; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 16784, Bl. 3–50. Zum Stand der DDR-weiten Verhaftungen am 23. Juni vgl. Tagesbericht Nr. 1 vom 24. Juni 1953. In: Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, bearbeitet von Roger Engelmann, Göttingen 2013, S. 121–127, insbesondere 125. 31 Neben den jeweiligen Personennamen ist schreibmaschinenschriftlich der Vermerk »17.6.1953« zu finden. Vgl. Index der HA IX (undatiert 1982/83); BStU, MfS, HA IX, Nr.598/1 (A– H); BStU, MfS, HA IX, Nr. 598/2 (I/J–Q) sowie BStU, MfS, HA IX, Nr. 598/3 (R–Z). Frank Joestel, Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen, danke ich für den Hinweis auf diesen Archivbestand. 32 Vgl. ebenda. 33 Bis zum 6. Juli wurden insgesamt rund 10 000 Menschen festgenommen. Vgl. Kowalczuk: 17. Juni 1953, S. 244. 34 So konnte vor allem in vielen Fällen der Nachweis über die angebliche Steuerung durch »Agenten imperialistischer Geheimdienste«, die die Ermittler den Beschuldigten beweisen sollten, nicht erbracht werden. Vgl. Knabe, Hubertus: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, Berlin 2003, S. 359 ff. und 367.

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wurden DDR-weit schätzungsweise 13 000 bis 15 000 Personen festgenommen. Vor Gerichten verurteilt wurden allerdings bis zum Januar 1954 lediglich 1 526.35 Das Staatssicherheitsministerium in Berlin zählte Ende 1953 2 528 Mitarbeiter und zusätzlich noch 359 Beschäftigte in der Verwaltung Groß-Berlin.36 Insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt 12 630 Hauptamtliche beim MfS/SfS angestellt; demgegenüber verfügte die Deutsche Volkspolizei schon über mehr als 90 000 Mitarbeiter.37 Zwar liegen für das Jahr des Aufstands keine Zahlen über die Stärke der einzelnen MfS-Diensteinheiten vor, jedoch waren 1954 in der Hauptabteilung IX nur 64 Mitarbeiter beschäftigt.38 Unabhängig davon hatten an den unzähligen Festnahmen im Umfeld des 17. Juni Mitarbeiter der sowjetischen Sicherheitsorgane und in der DDR stationierte sowjetische Armeeangehörige einen erheblichen Anteil.39 Viele dieser Verhaftungen tatsächlicher oder angeblicher »Streikführer« endeten für die Betroffenen mit Verurteilungen vor sowjetischen Militärtribunalen (SMT) und in einigen Fällen mit einem Todesurteil.40 Der Staatssicherheitsdienst, der den Volksaufstand so nicht hatte kommen sehen, hatte sich zu beweisen. Bereits vor dem Aufkommen der Streikbewegung war nach dem Vorbild entsprechender geheimdienstlicher Strukturen in der Sowjetunion und in anderen Staaten des sozialistischen Lagers die Eingliederung des Staatssicherheitsdienstes in das Ministerium des Innern beschlossen worden – angesichts der angespannten Lage während der Umsetzung des Beschlusses wirkte diese Neuordnung jedoch zwangsläufig wie eine Degradierung.41 Der Staatssicherheitsdienst nahm den Juni-Aufstand sehr ernst: Nach der Volkserhebung, welche die politische Führung der DDR schnell zu einem vom Westen initiierten und gesteuerten »faschistischen Putschversuch« uminterpretierte,42 richtete sich der Ermittlungseifer des Untersuchungsorgans vor 35 Vgl. Kowalczuk: 17. Juni 1953, S. 250. 36 Zu den Zahlen vgl. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90 (Analysen und Dokumente, 20), Berlin 2000, S. 553 sowie Ders.: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 98. 37 Vgl. Fricke, Karl Wilhelm; Engelmann, Roger: Der »Tag X« und die Staatssicherheit: 17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003, S. 63. 38 Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, Tabelle im Anhang. 39 Vgl. Flemming, Thomas; Ulrich, Bernd: Vor Gericht. Deutsche Prozesse in Ost und West nach 1945, Berlin-Brandenburg 2005, insbesondere der Abschnitt »Von ›verführten Arbeitern‹ und ›faschistischen Provokateuren‹. Der 17. Juni 1953«, S. 42 ff. 40 Vgl. Knabe: 17. Juni 1953, S. 347 ff. Vgl. auch Berger, Siegfried: »Ich nehme das Urteil nicht an«. Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem sowjetischen Militärtribunal (Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 8), Berlin 2007. 41 Vgl. Engelmann, Roger: Einleitung 1953. In: Die DDR im Blick der Stasi 1953, S. 20. 42 Vgl. Fricke, Karl Wilhelm; Engelmann, Roger: »Konzentrierte Schläge«. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998, S. 7. Der ehemalige DDRKulturminister Hans Bentzien vertrat in seinen 2003 erschienenen autobiographischen Erinnerungen

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allem gegen Personen, die entweder Kontakte in die Berliner West-Sektoren oder in die Bundesrepublik aufrechterhielten oder aus beruflichen oder privaten Gründen zwischen Ost und West pendelten. Um derartige westliche »Agenten« zu bekämpfen, stellte der damalige Leiter der Staatssicherheit Ernst Wollweber auf einer internen Dienstbesprechung im November 1953 den neuen Schlachtplan der »konzentrierten Schläge« gegen die »Feinde« vor.43 Der Stasi-Chef präsentierte mit diesem Konzept offene Repression – meist in Form von massenhaften Festnahmen. Die daraus resultierenden Gerichtsverfahren sollten propagandistisch umrahmt werden, um eine möglichst große Abschreckungswirkung zu garantieren. Der Staatssicherheitsdienst insgesamt begann nun damit, schwerpunktmäßig auf die »West-Arbeit«44 umzuschwenken: Personen, die sich für sogenannte »Feindzentralen« wie beispielsweise die Westberliner »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«45(KgU), den »Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen« (UfJ) oder für die Ostbüros von SPD, CDU sowie FDP engagiert hatten,46 waren aus Sicht des SfS schnell und effektiv auszuschalten.47 Die Erfolge, die die Aktionen der Stasi dabei zeitigen würden, sollten öffentlich als Triumph dargestellt werden und damit potenzielle Sympathisanten der »Täter« einschüchtern. Allein in der UHA Hohenschönhausen waren ab Mitte der fünfziger Jahre etwa 30 Personen inhaftiert, denen Verbindungen zur KgU nachgewiesen werden sollten, unter ihnen der Journalist Karl Wilhelm Fricke (geb. 1929). Fricke war Ende der vierziger Jahre nach Westberlin geflohen und berichtete dort über Rechtsverletzungen staatlicher Behörden in der DDR. Die Staatssicherheit ließ ihn Anfang April 1955 entführen und transportierte ihn in den Ostteil der Stadt.48 Rund 15 Monate sollte er im Untersuchungsge-

ebenfalls die These des von der Bundesrepublik geplanten »roll back« bezogen auf die Ereignisse des 17. Juni 1953. Vgl. Bentzien, Hans: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte – Verlauf – Hintergründe, Berlin 2003, S. 65 ff. 43 Zum Konzept der »konzentrierten Schläge« vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 58 f.; Ders.: Schauprozesse und Staatssicherheit, insbesondere S. 89. Zur entsprechenden Rolle des MfSUntersuchungsorgans vgl. Fricke; Engelmann: »Konzentrierte Schläge«, S. 107 ff. 44 Zur »Arbeit im und nach dem Operationsgebiet« (Bundesrepublik und Westberlin) in den fünfziger Jahren vgl. Knabe: Die West-Arbeit des MfS, S. 68 ff. Zur Begriffsklärung siehe dort S. 9 ff. 45 Zum Entstehungskontext der KgU vgl. beispielsweise Beattie, Andrew H.: »Sowjetische KZs auf deutschem Boden«. Die sowjetischen Speziallager und der bundesdeutsche Antikommunismus. In: JHK 2011, S. 119–137, insbesondere 123 ff. 46 Zu deren Tätigkeit in der SBZ und frühen DDR vgl. Buschfort, Wolfgang: Die Ära Adenauer. Die »roten KZs« und die Ostbüros der Parteien in den 1950er und 1960er Jahren. In: Haustein, Petra et al. (Hg.): Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute, Göttingen 2006, S. 30–43. 47 Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 62. 48 Zu den Entführungsfällen von West nach Ost durch den DDR-Staatssicherheitsdienst vgl. Muhle, Susanne: Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Göttingen 2015.

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fängnis Hohenschönhausen verbringen.49 Im Juli 1956 verurteilte ihn das Oberste Gericht zu einer vierjährigen Zuchthausstrafe.50 Aber auch weniger bekannte Personen kamen im Zuge der geheimpolizeilichen Operationen gegen die KgU unter die Räder der Staatssicherheit.51 Nicht selten nahm sich das Oberste Gericht dieser Verfahren an, während die Stasi die Zuschauertribünen mit ausgewähltem Publikum bestückte.52 Im Prozess gegen einen Lokheizer der Magdeburger Reichsbahn gab sich das MfS alle Mühe, eventuellen Nachahmern im Umkreis des Angeklagten den Schneid zu nehmen. Der Hauptverhandlung vor dem örtlichen Bezirksgericht »wohnten etwa 90 Zuhörer bei, die sich […] aus Angehörigen der Reichsbahndirektion Magdeburg, des Ministeriums für Verkehrswesen und verschiedenen Magdeburger Schwermaschinenbaubetrieben zusammensetzten. Ferner waren Vertreter des ADN, der Magdeburger Bezirkspresse und der Zeitschrift ›Fahrt frei‹ anwesend«.53

Am Prozess gegen einen selbstständigen Klempnermeister, dem ebenfalls Verbindungen zur »KgU« zur Last gelegt worden waren, »nahmen 8 Mitarbeiter des MfS, Bezirksverwaltung Potsdam, 4 Funktionäre der Kreisleitung der SED Potsdam sowie des Rates des Kreises Potsdam, Abteilung Landwirtschaft, 4 Vertreter des Kreisausschusses der Nationalen Front, 5 Betriebsangehörige des Fernmeldeamtes Potsdam und der Außenstelle Neuruppin […] teil«.54

Ähnlich verhielt es sich auch mit den Betroffenen, die wegen Kontakten zum »UfJ« verhaftet und später verurteilt worden waren.55 Das MfS war hier neben den Untersuchungsverfahren an sich ebenso für die öffentlichkeitswirksame Ausschlachtung der Gerichtsprozesse zuständig, bei denen man hauptsächlich

49 Vgl. Fricke, Karl-Wilhelm: Im »Hotel zur ewigen Lampe«. In: Der lange Arm der Stasi. Folter, Psychoterror, DDR-Nostalgie, Aachen 2009, S. 18–44. 50 Vgl. Aufstellung gerichtlicher Hauptverhandlungen vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik vom 19. April 1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 8593. 51 Vgl. die Untersuchungsverfahren BStU, MfS, AU 204/52, BStU, MfS, AU 1811/58, BStU, MfS, AU 75/56, BStU, MfS, AU 1990/58 oder im Monatsbericht der HA IX für Mai 1957 BStU, MfS, HA IX, MF 11165. In diesem Zusammenhang vgl. auch Aufstellung gerichtlicher Hauptverhandlungen vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik vom 19. April 1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 8593. 52 Vgl. Aufstellung gerichtlicher Hauptverhandlungen vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik vom 19. April 1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 8593. 53 Monatsbericht der HA IX für Oktober 1957; BStU, MfS, HA IX, MF 11170, S. 8 (MfSPaginierung). 54 Monatsbericht der HA IX für Januar 1960; BStU, MfS, HA IX, MF 11196, S. 24 (MfSPaginierung). 55 Vgl. BStU, MfS, AU 228/59. Den Beschuldigten wurden Verbindungen zum »UfJ« und zum RIAS vorgeworfen. Vgl. auch das Ermittlungsverfahren gegen einen Beschuldigten, dem die Staatssicherheit Kontakte zur »UfJ« zur Last legte. Das MfS bemerkte nach der Verurteilung, dass das »Urteil […] entsprechend dem Antrage des Staatsanwaltes ausgesprochen« wurde. Monatsbericht der HA IX für September 1959; BStU, MfS, HA IX, MF 11192, S. 17 (MfS-Paginierung).

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den Einfluss »imperialistischer Kräfte« zur Schau stellen wollte. Über einen Prozess vor dem Dresdner Bezirksgericht im Juli 1958, bei dem der Staatssicherheitsdienst »40 Angestellte von Dienststellen der Reichsbahndirektion Dresden […] sowie ein[en] Vertreter der Sächsischen Zeitung« als Zuschauer teilnehmen ließ, bemerkten die Ermittler im Anschluss lakonisch: »Die Verhandlungsführung war gut.«56 Der Angeklagte war wegen »Spionage« gemäß § 14 StEG zu einer 14-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Von den allgemeinen Liberalisierungstendenzen des sogenannten »Tauwetters« nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 war justizpolitisch in der DDR nicht viel zu spüren. Zwar ging in diesem Jahr die Zahl der Festnahmen durch das MfS kurzfristig leicht zurück; da die Staatsführung allerdings keine ernsthafte Notwendigkeit sah, sich die Selbstbezichtigungen der sowjetischen Amtskollegen zu eigen zu machen, blieb es nicht nur bei der bisherigen Vorgehensweise – Ulbricht sprach sich sogar für eine erhöhte Wachsamkeit aus.57 Vor dem Hintergrund des 17. Juni 1953 sollten polnische oder ungarische Verhältnisse unbedingt vermieden werden. Dort hatten sich reformkommunistische Strömungen durchsetzen und Aufstandsbewegungen formieren können, die im Falle Ungarns eine Mehrparteienregierung unter der Führung von Imre Nagy hervorgebracht hatten. In Polen wurde Władysław Gomułka zum ersten Sekretär der Staatspartei PCPR gewählt; noch 1949 war er aus der Parteiführung verdrängt und inhaftiert worden. Derartige Entwicklungen wollte die stalinistisch geprägte DDR-Regierung daheim um jeden Preis abwenden. Dementsprechend schwenkte die sicherheitspolitische Linie, die vorher überwiegend auf tatsächliche oder vermeintliche »feindliche« Einflüsse aus dem Westen konzentriert war, zurück auf Regimekritiker in der eigenen Bevölkerung. Der Begriff der »politischideologischen Diversion« wurde geprägt, mit dem fortan dogmatische Abweichungen zu stigmatisieren waren.58 Entscheidend war in diesem Zusammenhang die Causa um Wolfgang Harich und Walter Janka, die deutlich vor Augen führte, dass sich auch hierzulande – angeführt »von grundsätzlich DDR-loyalen Intellektuellen«59 – Diskussionszirkel bildeten, die dem Stalinismus alter Schule den Rücken gekehrt hatten und nach neuen Wegen zum Kommunismus suchten. Ihre Überlegungen zur Reformierung des DDR-Staatssozialismus fanden in der westdeutschen Öffentlichkeit vor allem durch die Vermittlung des Ostbüros der SPD Ver-

56 Monatsbericht der HA IX für Juli 1958; BStU, MfS, HA IX, MF 11179, S. 10 (MfSPaginierung). 57 Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 64 f. 58 Vgl. Suckut (Hg.): Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 323 f. 59 Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 157.

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breitung.60 Die beiden wurden Ende November beziehungsweise Anfang Dezember 1956 nach der gewaltsamen Niederschlagung des Ungarnaufstands festgenommen und in Hohenschönhausen eingeliefert. Vier Monate später fand gegen Wolfgang Harich der Prozess vor dem Obersten Gericht statt, wo das Urteil über eine zehnjährige Zuchthausstrafe erging.61 Walter Janka wurde erst Ende Juli 1957 abgeurteilt, er erhielt eine Zuchthausstrafe von fünf Jahren. Harich wurde am 18. Dezember 1964 im Rahmen einer Amnestie des Staatsrates in die DDR entlassen – er stand fortan unter Beobachtung der HA XX/1.62 1957 begann eine »neue Eiszeit«; der »Wechsel von Tauwetter und Frost«, um nur einige in der Historiographie gängige Metaphern zu bemühen, ließ auch beim Staatssicherheitsdienst und dessen Ermittlungsorgan nicht lange auf sich warten.63 Nach einer kurzen Periode der Zurückhaltung legte das MfS bei »seinen« Verhaftungen wieder erheblich zu, insgesamt wurden fast 1 900 Untersuchungsverfahren eingeleitet. 1956 waren es lediglich knapp 1 300.64 Die Bekämpfung »der konterrevolutionären Harich-Gruppe«65 war demnach nur ein kleiner Vorgeschmack auf den schnell wieder aufkeimenden Arbeitseifer der MfS-Ermittler. Ein Jahr später, 1958, befassten sie sich bereits mit 2 780 Fällen; allein auf die Hohenschönhausener Zentrale entfielen hiervon 583 Verfahren.66 Dennoch hatte die kurze Liberalisierungsphase trotz der ansteigenden Fallzahl auch Auswirkungen auf die Ermittlungspraxis der deutschen »Tschekisten«. Die sowjetischen Berater kritisierten den laxen Umgang mit der Straf60 Zu den Kontakten des Ostbüros der SPD zur Gruppe um Wolfgang Harich vgl. Buschfort, Wolfgang: Das Ostbüro der SPD. Von der Gründung bis zur Berlin-Krise (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63), München 1991, insbesondere S. 113–116. 61 Vgl. Flemming; Ulrich: Vor Gericht, insbesondere der Abschnitt »Was Sozialismus ist, bestimmen wir«. Die Harich-Janka-Gruppe – 1957, S. 74 ff. 62 Vgl. Abschlussbericht der HA IX über die Durchführung des Amnestieerlasses des Staatsrates der DDR vom 3. Oktober 1964, Bericht vom 13. Januar 1965; BStU, MfS, AS 3/73 Nr. 8, Bd. 1, Bl. 55. Zur HA XX/1 vgl. Auerbach, Thomas et al.: Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund« (MfS-Handbuch, III/12), Berlin 2008, S. 48 ff. 63 Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 157 und 152 f. 64 Exakt: 1 306 Verfahren 1956, 1 889 Verfahren 1957, wobei der Bericht für März 1956 fehlt und die Anzahl der hier eingeleiteten Verfahren entsprechend unbekannt bleibt. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1956 und 1957; BStU, MfS, HA IX, MF 11150 bis 11160 (für 1956) und BStU, MfS, HA IX, MF 11161 bis 11172 (für 1957). Engelmann gibt für 1956 1 548 Verhaftete an, für das Jahr 1957 1 910, mit Berufung auf eine undatierte statistische Aufstellung (Mai/Juni 1958) im Bestand der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG). Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 156. 65 Minister der Justiz, Hilde Benjamin: Schreiben an den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke: Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957; Ergänzung zur Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957 vom 29. Juli 1958; BStU, MfS, SdM 1872, Bl. 177. 66 Dies entspricht gut 20 %. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1958; BStU, MfS, HA IX, MF 11173 bis 11183.

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prozessordnung, der in nicht wenigen Fällen dazu geführt hatte, dass die Festnahme von Personen erst verspätet durch einen richterlichen Haftbefehl besiegelt wurde. Diese im MfS gängige Praxis, nach der StPO ein absoluter Sonderfall, sollte nun wenigstens zur Ausnahme werden.67 Zumindest in der Theorie hatten die MfS-Ermittler unterdessen nicht nur im Vorhinein genauer zu hinterfragen, ob eine Festnahme vor Gericht Bestand haben würde oder nicht – von den sowjetischen Geheimdienstberatern wurde auch angemerkt, die gesetzlichen Bestimmungen doch zu befolgen und dementsprechend auch den Haftgrund im Sinne der StPO genauestens zu prüfen.68 Die vorgesehene Frist von 24 Stunden bis zur richterlichen Vorführung war ab sofort einzuhalten.69 Bis zum Inkrafttreten des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG) im Februar 1958 blieben die juristischen Instrumentarien zur Ahndung politisch motivierter Delikte bekanntlich äußerst spärlich: Die gängige Kombination aus dem Artikel 6 der DDR-Verfassung (Boykotthetze) und der Kontrollratsdirektive 38 (Abschnitt III A III) kam bis zur ersten Neugestaltung des DDRStrafrechts in den meisten Fällen zur Anwendung, wenn die Ermittlungsbehörden und das urteilende Gericht einen politisch inspirierten Tathintergrund nicht ausschließen konnten oder wollten. Dementsprechend wurden allein 97 Prozent der in Hohenschönhausen bis zum Jahreswechsel 1957/58 bearbeiteten Ermittlungsverfahren auf der Grundlage dieser beiden Normen eingeleitet. Allein im Jahr 1956 lief rund die Hälfte der in der Zentrale angesiedelten Verfahren unter der Rubrik »Spionage«.70 Mit den neuen gesetzlichen Grundlagen erhielt die HA IX nun feineres Handwerkszeug zur Ahndung politischer Delikte, »da die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen sich zur wirksamen Bekämpfung dieser Verbrechen als nicht mehr ausreichend erwiesen« hatten.71 Straftaten, die zuvor holzschnittartig als Verstöße gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung und die Kontrollratsdirektive 38 verfolgt worden waren, konnten die Ermittler fortan differenzierter begegnen. »Die […] mit dem Strafrechtsergänzungsgesetz geschaffenen kon-

67 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 153. 68 Ebenda. § 141 Abs. 1 StPO nennt die Gründe für die Anordnung der Untersuchungshaft: »Der Beschuldigte darf nur dann in Untersuchungshaft genommen werden, wenn dringende Verdachtsgründe gegen ihn vorhanden sind und wenn entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr besteht«. GBl. 1952 I, S. 1008. 69 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 153. 70 64 Ermittlungsverfahren von insgesamt 135 der HA IX, vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1956; BStU, MfS, HA IX, MF 11150 bis 11160. 71 Eppert, Norbert: Wesentliche im Zeitraum 1949 bis 1961 praktizierte Mittel und Methoden des Gegners zur Organisierung des Verlassens der DDR und Möglichkeiten der gerichtlichen Hauptverhandlung im Kampf zur Zurückdrängung dieser Formen der Feindtätigkeit (September 1986); BStU, MfS, JHS, MF VVS o001-728/86, S. 64 (MfS-Paginierung).

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kreten Tatbestände […]« sollten »ihnen dabei eine große Hilfe sein«.72 Das Gesetz war in Absprache mit Vertretern des MfS entstanden, die ihre Bedürfnisse in die Beratungen einbrachten.73 Der Leiter der HA IX, Kurt Richter, und der spätere Chef der MfS-Rechtsstelle, Hans Filin, hatten durchsetzen können, dass Straftaten eigenständig aufgenommen wurden, »die der Festigung der Arbeiter- und Bauernmacht und dem Stand der Kriminalität entsprechen«.74 Insbesondere die Anzeigepflicht beim Straftatbestand »Verleiten zum Verlassen der Republik« und die Differenzierung der Tatbestände »Spionage«, »Sammlung von Nachrichten« und »Verbindung zu verbrecherischen Organisationen und Dienststellen« ging auf die Intervention des MfS zurück.75 Bisherige Statistiken wurden ausgewertet und die zuvor pauschal verfolgten Handlungen entsprechend in neue strafrechtlich relevante Tatbestände gegossen.76 Verbrechen gegen den Staat und gegen das sogenannte gesellschaftliche Eigentum wurden im StEG strafrechtlich gefasst und Sanktionierungen neu geregelt.77 Besonders an den neuen Tatbeständen der »Staatsverbrechen« war der Umstand, dass sie auch dann zur Anwendung kommen konnten und sollten, »wenn [die entsprechenden Straftaten] vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangen wurden«.78 Der vor allem im deutschen Strafrecht geltende, in der Frühen Neuzeit entwickelte Grundsatz »nullum crimen, nulla poena sine lege« war damit de facto ausgehebelt.79 Die Ermittler der Linie IX konnten nun gegen Delikte wie »Staatsverrat«, »Spionage«, »Sammlung von Nachrichten«, »Verbindung zu verbrecherischen Organisationen oder Dienststellen«, »Staatsgefährdende Gewaltakte«, »Angriffe gegen örtliche Organe der Staatsmacht«, »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze«, »Staatsverleumdung«, »Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik«, »Diver72 Minister der Justiz, Hilde Benjamin: Schreiben an den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke: Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957; Ergänzung zur Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957 vom 29. Juli 1958; BStU, MfS, SdM 1872, Bl. 179. 73 Vgl. Schreiben von Justizministerin Hilde Benjamin an den Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber vom 12. Juni 1957 betr. Entwurf des StEG; BStU, MfS, SdM 1216, Bl. 164–166. 74 Vgl. ebenda, Bl. 164 f. 75 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 157. 76 Vgl. das Schreiben vom Vorsitzenden des Obersten Gerichts Heinrich Toeplitz an Ernst Wollweber vom 11. September 1959; BStU, MfS, SdM 1216. Vgl. Minister der Justiz, Hilde Benjamin: Schreiben an den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke: Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957; Ergänzung zur Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957 vom 29. Juli 1958; BStU, MfS, SdM 1872. 77 Vgl. Schreiben von Justizministerin Hilde Benjamin an den Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber vom 12. Juni 1957 betr. Entwurf des StEG; BStU, MfS, SdM 1216, Bl. 165. 78 Vorlesung zum Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuches für alle Mitarbeiter des MfS (undatiert, Dezember 1957); BStU, MfS, AS 153/63, Bl. 120. 79 Zu diesem Grundsatz, der das Rückwirkungsverbot des bundesdeutschen Strafrechts nach 1945 beschreibt, vgl. Bopp, Georg: Die Entwicklung des Gesetzesbegriffes im Sinne des Grundrechtes »Nulla poena, nullum crimen sine lege«. Eine Untersuchung zu Artikel 103 Absatz 2 des Bonner Grundgesetzes, Freiburg im Breisgau 1966, insbesondere S. 142 ff.

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sion« sowie »Schädlingstätigkeit und Sabotage«80 konkreter vorgehen als es mit dem »eigentlich untauglichen und unspezifischen Artikel […] 6« je möglich war.81 Fluchtversuche von Ost nach West wurden durch den zeitgleich mit dem StEG am 11. Dezember 1957 neugefassten § 8 des Passgesetzes zur Straftat deklariert und konnten mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden; auch bereits die Fluchtvorbereitung stand jetzt unter Strafe.82 Im Sommer 1958 bilanzierte Justizministerin Hilde Benjamin, »erleichtert wurde die Aufdeckung dieser Verbrechen durch die Schaffung eines neuen Tatbestandes im Strafrechtsergänzungsgesetz und durch das Passänderungsgesetz«.83 Endlich könne »mit einer stärkeren Verfolgung des Verleitens zum illegalen Verlassen der DDR gerechnet werden«.84 Allein in Hohenschönhausen wurden zwischen 1958 und 196885 rund 33 Prozent der Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Passgesetz eingeleitet. Auf Platz zwei finden sich Spionagestraftaten mit einem Anteil von annähernd 24 Prozent. Weitere 16 Prozent entfielen auf Fluchthilfedelikte, gefolgt von rund 10 Prozent gemäß § 16 StEG (»Verbindung zu verbrecherischen Organisationen oder Dienststellen«), »Staatsgefährdende Gewaltakte« mit 7 Prozent, NS-Verbrechen und »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze« mit je 3 Prozent und 4 Prozent sonstige Straftaten wie Sabotage, Diversion oder Fahnenflucht. Bis zur endgültigen Abriegelung der deutsch-deutschen Grenze im August 1961 stieg die Zahl der eingeleiteten Verfahren stetig an; lag deren Umfang im Juli noch bei DDR-weit insgesamt 233,86 so bearbeitete die Hohenschönhausener Hauptabteilung allein im August und September dieses Jahres Untersuchungsvorgänge gegen 147 beziehungsweise 114 Personen.87 Landesweit wurden dabei in diesen zwei Monaten von der Staatssicherheit fast 2 100 Menschen festgenommen.88 Die Inhaftierungswelle nach dem Mauerbau sorgte dafür, dass das Mittel für 1961 mit insgesamt 4 195 Ermittlungsverfahren auf ein Rekordhoch an-

80 §§ 13 bis 23 StEG, GBl. 1957 I, S. 644 f. 81 Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 157. 82 Vgl. Gesetz zur Änderung des Passgesetzes der Deutschen Demokratischen Republik vom 11. Dezember 1957, GBl. 1957 I, S. 650. 83 Minister der Justiz, Hilde Benjamin: Schreiben an den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke: Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957; Ergänzung zur Kriminalitätsanalyse für das Jahr 1957 vom 29. Juli 1958; BStU, MfS, SdM 1872, Bl. 183. 84 Ebenda. 85 In diesem Jahr trat das neuerlich reformierte Strafgesetzbuch der DDR in Kraft. 86 Auf die Hauptabteilung entfielen davon 47 Ermittlungsverfahren. Vgl. Monatsbericht der HA IX für Juli 1961; BStU, MfS, HA IX, MF 11214. 87 Dies entspricht 15,5 (August 1961) und 13,3 % der Gesamtzahl an eingeleiteten Ermittlungsverfahren des MfS. Vgl. Monatsberichte der HA für August und September 1961; BStU, MfS, HA IX, MF 11215 und 11216. 88 Im August 1961 1 093 und im September 1961 970 Personen. Vgl. ebenda.

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stieg, das auch in den nachfolgenden Jahren nicht mehr erreicht wurde.89 Die DDR war nun zu einer »geschlossenen Gesellschaft« geworden, »die nur um den Preis von Straffälligkeit verlassen werden konnte«.90 Im Jahr 1962 entspannte sich die Lage jedoch nach und nach wieder. Im Oktober 1961 hatte der XXII. Parteitag der KPdSU eine »zweite Entstalinisierungsphase«91 eingeleitet. Der einbalsamierte Diktator wurde symbolträchtig aus dem LeninMausoleum auf dem Roten Platz in Moskau entfernt und an der benachbarten Kreml-Mauer beigesetzt. In der nunmehr komplett abgeriegelten DDR suchten die Verantwortlichen derweil nach neuen Wegen der Justizpolitik. Beinahe selbstkritisch gab man zu, es in den Jahren zuvor mit der Einhaltung »sozialistischer Gesetzlichkeit« nicht immer ganz genau genommen zu haben und warf sogar den vom Staatssicherheitsdienst bestätigten Staatsanwälten der Abteilungen IA vor, im Hinblick auf ihre dienstlichen Aufsichtspflichten bei MfS-Ermittlungsverfahren befangen zu sein.92 Minister Mielke befahl seinen Ermittlern im Mai 1962, die Strafprozessordnung nun tatsächlich vom Anfang bis zum Ende eines Untersuchungsverfahrens penibel einzuhalten und die Rechte der Beschuldigten stets zu wahren.93 Bei »Verbrechen oder Vergehen von geringer Gesellschaftsgefährlichkeit« sollte hingegen genau geprüft werden, ob die »Möglichkeit gesellschaftlicher Erziehung« bestünde und somit von der Strafverfolgung abgesehen werden könne.94 Stattdessen seien »die jeweils erforderlichen gesellschaftlichen Erziehungsmaßnahmen […] in Anwendung zu bringen« und »verantwortungsbewusst durchzuführen«.95 Die Verhaftungszahlen der Linie Untersuchung sprechen in diesem Zusammenhang eine eindeutige Sprache: 1962 wurden vonseiten des MfS Ermittlungsverfahren gegen »nur noch« 2 410 Personen eingeleitet; ein so niedriger Wert war zuletzt fünf Jahre zuvor erreicht wor89 Die Hauptabteilung bearbeitete davon immerhin 707 Verfahren. Das entspricht rund 16,6 %. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1961; BStU, MfS, HA IX, MF 11208 bis 11218. Zur Strafjustiz im Kontext des Mauerbaus im Jahr 1961 vgl. Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz nach dem 13. August 1961. »Jedes Urteil ist eine politische Tat«. In: Buschfort, Wolfgang; Wachs, Philipp-Christian; Werkentin, Falco (Hg.): Vorträge zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 2001, S. 56–82 sowie das entsprechende Kapitel in Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. 90 Morré, Jörg: Vom Niedergang des Erziehungsgedankens im Strafvollzug der DDR. In: Klewin, Silke; Reinke, Herbert; Sälter, Gerhard (Hg.): Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig 2010, S. 253. 91 Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 160. 92 Vgl. Undatiertes ZK-Papier (1962), zit. nach: ebenda, S. 161. 93 Vgl. Befehl Nr. 264/62 zur Durchsetzung des Staatsratsbeschlusses über die weitere Entwicklung der Rechtspflege vom 18. Mai 1962, S. 138. 94 Ebenda. 95 Ebenda.

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den.96 In Hohenschönhausen wurden hiervon 553 Fälle, also rund 23 Prozent, bearbeitet. Strafjustizpolitisch waren die Karten nun offenkundig neu gemischt. So sollte genauestens abgewogen werden, ob auf eine Verhaftung zugunsten (re-)integrativer Maßnahmen verzichtet werden könne;97 während sich die Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen wie auch die Untersuchungsführung insgesamt mehr und mehr zur (Pseudo-)Wissenschaft entwickelte. Über psychologische Grundkenntnisse sollte nun jeder Vernehmer verfügen, um die Persönlichkeitsstruktur eines Beschuldigten entsprechend einschätzen zu können und nicht nach einem starren Schema vorzugehen.98 Dabei kam oft nicht mehr heraus als bessere küchenpsychologische Weisheiten, denen zufolge der »Gehalt des individuellen Bewusstseins« eines jeden Beschuldigten unterschiedlich sei und der Vernehmer sich auf die einzelnen Personen, gegen die er zu ermitteln hat, entsprechend einstellen müsse.99 Die Mitarbeiter des Untersuchungsorgans analysierten nun ihre eigene Tätigkeit mit dem Ziel, ihr über die »Aussageleistung beschuldigter Personen« erlangtes Wissen an nachrückende Kollegen weitergeben zu können.100 Die Professionalisierung der Vernehmungsmethoden unter im weitesten Sinne psychologischen Gesichtspunkten

96 Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1962; BStU, MfS, HA IX, MF 11220 bis 11231. 97 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 162. 98 Zum MfS-Begriff der »Täterpersönlichkeit« vgl. Juristische Hochschule Potsdam: Wörterbuch für die politisch-operative Arbeit, Potsdam 1969; BStU, MfS, JHS GVS 300/69 K 465, Bl. 138 f. Die »Täterpersönlichkeit« als »wesentlicher Bestandteil der Ursachen von Staatsverbrechen« sei demnach »von Anfang an planmäßig, gründlich und umfassend zu erforschen«. Ebenda, Bl. 138. Zu den überlieferten MfS-Dokumenten wie Dissertationen oder Schulungsmaterialien mit psychologischem Inhalt vgl. Richter, Holger: Die operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, insbesondere S. 119 ff. Zu den handlungspsychologischen Grundlagen der »Feindbearbeitung« durch das MfS-Untersuchungsorgan siehe insbesondere S. 195 ff. 99 Zank, Horst: Das Studium der Persönlichkeit des wegen Verbrechen der staatsfeindlichen Hetze inhaftierten Beschuldigten als wesentliche Voraussetzung für die Festlegung der Vernehmungstaktik bei Hetzern (Schulungsmaterial), als JHS-Diplomarbeit eingereicht im Dezember 1968; BStU, MfS, JHS, MF 611, S. 29 (MfS-Paginierung). 100 Etzold, Rolf: Einige wesentliche Einflüsse auf die Aussageleistung beschuldigter Personen in der ersten Vernehmung, die der Begehung staatsfeindlicher Hetze verdächtigt wurden (Schulungsmaterial), als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 30. Mai 1968; BStU, MfS, JHS, MF 595. Vgl. weiterhin Fleischhack, Siegfried: Einige psychologische Probleme der Tätigkeit des Untersuchungsführers und der Stand ihrer Verwirklichung in der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 30. November 1967 (MfS, VVS 160-D 545); BStU, MfS, JHS, MF 514; Plache, Kurt: Zur Taktik des Vorhaltens von Beweisen in den von den Untersuchungsabteilungen des MfS geführten Vernehmungen beschuldigter Bürger der DDR unter den Bedingungen der Untersuchungshaft (mit Autorreferat), als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 30. Dezember 1967; BStU, MfS, JHS, MF 449; Liebscher, Manfred: Die Rolle und Bedeutung der Fragestellung bei der Vernehmung von Beschuldigten – dargestellt an Beispielen aus Ermittlungsverfahren gegen Militärverbrechen und Militärstraftaten, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 25. Juli 1969; BStU, MfS, JHS, MF VVS 160-218/69.

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entsprach dabei der allgemeinen Tendenz in den sechziger Jahren, die Mitarbeiterausbildung im Staatssicherheitsdienst zu »akademisieren«, gipfelnd in der Heraufstufung der MfS-eigenen »Kaderschmiede«101 zur »Juristischen Hochschule« (JHS).102 Insgesamt wurde die kriminalistische Ausbildung in der DDR professionalisiert. 1961 war beispielsweise an der Juristischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin eine entsprechende Fachrichtung eingeführt worden, in der Studierende der Rechtswissenschaft den akademischen Grad »DiplomKriminalist« erlangen konnten.103 Die »Tschekisten« bemühten sich indes, auch die Untersuchungen in Strafsachen mit dem Ziel der »Erlangung von Geständnissen« pseudoakademisch zu fundieren.104 Zahlreiche Angehörige der Linie IX verdienten sich in den folgenden Jahren ihre Sporen damit, praktische Arbeitserfahrungen in theoretische Untersuchungen einfließen zu lassen und dies zur beruflichen Weiterqualifizierung zu nutzen.105 Ein kurzer Blick auf die Leiter der HA IX zwischen 1951 und 1989 verdeutlicht diesen Professionalisierungsschub innerhalb des MfS exemplarisch.106 Neben unzähligen JHS-

101 Minister Mielke bezeichnete die Hochschule als »Kaderschmiede für die Organe für Staatssicherheit«. Rede von Erich Mielke in Potsdam-Eiche anlässlich des Abschlusses des 2. Hochschullehrgangs, Oktober 1958; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5605, Bl. 86. 102 Vgl. Süß, Sonja: Politisch missbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999, S. 673. Erich Mielke sprach von der Gründung der Juristischen Hochschule des MfS als »neue Etappe der Qualifizierung [der] Mitarbeiter und ihrer allseitigen wissenschaftlichen Befähigung für die Lösung der […] Aufgaben zum Schutze des Friedens und des Sozialismus«. Rede des Ministers für Staatssicherheit Generaloberst Mielke zur Festveranstaltung anläßlich der Verleihung des Status einer Hochschule für die juristische Ausbildung in Potsdam-Eiche am 29. Juni 1965; BStU, MfS, JHS VVS 193/65, S. 5 (MfS-Paginierung). 103 Vgl. Stelzer, Ehrenfried: Das Institut für Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin. In: Sanke, Heinz (Hg.): Kriminalistik und forensische Wissenschaften (Wissenschaftliche Schriftenreihe der Humboldt-Universität zu Berlin/Institut für Kriminalistik), Berlin (Ost) 1967, S. 193–198, insbesondere 196. Zu den juristischen Fakultäten in der DDR (Berlin, Halle-Wittenberg, Jena, Leipzig) vgl. Stolleis: Sozialistische Gesetzlichkeit, S. 83 ff. 104 Lektion: »Der Gegenstand der Psychologie und die Bedeutung der Psychologie für die Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit« (1960), zit. nach: Süß: Politisch missbraucht?, S. 674. 105 Vgl. exemplarisch Plache, Kurt: Zur Taktik des Vorhaltens von Beweisen in den von den Untersuchungsabteilungen des MfS geführten Vernehmungen beschuldigter Bürger der DDR unter den Bedingungen der Untersuchungshaft; BStU, MfS, JHS, MF 449; Kopf, Achim; Seifert, KarlHeinz: Forschungsergebnisse zum Thema »Zur Herbeiführung der Aussagebereitschaft von Beschuldigten durch Untersuchungsführer des Ministeriums für Staatssicherheit«, untersucht an Ermittlungsverfahren gegen DDR-Bürger, die der Spionagetätigkeit beschuldigt wurden (1970); BStU, MfS, JHS, MF VVS 160-178/70; Queck, Willi: Die Anwendung von Mitteln und die Nutzung von Möglichkeiten zur Optimierung von Gedächtnisleistungen aussagebereiter Personen zur Gewinnung strafrechtlich relevanter und politisch-operativ bedeutsamer Informationen (JHS-Diplomarbeit) eingereicht am 30. November 1971; BStU, MfS, JHS, MF VVS 160-16/71. 106 Gleiches gilt auch für die Leiter der Abteilung Haftvollzug, deren Qualifizierung sich im gleichen Zeitraum ähnlich stark professionalisierte.

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Diplomarbeiten entstanden rund 30 Dissertationsschriften aus der Feder von Mitarbeitern der MfS-Ermittlungsorgane.107 Insgesamt ist seit dem Bau der Berliner Mauer eine gewisse Formalisierung der DDR-Strafjustiz zu erkennen.108 Auch die MfS-Ermittlungsorgane übten ihre Tätigkeit in zunehmend berechenbareren Bahnen aus, mit selbstverständlich nach wie vor geheimpolizeilichen Methoden.109 Bereits Ende 1958 waren die sowjetischen Berater aus dem Ministerium abgezogen worden; zurück blieb lediglich eine reduzierte Zahl von Verbindungsoffizieren.110 Die leitenden Mitarbeiter des MfS mussten nun, so Mielke, »zu wirklichen Tschekisten« werden und auf eigenen Beinen stehen.111 Jetzt gelte es, so der Minister, zu beweisen, »was wir alles von unseren sowjetischen Freunden gelernt haben«.112 1963 wurden die Untersuchungsorgane des Staatssicherheitsdienstes auch erstmals in DDR-Rechtsvorschriften genannt, einmal im Rechtspflegeerlass und daneben im neuen Staatsanwaltschaftsgesetz. Damit wurde dem MfS nunmehr ausdrücklich und offiziell der Status einer strafrechtlichen Ermittlungsbehörde zuerkannt, den es bereits seit 14 Jahren innehatte.113 Hatte die Regierung schon seit den frühen fünfziger Jahren mit einem massiven Abwanderungsproblem zu kämpfen, so veränderte sich die Lage mit der 107 Vgl. Gieseke, Jens: Doktoren der Tschekistik. Die Promovenden der »Juristischen Hochschule« des MfS (BF informiert, 6), Berlin 1994, S. 7. Für eine vollständige Auflistung aller an der JHS eingereichten Dissertationsschriften vgl. Förster, Günter: Die Dissertationen an der »Juristischen Hochschule« des MfS. Eine annotierte Bibliographie (Hg. BStU, Dokumente, Reihe A, Nr. 2/94), Berlin 1994. 108 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 161. »Für die Zeit des umfassenden Aufbaus des Sozialismus« sollte mit dem Rechtspflegeerlass von 1963 die dafür notwendige »Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege« festgelegt und neu kodiert werden. Vgl. Benjamin, Hilde: Vorwort. In: Ministerium der Justiz der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Aufgaben und Arbeitsweise der Rechtspflegeorgane. Rechtspflegeerlass, Gerichtsverfassungsgesetz, Militärgerichtsordnung, Staatsanwaltschaftsgesetz und zugehörige gesetzliche Bestimmungen. Textausgabe mit Sachregister, Berlin 1963, S. 6. Auf dem VI. Parteitag der SED konnte »festgestellt« werden, »dass der letzte Abschnitt auf dem Weg zum endgültigen Sieg des Sozialismus, die Etappe des umfassenden sozialistischen Aufbaus beginnt«. Semler, Hans-Joachim; Kern, Herbert (Hg.): Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes. Leitfaden zum Rechtspflegeerlass, Berlin (Ost) 1963, S. V. Semler verfasste rund sechs Jahre später einen Kommentar zur DDR-Verfassung mit, Kern war Staatssekretär im Ministerium der Justiz. 109 Engelmann betont, dass »der zunehmende Verzicht auf grobe Formen offener Willkür [seit den sechziger Jahren] durch geheimpolizeilich wie justitiell professionellere Vorgehensweisen ausgeglichen [wurde], die auf unauffälligere Weise ähnliche Resultate erbrachten«. Dabei sei entscheidend, »dass in den sechziger Jahren das politische Zuverlässigkeitsniveau der Justizkader in etwa das der Staatssicherheitsoffiziere erreicht haben dürfte«. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau, S. 163 f. 110 Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 71. 111 Rede Erich Mielkes zur Verabschiedung der sowjetischen Berater, 31. Oktober 1958; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5605, Bl. 110. 112 Ebenda, Bl. 109. 113 Vgl. Rechtspflegeerlass vom 4. April 1963, GBl. 1963 I, S. 36; vgl. Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 17. April 1963, GBl. 1963 I, S. 58.

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Grenzabriegelung von August 1961 grundlegend. Zwar war Bürgern der DDR nun auch das letzte Schlupfloch nach Westberlin im wahrsten Sinne des Wortes zugemauert worden – am festen Willen vieler Menschen, das Land in Richtung Westen zu verlassen, änderte die neue Situation oftmals jedoch nichts. Zwischen Mauerbau und Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches 1968 lag der Anteil der in Hohenschönhausen wegen »Republikflucht« oder Fluchthilfe (§ 8 PassG und § 21 StEG) eingeleiteten Untersuchungsverfahren bei zusammen rund 55 Prozent.114 Hinzu kamen Ermittlungen wegen sogenannter »staatsgefährdender Gewaltakte« (§ 17 StEG), hinter denen sich in der Regel tätliche Angriffe gegen die innerdeutschen Grenzsicherungsanlagen verbargen. Die Propaganda der Staatsführung, die den Bau der Berliner Mauer als »antifaschistischen Schutzwall« und somit zwingend notwendige Maßnahme zur Sicherung der Sektorengrenze hinstellte, verfing offenkundig nicht bei allen. Mit rund 3 Prozent der in Hohenschönhausen zwischen August 1961 und Anfang 1968 eingeleiteten Ermittlungsverfahren stellten die Straftatbestände der »staatsgefährdenden Propaganda und Hetze« und der »Staatsverleumdung« allerdings eine einigermaßen zu vernachlässigende Größe dar. Anders sah dies 1968 aus, im Jahr des »Prager Frühlings«.115 Zwar blieben auch hier Verstöße gegen den neu geschaffenen § 213 StGB (»ungesetzlicher Grenzübertritt«) an erster Stelle der Gründe für eingeleitete Ermittlungsverfahren.116 Delikte der sogenannten »staatsfeindlichen Hetze«, nun § 106 des Strafgesetzbuches, nahmen wegen lautstarker Proteste gegen das gewaltsame Vorgehen der sowjetischen Streitkräfte in der Tschechoslowakei im Spätsommer 1968 und gegen die geplante Volksabstimmung über eine neue Verfassung in der DDR nun allerdings immerhin rund 12 Prozent ein.117 Allein für die »aku114 Im Einzelnen: 35 % § 8 PassG, 20 % § 21 StEG. Hier sind die Nennungen der einzelnen Straftatbestände bzw. Paragraphen in die Berechnung eingeflossen, wobei zu beachten ist, dass für ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren durchaus mehrere Straftatbestände grundlegend gewesen sein können. 115 Zur Rezeption des »Prager Frühlings« und dessen Niederschlagung aus Sicht des MfS vgl. Tantzscher, Monika: »Maßnahme Donau und Einsatz Genesung«. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968/69 im Spiegel der MfS-Akten (Analysen und Berichte, Reihe B, 1/94), Berlin 1994. Zur SED-internen Diskussion vgl. Prieß, Lutz; Kural, Václav; Wilke, Manfred: Die SED und der »Prager Frühling« 1968. Politik gegen einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, Berlin 1996, insbesondere S. 236–247. Zur Rolle der Nationalen Volksarmee der DDR vgl. Wenzke, Rüdiger: Die NVA und die Niederschlagung des »Prager Frühling«. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung (2003)3, S. 4–9. 116 630 von insgesamt 1 869 eingeleiteten Ermittlungsverfahren, das entspricht rund 33,7 %. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1968; BStU, MfS, HA IX, MF 11292 bis 11303. 117 Vgl. ebenda. Der Volksentscheid über die neue Verfassung der DDR war per Gesetz beschlossen worden. Vgl. Gesetz zur Durchführung eines Volksentscheides über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 26. März 1968, GBl. 1968 I, S. 192 f. Die Verfassung, über die am 6. April 1968 entschieden wurde, trat am 9. April 1968 in Kraft. Vgl. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968, GBl. 1968 I, S. 199–222.

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ten« Monate August und September verzeichnen die Statistiken der Hauptabteilung IX 316 Verfahrensaufnahmen wegen sogenannter Hetze.118 Noch im Oktober nahm die Linie Untersuchung DDR-weit 41 Personen »in Bearbeitung«, bei deren Delikten »ein unmittelbarer Zusammenhang mit den Hilfsmaßnahmen der verbündeten sozialistischen Länder in der ČSSR festzustellen« war.119 Menschen, die in der Vergangenheit ohnehin durch kritische Äußerungen über die politische Linie der Regierung aufgefallen waren, hätten nach dem 21. August ihre »staatsfeindliche Tätigkeit intensiviert«.120 Zahlreiche Bürger begehrten gegen die militärischen »Maßnahmen der fünf verbündeten sozialistischen Staaten zur Sicherung des Friedens und zur Zerschlagung konterrevolutionärer Umtriebe in der ČSSR am 21. August 1968« auf.121 Viele beteiligten sich an Flugblattaktionen, zeichneten kritische Karikaturen oder machten ihrem Unmut über den Truppeneinmarsch auf anderem Wege Luft.122 Aus Sicht der Staatssicherheit war ein massiver Anstieg »subversiver Aktionen innerhalb der DDR« zu verzeichnen, die sich in unterschiedlichsten Formen »der Herstellung und Verbreitung von Hetzflugblättern, des Anschmierens von Hetzlosungen, der mündlichen Hetze, der Einfuhr von Hetzschriften und antisozialistischem Propagandamaterial aus der ČSSR und vereinzelt von Versuchen zur Organisierung von Protestbekundungen« äußerten.123 Die Angehörigen des Untersuchungsorgans betrachteten die Ermittlungsverfahren wegen »staatsfeindlicher Hetze« im Umfeld der gewaltsamen Niederschlagung des »Prager Frühlings« durchaus auch als Testballon für das neue StGB. So könne anhand dieser Verfahren »die Anwendung […] des neuen Strafgesetzbuches überprüft« werden.124 Obwohl den Ermittlern »differenzierte 118 Vgl. Monatsberichte der HA IX für August und September 1968; BStU, MfS, HA IX, MF 11299 und 12300. Insgesamt leitete die Linie Untersuchung in diesem Jahr 540 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf »staatsfeindliche Hetze« ein. Auf die Monate August und September entfallen damit 58,5 % dieser Verfahren. 119 Monatsbericht der HA IX für Oktober 1968, BStU, MfS, HA IX, MF 11301, S. 7 (MfSPaginierung). 120 Ebenda. 121 Monatsbericht der HA IX für August 1968; BStU, MfS, HA IX, MF 11299, S. 5 (MfSPaginierung). 122 Hans-Jochen S. beispielsweise wurde am 23. August 1968 verhaftet und in Hohenschönhausen eingeliefert. Er hatte mit Freunden im Ostberliner Bezirk Friedrichshain Flugblätter mit der Aufschrift »Bürger – Genossen. Fremde Panzer in der ČSSR dienen nur dem Klassenfeind. Denkt an das Ansehen des Sozialismus in der Welt. Fordert endlich wahrheitsgetreue Informationen. Niemand ist zu dumm, selbst zu denken« verteilt. Vgl. Materialien zu Hans-Jochen S.; ZZA-HSH. Vgl. weiterhin die einschlägigen Verfahren im Monatsbericht der HA IX für Januar 1969; BStU, MfS, HA IX, MF 11304. 123 Monatsbericht der HA IX für August 1968; BStU, MfS, HA IX, MF 11299, S. 5 (MfSPaginierung). 124 Monatsbericht der HA IX für Oktober 1968; BStU, MfS, HA IX, MF 11301, S. 19 (MfSPaginierung).

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Entscheidungen« abverlangt wurden, sei – wie üblich etwas sybillinisch formuliert – »eine weitestgehende Einheitlichkeit in der Rechtsanwendung erreicht« worden.125 Ganz problemlos lief die Anwendung der neuen Paragraphen aber offenbar nicht: Zur Sicherheit schwärmten die Instrukteure der HA IX/4126 zu ihren Kollegen in die Bezirksabteilungen aus, damit die neuen Rechtsnormen auch in der Provinz »einheitlich […] und qualifiziert […]« angewandt, die »erforderlichen politisch-operativen Schwerpunkte« festgelegt werden und so der »Abschluss der Verfahren mit einer hohen Effektivität« vonstattengehen könne.127 Die Ereignisse des Jahres 1968 hallten allerdings noch eine Weile nach. Erst im Februar 1969 gingen Delikte der »staatsfeindlichen Hetze«, die sich eindeutig gegen die neue »sozialistische« Verfassung der DDR und die darin verbriefte Führungsrolle der SED wie auch gegen die sogenannten »Hilfsmaßnahmen […] vom 21.8.1968« richteten, wieder zurück.128 Insgesamt verzeichnen die Statistiken der HA IX für 1969 einen Rückgang an eingeleiteten Ermittlungsverfahren um rund 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die siebziger und achtziger Jahre Die siebziger Jahre begannen aus Sicht des MfS mit einem verhältnismäßig sanften Einstieg in die Untersuchungstätigkeit: Die Abteilungen der Linie IX leiteten 1970 landesweit 1 551 Verfahren in Verbindung mit der Inhaftierung in einer Untersuchungshaft ein und unterschritten damit sogar noch die vorhergehende Jahresstatistik von 1969 um 22 neu eingeleitete Ermittlungsverfahren.129 In die Berliner Zentrale kam hiervon mit 174 Beschuldigten der größte Teil, also insgesamt rund 11 Prozent der Untersuchungshäftlinge.130 Unter den Verfahren der MfS-Untersuchungsorgane bildeten die Delikte des »ungesetzlichen Grenzübertritts« und der »staatsfeindlichen Hetze« nach wie

125 Ebenda. 126 Zur »Instrukteurs-Abteilung« der HA IX vgl. Wiedmann: Die Diensteinheiten des MfS 1950–1989, S. 301. 127 Monatsbericht der HA IX für September 1968; BStU, MfS, HA IX, MF 11300, S. 20 (MfSPaginierung). 128 Monatsbericht der HA IX für Februar 1969; BStU, MfS, HA IX, MF 11305, S. 7 (MfSPaginierung). Der Anteil der wegen Verstößen gegen § 106 StGB eingeleiteten Verfahren betrug 1969 rund 14,6 %. Im Jahr zuvor lag er bei rund 28,9 %. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1969; BStU, MfS, HA IX, MF 11304 bis 11315. 129 Vgl. Jahresbericht der HA IX/8 für 1970; BStU, MfS, HA IX 5208. 130 Vgl. ebenda. Die Ein- und Abgangsbücher der Abt. XIV verzeichnen für 1970 allerdings nur 161 »Neuzugänge«. Vgl. Kladde der Abt. XIV, Hohenschönhausen; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 16795, Bl. 4–29. Eventuell handelt es sich bei den übrigen 13 um vom Untersuchungsorgan eingeleitete Ermittlungsverfahren ohne Haft, was den Statistiken der HA IX nicht für einzelne Haftanstalten gesondert zu entnehmen ist.

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vor die Schwerpunkte.131 Ohnehin pendelte sich die Anzahl der Ermittlungsverfahren seit Mitte der sechziger bis zum Beginn der siebziger Jahre auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau ein: Im Zeitraum von 1960 bis 1965 ergibt sich, unter Ausklammerung des »extremen« Jahres 1961, ein Mittelwert von rund 2 500 strafrechtlichen Ermittlungen pro Jahr.132 Dieser Wert sank in der Phase von 1966 bis 1970 auf jährlich 1 690. Gemessen an den durchschnittlich 508133 Verfahren in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, leiteten die Ermittler in Berlin-Hohenschönhausen zwischen 1966 und 1970 anteilig nur noch Verfahren gegen im Schnitt 206 Personen ein. Bis zur »Phase der Normalisierung«134, mit der die Ära Honecker in Abgrenzung zur »offenen und brutalen Verfolgungspraxis«135 der frühen Ära Ulbricht unter anderem justizpolitisch etikettiert wird, versuchte auch das MfSUntersuchungsorgan eine »normale« Rolle als herrschaftssichernde Institution zu finden und zu stabilisieren. In den sechziger Jahren wurde unter den Mitarbeitern die mantrahafte Floskel geprägt, dass in Ermittlungsverfahren »differenzierte Entscheidungen« getroffen und die entsprechenden Untersuchungsvorgänge »mit einem maximalen gesellschaftlichen Nutzeffekt abgeschlossen« werden sollen.136 Die Gratwanderung zwischen effizienter und nachhaltiger Bekämpfung »staatsfeindlicher« Aktivitäten auf der einen Seite sowie andererseits der Begrenzung negativer Folgen strafrechtlicher Repression für das Ansehen der DDR im Innern und auch außerhalb der Landesgrenzen war anders zu bewerkstelligen als noch in den fünfziger Jahren und in der Periode nach dem Mauerbau. Ohne den Nutzen von Inhaftierungen im Grundsatz je infrage zu stellen, betätigten die Verantwortlichen in der SED den »Hebel bei der sozialistischen Umgestaltung«137, zu dem die politische Strafjustiz im ersten Jahrzehnt der DDR pervertiert worden war, im Laufe der sechziger Jahre allmählich

131 DDR-weit wurden von den 1 551 Ermittlungsverfahren 622 wegen Verstoßes gegen § 213 StGB (~40 %) sowie 178 wegen Delikten gemäß § 106 StGB (~11,5 %) eingeleitet. Vgl. Jahresbericht der HA IX/8 für 1970; BStU, MfS, HA IX, Nr. 5208. 132 Unter Berücksichtigung der 4 195 im Jahr 1961 eingeleiteten Verfahren ergäbe sich ein Durchschnitt von fast 2 800 Ermittlungsverfahren pro Jahr. 133 Die allein 707 Verfahren der HA IX für 1961 eingerechnet, ergäbe sich ein Mittelwert von jährlich 542 eingeleiteten Ermittlungsverfahren. 134 Weinke, Annette: Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis in der Honecker-Ära. In: Ansorg et al. (Hg.): »Das Land ist still – noch!«, S. 38. Ähnlich auch Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 11. 135 Passens: MfS-Untersuchungshaft, S. 114. 136 Monatsbericht der HA IX für Oktober 1968; BStU, MfS, HA IX, MF 11301, S. 19 (MfSPaginierung). Ähnlich auch Plache, Kurt: Zur Taktik des Vorhaltens von Beweisen in den von den Untersuchungsabteilungen des MfS geführten Vernehmungen beschuldigter Bürger der DDR unter den Bedingungen der Untersuchungshaft; BStU, MfS, JHS, MF 449, S. 38 (MfS-Paginierung). 137 Streit, Josef: Die Justizorgane sind wichtige Hebel bei der sozialistischen Umgestaltung. In: Neue Justiz. Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft 13(1959)23, S. 789–793.

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zaghafter.138 Zwar blieb die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens weiterhin theoretisch das bevorzugte Ziel eines »Operativen Vorganges«, den andere MfS-Diensteinheiten zuvor bearbeitet hatten. Allerdings, so konstatierte MfSOberleutnant Peter Mond im Sommer 1970, seien die Überlegungen, ob das Untersuchungsorgan zur Tat schreiten solle, »natürlich abhängig von der Art des Materials [...], der Art und Weise der durchgeführten operativen Bearbeitung [...], der zu erwartenden Wirksamkeit und Bedeutung […]« und nicht zuletzt von der »politisch-operativen Situation, die mit dem Sachverhalt im Zusammenhang steht«.139 Hierunter verstand der Verfasser nichts weniger als die »nationale und teilweise internationale Lage«.140 Seit Beginn der siebziger Jahre stand die DDR-interne Repression zudem durch internationale Organisationen und Medienvertreter deutlich stärker unter Beobachtung.141 Bis 1975 waren allein aus der Bundesrepublik 14 Publikationsorgane und deren Korrespondenten in Ostberlin akkreditiert.142 Vor allem machte die neue »sogenannte […] Ostpolitik der Bonner Regierung«143 unter Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel, die die Ost-West-Beziehungen »entideologisiert und im europäischen Kontext auf einer pragmatischen Grundlage« umgestalten sollte,144 dem neuen SED138 Zur Rolle der Inhaftierungen durch das MfS zwischen 1971 und 1975 vgl. resümierend Passens: MfS-Untersuchungshaft, S. 267 f. 139 Mond, Peter: Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der strafprozessualen Regelung der Untersuchungshaft und der vorläufigen Festnahme für die Entscheidung bei Abschluss eines Operativvorganges?, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 31. Juli 1970; BStU, MfS, JHS, MF VVS 160155/70, S. 16 f. (MfS-Paginierung). 140 Ebenda. 141 So verstärkte beispielsweise die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ihre weltweit angelegten Aktionen gegen die DDR, in denen sie sich vor allem für die Freilassung politischer Häftlinge einsetzte, seit Beginn der siebziger Jahre. Vgl. Mihr, Anja: Amnesty International in der DDR. Der Einsatz für Menschenrechte im Visier der Stasi, Berlin 2002, S. 113 ff. Zum Engagement der Organisation seit den sechziger Jahren vgl. Dies.: Die Arbeit von Amnesty International gegen die Menschenrechtsverletzungen in der DDR. In: Amnesty International (Hg.): 40 Jahre für die Menschenrechte, Neuwied 2001, S. 64–75, v. a. 67. 142 Unter ihnen Vertreter der »dpa«, der »Westfälischen Allgemeinen Zeitung«, des Magazins »Der Spiegel«, der »Süddeutschen Zeitung«, des Magazins »stern«, der »Frankfurter Rundschau«, des ZDF, des ARD-Fernsehens und ARD-Hörfunks. Vgl. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Hauptabteilung Presse: Verzeichnis der beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik akkreditierten Publikationsorgane anderer Staaten und deren Korrespondenten, Stand 1975, S. 11 f. 143 Jahresbericht der HA IX/8 für 1970; BStU, MfS, HA IX, Nr. 5208, S. 12 (MfS-Paginierung). 144 Creuzberger, Stefan: Westintegration und Neue Ostpolitik. Die Außenpolitik der Bonner Republik (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 14), Berlin-Brandenburg 2009, S. 110. Kritischer dagegen ist Potthoff, der betont, dass der Grundlagenvertrag von 1972 eben Grundlagen festlegen sollte, wobei Fragen der Nation und des jeweiligen Wertesystems wegen des kontroversen Gehalts absichtlich ausgeklammert blieben. Vgl. Potthoff, Heinrich: Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999, S. 119. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Deutscher Bundestag, Fachbereich WD 1. Geschichte Zeitgeschichte und Politik (Hg.): Die Ratifikation der Ostverträge am 17. Mai 1972. Dossier, Berlin 2012. Vgl. ferner Kleuters, Joost: Reunification in West German Party

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Vorsitzenden Erich Honecker und seinen Regierungskollegen schwer zu schaffen. Der Öffnung nach Osten, so die Bonner Lesart, die sich völkerrechtlich in den bilateralen Verträgen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion, mit Polen und nicht zuletzt im staatsrechtlichen Abkommen mit der DDR selbst manifestierte und die sich programmatisch auf die Formel »Wandel durch Annäherung«145 zuspitzen ließ, stand man in Ostberlin durchaus zwiegespalten gegenüber.146 Vor allem der Grundlagenvertrag147, den die beiden deutschen Staaten im Dezember 1972 miteinander schlossen, wurde in der DDR zunächst als außenpolitischer Erfolg vermarktet, den man sich im Streben nach gleichberechtigter Anerkennung nicht entgehen lassen konnte und wollte; andererseits befürchtete die Ostberliner Regierung hinter der neuen Linie Bonns eine getarnte Aggressionsstrategie gegen die DDR, die zum Ziel hätte, nun auf leisen Sohlen in die inneren Angelegenheiten der DDR einzudringen und so den Sozialismus auf deutschem Boden politisch zu unterminieren.148 »Abgrenzung« vom Westen und sicherheitspolitische Aufrüstung wurden daher schnell zum »Gebot der Selbsterhaltung«.149 Politics from Westbindung to Ostpolitik, Houndmills, Basingstoke (Palgrave Macmillan) 2012, S. 144 ff. 145 Den Begriff prägte Egon Bahr bereits in seiner »Tutzinger Rede« im Juli 1963. Vgl. Vortrag des Leiters des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin, Bahr, in der Evangelischen Akademie Tutzing (15. Juli 1963). In: Dokumente zur Deutschlandpolitik. IV. Reihe/Bd. 9, 1. Januar bis 31. Dezember 1963, Zweiter Halbband, Frankfurt/M. 1978, S. 572–575. Zum Entstehungskontext dieses deutschlandpolitischen Konzepts vgl. Vogtmeier, Andreas: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996, insbesondere S. 59–79. 146 So der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970, der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 sowie ferner der Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik vom 11. Dezember 1973. 147 Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Dezember 1972, in Kraft seit dem 21. Juni 1973. 148 Der ehemalige Leiter der HA IX/10, Peter Pfütze, beschrieb 2006 in seinen autobiographischen Erinnerungen die Herausforderungen, die sich seiner Ansicht nach aus der Neuen Ostpolitik für das MfS ergaben: »[Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages] war die Isolierung der DDR in der Welt endgültig zu Ende. […] Die Kehrseite der Medaille, die für uns als Mitarbeiter des MfS im Vordergrund stand, bestand darin, dass sich damit für die der DDR nicht freundlich gesonnenen Staaten, insbesondere für die BRD, auch völlig neue, legale Möglichkeiten der Beeinflussung der politischen Lage ergaben. […] Den angekündigten ›Wandel‹ empfanden wir Mitarbeiter des MfS als Versuch, die Gesellschaftsordnung in der DDR zu verändern. Sanft, aber stetig. Und im Sinne der kapitalistischen Bundesrepublik. Nicht in unserem Sinne. Insofern nahmen wir es als Konzept der Konterrevolution.« Pfütze: Besuchszeit, S. 12 f. Zur Neuen Ostpolitik »als Herausforderung der SED« vgl. auch Steck, Stefan: Neue Ostpolitik – Wahrnehmung und Deutung in der DDR und den USA (1961–1974). Zur Symbolik eines politischen Begriffs, Hamburg 2012, insbesondere S. 243–281. 149 Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 1996, S. 249.

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Im SED-Zentralkomitee zeigte man sich zuversichtlich, dass die Angehörigen des MfS wie diejenigen anderer bewaffneter Organe »auch künftig bei der Festigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« und nicht zuletzt »bei der Aufklärung, Entlarvung und Abwehr der Wühl- und Zersetzungstätigkeit des imperialistischen Gegners das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen werden«.150 Damit der Staatssicherheitsdienst der vordergründigen Entspannungspolitik erforderlichenfalls sein komplettes Arsenal »rationeller tschekistischer Kampfformen«151 entgegensetzen konnte, sorgte die SED-Führung dafür, dass der Mitarbeiterbestand im Ministerium gewaltig anwuchs. Die Ausgaben für Personal sollten sich zwischen 1970 und 1975 annähernd verdoppeln, die Anzahl der Beschäftigten stieg in diesen Jahren um 37 Prozent. 152 Im gleichen Zeitraum erhöhte sich der Mitarbeiteranteil der HA IX um rund 44 Prozent auf 381 Angehörige.153 1971 stieg die Anzahl der eingeleiteten Verfahren im Vergleich zum Vorjahr wieder leicht an. Das MfS-Untersuchungsorgan nahm die Ermittlungen gegen 1 610 Personen auf, von denen die HA IX in Hohenschönhausen 169 Fälle übernahm.154 Wenn auch tendenziell die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens wohl durchdacht und mit den Kollegen anderer operativer Diensteinheiten koordiniert sein sollte,155 attestierten die Stasi-Ermittler ihrer Tätigkeit im Jahre 1971 »weiter offensiven Charakter«, die aber immerhin »mit den Grundsätzen der sozialistischen Rechtsanwendung prinzipiell überein[stimmte]«.156 Die unmittelbare Zeit nach dem Amtsantritt des neuen Er150 Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 15. Juni 1971. In: Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitags der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 15. bis 19. Juni 1971 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin (1. bis 3. Beratungstag), Berlin (Ost) 1971, S. 34–123, hier 87. 151 Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil VII: Der Kampf der Angehörigen des MfS in der neuen Etappe der Entwicklung der sozialistischen Staatengemeinschaft bei der Durchsetzung und Sicherung der vom VIII. Parteitag der SED beschlossenen Generallinie der Partei (1971–1976), August 1980; BStU, MfS, JHS VVS 001-137/80, S. 46 (MfS-Paginierung). 152 Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, S. 558 bzw. 555 (Statistiken »MfS-Etat 1954 bis 1990« und »MfS-Personalstatistik«). So gab das MfS 1970 rund 583 600 000 M für seine Angestellten aus, im Jahr 1975 waren es 949 600 000 M. Im Jahr 1970 verfügte das MfS über 43 311 Mitarbeiter, fünf Jahre später über 59 514. 153 Vgl. ebenda, statistisches Beilagenblatt. 154 Vgl. Analyse der HA IX/8 über die Entwicklung der politisch-operativen Lage und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2855. 155 Major Busch und Leutnant Krille, beide in der Berliner HA IX tätig, mahnten vor allem bei Delikten der staatsfeindlichen Hetze »ein […] koordinierte[s] und komplexe[s] Zusammenwirken […] der entsprechenden Diensteinheiten des MfS und insbesondere d[ie] enge […] Zusammenarbeit der operativen Diensteinheiten mit der Linie Untersuchung« an. Vgl. Busch, Rudi; Krille, Dieter: Die Stellung der staatsfeindlichen Hetze im System der vom Gegner gegen die DDR organisierten staatsfeindlichen Tätigkeit; BStU, MfS, JHS, MF VVS 160-205/72, S. 80 f. (MfS-Paginierung). 156 Analyse der HA IX/8 über die Entwicklung der politisch-operativen Lage und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2855, Bl. 271.

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sten Sekretärs spiegelt dabei eindrücklich die ambivalente Strafrechtspolitik der beginnenden Ära Honecker wider.157 Einerseits galt es, Verstöße gegen das Strafgesetzbuch juristisch streng zu verfolgen; andererseits stieg die Zahl der MfS-geleiteten Ermittlungsverfahren nur bis ins Jahr 1973 um 20 Prozent im Vergleich zu 1971 an.158 Allerdings springt der Anstieg von Fluchthilfe- und Republikfluchtdelikten in diesen Jahren förmlich ins Auge. Die Einführung des visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR, der Volksrepublik Polen und der ČSSR hatte den Staatssicherheitsdienst vor ein ganzes Bündel an »neu auftretenden Erfordernissen der Absicherung«159 gestellt. Der Wegfall komplizierter Genehmigungsverfahren für eine Reise in die östlichen Nachbarländer bot DDR-Bürgern, die sich mit dem Gedanken trugen, ihr Land für immer zu verlassen, nun bessere Möglichkeiten zur Flucht. Auf der anderen Seite versprach das 1971 geschlossene Transitabkommen160 Bundesbürgern Erleichterungen bei Fahrten zwischen Westdeutschland und Westberlin, indem die Einreiseerlaubnis direkt am Fahrzeug erteilt wurde und die DDR-Grenzposten

157 Zum Wandel der Strafrechtspolitik nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker vgl. Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat, S. 57 ff. Zu den Zielen der Strafrechtsänderungen der frühen siebziger Jahre aus Sicht der Strafverfolgungs- und Justizorgane vgl. Ministerium der Justiz: Bericht über bisherige Ergebnisse der Umsetzung der Strafrechtsänderungsgesetze vom 15. September 1975; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2574, Bl. 4–23. Demnach war »das Grundanliegen der Strafrechtsänderungsgesetze, eine höhere gesellschaftliche Wirksamkeit des Strafrechts und eine differenziertere und zügigere staatliche Reaktion gegenüber Gesetzesverletzern zu gewährleisten. Gegenüber Personen, die keine schwerwiegenden Straftaten begangen haben, sind die staatlich- und gesellschaftlich-erzieherischen Möglichkeiten, insbesondere die Kraft fortgeschrittener Arbeitskollektive, wirksamer zu nutzen. Die Gesetze orientieren andererseits auf energischere staatliche Reaktionen gegenüber Asozialen, notorisch Rückfälligen und solchen Personen, die nicht gewillt sind, ehrlich zu arbeiten und zu leben und jegliche Disziplin ablehnen«. Ebenda, Bl. 4. 158 Vgl. Analyse der HA IX/8 über die wesentlichsten Ergebnisse der Untersuchungsarbeit und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2801 sowie Analyse der HA IX über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politischoperativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2857. Allerdings füllten sich insgesamt die Strafvollzugseinrichtungen der DDR, da in vielen Deliktgruppen der allgemeinen Kriminalität nun Freiheits- statt Geld- oder Bewährungsstrafen verhängt wurden. Derlei Tatbestände dürften die MfS-Ermittler jedoch weniger auf den Plan gerufen haben als vielmehr die der Deutschen Volkspolizei. Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, insbesondere S. 275 f. und 281. 159 Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil VII; BStU, MfS, JHS VVS 001-137/80, S. 45 (MfS-Paginierung). 160 Vgl. Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik über den Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) vom 17. Dezember 1971 (in Kraft seit dem 3. Juni 1972). Vgl. Bekanntmachung vom 3. Juni 1972 über das Inkrafttreten des Abkommens in: GBl 1972 II, S. 349–354. Zuvor war am 3. September 1971 das sogenannte Viermächte-Abkommen zwischen den USA, der UdSSR, Großbritannien und Frankreich geschlossen worden, das den zivilen Transitverkehr von Personen und Gütern zwischen den Berliner Westsektoren und dem Bundesgebiet neu regelte.

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nun – im Gegensatz zum teilweise gängelnden Prozedere zuvor – auf umfangreiche Kontrollen verzichten sollten.161 Sogenannte »Menschenhändlerorganisationen«162 (MHO), wie die Stasi die westdeutschen Fluchthelfergruppen abschätzig taufte, versuchten nun verstärkt, DDR-Bürger oder Bürger aus den sozialistischen Nachbarländern in Autos oder Lkw versteckt über die Transitautobahnen in die Bundesrepublik oder nach Westberlin »auszuschleusen«163. Dass sich die Fluchtbewegung dabei »weiterhin vor allem auf Angehörige der Intelligenz« konzentrierte, blieb für die durch frühere Massenabwanderung und chronischen Fachkräftemangel bereits geschwächte DDR ein ernstes Problem.164 Für das MfS, das den Fokus im Gegenzug nun erst recht darauf richtete, »alle feindlichen Versuche zum Missbrauch derartiger Reisen von DDR-Bürgern […] zur Schädigung der DDR und zur Organisierung staatsfeindlicher Tätigkeit rechtzeitig aufzuklären und ihre Realisierung zu verhindern«165, waren Fluchthelfer wie auch Fluchtwillige daher ein vorrangiges »operatives« Ziel.166 Schon für 1972 verzeichneten die Verfasser des Jahresberichts der Linie Untersuchung, die »Feindtätigkeit« sei intensiver geworden, weil die »neuen und veränderten Bedingungen« seit 161 Die »Herausforderungen« für das MfS-Untersuchungsorgan analysierten Hauptmann Heise und Hauptmann Wüsteneck (beide BV Potsdam, Abt. IX) im Sommer 1971. Vgl. Heise, Gerhard; Wüsteneck, Dieter: Das Unternehmen von Verbrechen gegen die DDR und sich daraus ergebende Konsequenzen für die operative Arbeit sowie für die Untersuchungstätigkeit des MfS, als JHSDiplomarbeit eingereicht am 30. Juli 1971; BStU, MfS, JHS, MF GVS 160-86/71. 162 Das einschlägige interne Nachschlagewerk für MfS-Mitarbeiter definierte »Menschenhändlerorganisationen« wie folgt: »Zusammenschlüsse von Personen, deren Zusammenwirken ausschließlich oder vorrangig darauf gerichtet ist, den staatsfeindlichen Menschenhandel gegen die DDR und andere sozialistische Länder zu betreiben. M. entwickelten sich besonders als Erscheinungsform des Klassenkampfes nach Einleitung der Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen der DDR vom 13.8.1961. […] In den M. üben Personen mit antikommunistischer Einstellung die Führungsrolle aus, während asoziale und kriminelle Elemente, die im Menschenhandel ein willkommenes Geschäft sehen, als Helfer und Werkzeuge tätig sind. […] Die von den M. organisierten Schleusungen erfolgen vorwiegend über die Staatsgrenze der DDR unter Missbrauch der Transitstrecken und GÜSt oder über die Staatsgrenzen anderer sozialistischer Länder«. Juristische Hochschule Potsdam: Wörterbuch für die politisch-operative Arbeit (undatiert 1969); BStU, MfS, JHS GVS 300/69 K 465, S. 174 (MfSPaginierung). 163 Unter »Ausschleusen« verstanden die Tschekisten das »Verbringen von Personen, Gegenständen und Material aus dem Staatsgebiet der DDR in ein anderes Staatsgebiet auf ungesetzliche und konspirative Weise unter Ausnutzung und Umgehung gesetzlicher Bestimmungen und staatlicher Einrichtungen mit dem Ziel, die DDR zu schädigen, Personen ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entziehen oder die Ergebnisse einer staatsfeindlichen Handlung zu sichern oder neue staatsfeindliche Handlungen und Aktionen vorbereiten zu können«. Ebenda, S. 27 (MfS-Paginierung). 164 Jahresbericht der HA IX/8 für 1970; BStU, MfS, HA IX, Nr. 5208, Bl. 33 f. (MfSPaginierung). 165 Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil VII; BStU, MfS, JHS VVS 001-137/80, S. 68 f. (MfS-Paginierung). 166 Für den Haftort Hohenschönhausen vgl. exemplarisch die Untersuchungsvorgänge auf der Grundlage von § 105 StGB: BStU, MfS, AU 15636/73; BStU, MfS, AU 5146/77; BStU, MfS, AU 1726/73 oder BStU, MfS, AU 10269/75.

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Inkrafttreten des deutsch-deutschen Transitabkommens »zur Durchführung subversiver Handlungen«167 gegen die DDR missbraucht würden.168 Insgesamt 68,2 Prozent aller in diesem Jahr eingeleiteten Personenermittlungen eröffnete das MfS-Untersuchungsorgan wegen Verstößen gegen §§ 213 (»ungesetzlicher Grenzübertritt«) und 105 StGB (»staatsfeindlicher Menschenhandel«).169 Flucht- und Fluchthilfedelikte erreichten im Spektrum der vom Staatssicherheitsdienst bearbeiteten Verfahren nun bislang ungeahnte Dimensionen.170 Im Oktober wurden neue Regelungen für Auslandsreisen von DDR-Bürgern getroffen, die nun »in dringenden Familienangelegenheiten auf Einladung von Verwandten« in nichtsozialistische Länder und nach Westberlin fahren konnten.171 Viele nutzten diese Gelegenheit, um erstmals ihre Ausreise zu beantragen. Auch 1973 machten die wegen (versuchten) »ungesetzlichen Grenzübertritts« eingeleiteten Verfahren allein mehr als die Hälfte aus.172 Rund 32 Prozent aller »Republikflüchtlinge« hatten versucht, die DDR über die Transitstrecken oder die Küstenregion zu verlassen, ebenso viele wurden an der tschechisch-deutschen Grenze aufgegriffen.173 Binnen eines Jahres nahm das MfSUntersuchungsorgan Ermittlungen gegen 138 Fluchthelfer auf.174 Mit zusammen 61,4 Prozent hielten sich Delikte im unmittelbaren Zusammenhang mit Flucht und Fluchthilfe auch im Jahr des UNO-Beitritts beider deutscher Staaten an der Spitze der MfS-Statistik.175 1974 hingegen mäßigte sich die Linie IX 167 Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil VII; BStU, MfS, JHS VVS 001-137/80, S. 72 (MfS-Paginierung). 168 Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2856, Bl. 20 (MfS-Paginierung). Vgl. ferner Joestel: Verdächtigt und beschuldigt, S. 302. 169 1 218 wegen § 213 StGB sowie 38 wegen § 105 StGB. Insgesamt bearbeitete die Linie IX 1972 Verfahren gegen 1 841 Personen. Vgl. Analyse der HA IX über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2857, statistischer Teil. 170 1969 lag der Anteil beider Deliktgruppen bei zusammen 43,6 %, 1970 bei 42,9 % und 1971 bei 48,1 %. Vgl. die Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1969; BStU, MfS, HA IX, MF 11304 bis 11315 sowie die Jahresanalysen der HA IX für 1970 und 1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 5512 und 2801. 171 Anordnungen über Regelungen im Reiseverkehr von Bürgern der DDR vom 17. Oktober 1972, GBl. 1972 II, S. 653. 172 Vgl. Analyse der HA IX über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2857. 173 335 bzw. 339 von insgesamt 1 056 Personen, gegen die wegen Verstoßes gegen § 213 StGB ermittelt wurde. 15,3 % versuchten, über die ungarisch-österreichische Grenze zu fliehen, rund 12 % über Bulgarien und 4,8 % über Rumänien. Die restlichen 3,9 % wählten jeweils unterschiedliche, nicht weiter klassifizierte Wege für ihre Fluchtversuche. Vgl. ebenda, Bl. 151 (MfS-Paginierung). 174 Vgl. ebenda, statistischer Teil. In den Jahren zuvor lag die Größenordnung bei etwa 30 bis 40 Personen pro Jahr. 175 Mit dem zeitgleichen Beitritt der DDR und der Bundesrepublik zur UNO hatten sich die Länder zur Beachtung der Prinzipien der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« und zur Einhaltung des Paktes über bürgerliche und politische Rechte verpflichtet. Vgl. Raschka, Johannes:

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bei der Eröffnung neuer Untersuchungsverfahren: 1 731 neue Fälle wurden nun bearbeitet, die Zahl der Beschuldigten sank somit im Vergleich zum Vorjahr um annähernd 11 Prozent.176 Die alte Problemlage jedoch blieb: Delikte wegen §§ 213 und 105 machten mit über 55 Prozent weiterhin den Löwenanteil unter den Gründen für ein Ermittlungsverfahren aus.177 Die Erleichterungen im Reiseverkehr für Bundesbürger und Westberliner seit Beginn der siebziger Jahre hatten den – aus Sicht der DDR-Staatsführung und ihrem MfS – unangenehmen Nebeneffekt, dass zwischen Ost- und Westdeutschen Kontakte geknüpft wurden, die manchmal damit endeten, Flucht- und Fluchthilfepläne zu schmieden. In den ersten Jahren nach Abschluss der innerdeutschen Abkommen und Verträge waren die Besucherzahlen »gewaltig, vor allem der Ansturm aus dem westlichen Berlin«.178 Schon die »Geste des guten Willens«, als welche die DDR die Reiseerleichterungen zu den Oster- und Pfingstfeiertagen 1972 euphemistisch verklausulierte, sei zu »subversiven Machenschaften des Feindes« missbraucht worden, obwohl die Genossen vom MfS »durch politisch umsichtiges und verantwortungsbewusstes Handeln den Erfordernissen der veränderten Klassenkampfsituation zu entsprechen« versuchten.179 Unter dem Vorwand, die betroffenen DDR-Bürger hätten sich an organisierte »Menschenhändler« im Westen gewandt, reagierte der Staatssicherheitsdienst bereits 1973 verstärkt damit, derartige Beziehungen als »staatsfeindliche Verbindungen« gemäß § 100 StGB zu kriminalisieren und strafrechtlich zu verfolgen.180 In diesem Jahr lag der Anteil an Verfahren, die auf der Grundlage dieser Strafrechtsnorm eingeleitet wurden, bei rund 12,4 Prozent, meist in Kombination mit dem Tatvorwurf der Vorbereitung oder des Versuchs eines »ungesetzlichen Grenzübertritts« gemäß § 213 StGB. Im darauffolgenden Jahr rückten derartige Die Wirkungen des Helsinki-Prozesses auf Politik und Justiz in der DDR. In: Apelt; Grünbaum; Gutzeit (Hg.): Von der SED-Diktatur zum Rechtsstaat, S. 60. 176 Vgl. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1975; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2802. Hier finden sich ebenfalls die statistischen Angaben für das Jahr 1974. 177 Vgl. ebenda. 178 Bräutigam, Hans Otto: Die Politik der menschlichen Erleichterungen. In: Friedrich-EbertStiftung (Hg.): Die Ost- und Deutschlandpolitik. Vom Wandel durch Annäherung zu einer europäischen Friedensordnung. Dokumentation (Eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin, 19.– 20. Juni 1998), Berlin 1999, S. 93–99, hier 95. Bräutigam war seinerzeit als Vertreter des Bonner Auswärtigen Amtes in der Verhandlungsdelegation Egon Bahrs bei den deutsch-deutschen Vertragsgesprächen. 179 Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil VII; BStU, MfS, JHS VVS 001-137/80, S. 72 (MfS-Paginierung). 180 »(1) Wer zu Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen wegen ihrer gegen die Deutsche Demokratische Republik oder andere friedliebende Völker gerichteten Tätigkeit Verbindung aufnimmt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar«. § 100 StGB vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 26.

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Verstöße in der Statistik weiter nach oben: 1974 warf das Untersuchungsorgan bereits 16 Prozent aller Beschuldigten »staatsfeindliche Verbindungen« vor.181 Geradezu beispielhaft sind die Ermittlungsverfahren gegen Helmut M. sowie gegen Martina L.:182 Der 39-Jährige M. stand seit August 1973 über eine Westberlinerin in Kontakt mit einer Fluchthilfeorganisation, weil er die DDR verlassen wollte und hierzu keine andere Möglichkeit als die Flucht sah. Anfang Oktober versuchte ein Verbindungsmann der Fluchthelfergruppe, M. im Kofferraum eines Pkw über die Transitautobahn Richtung Hannover in die Bundesrepublik zu schmuggeln. Bei einer Fahrzeugkontrolle am Grenzübergang Marienborn wurde er jedoch von den Posten entdeckt und schließlich festgenommen. Nach dem Transport in die UHA Berlin-Hohenschönhausen leiteten die dortigen Mitarbeiter der HA IX ein Ermittlungsverfahren wegen »Verbindungsaufnahme« und »Republikflucht« ein; bald darauf kam es zur Anklage vor dem Bezirksgericht in Frankfurt/Oder.183 Die Richter verurteilten M. am 22. Februar 1974 zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von dreieinhalb Jahren, die er in der StVE Rummelsburg verbüßte.184 Martina L. hingegen versuchte im Dezember 1973, über die Tschechoslowakei die DDR zu verlassen. Über ihren Westberliner Freund war die Verbindung zu einer Fluchthelfergruppe hergestellt und ein geheimes Treffen mit einem Kontaktmann in Prag verabredet worden. Das Vorhaben scheiterte jedoch, da die Fluchthilfeorganisation bereits seit längerer Zeit unter Beobachtung stand und dem MfS die geplante Aktion bekannt war.185 Die 22-Jährige wurde noch in der ČSSR verhaftet, ein Ermittlungsverfahren wegen »staatsfeindlicher Verbindungen« und versuchten »ungesetzlichen Grenzübertritts« leitete das MfS nach ihrer Ankunft in Berlin ein.186 Fünf Monate später wurde L. vom Stadtgericht Berlin zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt und gelangte zur Verbüßung nach Hoheneck. Noch in der Haft stellte sie einen

181 Vgl. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1975; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2802, Vergleichszahlen von 1974. 182 Namen pseudonymisiert. 183 Grundlage bildeten §§ 100 sowie 213 StGB Abs. 1 und 2 Ziff. 2 und 3 Abs. 3. Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 5. Oktober 1973; BStU, MfS, AU 11146/75. Vgl. Deliktekartei der HA IX/1; BStU, ohne Signatur. Ähnlich ist auch der Fall um Z. angelegt, die ebenfalls Kontakt zu einer »MHO« aufgenommen hatte und bei ihrem Fluchtversuch an der Grenzübergangsstelle Marienborn/Helmstedt verhaftet wurde. Z. wurde am 26. März 1974 vom SG Berlin zu einer 3-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt, im Juni 1975 verließ sie die DDR in Richtung Bundesrepublik. Vgl. BStU, MfS, AU 759/75. 184 Zur Geschichte der StVE Rummelsburg seit 1951 vgl. Steer, Christine: Rummelsburg mit der Viktoriastadt, Berlin-Brandenburg 2010, S. 135 ff. 185 Vgl. Operativer Vorgang (OV) »Zitter«; BStU, MfS, AOP 5846/75. 186 Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 15. Dezember 1973; BStU, MfS, AU 5105/76.

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Antrag auf Ausreise aus der DDR.187 Im September 1975 wurde sie schließlich freigekauft und in die Bundesrepublik entlassen. Seit dem Sommer 1973 beriet eine aus Vertretern des Justizministeriums, der Generalstaatsanwaltschaft, des Obersten Gerichts, des Innenministeriums und nicht zuletzt des Ministeriums für Staatssicherheit zusammengesetzte Arbeitsgruppe über eine Anpassung des seit 1968 gültigen Strafgesetzbuches. Das schließlich Ende 1974 in Kraft tretende 1. Strafrechtsänderungsgesetz188 (StÄG) hatte jedoch »keine Veränderung des politischen Strafrechts im engen Sinn« zur Folge.189 Dem entspricht auch der Befund, dass die Zahl der vom MfS-Untersuchungsorgan eingeleiteten Verfahren bis 1975 weiter zurückging und sich an der Zusammensetzung der Delikte im Wesentlichen nichts änderte. Demgegenüber füllten sich die Strafvollzugseinrichtungen der DDR seit 1971 kontinuierlich: Die Gerichte verhängten seit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker häufiger Freiheitsstrafen in Fällen, in denen auch eine Geld- oder Bewährungsstrafe möglich gewesen wäre. Johannes Raschka kommt in seiner Studie zu dem Schluss, die Änderungen hätten auf eine verschärfte Sanktionierung von Kleinkriminalität und von sogenanntem asozialem Verhalten abgezielt und seien dementsprechend ein Indiz für das sich insgesamt verhärtende innenpolitische Klima seit dem Amtsantritt Erich Honeckers 1971.190 Vor allem die das 1. StÄG umrahmenden Gesetze, die die zentralen Rechtspflegeorgane strukturell wieder näher an den Parteiapparat heranrückten, seien Ausdruck justizpolitischen Durchgreifens von oben.191 Mit dem Jahr 1975 veränderte sich die innenpolitische Lage in der DDR jedoch erheblich. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki garantierte den Ostblockstaaten einerseits die Achtung ihrer Souveränitätsrechte, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und die oft angemahnte »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten«. Im »Korb 3« hatten sich die unterzeichnenden Staaten allerdings andererseits zur Zusammenarbeit in humanitären Fragen, zur Erleichterung von zwischenmenschlichen grenzüberschreitenden Kontakten und zur Gewährung von Freizügigkeit verpflichtet. Wenn dieser Abschnitt auch eher ein Zugeständnis der Warschauer Paktstaaten gegenüber dem Westen war, um mit der Schlussakte insgesamt den (außen-)politischen Status quo seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu zementieren, so gilt doch das 187 Vgl. Mitteilung Abt. IX Berlin an HA IX vom 17. Dezember 1975; ebenda, Bd. 1, Bl. 1. 188 Gesetz zur Änderung und des Strafgesetzbuches, des Anpassungsgesetzes und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 19. Dezember 1974, GBl. 1974 I, S. 591–596. 189 Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 282. 190 Ebenda. Vgl. hierzu v. a. Ministerium der Justiz: Bericht über bisherige Ergebnisse der Umsetzung der Strafrechtsänderungsgesetze vom 15. September 1975; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2574. 191 Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 282, siehe auch 280 ff.

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Bekenntnis zu den Zielen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als folgenreicher Höhepunkt eines Prozesses, der sich bereits in der ersten Hälfte der siebziger Jahre in anderen zwischenstaatlichen Abkommen der DDR manifestiert hatte.192 1975 sank zunächst die Zahl der vom MfS neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren auf das niedrigste Niveau seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen. Auch in den Jahren bis zum Ende der DDR wurde eine so geringe Anzahl nicht wieder erreicht. Der Staatssicherheitsdienst nahm strafrechtliche Untersuchungen gegen insgesamt 1 259 Personen auf und unterschritt die Zahl der Ermittlungsverfahren des Vorjahres erneut um gut 27 Prozent.193 Die häufigsten Straftatbestände waren dabei mit den §§ 100, 105 und 213 StGB in annähernd dem gleichen Maß vertreten wie im Jahr zuvor.194 Dennoch legten die bis 1975 geschlossenen Abkommen sowie der Beitritt der DDR zur UNO und ihrer Menschenrechtskonvention 1973 den argumentativen Grundstein für manche DDR-Bürger, die nun ihr Land auf »legalem« Wege verlassen wollten. Viele beklagten öffentlich die Zustände im Land und überschritten damit die unsichtbare Grenze zwischen gerade noch tolerierter kritischer Meinungsäußerung und dem Straftatbestand der »staatsfeindlichen Hetze«, der in diesem Jahr rund 7 Prozent der bearbeiteten Fälle ausmachte.195 Seit 1975/76 formierte sich in der DDR eine deutlich wahrnehmbare Bewegung von Ausreisewilligen, die sich für den »Republikfluchtversuch mit dem Antragszettel«196 entschieden hatten. Als Reaktion wurde innerhalb des MfS mit der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) eine Sondereinheit ins Leben gerufen, welche die Arbeit aller relevanten Diensteinheiten der Stasi zur Bekämpfung von Flucht und Flucht-

192 Zur Bedeutung und Inhalt der Schlussakte im »Ostblock« und vor allem in der DDR vgl. Ders.: Die Wirkungen des Helsinki-Prozesses auf Politik und Justiz in der DDR, insbesondere S. 57–59. 193 Vgl. HA IX: Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1975; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2802. 194 12,8 % der Verfahren wurden wegen »staatsfeindlicher Verbindungen« eingeleitet. »Staatsfeindlicher Menschenhandel« und »ungesetzlicher Grenzübertritt« waren mit 55,4 % vertreten (§ 105 StGB: 9,2 %, § 213 StGB: 46,2 %). Vgl. ebenda. 195 Dabei, so die Auswerter der HA IX, richteten sich die »Angriffe« wie auch schon im Jahr zuvor hauptsächlich »gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR in ihrer Gesamtheit; die SED sowie führende Partei- und Staatsfunktionäre; die Sicherung der Staatsgrenze sowie die bestehenden Regelungen für Reisen in das kapitalistische Ausland; die innenpolitischen Verhältnisse, insbesondere die Informationspolitik und das Wahlsystem; die bewaffneten Organe der DDR und die GSSD; die Sowjetunion und das freundschaftliche Verhältnis zwischen der DDR und der UdSSR; die Wirtschaftspolitik und die enge ökonomische Verflechtung insbesondere mit der UdSSR und stellen zum großen Teil eine Verherrlichung der westlichen Lebensverhältnisse dar«. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1975; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2802, Bl. 27 f. (MfS-Paginierung). 196 Raschka: Die Wirkungen des Helsinki-Prozesses auf Politik und Justiz in der DDR, S. 61.

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hilfe wie auch von Ausreisebegehren strategisch abstimmen sollte.197 Das MfSUntersuchungsorgan hatte der ZKG fortan über laufende einschlägige Ermittlungsverfahren zu berichten und neue Untersuchungsergebnisse zu melden.198 Die »Tschekisten« ahnten damals wohl schon, was sich die DDR mit ihren eigentlich unverbindlichen Konzessionen im Bereich der Menschenrechte eingehandelt hatte: Indem der »Gegner« auf die strikte Einhaltung »der in […] Korb 3 […] enthaltenen Absichtserklärungen« pochte, hätte er »übersteigerte Erwartungen hinsichtlich umfangreicher ›menschlicher Erleichterungen‹, Kommunikation, Informationsaustausch, Besuchsmöglichkeiten – unter Missachtung der Sicherheitserfordernisse des sozialistischen Staates geschürt«.199 Letztlich »sollten DDR-Bürger in Gegensatz zur Politik von Partei und Regierung gebracht und zu feindlich negativen Diskussionen und Handlungen provoziert werden«.200 Die Tatsache, dass sich Teile der eigenen Bevölkerung aus eigenem Antrieb auf den Wortlaut der Vertragsdokumente und die darin bestätigten Bürgerrechte berufen könnten, hatte im hermetisch geschlossenen Weltbild der MfS-Offiziere offenkundig keinen Platz.201 Zwischen 1976 und 1980 stieg die Zahl der Untersuchungsverfahren wieder an. Durchschnittlich nahm die Linie IX in diesem Zeitraum rund 1 800 neue Personenermittlungen pro Jahr auf, etwa jährlich 150 mehr als noch im ersten Jahrfünft der siebziger Jahre – und das mit steigender Tendenz. 1976 fiel der Straftatbestand der »staatsfeindlichen Hetze« gemäß § 106 StGB mit anteilig 8,8 Prozent nach einer längeren Ruhephase wieder stärker ins Gewicht.202 Die 197 Vgl. Eisenfeld, Bernd: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung (MfS-Handbuch, III/17), Berlin 1996. In den Anfangsjahren konzentrierte sich die ZKG allerdings vorrangig auf die Organisation von »Republikflucht«, erst in den achtziger Jahren wurde die Bekämpfung der »Ausreise«, also der Antragsteller, in den Mittelpunkt gerückt. 198 Darüber hinaus sollte sich die HA IX mit der ZKG über Rechtshilfeersuchen und Festnahmen von DDR-Bürgern durch die Sicherheitsorgane anderer sozialistischer Länder in Osteuropa abstimmen. Vgl. ebenda, S. 19. 199 Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil VII; BStU, MfS, JHS VVS 001-137/80, S. 157 f. (MfS-Paginierung). 200 Ebenda. 201 Der westdeutsche Rechtswissenschaftler Otto Luchterhandt konstatierte 1985, dass der Grundgedanke der KSZE »in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis zum Prinzip der Menschenrechte« stünde, deren Begriff gerade in den unterschiedlichen politischen System verschiedenartig interpretiert würde und »in deren Verständnis sich der Systemgegensatz manifestiert«. Durch die gleichwohl verbindliche Festschreibung in der Schlussakte von Helsinki bedeute »das Menschenrechtsprinzip […] eine effektive Einschränkung der inneren und äußeren Souveränität der Signatarstaaten«. Luchterhandt, Otto: Menschenrechtspolitik und KSZE. Teil I: Die politischen und rechtlichen Grundlagen (Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, 3/1985), Köln 1985, S. II. 202 Gegen insgesamt 1 583 Personen ermittelte das MfS-Untersuchungsorgan im Jahr 1976, davon gegen 140 Personen auf der Grundlage von § 106 StGB. Der Anteil der Ermittlungen wegen »staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme«, »ungesetzlichen Grenzübertritts« sowie »staatsfeindlichen Menschenhandels« lag mit 11 %, 44,9 % bzw. 9,3 % auf einem ähnlichen Niveau wie in den Jahren

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Ausbürgerung des kritischen Liedermachers Wolf Biermann im November hatte entgegen der eigentlichen Absicht der Staatsführung innerhalb der DDR für erhebliche Unruhe gesorgt. Nicht nur dessen kulturschaffende Kollegen, sondern vor allem bislang meist unauffällige Durchschnittsbürger erklärten sich mit Biermann solidarisch und protestierten gegen den massiven Schritt der Regierung.203 Der Jahresbericht für 1976 weist zwischen dem 17. November und dem 31. Dezember Ermittlungsverfahren gegen 68 Personen aus, die das MfS-Untersuchungsorgan wegen des Verdachts von »Straftaten [einleitete], die sich gegen die staatliche Entscheidung zu Biermann richteten bzw. unter Bezugnahme auf dieselbe begangen wurden«.204 Allein 15 unter ihnen seien Antragsteller gewesen, die entweder »im Zusammenhang mit dieser Entscheidung auf ihre eigene Antragstellung aufmerksam machen wollten« oder in Form dieser begangenen Straftaten »ihre gegen die DDR gerichteten Aktivitäten fortsetzten«.205 Für die »feindlichen Zentren« in der Bundesrepublik sei die Ausbürgerung des Liedermachers demzufolge ein gefundenes Fressen und ein geradezu willkommener Anlass, um von außen »subversive Tätigkeit zu aktivieren und zu entfalten sowie einen konzentrierten Angriff gegen den real existierenden Sozialismus in der DDR und die Politik von Partei- und Staatsführung vorzutragen«.206 In der Lesart des MfS versuchten diese »Organisationen« nun verstärkt, Ausreisewillige »zur Antragstellung auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft anzustiften«, diese Personen »zum Übergang zu organisierter Untergrundtätigkeit aufzuwiegeln« und dies »zur Diskriminierung und Schädigung der DDR, zur Diffamierung des Sozialismus auszunutzen«.207 Neben DDRweit 859 Ermittlungen wegen Straftaten gemäß §§ 105 und 213 StGB wurden nach Angaben der MfS-Statistiker »insgesamt 248 [Personen] in Bearbeitung genommen, die im Zusammenhang mit ihrer Antragstellung auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR Straftaten begingen«.208

zuvor. Vgl. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1976; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2803. 203 Vgl. Information über Straftaten von Bürgern der DDR im Zusammenhang mit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR von Biermann, der »Gemeinsamen Erklärung« und weiteren feindlich-negativen Aktivitäten vom 22. November 1976; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5523, Bl. 9–12. 204 Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1976; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2803, Bd. I, Bl. 50 (MfS-Paginierung). 10 dieser Ermittlungsverfahren führte das Untersuchungsorgan ohne die Betroffenen zu inhaftieren. Sämtliche dieser Verfahren wurden wegen »staatsfeindlicher Hetze« gemäß § 106 StGB (23 Personen) oder »Staatsverleumdung« gemäß § 220 StGB (45 Personen) eingeleitet. 205 Ebenda. 206 Ebenda, Bl. 25 (MfS-Paginierung). 207 Ebenda. 208 Ebenda, Bl. 26 (MfS-Paginierung).

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Das für die DDR-Staatsführung neuartige Phänomen der Ausreiseantragsteller stellte für das Untersuchungsorgan der Stasi eine offensichtliche Herausforderung dar. Dass sich DDR-Bürger nun auf geltende internationale Abkommen beriefen, war strafrechtlich kaum zu fassen; die dort verbrieften Rechte allerdings öffentlich und lautstark einzufordern schmälerte den Ruf der DDR, konnte somit in der Logik der Ermittler zwangsläufig nur vom Westen initiiert sein und musste folglich bekämpft werden.209 Wie schwer greifbar die vermeintlichen Delikte der Ausreisewilligen 1976 waren, zeigt ein Blick auf das von der HA IX aufgelistete Spektrum an Straftatbeständen, die im Falle der Antragsteller zur Anwendung kamen: »22 Personen (8,9 %) haben zu weiteren Organisationen, Einrichtungen und staatlichen Stellen im nichtsozialistischen Ausland Verbindung aufgenommen, um mit deren Hilfe die zuständigen staatlichen Organe der DDR zur Genehmigung der Ausreiseanträge zu veranlassen. 41 Personen (16,5 %) waren durch öffentliches provokativdemonstratives Verhalten in Erscheinung getreten, ohne Verbindung zu feindlichen bzw. anderen Organisationen und Einrichtungen im Ausland zu haben. 36 Personen (14,5 %) hatten sonstige strafbare Handlungen, insbesondere staatsfeindliche Hetze, begangen. 83 Personen (33,5 %) bereiteten ihr ungesetzliches Verlassen der DDR vor bzw. versuchten es. 24 von ihnen hatten zur Verwirklichung ihrer Zielsetzung zu kriminellen Menschenhändlerbanden Verbindung aufgenommen.«210

Führte ein öffentlich eingeforderter Antrag auf Ausreise zur Verhaftung des Betroffenen, hatten die Untersuchungsführer im Zuge ihrer Ermittlungen nicht nur dafür Sorge zu tragen, dass derartige Delikte strafrechtlich »differenziert« geahndet würden.211 Die Beschuldigten sollten davon abgebracht werden, an ihrem Ausreisewunsch festzuhalten und stattdessen »zur Abstandnahme von rechtswidrigen Ersuchen zum Erreichen ihrer Übersiedlung nach der BRD bewegt werden«.212 209 Zur strafrechtlich fundierten Bekämpfung der Ausreisebewegung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 282 ff., insbesondere 286 f. 210 Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1976; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2803, Bd. I, Bl. 34 (MfS-Paginierung). 42 Personen fehlen in dieser Kategorisierung. Vgl. in diesem Kontext auch Gemeinsame Anweisung über die Zusammenarbeit bei ungesetzlichen Grenzübertritten an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zur Volksrepublik Polen und zur Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (Minister für Nationale Verteidigung, Minister des Innern, Minister für Staatssicherheit, Generalstaatsanwalt der DDR) vom 10. Februar 1977; BStU, MfS, HA IX, Nr. 718, Bl. 263–269. 211 Zum Umgang mit Antragstellern jenseits einer Verhaftung durch Volkspolizei oder Staatssicherheit vgl. Johannsen, Lasse O.: Die rechtliche Behandlung ausreisewilliger Staatsbürger in der DDR, Frankfurt/M. 2007, insbesondere S. 151–166. Ebenso Eisenfeld: Die Verfolgung der Antragsteller auf Ausreise, insbesondere S. 120–129. 212 Lenk, Friedholf: Zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung von Straftaten des ungesetzlichen Verlassens der DDR durch Jugendliche unter den gegenwärtigen politisch-operativen Lagebedingungen – die Notwendigkeit der differenzierten Anwendung des Strafrechts, als JHS-

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Anfang 1977 wies das Politbüro eine erneute Anpassung des Strafgesetzbuches an.213 Das nun nicht mehr zu ignorierende Problem der Antragsteller war erkannt und sollte mit den Mitteln des Strafrechts effizienter gebannt werden.214 In Zusammenarbeit mit der MfS-Rechtsstelle war die HA IX maßgeblich an der Ausarbeitung beteiligt.215 Für die Ermittler des Staatssicherheitsdienstes war dabei ausschlaggebend, dass anhand der neuen Regelungen »auf wesentliche Veränderungen in den politisch-operativen Lagebedingungen reagiert« werden könne.216 Das 2. Strafrechtsänderungsgesetz trat schließlich am 5. Mai 1977 in Kraft und bot nun ein breiteres Normenrepertoire gegen Straftaten, die Antragsteller begehen konnten, wenn sie mit öffentlichen Aktionen, mit Drohungen gegenüber Verantwortungsträgern oder mit Unterstützung aus dem Westen ihrem Ausreisebegehren stärkeres Gewicht verschaffen wollten.217 Wer zwar einen Antrag gestellt hatte, anschließend jedoch still hielt, blieb in der Regel von einer strafrechtlichen Verfolgung verschont, wenngleich das MfS in diesen Fällen andere geheimdienstliche Maßnahmen bereithalten konnte.218 Bereits vor Inkrafttreten der Strafrechtsänderungen hatte der Minister für Staatssicherheit im März einen Befehl erlassen, der neben »weicheren« Formen der Verfolgung Ausreisewilliger ausdrückliche Anweisungen über die Anwendung strafrechtlicher Mittel durch das MfS-Untersuchungsorgan enthielt.219 Diplomarbeit eingereicht am 28. Oktober 1977; BStU, MfS, JHS, MF VVS 001-384/77, Bl. 21 f. (MfS-Paginierung). Hauptmann Lenk war seinerzeit Angehöriger der Abt. IX in der BV Karl-MarxStadt. Vgl. auch Eisenfeld: Strategien des Ministeriums für Staatssicherheit zur Steuerung der Ausreisebewegung, S. 6–18. 213 Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 283, Anmerkung 32. Vgl. ebenso Vollnhals: »Die Macht ist das Allererste«, S. 259. 214 Zwischen 1977 und 1988 wurden DDR-weit schließlich schätzungsweise 12 000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller angestrengt. Vgl. Vollnhals: »Die Macht ist das Allererste«, S. 256. 215 Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977 (Bd. II); BStU, MfS, HA IX, Nr. 2862, Bl. 17. Zur Rechtsstelle des MfS vgl. Knabe, Hubertus: Die Rechtsstelle des MfS (MfS-Handbuch, III/4), Berlin 1999. 216 Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977 (Bd. II); BStU, MfS, HA IX, Nr. 2862, Bl. 17. 217 Vgl. Gesetz zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 7. April 1977, GBl. 1977 I, S. 100–102. Vgl. auch das Interview mit Joachim Groth, von 1971 bis 1985 Untersuchungsführer in Berlin-Hohenschönhausen, danach Referatsleiter in der HA IX/2. In: Gursky, André: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR, Frankfurt/M. 2011, S. 244 ff. Zur Genese des StÄG von 1977 vgl. Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 105–117. 218 Vgl. Knabe: »Weiche« Formen der Verfolgung in der DDR, S. 709–719. 219 Vgl. Befehl 6/77 zur Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie zur Unterbindung dieser rechtswidrigen Versuche vom 18. März 1977 (BStU, MfS, DSt. 102331). In: Lochen, HansHermann; Meyer-Seitz, Christian (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger, S. 21–71.

Hafthintergründe und Tatvorwürfe

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Auch hier war erneut davon die Rede, dass eine strafrechtliche Ahndung nicht zwangsläufig nach Prüfung der objektiven Tatmerkmale, sondern »nach dem Kriterium des politischen und politisch-operativen Nutzeffektes unter Beachtung aller Zusammenhänge, Auswirkungen und Konsequenzen« zu erfolgen habe.220 Den Mitarbeitern der Linie IX wurde eine Palette möglicher Straftatbestände angeboten, mit denen sie den unterschiedlichen Formen eines »hartnäckigen« Ausreisebegehrens begegnen sollten. Diskreditierte jemand die DDR und dies dazu noch im heimlichen »Zusammenwirken mit feindlichen Kräften«, sollten § 100 (»staatsfeindliche Verbindungen«), § 98 (»Sammlung von Nachrichten«) oder § 106 (»staatsfeindliche Hetze«) geprüft werden.221 Tat sich jemand mit DDR-feindlichen Äußerungen öffentlich hervor, sollte diesen Fällen »provokatorischen Auftretens« mit den §§ 220 (»Staatsverleumdung«), 217 (»Zusammenrottung«), 212 (»Widerstand gegen staatliche Maßnahmen«) oder 214 (»Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit«) entgegengetreten werden.222 Verweigerte jemand seine Arbeit oder nahm seine minderjährigen Kinder vorübergehend aus der Schule, um sein Anliegen zu untermauern, konnte der Betroffene strafrechtlich wegen »asozialen Verhaltens« (§ 249 StGB) oder wegen »Verletzung von Erziehungspflichten« (§ 142 StGB) belangt werden.223 Die »politische und juristische Problematik«, die derartigen Verfahren innewohnte, verlangte nicht nur ein einvernehmliches Vorgehen der Sicherheitsund Justizorgane, sondern auch »eine konkrete Abstimmung mit den Bezirksund Kreisleitungen der SED«.224 Ermittlungen gegen Ausreisewillige waren prioritär zu behandeln, über ihre Bearbeitung hatte im Einzelfall das MfS zu entscheiden. Die Kriminalpolizei hatte sich bei entsprechenden Fällen an die 220 Ebenda, Anlage 2 zum Befehl 6/77, S. 42. Strafrechtliche Mittel waren demnach insbesondere gegen Personen einzuleiten, »die Verbindungen zu feindlichen Dienststellen, Einrichtungen, Zentren, Organisationen und Kräften in der BRD, anderen nichtsozialistischen Staaten und Westberlin aufnehmen und konspirativ mit dem Feind zusammenarbeiten, die sich in die gegnerische Kampagne der politischen Diskriminierung der DDR eingliedern, die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung oder die Tätigkeit staatlicher Organe verunglimpfen und demonstrative Aktionen und Provokationen in der Öffentlichkeit durchführen, die konspirative Methoden anwenden und Maßnahmen treffen, um andere Personen für ihre Pläne zu gewinnen und ein organisiertes gemeinsames Vorgehen zu entwickeln, die in anderer strafrechtlich relevanter Weise versuchen, ihre Übersiedlung zu erreichen«. 221 Ebenda. 222 Ebenda. Vgl. ferner Oberstes Gericht der DDR – Präsidium: Beschluss des Präsidiums des Obersten Gerichts der DDR vom 29. Juli 1970 zu Problemen der Anwendung des Tatbestandes der staatsfeindlichen Hetze (§ 106 StGB) und seine Abgrenzung von der Staatsverleumdung (§ 220 StGB) vom 29. Juli 1970 (I Pr 1-12-1/70); BStU, MfS, HA IX, Nr. 18767, Bl. 315–328. 223 Befehl 6/77. In: Lochen; Meyer-Seitz (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger, S. 42 f. Zum staatlich sanktionierten Einsatz des Arbeitsrechts als Repressionsmittel vgl. ferner Kneipp, Danuta: »Dies ist kein Arbeitsrechtsstreit, sondern eine politische Sache«. Das Arbeitsrecht als Herrschaftsinstrument gegen widerständiges Verhalten. In: Ansorg et al. (Hg.): »Das Land ist still – noch!«, S. 93–109. 224 Befehl 6/77, S. 43.

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Kollegen von der Staatssicherheit zu wenden, um das weitere Prozedere abzustimmen.225 Wie empfindlich dieser Befehl in die angeblich unabhängige Justizpraxis eingriff, zeigt allein der Umstand, dass die Bezirksstaatsanwälte und Bezirksgerichtsdirektoren über die neue Richtlinie lediglich mündlich informiert wurden.226 Nach Inkrafttreten des 2. StÄG 1977 wurden die Ermittler nochmals darauf hingewiesen, dass unter den neuen Umständen »umso mehr die Grundsätze« gelten würden, wie sie im kurz zuvor erlassenen Ministerbefehl enthalten waren.227 Einzelne Normen des neugefassten StGB waren dahingehend verschärft worden, dass nun auch geringfügigere Formen eines entsprechenden Delikts geahndet und teilweise härter bestraft werden konnten als zuvor. Im Falle der »staatsfeindlichen Hetze« musste bis zur Novelle von 1977 de jure nachgewiesen werden, dass ein Beschuldigter »Publikationsorgane oder Einrichtungen benutzt« hatte, die das Ziel verfolgen, dem Ansehen der DDR zu schaden.228 Nach der neuen Fassung reichte es schon aus, dass man zum Nachteil der DDR mit »Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen zusammen[ge]wirkt« hatte.229 Bei entsprechend aktiven Mitarbeitern einer Institution wie beispielsweise Amnesty International sollten nun ebenfalls die Einzelpersonen statt der gesamten Organisation als DDR-feindlich charakterisiert und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.230 Der neugefasste und gestraffte § 220 StGB, zuvor »Staatsverleumdung«, konnte nun jede Person kriminalisieren, die »in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen« selbst oder aber »deren Tätigkeit oder Maßnahmen herab[ge]würdigt« hatte.231 Mit die225 Vgl. ebenda. 226 »Vom Generalstaatsanwalt und vom Obersten Gericht wurden die Grundsätze zur Anwendung strafrechtlicher Mittel den Bezirksstaatsanwälten bzw. den Bezirksgerichtsdirektoren mündlich erläutert.« Ebenda. 227 Grundsätzliche Bemerkungen zu den Zielen der Änderungen im 2. Strafrechtsänderungsgesetz (undatiert 1977); BStU, MfS, HA IX, Nr. 993, Bl. 22. 228 § 106 Abs. 2 StGB vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 26. Vgl. Abschnitt »Probleme i[m] Z[usammenhang] mit Einrichtungen, Organisationen, Gruppen, Personen (Tatbestände 97 ff., 105, 106 (2))« in: Grundsätzliche Bemerkungen zu den Zielen der Änderungen im 2. Strafrechtsänderungsgesetz (undatiert 1977); ebenda, Bl. 25–27 und 32. 229 § 106 Abs. 2 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 7. April 1977, GBl. 1977 I, S. 101. Zu den wesentlichsten Änderungen des 2. StÄG vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, insbesondere S. 282–289. 230 Vgl. Abschnitt »§ 106 (2) StGB) in: Grundsätzliche Bemerkungen zu den Zielen der Änderungen im 2. Strafrechtsänderungsgesetz (undatiert 1977); BStU, MfS, HA IX, Nr. 993, Bl. 33. 231 »Öffentliche Herabwürdigung« gemäß § 220 Abs. 1 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 7. April 1977, GBl. 1977 I, S. 102. In der Fassung von 1968 hieß es im entsprechenden Absatz: »Wer in der Öffentlichkeit 1. die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen; 2. einen Bürger wegen seiner staatlichen oder gesellschaftlichen

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sem Passus wollte man genau denjenigen beikommen, die sich für ihre persönlichen Belange auf zwar öffentlich zugängliche, international gültige Dokumente stützten, den Staatsorganen damit aber gleichzeitig unterstellten, die entsprechenden Abkommen nicht einzuhalten und so den Ruf der DDR beschädigten.232 DDR-Bürger, die auf die offensichtliche Diskrepanz zwischen den vom SED-Staat eingegangenen internationalen Verpflichtungen und der Rechtswirklichkeit der DDR hinwiesen, wurden mit dem äußeren Feind gleichgesetzt.233 In ähnlicher Weise »optimierte« man nun auch § 214 StGB (»Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit«) nach den Anforderungen der Ermittlungsorgane. Diese Strafrechtsnorm hatte bis dato keine allzu große Rolle für die Verfolgung von Antragstellern gespielt; ab 1977 trat sie in den MfS-Statistiken zur Untersuchungstätigkeit allerdings prominenter in Erscheinung.234 Die Neuregelung machte es möglich, jemanden strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, sofern er »die Tätigkeit staatlicher Organe durch Gewalt oder Drohungen beeinträchtigt oder in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise eine Missachtung der Gesetze bekundet oder zur Missachtung der Gesetze auffordert«.235 Tätigkeit, wegen seiner Zugehörigkeit zu einem staatlichen oder gesellschaftlichen Organ oder einer gesellschaftlichen Organisation verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.« 232 Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 286 f. Rainer Rothe, Mitarbeiter der Rechtsstelle des MfS, sprach von der »Abwehr des aggressiven Missbrauchs der UN-Deklaration über die Menschenrechte und die Schlussakte von Helsinki«. Vgl. Diskussionsbeitrag von Rainer Rothe auf der Dienstkonferenz am 28. April 1977; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13698, Bl. 7. Vgl. auch Abschnitt zum § 106 (2) StGB in: Grundsätzliche Bemerkungen zu den Zielen der Änderungen im 2. Strafrechtsänderungsgesetz (undatiert 1977); BStU, MfS, HA IX, Nr. 993, Bl. 32. Der Verfasser bemerkt zum Schluss: »Die Entscheidung ist vordergründig eine politische.« Beim Straftatbestand gemäß § 220 StGB musste »der Täter […] wissen, dass die von ihm […] benutzten Schriften, Gegenstände oder Symbole geeignet sind, die im Tatbestand genannten Auswirkungen hervorzurufen«. Konsultativrat der Zentralen Justiz- und Sicherheitsorgane: Information Nr. 2 zur Anwendung des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes (17. August 1979); BStU, MfS, HA IX, Nr. 9159, Bl. 17. 233 Vgl. Eisenfeld, Bernd: Widerständiges Verhalten im Spiegel von Statistiken und Analysen des MfS. In: Henke, Klaus-Dietmar; Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage, Berlin 1995, S. 158. 234 1976 lag der Anteil der wegen § 214 StGB eingeleiteten Verfahren noch bei 1,85 %, im Jahr des Inkrafttretens des 2. StÄG stieg er bereits auf 4,6 %. Vgl. Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977 (Bd. I); BStU, MfS, HA IX, Nr. 2861. Für den Straftatbestand der »öffentlichen Herabwürdigung« gemäß § 220 StGB ist ein deutlicher Anstieg erst ab dem Jahr 1979 und dem Inkrafttreten des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes bemerkbar. Vgl. Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX in der Zeit vom 1. Januar 1979 bis 30. September 1979; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3719 sowie Ergänzung zur Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX für das IV. Quartal 1979; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3710. 235 § 214 Abs. 1 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 7. April 1977, GBl. 1977 I, S. 101. Bei beiden Paragraphen (§§ 214 und 220) begründete sich die Strafbarkeit der jeweiligen Handlung durch das faktisch oder

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Der Tatbestand war aus Sicht des MfS erfüllt, wenn ein »Angriff« auf die »geordnete staatliche Tätigkeit« mit dem Vorsatz vorlag, »den Entscheidungsspielraum der staatlichen Organe in rechtswidriger Weise einzuengen, in verschiedenen Formen Druck auf staatliche Organe auszuüben, Entscheidungen oder deren Änderung in rechtswidriger Weise herbeizuführen« oder »staatliche Organe in Entscheidungszwang zu bringen«.236 Dabei kam es darauf an, im Einzelfall nachzuweisen, dass es »der Täter […] auf einen offenen Konflikt mit den Staatsorganen an[legt]« und dazu »seiner negativ-feindlichen Position in provozierender Weise Ausdruck« gibt.237 In den Verhören der Staatssicherheit war es daher besonders wichtig, gezielt die »subjektive Seite« eines Deliktes herauszuarbeiten und einem Beschuldigten nachzuweisen, dass er auch tatsächlich eine staatsfeindliche Absicht verfolgte, als er seine angebliche Straftat beging.238 So äußerte sich ein ehemaliger Vernehmer der HA IX in einem Gespräch mit einem früheren Häftling, 1985 wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme« und »öffentlicher Herabwürdigung« festgenommen, da er einen Prospekt über die aufkommende Punkbewegung in die Bundesrepublik verbringen wollte: »Objektiv war ja bei Ihnen alles klar, die Broschüre war gefertigt, an der Grenze wurde sie beschlagnahmt, und nun ging's ja darum, rauszukriegen, dass Sie das alles gemacht haben, um der DDR einen Schaden zuzufügen. […] Damit Sie Straftäter werden, musste man Ihnen echt beweisen, dass mitgespielt haben könnte: Sie nehmen es in Kauf, dass irgendjemand denkt, in der DDR sei nicht alles in Ordnung.«239

Die Staatssicherheit als Strafverfolgungsbehörde hatte bis zu dieser Normenänderung vor dem zusätzlichen Problem gestanden, dass der »Gegner« in Gestalt der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik (StäV) angeblich »umfangreiche Aktivitäten zur Einflussnahme auf DDR-Bürger beim Betreiben der Übersiedlungsabsicht« entwickelte.240 Ohne direkte Hilfe leisten zu können, eben gefühlt eingetretene Tatbestandsmerkmal der »Beeinträchtigung« oder »Herabwürdigung«, das man quasi als juristisches Schlupfloch zur Ahndung eines vordergründig legitimen Ausreisebegehrens instrumentalisierte. Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 289. 236 Abschnitt zum § 214 Abs. 1 in: Grundsätzliche Bemerkungen zu den Zielen der Änderungen im 2. Strafrechtsänderungsgesetz (undatiert 1977); BStU, MfS, HA IX, Nr. 993, Bl. 37. 237 Ebenda. 238 Vgl. Hoffmann, Peter; Blum, Eberhard: Die Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit durch die Erarbeitung von Beweisen, insbesondere zu den Ausgangspunkten im Operationsgebiet und zur subjektiven Seite verletzter Straftatbestände, als JHS-Diplomarbeit (XIII. Fernstudienlehrgang) eingereicht am 30. Oktober 1977; BStU, MfS, JHS, MF VVS 001-403/77. Hauptmann Hoffmann und Hauptmann Blum waren im Untersuchungsorgan der BV Frankfurt/Oder tätig. 239 »Wenn die Richterin was falsch macht, verhandelt sie danach Karnickeldiebstähle.« Gespräch mit Wolfgang M., 1975 bis 1989 Untersuchungsführer der HA IX in Hohenschönhausen. In: Furian (Hg.): Mehl aus Mielkes Mühlen, S. 181. 240 Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1976; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2803, Bd. I, Bl. 37.

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informierten die dortigen Mitarbeiter über die rechtliche Situation in der DDR.241 Anfang 1977 stellten die Auswerter der HA IX entrüstet fest, »dass prinzipiell jeder die Ständige Vertretung aufsuchende Bürger«, der sich über Ausreisemöglichkeiten informieren will, dort »empfangen und beraten« und ihm dabei auch noch »Verständnis für seine Lage in der DDR bekundet« würde.242 Die Mitarbeiter der StäV böten sogar »nicht näher bestimmte Unterstützung« an.243 So sei der Botschaftsersatz in Ostberlin darüber hinaus eine Sammelstelle für Briefe an internationale Organisationen, die von den StäVMitarbeitern entgegengenommen und weitergeleitet würden.244 Eine ähnliche Sprachrohrfunktion übernähmen auch Journalisten westlicher Medien.245 § 106 StGB in seiner veränderten Form erlaubte es nun, derartige Verbindungen zwischen einzelnen Personen, beispielsweise zu ausländischen Korrespondenten, zu verfolgen, ohne gleich die ganze übergeordnete Institution oder Organisation als DDR-feindlich zu ächten.246 So stellten Delikte der »staatsfeindlichen Hetze« 1977 auch rund 11 Prozent aller MfSgeführten Ermittlungsverfahren; im Jahr zuvor lag der Anteil noch bei rund 9 Prozent.247 Das MfS als Untersuchungsorgan schlug auch bei kritischen Äußerungen aus den eigenen, SED-treuen Reihen zu, vor allem wenn sich die Urheber um eine Veröffentlichung von Texten im Westen bemühten. Es wäre allerdings falsch, davon auszugehen, dass es sich hier »nur« um eine reine strafprozessuale Maßnahme gehandelt hätte, die auf die Sanktionierung politisch motivierter Kritik auf juristischem Wege abzielt. Vielmehr sah man in den Protestaktionen gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns einen beinahe schon willkommenen Anlass, sich einzelner, bereits länger bekannter Aufsässiger zu entledigen.248 Schon 1976 wurde eine Reihe mehr oder minder namhafter Regimekritiker verhaftet, da die Staatsführung nunmehr beschlossen hatte, die Betroffenen per Festnahme zu isolieren. Im Zuge der Abschiebung Wolf Biermanns wurde beispielsweise der inzwischen als Dissident gebrandmarkte Schriftsteller und Psychologe Jürgen Fuchs

241 Zur »Beratungstätigkeit« der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik gegenüber DDRBürgern vgl. Boysen, Jacqueline: Das »weiße Haus« in Ost-Berlin. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR, Berlin 2010, insbesondere S. 107 ff. 242 Ebenda. 243 Ebenda. 244 Vgl. ebenda. 245 Vgl. ebenda, Bl. 38. 246 Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 285. 247 Vgl. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1976; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2803 sowie Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977, Bd. I; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2861. 248 Vgl. Passens: MfS-Untersuchungshaft, S. 158.

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gemeinsam mit den Liedermachern Gerulf Pannach und Christian Kunert im November 1976 in die Hohenschönhausener Untersuchungshaftanstalt eingeliefert. Der Autor Michael Sallmann hatte sich in den vorangegangenen Jahren ebenfalls mit kritischen Stücken zu Wort gemeldet; er wurde schließlich im April 1977 verhaftet. Da der »Gegner« in diesen Fällen »seine Medien […] zur Verfügung« gestellt hatte, »um sogenannten ›Dissidenten‹ Massenwirksamkeit zu verschaffen« und deren »antisozialistische […] Schriften […] als ideologische Plattform zu verbreiten und zur Nachahmung […] der feindlichen Ideen aufzufordern«, erschien dem MfS eine Festnahme in letzter Instanz alternativlos, um derartigem Treiben Einhalt zu gebieten.249 Unter dem Deckmantel angeblicher Kritik am real existierenden Sozialismus, formuliert »von scheinbar sozialistischen Positionen« aus, konzentriere sich der Westen in feindlicher Absicht darauf, solche Personen »für ein Zusammenwirken zu gewinnen, […] die international bekannt sind«.250 Schließlich fürchtete man eine mobilisierende Wirkung auf »politisch schwankende Personen« in der DDR, die sich durch die prominenten Vorbilder bestärkt fühlen könnten.251 So auch im Falle des SED-Funktionärs Rudolf Bahro, dessen Buch »Die Alternative« am 22. August 1977 auszugsweise im Magazin »Der Spiegel« veröffentlicht wurde.252 Schon am nächsten Tag landete er als Untersuchungshäftling in Hohenschönhausen.253 Die Festnahme des bis dahin weitgehend Unbekannten blieb auch in der Bundesrepublik nicht lange geheim; in seiner übernächsten Ausgabe berichtete das Hamburger Blatt über den Vorgang, der schließlich belegen würde, dass die DDR genau das nicht zuließe, was Bahro und andere seit Langem forderten: Eine legale Opposition im eigenen Land.254 1977 war die »angebliche ›innere Opposition‹«255, so die Stasi-interne Sprachregelung, zu einem handfesten Problem für die DDR und ihren Staatssicherheitsdienst geworden, auch wenn sie die Autoren der Jahresanalyse der 249 Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2861, Bd. 1, Bl. 26. 250 Ebenda. 251 Ebenda. 252 Zur politischen Analyse Rudolf Bahros vgl. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bonn 2000, insbesondere S. 230–234. 253 Zu den Hintergründen des Strafverfahrens gegen Rudolf Bahro vgl. Vollnhals: »Die Macht ist das Allererste«, S. 250 f. 254 Vgl. »Hausmitteilung, Datum 5. September 1977, Betr.: DDR«. In: Der Spiegel 37/1977, S. 3. Karl Wilhelm Fricke sprach bereits 1964 davon, dass sich »Opposition« in der DDR zum »Widerstand« entwickeln müsse, »weil ihr die Möglichkeit zur legalen Entfaltung genommen wurde«. »In letzter Instanz«, so Fricke, müsse »unter den Bedingungen eines totalitären Herrschaftssystems jede Opposition in Widerstand übergehen«. Vgl. Fricke, Karl Wilhelm: Selbstbehauptung und Widerstand in der SBZ, Bonn 1966 (1. Aufl. 1964), S. 12. Vgl. auch Eisenfeld, Bernd: Widerständiges Verhalten im Spiegel von Statistiken und Analysen des MfS, S. 158 f. 255 Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2861, Bd. I, Bl. 26.

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HA IX durch die Verwendung von Anführungszeichen kleinzureden versuchten. Das Untersuchungsorgan meldete »Versuche der ›Anklage‹ der DDR vor der in Belgrad stattfindenden Konferenz der europäischen Staaten,256 ›offene Briefe‹ an den USA-Präsidenten Carter nach dessen demagogischer Erklärung zur Menschenrechtsproblematik«257 und nicht zuletzt »Anzeigen gegen staatliche Organe wegen angeblichen Verfassungsbruchs«, in denen angemahnt wurde, dass die DDR die von ihr eingegangenen Verpflichtungen nicht einhalten würde.258 Viele unter denjenigen DDR-Bürgern, gegen die das MfSUntersuchungsorgan wegen Straftaten im Zusammenhang mit »rechtswidrig[em] Übersiedlungsersuchen […]«259 ermittelte, stellten die HA IX vor erhebliche Schwierigkeiten: Dass die Staatssicherheit einem öffentlich und mit Nachdruck vertretenen Ausreisewunsch unter Umständen mit einer härteren Gangart entgegentreten würde, war in informierten Kreisen längst kein Geheimnis mehr. Dies führte zum Leidwesen der Ermittler dazu, dass »die Täter […] mit ihrer Festnahme rechneten und sich auf die Untersuchungen entsprechend vorbereiteten«.260 Für einen Vernehmer, der einen derartigen Beschuldigten vor sich hatte, konnte dies bedeuten, dass der Beschuldigte die Aussage grundsätzlich verweigerte, seine »revisionistischen Grundpositionen zu verbreiten« suchte und nicht zuletzt »jegliches Schuldgefühl vermissen ließ […]« oder sich gar »als Märtyrer« fühlte, renitent blieb und in den Verhören provozierte.261 Schließlich sahen viele Betroffene, die zum Teil mehrfach ihren Wunsch nach einer Übersiedlung in die Bundesrepublik bekräftigt und damit keinen Erfolg gehabt hatten, in der Ausreise nach Verhaftung, Verurteilung, Strafvollzug und anschließendem Freikauf die letzte gebliebene Möglichkeit, die DDR

256 Gemeint sind die Vorbereitungstreffen für die KSZE-Nachfolgekonferenz in Belgrad, die vom 15. Juni bis zum 5. August 1977 stattfanden. Die eigentlichen Zusammenkünfte wurden zwischen dem 4. Oktober 1977 und dem 9. März 1978 abgehalten, blieben allerdings weitgehend ergebnislos. Vgl. »Abschließendes Dokument des Belgrader Treffens 1977 der Vertreter der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, welches auf der Grundlage der Bestimmungen der Schlussakte betreffend die Folgen der Konferenz abgehalten wurde«. In: Österreichisches Helsinki-Komitee (Hg.): KSZE. Die Abschlussdokumente der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Helsinki 1975 und der Nachfolgekonferenzen Belgrad 1978 und Madrid 1983 (unter Mitarbeit von Hannes Tretter), Köln u. a. 1984, S. 103–106. 257 Gemeint ist die Antrittsrede des 39. Präsidenten der USA James (»Jimmy«) Carter vom 20. Januar 1977, in der sich dieser für die globale Abrüstung stark machte. Vgl. Carter, Jimmy: Inaugural Address. Thursday, January 20, 1977. In: Senate Document No. 10: Inaugural Addresses of the Presidents of the United States 1789–1989 (United States Congressional Serial Set, 13914), Washington 1990, S. 327–330, v. a. 329 f. 258 Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2861, Bd. I, Bl. 37. 259 Ebenda, Bl. 36. 260 Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1977; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2862, Bd. II, Bl. 24. 261 Ebenda.

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zu verlassen.262 Für die MfS-Hauptabteilung IX blieb dieser zahlenmäßig immer größer werdende Personenkreis der »Antragsteller«, unter denen sich auch Prominente befanden, bis zuletzt eine schwere Herausforderung. So hätten beispielsweise im Jahr 1987 allein 80 Festgenommene »bewusst ihre Festnahme provoziert, in der Erwartung, aus dem Strafvollzug in die BRD entlassen zu werden«.263 Weitere 63 hätten die Entlassung in die Bundesrepublik zumindest billigend in Kauf genommen.264 1978 gingen die MfS-Ermittlungsverfahren noch einmal zurück, bis für 1979 ein erneuter Anstieg festzustellen ist.265 Dass die DDR international humanitäre Verpflichtungen eingegangen war, bedeutete justizpolitisch eben keine Liberalisierung. Erst recht kam ein Verzicht auf die juristische Sanktionierung einzelner politisch motivierter Straftaten nicht infrage. Im September 1978 wetterte Minister Mielke vor Parteileitern der Bezirksstaatsanwaltschaften und -gerichte, dass Feinde nun einmal wie Feinde zu behandeln seien, »ganz gleich, unter welcher Flagge sie zu segeln versuchen«.266 Wer den Aufstand probe, der würde »auch in Zukunft die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen«.267 Wenig später beschloss die Parteispitze, dass das politische Strafrecht erneut auf den Prüfstand gehöre; schließlich müsse dessen Schlagkraft auch angesichts der raschen innenpolitischen Entwicklungen erhalten bleiben.268 Im Juni 1979 trat schließlich das 3. Strafrechtsänderungsgesetz

262 Bereits 1969 berichtete auf bundesrepublikanischer Seite der BND, dass gelegentlich einzelne DDR-Bürger bewusst ihre Festnahme und Aburteilung provozierten, um auf diesem Wege die DDR mittels Freikauf zu verlassen. Vgl. Schreiben des Bundesnachrichtendienstes, Seraphim, an den Ministerialrat im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen Baumgärtel vom 21. November 1969. In: Hammer (Hg.): »Besondere Bemühungen« der Bundesrepublik, Bd. 1: 1962 bis 1969, S. 683–684. 263 Einschätzung der Wirksamkeit der Untersuchungsarbeit im Jahre 1987; BStU, MfS, HA IX, Nr. 422, Bl. 51. 264 Vgl. ebenda; zu diesem Phänomen vgl. Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989, S. 406–418; ferner Huemer: »Ehrlich sitzt am Längsten«, S. 303–325 sowie Bauer: Kontrolle und Repression, insbesondere S. 97 ff. 265 1978 wurden vom MfS 1 589 neue Verfahren eingeleitet, ein Jahr später waren es 1 861. Vgl. Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX in der Zeit vom 1. Januar 1979 bis 30. September 1979; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3719 sowie Ergänzung zur Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX für das IV. Quartal 1979; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3710. Hier finden sich auch die Vergleichszahlen für 1978; der Jahresbericht für 1978 fehlt. 266 Vortrag Erich Mielkes in Kleinmachnow vor Mitarbeitern für Justizfragen der Bezirks- und Kreisleitungen sowie Parteisekretären der Bezirksstaatsanwaltschaften und der Bezirksgerichte vom 22. September 1978; BStU, MfS, DSt. 102511, Bl. 63. 267 Ebenda. 268 Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 289. Die Erarbeitung des 3. StÄG sei in der Politbürositzung vom 18. Oktober 1978 beschlossen worden.

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in Kraft, welches die Strafbarkeit einzelner politisch unerwünschter Handlungen insgesamt ausweitete.269 Von diesem Zeitpunkt an boten sich für die Strafverfolgungsbehörden größere Handlungsspielräume sowohl im Bereich des 2. Kapitels StGB (»Staatsverbrechen«) als auch im Bereich des 8. Kapitels StGB (»Straftaten gegen die staatliche Ordnung«).270 Die Strafrechtsnovelle von 1979, zeitgenössisch vor allem als eine Verschärfung des politischen Strafrechts wahrgenommen, erwies sich unter dem Strich eher als Option, um Opposition und Widerstand in Form der Ausreisebewegung flexibler bekämpfen zu können. Die stets um internationale Achtung bemühte DDR-Führung ermöglichte ihrer Geheimpolizei, wie bereits beim 2. StÄG 1977, zunehmend auf die Anwendung der Normen des 2. Kapitels StGB zu verzichten, die in der Regel mit einem höheren Strafmaß einhergingen. Den beinahe zwangsläufigen Aufschrei im Westen wollten sich die Verantwortlichen in der DDR weitgehend ersparen, indem Ermittlungsbehörden wie Justizorganen weitere strafrechtliche Ausweichmöglichkeiten an die Hand gegeben wurden. Auch an dieser Strafrechtsnovelle war das MfS-Untersuchungsorgan beteiligt.271 Die HA IX rühmte sich wenig später damit, maßgeblich daran mitgearbeitet zu haben, »das sozialistische Recht entsprechend den veränderten politisch-operativen Lagebedingungen weiterzuentwickeln, als Machtinstrument auszubauen«.272 Die Ausbilder an der JHS impften indes ihren Studenten nochmals die Tragweite eines eingeleiteten Untersuchungsverfahrens ein, denn es sei »zu allererst eine politische Entscheidung«, ob die Linie IX einen Vorgang eröffne oder nicht. Die Bearbeiter müssten penibel darauf achten, »dass durch diese Maßnahme […] die Durchsetzung der Politik der Partei- und 269 Vgl. Gesetz zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 28. Juni 1979 (3. StÄG), GBl. 1979 I, S. 139–146. Johannes Raschka betont die »Ausweitung der Strafbarkeit« schon im 2. StÄG von 1977, die allerdings im 3. StÄG ihren Höhepunkt fand. Zu den einzelnen normativen Veränderungen bzw. Verschärfungen im 3. StÄG vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, insbesondere S. 289–302. Siehe auch Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 164–181. 270 Vgl. ebenda; ferner Joestel: Verdächtigt und beschuldigt, S. 318. 271 Mit Generalmajor Rolf Fister ließen die Ermittler niemanden geringeren als ihren Leiter an der einzig für die Überarbeitung des StGB einberufenen Arbeitsgruppe teilnehmen. Zumindest die Einladung zur Teilnahme war an den Leiter des Untersuchungsorgans gerichtet. De facto wird – wie bei den meisten Beratungstreffen der Justiz- und Sicherheitsorgane – Oberstleutnant Konrad Lohmann der HA IX/8 teilgenommen haben. Die Arbeitsgruppe war beim ZK der SED angesiedelt und setzte sich aus Angehörigen der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen sowie des ZK-Sektors Justiz, des Innenministeriums, der Generalstaatsanwaltschaft (Abteilung IA) und des Obersten Gerichts zusammen. In den nachfolgenden Sitzungen beteiligte sich auch ein Vertreter des Justizministeriums. Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 290. 272 Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX in der Zeit vom 1. Januar 1979 bis 30. September 1979; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3719, Bl. 74.

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Staatsführung optimal unterstützt bzw. zumindest nicht gestört wird«.273 Die Auswertungsabteilung der HA IX legte dazu im August 1979 fest, ständig und umgehend über die »Rechtsanwendung« informiert zu werden, um notfalls rechtzeitig »Korrekturen rechtlicher Entscheidungen« einleiten oder aber »Unzulänglichkeiten« erkennen und beseitigen zu können.274 Ausreiseantragsteller seien beispielsweise vorwiegend dann strafrechtlich zu belangen, wenn sie zuvor mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen oder Demonstrationen auffällig geworden waren, sie sich mit westlichen Institutionen in Verbindung gesetzt hatten oder bereits in der DDR in größeren Kreisen Gleichgesinnter zusammengekommen waren.275 Hatten die Betroffenen bislang keine allzu große Aufmerksamkeit erregt, sollten sich die Kollegen anderer operativer MfSDiensteinheiten um eine unauffälligere, dennoch für die Stasi nicht weniger effiziente Lösung der Angelegenheit bemühen.276 Gerade weil angesichts der internationalen Lage die »Auswirkungen [einer Verhaftung] für die Betroffenen und in der Öffentlichkeit beträchtlich« sein und Festnahmen »wegen ihrer politischen Brisanz häufig unmittelbar in der Klassenauseinandersetzung mit dem Gegner« stehen und im Westen »mitunter lang vorbereitete Reaktionen hervor[rufen]« konnten, sollten die Ermittler der Stasi »die vorausschauende Analyse möglicher politischer und politisch-operativer Folgen der zu realisierenden Maßnahmen« bei ihrer Arbeit stets im Hinterkopf behalten.277 Das Gleichgewicht von außen- und innenpolitischen Kosten sowie sicherheitspolitischem Nutzen hatte zu stimmen.

273 Seminarhinweise für die politisch-operative Fachschulung. Komplex: ausgewählte Probleme der strafrechtlichen und politisch-operativen Bekämpfung des Feindes zum Thema 5. Mai 1978; BStU, MfS, JHS VVS o001-69/78, Bl. 22. Im Original sind die Worte »unterstützt« und »nicht gestört« unterstrichen. Thema 5: »Die Grundsätze der Lehre vom Beweis und der Beweisführung im Strafprozessrecht der DDR in ihrer Bedeutung für die Erhöhung der Qualität der offiziellen und inoffiziellen Beweisführung in der politisch-operativen Arbeit. Die Voraussetzungen für das Einleiten von Ermittlungsverfahren durch die Untersuchungsorgane des MfS sowie die wesentlichsten strafprozessual zulässigen Ermittlungshandlungen in Abgrenzung von Maßnahmen auf der Grundlage des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei«. 274 HA IX/8: Festlegungen zur Beobachtung der Rechtsanwendung und zur Auswertung der Gerichtsurteile im Interesse der Gewährleistung der Einheitlichkeit der Rechtssprechung vom 1. August 1979; BStU, MfS, HA IX, Nr. 9159, Bl. 153. 275 Vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 288 f. 276 Vgl. Befehl 6/77. In: Lochen; Meyer-Seitz (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewillliger, insbesondere S. 158–169. 277 Schmidt, Manfred; Stoltmann, Hans-Joachim: Rechtliche Voraussetzungen und praktische Anforderungen bei der Suche und Sicherung strafprozessual zulässiger Beweismittel während der Bearbeitung und beim Abschluss Operativer Vorgänge sowie in der Vorkommnisuntersuchung durch die Linie Untersuchung des MfS, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 30. August 1980; BStU, MfS, JHS, MF VVS 001-363/80, S. 4 (MfS-Paginierung). Beide Autoren waren im Rang eines Oberleutnants in der Potsdamer Abteilung IX tätig.

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§ 214 StGB, der die »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« jetzt mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren belegte, kam nach 1979 noch einmal deutlich häufiger zum Einsatz als zuvor. Bereits nach dem 2. StÄG 1977, mit dem diese Norm auf die Bekämpfung der Ausreisebewegung zugeschnitten worden war, war ein Anstieg der Verurteilungen nach diesem Paragraphen zu bemerken, der sich nunmehr verstärkte. In summa stieg die Anzahl eingeleiteter Ermittlungsverfahren bis 1989 stetig, mit Ausnahme der Jahre 1985 und 1987, wobei sich das MfS vornehmlich auf das 8. Kapitel des Strafgesetzbuches konzentrierte, zu dem auch § 214 gehörte. Obwohl die Novelle erst zur Jahresmitte 1979 wirksam wurde, fand sie in den Zahlen der Hauptabteilung IX merklich ihren Niederschlag: Das Untersuchungsorgan des Staatssicherheitsdienstes leitete im Vergleich zum Vorjahr fast doppelt so viele Ermittlungsverfahren auf der Grundlage von § 214 StGB ein.278 Spitzenreiter blieben aber Verfahren wegen »ungesetzlichen Grenzübertritts« (848), gefolgt von »landesverräterischer Agententätigkeit« (158), »öffentlicher Herabwürdigung« (147) und schließlich »staatsfeindlicher Hetze« (107).279 Hinter diesen unterschiedlichen Rechtsnormen verbargen sich jedoch oft ähnliche Sachverhalte. Es handelte sich häufig um Personen, die entweder ihre Flucht in den Westen geplant oder versucht, Kontakt zu westlichen Organisationen und Medieneinrichtungen aufgenommen oder auf das ihnen formal zustehende Recht auf die freie Wahl des Wohnortes hingewiesen und dadurch aus Sicht der Staatsführung die DDR diffamiert hatten. In der Regel handelte es sich hier also um Menschen, die ihre Heimat über kurz oder lang verlassen wollten und sich öffentlich dafür stark machten. Fluchthilfedelikte wurden dabei ab 1979 wesentlich weniger häufig als »staatsfeindlicher Menschenhandel« gemäß § 105, sondern nach § 132 StGB als »gewöhnlicher« Menschenhandel geahndet.280 Dadurch wichen die Ermittler auf das Strafgesetzbuchkapitel über »Straftaten gegen Freiheit und Würde des Menschen« aus, statt einen Fluchthelfer eines »Staatsverbrechens« zu beschuldigen. Letzteres musste nach § 105 StGB mit einer mindestens zweijährigen Freiheitsstrafe geahndet werden. Der »mildere« § 132 hingegen begann schon mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und trug zudem nicht das Etikett des berüchtigten politischen Straftatbestands eines (in Zeiten der Entspannungspolitik verpönten) »Verbre278 Insgesamt leitete die Linie Untersuchung 1 861 Ermittlungsverfahren ein. Die MfS-Statistik weist für 1979 125 Verfahrensaufnahmen wegen § 214 StGB aus. Vgl. Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX in der Zeit vom 1. Januar 1979 bis 30. September 1979 sowie Ergänzung zur Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politischoperativen Arbeit der Linie IX für das IV. Quartal 1979; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3719 und 3710. 279 Vgl. ebenda. 280 Ermittlungsverfahren aufgrund § 132 StGB tauchten 1979 erstmals in den Statistiken des MfS-Untersuchungsorgans auf. Allerdings nehmen diese Verfahren anteilig keinen großen Raum ein, die Zahlen bewegen sich zwischen 6 und 29 Untersuchungsverfahren pro Jahr. 1979 leitete die HA IX landesweit 16 Verfahren wegen »Menschenhandels« gemäß § 132 StGB ein.

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chens gegen die Deutsche Demokratische Republik«.281 Generell nahm die Bedeutung dieser Straftatbestände, ursprünglich Kernzuständigkeitsbereich der Stasi-Untersuchungsorgane, bis 1989 in den MfS-Statistiken mehr und mehr ab. 1980 durchbrach die Ermittlungsabteilung des Staatssicherheitsdienstes bei neu eingeleiteten Untersuchungsverfahren erneut die Zweitausendermarke, die bis zur Auflösung des Geheimdienstapparates nicht mehr unterschritten werden sollte. Letztmals hatte der Staatssicherheitsdienst 1965 eine ähnlich hohe Anzahl neuer Verfahren auf den Weg gebracht.282 1980 wurden gegen 2 121 Personen Ermittlungen eingeleitet. Abgesehen von den Jahren 1986, 1988 und 1989, bearbeiteten die Mitarbeiter des Hohenschönhausener Untersuchungsorgans in den achtziger Jahren nicht einmal 10 Prozent der Verfahren.283 Der Großteil entfiel auf ihre Kollegen in den Bezirken, allen voran auf die Untersuchungsabteilung der BV Dresden.284 281 Allerdings konnte nach § 132 StGB eine Freiheitsstrafe bis zu 8 Jahren verhängt werden: »(1) Wer einen Menschen mit Gewalt, Drohung oder durch Täuschung entführt oder rechtswidrig zum Aufenthalt in bestimmten Gebieten zwingt oder ihn in außerhalb des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik liegende Gebiete oder Staaten verbringt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer die Handlung begeht, um eine Frau zur Prostitution zu bringen oder wer ein minderjähriges Mädchen mit dessen Einwilligung außerhalb des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik zum Zwecke der Prostitution verbringt. (3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar«. Vgl. Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 29 f. Mit dem 3. StÄG wurde im Abs. 1 die Bezeichnung »in außerhalb des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik liegende Gebiete oder Staaten« und im Absatz 2 die Formulierung »außerhalb des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik« durch »ins Ausland« ersetzt. Vgl. GBl. 1979 I, S. 143. 282 In diesem Jahr wurden von der Linie Untersuchung insgesamt 2 162 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1965; BStU, MfS, HA IX, MF 11256-11267. 283 Die Hauptabteilung IX in Hohenschönhausen bearbeitete in den achtziger Jahren anteilig 7,9 % (1980), 9,1 % (1981), 8,9 % (1982), 9,4 % (1983), 8,9 % (1984), 8,4 % (1985) und 9,3 % (1987) der MfS-geführten Ermittlungsverfahren. Auf über 10 % kamen die Hohenschönhausener Ermittler mit 11,4 % im Jahr 1986, mit 11,6 % im Jahr 1988 und mit 11,2 % im Jahr 1989. 284 Zur UHA der BV Dresden steht eine Forschungsarbeit, die der Tätigkeit des örtlichen Untersuchungsorgans und der Haftvollzugsabteilung über den gesamten Bestehenszeitraum kontextualisierend auf den Grund geht, noch aus. Vor der HA IX lagen 1980 die Abteilungen IX der BV Dresden mit 261 (12,3 %) der BV Erfurt mit 186 (8,8 %), der BV Potsdam mit 174 (8,2 %) und der Verwaltung Groß-Berlin mit 170 eingeleiteten Ermittlungsverfahren (8 %). Vgl. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX in der Zeit vom 1. Januar 1980 bis 30. September 1980 sowie Ergänzung zur Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX für das IV. Quartal 1980; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2805. Die Dresdener Bezirksverwaltung führte die Statistik der eingeleiteten Ermittlungsverfahren bereits im Jahr 1979 mit 202 von insgesamt 1 861 (10,6 %), es folgten die Jahre 1980 mit 261 von 2 121 (12,3 %), 1981 mit 222 von 2 008 (11 %), 1983 mit 306 von 2 313 (13,3 %), 1984 mit 393 von 3 462 (11,4 %), 1985 mit 287 von 2 264 (12,7 %), 1987 mit 297 von 2 196 (13,5 %) und 1988 mit 465 von 3 668 (12,7 %). Zur Ermittlungspraxis in der BV Dresden in den achtziger Jahren vgl. Weinke; Hacke: U-Haft am Elbhang, S. 73 ff.

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Die Bekämpfung der Flucht- und Ausreisebewegung bestimmte die Tätigkeit des MfS-Untersuchungsorgans im letzten Jahrzehnt der DDR maßgeblich. Allein der Anteil der wegen »ungesetzlichen Grenzübertritts« nach § 213 StGB eingeleiteten Verfahren lag 1980 bei fast 52 Prozent und erreichte 1989 das Rekordniveau von gut 78 Prozent.285 Die Normen des StGB, mit denen die Staatssicherheit den »rechtswidrigen« Antragstellern, ab 1983 als »Übersiedlungsersuchende« bezeichnet, üblicherweise strafrechtlich zu Leibe rückte, waren deutlich weniger in den MfS-Statistiken vertreten. §§ 214, 220 und 106 stellten 1980 zusammen rund 15 Prozent der Verfahren; »landesverräterische Agententätigkeit« gemäß § 100 StGB aus dem Kapitel über »Staatsverbrechen« wurde allein in 8 Prozent aller Fälle zur Begründung eines Ermittlungsverfahrens herangezogen.286 Die zahlenmäßige Entwicklung der Ermittlungstätigkeit der Stasi war stets eine Antwort auf außen- und innenpolitische Veränderungen, aus Sicht des MfS also eine Reaktion auf die wechselnden »politisch-operativen Lagebedingungen«. Dieser Aspekt der Arbeit der Linie Untersuchung gilt vor allem für die achtziger Jahre, in denen der staatliche Erosionsprozess mit entspannungspolitischen Ereignissen und einem massiven Anwachsen widerständigen Verhaltens innerhalb der eigenen Bevölkerung zusammenfiel. Die DDRGeheimpolizei folgte dabei immer dann einem gewissermaßen zyklischen »Muster aus Aktion und Reaktion«, wenn sich durch staatliche Maßnahmen, die eigentlich vordergründig darauf zielten, politischen Druck abzubauen, die Anzahl oppositioneller Akteure erhöhte.287 Die Ermittler der HA IX sollten nicht nur wie gehabt abwägen, ob ein Ermittlungsverfahren unumgänglich sei; sie wurden buchstäblich dazu aufgefordert, »alles zu unterlassen, was die Durchsetzung der Parteipolitik hemmen oder sich störend auf ihre Verwirklichung auswirken könnte«.288 Bis ins Jahr 1983 stiegen die Fallzahlen kontinuierlich an. Im September dieses Jahres erließ der Ministerrat eine Verordnung, die DDR-Bürgern zumindest formal erlaubte, unter bestimmten Bedingungen einen Antrag auf 285 Vgl. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX in der Zeit vom 1. Januar 1980 bis 30. September 1980; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2805 sowie Ergänzung zur Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX für das IV. Quartal 1980; BStU, MfS; HA IX, Nr. 2805. Vgl. Bericht über die Tätigkeit der Linie Untersuchung (Januar bis Oktober 1989); BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073. 286 Vgl. Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX in der Zeit vom 1. Januar 1980 bis 30. September 1980; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2805 sowie Ergänzung zur Analyse über die Entwicklung und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX für das IV. Quartal 1980; ebenda. 287 Joestel: Verdächtigt und beschuldigt, S. 325. 288 Zank, Horst et al.: Grundlegende Anforderungen und Wege zur Gewährleistung der Einheit von Parteilichkeit, Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Gesetzlichkeit in der Untersuchungsarbeit des MfS im Ermittlungsverfahren (undatiert 1981); BStU, MfS, JHS 20092 (JHS VVS o001-233/81), Bl. 45.

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Übersiedlung ins Ausland zu stellen. Dies betraf diejenigen, die eine Ehe mit einem Ausländer, einschließlich Bürger der Bundesrepublik, geschlossen hatten oder schließen wollten. Die Genehmigung konnte jedoch versagt werden, »soweit Rechte der Bürger und andere gesellschaftliche Interessen der Deutschen Demokratischen Republik durch die Wohnsitzänderung nach dem Ausland beeinträchtigt werden«.289 Dennoch nahmen nun viele Personen diese Verordnung zum Anlass, erstmals einen Ausreiseantrag zu stellen oder einen bislang nicht genehmigten zu bekräftigen, auch wenn sie nominell gar nicht von dieser Verordnung betroffen waren. Das MfS reagierte darauf mit verstärkter strafrechtlicher Repression. 1984, ein Jahr nach Erlass der Ausreiseverordnung, stieg die Zahl neuer Ermittlungsverfahren auf fast 3 500 an.290 Gleichzeitig trat die Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten (OWVO) in Kraft,291 die den Strafverfolgungsbehörden in der DDR neue Möglichkeiten bot, »mit ordnungsstrafrechtlichen Sanktionen Handlungen unterhalb der Schwelle der strafrechtlichen Relevanz zu verfolgen«.292 Innerhalb des Staatssicherheitsdienstes erhoffte man sich von den veränderten Bestimmungen »eine wirkungsvollere und flexiblere Reaktion« auf »die vielfältigsten Formen demonstrativer Missachtung der sozialistischen Gesetzlichkeit«.293 Die OWVO versprach eine »Disziplinierung der Täter« und gleichzeitig eine »verunsichernde bzw. vorbeugende Wirkung […]« – der Warnschuss vor ernsthafteren strafrechtlichen Konsequenzen also, die man aus entspannungs289 § 8 Abs. 1 der Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländern vom 15. September 1983, GBl. 1983 I, S. 254. Dies konnte der Fall sein, wenn »Minderjährige, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, ihre Einwilligung […]; Erziehungsrechte oder Umgangsbefugnisse von Bürgern gegenüber Minderjährigen berührt werden; der Antragsteller Kinder, Eltern, Großeltern oder Geschwister in der Deutschen Demokratischen Republik hinterlassen würde, die seiner Betreuung und Unterstützung oder Fürsorge bedürfen; auf Grund der vom Antragsteller ausgeübten Tätigkeit Nachteile für die Betreuung oder Fürsorge der Bürger entstehen würden; der Antragsteller Verbindlichkeiten in der Deutschen Demokratischen Republik nicht beglichen hat; eine ordnungsgemäße Verwaltung von Grundstücken, Gebäuden und anderem Vermögen des Antragstellers nicht gewährleistet ist [oder] die Angaben in den Antragsunterlagen nicht der Wahrheit entsprechen«. Die Ausreise musste nach § 8 Abs. 2 versagt werden, wenn »Interessen der Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere zum Schutz der öffentlichen Ordnung sowie ihrer Sicherheit, entgegenstehen; der Antragsteller, Wehrdienst oder einen Dienst, der der Ableistung des Wehrdienstes entspricht, leistet oder geleistet hat und danach eine von den zuständigen staatlichen Organen festgelegte Frist nicht verstrichen ist; der Antragsteller in ein Strafverfahren einbezogen oder eine durch Gerichtsurteil gegen ihn ausgesprochene Freiheitsstrafe zu verwirklichen ist«. 290 Exakt 3 462 Verfahren wurden von der Linie IX 1984 eingeleitet. Vgl. Einschätzung der Wirksamkeit der Untersuchungsarbeit im Jahre 1984; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3711. 291 Vgl. Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten (OWVO) vom 22. März 1984, GBl. 1984 I, S. 173–178. 292 Rechtsstelle des MfS: Hinweise zur »Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten« (undatiert 1984); BStU, MfS, Rechtsstelle, Nr. 298, Bl. 26. 293 Ebenda.

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politischen Erwägungen eigentlich zu vermeiden suchte.294 »Ablegen von Blumen in demonstrativer Weise, […] demonstrative Wanderungen, Fahrradkorso [sic!] auf öffentlichen Straßen mit offenen oder verdeckten provokativen Forderungen«295 und Ähnliches sollte zunächst in die Zuständigkeit der Deutschen Volkspolizei fallen, bevor die Staatssicherheit mit dem Strafgesetzbuch winkte. Ein Blick auf die vom MfS im Jahr 1984 verfolgten Delikte offenbart darüber hinaus, dass nun erstmals der Zweck der Strafrechtsänderungen von 1977 und 1979 voll zum Tragen kam: Um nahezu gleichförmige Straftaten zu verfolgen, beschuldigten die Ermittler die Betroffenen in den meisten Fällen eines »Verbrechens gegen die staatliche Ordnung« und verzichteten weitgehend auf die Anwendung des StGB-Kapitels über die »Staatsverbrechen«. Ausgesprochen deutlich zeigt sich dies beim § 219 StGB, der nun ungleich häufiger verwendet wurde anstelle seines »staatsverbrecherischen« Pendants § 100 StGB. Die »ungesetzliche Verbindungsaufnahme« bildete inzwischen in 730 Fällen die Grundlage für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Die »landesverräterische Agententätigkeit« hingegen rutschte in der Statistik nach unten auf nur noch 99 Personenermittlungen. Noch ein Jahr zuvor stand es 47 (§ 219) zu 255 (§ 100). Die Zahl der Fälle von »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme« gemäß § 219 StGB stieg also um das 15-Fache an – wenigstens wurde die entsprechende Strafrechtsnorm nun 15 Mal so häufig angewendet. Zudem wurde § 214 StGB (»Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit«) immerhin mehr als doppelt so häufig herangezogen wie noch 1983. Die HA IX schrieb nach wie vor dem Westen und seiner »imperialistischen Strategie und Politik im Kampf gegen den Sozialismus« die Schuld für das gestiegene Volumen an Ausreiseanträgen zu.296 Um die politischen Verhältnisse in der DDR anzugreifen, betreibe die Bundesrepublik eine verstärkte »Einmischungspolitik«, indem man sich »der imperialistischen Menschenrechtsdemagogie« bediene.297 Die »bekannten völkerrechtswidrigen Positionen der BRD« würden DDR-Bürger dahingehend anstacheln, ihren Umzug in den Westen anzustreben und dabei auch vor Straftaten gegen die öffentliche Ordnung nicht zurückzuschrecken.298 Ganz im Gegenteil: Viele derjenigen, die ihren Wunsch nach Ausreise öffentlich bekundeten, nahmen in letzter Instanz ihre Verhaftung und anschließende Verurteilung als Preis dafür in Kauf, aus dem

294 Ebenda, Bl. 27. 295 Ebenda, Bl. 29. 296 Thiele, Peter: Zu Erscheinungsformen von Straftaten, die im Jahre 1984 zur Erzwingung der Übersiedlung begangen wurden, und Erfahrungen ihrer strafrechtlichen Bekämpfung; BStU, MfS, JHS, MF VVS o001-1237/85, S. 4 (MfS-Paginierung). Thiele war zu diesem Zeitpunkt im Rang eines Majors in der Hohenschönhausener Untersuchungsabteilung tätig. 297 Ebenda. 298 Ebenda, S. 5 (MfS-Paginierung).

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Strafvollzug in die Bundesrepublik entlassen zu werden.299 Im Jahr 1984 sah sich die DDR-Führung schließlich zur Reaktion gezwungen, um angesichts der großen Zahl der Ausreisewilligen Druck abzulassen. Hierbei handelte es sich um einen »gravierenden politischen Fehler Honeckers«, der die Ausreisewelle erst beflügeln sollte.300 Man gewährte allein im Frühjahr immerhin fast 41 000 DDR-Bürgern den endgültigen Umzug in den Westen, um sich der entschlossensten und für den Staat wohl hoffnungslos verlorenen Antragsteller zu entledigen.301 Auf der anderen Seite »wurden jene hartnäckigen Übersiedlungsersuchenden, die zur Erzwingung ihrer Übersiedlung die Ständige Vertretung der BRD in der DDR, Botschaften der BRD in anderen sozialistischen Staaten sowie weitere diplomatische Vertretungen einbezogen und in diesem Zusammenhang Straftaten begingen«, strafrechtlich belangt.302 Als »hartnäckig« galten dabei diejenigen, die nach gestelltem Antrag eben nicht ruhig blieben und abwarteten, sondern ihr Anliegen auf besonders aktive Weise voranbringen wollten.303 In der Untersuchungshaftanstalt versuchten die Ermittler nach wie vor, die Antragsteller zur Räson zu bringen und zum Verbleiben in der DDR zu bewegen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Man stellte schließlich resigniert fest, dass »teilweise […] erst im Rückgewinnungsprozess eine verfestigte feindliche Haltung aufgedeckt« und auch »nach Abschluss der Untersuchung feindlich-negative Einflüsse nicht abgeblockt werden« konnten.304 In den Jahren 1985 bis 1987 gestaltete sich die Lage im Untersuchungsorgan verhältnismäßig ruhig, die Zahl der MfS-Ermittlungsverfahren fiel wieder etwa auf das Niveau der frühen achtziger Jahre. Durchschnittlich wurden in diesen drei Jahren jeweils knapp 2 300 Verfahren eingeleitet, wobei sich an der Zusammensetzung der Delikte im Vergleich zu den Jahren zuvor wenig änderte. Bemerkenswert ist lediglich, dass der klassische politische Straftatbestand der »staatsfeindlichen Hetze« fast völlig aus dem Blickwinkel der Ermittler verschwand. In den Jahren 1984 bis 1989 ermittelte die Linie IX zusammen-

299 Vgl. ebenda, S. 18 (MfS-Paginierung). 300 Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 305. 301 Vgl. Eisenfeld: Widerständiges Verhalten im Spiegel von Statistiken und Analysen des MfS, S. 165 f. 302 Thiele, Peter: Zu Erscheinungsformen von Straftaten, die im Jahre 1984 zur Erzwingung der Übersiedlung begangen wurden, und Erfahrungen ihrer strafrechtlichen Bekämpfung; BStU, MfS, JHS, MF VVS o001-1237/85, S. 20 (MfS-Paginierung). Über diese »Kampfaufgabe« des Jahres 1984, die »politisch richtige und differenzierte Entscheidung über die Anwendung strafrechtlicher u. a. Mittel«, hatte der Leiter der HA IX täglich nach oben Meldung zu machen. HA IX, Leiter: Jahresarbeitsplan 1984 vom 31. Dezember 1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 570, Bl. 139. 303 Vgl. Eisenfeld: Widerständiges Verhalten im Spiegel von Statistiken und Analysen des MfS, S. 165. 304 Einschätzung der Wirksamkeit der Untersuchungsarbeit im Jahre 1984; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3711, Bl. 115.

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gerechnet in nur noch 20 Fällen auf der Grundlage von § 106 StGB.305 Bis auf wenige Ausnahmen griff das MfS als Strafverfolgungsbehörde nun endgültig zu den eher »milderen« Paragraphen, die »Straftaten gegen die staatliche Ordnung« kriminalisierten. Alternativ wurde widerständiges Verhalten vorab mit den Mitteln der Ordnungswidrigkeitsbestimmungen verfolgt, um erst gar nicht zum Strafgesetzbuch greifen zu müssen. Die Ermittlungsverfahren des Staatssicherheitsdienstes waren also nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Den wesentlich größeren, verborgenen Teil staatlicher Repression gegen Ausreisewillige und andere Formen politischer Gegnerschaft bildeten seitens der Linie IX die Untersuchungen von »Sachverhalten« und »Vorkommnissen«, also geheimpolizeiliche Vorermittlungen als Ersatz für staatsanwaltlich geleitete und damit öffentliche Ermittlungsverfahren.306 Im September 1987 fand zudem der von der DDR-Führung lange Zeit herbeigesehnte Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik statt; dieser sollte nicht von allzu offensichtlicher Repression politisch Andersdenkender überschattet werden. Um schon im Vorfeld der außenpolitisch bedeutungsvollen Westreise für gute Stimmung in der Bundesrepublik zu sorgen, hatte sich die DDR-Regierung großzügig gezeigt und vor allem bei offenkundig politisch motivierten Ermittlungsverfahren auf eine weitere Strafverfolgung oder eine längere Haftdauer verzichtet. Rund zwei Monate vor seinem fünftägigen Besuch beim westlichen Nachbarn hatte Honecker als Vorsitzender des Staatsrates am 17. Juli 1987 eine weitreichende Amnestie angeordnet. Nicht nur bereits Verurteilte kamen in den Genuss dieses Straferlasses – auch laufende Ermittlungsverfahren konnten im Rahmen dieser Generalamnestie eingestellt und Untersuchungshäftlinge aus den MfS-Haftanstalten entlassen werden.307 Für die »Sicherung des politischen Erfolges« zeichnete die HA IX verantwortlich, deren Aufgabe »in der verantwortungsbewussten Vorbereitung und Durchsetzung der zentralen Festlegungen« des entsprechenden Staatsratsbeschlusses bestand.308 Der Stasi oblag es unter anderem, die zu amnestierenden Personen auszuwählen und deren vorzeitige Entlassung zu koordinieren.

305 Vgl. die entsprechenden Jahresberichte der HA IX; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3711 (1984 und 1985); BStU, MfS, HA IX, Nr. 540 (1986); BStU, MfS, HA IX, Nr. 422 (1987); Bericht über die Tätigkeit der Linie Untersuchung (Januar bis Oktober 1989); BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073. Vgl. Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988. 306 Zum Komplex der Sachverhalts- und Vorkommnisprüfungen des MfS-Untersuchungsorgans vgl. Joestel: Verdächtigt und beschuldigt, insbesondere S. 306–313. 307 Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR: Anweisung Nr. 8/87: Aufgaben gemäß Ziffer 5 der Festlegungen des Vorsitzenden des Staatsrates zur Durchführung der allgemeinen Amnestie aus Anlass des 38. Jahrestages der Gründung der DDR vom 22. Dezember 1987; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 912, Bl. 310–312. 308 HA IX/AKG: Einschätzung der Wirksamkeit der Untersuchungsarbeit im Jahre 1987; BStU, MfS, HA IX, Nr. 422, Bl. 83.

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1988 und 1989 erreichten die neu eingeleiteten strafrechtlichen Untersuchungen der MfS-Linie IX Dimensionen wie seit dem Mauerbau nicht mehr.309 In beiden Jahren wurden zusammengerechnet 7 343 Ermittlungsverfahren aufgenommen, die sich zahlenmäßig fast gleichmäßig verteilten.310 In der Hohenschönhausener Zentrale wurden davon 846 Neuverfahren bearbeitet.311 Gleich zu Beginn des Jahres 1988 bot das staatstragende Großereignis der traditionellen »Kampfdemonstration« zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht dem MfS Anlass, gegen die sich etablierende Bürgerrechtsbewegung der sogenannten »Hierbleiber«312 vorzugehen.313 Der Gedenkmarsch zum Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde wurde von Oppositionellen genutzt, um unter Bezug auf das wohl bekannteste Rosa-Luxemburg-Zitat, nach dem »Freiheit […] immer Freiheit der Andersdenkenden« sei, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einzufordern. Die nach Ansicht der MfS-Ermittler »DDR-feindliche[n] Kräfte« würden sich »unter vorgeblichem Bemühen um ›Verbesserung des Sozialismus und Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft‹« – obgleich selbst DDR-Bürger – mit ihren Forderungen »in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen« versuchen; viele von ihnen fanden sich kurzerhand in der Hohenschönhausener Untersuchungshaftanstalt wieder.314 Die prominenteren unter ihnen, die wie Stephan Krawczyk und seine damalige Ehefrau Freya Klier, Bärbel Bohley, Vera Wollenberger oder Wolfgang Templin auch jenseits der DDR-Grenzen über eine gewisse Bekanntheit oder zumindest Kontakte verfügten, kamen jedoch nach lautstar-

309 1961 waren 4 195 Verfahren aufgenommen worden. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Dezember 1961; BStU, MfS, HA IX, MF 11208-11219. 310 1988 wurden 3 668, 1989 (bis Oktober) 3 675 neue Ermittlungsverfahren eingeleitet. Vgl. Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988 sowie Bericht über die Tätigkeit der Linie Untersuchung (Januar bis Oktober 1989); BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073. 311 Die Untersuchungsabteilung der BV Dresden führte in den Statistiken des Jahres 1988 und einzelner Monate des Jahres 1989. 312 Vgl. Stein, Eberhard: Produktive und zugleich ausweglose Situation. Leben in der DDR – Hierbleiben oder Weggehen. In: Horch & Guck 8(1999)25, S. 41–45. Vgl. auch Friedrich-EbertStiftung (Hg.): Wir bleiben hier! Das politische Vermächtnis von Oppositionsgruppen und der Bürgerbewegung in der DDR, Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Willy-Brandt-Haus Berlin am 17. Juni 1997, Berlin 1997. 313 Die ehemaligen Mielke-Stellvertreter Werner Großmann und Wolfgang Schwanitz wiesen 2010 darauf hin, dass bei dieser Demonstration das Zitat Luxemburgs ihrem Empfinden nach »in spektakulärer Weise […] missbraucht« worden sei. Fast ausnahmslos Antragsteller hätten mit dieser Losung »die Staatsorgane der DDR zu provozieren und auf diese Weise ihre Ausreise zu erzwingen« versucht. Mit Rosa Luxemburg selbst, so die Autoren, »verband sie nichts«. Großmann, Werner; Schwanitz, Wolfgang (Hg.): Fragen an das MfS. Auskünfte über eine Behörde, Berlin 2010, S. 301. 314 Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988, S. 37 f.

Hafthintergründe und Tatvorwürfe

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ken Protestbekundungen Anfang Februar wieder frei und wurden in den Westen abgeschoben.315 Das Magazin »Der Spiegel« widmete der »Rebellion hinter der Mauer« ein Heft mit Krawczyk auf dem Titelbild;316 die Stasi verbuchte dies als versuchte »Außensteuerung feindlicher Kräfte in der DDR zur Organisierung politischer Untergrundtätigkeit«.317 Dass politisch Andersdenkende keine besondere Inspiration aus der Bundesrepublik benötigten, um sich in ihrer Kritik aus eigenem Antrieb auf die hausgemachten Missstände und Rechtsverletzungen in ihrem Land zu beziehen, kam in der – zumindest offiziell bekundeten – Gedankenwelt der MfS-Mitarbeiter auch knapp zwei Jahre vor dem Ende der SEDHerrschaft nicht vor. Dennoch wurden derartige Vorstöße des Untersuchungsorgans mehr und mehr zur Ausnahme, sofern es um die Bekämpfung der Bürgerrechtsbewegung in der DDR ging. Trotz des rasant anwachsenden innergesellschaftlichen Drucks griff die Staatssicherheit hier nur noch in Ausnahmen zur harten strafrechtlichen Repression.318 Der Fokus lag nun endgültig auf den juristisch »einfachen« und vergleichsweise wenig politisches Aufsehen erregenden Verfahren gegen Personen, die Fluchtversuche unternahmen. Wie erwähnt, stieg der Anteil des »ungesetzlichen Grenzübertritts« (§ 213 StGB) unter den Ermittlungsverfahren 1988 allein auf 50 Prozent, im letzten Jahr der DDR sogar auf nahezu 79 Prozent an.319 Das Untersuchungsorgan musste nun alle Kräfte mobilisieren und Mitarbeiter, die eigentlich auf andere Delikte spezialisiert waren, auf Beschuldigte ansetzen, deren »strafbares Tun im Zusammenhang mit ihrer Absicht stand, ständig aus der DDR auszureisen«.320 Mag man dem internen Jahresbericht der HA IX für 1988 Glauben schenken, war es auf den »hohen persönlichen Einsatz der Untersuchungsführer« zurückzuführen, dass »jedes Strafverfahren in 315 Vgl. exemplarisch den Untersuchungsvorgang zu Bärbel Bohley; BStU, MfS, AU 140/90 oder zu Wolfgang Templin; BStU, MfS, AU 156/90. Templin durfte am 5. Februar 1988 »mit befristetem Visum« in die Bundesrepublik ausreisen. Ebenda, Bd. 8, Bl. 2. Vgl. auch Flemming; Ulrich: Vor Gericht, insbesondere der Abschnitt S. 176 ff. 316 Vgl. Der Spiegel 5/1988. 317 Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988, S. 38. 318 Lediglich der Straftatbestand der öffentlichen Herabwürdigung sticht in den MfS-Statistiken neben den Fluchtversuchen hervor. Ermittlungen auf der Grundlage von § 220 StGB hielt sich 1989 mit 210 Ermittlungsverfahren auf Platz 2. Vgl. Bericht über die Tätigkeit der Linie Untersuchung (Januar bis Oktober 1989); BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073. Zur Rolle des Staatssicherheitsdienstes in den letzten Jahren der DDR, vor allem 1989, vgl. Süß, Walter: Politische Taktik und institutioneller Zerfall. MfS und SED in der Schlussphase des Regimes. In: Suckut; Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit, S. 249–269. 319 Vgl. ebenda sowie Bericht über die Tätigkeit der Linie Untersuchung (Januar bis Oktober 1989); BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073. 320 Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988, S. 87.

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

die Gesamtaufgabenstellung des MfS« eingeordnet wurde und die Ermittler »wirkungsvolle Beiträge zur Unterstützung der Politik der Partei« leisteten.321 1989 gingen diejenigen Straftatbestände, die noch zuvor zur Bekämpfung der Antragsteller herangezogen worden waren, in der Summe erheblich zurück. Durch verstärkten IM-Einsatz versprach sich das MfS eine effiziente Aufdekkung von Fluchtvorbereitungen und -versuchen. Der vollständigen Öffnung der ungarischen Grenze im September 1989 und dem Ansturm von DDRBürgern auf die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Warschau hatte die Stasi als Strafverfolgungsorgan nicht viel entgegenzusetzen. Entscheidend waren in den letzten zwei Jahren wohl vor allem taktische Erwägungen im Sicherheitsapparat, der »dem Gegner keine Munition liefern« wollte, um die DDR am Ende als friedens- und entspannungsfeindlich darstellen zu können.322 Mit der Umstrukturierung des Ministeriums für Staatssicherheit in ein Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) Ende 1989 stellte man sich auch im Ermittlungsorgan die Frage, wie die eigene Arbeit nun unter den veränderten Bedingungen weiter ausgestaltet werden solle. Rund zehn Tage nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze und dem Fall der Mauer, wurden in der HA IX Überlegungen laut, die Untersuchungen in Strafsachen aus dem Staatssicherheitsdienst herauszulösen und mit den Ermittlungseinheiten des Innenministeriums und der Zollverwaltung zu einer neuen Behörde zusammenzulegen.323 Das erst zu gründende »einheitliche […] Organ zur Untersuchung schwerer Kriminalität« sollte, so ein Vorschlag, dem Justizminister oder dem Generalstaatsanwalt der DDR unterstellt werden.324 Das Vorhaben, das Know-how der Stasi-Ermittler personell und strukturell in einem vermeintlich vertrauenswürdigeren Gewand in die neue Zeit zu retten, scheiterte bekanntermaßen. Die geradezu hilflosen Überlegungen kamen nicht nur rund 40 Jahre zu spät; eine »erfolgversprechende Repressionskampagne mit dauerhafter Wirkung« wurde von der vollständigen ersatzlosen Auflösung des Staatssicherheitsdienstes im Frühjahr 1990 endgültig überholt.325

321 Ebenda. 322 »Referat des Mitglieds des Politbüros des ZK der SED und Minister für Staatssicherheit, Armeegeneral Erich Mielke, auf der Tagung der Aufklärungsorgane der sozialistischen Länder, Berlin 17.10.1988«, zit. nach: Süß: Politische Taktik und institutioneller Zerfall, S. 253. 323 Vgl. HA IX: Vorschläge zu Verantwortung, Aufgaben und Arbeitsweise eines künftigen Untersuchungsorgans vom 20. November 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 11416, Bl. 21. 324 Ebenda. 325 Süß: Politische Taktik und institutioneller Zerfall, S. 251.

129

Hafthintergründe und Tatvorwürfe

Die Ermittlungsverfahren der MfS-Untersuchungsorgane 1956–1988: Quantitative Entwicklungen326

Ermittlungsverfahren der MfS-Untersuchungsorgane 1956–1988

HA IX

1988

1986

1984

1982

1980

1978

1976

1974

1972

1970

1968

1966

1964

1962

1960

1958

1956

4500 4000 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0

gesamt

Ermittlungsverfahren der MfS-Untersuchungsorgane 1960–1969 5000 4000 3000 2000 1000 0 1960

1961

1962 HA IX

1963

1964

1965

1966

1967

1968

1969

Gesamt EV (eingeleitet, Personen)

326 Da die statistischen Angaben aus den Jahren 1955 und 1989 unvollständig überliefert sind, werden im Folgenden nur komplette Jahrgänge graphisch dargestellt. Zudem werden zu den Ermittlungsverfahren der HA IX (mit Sitz in Berlin-Hohenschönhausen) bis 1958 auch diejenigen Ermittlungsverfahren des für Militärstraftaten zuständigen MfS-Untersuchungsorgans der HA I/9 hinzugerechnet (1956–1958 insgesamt 692), da es sich hierbei ebenfalls um Ermittlungsverfahren des MfS auf ministerieller Ebene handelte. Ab 1959 ist diese Struktureinheit in die HA IX überführt, die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren also bei der HA IX gebündelt.

130

Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen Ermittlungsverfahren 1961

1500 1000 500 0 Jan 61 Feb 61 Mrz 61 Apr 61 Mai 61 Jun 61 Jul 61 Aug 61 Sep 61 Okt 61 Nov 61 Dez 61 Gesamt EV mit Haft Linie IX (eingeleitet, Personen)

HA IX

Ermittlungsverfahren 1968 500 400 300 200 100 0 Jan 68 Feb 68 Mrz 68 Apr 68 Mai 68 Jun 68 Jul 68 Aug 68 Sep 68 Okt 68 Nov 68 Dez 68 gesamt

HA IX

Ermittlungsverfahren der MfS-Untersuchungsorgane 1970–1979 3000 2000 1000 0 1970

1971

1972 HA IX

1973

1974

1975

1976

1977

Gesamt EV (eingeleitet, Personen)

1978

1979

131

Hafthintergründe und Tatvorwürfe Ermittlungsverfahren der MfS-Untersuchungsorgane 1980–1989 4000 3000 2000 1000 0 1980

1981

1982

1983

1984

HA IX

1985

1986

1987

1988

1989

Gesamt EV (eingeleitet, Personen)

Rechtsgrundlagen Ermittlungsverfahren 1968–1978 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1968

1969

§ 100

1970 § 105

1971

1972

1973

§106

1974

§ 213

1975

1976

§ 214

1977

1978

§ 219

§ 220

Rechtsgrundlagen Ermittlungsverfahren 1979–1989 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 1979

1980

1981

1982

1983

1984

1985

1986

§ 100

§ 105

§ 106

§ 213

§ 214

§ 219

§ 220

§ 132

1987

1988

1989

132

Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

Rechtsgrundlagen Ermittlungsverfahren 1968–1989 (Linie IX gesamt)327

1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 gesamt

§ 100 § 105 § 106 § 213 § 214 § 219 § 220 § 132328 58 63 532 680 7 2 113 37 56 230 630 3 47 65 44 178 622 15 51 89 39 157 736 61 70 38 93 1 218 31 236 138 82 1 056 14 276 212 75 754 13 161 116 89 582 22 175 148 140 711 92 213 106 219 943 79 175 83 109 778 71 1 88 158 40 107 848 125 3 147 16 177 35 78 1 094 98 154 28 176 42 51 993 96 169 8 214 34 31 1 085 123 139 12 255 16 14 969 320 47 151 8 99 15 9 963 772 730 306 7 62 15 5 816 454 207 194 6 31 4 4 973 516 166 239 18 17 2 1 1 246 327 91 135 11 84 7 1 1 869 907 82 177 29 18 4 2 896 81 10 210 23 2 846 1 257 2 205 22 462 3 912 1 342 2 632 166

327 Auswahl der zentralen Strafrechtsnormen, mit denen seit der StGB-Reform von 1968 und den nachfolgenden Strafrechtsänderungen politisch motivierte oder als solche begriffene Delikte geahndet wurden. Die strafrechtlichen Grundlagen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurden in den Monatsberichten des MfS erst ab 1967 erfasst, für die Geltungszeit des Strafrechtsergänzungsgesetzes von 1957 bis zum Inkrafttreten des reformierten Strafgesetzbuches von 1968 kann eine derartige Darstellung daher nicht erfolgen. Bis 1979 gehen Delikte gemäß §§ 214 und 219 in den Aufzeichnungen des MfS meist in der Rubrik »sonstige Straftaten« auf und sind somit nicht gesondert ausweisbar. 328 § 100 StGB »Staatsfeindliche Verbindungen« bzw. »Landesverräterische Agententätigkeit«, § 105 StGB »Staatsfeindlicher Menschenhandel«, § 106 StGB »Staatsfeindliche Hetze«, § 213 StGB »Ungesetzlicher Grenzübertritt«, § 214 StGB »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit«, § 219 »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme«, § 220 StGB »Staatsverleumdung« bzw. »Öffentliche Herabwürdigung«, § 132 »Menschenhandel«.

Delikttypische Fallbeispiele

2.2

133

Inhaftiert in Hohenschönhausen: Delikttypische Fallbeispiele

Delikttypische Fallbeispiele

Zeit seiner Existenz richtete das Ministerium für Staatssicherheit den Großteil seiner materiellen und personellen Kapazitäten auf die eigene Bevölkerung. Dies gilt für den geheimdienstlichen Apparat als Ganzes und war ebenfalls für die geheimpolizeiliche Strafverfolgung innerhalb der Staatsgrenzen von außerordentlicher Relevanz: Die Stasi hatte den Auftrag, Gegnern der SEDParteiherrschaft habhaft zu werden und den Einfluss derer zu »neutralisieren«, die für die DDR-Führung und ihren Machtanspruch zur Gefahr hätten werden können.329 Auf gleiche Art war jedoch auch mit denjenigen zu verfahren, die »von außen«, also beispielsweise aus der Bundesrepublik, die innere Ruhe des vermeintlich kommoden sozialistischen Zusammenlebens störten. Tat sich jemand durch öffentlichkeitswirksame Kritik an den staatlich verordneten politischen und sozialen Verhältnissen in der DDR hervor, kam der HA IX die Aufgabe zu, die als Unruhestifter, Abweichler, nicht zuletzt als »Feind« entlarvte Person durch strafrechtliche Ermittlungen sowie eine regelmäßig anschließende gerichtliche Verurteilung in ihre Schranken zu weisen, sie durch ein augenscheinlich rechtsförmiges Verfahren als Kriminellen zu brandmarken und die öffentliche Ordnung im »Arbeiter- und Bauernstaat« durch Abschrekkung möglicher Gleichgesinnter im Sinne der Machthaber nachhaltig wiederherzustellen. Zwischen der Gründung der DDR und ihrem Ende manifestierten sich durchaus unterschiedliche Formen widerständigen Verhaltens und politischer Gegnerschaft. Sie lagen einerseits in innergesellschaftlichen Entwicklungen begründet; andererseits dürfen weder die permanente Systemauseinandersetzung zwischen der »östlichen« und »westlichen« Welt noch deutschlandpolitische Diskurse ausgeblendet werden, welche die sich im jeweils zeitgebundenen Kontext vollziehenden Aktionen und Reaktionen der Akteure erst erklärbar machen. Politische Vorstellungswelten, Alltagsdeutungen, individuelle und soziale Interessen wie auch milieuspezifische Prägungen veränderten sich im Laufe der Zeit unter Herrschenden wie Beherrschten gleichermaßen: Handlungsrichtungen und -potenziale widerständiger oder politisch nonkonformer Akteure wie auch die Wahrnehmung und die praktische Handhabung seitens der »Tschekisten« gestaltete sich in den fünfziger Jahren anders als in der Zeit nach dem Mauerbau. Der beiderseitige Aktionsradius variierte wiederum in der Periode der deutschlandpolitischen »Entspannung« der Ära Brandt/Schmidt und der damit einhergehenden Zunahme innerdeutscher Kontakte. Gleiches gilt für die Handlungsmöglichkeiten und ihre Beschränkungen in der DDR der achtziger Jahre, welche von eklatantem wirtschaftlichem Verfall und erstar329 Engelmann et al. (Hg.): Das MfS-Lexikon, S. 13.

134

Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

kender politischer Opposition gekennzeichnet war.330 Die Mitarbeiter der Stasi als Träger von »Schild und Schwert der Partei« hatten ebenso wie ihre Gegner zwischen 1951 und 1989 generationell, gesellschaftlich und damit kulturell verschiedenartige Prägungen erlebt; beide Seiten nahmen ihre Lebenswirklichkeit unterschiedlich wahr, entwickelten andere Haltungen als ihre jeweiligen »Vorgänger« und hatten abweichende Erwartungen an ihre soziale Umwelt. Wie das MfS-Untersuchungsorgan im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und Untersuchungshaft mit den Betroffenen hinter den Gittern des Hohenschönhausener Gefängnisses verfuhr, wird an anderer Stelle näher untersucht. Im Folgenden sollen verschiedene Deliktgruppen in Augenschein genommen werden, die für die »Tschekisten« der HA IX im Mittelpunkt standen: Es werden exemplarisch Personen beleuchtet, gegen die das MfS-Untersuchungsorgan zwischen 1951 und 1989 ermittelte und die sie zu diesem Zweck in der zentralen Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen einsperren ließ. Die dargestellten Fallbeispiele repräsentieren paradigmatisch die zeitkontextuell unterschiedlichen widerständigen oder politisch gegnerischen Verhaltensweisen und -möglichkeiten wie auch die sich verändernde Wahrnehmung seitens des Stasi-eigenen Untersuchungsorgans. So wird deutlich, dass über die Jahrzehnte hinweg sehr verschiedene Beweggründe zur Konfrontation mit dem SED-Regime und seiner Staatssicherheit führen konnten. Andererseits illustrieren sie die sich wandelnden Reaktionen auf abweichende oder gegnerische, immer jedoch als kriminell verstandene Handlungsweisen. Nicht zuletzt umreißen sie, welche Straftaten das MfS in seiner Zentrale neben den offensichtlich »politischen« ebenfalls bearbeitete: Verfahren gegen straffällig gewordene MfS-Mitarbeiter und gegen NS-Täter, Wirtschaftsstrafverfahren oder Delikte mit Todesfolge, denen eine besondere »politisch-operative« Bedeutung zugesprochen wurde.

Widerstand und Spionage als »Boykotthetze« Die Verfolgung von Opposition und Widerstand sowie von vermeintlicher oder tatsächlicher Spionage gegen die DDR als »Boykott- und Kriegshetze« gemäß Artikel 6 der DDR-Verfassung von 1949 zeichnete die politische Justizpraxis der fünfziger Jahre maßgeblich aus. Der Widerstand oder zumindest die Opposition gegen die sich im östlichen Teil Deutschlands aufbauende politische und gesellschaftliche Ordnung galt der Führungselite der frühen DDR als größte Gefahr, welche es »mit der ganzen Härte [der] demokrati-

330 Vgl. Kowalczuk: Stasi konkret, S. 75 ff.

Delikttypische Fallbeispiele

135

schen Gesetzlichkeit« zu bekämpfen galt.331 Den von politischer Verfolgung Betroffenen wurde oftmals vorgeworfen, durch ihre nicht selten sehr engagiert vorgetragene Ablehnung geradezu »den Frieden der Welt gefährdet zu haben«,332 obgleich es sich in den meisten Fällen um sehr individuell motivierte Akte politischen Protestes handelte. Nicht wenige von ihnen, die sich selbst ursprünglich als Sympathisanten der kommunistischen Ideologie verstanden hatten, wurden Opfer politischer Säuberungen, durch die sich die stalinistisch geprägten SED-Machthaber kritischer Stimmen in den eigenen Reihen zu entledigen und ihre Herrschaft zu stabilisieren gedachten. Kontakte zu zivilen, gleichwohl oftmals von westlichen Regierungen finanzierten und unterstützten Organisationen oder manchmal auch nur zu Freunden oder Verwandten jenseits der sowjetisch verwalteten Landesteile konnten nahezu jeden in Verdacht bringen, mit »feindlichen« Geheimdiensten zu kooperieren und Spionage gegen die DDR zu betreiben respektive staatliche Interna weiterzugeben. Flugblattaktionen, öffentlich demonstrierter Protest oder schlichtweg offen geäußerte politisch abweichende oder ablehnende Meinungen verfolgten die SED und »ihre« Justizorgane vorzugsweise als gegnerische Agitation, als »Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militaristische Propaganda […] im Sinne des Strafgesetzbuches«.333 Denn bis zum Inkrafttreten des Strafrechtsergänzungsgesetzes 1958 war Letzteres noch nicht an die machtpolitischen Bedürfnisse der neuen Regenten angepasst: Das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches, zwar von den meisten politischen Tatbeständen aus der Zeit des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus bereinigt, blieb auch nach 1945 weiterhin gültig. Artikel 6 der 1949 verabschiedeten Verfassung sowie die Bestimmungen der Kontrollratsdirektive 38 und deren Abschnitt III A III bildeten bis zur ersten Neufassung der Strafrechtsnormen die behelfsweise Grundlage, um politisch motivierte Gegnerschaft auszuschalten. Die gemäß dieser Bestimmungen Verhafteten wurden in der Regel zu langjährigem Freiheitsentzug oder gar zum Tode verurteilt. Friedrich Schlotterbeck (1909–1979) fiel 1953 parteiinternen Säuberungsmaßnahmen um den angeblichen Spion Noel Field zum Opfer.334 Als altge331 Schlussbericht vom 28. September 1953 im Ermittlungsverfahren gegen einen wegen »Boykotthetze« Beschuldigten; BStU, MfS, AU 60/54, Bd. 2, Bl. 230. Ähnlich lautende Formulierungen finden sich in zahlreichen ausgewerteten Ermittlungsakten aus den fünfziger Jahren. 332 Anklageschrift vom 24. Juni 1953; BStU, MfS, AU 400/53, Bd. 2, Bl. 24. Der Angeklagte hatte versucht, die DDR zu verlassen. Der damalige Volkspolizist war im März 1953 wegen Fahnenflucht und versuchter Spionage in Haft genommen worden. 333 Artikel 6 Absatz 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, GBl. 1949, S. 6. 334 Vgl. Weber, Hermann; Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2008, S. 794–795. Noel Field war ein US-amerikanischer Diplomat und

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

dienter KPD-Kader aus dem Stuttgarter Raum wurde er 1930 Agitpropsekretär der »Jungen Garde« des Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands (KJVD) in Berlin. Nach einem Aufenthalt in Paris kehrte er 1933 zur mittlerweile illegalen Arbeit für den KJVD nach Berlin zurück, wo er festgenommen und zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Seit 1937 in Schutzhaft, wurde Schlotterbeck 1943 entlassen und setzte sich fortan mit seiner Familie in Stuttgart gegen das nationalsozialistische Regime ein. Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung floh er im Juni 1944 in die Schweiz. Nach dem Tod seiner Familie und seiner Verlobten, die im November 1944 hingerichtet wurden, kehrte er nach Kriegsende nach Deutschland zurück, wurde Vorsitzender der »Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes« (VVN) und engagierte sich beim »Deutschen Roten Kreuz« (DRK) in BadenWürttemberg. Mit seiner neuen Lebensgefährtin siedelte Schlotterbeck 1948, mittlerweile Mitglied der SED, in die Sowjetische Besatzungszone über. Das MfS wurde erstmals im Rahmen der Überprüfungen sogenannter Westemigranten auf ihn aufmerksam. Im Februar 1951 erfolgte der Parteiausschluss wegen des Verdachts auf Spionage: Man warf ihm vor, als Informant für die Gestapo gearbeitet zu haben, zudem wurden ihm neben Kontakten zu Noel Field Verbindungen zu Herta Jurr-Tempi335 während seines Aufenthalts in der Schweiz zur Last gelegt. Inzwischen als Bergarbeiter in der sowjetischdeutschen Aktiengesellschaft (SDAG) »Wismut« im Erzgebirge tätig,336 wurde Friedrich Schlotterbeck gemeinsam mit seiner Ehefrau Anna am 15. Februar 1953 konspirativ festgenommen.337 Wegen schwerer Gesundheitsprobleme brachte man ihn zunächst in einem Krankenhaus unter, erst im September 1953 erfolgte die Neuaufnahme des Ermittlungsverfahrens gegen Schlotterbeck. Ihm wurden »Zusammenarbeit mit der Gestapo und parteizersetzende Tätigkeit« vorgeworfen:338 In seinem Betrieb hatte er mehrere Wandzeitungsartikel verfasst, in denen er auf verschiedene Missstände aufKommunist, der sich für das USC engagiert hatte. Wegen seiner internationalen Verbindungen war er bereits Ende der vierziger Jahre ins Visier kommunistischer Geheimdienste geraten und zur Hauptfigur in einer groß angelegten stalinistischen Säuberungswelle in Ungarn, Tschechien und teilweise auch in der SBZ/DDR stilisiert worden. Er selbst kam im Gegensatz zu vielen Angeklagten 1955 frei. Vgl. Barth, Bernd-Rainer; Schweizer, Werner (Hg.): Der Fall Noel Field. Schlüsselfigur der Schauprozesse in Osteuropa, Gefängnisjahre 1949–1954 (Bd. 1) (unter Mitarbeit von Thomas Grimm), Berlin 2005. 335 Die in Frankreich lebende Herta Jurr-Tempi wurde ebenfalls wegen Kontakten zu Noel Field aus der KPF ausgeschlossen. 336 Vgl. Boch, Rudolf; Karlsch, Rainer (Hg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Berlin 2011. Vgl. auch Karlsch, Rainer: Der Aufbau der Uranindustrien in der SBZ/DDR und ČSR als Folge der sowjetischen »Uranlücke«. In: ZfG 44(1996)1, S. 5–24. 337 Vgl. Festnahmebericht vom 16. Februar 1953; BStU, MfS, AU 309/54, Bd. 3, Bl. 13 f. Hier wird zur Legendierung festgehalten: »Durch diese Freiwilligkeit entstand der Eindruck einer Reise.« 338 Haftbeschluss der Verwaltung »W« Karl-Marx-Stadt vom 24. August 1953; BStU, MfS, AU 309/54, Bd. 2, Bl. 10.

Delikttypische Fallbeispiele

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merksam machte und sich dabei auf einzelne Verfassungsartikel berief. Für den Leiter der HA IX war damit erwiesen, dass Schlotterbeck »fortgesetzt in der Deutschen Demokratischen Republik führende Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands sowie Staatsfunktionäre verleumdet und sich dadurch eines Verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung […] sowie nach der Kontrollratsdirektive 38 III A III schuldig gemacht« hatte.339 Der Fall landete bei der Zentralen Parteikontollkommission (ZPKK), die sein Buch »Je dunkler die Nacht desto heller die Sterne« einstampfen ließ – hierin hatte er seine Widerstandserfahrungen seit 1933 verarbeitet.340 Am 11. September wurde Schlotterbeck aus der MfS-Untersuchungshaft in Karl-Marx-Stadt nach Berlin-Hohenschönhausen verlegt.341 Auch hier hatte er noch schwer unter den Folgen seiner Erkrankung zu leiden.342 Ende April 1954 wurde er vom Bezirksgericht Rostock wegen »Boykotthetze u. Verbreitung tendenziöser Gerüchte« zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren verurteilt, die er in der Haftanstalt Bützow-Dreibergen verbüßte. Am 15. Februar 1956 endete seine Haftstrafe. Friedrich Schlotterbeck verstarb 1979 in Groß-Glienicke.343 Werner Hoffmann (1926–1954) wurde im Juni 1953 gemeinsam mit vier Kollegen verhaftet. Ihnen wurde zur Last gelegt, dem amerikanischen Nachrichtendienst gegen Bezahlung geheime Dokumente ausgehändigt und andere dienstliche Informationen weitergegeben zu haben. Als Hauptreferent für die Stellenplaninspektion bei der Zentralen Kommission für staatliche Kontrolle war Hoffmann wie seine mitbeschuldigten Kollegen zuständig für die Aufsicht über die Haushalts- und Finanzplanung im MdI. Die Verwaltung Groß-Berlin 339 Haftbeschluss der HA IX vom 18. September 1953, unterzeichnet von Alfred Scholz (Leiter HA IX); BStU, MfS, AU 309/54, Bd. 3, Bl. 8. 340 Vgl. Weber, Hermann; Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2008, S. 795. Vgl. Schlotterbeck, Friedrich: Je dunkler die Nacht desto heller die Sterne. Erinnerungen eines deutschen Arbeiters 1933–1945, Berlin 1948 (Erstveröffentlichung Zürich 1945). 341 Seine Ehefrau Anna wurde bereits im August 1953 nach Hohenschönhausen gebracht. Sie hat ihre Erinnerungen in einem Erlebnisbericht verarbeitet, der 17 Jahre nach ihrem Tod erschien. Vgl. Schlotterbeck, Anna: Die verbotene Hoffnung. Aus dem Leben einer Kommunistin (mit einem Vorwort von Hans Noll), Hamburg 1990. Zur Haftzeit in Hohenschönhausen vgl. insbesondere S. 59 ff. 342 Vgl. Befund Sanitätsstelle Abt. XIV/1 vom 6. Februar 1954: »Noch erhebliche allgemeine Körperschwäche […]. Vorschlag: bis Ende Februar täglich 1/4 L. Vollmilch«; BStU, MfS, AS 132/79, Nr. 1450/53, Bl. 7. 343 Nach der Entlassung von Friedrich und Anna Schlotterbeck wurden beide rehabilitiert, ihre Haftstrafen aus dem Strafregister getilgt. Sie ließen sich in Groß-Glienicke nieder und arbeiteten fortan als Schriftsteller und Hörspielautoren. Im »Neuen Deutschland« wurde am 10. April 1979 eine Todesmitteilung zu Friedrich Schlotterbeck veröffentlicht; die Verhaftung und Verurteilung in der DDR fand hier keine Erwähnung: »Im Alter von 70 Jahren ist am Wochenende der Potsdamer Schriftsteller Friedrich Schlotterbeck verstorben. Seit früher Jugend mit dem Kampf der Arbeiterklasse verbunden, war er in der Zeit des Faschismus zehn Jahre eingekerkert. Diese schweren Jahre in Haft und des illegalen Kampfes hat er in seinem Buch ›Je dunkler die Nacht...‹ geschildert. Friedrich Schlotterbeck war Träger des Fontanepreises.« BStU, MfS, AU 309/54, Bd. 1, Bl. 254.

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des Staatssicherheitsdienstes nahm die fünf am 5. Juni 1953 fest, am Tag darauf leitete sie das Ermittlungsverfahren ein. Am 9. Juni wurden sie aus der Untersuchungshaftanstalt in der Pankower Kissingenstraße nach BerlinHohenschönhausen überführt. In den Vernehmungen befragten sie die MfS-Ermittler über mehrere Monate hinweg zu ihren Lebensläufen, zu ihrer beruflichen und sozialen Entwicklung in der DDR und schließlich zu ihren Motiven für den Verrat von Dienstgeheimnissen. Die Kontaktpersonen, Treffen und die Art der dabei übergebenen Unterlagen und Informationen bildeten den Schwerpunkt der oft stundenlangen Verhöre. In ihrem Schlussbericht kam die Untersuchungsabteilung schließlich zu dem Ergebnis, es lägen bei den Beschuldigten Verbrechen gemäß Artikel 6 der DDR-Verfassung und nach der Kontrollratsdirektive 38 vor.344 Am 1. September wurden sie nach Karl-Marx-Stadt verlegt, wo ein regelrechter Schauprozess gegen sie begann. Zwei der Angeklagten wurden zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt; gegen Werner Hoffmann allerdings verhängte das Gericht die Todesstrafe. Das Gnadengesuch lehnte Staatspräsident Wilhelm Pieck im Februar 1954 ab.345 Wenige Wochen später, am 20. März, wurde Hoffmann im Alter von 27 Jahren in der Dresdener George-Bähr-Straße gehenkt. Der ehemalige SED-Kreissekretär von Lobenstein (Bezirk Gera), Ewald Christiansen (geb. 1920), sowie Paul Behm (1915–1964), ehemaliger persönlicher Referent des 1. Sekretärs der Rostocker SED-Bezirksleitung, hatten sich nach den Ereignissen des 17. Juni 1953 von ihrer Partei distanziert. Christiansen lebte seitdem im Stadtteil Charlottenburg in Westberlin.346 Behm siedelte im Januar 1955 ebenfalls in den westlichen Teil der Stadt über. Christiansen arbeitete für eine amerikanische Dienststelle, die potenziell politisch unzuverlässige SED-Kader kontaktierte. Bei Behm befürchtete die SED aufgrund seiner ehemaligen Funktion im hauptamtlichen Parteiapparat offenbar ähnliche Aktivitäten. Um weiteren politischen Schaden abzuwenden, entschied sich das MfS für eine spektakuläre Aktion. Im Rahmen der Aktionen »Bandit« und »Blitz« sollten Mitarbeiter der Staatssicherheit Christiansen und Behm aus den Berliner Westsektoren nach Ostberlin entführen.347 Christiansen wurde durch den GM »Hansen« in seiner Stammkneipe am Charlottenburger S-Bahnhof mittels eines ins Getränk gemischten Narkotikums betäubt; am 2. Dezember 1954

344 Vgl. Schlussbericht der HA IX vom 6. August 1953; BStU, MfS, AU 1/54. 345 Vgl. Schreiben von RA Walter Bauer an Wilhelm Pieck (Gnadengesuch) vom 9. Oktober 1953; BStU, MfS, AU 1/54, Bd. 4, Bl. 199 f.; Ablehnungsschreiben von Wilhelm Pieck vom 24. Februar 1954; BStU, MfS, AU 1/54, Bd. 7, Bl. 51. 346 Vgl. Fricke; Engelmann: »Konzentrierte Schläge«, S. 207. 347 Vgl. ebenda, S. 204–214.

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gelangte er in die UHA Berlin-Hohenschönhausen.348 Hier lehnte er sich gegen die Haftbedingungen auf, unternahm sogar einen Suizidversuch. Für Juli 1955 findet sich ein Vermerk, dass Christiansen mit einer Zwangsjacke ruhiggestellt wurde.349 Das Bezirksgericht Rostock verurteilte ihn am 15. November 1955 unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe, die 1969 – abgesegnet durch den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht – auf 15 Jahre reduziert wurde.350 Seine Strafe verbüßte Christiansen unter anderem im Zuchthaus Brandenburg-Görden und im »Lager X« in Hohenschönhausen, nördlich des Untersuchungshaftkomplexes.351 Im November 1969 wurde er begnadigt und nach Westberlin entlassen. Paul Behm ereilte ein ähnliches Schicksal: Nach seiner Entführung aus Westberlin wurde er am 24. März 1955 in Hohenschönhausen eingeliefert; am 4. April leitete die HA IX das Ermittlungsverfahren gegen ihn offiziell ein. Nach vier Monaten schloss das Untersuchungsorgan den Fall mit dem Ergebnis, es lägen Verbrechen nach Artikel 6 DDR-Verfassung, nach der Kontrollratsdirektive 38 sowie den §§ 242 (»Diebstahl«), 267 (»Urkundenfälschung«), 332 (»Vorteilsnahme/Korruption«), 350 (»Unterschlagung«) und 74 StGB vor.352 Im gleichen Gerichtsverfahren wie Christiansen wurde Behm ohne Beistand eines Verteidigers zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt.353 Das MfS wertete den Prozess im Anschluss intern aus und bemängelte, dass trotz vorheriger Absprache mit dem Vorsitzenden Richter und dem Rostocker Staatsanwalt die Funktion Behms in der SED vor Gericht zu wenig Berücksichtigung gefunden hätte und stellte fest, dass es »zweckmäßiger […] gewesen [wäre], den Vorsitzenden und den Bezirksstaatsanwalt früher davon zu informieren«.354 Behm kam ebenfalls zur Strafverbüßung in das Hohenschönhausener »Lager X« und wurde Angehöriger der Lagerselbstverwaltung.355 Das Ende seiner Haftstrafe erlebte er jedoch nicht mehr. Am 10. September 1964 hat sich Paul Behm »mit einem ca. 1 m langen aus dünnem Bindfaden

348 Vgl. Plan für die Aktion »Bandit«; BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 1, Bl. 51–56. 349 Vgl. Bericht der Abt. XIV vom 8. Juli 1955; BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 3, Bl. 112. 350 Vgl. Schreiben vom 28. Februar 1969, gez. W. Ulbricht; BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 6, Bl. 1. 351 Zum Zuchthaus Brandenburg-Görden während der SED-Diktatur vgl. Ansorg, Leonore: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 15), Berlin 2005. 352 Vgl. Schlussbericht vom 5. Juli 1955; BStU, MfS, AU 399/55. 353 Vgl. Monatsbericht der HA IX für November 1955; BStU, MfS, HA IX, MF 11148, S. 27 (MfS-Paginierung): »Behm verzichtete auf einen Offizialverteidiger«. 354 Ebenda, S. 28 (MfS-Paginierung). 355 Zur Entwicklungsgeschichte des Lagers vgl. Erler, Peter: »Lager X«: Das geheime Haftarbeitslager des MfS in Berlin-Hohenschönhausen (1952–1972). Fakten, Dokumente, Personen (Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, 25), Berlin 1997.

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zusammengedrehten Strick […] im Aufgang zum Bühnenboden des Kultursaales erhängt«.356 Eleonore H.357 (geb. 1910) wurde Ende 1955 gemeinsam mit ihrem Ehemann beschuldigt, Informationen über Reichsbahnobjekte und in Karl-MarxStadt stationierte sowjetische Militäreinheiten an einen amerikanischen Geheimdienst weitergegeben zu haben.358 Auf Anweisung der örtlichen MfSKreisdienststelle (KD) wurden die beiden am 16. Dezember festgenommen und in die UHA in der Karl-Marx-Städter Hartmannstraße eingeliefert.359 Als die Vernehmer sie in elf tagelangen Verhören zu ihren Spionageabsichten, ihren Kontakten zu westlichen Geheimdienstmitarbeitern und zum Umfang ihrer Aufträge regelrecht in die Mangel nahmen, wurde ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation allem Anschein nach unerträglich. In der Vernehmung am 19. Januar 1956 griff sie in einem unbeobachteten Moment nach dem Tintenglas des Untersuchungsführers und trank es in einem Zug leer. Die Karl-Marx-Städter Staatssicherheit verbuchte diesen Verzweiflungsakt als Selbstmordversuch.360 Am 1. Februar 1956 gelangte Eleonore H. schließlich nach Hohenschönhausen. Hier wurde sie weitere 13 Mal vernommen. Erst im März 1956 schloss die HA IX das Ermittlungsverfahren ab.361 Die Untersuchungsführer schlugen vor, die Gerichtsverhandlung zum Fall H. vor erweiterter Öffentlichkeit durchzuführen und stellten geeignete Zuschauer zusammen, die während des Prozesses vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt anwesend sein sollten.362 Vor etwa »20 fortschrittlichen Arbeitern aus dem Verkehrswesen, den volkseigenen Maschinenbaubetrieben und staatlichen Verwaltungen, besonders aus den Betrieben, in denen die Beschuldigten tätig waren«, sollte im Gerichtssaal eindringlich davor gewarnt werden, »dass sich der amerikanische Geheimdienst bei der Durchführung seiner feindlichen Tätigkeit faschistischer Elemente […] bedient, um durch diese den Export von Maschinen der DDR nach den sozialistischen und kapitalistischen Ländern in Erfahrung zu brin-

356 BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 13, Bl. 7. 357 Name pseudonymisiert. 358 Die Übergabe sei dabei durch sogenannte Tote Briefkästen (TBK) erfolgt. 359 Vgl. Haftbeschluss der KD Karl-Marx-Stadt vom 16. Dezember 1955. Das Ermittlungsverfahren wurde wegen »Spionage« (ohne Angaben entsprechender gesetzlicher Normen) am 17. Dezember von der Abt. IX in Karl-Marx-Stadt eingeleitet. Das KG Karl-Marx-Stadt erließ den gleichlautenden Haftbefehl am selben Tag. BStU, MfS, AU 138/56. 360 Aktennotiz (Suizidversuch während Vernehmung) vom 19. Januar 1956; BStU, MfS, AU 138/56, Bd. 4, Bl. 73. 361 Hierin kam sie zu dem Ergebnis, es lägen Verbrechen gemäß Artikel 6 DDR-Verfassung vor. Vgl. Schlussbericht der HA IX vom 9. März 1956; BStU, MfS, AU 138/56. 362 Vgl. »Plan für die Vorbereitung eines Prozesses vor erweiterter Öffentlichkeit zur Aburteilung von geworbenen Agenten des amerikanischen Geheimdienstes« vom 24. April 1956; BStU, MfS, AU 138/56, Bd. 4, Bl. 173–178.

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gen«.363 Letztlich war beabsichtigt, dass »die Bevölkerung und insbesondere die Werktätigen« durch den Prozess »zu höherer Wachsamkeit angehalten und erzogen werden«.364 Am 9. Juni 1956 erging schließlich das Urteil. Über Eleonore H. wurde eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren verhängt, die sie im Frauengefängnis Hoheneck im sächsischen Stollberg verbüßte. Am 18. Juli 1962 wurde sie auf Bewährung entlassen.

Fluchtversuche Die Bekämpfung der »Republikflucht« aus der DDR war spätestens ab 1960 ein Aufgabenschwerpunkt des MfS.365 Allen Diensteinheiten der Stasi oblag es, Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu vereiteln und sie durch den Einsatz geheimdienstlicher Methoden daran zu hindern, die Staatsgrenze zu überwinden und sich von ihrer Heimat (für immer) loszusagen. Die Kernaufgabe der HA IX bestand dabei im Wesentlichen darin, derartige Pläne und Handlungen als kriminelle Delikte zu verfolgen und durch richterliche Verurteilungen gemäß jeweils gültiger Rechtsnormen für die Disziplinierung derjenigen zu sorgen, die künftig ähnliche Absichten zum Verlassen ihres Landes hegen würden. Seit 1957 waren Versuche, die DDR gen Westen zu verlassen, durch den im Dezember dieses Jahres novellierten § 8 des Passgesetzes als kriminelle Handlungen definiert und somit juristisch zu ahnden.366 Die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR war zwar bereits seit 1952 weitestgehend geschlossen, allerdings bot sich Fluchtwilligen mit der nach wie vor offenen Passage innerhalb der beiden Teile Berlins weiterhin die Möglichkeit, den SED-Staat zu verlassen. Doch auch die von der Staatsführung veranlasste Abriegelung der Berliner Sektorenübergänge im August 1961 änderte in vielen Fällen nichts daran, dass Menschen ihrem Land den Rücken kehren und – nun unter erheblicher Gefahr für Leib und Leben – die Flucht nach Westberlin oder in die Bundesrepublik wagen wollten. Bis zum Ende der DDR sollte dieser Personenkreis den Staatssicherheitsdienst und auch die Ermittler seines Untersuchungsorgans maßgeblich beschäftigen: Gut die Hälfte aller im Zeit-

363 Ebenda, Bl. 177 f. 364 Ebenda. 365 Vgl. Eisenfeld, Bernd; Engelmann, Roger: 13. August 1961. Mauerbau. Fluchtbewegung und Machtsicherung, Bremen 2001, S. 17–38. 366 Vgl. Gesetz zur Änderung des Passgesetzes der Deutschen Demokratischen Republik (PassGÄ) vom 11. Dezember 1957, GBl. 1957 I, S. 650.

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raum zwischen 1968367 und 1989 von der Linie IX landesweit eingeleiteten Verfahren befasste sich mit Fluchtdelikten im engeren Sinne.368 Meinhard P.369 (geb. 1936) arbeitete 1964 als wissenschaftlicher Oberassistent in Ostberlin. Im September nahm er berufsbedingt an einer zehntägigen Tagung in Prag teil, an deren Ende er von tschechischen Grenzsoldaten aufgegriffen wurde. »Im Besitz eines Marschkompasses u[nd] einer Landkarte der DDR« wurde er »etwa 10 m vor der Staatsgrenze ČSSR/Österreich festgenommen«, wo sich P. trotz mehrerer abgegebener Warnschüsse versteckt haben soll.370 Nach kurzem Haftaufenthalt in Budweis/České Budějovice wurde er auf dem Landweg in die DDR-Hauptstadt überführt und gelangte so vier Tage nach seiner Festnahme in die UHA Berlin-Hohenschönhausen. Hier gab er in einem ersten Verhör an, »bei seiner Wanderung vom Weg abgekommen […] u[nd] versehentlich ins Grenzgebiet« geraten zu sein.371 Die Ermittler nahmen ihm diese Behauptung allerdings nicht ab. Sie erstellten einen umfangreichen Maßnahmeplan für ihre Untersuchungen, um nicht nur den mutmaßlichen Tathergang zu rekonstruieren, sondern auch um Angaben über P.s berufliches und privates Umfeld, seine »psychische Veranlagung und eventuelle Absichten des illegalen Verlassens der DDR« zu erarbeiten.372 Sein »Persönlichkeitsbild«, sein Verhalten und seine Tätigkeit am Arbeitsplatz, sein »Auftreten […] im Wohngebiet« und nicht zuletzt seine »Verbindungen nach Westberlin, Westdeutschland und dem kapitalistischen Ausland« waren für seinen Untersuchungsführer Peter Karl Matuschek besonders interessant.373 Die Genossen der HA XVIII/5 (Volkswirtschaft, Abteilung Wissenschaft und Technik)374 aktivierten zusätzlich einen Informanten an P.s Arbeitsstelle, welcher von einem weiteren Tagungsteilnehmer erfragen sollte, unter welchen genauen Umständen sich der nun Inhaftierte von den anderen Delegationsmitgliedern getrennt hatte. P. habe sich demnach am eigentlichen Rückreisetag von einem Kollegen mit der Bemerkung verabschiedet, »er wollte noch einmal ins Riesengebirge zum Klettern fahren und käme mit dem

367 In diesem Jahr trat § 213 StGB (ungesetzlicher Grenzübertritt) als Strafrechtsnorm in Kraft. 368 Berücksichtigt wurden ausschließlich von der Linie IX auf der Grundlage von § 213 StGB eingeleitete Ermittlungsverfahren. Typische »Ausreisedelikte« der siebziger und achtziger Jahre wie beispielsweise § 214 wurden nicht miteinbezogen. 369 Name pseudonymisiert. 370 Deliktekartei der HA IX/3; BStU, ohne Signatur. 371 Ebenda. 372 Informationsbericht der HA IX/3 vom 30. September 1964 über »Durchzuführende Maßnahmen«; BStU, MfS, AU 7524/65, Bd. 1, Bl. 87–90. 373 Ebenda, Bl. 90. 374 Zur Abteilung 5 der HA XVIII vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Die Hauptabteilung XVIII. Volkswirtschaft (MfS-Handbuch, III/10), Berlin 1997, S. 26 ff. sowie Buthmann, Reinhard: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR, Berlin 2000.

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Abendzug nach«.375 Allerdings fehlte auch nach mehreren Tagen jede Spur, sogar P.s »Ehefrau [hatte] keine Nachricht von ihm«.376 Dass er sich bereits in Haft befand, vermuteten zu diesem Zeitpunkt weder seine Gattin noch seine Kollegen. Um auch im Gefängnis alle verfügbaren Informationsquellen »abzuschöpfen«, setzten die Ermittler einen Zellenspitzel auf den Betroffenen an. Dieser Mithäftling konnte allerdings in seinen Berichten an den Vernehmer lediglich vermerken, dass P. nicht sonderlich gesprächig sei, »wie er grundsätzlich jede verfängliche Frage unbeantwortet [ließe], aus Misstrauen, es könnte eine Abhöranlage in der Zelle angebracht sein«.377 Den Überwachungseifer des MfS hatte P. damit zwar richtig eingeschätzt; dass die Vernehmer allerdings auf seinen Mithäftling zurückgriffen, um seine Gedankengänge auch außerhalb der Verhörtermine in Erfahrung zu bringen, ahnte er damals wohl nicht. Trotz des anfänglichen Bemühens, P. eine strafbare Handlung nachzuweisen, nahmen die Untersuchungen der HA IX schließlich eine unerwartete Wendung. Im Februar 1965 ordneten die Ermittler ein psychiatrisches Gutachten über P.s Zurechnungsfähigkeit an. Der Nervenarzt Manfred Ochernal bescheinigte dem Beschuldigten nach mehreren Untersuchungen allerdings, dieser sei »voll verantwortlich« und dementsprechend auch »verhandlungsfähig«.378 Doch offenbar hatte das MfS zu diesem Zeitpunkt bereits gar nicht mehr im Sinn, den Ingenieur für seine angeblichen Fluchtabsichten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die Geheimdienstler versprachen sich von dem hochqualifizierten Wissenschaftler möglicherweise mehr, wenn er an seinen Arbeitsplatz zurückkehren und dort unter Beobachtung bleiben würde. So entschlossen sich die Ermittler der HA IX in Absprache mit den Kollegen der HA XVIII dazu, P. aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Schließlich konnte trotz »Würdigung aller Umstände und Zusammenhänge […] während des Ermittlungsverfahrens nicht der Nachweis erbracht werden, dass […] P[.] während seines Aufenthaltes im tschechoslowakisch-österreichischen Grenzgebiet Vorbereitungen getroffen oder den Versuch unternommen hat, die DDR auf illegalem Wege zu verlassen«.379 Das MfS hatte stattdessen vorgesehen, »P[.] unter operative Kontrolle zu nehmen«.380 Am 29. März 1965 verließ 375 Bericht des GI »Hans« der HA XVIII/5/II vom 28. September 1964; BStU, MfS, AU 7524/65, Bd. 1, Bl. 31. 376 Ebenda. 377 ZI-Bericht vom 20. November 1964; BStU, MfS, AU 7524/65, Bd. 1, Bl. 7. 378 Nervenfachärztliches Gutachten von Dr. Manfred Ochernal, Haftkrankenhaus Waldheim, vom 12. Februar 1965; BStU, MfS, AU 7524/65, Bd. 2, Bl. 175. Wenige Jahre später verfasste der Psychiater ein einschlägiges Lehrbuch für die Kriminalistikausbildung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vgl. Ochernal, Manfred: Einführung in die forensische Psychiatrie für Kriminalisten. Lehrmaterial der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin (Ost) 1973. 379 Entlassungsbeschluss der HA IX/3 vom 23. März 1965; BStU, MfS, AU 7524/65, Bd. 1, Bl. 201. 380 Ebenda, Bl. 207.

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Meinhard P. die Hohenschönhausener Haftanstalt, nicht ohne sich vorher gegenüber den Ermittlern dazu zu verpflichten, »über wichtige Einzelheiten [seiner] Untersuchungshaft […] Schweigen zu bewahren«.381 Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Die Krankenschwester Manuela L.382 (geb. 1951) aus Berlin wurde im Dezember 1973 an der tschechisch-ungarischen Grenze aufgegriffen. L. hatte im vorangegangenen Frühling Kontakt zu einer Fluchthelfergruppe aufgenommen, die bereits seit längerer Zeit durch das MfS beobachtet wurde. Ihre Fluchtabsichten waren somit vorab bekannt. L. trug sich schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, die DDR zu verlassen und in der Bundesrepublik einen Neuanfang zu wagen. Ende der sechziger Jahre begann sie eine Liebesbeziehung mit einem Mann aus Westberlin, der sich schließlich bereit erklärte, ihr bei diesem Schritt zu helfen. Ihr Stiefvater, Archivangestellter beim SEDZentralkomitee, hatte das Verhältnis bei seinem Arbeitgeber gemeldet und dabei seine Befürchtung geäußert, die beiden führten etwas im Schilde.383 L.s Bekannter wurde daraufhin vom MfS überwacht und im Februar 1969 mit einer Einreisesperre versehen.384 Kurz darauf begann der Staatssicherheitsdienst, den Briefwechsel der beiden zu kontrollieren.385 Seit Anfang des Jahres 1973 war sie erneut mit einem Westberliner liiert. Zunächst stellte sie förmlich einen Antrag auf Ausreise, um zu ihrem Verlobten übersiedeln zu können. Da sich beide hiervon allerdings keinen allzu großen Erfolg versprachen, bot L.s Partner ihr schließlich an, sie gegen Bezahlung aus der DDR auszuschleusen. Von diesen Plänen erfuhr jedoch das MfS und eröffnete gegen die beiden einen Operativ-Vorgang.386 Der Westberliner Be381 Schweigeverpflichtung vom 29. März 1965; ebenda, Bl. 210. 382 Name pseudonymisiert. 383 So meldete ihr Vater dem Kaderinstrukteur des Instituts für Marxismus-Leninismus seine Vermutung, dass seine Stieftochter »warten will bis sie volljährig ist um diesen womöglich noch zu heiraten. Oder er versucht sie illegal auszuschleusen«. Aktenvermerk der HA XX/AG 1 vom 19. Dezember 1968; BStU, MfS, AOP 5846/75, Bl. 15. 384 Vgl. Vermerk der HA XX/AG 1 vom 27. Februar 1969; ebenda, Bl. 34. Zur Begründung: »[…] beeinflusst die Stieftochter negativ und schleuste verbotene Literatur ein, die er ihr zum lesen [sic!] gab. Es besteht der Verdacht der Ausschleusung«. Ihr Freund hatte L. den in der DDR verbotenen Roman »Doktor Schiwago« von Boris Pasternak mitgebracht. 385 Vgl. Vermerk der HA XX/AG 1 über Einleitung der M-Kontrolle vom 3. März 1969; BStU, MfS, AOP 5846/75, Bl. 36. 386 Vgl. Beschluss über das Anlegen eines Operativen Vorgangs vom 10. Dezember 1973, BV Groß-Berlin, KD Friedrichshain; BStU, MfS, AOP 5846/75, Bl. 7. Als »Gründe für das Anlegen« wurden genannt: »Der in Westberlin lebende BRD-Bürger […] hat die Absicht, im Zeitraum vom 08.12.–20.12.73 die DDR-Bürgerin L. mit Hilfe einer MHO in das Gebiet der BRD bzw. Westberlins auszuschleusen.« Der OV gegen den Freund von L. wurde am 21. März 1974 eingestellt, »da der Verdächtige seit der Inhaftierung seiner Verlobten durch das MfS nicht mehr in die Hauptstadt der DDR eingereist ist. Gegen den Verdächtigen wurden vorbeugende-op. [sic!] Maßnahmen eingeleitet«. Beschluss über das Einstellen eines Operativen Vorgangs vom 21. März 1974; BStU, MfS, AOP 5846/75, Bl. 172.

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kannte wurde bereits im September zur Fahndung ausgeschrieben, künftig seien »die Ein- und Ausreisen […] unverzüglich der auftraggebenden Diensteinheit mitzuteilen«.387 Als dem MfS hinreichende Beweise für die geplante Flucht vorlagen, unternahmen die Geheimdienstler Anfang Dezember mehrere Versuche, L. zu Hause oder bei ihrer Arbeitsstelle festzunehmen.388 Allerdings erfolglos; die Gesuchte war bereits auf dem Weg nach Prag. Tschechische Kontrollposten nahmen L. schließlich am 10. Dezember 1973 bei dem Versuch fest, die Grenze zu Ungarn zu passieren.389 Vier Tage nach ihrer Gefangennahme gelangte Manuela L. in die Haftanstalt Hohenschönhausen, wo die HA IX/9 ein Ermittlungsverfahren wegen »ungesetzlichen Grenzübertritts« und »staatsfeindlicher Verbindungen« gemäß §§ 213 und 100 StGB gegen sie einleitete. Rund vier Monate später waren die Untersuchungen abgeschlossen; die Ermittler erbaten sich in ihrem Schlussbericht an den Staatsanwalt »aus Gründen der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen« einen nicht-öffentlichen Gerichtsprozess.390 Im Mai 1974 erging das Urteil des Stadtgerichts Berlin. Manuela L. wurde zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die sie unter anderem im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck verbüßte. Sie wurde allerdings vorzeitig entlassen und erreichte am 24. September 1975 die Bundesrepublik. Berthold L.391 (geb. 1951) wurde im Januar 1978 ebenfalls am Grenzübergang Marienborn verhaftet. Bei einer Fahrzeugdurchsuchung entdeckten ihn Mitarbeiter der »Passkontrolleinheit« (PKE) in einem Kofferraumversteck. Sein Westberliner Fluchthelfer wurde bei dieser Gelegenheit ebenfalls festgenommen.392 L. hatte bereits im Herbst 1977 bei einem Berliner Stadtbezirksrat einen Antrag gestellt, in die Bundesrepublik ausreisen zu dürfen. Wie zu erwarten war, wurde sein Wunsch mit der Begründung nicht erfüllt, es handele sich hierbei schließlich um ein »rechtswidriges Übersiedlungsersuchen«.393 Für L. war die Lage nun so aussichtslos, dass er Kontakt zu einer Fluchthelfergruppe aufnahm. An der Entscheidung, seinem Heimatland den Rücken zu kehren, konnte auch die Festnahme nichts ändern. Von den Sicherheitsorganen ließ sich der 26-Jährige weder an der Grenzübergangsstelle (GÜSt) noch in der Untersuchungshaft der Stasi übermäßig einschüchtern. Als er in Marienborn das Protokoll über seine erste Vernehmung abzeichnen sollte, äußerte er ge387 Fahndungsauftrag der KD Friedrichshain vom 26. September 1973; ebenda, Bl. 50. 388 Vgl. Vermerk der KD Friedrichshain vom 8. Dezember 1973; ebenda, Bl. 87. 389 Vgl. Schlussbericht der KD Friedrichshain zum OV »Zitter« vom 21. März 1974; ebenda, Bl. 170. 390 Vgl. Schlussbericht der HA IX/9 vom 13. März 1974, BStU, MfS, AU 5105/76, Bd. 1, Bl. 424. 391 Name pseudonymisiert. 392 Beide Personen wurden im selben Untersuchungsvorgang bearbeitet. Vgl. BStU, MfS, AU 23478/80. 393 Gesprächsvermerk, September 1977; BStU, MfS, BV Berlin, AOP 1011/86, Bd. 2, Bl. 48–51.

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genüber den Uniformierten, »dass er in diesem Staat nichts mehr unterschreiben wird und sich erstmal einen Rechtsanwalt nehmen will. Danach [würde] er dann seine nächsten Handlungen richten«.394 L. kam noch am Tag seiner Festnahme nachts um halb elf in Hohenschönhausen an.395 Auch hier ordnete er sich nicht unter, sondern begehrte gegen das Haftregime auf. Am Morgen nach seiner Einlieferung drohte er an, in einen Hungerstreik zu treten.396 Gegenüber seinem Vernehmer klagte er über Kopfschmerzen, die es ihm schlicht unmöglich machen würden, weitere Aussagen zu machen.397 Auch in Hohenschönhausen weigerte er sich, einzelne Verhörprotokolle zu unterschreiben, weil »er die Richtigkeit der Anfertigung […] bezweifelt[e] und er sich darüber erst mit einem Rechtsanwalt konsultieren« wollte.398 Nach seiner Meinung über die »gesellschaftlichen Verhältnisse« gefragt, kritisierte L. vor allem die fehlende Reisefreiheit; die DDR hätte »in Helsinki zwar unterschrieben«, das individuelle Recht auf freie Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes zu beachten, »jedoch bezüglich der Regelung der Besuche von DDR-Bürgern in der BRD und Westberlin sowie anderer kapitalistischer Länder habe [L.] bisher nichts gemerkt«.399 Ein Leben in der DDR könne er sich aus vielerlei Gründen nicht mehr vorstellen; ihm fehle die Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben.400 Drei Monate lang waren vier Vernehmer der HA IX auf L. angesetzt.401 Mitte April 1978 war das Untersuchungsverfahren gegen ihn schließlich beendet und die Ermittler übergaben die Akten dem Staatsanwalt mit der Bitte, die Gerichtsverhandlung »im Interesse der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen« unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen.402 Im Juli 1978 kam es zum Prozess vor dem Berliner Stadtgericht. L. wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Bereits nach neun Monaten im Berliner und Cottbusser Strafvollzug konnte er das Gefängnis im April 1979 in Richtung Westen verlassen. Die Bundesrepublik hatte Berthold L. freigekauft.

394 Aktenvermerk zur Vernehmung vom 19. Januar 1978; BStU, MfS, AU 23478/80, Bd. 2, Bl. 120. 395 Vgl. Einlieferungsprotokoll vom 20. Januar 1978; BStU, MfS, AS 195/89, Nr. 7968/89, Bl. 26. 396 Vgl. Aktenvermerk vom 20. Januar 1978; BStU, MfS, AU 23478/80, Bd. 2, Bl. 198. 397 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 20. Januar 1978; ebenda. 398 Aktenvermerk vom 24. Januar 1978; ebenda, Bl 206. 399 Vernehmungsprotokoll vom 20. Februar 1978; ebenda, Bl. 126. 400 Vgl. ebenda, Bl. 125–127. 401 Karl-Heinz Francke, Lothar Uebel, Manfred Knappe und Wilfried Wilsenack waren in diesem Ermittlungsverfahren Untersuchungsführer. Vgl. BStU, MfS, AS 195/89, Nr. 7968/89. 402 Schlussbericht der HA IX/9 vom 14. April 1978; BStU, MfS, AU 23478/80, Bd. 2, Bl. 419. Aus Sicht des Untersuchungsorgans lagen Delikte gemäß §§ 100 Abs. 1, 213 Abs. 1 und 2 Ziff. 2 und 3 Abs. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 2 Ziff. 3, 63 StGB sowie § 6 Abs. 1 Ziff. 2 Verordnung zum Schutze der Staatsgrenze vor.

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Der Ostberliner Koch Rainer S.403 (geb. 1961) entschloss sich im November 1987 zur Flucht nach Westberlin. Seit etwa eineinhalb Jahren war er mit einer Bundesbürgerin liiert und wollte mit ihr zusammenleben. Da sie allerdings keineswegs die Absicht hatte, in die DDR überzusiedeln, traf S. die Entscheidung »zum illegalen Verlassen« seines Landes.404 Am 15. Dezember versuchte er, die innerstädtische Grenze zwischen den voneinander durch die Mauer getrennten Bezirken Treptow und Neukölln zu überqueren. Er begab sich mit einer Leiter ausgerüstet auf das Gelände einer Kleingartenkolonie in direkter Nachbarschaft zu den Grenzsicherungsanlagen. Obwohl er deren Dimensionen nicht genau kannte, hatte S. vor, an dieser Stelle über die Berliner Mauer zu klettern. Wegen »verstärkter Streifentätigkeit der Grenztruppen« an diesem Abschnitt bekam er es allerdings bald mit der Angst zu tun und fürchtete, von den Soldaten entdeckt zu werden. Er gab sich daher den Posten zu erkennen und wurde sofort festgenommen.405 Am nächsten Morgen gelangte er nach Hohenschönhausen. Hier verbrachte er nur eine weitere Nacht, bevor sich die HA IX dazu entschloss, das Ermittlungsverfahren gegen den gebürtigen Thüringer in die Provinz zu verlagern und den Fall an die Kollegen der Erfurter Untersuchungsabteilung zu übergeben. Nach einem Monat in der dortigen Haftanstalt gelang es den Vernehmern, S. als »Zelleninformator« (ZI) anzuwerben. Damit trat er nicht zum ersten Mal in die Dienste der Staatssicherheit. Seinen Wehrdienst hatte S. in einer Wachschutzeinheit des MfS abgeleistet, aus der er allerdings nach kurzer Zeit aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden musste. Die Gothaer Kreisdienststelle der Stasi übernahm daraufhin die »operative Nutzung« von Rainer S., der »einige gute Ergebnisse« brachte und »sich problemlos in der Arbeit nach RL 1/79 verhielt«.406 Als inoffizieller Mitarbeiter hatte er sich außerhalb der Gefängnismauern aus Sicht des MfS demnach bereits bewährt. Die Erfurter Ermittler wollten daher in der Haftanstalt auf seinen Erfahrungsschatz zurückgreifen und verpflichteten ihn zur Zusammenarbeit als Zellenspitzel. Um in ihm jedoch keine falschen Hoffnungen aufkeimen zu lassen, ließen sie ihn unterschreiben, dass seine Kooperation absolut »freiwillig« sei und er wisse, dass er dadurch »keinerlei Vorteile in Bezug auf [s]ein Strafmaß […] erlangen« würde.407 Zweieinhalb Monate lang horchte er seine Mithäftlinge aus und 403 Name pseudonymisiert. 404 Deliktekartei der BV Erfurt; HA IX/5; BStU, ohne Signatur. 405 Vgl. ebenda. 406 Beschluss über das Anlegen eines IM-Vorganges der BV Erfurt (Abt. IX) vom 25. Januar 1988; BStU, MfS, BV Erfurt, AZI 1068/88, Bl. 6a. Die Richtlinie 1/79 regelte MfS-intern unter anderem die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern im Rahmen operativer Vorgänge. Im Original ist fälschlicherweise von der Richtlinie 1/76 die Rede; diese hat allerdings die Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) zum Thema. 407 Verpflichtungserklärung vom 21. Januar 1988; BStU, MfS, BV Erfurt, AZI 1068/88, Bl. 4.

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berichtete dem Erfurter Untersuchungsorgan. Als ihn das Gothaer Kreisgericht Ende März 1988 wegen »versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts«408 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilte und sich abzeichnete, dass S. demnächst in den Strafvollzug verlegt werden würde, wurde dessen geheimdienstliche »Nutzung« beendet. Im April wurde Rainer S. von seiner Tätigkeit für das MfS entbunden und »über die Schweigepflicht belehrt«.409 Wenige Tage später wurde der ZI-Vorgang zu den Akten gelegt.

Fluchthilfe In unmittelbarem Zusammenhang mit den oben behandelten Fällen von »ungesetzlichem Grenzübertritt« sind auch von der SED-Justiz als Straftaten begriffene Versuche zu sehen, DDR-Bürgern zur Flucht nach Westberlin oder in die Bundesrepublik zu verhelfen. Mit dem Strafrechtsergänzungsgesetz von 1957 wurden derartige Handlungen als Reaktion auf die nicht abreißende Fluchtbewegung erstmals explizit als Straftatbestand definiert.410 In der Hohenschönhausener Ermittlungszentrale entfielen allein im Zeitraum zwischen 1958 und 1968411 16 Prozent der strafrechtlichen Untersuchungen auf den einschlägigen § 21 StEG (»Verleiten zum Verlassen der Republik«). Vor dem Bau der Mauer stand dabei eher die Abwerbung von DDR-Bürgern im Vordergund. Nach dem Bau der Berliner Mauer wurde diese Strafrechtsnorm fast ausschließlich gegen Fluchthelfer angewandt, die angesichts der für erfolgreiche Fluchten erschwerten Bedingungen eine immer größere Rolle spielten. Die Fluchthelfer professionalisierten ihre Techniken angesichts der zunehmend undurchdringlicheren Absperrungen. An der innerstädtischen Grenze zwischen dem Ost- und Westteil Berlins kam es zu zahlreichen spektakulären Tunnelbauten, deren Verantwortliche vom MfS rigoros verfolgt wurden. Nach dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches von 1968 wurde Fluchthilfe zumeist nach § 105 (»staatsfeindlicher Menschenhandel«) verfolgt. Auch in den siebziger Jahren gehörten derartige Delikte weiterhin unter den von der Stasi eingeleiteten Ermittlungsverfahren zu den am stärksten vertretenen: Seit dem deutsch-deutschen Transitabkommen stellten Bundesbürger, Westberliner oder ausländische Diplomaten teilweise ihre eigenen Fahrzeuge zur Verfügung, um DDR-Bürger in hierfür ausgebauten Kofferraumverstecken über die offiziellen Grenzübergangsstellen außer Landes zu schmuggeln. Viele

408 § 213 Abs. 1 und 3 Ziff. 2 Abs. 4 StGB. 409 Entpflichtungserklärung vom 6. April 1988; BStU, MfS, BV Erfurt, AZI 1068/88, Bl. 3. 410 Vgl. § 21 StEG (»Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik«), GBl. 1957 I, S. 645. 411 In diesem Jahr trat das neuerlich reformierte Strafgesetzbuch der DDR in Kraft.

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von ihnen ließen sich ihre risikobehafteten Dienste nun finanziell entsprechend honorieren. Schließlich wurde der »staatsfeindliche Menschenhandel« nach dem DDR-Strafgesetzbuch »mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren« geahndet.412 Für zahlreiche Personen, die aus ideellen oder aber aus kommerziellen Beweggründen DDR-Bürgern einen Neuanfang im Westen ermöglichen wollten, endete eine vereitelte Fluchthilfeaktion mit der Festnahme und der Einlieferung in ein Stasi-Untersuchungsgefängnis. Nicht wenige von ihnen gelangten nach ihrer Verhaftung in die Hohenschönhausener Ermittlungszentrale. Dietrich G.413 (geb. 1937) wurde 1962 nach einer »Tunnelbau«-Aktion verhaftet.414 Rund ein Jahr nach dem Mauerbau hatte sich der gebürtige Berliner einer im MfS-Sprachgebrauch als »Menschenhändlerorganisation« (MHO)415 bezeichneten Fluchthelfergruppe angeschlossen. Er wollte Bürger der DDR nach der vollständigen Abriegelung der innerdeutschen Grenze dabei unterstützen, aus Ostberlin in den Westen zu entkommen. Am 15. August 1962 wurde G. gemeinsam mit zahlreichen weiteren Mitbeschuldigten verhaftet, weil er sich an der »Vorbereitung und Organisation des gewaltsamen Grenzdurchbruches […] beteiligt, [am] Tunnelbau mitgearbeitet« und zusätzlich angeblich »Waffen für die Terrororganisation« beschafft hatte.416 Er stand im Verdacht, mit der studentischen Fluchthelfergruppe um Detlef Girrmann in Kontakt zu stehen und zusammenzuarbeiten.417 Das MfS leitete noch am selben Tag das Ermittlungsverfahren aufgrund von §§ 17 (»staatsgefährdende Gewaltakte«) und 21 StEG (Verleitung zum Verlassen der DDR) gegen G. ein.418 In rund zehn Vernehmungen, die die HA IX teils bis spät in die Nacht andauern ließ,419 wurde er ausgiebig zu seinen Kontakten zu den Westberliner Fluchthelfern, zu deren geplanten Vorhaben, aber auch zu seinen eigenen Motivationen befragt. Das MfS übernahm in diesem Fall die Koordination, um den Prozess gegen die angebliche »terroristische« Gruppe propagandistisch zu instrumentalisieren. Die HA IX empfahl 412 § 105 StGB vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 26. 413 Name pseudonymisiert. 414 Zum Kontext des Verfahrens vgl. beispielsweise Voigt, Dieter: Machtokkupation und Systemimplosion. Anfang und Ende der DDR, zehn Jahre danach (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 80), Berlin 2001, S. 57 f. 415 Vgl. Richter; Eiselt (Hg.): Abkürzungsverzeichnis, S. 53. 416 Haftbeschluss der HA II/3 vom 16. August 1962; BStU, MfS, AU 19951/62, Bd. 1, Bl. 7. 417 Vgl. ebenda. Zur Fluchthelfergruppe um Detlef Girrmann vgl. beispielsweise Arnold, Dietmar; Kellerhoff, Sven-Felix: Die Fluchttunnel von Berlin, Berlin 2011, S. 81 ff.; Nooke, Maria; Dollmann, Lydia (Hg.): Fluchtziel Freiheit. Berichte von DDR-Flüchtlingen über die Situation nach dem Mauerbau – Aktionen der Girrmann-Gruppe (Veröffentlichungen der Stiftung Berliner Mauer), Berlin 2011, S. 19–48; Detjen, Marion: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989, München 2005, insbesondere S. 160–163. 418 Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens; BStU, MfS, AU 19951/62. 419 Vgl. beispielsweise das Vernehmungsprotokoll vom 21. August 1962. Die Vernehmung begann um 10.30 Uhr und endete erst um 1.30 Uhr in der Nacht auf den 22. August. Ebenda.

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jedoch, aus konspirativen Gründen vor Gericht auf bestimmte Einzelheiten zu den Tunnelbauten nicht einzugehen.420 Umrahmt von einer breiten Berichterstattung im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« und in anderen Tageszeitungen begann nur zwei Wochen nach ihrer Festnahme die Hauptverhandlung gegen die Fluchthelfer vor dem Obersten Gericht der DDR.421 Generalstaatsanwalt Josef Streit vertrat die Anklage gegen den 25-Jährigen, der sich »von den Ultras in Bonn und Schöneberg [Sitz des Regierenden Bürgermeisters und des Berliner Abgeordnetenhauses] zum Werkzeug eines neuen Weltbrandes [habe] machen« lassen.422 Der Präsident des Obersten Gerichtes der DDR, Heinrich Toeplitz, saß dem Prozess als Verhandlungsführer vor. Am 3. September 1962 wurde Dietrich G. schließlich zu einer zwölfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt.423 Der Richterspruch sollte nicht nur die Fluchthelfergruppe strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, sondern auch »gleichzeitig eine Warnung für alle diejenigen sein, die glauben, sie könnten Sicherheit und Souveränität der DDR antasten«.424 Selbst nach seiner rechtskräftigen Verurteilung vernahm ihn das MfS als Zeuge in Ermittlungsverfahren gegen weitere Mitglieder der »MHO Girrmann«.425 Die Untersuchungshaftanstalt verließ G. daher erst im März 1963, er wurde in das Hohenschönhausener »Lager X« verlegt. 1964 konnte er den Strafvollzug und die DDR verlassen, die Bundesrepublik hatte ihn freigekauft. Georg B.426 (geb. 1944) arbeitete Mitte der sechziger Jahre als Kellner in Westberlin. 1967 hatte er sich vom Ministerium für Staatssicherheit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) anwerben lassen;427 die Stasi war an seinen losen Kontakten zur Fluchthelfergruppe um Kurt Wordel interessiert.428 Als das MfS einzelne Mitglieder festnehmen ließ, kam B. mit unter die Räder: Um unter

420 Vgl. Empfehlungen der HA IX zur Prozessführung; BStU, MfS, AU 19951/62, Bd. 2, Bl. 214 f. 421 Vgl. Haupt, Klaus; Böhme, Günter: »DDR wehrt mit fester Hand den Verbrechen der Ultras. Strafanträge gegen die Spione und Terroristen vor dem Obersten Gericht«. In: Neues Deutschland vom 1. September 1962 (Berliner Ausgabe), S. 1; »Verbrechen und Verbrecher gegen die Menschlichkeit«. In: Neues Deutschland vom 2. September 1962 (Berliner Ausgabe), S. 6. 422 »Bandit G[.] gesteht: ›Wir hätten geschossen‹. Vom Prozess vor dem Obersten Gericht«. In: Neues Deutschland vom 30. August 1962 (Berliner Ausgabe), S. 1 f. 423 Die Mitangeklagten wurden zu lebenslänglichen Zuchthausstrafen, zu sieben und sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Vgl. »Urteil gegen Unmenschlichkeit. Oberstes Gericht verhängte Zuchthausstrafen für Spione und Terroristen«. In: Neues Deutschland vom 4. September 1962 (Berliner Ausgabe), S. 1. 424 Ebenda. 425 Vgl. Vernehmungsprotokolle vom 19. September, 14. und 20. November 1962; BStU, MfS, AU 19951/62. Zu den daraus resultierenden Gerichtsverfahren vgl. »Vom Verlauf des Prozesses vor dem Obersten Gericht der DDR«. In: Neues Deutschland vom 28. Dezember 1962 (Berliner Ausgabe), S. 2; »Ein Gewaltverbrecher«. In: Neues Deutschland vom 4. Januar 1963 (Berliner Ausgabe), S. 2. 426 Name pseudonymisiert. 427 Laut F22-Kartei IM-Vorlauf. 428 Kurt Wordel hatte seine Arbeit als professioneller, kommerziell ausgerichteter Fluchthelfer 1962 aufgenommen. Vgl. Detjen: Ein Loch in der Mauer, S. 122.

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den Fluchthelfern nicht als Spitzel der Stasi enttarnt zu werden, wurde er am 2. August 1968 »aus Gründen seiner persönlichen Sicherheit und der Vermeidung einer ansonsten unausbleiblichen Dekonspiration in Haft genommen«.429 Das MfS leitete ein Ermittlungsverfahren wegen § 105 Ziff. 2 StGB ein.430 Zwar setzte sich die HA IX offiziell das Ziel, den Nachweis eines Fluchthilfedeliktes zu »erarbeiten«;431 offenbar nutzte sie die Inhaftierung B.s jedoch eher als Legende, um ihn zu seinem Wissen über die Westberliner »Menschenhändler« intensiv zu befragen. So vernahm ihn sein Untersuchungsführer Manfred Diener in Hohenschönhausen zur exakten Tätigkeit der Fluchthelfergruppe im sozialistischen Ausland, zu B.s Kontaktpersonen und seinen konkreten Aufgaben innerhalb der Gruppe, zu seinen Arbeitskollegen und deren eventuellen Verbindungen zu »Schleuserorganisationen« und schließlich zur Organisationsstruktur, zu bestimmten Personenkonstellationen und Mitwissern.432 Über den gesamten Zeitraum seiner Untersuchungshaft war B. dabei in einer Einzelzelle im Neubau des Gefängnisses untergebracht.433 Der »operative« Zweck der Inhaftierung wurde aus Sicht des MfS offenkundig nach rund sechs Wochen erreicht. Am 25. September 1968 beantragte die HA IX beim aufsichtsführenden Staatsanwalt, den Haftbefehl aufzuheben. Im Laufe der Untersuchungen habe man zwar nachweisen können, dass sich der Beschuldigte B. »der Schleuserorganisation Wordel zur Zusammenarbeit zuführen ließ« und für die Gruppe als Kurier tätig war.434 Weil er aber in Gesprächen mit seinen Auftraggebern bald erkannt habe, »dass er in eine gegen die DDR gerichtete Tätigkeit einbezogen wurde, lehnte der danach die Ausführung weiterer Aufträge ab«.435 Während des Ermittlungsverfahrens habe B. weiterhin »umfangreiche Aussagen über die Schleuserorganisation [gemacht] und wertvolle Hinweise zur Entlarvung deren Hintermänner« gegeben.436 Vor allem aber habe er erkennen lassen, »dass er zur Wiedergutmachung der schädlichen Auswirkung seiner Straftat beitragen [wolle] und grundlegende Schlussfolgerungen für ein verantwortungsbewusstes Verhalten gezogen [habe]. Aus

429 Bearbeitungsplan zum Untersuchungsvorgang der HA IX; BStU, MfS, AU 12110/69, Bd. 1, Bl. 8. 430 Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 2. August 1968; BStU, MfS, AU 12110/69, a.a.O. 431 Bearbeitungsplan zum Untersuchungsvorgang der HA IX; BStU, MfS, AU 12110/69, Bd. 1, Bl. 8. 432 Vgl. beispielsweise Vernehmungsprotokolle vom 3., 8., 15. und 16. August und vom 18. September 1968; BStU, MfS, AU 12110/69, a.a.O. 433 Vgl. Gefangenenakte der Abt. XIV zu Georg B.; BStU, MfS, AS 112/80, Nr. 6050/68. 434 Antrag der HA IX an die Generalstaatsanwaltschaft auf Aufhebung des Haftbefehls vom 23. September 1968, unterschrieben von Walter Heinitz, Leiter der HA IX; BStU, MfS, AU 12110/69, Bd. 3, Bl. 12 f. 435 Ebenda. 436 Ebenda.

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diesen Gründen [sei] zu erwarten, dass er in Zukunft die sozialistische Gesetzlichkeit achten und einhalten« würde.437 Mit dem gleichen Wortlaut ging der Antrag des Generalstaatsanwalts am 27. September an das zuständige Gericht; das MfS hatte Georg B. allerdings bereits zwei Tage zuvor aus der Untersuchungshaft entlassen. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt. Der Amerikaner Warren K.438 (geb. 1946) war zu Beginn der siebziger Jahre als Zivilangestellter bei der U.S. Army in Westberlin beschäftigt. Die Geheimdienstler des MfS wurden 1972 auf ihn aufmerksam, weil sie Hinweise dafür zusammengetragen hatten, K. stünde mit den Fluchthelfergruppen um Klaus Hoffmann und Hasso Herschel in Verbindung.439 Am 9. Februar 1972 legte die in dieser Zeit vor allem für die Bekämpfung der organisierten Fluchthilfe zuständige Abteilung XX/5 der Verwaltung Groß-Berlin den OV »Color« an, in dem K. »operativ bearbeitet« wurde.440 Bereits nach gut zwei Wochen wurde er im Rahmen einer groß angelegten Festnahmeaktion gemeinsam mit zwölf weiteren Fluchthelfern an der Grenzübergangsstelle Marienborn verhaftet. In seinem Fahrzeug waren vier Personen versteckt, die in die Bundesrepublik flüchten wollten. Wohl wegen seiner Zugehörigkeit zur Berliner US-Truppengarnison und aufgrund seiner Staatsbürgerschaft kam K. zwei Tage später nach einem Umweg über die sowjetische Kommandantur in Potsdam in die UHA BerlinHohenschönhausen.441 Die erste Vernehmung durch Mitarbeiter des MfS begann abends um 20 Uhr und endete erst am nächsten Morgen um sechs mit einer persönlichen Niederschrift des nunmehr vermutlich sehr erschöpften Beschuldigten.442 17 weitere Male wurde K. in den nachfolgenden sieben Wochen verhört, in der Regel ganztägig und dazu noch in deutscher Sprache.443 Im Laufe der Vernehmungen weitete die HA IX zweimal das Untersuchungsverfahren auf zusätzliche Delikte aus: Neben dem ursprünglichen § 105 kamen Straftatbestände gemäß §§ 97 Abs. 1 und 2 (»Spionage«), 101 Abs. 1 StGB 437 Ebenda. 438 Name pseudonymisiert. 439 Vgl. Herschel, Hasso: »Wir haben uns das Versprechen gegeben, wer zuerst geht, kümmert sich um den anderen«. In: Nooke, Maria (Hg.): Der verratene Tunnel. Geschichte einer verhinderten Flucht im geteilten Berlin, Bremen 2002, S. 45–51. Vgl. auch Detjen: Ein Loch in der Mauer, S. 255 ff. 440 Vgl. OV »Color«; BStU, MfS, AOP 5365/73. Der Vorgang wurde am 25. April 1973 eingestellt. Zur Linie XX/5 vgl. Auerbach et al.: Hauptabteilung XX, S. 108 ff. 441 Vgl. Eintrag in den Ein- und Abgangsbüchern der Abt. XIV; BStU, MfS, Abt. XIV 16795, Bl. 48/49; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 16770, Bl. 49. Vgl. Festnahmebericht der Abt. XX/5 vom 27. Februar 1972; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, Bl. 23. 442 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 28./29. Februar 1972; BStU, MfS, AU 1726/73, a.a.O. 443 Vgl. Einverständniserklärung über die Vernehmung in deutscher Sprache; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, Bl. 100. K. gibt an, seit acht Jahren in Deutschland zu leben und daher »fließend die deutsche Sprache« zu sprechen. Gleichwohl bat er in seiner Erklärung darum, »alle wichtigen Fragen durch einen Dolmetscher der englischen Sprache übersetzen zu lassen«.

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(»Terror«) und schließlich 206 Abs. 1 (»unbefugter Waffen- und Sprengmittelbesitz«) hinzu,444 weil im Fluchtauto eine Pistole des Typs »Walther PKK« gefunden worden war. Rund zwei Monate nach seiner Verhaftung waren die Ermittlungen gegen K. endgültig abgeschlossen.445 Vermutlich war die drohende Anklage eines Angehörigen der amerikanischen Besatzungstruppen jedoch selbst für das »Schild und Schwert« der SED eine zu heikle Angelegenheit. Die HA IX suchte sich daher parallel zu ihren Ermittlungen an der Berliner HumboldtUniversität (HU) juristische Schützenhilfe. Die weitere Vorgehensweise war offenbar klärungsbedürftig. Noch vor dem offiziellen Ende der Untersuchungen erhielt der Leiter der Abteilung IX/9 (Flucht- und Fluchthilfedelikte) von Bernhard Graefrath, Professor für Völkerrecht an der HU Berlin, eine gutachterliche Stellungnahme zur Frage, wie es um die Strafhoheit bei Zivilangestellten der NATO-Truppen bestellt sei.446 Graefrath kam nach seinen Ausführungen zwar zu dem Schluss, dass bei zivilem Gefolge, das außerhalb ihrer Dienstausübung Straftaten gegen die DDR begeht, »keine Immunitätsrechte vorliegen, die die Strafhoheit der DDR ausschließen würden«.447 Es wäre allerdings »besser […], wenn das [von den sowjetischen Organen] ausdrücklich mitgeteilt« würde.448 Man bemühte sich daraufhin um bi- bzw. trilaterale Schadensbegrenzung. Das Untersuchungsorgan plädierte für die »vorläufige Einstellung [des Verfahrens] nach § 150, Ziffer 4 der StPO,449 wonach der Beschuldigte wegen den Straftaten einem anderen Staat ausgeliefert« werden sollte.450 Auf diesem Wege unnötigen diplomatischen Zwist zu vermeiden, erachteten die Ermittler, gestützt durch die universitäre Expertise, für »angebracht«.451 Der Staatsanwalt folgte der Empfehlung und beantragte die Aufhebung des Haftbefehls mit der Begründung, K. würde an Westberliner US-

444 Vgl. Verfügungen über die Erweiterung eines Ermittlungsverfahrens vom 6. und vom 10. April 1972; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, a.a.O. 445 Die HA IX kommt zu dem Ergebnis, dass Straftatbestände gemäß §§ 105 Abs. 1 und 2, 101 Abs. 1, 206 Abs. 1 und 97 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit § 63 StGB erfüllt seien. Vgl. Schlussbericht der HA IX vom 17. April 1972; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, a.a.O. 446 Vgl. Schreiben von Dr. Bernhard Graefrath: »Information für Genossen Niebling. Zu Fragen der Strafhoheit gegenüber Zivilpersonen, die bei NATO-Truppen beschäftigt sind« vom 12. April 1972; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 5, Bl. 16–19. 447 Ebenda, Bl. 19. 448 Ebenda. 449 »Der Staatsanwalt kann das Verfahren vorläufig einstellen, wenn […] der Beschuldigte wegen der Straftat einem anderen Staat ausgeliefert wird«. Strafprozessordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 69 f. 450 Verfügung über das Einstellen eines Ermittlungsverfahrens vom 19. Mai 1972, »streng geheim« [Unterstreichung i. Orig.]; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, Bl. 42. 451 Ebenda.

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Repräsentanten zur Strafverfolgung ausgeliefert.452 Bereits am Tag darauf wies Minister Mielke die Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft an.453 Am 5. Juni verließ Warren K. die DDR.454 Dass Angehörige des Diplomatischen Corps ihre Privilegien an den Grenzkontrollpunkten zum Teil ausnutzten, um »kontrollbefreit die Transitstrecke der DDR zwischen Drewitz und Marienborn zu befahren« und dabei ausreisewillige DDR-Bürger in den Westen »auszuschleusen«, war der Stasi zu diesem Zeitpunkt nicht neu.455 Die Tatsache allerdings, dass ein Zivilangestellter der amerikanischen Armee ein Truppenfahrzeug zum Fluchthelferauto umfunktionierte, war den Ermittlern der HA IX zu Beginn des nächsten Jahres immerhin eine Erwähnung in ihrem Tätigkeitsbericht unter der Rubrik »Landesverrat« wert.456 David S.457 (geb. 1949) arbeitete 1978 als Kellner in Westberlin, als er von einem Gast angesprochen wurde, ob er bereit sei, einen DDR-Bürger im Auto in die Bundesrepublik auszuschleusen. Er willigte ein und nahm einen Ostberliner am 19. Januar 1978 im Kofferraum seines Wagens über die Transitautobahn in Richtung Hannover mit. Am Grenzübergang Marienborn wurde das Fahrzeug von der HA VI des MfS (Grenzkontrollen, Reise- und Touristenverkehr) durchsucht und der versteckte Mitfahrer entdeckt.458 Beide wurden daraufhin festgenommen und abends um 22.30 Uhr in die UHA BerlinHohenschönhausen eingeliefert. Die HA IX leitete das Ermittlungsverfahren gegen S. noch am gleichen Tag auf der Grundlage von § 105 Abs. 1 Ziff. 2 StGB ein. Zunächst hatte der Westberliner zwar den Kontakt zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR (StäV) abgelehnt, was ihn das MfS schriftlich bestätigen ließ.459 Ab März 1978 kam es dann allerdings doch zu sogenannten »Sprechern« mit seinem Rechtsanwalt Dieter Starkulla im Beisein eines Vertreters der StäV. Der Referent Axel Schmidt-Gödelitz betreute den Westberliner während seiner Untersuchungshaft, der, so ein Vermerk

452 Vgl. HA IX, Leiter an den Generalstaatsanwalt der DDR: Bitte um Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls vom 2. Juni 1972; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, Bl. 50. 453 Vgl. Entlassungsanweisung vom 3. Juni 1973, bestätigt von Erich Mielke; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, a.a.O. 454 Das SG Berlin verurteilte ihn allerdings am 15. Juni 1972 in Abwesenheit förmlich zur Einziehung des Tatfahrzeugs. 455 HA IX, Leiter an den Generalstaatsanwalt der DDR: Bitte um Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls gegen Warren K. vom 2. Juni 1972; BStU, MfS, AU 1726/73, Bd. 1, Bl. 48 f. 456 Vgl. HA IX: Analyse über die Entwicklung und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Linie IX im Jahre 1972 vom Januar 1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2856, Bl. 42. 457 Name pseudonymisiert. 458 Zur HA VI des MfS vgl. Tantzscher, Monika: Hauptabteilung VI. Grenzkontrollen, Reiseund Touristenverkehr (MfS-Handbuch, III/14), Berlin 2005. 459 Erklärung über die Nichtinanspruchnahme eines Kontaktes zur Ständigen Vertretung vom 21. Januar 1978; BStU, MfS, AU 23478/80, Bd. 1, Bl. 41.

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der HA IX, bei einem dieser Treffen in der Magdalenenstraße von SchmidtGödelitz »Geschenkbeutel entgegengenommen« hätte.460 Drei Monate nach der Festnahme endete das Ermittlungsverfahren, die HA IX sah das Delikt des »staatsfeindlichen Menschenhandels« als erwiesen an.461 »Im Interesse der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen« empfahlen die MfS-Ermittler der Staatsanwaltschaft auch in diesem Fall, den Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchführen zu lassen und vor Gericht einen entsprechenden Antrag zu stellen.462 Das bevorstehende Verfahren vor dem Stadtgericht Berlin sollte dabei alles andere als ergebnisoffen ablaufen und trotz der Verhandlung hinter verschlossenen Türen die größtmögliche propagandistische Wirkung entfalten: Zeitgleich mit der Anklageerhebung verfasste die HA IX »in Abstimmung mit der Abteilung Agitation des MfS« eine Pressemitteilung über S.' Verurteilung, die über die DDR-Nachrichtenagentur ADN in Umlauf gebracht werden sollte.463 Die Sperrfrist des Textes war auf den 9. Mai terminiert. Die Verfasser erbaten die kurzfristige Freigabe des Entwurfs durch Minister Mielke. Mit Ausnahme der genauen Strafhöhe war in dem Text der Schuldspruch bereits im Vorfeld ausgemacht, sogar die Einziehung des Tatfahrzeugs wurde dem richterlichen Urteil vorweggenommen.464 Am 5. Mai 1978, dem ersten und einzigen Verhandlungstag, setzte das Stadtgericht Berlin das exakte Strafmaß fest: S. wurde zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Am 10. Mai veröffentlichte das »Neue Deutschland« – wie geplant – die vom MfS verfasste und über den ADN verbreitete Pressemitteilung im Wortlaut – lediglich die Strafhöhe war eingefügt worden.465 In Hohenschönhausen sollte David S. allerdings noch ein halbes Jahr nach seiner Verurteilung verbleiben, da ihn die Staatssicherheit weiterhin als Zeuge in

460 Bericht der HA IX/9 AG Ausland vom 9. März 1978; ebenda, Bl. 65. 461 Vgl. Schlussbericht der HA IX/9 vom 11. April 1989; ebenda, Bl. 444. 462 Ebenda. 463 »Vorschlag zur publizistischen Auswertung der Hauptverhandlung gegen einen Agenten der kriminellen Menschenhändlerbande VÖLKNER« vom 3. Mai 1978; BStU, MfS, AU 23478/80, Bl. 447 f. 464 »Berlin (ADN): Das Stadtgericht Berlin verurteilte am 5. Mai 1978 den Angehörigen der kriminellen VÖLKNER-Bande, den Einwohner von Berlin (West) Dietmar S[.] wegen Verbrechen gemäß § 105 StGB zu ... Jahren Freiheitsentzug. S[.] beging seine Verbrechen unter Verletzung des Transitabkommens und unter Missbrauch der Vereinbarung über Reise- und Besucherverkehr für Einwohner von Berlin (West). Das zur Straftat benutzte Kraftfahrzeug wurde eingezogen.« ADNMeldung der HA IX (Leiter) an Mielke mit Bitte um Freigabe, 3. Mai 1978; ebenda. 465 Vgl. »Wegen Transitmissbrauchs verurteilt«. In: Neues Deutschland vom 10. Mai 1978 (Berliner Ausgabe), S. 2: »Berlin (ADN). Das Stadtgericht Berlin verurteilte den Angehörigen der kriminellen Völkner-Bande, den Einwohner von Berlin (West) Dietmar S[.], wegen Verbrechen gemäß Paragraph 105 StGB zu vier Jahren Freiheitsentzug. S[.] beging seine Verbrechen unter Verletzung des Transitabkommens und unter Missbrauch der Vereinbarung über Reise- und Besucherverkehr für Einwohner von Berlin (West). Das zur Straftat benutzte Kraftfahrzeug wurde eingezogen.«

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anhängigen Verfahren vernahm.466 Im November wurde er schließlich in das Gefängnis Bautzen II verlegt. Im April 1979 verließ S. im Rahmen einer Freikaufaktion endgültig die DDR in Richtung Bundesrepublik.

»Staatsfeindliche Hetze« Der Tatbestand der »staatsgefährdenden Propaganda und Hetze« fand 1957 mit der Verabschiedung des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG) als § 19 Eingang in das Strafrecht der DDR. Wie auch die anderen politischen Straftatbestände des StEG löste § 19 die vorhergehenden Bestimmungen des Artikels 6 der Verfassung (»Boykotthetze«) als Rechtsnorm ab. Danach machte sich eine Person strafbar, die »den Faschismus oder Militarismus verherrlicht oder propagiert […], gegen die Arbeiter- und Bauern-Macht hetzt«, staatliche Organe, gesellschaftliche Organisationen oder einen dort tätigen Bürger verunglimpft bzw. bedroht oder die »Schriften oder Gegenstände mit einem derartigen Inhalt herstellt oder mit dem Ziele der Hetze einführt oder verbreitet«.467 Im neuen StGB von 1968 war der nunmehr als »staatsfeindliche Hetze« bezeichnete Tatbestand nach § 106 strafbar und dort in seinen Merkmalen ausführlicher beschrieben. Die Norm zielte darauf ab, politisch unerwünschte Meinungsäußerungen zu ahnden und ist daher als geradezu klassische Form des Gesinnungsstrafrechts zu beurteilen.468 In den späten fünfziger und den sechziger Jahren führten Ermittlungsverfahren wegen »staatsgefährdender Propaganda und Hetze« (§ 19 StEG) bzw. »staatsfeindlicher Hetze« (§ 106 StGB) die Statistik der Linie IX an: 1958 bis 1960 lag ihr Anteil bei knapp einem Drittel der Ermittlungsverfahren. Nach dem »Spitzenjahr« 1961 mit fast 44 Prozent der Verfahren gemäß § 19 StEG nahm die Bedeutung dieses Tatbestandes in der Arbeit des Untersuchungsorgans aber kontinuierlich ab. Quantitativ spielte die »staatsfeindliche Hetze« in den achtziger Jahren keine große Rolle mehr bei der Bekämpfung von öffentlich geäußerter Ablehnung des politischen oder gesellschaftlichen Systems in der DDR. Bei politischen Ereignissen, die großes Aufsehen erregten und den Unmut vieler erweckten, griffen die Verantwortlichen verstärkt zu dieser Strafrechtsnorm: Nach der gewaltsamen Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch sowjetische Truppen oder nach der umstrittenen Ausbürgerung des

466 Vgl. Bericht der HA IX/9 AG Ausland vom 24. Oktober 1978; BStU, MfS, AU 23478/80, Bd. 1, Bl. 66. 467 § 19 StEG Abs. 1 und 2. 468 Schroeder, Friedrich-Christian: Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, Wiesbaden 1983, S. 81.

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Liedermachers Wolf Biermann häuften sich Ermittlungen wegen Straftaten nach § 106 erheblich im Vergleich zu anderen Jahren.469 Im Übrigen verlagerte sich die Verfolgung politischer Opposition im Zuge der Entspannungspolitik auf geheimpolizeiliche Maßnahmen jenseits strafrechtlicher Schritte: Die gezielte »Zersetzung« oppositioneller oder politisch missliebiger Personen im Rahmen Operativer Vorgänge (OV) wurde schließlich 1976 in der berüchtigten Richtlinie 1/76 des Ministers Erich Mielke als Maßnahme zur Ausschaltung potenziell »staatsfeindlicher« Äußerungen und Handlungen festgelegt.470 Zudem traten seit Mitte der siebziger Jahre solche Straftaten in den Fokus, die von DDR-Bürgern mit dem Ziel der ständigen Ausreise in die Bundesrepublik begangen wurden.471 Ermittlungen nach § 106 StGB traten bereits in den siebziger Jahren merklich in den Hintergrund, in der zweiten Hälfte der Achtziger verschwand dieser wohl »politischste« Tatbestand des DDR-Strafrechts nahezu vollständig aus den Statistiken der HA IX.472 Der kaufmännische Angestellte Herrmann B.473 (geb. 1923) wurde im April 1958 wegen »staatsfeindlicher« Äußerungen verhaftet und nach Hohenschönhausen gebracht. B. war bereits am 17. Juni 1953 in Berlin aufgefallen, als er sich in seiner Funktion als Betriebsleiter solidarisch mit den Streikenden erklärt und seine Mitarbeiter nach Hause geschickt hatte. Damals war es zu einer Aussprache am Arbeitsplatz gekommen, B. wurde lediglich zur Ordnung gerufen.474 Dennoch behielt ihn die Stasi weiterhin im Auge und setzte einen Spitzel auf ihn an, der dem MfS über B.s Verhalten im Dienst berichtete. Seine kritische Haltung zu innerbetrieblichen Umstrukturierungsmaßnahmen war für den Staatssicherheitsdienst besonders interessant.475 Die Ermittler der HA IX wurden 1958 allerdings erst auf Umwegen auf B. aufmerksam, der mittlerweile zum leitenden Angestellten in einem der Industrieministerien aufgestiegen war. Als sein Vorgesetzter wegen Spionagever469 1968 wurden vom MfS-Untersuchungsorgan 540 Ermittlungsverfahren eingeleitet, ein Jahr später waren es noch 230, 1970 »nur noch« 189. 1977 folgten Untersuchungsverfahren in 219 Fällen. (Da Wolf Biermann Mitte November 1976 ausgebürgert wurde, fiel die Zahl wegen § 106 eingeleiteter Verfahren für das Jahr 1976 nur wenig spürbar ins Gewicht.) 1978 leitete die HA IX insgesamt 109 Verfahren wegen »staatsfeindlicher Hetze« ein. 470 Vgl. Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) (Dokument 34). In: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente, S. 245–298. 471 Biographische Fallbeispiele werden im Abschnitt »Ausreiseantragsteller« nachgezeichnet. 472 Gemessen an der Gesamtzahl der jährlich eingeleiteten Ermittlungsverfahren spielte die »staatsfeindliche Hetze« mit 78 (1980), 51 (1981), 31 (1982), 14 (1983), 9 (1984), 5 (1985), 4 (1986) 1 (je 1987 und 1988) kaum eine Rolle mehr. 1989 wurde kein einziges Verfahren auf der Grundlage von § 106 StGB eingeleitet. 473 Name pseudonymisiert. 474 Vgl. »Aussprache über die Vorkommnisse im DHZM-Vertriebslager, Bln.-Lichtenberg am 17. Juni 1953«; BStU, MfS, AU 1906/58, Bd. 2, Bl. 39. 475 Vgl. Treffbericht von GI »Kupfer« vom 5. Juli 1955; BStU, MfS, AU 1906/58, Bd. 1, Bl. 119.

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dachts verhaftet wurde, hatte dieser im Verhör ausgesagt, dass B. sich des Öfteren abfällig über Mitglieder der DDR-Regierung äußere.476 So hätte er den massiven Ausbau der Schwerindustrie kritisiert und den Ersten Sekretär des SED-Zentralkomitees Walter Ulbricht als »Zuhälter« und »Puffvater« tituliert.477 Die Justizministerin Hilde Benjamin versah er mit den damals verbreiteten Spitznamen »Rote Hilde« oder »Bluthilde« – aus ihrer Zeit als Vorsitzender Richterin in Schauprozessen vor dem Obersten Gericht der DDR haftete ihr der durchaus berechtigte Ruf an, besonders drakonische Strafen zu verhängen.478 In B.s Position genügten während dieser justizpolitisch repressiven Phase solche Äußerungen, um ihn nicht allein disziplinarisch zur Verantwortung zu ziehen. Die Stasi schritt zur Tat und nahm ihn im April 1958 wegen des Verdachts auf »staatsgefährdende Propaganda und Hetze«479 fest. In den nun folgenden Vernehmungen wollten ihn die Ermittler nicht nur für seine Diffamierungen zur Verantwortung ziehen; seine angeblichen »Verbindungen« zum Westberliner »Hetzsender« RIAS standen gleichfalls im Mittelpunkt.480 Die Untersuchungsführer waren vor allem daran interessiert, vor welchem Personenkreis B. abfällig über Regierungsmitglieder oder politische Maßnahmen gesprochen hatte; besonders fürchteten sie, er hätte sich gegenüber Westberlinern über die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR geäußert. B. verwies in den Verhören schließlich auf dienstliche Spannungen zwischen ihm und seinem Vorgesetzten, der ihn aus persönlichen Gründen habe denunzieren und aus dem Weg schaffen wollen.481 Nach fünf Monaten in Untersuchungshaft kam es zur Gerichtsverhandlung. Zwar erachteten die MfS-Ermittler in ihrem Schlussbericht auch den Straftatbestand der »Staatsverleumdung«482 für erwiesen, zur Anklage kam allerdings nur der strafrechtlich schwerer wiegende Vorwurf der »staatsgefährdenden Hetze« gemäß § 19 StEG. Demnach hätte B. im schweren Fall »gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht [ge]hetzt, gegen ihre Organe, gegen gesellschaftliche Organisationen«, vor allem aber »gegen einen Bürger wegen seiner staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer staatlichen Einrichtung«.483 Im September 1958 verurteilte ihn das Bezirksgericht 476 Vgl. Haftbeschluss vom 29. April 1958; ebenda, Bl. 12. 477 Vernehmungsprotokoll vom 19. Mai 1958; ebenda, Bl. 49 478 Gegenüberstellungsprotokoll vom 13. Mai 1958; ebenda, Bl. 57. Zum Werdegang Benjamins, insbesondere zu ihrem Wirken als Richterin und Justizministerin der DDR (1953–1967) vgl. Feth, Andrea: Hilde Benjamin. Eine Biographie (Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie, 1), Berlin 1997. 479 § 19 StEG, GBl. 1957 I, S. 645. 480 Vgl. Untersuchungsplan zu Heinz B.; BStU, MfS, AU 1906/58, Bd. 1, Bl. 31–36. 481 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 6. Mai 1958; ebenda, Bl. 64. 482 § 20 StEG, GBl. 1957 I, S. 645. 483 § 19 Abs. 1 Ziff. 2, Abs. 3 StEG, GBl. 1957 I, S. 645.

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Frankfurt/Oder zu einer vierjährigen Zuchthausstrafe. Allerdings wurde Herrmann B. schon im November 1960 im Rahmen einer Amnestie des Staatsratsvorsitzenden aus der Haft entlassen. Kurz darauf floh er noch vor dem Bau der Berliner Mauer in die Bundesrepublik. Ernst W.484 (geb. 1931) aus Nauen geriet 1965 wegen angeblicher »Hetzbriefe« ins Visier des Staatssicherheitsdienstes.485 Als gebürtiger Breslauer mit Vertriebenenbiographie hatte er seit Beginn der fünfziger Jahre Kontakte zu schlesischen Landsmannschaftsverbänden in der Bundesrepublik aufgenommen und unterhielt Verbindungen in die Volksrepublik Polen.486 In zahlreichen Schreiben hatte W. die von der DDR seit 1950 anerkannte Staatsgrenze zu Polen kritisiert und sich vor diesem Hintergrund an den Westberliner RIAS, die BBC, den SFB, den NDR, das Bonner Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte und auch an offizielle Stellen in der DDR gewandt. Seit Dezember 1964 stand er unter operativer Beobachtung der HA XX/2,487 da W. aus Sicht des MfS damit »Hetze gegen die Oder-Neiße-Grenze sowie gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern«488 betrieben und »den Faschismus u[nd] Militarismus verherrlicht«489 habe. Daneben wurde ihm zur Last gelegt, seit 1959 »etwa 30 Hetzschriften faschist[ischen] Inhalts« aus der Bundesrepublik importiert und sie in der DDR in verschiedenen Einrichtungen verbreitet zu haben.490 Am 9. Januar 1965 wurde W. schließlich wegen »staatsgefährdender Propaganda und Hetze« (§ 19 StEG) sowie »Sammlung von Nachrichten« (§ 15 StEG) festgenommen und in Hohenschönhausen eingeliefert. Hier verbrachte er fast ein ganzes Jahr, teilweise gemeinsam in einer Zelle mit Kurt Heißmeyer, gegen den das MfS zum selben Zeitpunkt wegen NS-Verbrechen ermittelte.491 Nach rund zehn Monaten schloss die HA IX das Ermittlungsverfahren ab und es kam zur Anklage wegen Verbrechen gemäß §§ 15 und 19 StEG.492 Am 13. Januar 1966 wurde Ernst W. vor dem Bezirksgericht Potsdam unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu einer zwölfjährigen Zucht-

484 Name pseudonymisiert. 485 Monatsbericht der HA IX für Januar 1965; BStU, MfS, HA IX, MF 11256, S. 12. 486 Vgl. Deliktekartei der HA IX/2; BStU, ohne Signatur. 487 Vgl. Operativer Vorgang der HA XX/2; BStU, MfS, AOP 1558/67. 488 Monatsbericht der HA IX für Januar 1965; BStU, MfS, HA IX, MF 11256, S. 12. 489 Deliktekartei der HA IX/2; BStU, ohne Signatur. 490 Ebenda. 491 Vgl. Zellenauflistung in der Gefangenenakte von Ernst W.; BStU, MfS, AS 82/80, Nr. 5400/65. Heißmeyer hatte als Lagerarzt im KZ Neuengamme an Häftlingen Tuberkuloseversuche mit Todesfolge durchgeführt. Siehe Abschnitt »NS-Verbrechen«. 492 Vgl. Schlussbericht vom 11. Oktober 1965; BStU, MfS, AU 9761/67.

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hausstrafe verurteilt, die er im Hohenschönhausener »Lager X« und im Zuchthaus Brandenburg-Görden verbüßte.493 Der gelernte Baumaschinist Michael Sallmann (geb. 1953) war seit Beginn der siebziger Jahre in der kritischen Schriftsteller- und Liedermacherszene der DDR aktiv. Ihm wurde vorgeworfen, »mit dem Ziel, g[egen] die soz[ialistische] Staats- u[nd] Gesellschaftsordnung […] aufzuwiegeln«, »Texte u[nd] Lieder mit einem die DDR u[nd] die Tätigkeit staatl[icher] u[nd] gesellschaftl[icher] Organe diskriminierenden Inhalt hergestellt« und diese unter Freunden und Bekannten weitergegeben zu haben.494 Von seinem Studium wurde er 1975 ausgeschlossen; Sallmann pflegte Kontakte zur studentischen Schriftstellerszene in Jena und zum Liedermacher Wolf Biermann. Während seines Grundwehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee in Leipzig trat er schließlich vor Kameraden mit seinen Liedern auf und brachte in der Kaserne selbst verfasste DDR-kritische Texte in Umlauf. Die HA I hatte Sallmann bereits seit Februar 1977 unter dem Decknamen »Wespennest« im Visier und erbat von den Kollegen des Berliner Untersuchungsorgans eine Einschätzung der strafrechtlichen Relevanz seiner Schriften, die unter den Soldaten mittlerweile einige Wellen schlugen.495 Die Ermittler empfahlen kurz darauf, die Urheberschaft der Texte anhand von Schriftproben eindeutig nachweisen zu lassen und dann gegebenenfalls ein Ermittlungsverfahren wegen einer Straftat gemäß § 106 StGB einzuleiten.496 Am 13. April 1977 verhafteten ihn schließlich Mitarbeiter der HA I und ließen ihn von Leipzig aus nach Hohenschönhausen bringen. In den folgenden vier Monaten wurde er fast 80 Mal von unterschiedlichen Untersuchungsführern verhört.497 Sallmann hatte beabsichtigt, so das Ergebnis der Ermittler, mit seinen Texten »Kritik an Missständen in der DDR zu üben u[nd] andere Personen dazu anzuregen, g[egen] die nach seiner Auffassung in der DDR in einigen gesellschaftl[ichen] Bereichen vorhandenen Missstände vorzugehen«.498 Brisanter waren allerdings Sallmanns »politisch-operativ interessante […] Verbindungen« zu namhaften Künstlern und Dissidenten in der DDR. So hatte er neben dem im November 1976 des Landes verwiesenen Wolf Biermann auch Kontakt zum Schriftsteller und Psychologen Jürgen Fuchs und den

493 Vgl. Deliktekartei der HA IX/2; BStU, ohne Signatur. 494 Deliktekartei der HA IX/2; BStU, ohne Signatur. 495 Vgl. OV »Wespennest«, angelegt am 1. Februar 1977, archiviert am 23. März 1978; BStU, MfS, AOP 6002/78. 496 Vgl. Strafrechtliche Einschätzung der HA IX/2 an HA I/MB III [Militärbezirk] vom 1. März 1977; BStU, MfS, AU 14868/78, Bd. 1, Bl. 54–61. 497 Darunter Gunter Liebewirth, Hans Kretschmer, Kurt Anding und Günter Thiemig, jeweils Angehörige der für »politische Untergrundtätigkeit« zuständigen HA IX/2. 498 Deliktekartei der HA IX/2; BStU, ohne Signatur.

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Liedermachern Gerulf Pannach und Christian Kunert.499 Die drei Letztgenannten saßen zum Zeitpunkt der Einlieferung Sallmanns bereits in Hohenschönhausen in Untersuchungshaft. Wie seinen drei prominenten Mitgefangenen soll ihm bereits vor seiner Inhaftierung bewusst gewesen sein, dass er mit seinen »Gedichten politischer Art unter die strafrechtliche Verfolgung der DDR fallen musste«.500 Gerade dieses harte Durchgreifen der Staatsmacht in Fragen abweichender politischer Meinungsäußerung habe er zum Anlass für seine schriftstellerische Tätigkeit genommen: Besonders die »Normen der staatsfeindlichen Hetze und andere« habe Sallmann in seinen Texten thematisiert; sie müssten seiner Ansicht nach geändert werden, »da sie auch zur Folge haben, dass Andersdenkende und Schreibende [sic!] in die Gefängnisse gehen müssen«.501 Wie bei Fuchs, Pannach und Kunert zielte auch im Fall Sallmann das Ermittlungsverfahren nicht mehr auf eine rechtskräftige Verurteilung. Ein Dreivierteljahr nach der Abschiebung Wolf Biermanns, die in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung auf lautstarke Kritik und Ablehnung gestoßen war, wollte sich die Staatsführung unbequemer Regimekritiker entledigen, um das oppositionelle Potenzial im eigenen Land zu schwächen.502 Angesichts einer drohenden Strafverfolgung stellte die Staatssicherheit Sallmann im Sommer 1977 vor die Wahl, mehr oder weniger freiwillig in den Westen zu gehen oder in der DDR eine langjährige Haftstrafe zu verbüßen. Seine Vernehmer drängten ihn erfolgreich zur Ausreise. Der geheimdienstlich-konspirativen Abschiebeaktion fehlte allerdings noch der rechtsstaatliche Anstrich. Daher beantragte der Leiter des MfS-Untersuchungsorgans beim Generalstaatsanwalt die förmliche Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Hatte das MfS ursprünglich in ihm einen gefährlichen Staatsfeind gesehen, so schlug die HA IX in ihrer Antragsbegründung plötzlich zartere Töne an: Man könne davon absehen, Sallmann strafrechtlich zu belangen, da seine »Straftat infolge der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse keine schädlichen Auswirkungen zeigte«.503 Das Militärobergericht folgte dem gleichlautenden Antrag der Staatsanwaltschaft und stellte das Verfahren ein: Sallmann verließ am 2. September 1977 Hohenschönhausen und die DDR in Richtung Westberlin. 499 Vgl. »Aufstellung politisch-operativ interessanter Verbindungen des Sallmann, Michael« vom 2. August 1977; BStU, MfS, AU 14868/78, Bd. 5, Bl. 281–283. 500 Stellungnahme zur Straftat vom 17. August 1977; ebenda, Bl. 279. 501 Ebenda. 502 Fuchs, Pannach und Kunert wurden gemeinsam am 26. August 1977 aus der Untersuchungshaft entlassen und noch am selben Tag nach Westberlin abgeschoben. Die drei reisten über die Grenzübergangsstelle an der Berliner Friedrichstraße aus. 503 Antrag des Leiters der HA IX an den Generalstaatsanwalt der DDR auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens, 2. September 1977; BStU, MfS, AU 14868/78, Bd. 5, Bl. 285.

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Ausreiseantragsteller Seit 1972, dem Jahr des Grundlagenvertrags zwischen beiden deutschen Staaten, begannen zahlreiche Bürger, die die DDR verlassen wollten, sich auf »bürokratischem« Weg für ihren endgültigen Umzug in die Bundesrepublik einzusetzen. Zusätzlich zu Fluchtdelikten, bei denen Bürger – unter spätestens seit dem Mauerbau lebensgefährlichen Umständen – die innerdeutsche Grenze in Richtung Westen zu überqueren versuchten, verzeichneten die Machthaber nun zusätzlich eine regelrechte Ausreisebewegung, die bis zum Untergang der DDR stetig stärker wurde. Die sogenannten »Antragsteller auf ständige Ausreise« oder »Übersiedlungsersuchenden«, die sich unter Berufung auf internationale Bestimmungen für ihre Ausreise einsetzten, stellten den Staatssicherheitsdienst vor neue Herausforderungen. Aus strafrechtlicher Perspektive war dieses Phänomen, welches nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 ungeahnt große Ausmaße annahm, schwer zu fassen. Die Ermittler der Hauptabteilung IX und die Zuständigen in den Justizorganen versteiften sich jedoch schnell auf die Position, dass die öffentlich artikulierte Berufung auf international eingegangene Verpflichtungen im Bereich der Freizügigkeit für die DDR politisch ausgesprochen gefährlich war und folglich bekämpft werden müsse.504 In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre reagierten die Verantwortlichen schließlich juristisch auf die Ausreisebewegung, indem die Strafbarkeit von Handlungen erweitert wurde, die von sogenannten »hartnäckigen« Antragstellern üblicherweise begangen wurden.505 Demgegenüber blieben die meisten »stillen« Antragsteller von strafrechtlicher Verfolgung verschont, wenngleich die Stasi in derartigen Fällen oft auf andere geheimdienstliche Methoden zurückgriff.506 Wilfriede S.507 (geb. 1951) hatte Mitte März 1984 gemeinsam mit ihrem Ehemann die Ständige Vertretung der Bundesrepublik aufgesucht, um sich dort über eine mögliche Ausreise aus der DDR zu informieren und beraten zu lassen.508 Die beiden Facharbeiter sahen für sich vor allem beruflich keine 504 Zur strafrechtlich fundierten Bekämpfung der Ausreisebewegung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre vgl. Raschka: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers, S. 282 ff., insbesondere 286 f. 505 Zur Normenentwicklung zur Bekämpfung der Ausreisebewegung siehe Abschnitt 2.1 dieser Arbeit. Vgl. Gesetz zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 7. April 1977, GBl. 1977 I, S. 100–102. Vgl. auch das Interview mit Joachim Groth, von 1971 bis 1985 Untersuchungsführer in Berlin-Hohenschönhausen, danach Referatsleiter in der HA IX/2. In: Gursky, André: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR, Frankfurt/M. 2011, S. 244 ff. 506 Vgl. Knabe: »Weiche« Formen der Verfolgung in der DDR, S. 709–719. 507 Name pseudonymisiert. 508 Befragungsprotokoll vom 20. März 1984; BStU, MfS, AU 10265/84, Bd. 2, Bl. 46 ff.

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Perspektive mehr und fassten den Entschluss, das Land zu verlassen. Wenige Tage später wurden die beiden zur »Prüfung eines Sachverhaltes« zum MfS bestellt, da dem Untersuchungsorgan ihr Gespräch mit den bundesdeutschen Diplomaten zugetragen worden war. Aus der ursprünglichen »Befragung« wurde allerdings schnell eine »Vernehmung«; die MfS-Ermittler ließen die beiden nicht mehr gehen. Noch am gleichen Tag landeten sie in der Untersuchungshaftanstalt in Hohenschönhausen, wo die HA IX gegen die Eheleute ein Ermittlungsverfahren wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme« einleitete.509 Wilfriede S. wurde unterstellt, bei ihrem Besuch in der StäV gegenüber einem der dortigen Mitarbeiter »Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden, verbreitet zu haben«, indem sie für ihre geplante »rechtswidrige Übersiedlung nach Berlin (West) […] Personalien und die detaillierten Gründe für ein derartiges Vorhaben preisgab«.510 Einen Tag nach ihrer Einlieferung in Hohenschönhausen mussten die Festgenommenen eine Erklärung darüber unterschreiben, wonach das Erziehungsrecht für das gemeinsame minderjährige Kind auf dessen Großmutter übertragen werden solle.511 An den kommenden zwei Tagen wurde sie in Haft nur dreimal vernommen, wenn auch sehr umfangreich. Die Untersuchungsführer wollten herausfinden, was sich hinter S.' Entschluss, die DDR für immer zu verlassen, verbarg. Vor allem war es für die Ermittler wichtig zu erfahren, ob die beiden Beschuldigten wieder zur Vernunft, also zu einem Verbleiben im Land gebracht werden könnten. Doch schnell wurde deutlich, was dem Paar an ihren Lebensbedingungen seit Langem missfiel: Mangelnde politische Reformbereitschaft der Regierung, eingeschränkte Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger, begrenzte Kontaktmöglichkeiten zu Verwandten und Freunden in der Bundesrepublik, die schlechte Ausstattung mit Konsumgütern und nicht zuletzt auch eine unzureichende ärztliche Versorgung hätten in den beiden in den vorangegangenen Jahren den Wunsch reifen lassen, woanders ihr Glück zu suchen.512 Bislang hätten sie allerdings noch nicht offiziell beantragt, die DDR zu verlassen, da sie zunächst die bevorstehende Jugendweihe ihres Kindes abwarten wollten. Sie hätten allerdings darauf abgezielt, dass entsprechende Stellen der Bundesrepublik von ihrem Entschluss zur Übersiedlung in Kenntnis gesetzt werden. So hatten sie vor, sich in der Ständigen Vertretung nach rechtskonformen Möglichkeiten zu erkundigen und dort die 1975 von der DDR mitunterzeichnete KSZE509 § 219 Abs. 2 Ziff. 1 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 28. Juni 1979 (3. StÄG), GBl. 1979 I, S. 144. Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 21. März 1984; BStU, MfS, AU 10265/84, Bd. 2, Bl. 16. 510 Ebenda. 511 Vgl. Handschriftliche Erklärung vom 21. März 1984; ebenda, Bl. 31. 512 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 21. März 1984; ebenda.

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Schlussakte von Helsinki einzusehen. 513 Eine Freundin hatte S. berichtet, dass in der StäV ein Exemplar ausliegen würde.514 Das Ermittlungsverfahren wurde im Eiltempo beendet. Bereits nach einer Woche stand für die HA IX/9 das Ergebnis fest und die beiden wurden vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg angeklagt.515 In der Gerichtsverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit erging am 17. April das Urteil wegen Verbrechen nach § 219 StGB (»ungesetzliche Verbindungsaufnahme«); die beiden erwartete nun eine Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr und acht Monaten. Wilfriede S. gelangte in das Frauengefängnis Hoheneck, konnte allerdings schon nach rund viereinhalb Monaten die Haftanstalt und die DDR verlassen. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg hatte eine Woche zuvor formal beschlossen, S. auf Bewährung zu entlassen. Als Begründung wurde angeführt, »dass die Verurteilte die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen hat und künftig die Gesetzlichkeit der DDR nicht wieder verletzen wird«.516 Annette L.517 (geb. 1941) geriet Anfang 1988 im Umfeld der jährlich von der DDR-Führung inszenierten »Kampfdemonstration« anlässlich der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ins Fadenkreuz des Staatssicherheitsdienstes. Sie und ihr Ehemann hatten bereits seit 1984 mehrere Ausreiseanträge gestellt und unterhielten aktive Kontakte zur Arbeitsgruppe »Staatsbürgerschaftsrecht«. Hier erfuhren sie Anfang Januar 1988, dass der offizielle Demonstrationszug in diesem Jahr von vielen regimekritischen DDRBürgern als Forum genutzt werden sollte, um unter Berufung auf ein Zitat Luxemburgs freie Meinungsäußerung in der DDR einzufordern.518 Sie entschlossen sich dazu, mitzumachen. Bereits drei Tage vorher wurde das Ehepaar zu einer Aussprache vor den Rat des Berliner Stadtbezirks Marzahn bestellt, weil beide zuvor an Veranstaltungen in der Zionskirche teilgenommen hatten. Dort wurden sie eindringlich ermahnt, die bevorstehende Demonstration nicht für öffentlichkeitswirksame Aktionen zu missbrauchen. Doch davon ließen sich die beiden nicht sonderlich beeindrucken. Am 17. Januar machten sie sich mit Transparenten, beschriftet mit »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden« und »Man 513 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 22. März 1984; ebenda, Bd. 2, Bl. 73. 514 Vgl. ebenda. 515 Vgl. Schlussbericht vom 30. März 1984; ebenda, Bd. 2. 516 Beschluss des Stadtbezirksgerichts Berlin-Lichtenberg vom 19. Oktober 1984; ebenda, Bd. 4, Bl. 64. 517 Name pseudonymisiert. 518 »Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden«. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke, Bd. 4 (August 1914 bis Januar 1919), Berlin (Ost) 1983, S. 359, Anmerkung 3 (»Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis«). Zum Kontext der Demonstration vom Januar 1988 vgl. Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988, S. 4 sowie insbesondere Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 262–286.

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muss sich bewegen um die Fesseln zu spüren«, auf den Weg zur Demonstration.519 Doch sie sollten nicht weit kommen: Noch am Morgen nahmen sie Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes fest, weil sie die Absicht gehabt hätten, »sich einer Personengruppe anzuschließen, um mit dieser an der Kampfdemonstration teilzunehmen«.520 Am nächsten Tag gelangten sie nach Hohenschönhausen, wo ein Ermittlungsverfahren wegen »Zusammenrottung«521 gegen das Paar eröffnet wurde. In Haft bekräftigte L. erneut ihren Ausreiseantrag und nahm unterstützend Verbindung zum Rechtsanwaltsbüro Vogel in Ostberlin auf.522 Ihre Abschiebung in den Westen war zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene Sache. Die SED nutzte die Verhaftungswelle im Anschluss an die Luxemburg-LiebknechtDemonstration, um sich vor allem prominenter Dauerkritiker zu entledigen. Westliche Kamerateams hatten einzelne Protestteilnehmer am 17. Januar gefilmt, das öffentliche Aufsehen war zu groß geworden. In Regierungskreisen versprach man sich von einer massenhaften Abschiebung offenbar, dass der gestiegene innenpolitische Druck wirkungsvoll abgelassen würde. Am 22. Januar wurde gerichtlich verfügt, das Verfahren gegen L. und ihren Ehemann einzustellen. »Es [wurde] von Maßnahmen strafrechtlicher Verantwortlichkeit abgesehen, da unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten ist, dass die Beschuldigte künftig die Gesetze in der DDR nicht mehr verletzen wird.«523 Damit sollte der Generalstaatsanwalt Recht behalten: Annette L. verließ noch am selben Tag die DDR.524 Auch Manfred Z.525 (geb. 1960) hatte bereits seit einigen Jahren vor, aus der DDR auszureisen, bevor das MfS sich entschied, den 28-Jährigen festzunehmen und gegen ihn wegen »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einzuleiten.526 Der Stasi war er als sogenannter »Petitionsschreiber« bekannt;527 im Januar 1988 hatte er mit einigen Freunden verabredet, sich mit Bittgesuchen unter anderem an die 519 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 17. Januar 1988; BStU, MfS, AU 3640/88, Bd. 1, Bl. 55. 520 Festnahmebericht vom 17. Januar 1988; ebenda, Bl. 10. 521 § 217 Abs. 1 und 3 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 28. Juni 1979 (3. StÄG), GBl. 1979 I, S. 144. 522 Vgl. Schreiben an RA Dr. Vogel vom 22. Januar 1988 (als Kopie im Untersuchungsvorgang); BStU, MfS, AU 3640/88, Bd. 1, Bl. 37 f. 523 Verfügung des Generalstaatsanwaltes über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens vom 22. Januar 1988; ebenda, Bl. 96. 524 Vor ihrer endgültigen Entlassung am 22. Januar 1988 ließ das MfS sie eine Erklärung abgeben, sie sei im Hafttrakt und bei den Vernehmungen ordentlich behandelt worden. Ebenda, Bl. 97. 525 Name pseudonymisiert. 526 § 214 Abs. 1 und 3 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 28. Juni 1979 (3. StÄG), GBl. 1979 I, S. 144. 527 Handschriftlicher Vermerk auf der Deliktekartei der HA IX; BStU, ohne Signatur.

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»Kirche von Unten« zu wenden, um für ihre mehrfach gestellten Ausreiseanträge Unterstützung zu erhalten.528 Am 8. Februar verfassten sie gemeinsam eine zweiseitige Erklärung an den Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann, in der sie die Praxis der DDR-Behörden angriffen, Antragsteller gesellschaftlich zu stigmatisieren und nicht selten auch zu kriminalisieren.529 Am 1. März wurde Z. schließlich »beim Betreten des Wohnhauses« von einem Stasi-Mitarbeiter angesprochen, »der sich mit dem Dienstausweis des MfS legitimierte« und ihn aufforderte, »zur Klärung eines Sachverhaltes sofort auf die Dienststelle […] mitzukommen«.530 Z., der wohl wusste, was ihm nun bevorstehen würde, kam dieser Bitte trotzdem »sofort nach und leistete während der Zuführung auf die Dienststelle in der Magdalenenstraße 14 a keinen Widerstand«.531 Die Ermittlungen im Fall Z. gehörten gewiss zu den schnellsten, die die HA IX je abschloss. Nach einer Nacht in Lichtenberg gelangte er nach Hohenschönhausen, bereits am nächsten Tag fand die Gerichtsverhandlung statt. Zuvor hatte Richter Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger den Haftbefehl aufgehoben, vorgeblich »da die Gründe für den Erlass in Wegfall geraten« waren.532 Z., vom MfS als zu »Demonstrationshandlung[en] neigend« und »Träger PID [politisch-ideologische Diversion]« klassifiziert,533 wurde nach der kurzen Zwischenstation Untersuchungshaft praktisch im Eilverfahren abgeurteilt. Dem Sympathisanten der erstarkenden Oppositionsbewegung wollte man offenkundig einen zeitnahen Warnschuss verpassen,534 zumal er bereits in der Vergangenheit nicht vor öffentlichkeitswirksamen Aktionen zurückgeschreckt hatte. Zu einer Geldstrafe in Höhe von 2 000 Mark verurteilt, verließ er am 3. März 1988 die Hohenschönhausener Haftanstalt. Agathe L.535 (geb. 1967) hatte am Tag ihrer Hochzeit im Dezember 1987 zusammen mit ihrem Ehemann einen Ausreiseantrag gestellt. Im darauffolgenden Juni erfuhren die beiden, dass ihre Eingabe abgelehnt wurde. Ihr Gatte 528 Vgl. Web-Artikel »Kirche von Unten«, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., letzte Änderung September 2008, http://www.jugendopposition.de/index.php?id=205 (8. August 2012). 529 Erklärung von Manfred Z. und anderen an Horst Sindermann, 8. Februar 1988; BStU, MfS, AU 3677/88, Bd. 2, Bl. 41 f. 530 Zuführungsbericht; ebenda, Bd. 1, Bl. 17. 531 Ebenda. 532 Beschluss des SBG Berlin-Lichtenberg (Richter Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger) vom 3. März 1988; ebenda, Bd. 2, Bl. 44. Zur umstrittenen Karriere des Richters nach 1990 vgl. »Gib mir 'nen Stempel«. Hochbelastete SED-Richter, die in Ostdeutschland ihr Land verloren haben, machen nun Karriere als Rechtsanwälte. In: Der Spiegel 33/1991, S. 54–56. 533 Auszug aus der Zentralen Personendatenbank (ZPDB) des MfS; BStU, MfS, AU 3677/88, Bd. 1, Bl. 32. 534 Das MfS notierte, er hätte operativ interessante Kontakte in der DDR (»OP-INT KONTAKT IN DER DDR«) und verfüge darüber hinaus über Verbindungen zu Übersiedlung »IM NSA [nichtsozialistisches Ausland]«; ebenda. 535 Name pseudonymisiert.

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verfügte bereits über einen einschlägigen Erfahrungsschatz: Seit 1984 versuchte er vergeblich, seine legale Ausreise aus der DDR zu erwirken. Im Sommer 1988 verbündete sich das Paar schließlich mit Gleichgesinnten in ihrem thüringischen Heimatkreis und gemeinsam überlegten sie, wie sie ihrem Anliegen mehr Nachdruck verleihen könnten. Einige von ihnen hatten bereits unter Berufsverboten zu leiden, andere wiederum trugen den stigmatisierenden Ersatzpersonalausweis PM 12 mit sich.536 Die Gruppe entschied sich alsbald für eine Aufsehen erregende Aktion. Am 9. September drangen sie in die Ostberliner Botschaft des Königreichs Dänemark Unter den Linden ein. Dort suchten sie zunächst jemanden, der sie zu Fragen der Ausreise aus der DDR kompetent würde beraten können. Telefongespräche mit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik wurden gewaltsam unterbrochen. Schließlich entspannten sie im Botschaftsgebäude ein Bettlaken mit der Aufschrift »In Freiheit wollen wir uns wähnen und zwar genauso wie die Dänen«.537 Die Mitarbeiter der Auslandsvertretung wollten offenbar keinen diplomatischen Zwischenfall riskieren und forderten die 13 Eindringlinge auf, freiwillig das Gelände der Botschaft zu verlassen. Zunächst zögerte auch die DDRStaatsmacht, immerhin wollte man unter direkter Beobachtung der dänischen Diplomaten und der kritischen Öffentlichkeit nicht allzu hart vorgehen. In der Nacht auf den 10. September »zwischen 2.30 Uhr und 2.45 Uhr« entschieden sich die Genossen von der Staatssicherheit dann doch für den Zugriff.538 Die Botschaftsmitarbeiter hatten die Besetzer kurz zuvor des Areals verwiesen.539 Sie wurden festgenommen und am nächsten Morgen in die UHA BerlinHohenschönhausen eingeliefert. Dort begannen zunächst die Ermittlungen wegen »Hausfriedensbruchs«.540 L.s Ehemann wandte sich umgehend an die Rechtsanwaltskanzlei von Wolfgang Vogel und bat ihn, das Mandat zu übernehmen.541 Fünf Tage nach der Verhaf536 Vgl. Mayer, Wolfgang: Kalter Bus zum Stasi-Knast, Spiegel Online, 18. November 2009 (Rubrik: »einestages«), http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/4746/1/kalter_bus_zum_stasi_knast.html (zuletzt geprüft am 8. August 2012). 537 Vgl. Protokoll der Erstvernehmung in der UHA Berlin II vom 10. September 1988; BStU, MfS, AU 2771/89, Bd. 5, Bl. 99. Vgl. Beweisfoto des MfS; ebenda, Bd. 19, Bl. 85. 538 Mayer: Kalter Bus zum Stasi-Knast. 539 Während der annähernde Rauswurf aus der dänischen Botschaft in der Bundesrepublik auf breites Presseecho stieß und dort scharf kritisiert wurde, fand sich in der offiziellen Berichterstattung der DDR-Presse keine Erwähnung des Vorfalls. Am 13. September erschien lediglich ein Interview mit dem dänischen Premierminister Poul Schlüter, der zu diesem Zeitpunkt die DDR besuchte. Vgl. Günther, Rolf; Preußler, Jochen: »Wir wollen unsere Beziehungen zur DDR ausbauen und festigen«. Interview des Premierministers des Königreiches Dänemark, Poul Schlüter, für »Neues Deutschland«. In: Neues Deutschland vom 13. September 1988 (Berliner Ausgabe), S. 4. 540 § 134 StGB vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 30. Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 10. September 1988; BStU, MfS, AU 2771/89, Bd. 5, Bl. 13. 541 Brief an RA Dr. Wolfgang Vogel vom 12. September 1988; ebenda, Bl. 80.

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tung der beiden wurde das Verfahren um den Straftatbestand der »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« erweitert, weil sie sich »mit 12 weiteren Mitbeschuldigten mit dem Ziel der erpresserischen Erzwingung ihrer Übersiedlung zusammenschloss[en] und mit diesen Personen an öffentlichkeitswirksamen Provokationen teilnahm[en]«.542 Obwohl allen Beteiligten das gleiche Delikt zur Last gelegt wurde, entschieden sich die Verantwortlichen, die Verfahren gegen die Gruppe aufzuspalten. Am 20. September wurden alle Frauen auf freien Fuß gesetzt, während die Männer weiterhin inhaftiert blieben. Die HA IX begründete dies gegenüber der Staatsanwaltschaft damit, dass »auf Grund des aktiven Beitrags zur schnellen und umfassenden Aufklärung der Straftat« die »Unumgänglichkeit der Untersuchungshaft« nicht mehr weiter gegeben sei.543 Dennoch kam es zur Anklage aller Beteiligten. Die Frauen wurden in der Gerichtsverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit Mitte Oktober 1988 zu Bewährungsstrafen, die Männer zu Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren verurteilt.544 Aufgrund des breiten öffentlichen Protestes gegen den Richterspruch, wurden die Haftstrafen letztlich auch zur Bewährung ausgesetzt. Bis zum Mauerfall verblieb das Ehepaar L. in der DDR.

»Sabotage« und Wirtschaftsdelikte Der »Schutz der Volkswirtschaft« zählte seit seiner Gründung zu den Kernaufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit.545 Während in der Frühphase der DDR der »demokratische« oder »sozialistische Aufbau« und damit verbunden die »Aufdeckung, Unterbindung und Entlarvung feindlicher Tätigkeit«546 im Mittelpunkt stand, sah sich das Untersuchungsorgan des MfS in den siebziger und achtziger Jahren vornehmlich bei Fällen von Wirtschafts- und Industriespionage in der Pflicht. Insbesondere ahndeten die Ermittler der HA IX Versuche »kapitalistischer Firmen«, durch angebliche »Korrumpierung von Wirtschaftsfunktionären Bevorteilungen gegenüber anderen Unternehmen« zu erreichen.547 Im Folgenden seien zwei Beispiele aus der UHA BerlinHohenschönhausen ausgeführt, die einerseits die Veränderung im strafrechtli542 Verfügung über die Erweiterung eines Ermittlungsverfahrens vom 15. September 1988; BStU, MfS, AU 2771/89, Bd. 5, Bl. 15. 543 Schlussbericht der HA IX/9 vom 19. September 1988; BStU, MfS, AU 2771/89, Bd. 28, Bl. 111. 544 Vgl. Mayer: Kalter Bus zum Stasi-Knast. 545 Vgl. Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 8. Februar 1950, GBl. 1950 I, S. 95. 546 Statut des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 6. Oktober 1953, S. 62. 547 Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988, S. 33.

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chen Verständnis von Wirtschaftsdelikten und die sich wandelnde Zielsetzung MfS-geführter Ermittlungsverfahren im ökonomischen Sektor vor Augen führen. Andererseits illustrieren sie den graduellen Wechsel von der rechtspraktischen »Willkür« der frühen Ära Ulbricht zur »scheinbaren Gesetzlichkeit« der Amtszeit Erich Honeckers.548 Der Diplom-Bergbauingenieur Conrad Kucheida (geb. 1900) fiel drei Jahre nach Gründung der DDR einer politisch motivierten Säuberungsaktion in den Betrieben des Zwickau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers zum Opfer. Nach der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 nahm die SED-Führung verstärkt »die systematische Transformation gesellschaftlicher Strukturen und Eigentumsverhältnisse« in Angriff.549 Der Ausbau der Schwerindustrie nahm in diesem Kontext eine bedeutende Rolle ein. Für wirtschaftliche Misserfolge, Arbeitsunfälle schweren Ausmaßes, Brandkatastrophen in Betrieben und Ähnliches suchte man indes Verantwortliche, denen man die Schuld für etwaige Verzögerungen bei der »Schaffung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus« durch »Erfüllung des Fünfjahrplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft« in die Schuhe schieben konnte.550 Der »Widerstand der feindlichen Kräfte«, die sich dem angeblichen gesellschaftlichen und politischen Fortschritt nicht unterordnen wollten, sollte gebrochen werden.551 Überall wurden »Saboteure«, »Provokateure« und »Agenten« gewittert.552 So auch im Fall von Conrad Kucheida: Ihm und sieben weiteren Kollegen wurde vorgeworfen, durch nicht mehr zeitgemäße Bergbaumethoden vorsätzliche Sabotage betrieben zu haben. Als Leiter des Projektierungs- und Planungsbüros der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Steinkohle bekleidete Kucheida im Bergwerkswesen einen leitenden Posten. Bereits im April 1952 hatte sich in einem Schacht des Martin-Hoop-Bergwerks Zwickau eine Brandkatastrophe ereignet, bei der wegen fehlender Fluchtmöglichkeiten 48 Bergarbeiter ums Leben gekommen waren.553 Die DDR-Regierung setzte nach dem schweren Unfall eine Kommission ein, die technische Missstände im fraglichen Grubenabschnitt feststellte. Man legte Kucheida und seinen Kollegen nun zur 548 Ansorg: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR, S. 210. Unter Wirtschaftsstraftaten zählten in der späten DDR Straftaten gegen die Volkswirtschaft (5. Kapitel, 2. Abschnitt StGB), Straftaten gegen das Zoll-, Devisen-, Edelmetall- und Atomenergiegesetz sowie Straftaten gegen das sozialistische Eigentum (5. Kapitel, 1. Abschnitt StGB). Vgl. Ministerium des Innern/Publikationsabteilung: Handbuch zur Vorbeugung und Bekämpfung von Wirtschaftsstraftaten, Berlin (Ost) 1989, S. 16. 549 Werkentin, Falco: Der totale soziale Krieg. Auswirkungen der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. In: JHK 2002, S. 24. 550 Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 9. bis 12. Juli 1952 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin (Ost) 1952, S. 493. 551 Ebenda, S. 492. 552 Vgl. Knabe: 17. Juni 1953, S. 46 ff. 553 Abschnitt »Die Schädlingstätigkeit« im Schlussbericht der HA IX vom 25. März 1953; BStU, MfS, AU 540/53, Bd. 11, Bl. 16.

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Last, den betroffenen Schacht bewusst falsch angelegt und auch nach dem Grubenunglück trotz empfohlener Maßnahmen der Regierungskommission keine bauliche Abhilfe geschaffen zu haben. Aber nicht nur das; mit dem Ziel der »Untergrabung der wirtschaftlichen Macht der Deutschen Demokratischen Republik« hätten sie »eines der wichtigsten Kohlenvorkommen in Zwickau« verheimlichen und dessen effizienten Abbau verhindern wollen.554 Personal und Arbeitsmaterialien seien unter ihrer Obhut nicht nur fehlerhaft, sondern in geradezu »verbrecherische[r]« Weise zum Einsatz gekommen, mit dem Ergebnis, dass sich die ohnehin vorhandenen Mängel verschärft hätten.555 Da sich im Zuge dessen die »Missstimmung unter den Kumpels steigerte«, wandte sich die Chemnitzer SED-Bezirksleitung im November 1952 an den stellvertretenden Ministerpräsidenten Walter Ulbricht.556 Die Genossen erachteten die »Schädlingstätigkeit« als erwiesen und forderten in ihrem Schreiben personelle Konsequenzen – in Abstimmung mit dem SED-Zentralkomitee.557 Die »Ablösung der Kräfte sowie die Verhaftung« sollte dabei unter direkter Anleitung der DDR-Staatspartei erfolgen.558 Eine Woche später wurden Kucheida und seine Vorgesetzten festgenommen und in die örtliche MfS-Untersuchungshaftanstalt in Chemnitz eingeliefert, wo sie die kommenden sechs Wochen verbringen sollten.559 In zwölf Verhören, die oft bis spät in die Nacht andauerten, befragten die Untersuchungsführer Kucheida zu verschiedenen Details seiner Arbeit und selbstverständlich zum Tatvorwurf. Doch offenbar stockten die Ermittlungen in dem so wichtigen Verfahren; die Kollegen der HA IX in Hohenschönhausen übernahmen den Fall kurz vor Jahresende so plötzlich, dass sich die Chemnitzer Ermittler an oberster Stelle über die abrupte Verlegung der insgesamt acht Häftlinge beschwerten.560 Eine derartige Missachtung ihrer Kompetenz wollten sie nicht auf sich sitzen lassen und betonten obendrein, dass »die Entlarvung dieser Schädlinge ausschließlich auf die sehr gute Arbeit der [Chemnitzer] Vernehmer zurückzuführen [sei]«.561 In Hohenschönhausen nahm der Verhörmarathon weiter seinen Lauf. Die Ermittler der HA IX legten es darauf an, Kucheida und den anderen eine vorsätzliche Handlung und darüber hinaus auch noch Spionageabsichten 554 Ebenda, Bl. 17. 555 Ebenda, Bl. 19. 556 Bericht der MfS-Bezirksverwaltung Chemnitz, Abt. III, vom 31. Dezember 1952; ebenda, Bd. 9, Bl. 77. 557 Vgl. Schreiben der SED-Bezirksleitung Chemnitz an Walter Ulbricht vom 12. November 1952; ebenda, Bl. 7–10. 558 Ebenda, Bl. 7. 559 Vgl. Haftbefehl des Kreisgerichts Chemnitz III, ohne Datum; BStU, MfS, AU 540/53. 560 Vgl. Schreiben des Leiters der BV Chemnitz an Staatssekretär Erich Mielke vom 31. Dezember 1952; BStU, MfS, AU 540/53, Bd. 9, Bl. 76. 561 Ebenda, Bl. 79.

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nachzuweisen. Zermürbt von den stundenlangen späten Befragungen gab er schließlich nach weiteren sechs Wochen zu Protokoll, auf Anweisung gehandelt und von den Auswirkungen seiner »Schädlingstätigkeit« gewusst zu haben.562 Wenig später wurden die Untersuchungen beendet. Mit dem von vornherein feststehenden Resultat, »dass im Zwickau-Oelsnitzer Steinkohlenrevier eine von amerikanischen und deutschen Monopolkapitalisten organisierte und geleitete Gruppe von Schädlingen bestand, die sich zum Ziel setzte, die Steinkohlenproduktion im Interesse der westdeutschen kapitalistischen Grubenbesitzer zu desorganisieren«, schloss die HA IX die Akte und übergab sie an den Generalstaatsanwalt zur Anklageerhebung vor dem Obersten Gericht.563 Um die Wirkung des Verfahrens nicht zu verfehlen, wurde die Gerichtsverhandlung »vor erweiterter Öffentlichkeit« durchgeführt.564 Es handelte sich um einen klassischen stalinistischen Schauprozess, bei dem eine Gruppe von »bürgerlichen Spezialisten«, auf die die SED zukünftig glaubte verzichten zu können, als Sündenböcke für Fehlentwicklungen kriminalisiert und damit ausgeschaltet wurden. Die Beschuldigungen waren – zumindest im Hinblick auf ihre strafrechtliche Relevanz – weitestgehend konstruiert. Mitangeklagt waren unter anderem der ehemalige Professor an der Bergakademie Freiberg und Nationalpreisträger Otto Fleischer, der ehemalige technische Leiter des Zwickauer Martin-Hoop-Werkes Wilhelm Kappler und der ehemalige technische Leiter des Oelsnitzer Steinkohlenbergwerks »Deutschland« Hans Hertel.565 Am 26. September 1953 erging der Richterspruch wegen Verbrechen gemäß Artikel 6 der DDR-Verfassung, Kontrollratsdirektive 38 und Befehl 160566. Das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« berichtete tags darauf über das Urteil gegen die »Verschwörergruppe im Dienst des amerikanisch-deutschen Imperialismus«.567 Conrad Kucheida wurde zu einer fünfeinhalbjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die er unter anderem in Cottbus und Berlin-Rummelsburg verbüßen musste.568 Am 8. September 1956 durfte er den Strafvollzug vorzeitig verlassen.569 562 Vernehmungsprotokoll vom 10. Februar 1953; BStU, MfS, AU 540/53, Bd. 6, Bl. 107. 563 Schlussbericht der HA IX vom 25. März 1953; BStU, MfS, AU 540/53, Bd. 11, Bl. 11. 564 Sitzungsbericht des Obersten Gerichts; BStU, MfS, AU 540/53. 565 Vgl. Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, bearbeitet von Roger Engelmann, Göttingen 2013, Datenbank auf CD, Anlage 1 vom 10. Oktober 1953 zum Informationsdienst Nr. 1090, Fußnote 9. 566 SMAD-Befehl Nr. 160 über die Verantwortung für Sabotage- und Diversionsakte vom 3. Dezember 1945. 567 »Urteil des Obersten Gerichts gegen Verschwörergruppe«. In: Neues Deutschland vom 29. September 1953 (Berliner Ausgabe), S. 3. 568 Zum Gefängnis Cottbus vgl. Alisch, Steffen: Das Zentralgefängnis Cottbus. Vom nationalsozialistischen Frauenzuchthaus zur »Strafvollzugseinrichtung« der DDR (Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, 43), Berlin 2009. 569 Vgl. Beschluss des Obersten Gerichts vom 22. August 1956 über die Umwandlung der Freiheits- in eine Bewährungsstrafe gemäß § 346 Abs. 1 StPO: »Das Gericht kann nach Erlass des Urteils

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Gerhard N.570 (geb. 1923) wurde 1974 vom MfS festgenommen, weil er im Verdacht stand, als Einkäufer eines Ostberliner Elektrotechnikbetriebes für westliche Handelsgesellschaften Wirtschaftsspionage betrieben und damit einen erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden für die DDR verursacht zu haben. Seit Abschluss der sogenannten Ostverträge und deutsch-deutscher Abkommen war es zu einem rapiden Anstieg von Einreisen westdeutscher Wirtschaftsvertreter gekommen, die sich in der DDR um für sie rentable Außenhandelsvereinbarungen bemühten.571 Beliebter Schauplatz war hierfür die mehrfach im Jahr stattfindende Leipziger Messe, welche auch N. beruflich frequentierte.572 Ihm warf das MfS schließlich vor, »die ihm bekanntgewordenen innerbetrieblichen Tatsachen« verraten und daneben »unerlaubt konkrete Absprachen« über die Ein- und Ausfuhr von Waren ins nichtsozialistische Ausland getroffen zu haben.573 Am 19. Oktober wurde er in die Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen eingeliefert, wo die HA IX ein Ermittlungsverfahren wegen »unbefugter Offenbarung und Erlangung wirtschaftlicher Geheimnisse«574 gegen N. einleitete. Die ersten vier Wochen seiner Untersuchungshaft verbüßte er in einer Einzelzelle im Erdgeschoss der Haftanstalt, erst dann wurde er mit anderen Häftlingen zusammengelegt.575 In den Vernehmungen durch MfS-Ermittler Manfred Strauß (HA IX/5) gab er an, sich durch die Preisgabe von Informationen »die Erlangung persönlicher Vorteile« erhofft zu haben – als Gegenleistung erhielt er eigenen Aussagen zufolge »finanzielle Mittel und

die Vollstreckung der Freiheitsentziehung mit dem Ziel des Straferlasses aussetzen, wenn a) das Vorleben und die Persönlichkeit des Täters sowie die Umstände des Verbrechens dies rechtfertigen und b) zu erwarten ist, dass der Verurteilte während einer Bewährungszeit sich so verantwortungsbewusst verhält, dass auch für die Zukunft mit einer gewissenhaften Erfüllung seiner Pflichten als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik gerechnet werden kann.« Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 2. Oktober 1952, GBl. 1952 I, S. 1028. 570 Name pseudonymisiert. 571 Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Die Hauptabteilung XVIII, S. 63. 572 Zur Leipziger Messe vgl. Rudolph, Karsten; Wüstenhagen, Jana: Große Politik – kleine Begegnungen. Die Leipziger Messe im Ost-West-Konflikt, Berlin 2006, insbesondere S. 135 ff. 573 Deliktekartei der HA IX/5; BStU, ohne Signatur. 574 Das Ermittlungsverfahren wurde auf der Grundlage von § 172 StGB Abs. 1 und 3 eingeleitet: »Wer vorsätzlich unter Verletzung einer ihm durch Gesetz oder auf Grund eines Arbeitsvertrages obliegenden Pflicht geheimzuhaltende wirtschaftliche, technische oder wissenschaftliche Vorgänge, Darstellungen oder andere Tatsachen unbefugt offenbart und dadurch fahrlässig die Gefahr wirtschaftlicher Nachteile verursacht, wird mit öffentlichem Tadel, Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.« »Wer mit der Tat vorsätzlich bedeutende wirtschaftliche Nachteile verursacht oder die Tat begeht, um sich persönlich zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft.« Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 34. 575 Vgl. Zellenauflistung in der Gefangenenakte von Gerhard N.; BStU, MfS, AS 169/80, Nr. 7250/74.

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Wertgegenstände sowie Textilien westlicher Herkunft«.576 In zahlreichen weiteren Verhörsitzungen arbeitete die HA IX heraus, dass N. seit mehreren Jahren in insgesamt mehr als 40 Fällen zur persönlichen Vorteilsnahme Betriebsinterna an westliche Importeure weitergab und sie mit vertraulichen Anweisungen »hinsichtlich der Verhandlungsführung und der Vertragsabschlüsse mit Handelsfirmen aus dem nichtsoz[ialistischen] Wirtschaftsgebiet« versorgt hatte.577 Hierfür hatte er als Ausgleich D-Mark-Summen im oberen vierstelligen Bereich erhalten. Nach rund acht Monaten schlossen die Ermittler die Akte und übergaben sie der Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung. Das Bezirksgericht Frankfurt/Oder verurteilte N. schließlich am 16. Oktober 1975 zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe und zu einer zusätzlichen Geldstrafe in Höhe von 10 000 Mark. Zur Strafverbüßung gelangte er in die StVE BrandenburgGörden; er wurde jedoch nach drei Jahren vorzeitig auf Bewährung entlassen.

NS-Verbrechen In der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen saßen zwischen 1950 und 1987 mindestens 60 Personen ein, gegen die die Hauptabteilung IX Untersuchungsverfahren wegen Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus eingeleitet hatte. Kriegsverbrechen der SS und der Wehrmacht, rassisch motivierte Tötungsdelikte und andere Gewaltverbrechen standen hierbei im Fokus der Ermittlungen.578 Allerdings übernahm das MfS-Untersuchungsorgan erst ab etwa 1954 NS-Fälle in der Berliner Zentrale eigenständig.579 Gegen den früheren Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und GestapoChef in Serbien Bruno Sattler (1898–1972) beispielsweise, den wohl ersten namhaften NS-Belasteten in Hohenschönhausen, ging die Sowjetische Militär576 Deliktekartei der HA IX/5; BStU, ohne Signatur. 577 Ebenda. 578 Vgl. Rüter, Christiaan F.; Demps, Laurenz: DDR-Justiz und NS-Verbrechen, hg. in 13 Bänden, Amsterdam/München 2002 bis 2009. Vgl. auch Dies.: Die Waldheimverfahren Nr. 2001 ff. nebst Ergänzungsteil zu Bd. I–XIII (DDR-Justiz und NS-Verbrechen, 14), Amsterdam/München 2009. 579 1954 gegen Wilhelm Wolff (1911–1955), Friedrich-Karl Bauer (geb. 1912) und Friedrich Fellenberg (geb. 1904). Die Urteile gegen Wolff und Bauer sind in Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1115–1199 der Jahre 1951–1954 (DDR-Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 4), S. 61–77 und Dies.: Die Verfahren Nr. 1064–1114 der Jahre 1955–1964 (DDR-Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 3), S. 623–637 ediert. Zur Biographie Friedrich Fellenbergs vgl. Niemann, Mario: Eintrag zu Fellenberg, Friedrich. In: Müller-Enbergs et al.: Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien (Bd. 1, A–L), S. 315 f. Den vermutlich ersten NS-Fall des MfS verortet Henry Leide in seiner Studie in der BV Rostock, die im April 1950 das Ermittlungsverfahren gegen Hans Müller einleitete. Vgl. Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2008, S. 53 f.

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administration (SMAD) noch selbst vor. Unter der Ägide des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes wurde Sattler 1947 in das Kellergefängnis eingeliefert; abgesehen von mindestens einem längeren Aufenthalt in den Dienstgebäuden der SMAD in Berlin-Karlshorst war er hier bis Ende 1950/Anfang 1951 inhaftiert.580 In den fünfziger Jahren stand die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern für die HA IX allerdings weniger im Mittelpunkt; erst im nachfolgenden Jahrzehnt begann eine aktivere Ahndung von Kriegsverbrechen ehemaliger nationalsozialistischer Funktionsträger.581 Für die MfS-Untersuchungsabteilungen insgesamt zählt Henry Leide in seiner einschlägigen Studie für den Zeitraum von 1951 bis 1959 67 Verurteilungen,582 wovon die Hohenschönhausener Ermittler nach gegenwärtigem Kenntnisstand lediglich drei Vorgänge bearbeitet haben.583 Entsprechend der allgemeinen Tendenz in den sechziger Jahren, die Ermittlungen in NS-Strafsachen »immer mehr zugunsten der Offensivmaßnahmen der SED-Führung« gegen die Bundesrepublik auszurichten, gingen auch die Zahlen der von den Hohenschönhausener Ermittlern abgeschlossenen Untersuchungsverfahren in dieser Deliktgruppe nach oben:584 Zwischen 1960 und 1969 wurden hier schließlich 17 Verfahren eingeleitet und abgeschlossen,585 ab 1965 unter Federführung der in diesem Jahr neu geschaffenen Unterabteilung 10 der HA IX, die nach 1980 als AG »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« weitergeführt und deren Aufgabengebiet 1985 in die Abteilung 2 der HA IX integriert wurde.586 In der HA IX wurde 1968 die Abteilung 11 gegründet, die sich um die Beschaffung und Erschließung

580 Das Landgericht Greifswald verurteilte Sattler am 3. Juli 1952 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe, die er unter anderem in den Strafvollzugsanstalten Brandenburg-Görden und BerlinRummelsburg verbüßte. Am 15. Oktober 1972 verstarb er im Krankenhaus der Haftanstalt LeipzigKleinmeusdorf. Vgl. Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1115–1199 der Jahre 1951–1954 (DDRJustiz und NS-Verbrechen, Bd. 4), S. 467–482. 581 Zur Frühzeit der strafrechtlichen Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen in der Bundesrepublik vgl. exemplarisch Eichmüller, Andreas: Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012. 582 Zur Ermittlungstätigkeit des MfS in Fällen von NS-Straftaten zwischen 1951 und 1959 vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 54. 583 Neben den bereits von Rüter und Demps veröffentlichten Urteilen der Verfahren gegen Bruno Sattler, Wilhelm Wolff und Friedrich-Karl Bauer wurde lediglich ein NS-Ermittlungsverfahren unter den hier ausgewerteten Untersuchungsvorgängen der HA IX gefunden (Friedrich Fellenberg). Zu Sattler (Verfahren Nr. 1163), Wolff (Verfahren Nr. 1121) und Bauer (Verfahren Nr. 1100) vgl. Rüter; Demps: DDR-Justiz und NS-Verbrechen Bd. 4 bzw. 3. 584 Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 78. 585 Zwischen 1961 und 1965 finden sich für die Linie IX DDR-weit 29 Verurteilungen. Vgl. ebenda, S. 88. 586 Vgl. ebenda, S. 100.

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von Informationen und Materialien aus der NS-Zeit kümmerte und auf diese Weise die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit unterstützte.587 Nicht mehr nur hochrangige NS-Täter standen seitdem im Fokus der Untersuchungen. Gerade auch einfache Angehörige etwa von Einsatzkommandos, welche in den besetzten Gebieten in Ost- und Südosteuropa Befehle von oben in blutige Taten umgesetzt hatten, rückten für die ermittelnden MfSDiensteinheiten ins Zentrum.588 Mit dem »Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen«589 hatte die DDR schließlich 1964 eine Grundlage zur strafrechtlichen Ahndung von NS-Delikten über das Jahr 1965 hinaus geschaffen, welche die Justizbehörden, einschließlich der MfSErmittlungsabteilung, nun auch ausgiebig zu nutzen gedachten.590 Zudem wollten die Verantwortlichen ähnlichen Bestrebungen in der Bundesrepublik in nichts nachstehen.591 587 Die Abteilung IX/11 wurde parallel zur HA XX/2/III auf der Grundlage des Befehls Nr. 2/68 ins Leben gerufen. Vgl. ebenda, S. 105. 588 Vgl. Skiba, Dieter: Der Beitrag der Organe des MfS bei der konsequenten Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als JHS-Diplomarbeit eingereicht am 13. November 1980; BStU, MfS, JHS, MF VVS 384/80, S. 113 f. (MfS-Paginierung). 589 Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen vom 1. September 1964, GBl. 1964 I, S. 127. 590 Zur Neuorientierung der NS-Strafverfolgung in den sechziger Jahren vgl. Leide: NSVerbrecher und Staatssicherheit, S. 105 f. Zur juristischen Kontroverse in beiden deutschen Staaten über die Frage der bevorstehenden Verjährung von NS-Straftaten in der ersten Hälfte der sechziger Jahre vgl. Weinke, Annette: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002, S. 187–201. 591 Vgl. exemplarisch Weinke, Annette: Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, 13), Darmstadt 2008. Vgl. auch Dies.: Die Verfolgung von NS- und SED-Unrecht in der Bundesrepublik als Gegenstand historischer Forschungen. In: ZfG 44(1996)2, S. 127–139. Zur schleppenden Frühphase der Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik insgesamt vgl. Werle, Gerhard; Wandres, Thomas: Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils, München 1995, insbesondere S. 16 ff. Vgl. auch Perels, Joachim: Verpasste Chancen. Zur Bedeutung der Nürnberger Nachfolgeprozesse vor dem Hintergrund der ungenügenden Strafverfolgung von NSTätern in der BRD. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Die frühen Nachkriegsprozesse (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 3), Bremen 1997, S. 30–37. Zu (oftmals gescheiterten) Ermittlungsverfahren der bundesdeutschen Justiz gegen Angehörige von Polizeibataillonen vgl. Klemp, Stefan: »Nicht ermittelt«. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch, Essen 2011, insbesondere S. 421 ff. Für einen Kurzüberblick über die strafrechtliche Verfolgungspraxis in der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung vgl. Schrimm, Kurt: Die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland vor 1989. In: Konrad-Adenauer-Stiftung et al. (Hg.): Die juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (Tagung im Bildungszentrum Schloss Wendgräben vom 11. bis 13. Januar 2004), Magdeburg 2005, S. 27–47. Zur strafrechtlichen Debatte der Beurteilung nationalsozialistischer Gewalttaten aus juristischer Perspektive vgl. ferner Vest, Hans: Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? Nationale Strafverfolgung von staatlichen Systemverbrechen mit Hilfe der Radbruchschen Formel, Tübingen 2006, S. 52 ff.

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Politisch war die Sachlage allerdings etwas komplizierter, da offiziell stets behauptet worden war, die DDR habe nie unter einer schwerwiegenden Täterbelastung leiden müssen. Schließlich hätten die hohen NS-Dienstränge oder ehemalige Beamte schon früh eine Karriere im Westen begonnen, während die DDR ohne nennenswerte Altlasten einen Neuanfang gemacht habe. Spätestens Ende der sechziger Jahre, im Zuge der Umorientierung der Ermittlungen auf die mittlere und untere Hierarchieebene der Befehlsempfänger, wurden die Geheimdienstler allerdings förmlich darauf gestoßen, dass man mit dieser Behauptung einem Irrtum unterlegen war. Dennoch zeichnete sich seit den siebziger Jahren ein langsamer Rückgang der Strafverfolgung von NSStraftaten im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt ab; auch im Fall der UHA Hohenschönhausen gingen die Zahlen der diesbezüglichen Ermittlungsverfahren wieder zurück. Unter gründlicher Überprüfung der »Täterpersönlichkeit« des Betroffenen sollte nun abgewogen werden, ob eine strafrechtliche Verfolgung unter »operativen«, also taktischen Gesichtspunkten im Einzelfall überhaupt als Königsweg zu betrachten sei oder ob sich der jeweils als NS-Täter Ausgemachte nicht besser anderweitig vom MfS nutzen ließe.592 In den siebziger Jahren bearbeitete die Hohenschönhausener Ermittlungszentrale noch 14 Fälle; in den achtziger Jahren untersuchte sie weitere zehn. Unter den Beschuldigten befanden sich vormalige Angehörige von Polizeibataillonen, Einsatzgruppen und -kommandos der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD), Mitglieder der Gestapo, von Wachmannschaften oder auch höheres medizinisches Personal, welches in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern seinen Dienst verrichtet hatte. Stefan Klemp urteilte in seiner 2011 erweiterten Studie über in der DDR geführte Ermittlungsverfahren gegen Polizeibataillonsmitglieder, sie wären »allem Anschein nach richtig ermittelt«, wobei mitunter zu bezweifeln sei, »dass die Methoden alle rechtlich einwandfrei waren«.593 In der Tat kann man für den Großteil der Untersuchungen in NS-Strafsachen feststellen, dass sie mit vergleichsweise großem Aufwand geführt wurden und die daran anschließenden Verurteilungen – im Unterschied zu den meisten Urteilen wegen politischer Delikte – einer Überprüfung durch bundesdeutsche Gerichte nach 1990 standgehalten haben.594 Die Untersuchungsführer wären zudem dem Prinzip gefolgt, nur 592 Vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 107. Vor allem wenn ein bedeutsamer »Wandlungsprozess« beim Beschuldigten auszumachen war, sollten die MfS-Ermittler laut einer Anweisung des Leiters der HA XX, Paul Kienberg, tendenziell von einer Strafverfolgung zugunsten anderer geheimdienstlicher Maßnahmen absehen. 593 Klemp: »Nicht ermittelt«. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz, S. 451 f. 594 Vgl. ebenda, S. 451. Christian Widmaier resümierte in seiner 1999 publizierten Dissertation, dass von den bis 1996 bei bundesdeutschen Gerichten eingereichten rund 140 000 Rehabilitierungsgesuchen rund 90 % in eine Aufhebung des Gerichtsurteils aus der Zeit bis 1990 mündeten. Vgl. Widmaier, Christian: Häftlingshilfegesetz, DDR-Rehabilitierungsgesetz, SED-Unrechtsbereinigungsgesetze. Rehabilitierung und Wiedergutmachung von SBZ/DDR-Unrecht?, Frankfurt/M. 1999, S. 295. Vgl. Gesetz über

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diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die vor 1945 Befehle erteilten; Befehlsempfänger jedoch nur dann, wenn sie »schwere persönliche Schuld auf sich geladen« hatten.595 Zur Veranschaulichung der von der HA IX geleiteten Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen werden im Folgenden einige von ihnen näher betrachtet.596 Otto Hebold (1896–1976) war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu seiner Verhaftung als Arzt im Landambulatorium in Falkenberg/Elster beschäftigt. Seine medizinische Tätigkeit fand durchaus Anerkennung; allerdings hatte er seinem Arbeitgeber verschwiegen, dass er vor 1945 vorwiegend als Nervenarzt in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten tätig war. Dort zeichnete er maßgeblich verantwortlich für die »Aussonderung« von Psychiatriepatienten und KZ-Häftlingen im Rahmen des nationalsozialistischen »Euthanasieprogramms«.597 Die Betroffenen wurden größtenteils mittels Giftgas ermordet. Hebold, der seit 1937 zusätzlich in der NS-Sturmabteilung (SA) als Stabsarzt zugelassen war,598 hatte seit 1940 in den Anstalten Pirna-Sonnenstein und Bernburg/Saale Vergasungen von Kranken überwacht und Organentnahmen nach deren Ableben vorgenommen.599 Nach 1945 fasste er als Arzt unbehelligt wieder Fuß. In der DDR wurde er – wie viele andere ehemalige NS-Funktionsträger – Mitglied der NationalDemokratischen Partei Deutschlands (NDPD); er trat dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) bei.600 die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz – StrRehaG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Dezember 1999 (BGBl. 1999 I S. 2664), zuletzt durch Artikel 11 des Gesetzes vom 22. Juni 2011 (BGBl. 2011 I S. 1202) geändert. 595 Der Autor bezieht dies jedoch nur auf Verfahren gegen Angehörige von Polizeibataillonen. Klemp: »Nicht ermittelt«, S. 452. 596 Die Verwendung von Unterlagen erfolgt gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 4 StUG. Demnach gelten für »Systemträger« des Nationalsozialismus dieselben Kriterien wie für Mitarbeiter des MfS im Sinne des § 6 Abs. 4 StUG. 597 Vgl. beispielsweise Kepplinger, Brigitte: »Vernichtung lebensunwerten Lebens« im Nationalsozialismus. Die »Aktion T4«. In: Morsch, Günter; Perz, Bertrand; Ley, Astrid (Hg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 29), Berlin 2011, S. 77–87. Weiterhin Klee, Ernst: »Euthanasie« im Dritten Reich. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt/M. 2010, v. a. S. 78 ff. 598 Vgl. Personal-Antrag für die SA-Standarte 64 vom 27. November 1937 (Dienststelle 26); BStU, MfS, ZUV 45, Bd. 6, Bl. 121–123. Hebold wurde hier als für leitende Tätigkeiten geeignet charakterisiert. 599 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 12. Mai 1964; ebenda, Bd. 1, Bl. 315. Zu Otto Hebolds Einsatzorten vgl. Böhm, Boris: Die nationalsozialistische Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940– 1941. In: Morsch; Perz; Ley (Hg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas, S. 109–117 sowie Hoffmann, Ute: »Für Reichszwecke freigemacht«. Zur Einrichtung und Funktion der »Euthanasie«-Anstalt Bernburg/Saale. In: ebenda, S. 131–139. 600 Zum »Ehemaligen«-Problem in der NDPD vgl. beispielsweise Gottberg, Bernd: Die Gründung und die ersten Jahre der NDPD 1948–1954. In: Frölich, Jürgen (Hg.): »Bürgerliche« Parteien in

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Da er seine frühere Tätigkeit geheim gehalten hatte, leitete der zuständige Rat des Kreises Herzberg ein Disziplinarverfahren gegen Hebold ein. Daraufhin wurde er 1964 fristlos aus seinen Diensten im DDR-Gesundheitswesen entlassen. Auf Basis von Vorermittlungen der HA XX/1601 ordnete das MfS am 19. März desselben Jahres seine Verhaftung an.602 Vier Tage darauf leitete die HA IX ein Ermittlungsverfahren ein; noch am selben Tag wurde Hebold in Hohenschönhausen in Haft genommen.603 In den Vernehmungen, die vorrangig von Lothar Stolze (HA IX/11) geleitet wurden, standen Hebolds Werdegang in der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heilund Pflegeanstalten«604 (RAG), seine weltanschauliche Entwicklung und Haltung bis 1945 und selbstverständlich seine Zuständigkeiten als Mitbeteiligter der Aktionen »T4« und »14f13« im Mittelpunkt.605 Während seiner Untersuchungshaft wurde der mittlerweile schwer Erkrankte zur Behandlung in das Haftkrankenhaus auf dem Gelände der UHA Berlin-Hohenschönhausen verlegt. Nach etwa acht Monaten schlossen die Ermittler das Verfahren ab.606 Hebold hatte, so das Untersuchungsergebnis, in den Anstalten PirnaSonnenstein und Bernburg »zunächst als stiller und danach als hauptamtlicher Mitarbeiter […] an der Erfassung und Aussonderung von ca. 31 000 Insassen […] mitgewirkt und damit aktiv [dazu] beigetragen, dass die Mehrzahl der Opfer in den eigens hierfür eingerichteten Vergasungsanstalten getötet wurden«.607 Als Gutachter im KZ Sachsenhausen nördlich von Berlin hatte er 26 Häftlinge für den Gastod bestimmt. Persönlich anwesend war er bei der Ermordung von insgesamt rund 1 300 Psychiatriepatienten, die durch die Vergiftung mit Kohlenmonoxid ums Leben kamen. Hebold hatte gestanden, »zur Tötung einer nicht mehr im einzelnen feststellbaren Anzahl kranker Mender SBZ/DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945 bis 1953, Köln 1994, S. 73–87, insbesondere 79. 601 Die im März 1964 von HA V/1 in HA XX/1 umbenannte Abteilung war unter anderem für die Überwachung des Gesundheitswesens in der DDR zuständig. Vgl. hierzu Auerbach et al.: Hauptabteilung XX, insbesondere S. 41–50. 602 Vgl. Haftbeschluss der HA XX/1 vom 19. März 1964; BStU, MfS, ZUV 45. 603 Das Ermittlungsverfahren wurde am 23. März 1964 wegen §§ 211 (Mord) und 47 StGB (Teilnahme an strafbaren Handlungen), Artikel 6 Statut für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 in Verbindung mit Artikel 5 Abs. 1 der DDR-Verfassung eingeleitet. Vgl. ebenda. Zum politischen Kontext vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 337 ff. 604 Hierbei handelte es sich um einen der Tarnnamen, unter denen die Zentraldienststelle-T4 (Tiergartenstraße 4) nach außen in ihrer Korrespondenz auftrat. 605 Zur Aktion »14f13« vgl. beispielsweise Grode, Walter: Die »Sonderbehandlung 14f13« in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches, Frankfurt/M./Hannover 1987. 606 Als Ermittlungsergebnis nennt die HA IX Verbrechen gemäß §§ 211 und 47 StGB, nach Artikel 6 IMT-Statut und nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen. Vgl. Schlussbericht der HA IX vom 11. November 1964; BStU, MfS, ZUV 45. 607 »Rechtliche Würdigung« im Urteil des BG Cottbus vom 12. Juli 1965, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1031–1063 der Jahre 1965–1974 (DDR-Justiz und NSVerbrechen, Bd. 2), S. 734.

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schen beigetragen zu haben«.608 Vor dem Bezirksgericht Cottbus wurde Otto Hebold am 12. Juli 1965 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gemeinschaftlich begangenen Mordes und Teilnahme an Straftaten zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Am 4. Januar 1976 verstarb er in der MfS-Sonderhaftanstalt Bautzen II. Kurt Heißmeyer (1905–1967) hatte seit 1944 im Konzentrationslager Neuengamme in Hamburg teils kranke, teils völlig gesunde Häftlinge zu Forschungszwecken mit aktiven Tuberkelviren infiziert und deren Krankheitsverlauf, in den meisten Fällen mit tödlichem Ausgang, dokumentiert. Bereits im August 1945 tauchte sein Name in einer Liste der »United Nations War Crimes Commission« (UNWCC) auf, allerdings ohne weitere Konsequenzen.609 Nach Kriegsende konnte er sich erfolgreich einer Strafverfolgung entziehen, siedelte sich in Magdeburg an und gründete dort als Lungenfacharzt die DDR-weit einzige spezialisierte Tuberkulosepraxis. Das Wochenmagazin »stern« hatte zwar 1959 einen Beitrag über das ehemalige Lager Neuengamme veröffentlicht, in dem auch Heißmeyer als Verantwortlicher namentlich genannt worden war; die MfS-Abteilung V/1 wurde allerdings erst vier Jahre später auf ihn aufmerksam. Am frühen Morgen des 13. Dezember 1963 wurde Heißmeyer schließlich in seiner Magdeburger Wohnung verhaftet und in die örtliche Bezirksuntersuchungshaftanstalt am Moritzplatz eingeliefert.610 Noch am selben Tag um 13.00 Uhr gelangte er nach Berlin-Hohenschönhausen.611 Hier verbrachte er mehr als zweieinhalb Jahre. In dem äußerst aufwendigen Ermittlungsverfahren erbaten die MfS-Ermittler im August 1964 Rechtshilfe bei der sowjetischen Generalstaatsanwaltschaft, da viele der einstigen Probanden und späteren Opfer Heißmeyers russischer Herkunft waren.612 Insgesamt 78 ukrainische, russische und weißrussische Zeugen wurden vom sowjetischen Geheimdienst KGB vernommen. Auch der polnische Geheimdienst Służba Bezpieczeństwa (SB) beteiligte sich an Zeugenbefragungen.613

608 Ebenda, S. 735. 609 Liste der »United Nations War Crimes Commission« vom August 1945 im Untersuchungsvorgang Kurt Heißmeyers; BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 46, Bd. 154, Bl. 146. 610 Vgl. Haftbefehl des Stadtbezirksgerichts (SBG) Berlin-Mitte vom 10. Dezember 1963. Der Haftbefehl war wegen §§ 211, 74, 47, 43 und 48 StGB, Artikel 6 IMT-Statuts sowie Artikel 5 der DDR-Verfassung ausgestellt worden. BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 46. 611 Vgl. Festnahmebericht vom 13. Dezember 1963; ebenda, Bd. 138, Bl. 9. 612 Vgl. Vorschlag zur Einleitung eines Rechtshilfeersuchens an den Generalstaatsanwalt der UdSSR vom 18. August 1964; ebenda, Bl. 219. 613 Vgl. die Bände 150 und 151 im Untersuchungsvorgang Kurt Heißmeyers; ebenda. Zur Geschichte des kommunistischen Geheimdienstes in Polen vgl. Dudek, Antoni; Paczkowski, Andrzej: »Polen«. In: Kamiński, Łukasz; Persak, Krzysztof; Gieseke, Jens (Hg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991, Göttingen 2009, S. 265–339, v. a. 273 ff.

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Heißmeyer selbst wurde während seiner Untersuchungshaft 54 Mal verhört. Es stellte sich heraus, dass er medizinische Experimente an mindestens 52 Neuengammer Häftlingen, darunter 20 Kinder, durchgeführt hatte. Mittels einer Sonde wurden den meist russischen oder weißrussischen Gefangenen Tuberkuloseviren in die Lunge eingegeben, um am lebenden Menschen spezielle Aspekte der Krankheit zu erforschen.614 War der baldige Tod der Häftlinge absehbar, wurden die Betroffenen von SS-Angehörigen ermordet und anschließend von Heißmeyer obduziert.615 In den Vernehmungen durch das MfS gestand er ein, seinerzeit von diesen einmaligen Forschungsbedingungen, welche es seiner Ansicht nach außerhalb eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers in dieser Form nicht gegeben hätte, begeistert gewesen zu sein.616 Er habe stets gewusst, dass es sich bei den Experimenten in Neuengamme niemals um Heilversuche handelte, sondern dass der Tod der hierfür ausgewählten Häftlinge stets wissentlich und willentlich in Kauf genommen worden sei.617 Im Oktober 1965 schloss die HA IX das Ermittlungsverfahren gegen Heißmeyer ab. Im darauffolgenden April wurde er vor dem Bezirksgericht Magdeburg angeklagt, am 21. Juni 1966 begann der Gerichtsprozess vor »begrenzter Öffentlichkeit«.618 Die Anwaltskanzlei Wolfgang Vogel übernahm dabei die Verteidigung. Am 30. Juni 1966 erging das Urteil über eine lebenslängliche Zuchthausstrafe wegen Verbrechen gemäß Artikel 6 c des IMTStatuts, § 1 Abs. 1 StGB sowie § 1 des Gesetzes über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen.619 Im August wurde Kurt Heißmeyer nach Bautzen II verlegt. Hier verstarb er am 29. August 1967. Gegen Josef Blösche (1912–1969) wurde im Januar 1967 ein Ermittlungsverfahren gemäß Artikel 6 des IMT-Statuts620, Artikel 5 DDR-Verfassung621,

614 Der Untersuchungsvorgang enthält in den Bänden 1 bis 137 einen großen Teil an Originalakten aus dem KL Neuengamme, in denen die medizinischen Versuchsverläufe (teilweise mit Fotomaterial) dokumentiert sind. 615 Vgl. Zwischenbericht; Informationsbericht der HA IX/2 an Minister Erich Mielke vom 14. Dezember 1963; BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 46, Bd. 138, Bl. 79–81, hier 81. 616 Vgl. Vernehmungsprotokolle vom 4., 10. und 20. März, vom 28. April und vom 4. August 1964; ebenda, Bd. 138. 617 Vgl. Vernehmungsprotokolle vom 27. Februar, 4., 18. und 20. März, vom 6. und 28. April sowie vom 8. September 1964; ebenda. 618 Bericht der HA IX/2; ebenda, Bl. 318. 619 Vgl. Urteil des Bezirksgerichts Magdeburg vom 30. Juni 1966; ebenda, Bd. 153, Bl. 3–41. 620 Statut für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945. 621 »(1) Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts binden die Staatsgewalt und jeden Bürger. (2) Die Aufrechterhaltung und Wahrung freundschaftlicher Beziehungen zu allen Völkern ist die Pflicht der Staatsgewalt. (3) Kein Bürger darf an kriegerischen Handlungen teilnehmen, die der Unterdrückung des Volkes dienen.« Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, GBl. 1949 I, S. 5.

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§ 1 StGB622 und § 1 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen623 eingeleitet. Aus der jüdischen Gemeinde hatte es Hinweise von Holocaust-Überlebenden gegeben, Blösche hätte sich bei der gewaltsamen Auflösung des »Warschauer Ghettos« an Erschießungen dort internierter Juden beteiligt.624 Bereits seit April 1965 lag gegen Blösche, der später von seinem Richter als »Schrecken des Ghettos« bezeichnet werden sollte, ein Haftbefehl des Hamburger Amtsgerichts vor.625 Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung lebte er als Kalibergmann im thüringischen Urbach. Am 11. Januar 1967 wurde Blösche im Alter von 54 Jahren durch die HA VIII/2 festgenommen und in Hohenschönhausen eingeliefert.626 Hier wurde er insgesamt 76 Mal vernommen, hauptsächlich von den Untersuchungsführern Harry Hesche und Rainer Stenzel. Die HA IX erarbeitete in einem breit angelegten Ermittlungsverfahren detaillierte Angaben über Blösches Einsatz in Polen und Weißrussland. Insgesamt dauerte das Verfahren von der Einleitung bis zu seinem Abschluss rund zwei Jahre und kam zu folgenden Ergebnissen: Im Dezember 1939 wurde Blösche als Angehöriger der SS in ein Ausbildungszentrum der Gestapo bei Torgau/Sachsen einberufen. Vier Monate später erfolgte seine Versetzung in den Distrikt Warschau, zusätzlich wies man ihn einem sogenannten Einsatzkommando im Raum Baranowitschi627 (UdSSR) zu. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion war dieses Kommando hauptsächlich mit der Tötung von polnischen und russischen Juden beauftragt. Blösche war in Baranowitschi einem Erschießungskommando zugeteilt,

622 »Eine mit dem Tode, mit Zuchthaus, oder mit Festungshaft von mehr als fünf Jahren bedrohte Handlung ist ein Verbrechen. Eine mit Festungshaft bis zu fünf Jahren, mit Gefängniß oder mit Geldstrafe von mehr als fünfzig Thalern bedrohte Handlung ist ein Vergehen. Eine mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu fünfzig Thalern bedrohte Handlung ist eine Übertretung.« Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, RGBl. 1871, S. 128. 623 »(1) Personen, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen begangen, befohlen oder begünstigt haben, sind in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen zu verfolgen und zu bestrafen. (2) Die Bestimmungen über die Verjährung von Straftaten der allgemeinen Kriminalität sind auf diese Verbrechen nicht anwendbar.« Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen vom 1. September 1964, GBl. 1964 I, S. 127. 624 Vgl. Monatsbericht der HA IX für Januar 1967; BStU, MfS, HA IX, MF 11280, S. 23 (MfSPaginierung). 625 »Der zeitgeschichtliche Rahmen der Tätigkeit des Angeklagten« im Urteil des BG Erfurt vom 30. April 1969, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1031–1063 der Jahre 1965–1974 (DDR-Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 2), S. 398. 626 Vgl. Festnahmebericht vom 11. Januar 1967; BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 15. 627 Баранавічы (weißrussisch); Барановичи (russisch); Baranowicze (polnisch), Stadt im Westen Weißrusslands.

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wo er sich »eigenhändig« an Mordaktionen beteiligte.628 Von September 1941 bis Juli 1942 wurde er zum Kommandeur der Sipo und des SD in die Warschauer Szuchastraße versetzt, hier befasste er sich »mit der Erkundung der Widerstandsbewegung, ihrer Bekämpfung, mit der Planung und Ausführung von Aktionen des individuellen Terrors sowie der Massenausrottung«.629 Blösche war zunächst für die meist nächtlichen Verhaftungen polnischer Widerständler zuständig und führte die Festgenommenen auch zu Vernehmungen im Kellergefängnis der Gestapo, wo sie teils unter schwerster Folter zu Tatgeständnissen gezwungen wurden.630 Blösche selbst beteiligte sich an oftmals folgenschweren Misshandlungen der Inhaftierten.631 Anfang August 1942 wurde der SS-Unterscharführer in der GestapoAußenstelle im Warschauer Ghetto unter dem Kommando der Sipo und des SD eingesetzt. Blösche bereitete Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka im Rahmen der »Aktion Reinhardt«632 vor, räumte die voll besetzten Häuser, führte Erschießungsaktionen durch, bewachte die jüdische Bevölkerung im Ghetto und war schließlich auch für den persönlichen Schutz des Gestapoaußenstellenleiters, SS-Untersturmführer Karl-Georg Brandt, und des SS-Brigadeführers Jürgen Stroop zuständig.633 Letzterer leitete die endgültige Liquidierung des Warschauer Ghettos im April und Mai 1943, an der auch Blösche wesentlichen Anteil hatte. Blösche, der die Bewohner des Ghettos aus ihren Wohnungen heraustreiben sollte, »erdachte heimtückische Methoden, um bei Kontrollen in Häusern alle Verstecke ausfindig zu machen, er wartete auf das Weinen der Kinder, um die Familien aufspüren und den Todestransporten zuführen zu können [und] kontrollierte das Umstellen der Häuserblocks. Er war dabei als Ortskundiger im besonderen Maße tätig«.634 Im Rahmen der Ghettoräumung beteiligte sich Blösche auch »besonders brutal und intensiv« an Massenerschießungen – im August 1943 wurde er hierfür mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet.635 Insge-

628 »Straftaten als Angehöriger des Einsatzkommandos 8 im Raum Baranowicze« im Urteil des BG Erfurt vom 30. April 1969, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1031–1063 der Jahre 1965–1974, S. 400. 629 Ebenda. 630 Vgl. ebenda, S. 401. 631 Vgl. ebenda. 632 Vgl. beispielsweise Musiał, Bogdan (Hg.): »Aktion Reinhardt«. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 10), Osnabrück 2004. 633 »Straftaten als Sipo-Angehöriger im Warschauer Ghetto« im Urteil des BG Erfurt vom 30. April 1969, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1031–1063 der Jahre 1965–1974, S. 402. 634 Ebenda, S. 403. 635 Vgl. ebenda.

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samt hatte Blösche an der Deportation von rund 300 000 polnischen Juden mitgewirkt. Vom 21. bis 30. April 1969 fand vor dem Bezirksgericht Erfurt die öffentliche Verhandlung statt. Das Gericht verurteilte Josef Blösche wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode. Am 29. Juli 1969 wurde er in Leipzig durch Genickschuss hingerichtet.636 Aufgrund der Aussagen von Josef Blösche wurde das MfS schließlich auch auf den Juristen Edmund Langer (geb. 1914) aufmerksam. Wegen des Verdachts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit begann die HA XX/2 mit ihren geheimdienstlichen Ermittlungen und eröffnete 1968 den OperativVorgang (OV) »Anwalt«.637 Zu diesem Zeitpunkt lebte Langer als durchaus integriertes Mitglied der DDR-Gesellschaft in Schwerin: Aktiv im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, der Vereinigung der Juristen der DDR und im Kulturbund arbeitete das SEDMitglied seit 1961 als Kreisstaatsanwalt. 1969 ordnete Minister Mielke an, dass die HA XX »im engen Zusammenwirken« mit der HA IX die Verstrikkung Langers in NS-Verbrechen zu überprüfen habe.638 Im November 1970 verfügte die HA XX schließlich die Verhaftung Langers, da sie den dringenden Tatverdacht des ehemaligen Gestapo-Mitglieds als erwiesen ansah.639 Festgenommen von der HA VIII wurde er am 12. November direkt in die UHA Berlin-Hohenschönhausen eingeliefert, wo die Ermittler ein aufwendiges und langwieriges Verfahren einleiteten. Die Untersuchungen wurden erst rund drei Jahre später zum Abschluss gebracht; unter anderem weil die HA IX im Zuge des Verfahrens ein Rechtshilfeersuchen an die VR Polen stellte.640 Langer, von 1934 bis 1938 Angehöriger der Leibstandarte-SS Adolf Hitler und von 1939 bis Ende 1942 Mitarbeiter der Gestapo, wechselte Anfang 1943 zum Grenzpolizeikommissariat ins polnische Siedlce, etwa 90 Kilometer östlich von Warschau. Zeitweilig war er ebenso am nahegelegenen Grenzposten Platerow eingesetzt. Mittlerweile Angehöriger der Sipo und des SD Warschau, war er dem Referat IV A 3 c (»Reaktion, Opposition, Legitimismus, Liberalismus, Emigranten, Heimtücke-Angelegenheiten«) des RSHA im Rang eines

636 Die Berufung gegen das Urteil wurde durch das OG am 13. Juni 1969 verworfen. 637 Vgl. BStU, MfS, AOP 15147/73. 638 Bericht HA IX an HA XX vom 26. März 1969; ebenda, Bl. 66. 639 Vgl. Haftbeschluss der HA XX/2 vom 10. November 1970; BStU, MfS, HA IX/11, ZUV Nr. 30. Das SBG Berlin-Mitte erließ am 13. November den Haftbefehl auf der Grundlage von Artikel 6 b, c IMT-Statut in Verbindung mit Artikel 8 und 91 DDR-Verfassung, § 91 und 93 StGB, § 1 Abs. 6 Einführungsgesetz zum StGB und zur StPO sowie § 1 Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen. 640 Vgl. Abschlussbericht der HA XX/2 zum OV »Anwalt« vom 17. August 1970; BStU, MfS, AOP 15147/73, Bl. 159.

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SS-Oberscharführers zugeordnet.641 Seit Herbst 1944 gehörte Langer zudem einem Einsatzkommando zur »Partisanenbekämpfung« in der Slowakei an.642 Kurz vor Kriegsende hatte er sich jedoch eine Uniform der Wehrmacht beschaffen können, um nicht als SS-Angehöriger erkannt zu werden.643 In Slowenien geriet Langer schließlich in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er Anfang August 1946 entlassen wurde, ohne Angaben über seine Zugehörigkeit zur Gestapo und zur SS gemacht zu haben. Die Ermittler der HA IX kamen letztlich im Zuge ihrer Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass sich Langer der »Versklavung und Dezimierung des polnischen Volkes« schuldig gemacht habe und konkret an »Verschleppungs- und Deportationshandlungen, an Massakern und [der] Erschießung einzelner Personen« beteiligt gewesen sei:644 Im Grenzkommissariat Siedlce hatte Langer aktiv an Vernehmungen jüdischer und polnischer Festgenommener in der Dienststelle der Gestapo teilgenommen, bei denen die Betroffenen auf äußerst brutale Weise zu Aussagen gezwungen wurden.645 Während seines Einsatzes in Ostpolen hatte sich Langer zwischen 1939 und 1942 zudem an Erschießungsund Räumungsaktionen wie auch an der gewalttätigen Liquidierung eines jüdischen Ghettos in Sarnaki beteiligt. Nach dem Befehl Heinrich Himmlers aus dem Juli 1942, die gesamte jüdische Bevölkerung im Generalgouvernement »umzusiedeln«, also ihrer planmäßigen Ermordung zuzuführen, wurde Langers Einheit weiterhin zur Räumung der Ghettos von Losice, Mordy und Siedlce eingesetzt. Bei diesen Räumungen wurden vor Ort etwa 50 Personen erschossen, rund 6 000 Insassen in das Vernichtungslager Treblinka II überstellt.646 Nach zweieinhalbjähriger Ermittlungszeit wurde die Akte schließlich der Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung mit der Bitte um eine nicht-öffentliche Verhandlung übergeben, »da durch eine öffentliche Verhandlung die Gefährdung der Sicherheit des Staates zu befürchten« sei.647 Im Februar 1974 kam es zum Prozess vor dem Potsdamer Bezirksgericht, in dessen Ergebnis Edmund

641 Vgl. Schlussbericht der HA IX vom 10. Mai 1973; BStU, MfS, HA IX/11, ZUV Nr. 30, Bd. 1, Bl. 2. 642 Vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 86 f. Einem Ermittlungsbericht der HA IX vom 11. März 1968 zufolge war Langer ebenfalls Angehöriger der Leibstandarte-SS Adolf Hitler. BStU, MfS, AOP 15147/73, Bl. 48. 643 Vgl. Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1031–1063 der Jahre 1965–1974, S. 121. 644 Schlussbericht der HA IX vom 10. Mai 1973; BStU, MfS, HA IX/11, ZUV Nr. 30, Bd. 1, Bl. 2. 645 Einem Verhafteten, der bereits von den Vernehmern mit einem peitschenartigen Gegenstand geschlagen worden war, quetschte Langer gemeinsam mit Kollegen die Finger zwischen Tür und Türrahmen ab, indem er die Tür zuschlug. Vgl. Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1031–1063 der Jahre 1965–1974, S. 125. 646 Vgl. ebenda, S. 121. 647 Schlussbericht der HA IX vom 10. Mai 1973; BStU, MfS, HA IX/11, ZUV Nr. 30, Bd. 1, Bl. 83.

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Langer zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.648 Zur Strafverbüßung gelangte er im Juni in die MfS-Sonderhaftanstalt Bautzen II – am 28. März 1991 wurde der mittlerweile 76-Jährige auf Bewährung entlassen. Herbert Drabant (geb. 1915), gelernter Kaufmann aus Breslau, gehörte von 1941 bis Mitte Dezember 1943 der Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des SD an. Im Rang eines SS-Scharführers war er dem Einsatzkommando (Ek) 12 zugeteilt, welches größtenteils in den besetzten Gebieten der südwestlichen UdSSR und der östlichen Ukraine eingesetzt wurde.649 Während der letzten Kriegswochen hatte sich Drabant aller belastenden Dokumente entledigt, die ihn als Angehörigen des SD hätten entlarven können; er tarnte sich als Flüchtling. Nach Kriegsende ließ er sich im mecklenburgischen Grimmen nieder und arbeitete dort unter anderem als Waldarbeiter, Wächter und Büroangestellter. »Zur Verschleierung seiner verbrecherischen Vergangenheit« hatte Drabant seine Zugehörigkeit zur NSDAP und zum SD bei seinen Arbeitgebern nach 1945 nie angegeben.650 Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er Poststellenleiter im Grimmener VEB Erdöl/Erdgas. Das Referat III der HA XX/2651 (Aufklärung und Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen) registrierte Drabant bereits 1969 in einem Operativen Vorgang.652 Erst im Januar 1975 veranlasste das MfS seine Verhaftung und die Einlieferung in die UHA Berlin-Hohenschönhausen.653 Die Ermittler der HA IX erarbeiteten innerhalb nur eines Monats, dass Drabant als Angehöriger der Einsatzgruppe D in zahlreichen Einzelaktionen »gemeinschaftlich und arbeitsteilig […] an der Ermordung von mindestens 4 400[,] [der] Festnahme von mindestens 460 und der Vertreibung und Verschleppung von mindestens 300 Angehörigen der sowjetischen Zivilbevölkerung« im Rahmen der sogenannten Bandenbekämpfung mitgewirkt hatte.654 648 Die vom Verurteilten eingebrachte Berufung wurde vom OG am 19. April 1974 als »offensichtlich unbegründet verworfen«. Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1031–1063 der Jahre 1965– 1974, S. 138. 648 Vgl. ebenda, S. 121. 649 Zur Geschichte der Einsatzgruppe D vgl. Angrick, Andrej: Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003. 650 »Die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten« im Urteil des SG Berlin vom 9. August 1976, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1001–1030 der Jahre 1975–1990 (DDR-Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 1), S. 621. 651 Vgl. Auerbach et al.: Hauptabteilung XX, v. a. S. 69 f. Zu den »Strukturverfahren« der 1965 gegründeten HA XX/2/III zur systematischen Aufarbeitung der Tätigkeit der Polizeibataillone, Einsatzgruppen und -kommandos und anderer NS-Einheiten in Osteuropa vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 118 ff. 652 Vgl. BStU, MfS, AOP 16060/79. 653 Vgl. BStU, MfS, ZUV 23. 654 Vgl. Schlussbericht der HA IX/10 vom 1. März 1976; ebenda. Vgl. »Beweismittel und Beweiswürdigung« im Urteil des SG Berlin vom 9. August 1976, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1001–1030 der Jahre 1975–1990, S. 631. Zur tatsächlichen und vermeintlichen Bekämp-

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Unter anderem war er am 12. August 1942 in einen Einsatz im russischen Woroschilowsk655 involviert, bei dem an einem einzigen Tag rund 3 500 Zivilisten, die meisten von ihnen Juden, zunächst auf dem zentralen Platz der Stadt zusammengetrieben und anschließend in einem nahegelegenen Wald erschossen worden waren.656 Ab Januar 1943, mit dem Vorrücken der Roten Armee, beteiligte sich Drabants Einsatzkommando an der »Partisanenbekämpfung« in den ukrainisch-weißrussischen Pripjat-Sümpfen.657 Gegen den mittlerweile 65-Jährigen begann am 2. August 1976 das Gerichtsverfahren »vor erweiterter Öffentlichkeit«.658 Auch in diesem Fall zeigt sich die mitunter einvernehmliche »Kooperation« der Justizorgane mit dem Ministerium für Staatssicherheit: Die ZAIG meldete am 22. Juli, dass die gerichtliche Hauptverhandlung »in Abstimmung mit dem Generalstaatsanwalt der DDR« wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen« durchgeführt werden solle.659 So war geplant, am Prozess »20 junge Mitarbeiter der Sicherheitsorgane sowie drei Angehörige des Komitees des antifaschistischen Widerstandskampfes […] teilnehmen zu lassen«660 – mehr als 30 Jahre nach Kriegsende sollte die Verhandlung derartige »Völkerrechtsverbrechen«661 nicht bloß juristisch sanktionieren, sondern wohl auch den antifaschistischen Korpsgeist der DDR-Tschekisten stärken helfen. Das Stadtgericht Berlin verurteilte Herbert Drabant nach sechs Prozesstagen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, die er in den Gefängnissen Brandenburg-Görden und Bautzen II verbüßte.662

fung von Partisanen im Zweiten Weltkrieg vgl. beispielsweise Musiał, Bogdan: Sowjetische Partisanen 1941–1944. Mythos und Wirklichkeit, Paderborn 2009. 655 Ворошиловск, ab 1943 Stawropol (Стaврополь), Stadt im Nordkaukasus. 656 »Der Sachverhalt« im Urteil des SG Berlin vom 9. August 1976, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1001–1030 der Jahre 1975–1990, S. 624. 657 Zum dortigen Einsatz des Ek 12 vgl. Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord, S. 687 ff. 658 Vermerk auf der Deliktekartei der HA IX; BStU, ohne Signatur. 659 Information Nr. 528/76 vom 22. Juli 1976 über die beabsichtigte Durchführung einer gerichtlichen Hauptverhandlung gegen den ehemaligen SS-Oberscharführer, Drabant, Herbert, vor dem Stadtgericht von Groß-Berlin (BStU, MfS, ZAIG, Nr. 2534, Bl. 1 f.), publiziert in: Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, herausgegeben von Siegfried Suckut, Göttingen 2009, S. 122. 660 Ebenda, S. 123. 661 Ebenda, S. 122. 662 Das Urteil erging »wegen mehrfacher gemeinschaftlich begangener Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Artikel 6 Buchstaben b und c des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg vom 8.8.1945 in Verbindung mit Artikel 8 und 91 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, §§ 91 Abs.1 und 2, 93 Abs.1 Ziff.2 StPO, § 1 Abs.1 und 2 des Gesetzes über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen vom 1.9.1964 und der Konvention der UNO vom 26.11.1968«. Weiterhin wurden ihm seine bürgerlichen Ehrenrechte dauerhaft aberkannt. Urteil des SG Berlin vom 9. August 1976, veröffentlicht in: Rüter; Demps: Die Verfahren Nr. 1001–1030 der Jahre 1975–1990, S. 619.

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Ermittlungsverfahren gegen MfS-Angehörige Die Untersuchungsorgane des MfS waren auch für Ermittlungsverfahren gegen hauptamtliche Angehörige des eigenen Ministeriums zuständig, die aus unterschiedlichen Gründen straffällig geworden waren.663 So befassten sich Ermittler in Hohenschönhausen mit »Verrätern« aus den eigenen Reihen, die in die Bundesrepublik geflüchtet waren und dort (eventuell) gegnerischen Geheimdiensten Informationen über den Staatssicherheitsdienst weitergegeben hatten.664 Diese Fälle fielen als »Staatsverbrechen« ohnehin in den Zuständigkeitsbereich der Linie IX. Das »exemplarische Strafen«, das in den anschließenden Gerichtsprozessen vor MfS-Angehörigen inszeniert wurde, sollte nach innen die Disziplin fördern und abschreckend auf mögliche Konsequenzen von Verratshandlungen verweisen.665 In Hohenschönhausen ermittelte das Untersuchungsorgan auch gegen Werner Teske (1942–1981), der als promovierter Volkswirt in den Diensten der HV A in die Bundesrepublik überlaufen wollte und deshalb im Juni 1981 hingerichtet wurde.666 Darüber hinaus betrafen die strafrechtlichen Untersuchungsverfahren des MfS geringfügigere dienstliche und private Vergehen eigener Mitarbeiter; sie fungierten somit häufig gleichsam als »ultima ratio« interner Disziplinarmaßnahmen gegen MfS-Angehörige, die sich Verfehlungen hatten zuschulden kommen lassen, bei denen die Stasi sicherheitsrelevante Folgen befürchtete oder das eigene Ansehen gefährdet sah. Schließlich sollten die MfS-Mitarbeiter geradezu ein Aushängeschild politisch, gesellschaftlich und moralisch einwandfreier Lebensführung sein. In diesen Verfahren ging es häufig um Straftaten aus dem Bereich der allgemeinen Kriminalität, die durch Ermittlungen des ministeriumseigenen Untersuchungsorgans weitgehend geheim gehalten werden konnten. Im Falle einer Anklage vor Gericht folgten durchweg Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Staatssicherheitsdienst sicherte sich auf diese 663 Da MfS-Mitarbeiter im Falle von strafrechtlichen Ermittlungen des DDR-Staatssicherheitsdienstes für den Zeitraum ihrer Inhaftierung als Betroffene im Sinne des § 6 Abs. 3 StUG einzustufen sind, werden im Folgenden deren Namen pseudonymisiert, sofern es sich nicht um den Personenkreis nach § 32 Abs. 3 Nr. 5 StUG handelt. Auf den Umstand der Pseudonymisierung wird jeweils verwiesen. 664 Für die Ermittlungspraxis gegen MfS-Mitarbeiter in der frühen Ära Ulbricht vgl. beispielsweise Sälter, Gerhard: Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere durch das MfS und die DDR-Justiz (1954–1966), Dresden 2002. 665 Vgl. Ders.: Interne Schauprozesse. Über exemplarisches Strafen und seine politische Instrumentalisierung in der Strafjustiz der DDR in den fünfziger Jahren. In: Härter, Karl; de Graaf, Beatrice (Hg.): Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 268), Frankfurt/M. 2012, S. 323 ff. 666 Vgl. »Der Feind ist mir nie begegnet«. Spiegel-Reporter Cordt Schnibben über den Tod des Stasi-Hauptmanns Werner Teske und das Leben seiner Frau. In: Der Spiegel 7/1992, S. 50–63.

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Weise die Kontrolle über die Ermittlungen gegen die »eigenen Leute«. So finden sich in den Akten über straffällige Stasi-Angehörige Verkehrsunfälle in Folge von Trunkenheit am Steuer, Diebstahlsdelikte, Sexualverbrechen, Körperverletzungen oder auch Tötungsdelikte – Straftaten, die nicht an die Öffentlichkeit dringen sollten. Eine regionale Ballung von Fällen, vorzugsweise im Raum Ostberlin, oder auch eine gewisse deliktbezogene Spezialisierung der Hohenschönhausener Untersuchungsführer ist den eingesehenen Unterlagen nicht zu entnehmen. In Hohenschönhausen wurde wegen unterschiedlichster Vergehen von MfS-Angehörigen ermittelt, die wiederum überall in der DDR begangen wurden. Michael H.667 (geb. 1935), Angehöriger des Wachregiments der Staatssicherheit, war Mitte Februar 1955 nach Westberlin geflüchtet.668 Laut MfS verriet er dort »beim amerikanischen Geheimdienst ihm bekanntgewordene Dienstgeheimnisse, ließ sich als Agent anwerben« und kehrte sogleich »mit Spionageaufträgen in die DDR zurück«.669 H. hatte zuvor bereits mehrfach um die Entlassung aus dem damaligen Staatssekretariat für Staatssicherheit gebeten, seine Gesuche wurden allerdings stets abgelehnt. Im Westen wollte sich der damals 19-Jährige eine neue Existenz als Schneider aufbauen.670 Zurück in seiner Heimatstadt wurde H. am Morgen des 17. Februar in der elterlichen Wohnung aufgegriffen und in Arrest genommen, da er »auf das Gröblichste gegen die bestehenden Dienstvorschriften verstoßen« habe.671 Nebenbei versuchten ihn seine Kollegen in den ersten Tagen für eine inoffizielle Tätigkeit im MfS zu gewinnen, allerdings vergeblich: Man stellte schnell fest, »dass er auf keinen Fall für operative Zwecke geeignet« sei, schließlich habe er einen »unehrlichen Charakter«, sei »verstockt« und zeige vor allem keinerlei Reue für seine Tat. Darüber hinaus sei er »vollkommen der westlichen Ideologie verfallen und würde sich, wie er selbst […] äußerte, nach seiner Entlassung bei günstiger Gelegenheit […] sofort wieder nach Westberlin absetzen«.672

667 Name pseudonymisiert. 668 Seit 1953 war er als Wachmann in einem Bezirksuntersuchungsgefängnis der Staatssicherheit eingesetzt (Abt. XIV), für Januar 1955 findet sich der Vermerk »Versetzung Wachmann, Abt. Allgemein«. Vgl. Verfügung über Besoldungseinordnung vom 16. April 1953; BStU, MfS, BV Magdeburg, KS II 133/81, Bl. 34. 669 Haftbeschluss der HA IX/I/2 vom 16. März 1955; BStU, MfS, GH 8/56, Bd. 1, Bl. 13. Einen Tag nach seiner Flucht hatte die Kreisdienststelle (KD) Halle einen Haftbeschluss erlassen. Vgl. Haftbeschluss der KD Halle/Saale vom 17. Februar 1955; ebenda, Bl. 14. 670 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 23. Februar 1955, BStU, MfS, GH 8/56, Bd. 1. 671 Straftenor des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 18. Februar 1955; ebenda, Bl. 55. Auch enthalten in: BStU, MfS, AS 148/79, Nr. 2014/55, Bl. 15. Vgl. Festnahmebericht vom 17. Februar 1955; BStU, MfS, GH 8/56, Bd. 1, Bl. 47. 672 Sachstandsbericht der HA IX/5 vom 26. Februar 1955; ebenda, Bl. 95.

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Nach einem Monat in Gewahrsam kam H. schließlich nach Hohenschönhausen in Haft, wo die HA IX/5 ein Untersuchungsverfahren wegen Verbrechen gemäß Kontrollratsdirektive 38 und Artikel 6 der DDR-Verfassung gegen ihn eröffnete. Im Zuge dessen wurde der abtrünnige »Tschekist« aus dem SfS entlassen, am 26. März erfolgte die förmliche Entpflichtung.673 Bis zum Abschluss des Verfahrens rund zwei Monate nach seiner Einlieferung in Hohenschönhausen wurde H. von den Ermittlern zu immer wiederkehrenden Fragekomplexen verhört. Einzelne Standorte nachrichtendienstlicher Einrichtungen in Westberlin, seine Gespräche mit gegnerischen Geheimdienstmitarbeitern und vor allem die hierbei womöglich verratenen »Dienstgeheimnisse« rekonstruierten die Untersuchungsführer akribisch.674 Nach der für die SEDFührung traumatischen Erfahrung des 17. Juni 1953 waren die Vernehmer besonders an geplanten Aktionen für einen neuen »Tag X«675 interessiert. Schließlich erachtete die DDR-Staatsführung den damaligen Volksaufstand nach wie vor als einen vom Westen gesteuerten »Putschversuch«, an dessen Neuauflage ohne Unterlass gearbeitet würde. Sie befragten H. weiter, welche Versäumnisse er rund um den 17. Juni generell im Staatssicherheitsdienst und in »seiner« früheren Bezirksverwaltung sehe.676 Elf Vernehmungstage später schloss die HA IX/5 die Akte und plädierte gegenüber der Staatsanwaltschaft dafür, »die Gerichtsverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen«.677 Nach nunmehr fast vier Monaten im Hohenschönhausener Kellergefängnis randalierte H. schließlich in seiner Zelle und zerstörte dabei Teile der Heizungsverkleidung. Die Vollzugsabteilung ließ ihn dafür mit sechs Tagen Arrest büßen.678 Bereits zuvor wurde er für einen in den Akten nicht weiter ausgeführten Verstoß gegen die Hausordnung bestraft, das Wachpersonal entzog ihm in der Nacht des winterlichen 12. März für 30 Minuten seine Bettdecke.679 Vor der Verlegung nach Cottbus, wo gegen den renitenten Angeklagten das Gerichtsverfahren eröffnet werden sollte, verfügte der Leiter der HA IX, ihn »in der Haftanstalt so unterzubringen, dass 673 Vgl. Entpflichtungserklärung vom 26. März 1955; ebenda, Bl. 161. 674 Vgl. Vernehmungsprotokolle vom 23., 24. und 25. Februar, vom 26. März und 1. April 1955; BStU, MfS, GH 8/56, Bd. 1. 675 Zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 vgl. beispielsweise Fricke; Engelmann: Der »Tag X« und die Staatssicherheit; Knabe: 17. Juni 1953 sowie Kowalczuk, Ilko-Sascha; Mitter, Armin; Wolle, Stefan (Hg.): Der Tag X – 17. Juni 1953. Die »Innere Staatsgründung« der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54 (Forschungen zur DDR-Geschichte, 3), Berlin 1996. 676 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 28. März 1955; BStU, MfS, GH 8/56, a.a.O. 677 Schlussbericht der HA IX/5 vom 3. Mai 1955; ebenda, Bd. 1, Bl. 237. Hierin kommt das MfS-Untersuchungsorgan zu dem Ergebnis, es lägen Verbrechen gemäß Kontrollratsdirektive 38, Artikel 6 DDR-Verfassung sowie §§ 252 (»Räuberischer Diebstahl«) und 353 (»Verletzung des Dienstgeheimnisses«) StGB vor. 678 Vgl. Aktennotiz der Abt. XIV über Arreststrafe vom 7. bis 13. Juni 1955; BStU, MfS, AS 148/79, Nr. 2014/55, Bl. 4. 679 Vgl. ebenda.

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er unter ständiger Kontrolle steht und alle Sicherungsmaßnahmen gewährleistet sind«.680 Schließlich hätte er »schweren Verrat begangen und dafür die höchste Strafe zu erwarten«.681 Am 29. Juni 1955 begann der Geheimprozess vor dem Bezirksgericht Cottbus, an dessen Ende gegen Michael H. die Todesstrafe verhängt wurde.682 Er kam aus Geheimhaltungsgründen zurück in die zentrale Haftanstalt in Hohenschönhausen, wo er die Vollstreckung abwarten sollte.683 Bereits am Tag nach der Urteilsverkündung wurde gegen den Richterspruch Berufung eingelegt.684 Auch im privaten Umfeld des Verurteilten setzte man sich öffentlich für den Verurteilten ein, selbst die örtliche FDJ-Vertretung sammelte Unterschriften für H., den »aufrichtige[n] Patriot[en]«.685 Sogar seine früheren Nachbarn engagierten sich dafür, dass das Urteil gegen den mittlerweile 20-Jährigen abgemildert würde.686 Schließlich richtete seine Mutter ein Gnadengesuch an den DDRStaatspräsidenten Wilhelm Pieck.687 Der Fall wurde schließlich zu einem Musterfall politischer Justizsteuerung der fünfziger Jahre. Rund zwei Monate vor der anstehenden Berufungsverhandlung wandte sich der Vizepräsident des Obersten Gerichts und gleichzeitige Vorsitzende des ersten Strafsenats, Walter Ziegler, in einem Brief an Staatssicherheitsminister Mielke. Zwar zeigte der Jurist Verständnis für die »Belange des Staatssekretariats«, das in einem derartigen Fall härtestes Durchgreifen des Richters verlange.688 Allerdings könnte man seines Erachtens »nicht jeden Verrat mit der Todesstrafe ahnden«.689 Der zuständige Senat hätte große »Bedenken, die Todesstrafe zu bestätigen«, was der Stasi-Chef einem beigelegten Schreiben an das Zentralkomitee der SED entnehmen könnte.690 »Mit 680 Schreiben des Leiters der HA IX, Alfred Scholz, an den Leiter der BV Cottbus, Oberstleutnant Schröder, betr. »Überführung des Beschuldigten H[.], ehemaliger Mitarbeiter des SfS« vom 14. Juni 1955; ebenda, Bl. 8. 681 Ebenda. 682 Vgl. Urteil des Bezirksgerichts Cottbus vom 4. Juli 1955; BStU, MfS, GH 8/56, Bd. 2. 683 Der Leiter des Untersuchungsorgans verfügte eine Woche nach der Urteilsverkündung gegenüber der Abt. XIV/1: »Der z.Zt. in der Haftanstalt I einsitzende H[.] darf ohne meine Zustimmung nicht nach andere Haftanstalten [sic!] überführt werden«. Schreiben von Alfred Scholz an den Leiter der UHA Berlin-Hohenschönhausen vom 12. Juli 1955; BStU, MfS, AS 153/79, Nr. 2200/55, Bl. 17. Aus den Unterlagen nicht zu entnehmenden Gründen wurde der kürzlich Verurteilte hier mit viertägigem Essensentzug bestraft, weitere sechs Tage lang musste er in der Zelle ohne seine Matratze auskommen. Vgl. Aktenvermerk vom 7. Juli 1955; BStU, MfS, GH 8/56, Bd. 1, Bl. 196. 684 Vgl. BStU, MfS, GH 8/56, Bd. 2, Bl. 130. 685 Vgl. Brief der Freien Deutschen Jugend (FDJ) vom 6. Juli 1955; ebenda, Bd. 1, Bl. 208. 686 Vgl. Schreiben eines Damenmodeninhabers, eines Bäckers, eines Fleischers und eines Schneiders aus der Nachbarschaft; ebenda, Bl. 210–215. 687 Vgl. Brief an Wilhelm Pieck vom 7. Juli 1955; ebenda, Bl. 207. 688 Brief des Vizepräsidenten des Obersten Gerichts Walter Ziegler an Staatssicherheitsminister Erich Mielke vom 24. August 1955; ebenda, Bl. 224. 689 Ebenda. 690 Vgl. ebenda.

Delikttypische Fallbeispiele

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Rücksicht auf die Jugendlichkeit des Täters« wäre die »Möglichkeit einer Umerziehung dieses Menschen nicht ausgeschlossen und somit die Todesstrafe nicht gerechtfertigt«.691 Ziegler erbat daher in seinem Brief Mielkes baldige Stellungnahme zur Sache. Diese wiederum ist zwar in den Untersuchungsakten nicht überliefert, offenbar akzeptierte der Minister jedoch letzten Endes Zieglers Position: Am 21. Oktober 1955 wurde das Todesurteil in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt.692 Sieben Jahre später verließ Michael H. die Strafvollzugsanstalt Bautzen II; er wurde auf Bewährung in die DDR entlassen.693 Zurück in seiner Heimatstadt verfasste er fortan als »Geheimer Informator« Berichte für das MfS.694 Hans-Joachim Schönknecht (1930–1962) war MfS-Mitarbeiter der ersten Stunde. Bereits im Mai 1953 war er allerdings aus dem Dienst entlassen worden.695 Rund zwei Monate vor der Errichtung der Berliner Mauer war er mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern nach Westberlin geflohen und hatte begonnen, sich im nordrhein-westfälischen Recklinghausen ein neues Leben aufzubauen. Im Notaufnahmelager Marienfelde hatte Schönknecht zuvor jedoch offenbar »der Geheimhaltung unterliegende Tatsachen über seine dienstliche Tätigkeit im Ministerium für Staatssicherheit [verraten] und […] von einer größeren Anzahl Angehöriger der Sicherheitsorgane Personenbeschreibungen und Charakteristiken ab[gegeben]«.696 Schönknecht bereute bald den Entschluss, seiner Heimat den Rücken gekehrt zu haben und reiste nach rund drei Monaten zurück in die DDR.697 In einer Befragung gab er noch am Kontrollpassierpunkt (KPP) im thüringischen Wartha zu Protokoll, mit seiner Flucht »einen großen Fehler gemacht« und »mit einem Schlag [s]eine Weltanschauung verneint« zu haben.698 Er habe 691 Ebenda. 692 Vgl. Beschluss des Obersten Gerichts der DDR vom 21. Oktober 1955; ebenda, Bd. 1, Bl. 244. 693 Vgl. zuvor den Beschluss des Obersten Gerichts der DDR vom 28. August 1962; ebenda, Bl. 257. 694 Vgl. Auskunft der Kreisdienststelle Eisleben über Tätigkeit als »GI« vom 25. Januar 1967; BStU, MfS, BV Magdeburg, KS II 133/81, Bl. 4. 695 Aktenvermerk betr. Republikflucht eines ehemaligen Mitarbeiters vom 10. Juli 1961; BStU, MfS, BV Erfurt, KS I 391/59, Bl. 24. 696 Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 29. September 1961; BStU, MfS, GH 54/62, Bd. 1, Bl. 12. Das Ermittlungsverfahren wurde wegen Verbrechen gemäß § 14 StEG (»Spionage«) eingeleitet. 697 Er galt damit als »Rückkehrer« und war daher nach Stasi-eigener Definition grundsätzlich verdächtig, »von imperialistischen Geheimdiensten und anderen feindlichen Stellen in die DDR eingeschleust [worden zu sein]. Deshalb unterliegen R[ückkehrer] einer staatlichen, politischoperativen und gesellschaftlichen Kontrolle, deren Umfang von den konkreten Erfordernissen der Gewährleistung der staatlichen Sicherheit abhängig ist«. Eintrag »Rückkehrer«. In: Suckut (Hg.): Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 338. 698 »Rückkehrer«-Fragebogen der KPP Wartha, Abschnitt »Ausführliche Begründung über das Verlassen Westdeutschlands«; BStU, MfS, BV Erfurt, KS I 391/59, Bl. 36.

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

seine Frau dazu bewegen wollen, mit ihm zurückzukehren, allerdings lehnte sie ab.699 »In der großen Hoffnung, dass sie nachkommt«, wagte Schönknecht daher am 26. September 1961 diesen Schritt allein.700 An der Grenzübergangsstelle wurde er der Abt. XXI701 des MfS übergeben und gelangte – nach einem kurzen Zwischenstopp in der Lichtenberger Magdalenenstraße – drei Tage später nach Hohenschönhausen. Die HA IX/5 leitete ein Ermittlungsverfahren wegen »Spionage«702 gegen ihn ein. Nach sechs Vernehmungen in rund zwei Monaten waren die Untersuchungen abgeschlossen und der Fall wurde zur Anklageerhebung an die Staatsanwaltschaft abgegeben.703 Das Bezirksgericht Frankfurt/Oder verurteilte Schönknecht schließlich am 8. März 1962 wegen »Spionage« gemäß § 14 StEG zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren und acht Monaten. Bereits vor der Verlegung zum Prozessort hatte der zuständige Arzt des medizinischen Dienstes in Hohenschönhausen dem Beschuldigten depressive Verstimmungen und »Schwermütigkeit« bescheinigt; den Frankfurter Kollegen wurde das Schreiben zur Information mitgegeben.704 In der dortigen Untersuchungshaftanstalt versuchte Schönknecht einen Monat vor der Gerichtsverhandlung, Selbstmord zu begehen.705 An seinem desolaten Gemütszustand änderte sich nach der Verurteilung erst recht nichts. Nach einem halben Jahr in der Sonderhaftanstalt Bautzen II wählte er schließlich den Freitod durch Erhängen; Hans-Joachim Schönknecht verstarb am 16. September 1962 im Alter von nur 32 Jahren. Seine Leiche wurde »in aller Stille […] in der Bestattungseinrichtung der Stadt Dresden-Tolkewitz eingeäschert«.706 Gegenüber seinen Angehörigen gab das MfS als Todesursache »Herz-Kreislauf-Versagen« an.707 Der ehemalige MfS-Kraftfahrer Karl H.708 (geb. 1934) stand Anfang der sechziger Jahre im Verdacht, gemeinsam mit seiner Ehefrau seine siebenjährige Stieftochter vorsätzlich unterernährt zu haben, bis sie letztendlich starb. Noch vor seiner Festnahme schlug die HA Kader und Schulung (KuSch) seine Entlassung aus dem Ministerium vor. Sein Dienstherr verurteilte allerdings nicht 699 Ebenda. 700 Ebenda. 701 Abt. XXI: Innere Sicherheit im MfS (1960–1980). Vgl. Wiedmann, Roland; Polzin, Arno: Abteilung XXI (Innere Abwehr im MfS). In: Engelmann et al. (Hg.): Das MfS-Lexikon, S. 29. Vgl. auch Richter; Eiselt (Hg.): Abkürzungsverzeichnis, S. 91. 702 Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 29. September 1961 (§ 14 StEG); BStU, MfS, GH 54/62, Bd. 1, Bl. 12. 703 Vgl. Schlussbericht vom 20. November 1961; ebenda, Bl. 63–71. 704 Gesundheitsbericht vom 14. Dezember 1961: »Bei der Abgangsuntersuchung klagt der Häftling ebenfalls über […] Schwermütigkeit«; BStU, MfS, AS 248/79, Nr. 4100/61, Bl. 5. 705 Vgl. Meldung des Gefreiten Martin Krüger (UHA Frankfurt/Oder) vom 1. Februar 1962; BStU, MfS, GH 54/62, Bd. 4, Bl. 17. 706 Sterbemeldung der StVE Bautzen vom 22. September 1962; ebenda, Bl. 75. 707 Ebenda. 708 Name pseudonymisiert.

Delikttypische Fallbeispiele

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nur die eklatante Vernachlässigung seiner Fürsorgepflicht, sondern befürchtete darüber hinaus eine schwerwiegende Rufschädigung für den Staatssicherheitsdienst. H.s »persönliches Verhalten, insbesondere seine Einstellung gegenüber seinen Kindern und der Familie« stand demnach zu seiner MfS-Zugehörigkeit »im krassen Widerspruch, so dass eingeschätzt werden muss[te], dass er nicht mehr die politisch-moralischen Voraussetzungen für eine weitere Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit besitzt«.709 Am 12. September 1963 wurde er in Leipzig verhaftet und nach Hohenschönhausen überstellt. In elf Vernehmungen befragten ihn seine ehemaligen Kollegen ausführlich zu Einzelheiten seines Familienlebens und zu den Umständen des Hungertods seiner Stieftochter. Nach nicht einmal zwei Monaten war für die HA IX die Sachlage klar und das Verfahren beendet. »Im Interesse der Sittlichkeit« baten die Ermittler, »die Hauptverhandlung gegen die Beschuldigten unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen«.710 Die Obduktion der Siebenjährigen hatte eine erhebliche Unterernährung, massives Untergewicht bis zur Fehlentwicklung von Organen und schließlich Organversagen mit Todesfolge ans Licht gebracht. Im Dezember wurde H. vor dem Militärobergericht in Berlin angeklagt und im Februar 1964 wegen fahrlässiger Tötung und versuchten Mordes zu einer zwölfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Er wurde zunächst in die Strafvollzugseinrichtung Rummelsburg eingewiesen; im Januar 1965 verlegte man ihn in das MfS-eigene »Lager X« in Hohenschönhausen. Am 25. Februar 1971 wurde er vorzeitig entlassen. Über seine Ehefrau erging das gleiche Urteil. Sie verblieb im benachbarten Strafgefangenenarbeitskommando (SGAK) in Hohenschönhausen und arbeitete als Küchenhilfe in der Haftanstalt. Schon im Dezember 1969, gut ein Jahr vor ihrem Ehemann, wurde sie auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Heinrich G.711 (geb. 1932) hatte sich 1969 eines Diebstahldeliktes schuldig gemacht. G. war im Alter von 28 Jahren im MfS eingestellt worden, zum Zeitpunkt seiner Verhaftung arbeitete er als Hauptsachbearbeiter in der Geraer Bezirksverwaltung im Bereich Spionageabwehr.712 Ihm wurde zur Last gelegt, unter Alkoholeinfluss die Fensterscheibe einer Tankstelle eingeschlagen und Geldbeträge sowie Kreditscheine entwendet zu haben. Bei seiner Festnahme leistete er erheblichen Widerstand; er wehrte sich mit einer Eisenstange und brach dem Polizisten, der ihn ergreifen wollte, das Nasenbein. Die Personalabteilung des MfS veranlasste daraufhin, dass der Betreffende von seinem Arbeitgeber wegen Diebstahls, »Verfehlung zum Nachteil persönlichen oder privaten

709 710 711 712

Entlassungsvorschlag der HA KuSch vom 29. August 1963; BStU, MfS, GH 2/64, Bd. 1, Bl. 67. Schlussbericht der HA IX vom 4. November 1963; ebenda, Bd. 3, Bl. 23. Name pseudonymisiert. BV Gera, Abt. II.

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

Eigentums« wie auch »Widerstands gegen staatliche Maßnahmen« in Gewahrsam genommen würde.713 Noch am selben Tag wurde G. in Hohenschönhausen eingeliefert und das Ermittlungsverfahren auf leicht veränderter Grundlage eingeleitet.714 Anfang Juli verschärfte sich die Gangart gegen ihn. Die Ermittler konfrontierten G. in der Vernehmung mit dem Tatvorwurf, dienstliche Unterlagen grundsätzlich an unsicheren und für Dritte leicht zugänglichen Orten aufbewahrt zu haben.715 So soll er seit dem vorangegangenen Herbst stets seine Arbeitsmappe im Auto verstaut »und damit die Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik erheblich gefährdet […]« haben, weshalb die HA IX das bestehende Ermittlungsverfahren einige Wochen später um den Tatbestand des »Geheimnisverrats« gemäß § 246 StGB erweiterte.716 Zwar wurde G. bis zum Abschluss der Untersuchungen zu diesem ihm vorgeworfenen Delikt nicht weiter vernommen, die Ermittler kamen dennoch in ihrem Schlussbericht zu dem Ergebnis, dass eine entsprechende Straftat vorläge und empfahlen dem Staatsanwalt, »die gerichtliche Hauptverhandlung […] unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen«.717 Schließlich wäre zu vermuten, dass hierbei »Tatsachen zur Sprache kommen, die im Interesse der Sicherheit des Staates der Geheimhaltung bedürfen«.718 Rechtzeitig zur Anklageerhebung stellte die HA IX jedoch das Verfahren wegen § 246 StGB wieder ein, »da sich der Verdacht einer Straftat nicht als begründet erwiesen hat[te]«.719 Am 26. September 1969 verurteilte ihn der Militärsenat des Potsdamer Bezirksgerichts schließlich wegen Diebstahls, Widerstands gegen seine Festnahme und vorsätzlicher Körperverletzung unter geminderter Zurechnungsfähigkeit zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren. Die Haft verbüßte er im MfS-eigenen »Lager X« in Berlin. Am 25. März 1970 wurde er, nunmehr vom MfS entpflichtet und aus der SED ausgeschlossen, entlassen. Zuvor erhaltene dienstliche und gesellschaftliche Auszeichnungen waren ihm bereits mit der Urteilsverkündung aberkannt worden. 713 Vgl. Haftbeschluss der HA KuSch; Disziplinarabteilung vom 5. Mai 1969: »G[.] beging am 26.4.1969 in Gera Diebstahl persönlichen bzw. privaten Eigentums. Bei seiner Festnahme durch die Volkspolizei leistete er Widerstand und verletzte einen Volkspolizisten. – Strafbar gemäß §§ 177, 179 und 212 (1) StGB«; BStU, MfS, GH 8/70, Bd. 1, Bl. 8. 714 Das Verfahren wurde nun wegen Diebstahls, »Bestrafung von Vergehen zum Nachteil persönlichen oder privaten Eigentums« (§ 180 StGB) und »Widerstands gegen staatliche Maßnahmen« eingeleitet. Vgl. Verfügung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vom 6. Mai 1969; ebenda. 715 Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 2. Juli 1969; ebenda, Bd. 1. 716 Verfügung über die Erweiterung eines Ermittlungsverfahrens vom 28. Juli 1969; ebenda, Bl. 11. 717 Schlussbericht der HA IX vom 31. Juli 1969; ebenda, Bl. 252. 718 Ebenda. 719 Verfügung über die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens vom 2. September 1969; ebenda, Bd. 3, Bl. 8.

Delikttypische Fallbeispiele

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Hannelore S.720 (geb. 1933) hatte in den frühen Morgenstunden des 26. Oktober 1979 in Magdeburg »unter erheblicher Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit infolge des Genusses alkoholischer Getränke einen schweren Verkehrsunfall« verursacht, »indem sie entgegen den Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung die linke Fahrbahnhälfte befuhr« und dabei frontal mit einem Motorrad zusammenstieß.721 Dessen Fahrer wurde schwer verletzt, und es war ein erheblicher Sachschaden entstanden. Bei Hannelore S. handelte es sich um eine der wenigen ranghohen MfS-Mitarbeiterinnen: Seit 1951 war sie in der Magdeburger Bezirksverwaltung tätig, zuletzt als Oberstleutnant. Im Auftrag der Staatssicherheit arbeitete sie seit 1978 als »Offizier im besonderen Einsatz« (OibE) im Magdeburger Stadtarchiv und hatte somit als hauptamtliche Verbindungsfrau der Stasi in einer staatlichen Institution einen gewissen Wert für ihren Dienstherrn.722 Für einen derartigen Einsatz war S. bestens qualifiziert, seit 1975 bekleidete sie bereits den Posten der Abteilungsleitung im örtlichen MfS-Archiv.723 Waren ihr zunächst »vorbildliche Arbeitsergebnisse und eine hohe Einsatzbereitschaft«724 bescheinigt worden, so ließ ihre Leitungstätigkeit drei Jahre später offenbar zu wünschen übrig. Nicht nur wegen ihrer archivfachlichen Eignung, auch weil sie »Mängel und Unzulänglichkeiten in der sozialistischen Menschenführung« aufwies, hatte man sich in der HA KuSch für eine Versetzung aus dem MfS-Archiv ins Stadtarchiv entschieden.725 Zunächst nahm das Ermittlungsverfahren gegen sie seinen gewöhnlichen Gang. Auf Geheiß der HA KuSch wurde S. am 19. November 1979, also rund einen Monat nach dem von ihr verschuldeten Verkehrsunfall, in die UHA Berlin-Hohenschönhausen eingeliefert.726 Die HA IX schloss die Untersuchungen nach rund zwei Monaten ab und übergab die Akten zur Anklageerhebung an den Staatsanwalt.727 S. wurde daraufhin durch das Berliner Militärobergericht in geheimer Sitzung wegen »Herbeiführung eines schweren

720 Name pseudonymisiert. 721 Beschuldigtenkarteikarte der HA IX zu Hannelore S.; BStU, ohne Signatur. 722 Vgl. Befehl Nr. K 5284/78 vom 1. Dezember 1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, KS II 100/80, Bl. 33. 723 Vgl. Auszug aus dem Befehl Nr. K 1776/75 vom 23. April 1975, Ernennung zur Leiterin der Abteilung XII der BV Magdeburg, rückwirkend zum 1. Januar 1975 gültig; ebenda, Bl. 119. 724 Beurteilung vom 27. März 1975; ebenda, Bl. 110. 725 Befehl Nr. K 5284/78 vom 1. Dezember 1978; ebenda, Bl. 33. 726 Das Ermittlungsverfahren wurde bereits am 16. November wegen Delikten gemäß §§ 196 Abs. 1, 3 Ziff. 2 (»Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls«) und 200 Abs. 1 (»Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit«) eingeleitet. Vgl. Beschuldigtenkarteikarte der HA IX zu Hannelore S.; BStU, ohne Signatur. 727 Vgl. Eintrag auf der Beschuldigtenkarteikarte der HA IX zu Hannelore S.; BStU, ohne Signatur. Vgl. Schlussbericht der HA IX vom 16. Januar 1980; BStU, MfS, GH 12/81.

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Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

Verkehrsunfalls«728 und »Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit«729 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, zusätzlich entzog man ihr per Richterspruch für die nachfolgenden zwei Jahre die Fahrerlaubnis. Offenbar wollten die Genossen von der Staatssicherheit allerdings nicht so lange auf ihre Mitarbeiterin verzichten. Am 7. Mai 1980 wurde eine förmliche Beurteilung der Strafgefangenen angefertigt, die sich zu diesem Zeitpunkt immer noch in gesonderter Haft in Hohenschönhausen befand. In dem Schreiben sprach man sich für eine rasche Wiedereingliederung an ihren Arbeitsplatz aus, da man ihr keine weiteren Vergehen prognostizierte und sie als ungefährlich einstufte.730 Lange musste sie auf ihren Einsatz im Stadtarchiv nicht mehr warten, wenn auch nicht mehr in offiziellen Diensten des MfS.731 Bereits am nächsten Tag wurde Hannelore S., formal auf Bewährung, aus der Haft entlassen.

2.3

Die Hohenschönhausener Untersuchungsgefangenen: Quantitative Daten

Untersuchungsgefangene: Quantitative Daten

Einlieferungen zwischen 1951 und 1989732 Obwohl das Areal in Berlin-Hohenschönhausen offiziell erst im März 1951 von der Sowjetischen Kontrollkommission an die DDR übergeben wurde,733 begannen die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes bereits im Mai 1950, die Ein- und Abgänge von Häftlingen zu registrieren: Bis zum Herbst 1989 weisen die entsprechenden Aufzeichnungen der Haftvollzugsabteilung XIV für die Untersuchungshaftanstalt insgesamt 10 822 Einlieferungen nach.734 Demgegenüber verzeichnen die Statistiken der Untersuchungsabteilung HA IX für die Zentrale seit Oktober 1955 eine Gesamtzahl von 10 536 bearbeiteten

728 § 196 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und des Strafgesetzbuches, des Anpassungsgesetzes und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 19. Dezember 1974 (1. StÄG), GBl. 1974 I, S. 596. 729 § 200 StGB, Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl. 1968 I, S. 38. 730 Vgl. »Einschätzung über das Gesamtverhalten im Strafvollzug der Strafgefangenen« vom 7. Mai 1980; BStU, MfS, AS 212/89, Nr. 8269/79, Bl. 12. 731 Hannelore S. wurde per Befehl Nr. K 5382/79 am 15. November 1979 entlassen. BStU, MfS, BV Magdeburg, KS II 100/80. 732 Soweit anhand der vorliegenden Quellenmaterialien der Abt. XIV eindeutig ermittelbar. 733 Bis dahin lag es in der Zuständigkeit des sowjetischen Geheimdienstes MGB. 734 Vgl. Kladden der Abt. XIV Berlin-Hohenschönhausen; BStU, MfS, Abt. XIV, Nrn. 16782, 16784, 16786, 16787, 16790, 16791, 16792, 16793, 16794, 16795, 16796 und 16798.

Untersuchungsgefangene: Quantitative Daten

197

Ermittlungsverfahren.735 Stellt man den jeweils unterschiedlichen Beginn der Aufzeichnungen in Rechnung, fällt die quantitative Differenz zwischen den von der HA IX bearbeiteten Ermittlungsverfahren und den in Hohenschönhausen einsitzenden Untersuchungshäftlingen sofort ins Auge: Die Anzahl der Verfahren war demnach signifikant höher als die der Hohenschönhausener Insassen. Hierfür sind zwei wesentliche Gründe anzuführen. Zum einen leiteten die Untersuchungsorgane grundsätzlich mehr Ermittlungsverfahren ein als Personen inhaftiert waren, beispielsweise wenn kein Haftgrund gegeben war oder die Inhaftierung nicht für notwendig erachtet wurde. Auch war bei einer Reihe von Ermittlungsverfahren die Verhaftung der Beschuldigten schlichtweg nicht möglich, etwa im Anschluss an erfolgreiche Fluchten in den Westen. Zum anderen verzeichnen die internen Statistiken der Hauptabteilung IX auch diejenigen Ermittlungsverfahren, die das zentrale Untersuchungsorgan wegen Militärstraftaten einleitete. Bereits seit 1953 wurden derartige Verfahren von der Lichtenberger Magdalenenstraße aus bearbeitet, sodass die Beschuldigten physisch das Hohenschönhausener Sperrgebiet nie betraten.736 Denn die im Rahmen dieser Ermittlungen inhaftierten Beschuldigten saßen nicht in Hohenschönhausen, sondern im Lichtenberger Untersuchungsgefängnis ein. Dementsprechend erscheinen diese Personen nicht in den Ein- und Abgangsbüchern der Hohenschönhausener Abteilung XIV, sie sind gesondert in den Unterlagen zur Haftanstalt in der Magdalenenstraße gelistet.737 Im Folgenden seien lediglich diejenigen Einlieferungen berücksichtigt, die das Hohenschönhausener Untersuchungsgefängnis betreffen.

735 Vgl. Monatsberichte der HA IX von Oktober 1955 bis Dezember 1969; BStU, MfS, HA IX, MF 11147 numerisch fortlaufend bis 11315. Vgl. Jahresanalysen der HA IX von 1970 bis 1987; BStU, MfS, HA IX, Nrn. 5512, 2801, 2856, 2857, 2802, 2803, 2861, 2862, 3710, 2805, 2806, 2807, 3711, 540 und 422. Vgl. Joestel (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988. Vgl. Monatsberichte der HA IX für Januar bis Oktober 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073. 736 Bis 1953 war die für Militärstraftaten zuständige, damals noch als HA I/5 bezeichnete Diensteinheit im späteren Haftkrankenhaus auf dem Gelände der Hohenschönhausener Untersuchungshaftanstalt ansässig, zog dann in die sogenannte UHA II in der Magdalenenstraße um und firmierte schließlich als HA I/9. Seit 1959 ist die Bearbeitung aller MfS-Ermittlungsverfahren bei der HA IX gebündelt, die Bearbeitung von Militärstraftaten (HA IX/6) fand jedoch weiterhin in der Magdalenenstraße statt. 737 Für den Zeiträume von 1958 bis 1962 sowie von 1968 bis 1989 betrifft dies rund 4 300 Personen, die in der UHA Berlin II (Magdalenenstraße) inhaftiert waren. Vgl. Kladden der Abt. XIV Berlin-Lichtenberg; BStU, MfS, Abt. XIV, Nrn. 16788, 16789, 16606.

198

Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen

1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959

253 428 824 392 350 166 160 348 384

1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969

397 455 453 354 343 234 193 168 160 135

1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979

162 108 179 240 234 216 205 200 145 189

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 gesamt

186 165 215 124 293 215 304 294 463 444 10 778

Einlieferungen pro Jahr 900 800 700 600 500 400 300 200

0

1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

100

Alter zum Zeitpunkt der Einlieferung Von 10 714 Hohenschönhausener Häftlingen konnte anhand ihres Geburtsdatums und des Datums der Einlieferung das entsprechende Alter zum Zeitpunkt ihrer Unterbringung in der zentralen Haftanstalt des MfS ermittelt werden. So ist festzustellen, dass mit rund 55 Prozent der Großteil der Insassen bis zu 30 Jahre alt war. Gut ein Fünftel der Gefangenen war 31 bis 40 Jahre alt, bei rund 13 Prozent lag die Altersspanne zwischen 41 und 50 Jahren. Lediglich rund 9 Prozent der Untersuchungshäftlinge war über 50 Jahre alt, als sie in Hohenschönhausen eingeliefert wurden.

199

Untersuchungsgefangene: Quantitative Daten

Altersverteilung der Häftlinge 1951–1989 >60 46-50 36-40 26-30 60

51-60

46-50

3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 60

51-60

>60

51-60

46-50

41-45

36-40

31-35

26-30

18-25