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German Pages [177] Year 2023
Vestigia Prussica Forschungen zur ost- und westpreußischen Landesgeschichte
Band 3
Herausgegeben im Auftrag der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung von Arno Mentzel-Reuters, Jürgen Sarnowsky und Sven Tode
Joachim Mähnert / Jürgen Sarnowsky (Hg.)
Immanuel Kant und sein Wirkungsort Königsberg Universität, Geschichte und Erinnerung heute
Mit 18 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Büste von Immanuel Kant, Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1808), in der Walhalla bei Regensburg, gemeinfrei (CC BY-SA 3.0-Lizenz), Fotograf: Hajotthu; https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant#/media/Datei:Kant_Walhalla_Donaustauf_20160927.jpg. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2628-1899 ISBN 978-3-7370-1558-5
Inhalt
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Joachim Mähnert / Jürgen Sarnowsky Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tim Kunze Die Kanttagung in Lüneburg (30. 9. – 2. 10. 2021) . . . . . . . . . . . . . . .
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Volker Gerhardt Kant als Theoretiker der Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Daria Barow-Vassilevitch Ostpreußen unter der russischen Herrschaft 1758–1762 und die Königsberger Albertina: Ausnahmezustand oder Normalität? . . . . . . .
31
Werner Stark Ein historischer Blick auf die ersten Jahre des Privatdozenten Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hanspeter Marti Immanuel Kant und die Disputation als traditionelle Unterrichtsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
Steffen Dietzsch Königsberg 1789–1799: Der Alltag der Philosophie in Zeiten der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johannes von Lüpke Herausgeforderte Vernunft. Johann Georg Hamann im Wortwechsel mit Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
6
Inhalt
Arno Mentzel-Reuters Die Königsberger Kant- und Copernicus-Wochen 1939–1942
. . . . . . . 137
Matthias Barelkowski / Agnieszka Pufelska Kants Amts- und Lehrtätigkeit am Beispiel der überlieferten Akten der Albertina im Staatsarchiv Olsztyn – Arbeitsbericht zu einem Digitalisierungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Beitragende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Register der im Text zitierten Werke Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Register der Orts- und Personennamen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Abkürzungen
AA APO N ZH
Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe) Archiwum Pan´stwowe w Olsztynie Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hg. von Josef Nadler, 6 Bde., Wien 1949–1957. Johann Georg Hamann, Briefwechsel, Bd. 1–3, hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Wiesbaden 1955–1957; Bd. 4–7, hg. von Arthur Henkel. Wiesbaden, Frankfurt a. M. 1965–1979.
Joachim Mähnert / Jürgen Sarnowsky
Einführung
Am 22. April 2024 jährt sich der Geburtstag des bedeutenden Philosophen und Königsberger Universitätslehrers Immanuel Kant zum 300. Mal. Anlässlich dieses Jubiläums wurde bereits 2014 eine Kant-Dekade ausgerufen, die der Vorbereitung von Projekten und ersten Veranstaltungen dienen sollte und soll. So kündigte die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften den Abschluss der 1894 durch Wilhelm Dilthey angeregten Gesamtausgabe der Werke Kants an. Unter der Leitung von Volker Gerhardt soll der Fokus dabei auf dem Opus postumum, den handschriftlich vorliegenden späten Werken Kants liegen. Die Parlamentarische Gesellschaft zu Berlin erhielt 2014 leihweise ein Kantporträt von Johannes Heydeck aus dem Jahr 1872, das aus den Beständen des Museums Stadt Königsberg in Duisburg stammt und von dessen ehrenamtlichen Leiter Lorenz Grimoni übergeben wurde (Abb.). Das Museum wurde 2016 aufgelöst, seine Bestände – mit einem Fokus auf dem Leben und Wirken Immanuel Kants – kamen an das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg. Sie werden die Grundlage für die erste Dauerausstellung zu Immanuel Kant in der Bundesrepublik Deutschland bilden. Das von der Bundesregierung und dem Land Niedersachsen finanzierte Museum erhält zu diesem Zweck einen Erweiterungsbau und wird damit zum zentralen Erinnerungsort für den Königsberger Philosophen. Im Zentrum werden neben klassisch kulturhistorischen Darstellen der Biographie Kants vorrangig die Aktualität und Modernität des meistzitiertesten Philosophen der Moderne stehen, seine fortwährende Wirkungsmacht zu Fragen der Erkenntnistheorie, der Moralphilosophie und nicht zuletzt zu Völkerrecht und Demokratiediskursen. Zur inhaltlichen Vorbereitung fand 2021 in Lüneburg eine gemeinsame Tagung der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und des Ostpreußischen Landesmuseums in Kooperation mit dem Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa mit dem städtischen Museum Lüneburg als Gastgeber statt, die dem Thema »Immanuel Kant und sein Wirkungsort Königsberg – Universität, Geschichte und Erinnerung heute« gewidmet war. Sie führte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
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Joachim Mähnert / Jürgen Sarnowsky
aus der Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte zusammen. Tim Kunze hat die Beiträge und Diskussionen der Tagung einleitend zusammengefasst. Leider konnten aus verschiedenen Gründen nicht alle Vorträge im vorliegenden Band dokumentiert werden, aber wir hoffen, dass trotzdem ein vielgestaltiges Bild entsteht. Zunächst wendet sich Volker Gerhardt der Bedeutung Kants als Theoretiker der Humanität zu, ein Thema, das angesichts der Ereignisse des Jahres 2022 zusätzliche Aktualität gewonnen hat. Im Anschluss daran beschreibt Daria Barow-Vassilevitch die für die jüngeren Jahre Kants bedeutsame russische Besetzung Ostpreußens und ihre Folgen für die Albertina. Es folgt der Beitrag von Werner Stark, der Kants Wirken in seiner Zeit als Privatdozent nachgeht. Hanspeter Marti untersucht dann die Qualifikationsschriften Kants und die Lehr- und Prüfungsformen an der Universität Königsberg, und Steffen Dietzsch beleuchtet die Situation in Königsberg in Kants späten Jahren. Abschließend wird zum einen durch Johannes von Lüpke mit Johann Georg Hamann einer der bedeutenderen Zeitgenossen und Gesprächspartner Kants in den Blick genommen, zum anderen widmet sich Arno Mentzel-Reuters der Rezeption Kants (und Copernicus’) in Königsberg in der NS-Zeit. Ergänzend verweisen Matthias Barelkowski und Agnieszka Pufelska auf ein Projekt zu einem noch wenig erschlossenen Aktenbestand zu Kant. Gerade die Kant-Rezeption bietet noch ein weites Feld für Forschungen, hin bis zur These, Kant sei eigentlich russischer Staatsbürger gewesen und deshalb ein »russischer« Philosoph. Die Diskussionen um Kants Philosophie, Wirken und Nachwirken werden und müssen auf jeden Fall weitergehen.
Einführung
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Abb.: Lorenz Grimoni vor dem Kantporträt von 1872 (Öl auf Leinwand, Johannes Heydeck), das 2014 im Rahmen der Kant-Dekade leihweise der Parlamentarischen Gesellschaft zu Berlin übergeben wurde. Foto: Dr. med. Eberhard Neumann-Redlin von Meding (aus Wikipedia: https://de.wi kipedia.org/wiki/Datei:Kant-Dekade-Berlin2014-10-13_(19).JPG; unter CC BY-SA 4.0).
Tim Kunze
Die Kanttagung in Lüneburg (30. 9. – 2. 10. 2021)
Der Philosoph Immanuel Kant ist fraglos der bekannteste Ostpreuße. Zunehmend selten wird jedoch sein Leben und Wirken in seinem lokalen Kontext betrachtet, obwohl Kant sein Leben lang eng an Ostpreußen und vor allem seine Heimatstadt Königsberg gebunden war. Genau diesem Themenfeld widmete sich die Jahrestagung der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, die vom 30. 9. bis 2. 10. 2021 in Lüneburg stattfand: »Immanuel Kant und sein Wirkungsort Königsberg – Universität, Geschichte und Erinnerung heute«. Ausrichter der Tagung war das Ostpreußische Landesmuseum in Kooperation mit dem Nordost-Institut (IKGN) in Lüneburg und dem städtischen Museum Lüneburg. Am Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg entsteht aktuell die erste Dauerausstellung der Bundesrepublik zu Immanuel Kant, die ab 2024 passend zum 300. Geburtstag des Philosophen gezeigt werden wird – insofern wird die Verbindung von Kant und Königsberg bzw. Ostpreußen sich künftig vertieft in das öffentliche Bild des Philosophen einschreiben. Eine genauere Ausarbeitung dieser Verbindung seitens der Wissenschaft kann hier also unmittelbar fruchtbar werden. Geladen waren deutsche und russische Historiker und Philosophen, im Fokus der Tagung stand dementsprechend auch der interdisziplinäre Diskurs. Kant wurde nicht direkt philosophisch, sondern vermittels seines historischen Umfelds erfasst, untergliedert in vier Module: Erinnerung heute, Universität, Geschichte und Wirkung. Die Vorträge im ersten Modul schilderten die breite Vielfalt der Erinnerung an Kant heute. Erstaunlich ist, welch namhafte moderne Künstler – von Dalí und Magritte bis zu Beuys und Anselm Kiefer – Kant und seine Gedankenwelt in ihren Werken verarbeiteten (Matthias Weber, Oldenburg). Das vorgestellte Konzept der entstehenden Kant-Dauerausstellung zeigte einerseits die enge biographische Verwurzelung Kants in Königsberg, andererseits die Vielfalt der Themen und Diskurse, bei denen Kant heute als relevanter Gesprächspartner wahrgenommen wird (Tim Kunze, Lüneburg). Das internationale Moment wurde
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Tim Kunze
schließlich durch einen Überblick über die lange und bis heute aktuelle Neukantianismus-Tradition in Russland sichtbar (Nina Dmitrieva, Kaliningrad). Das zweite Modul behandelte Kants Verbindung zur Königsberger AlbertusUniversität. Hier studierte er und hier war er seit 1755 vierzig Jahre lang als Dozent tätig. Die traditionelle Form der Disputation als Pro-Contra-Argumentation findet sich bei Kant v. a. in den akademischen Pflichtschriften, aber ihre Spuren reichen bis zum berühmten Antinomien-Kapitel in der »Kritik der reinen Vernunft«, auch wenn solche Wirkungen universitätsinterner Lehrformen auf Kant noch zu wenig untersucht sind (Hanspeter Marti, Engi/Schweiz). Für die ersten Dozentenjahre wurde die große Bedeutung von Kants naturgeschichtlichem Schwerpunkt hervorgehoben, der noch nicht auf die spätere kritische Transzendentalphilosophie vorausweist (Werner Stark, Marburg). Ein Bericht über den Stand des Archivprojekts zu den großen Beständen zur Königsberger Universitätsgeschichte im Staatsarchiv Olsztyn (Agnieszka Pufelska, Lüneburg und Matthias Barelkowski, Berlin) wies auf diese noch nicht ausreichend aufgearbeiteten Quellen hin, die nicht nur für Kant, sondern auch für die gesamte Königsberger Universitätsgeschichte von Bedeutung sind. Im Zentrum des dritten Moduls stand das geschichtliche Umfeld Kants, v. a. die beiden Großereignisse aus Kants Lebenszeit: der Siebenjährige Krieg, den Kant als junger Dozent erlebte, ohne ihn intellektuell zu verarbeiten, sowie die Französische Revolution, in der schon Zeitgenossen ein politisches Analogon zu Kants philosophischer Revolution sahen. Während die russische Besatzung Universität und Wissenschaft in Königsberg nur marginal beeinträchtigte, haben immerhin die – vergleichsweise wenigen – russischen Studenten in diesen Jahren den internationalen wissenschaftlichen Austausch dauerhaft befördert (Daria Barow-Vassilevitch, Engi/Schweiz). Auch in den 1790ern blieb in Königsberg eine politische Revolution aus, anekdotisch lässt sich allerdings die rege Kant-Rezeption aufzeigen (Steffen Dietzsch, Berlin). Zuletzt verfolgte das vierte Modul Kants Wirkung in einzelnen Ausschnitten. Eine besondere Wirkung hatte er auf seinen großen Königsberger Zeitgenossen und Kritiker Johann Georg Hamann, der das theologische Gespräch mit Gott der kantischen Analyse der reinen Vernunft scharf gegenüberstellt (Johannes von Lüpke, Wuppertal). Kants philosophisch-pädagogische Aufforderung zum Selberdenken beeinflusste Karl Gottfried Hagen, den Universalgelehrten und persönlichen Freund Kants, der dieses Prinzip in seiner praktischen Laborarbeit mit seinen Studenten umsetzte. Die Tradition des Selberdenkens wird noch heute in der heutigen Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität in Kaliningrad rezipiert (Nadezda Ermakova, Kaliningrad). Eine eher unbekannte Nachwirkung Kants stellt die in der Frauenemanzipation um 1900 dar (Cheryce von Xylander, Lüneburg).
Die Kanttagung in Lüneburg (30. 9. – 2. 10. 2021)
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Den feierlichen Höhepunkt bildete der Festakt im Historischen Rathaus von Lüneburg mit Grußworten u. a. von Björn Thümler, dem niedersächsischen Minister für Wissenschaft und Kultur, der Niedersachsen als Zentrum der Aufklärung und Lüneburg als einen Ort würdigte, an dem sich viele Institutionen weiterhin intensiv mit dem Erbe der Deutschen im östlichen Europa auseinandersetzen. Der belebende Festvortrag von Volker Gerhardt (Berlin), einem der bekanntesten Kantexperten weltweit, zeigte Kant als Lehrer der Humanität und Weltbürgertums. Im Resultat mündete die Schlussdiskussion im Appell, den anregenden Diskurs über die Fachgrenzen hinweg auch nach der Tagung fortzusetzen: Die KantForschung und die historische Forschung zu Ostpreußen sollten künftig enger kooperieren. Wie Werner Stark ausführte, ist ein solcher Dialog gerade hinsichtlich der zu erneuernden Edition von Kants Handschriften unverzichtbar. Die Tagung konnte in diesem Sinne auch abseits der Vorträge nachhaltig zur interdisziplinären Vernetzung von Forschungsvorhaben dienen. Allgemein aber fehlen heute Autoren wie Rudolf Malter oder Joseph Kohnen, die Kant noch in seinem lokalen Kontext einbetteten oder überhaupt Königsberg als Geisteszentrum begreifen. Umso erfreulicher ist es, dass auch das 2023 für Lüneburg geplante Hamann-Kolloquium sich in ähnlicher Weise mit Hamann und seinem lokalen Königsberger Kontext beschäftigen wird.
Volker Gerhardt
Kant als Theoretiker der Humanität1
Im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg soll eine Dauerausstellung zu Kant entstehen. Wenn die Absicht ist, uns angesichts eines erwartungsvoll in die Zukunft gerichteten Vorhabens in die zugehörige Stimmung zu versetzen, wäre es bei Kants Humanitätsverständnis angemessen, Schillers Ode an die Freude zu rezitieren oder gemeinsam den Schlusschor von Beethovens Neunter zu hören. Sie atmen den Geist, aus dem sie in epochaler Nähe zu Kants Denken entstanden sind, und sie verbreiten die Zuversicht, die man zur Erweiterung eines Museums, zur durch sie möglichen Vergegenwärtigung eines kulturellen Erbes und der sich damit eröffnenden neuen Horizonte verbindet. Die der Menschheit gewidmeten Kunstwerke stehen der Zeit und dem Geist Kants näher als eine wissenschaftliche Erwägung, die zweihundertsiebzehn Jahre nach Kants Tod vorgetragen wird. Doch nicht nur der aktuelle Krieg gegen die Ukraine, sondern schon die politischen Ereignisse des Jahres 2020 und die unmittelbar folgenden Reaktionen eines mit Recht über den Tod des schwarzen Amerikaners George Floyd entgeisterten Publikums haben zu Weiterungen geführt, die dem Begriff der Humanität bei Kant eine derart drängende Aktualität gegeben haben, dass es vorrangig ist, ihm nicht nur feierliche Aufmerksamkeit zu schenken. Zugleich ist Kants Ansehen in der öffentlichen Debatte derart in Verruf geraten, dass sich jeder verdächtig macht, der über Kant spricht und dabei die Vorwürfe gegen den angeblichen »Rassisten« Immanuel Kant nicht wenigstens erwähnt. Daher ist über Kant als Theoretiker der Humanität nachzudenken. Das Thema kann uns eine Vorstellung davon vermitteln, wieviel Zukunft in der Beschäftigung mit Kant liegt.
1 In etwas anderer Fassung auch in: Information Philosophie (2022), 1, S. 6–15.
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Volker Gerhardt
1. Die weitweite Empörung über den Mord an einem wehrlosen schwarzen Bürger am 25. Mai 2020 in Minneapolis ist Ausdruck einer Anteilnahme, die Menschen als Menschen nicht nur am Schicksal eines einzelnen Menschen nehmen, sondern auch am Leiden eines großen Teils der Menschheit, dem seit Jahrhunderten schweres Unrecht zugefügt worden ist – ein Unrecht, das bis heute in vielen offenen und versteckten Formen seine Fortsetzung findet. Doch wenn wir es uns mit dieser Feststellung auf der Bank der Ankläger Kants bequem machen wollen, haben wir nichts verstanden. Denn wir haben uns vor allem anderen einzugestehen, dass uns die Kritik an der Verletzung elementarer Ansprüche von Menschen allemal auch selbst betrifft! Denn keine Gegenwart lebt aus sich selbst. Jede Zeit basiert auf Erträgen und Leistungen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden erbracht worden sind. In sie sind nicht nur unzählige Ahnungslosigkeiten und Irrtümer, sondern auch Bosheiten und Verbrechen eingegangen, deren Schuld durch das Vergessen nicht getilgt und durch Erinnerung und Eingeständnisse nicht ungeschehen gemacht werden kann. Jeder auf ein Vergehen in der Geschichte gerichtete Finger zeigt mindesten dreifach in die Gegenwart zurück. Das kann und darf nicht bedeuten, dass wir über die entdeckten und erkannten Ungeheuerlichkeiten unserer Vorfahren schweigen. Aber wir sollten bedenken, dass die Angehörigen früherer Generationen vieles, von dem, was wir heute wissen, noch nicht wussten, und das in nicht seltenen Fällen noch gar nicht wissen konnten. Wenn unser Urteil über sie nicht nur historisch gehaltvoll und sachlich treffend sein, sondern auch mit den Ansprüchen übereinstimmen soll, die wir an uns und unsere Zeitgenossen stellen, dann ist jeder Vorwurf sowohl mit Blick auf die Geschichte wie auch mit Rücksicht auf unsere eigene Gegenwart zu bedenken. Die Schwierigkeit, die im Urteil über die Geschichte offenkundig ist und hier mit der Bemühung um historische Kenntnisse und mitmenschliche Gerechtigkeit in vielen Fällen durchaus zu bewältigen ist, wird von Kant selbst mit Blick auf die Natur des Menschen ergänzt und damit keineswegs behoben: Im Gegenteil: Für Kant ist der Mensch das einzige Lebewesen, das einen Begriff von Gut und Böse hat, und dennoch Böses tut, und zugleich in der Lage ist, seine Untaten zu beklagen und zu bedauern. Dieser eklatante Widerspruch in der menschlichen Natur nötigt Kant nicht nur zu einer moralischen, sondern auch zu einer politischen Justierung der Kriterien für dem Umgang mit dem singulären, aus uns selbst entspringenden Zentralproblem der menschlichen Natur zu finden: Es ist das Problem, das aus dem Nebeneinander von empfindender Anteilnahme mit den Opfern einerseits und der eigenen, den Menschen ausschließlich selbst schuldig machenden Tä-
Kant als Theoretiker der Humanität
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terschaft andererseits. Der Mensch ist fähig, unter dem Bösen, das er selbst in die Welt bringt, zu leiden – und das nicht nur gelegentlich, sondern dauerhaft und in unablässiger Fortsetzung. Wenn Kant 1795 feststellt, dass es »so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird«,2 dann hat er die verhängnisvolle Paradoxie der neuen globalen Weltlage und zugleich der menschlichen Natur auf den Punkt gebracht. Denn es ist niemand anderes als der Mensch, der das Recht verletzt, wohl gemerkt: das von ihm und für ihn in die Welt gebrachte Recht in eigener Verantwortung verletzt, und der sich zugleich darüber wortreich zu beklagen vermag. Man kann es auch knapper sagen: Der Mensch tut Unrecht, weiß davon und vermag als einziger darunter zu leiden. Und wenn er sich dieses Unrechtsbewusstsein auch oft nicht eingesteht, so hat er doch ein mit vielen anderen geteiltes Gefühl für das Unheil, das er selbst anrichtet. Er ist Täter und Opfer zugleich. Und beides betrifft die Humanität des Menschen.
2. Immanuel Kant macht sich keine Illusionen über die Natur des Menschen! Der Mensch ist »aus krummem Holze« geschnitzt, aus dem man nun einmal nichts makellos Grades machen kann.3 Kant spricht von der »ungeselligen Geselligkeit« des Menschen und von dessen eingeborenem »Antagonism«, der bis in seine geistige Verfassung reicht, und der sein Verhalten prägt: Er braucht und sucht die Nähe von seinesgleichen und meidet sie gleichwohl.4 Also ist der Mensch das einzige Lebewesen, dass den Frieden zu schätzen weiß und ist dennoch dasselbe, das Kriege plant, anzettelt und führt. Auch deshalb nennt Kant den Menschen »radikal böse«, also: von Grund auf verderbt.5 Diese im Menschen angelegte abgründige Bosheit: vom Bösen zu wissen und es trotzdem zu tun, gilt Kant als die konstitutive Selbsterfahrung des Menschen, die ihn zwar im Glauben an Gott dazu bringen kann, unter dem Anspruch des Postulats der »Unsterblichkeit« inneren Frieden zu erhoffen.6 Doch das betrifft nur den Glauben; die Humanität aber besteht nicht nur darin, jedem seinen Glauben zu lassen: Sie hat ihre Bedeutung vorrangig im selbstbewussten und 2 Immanuel Kant, Vom Ewigen Frieden, AA 8, Berlin 1923, S. 341–86, hier S. 360. 3 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), AA 8, Berlin 1923 S. 15–31, hier S. 23. 4 Ebd., S. 24. 5 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft (1793), AA 6, Berlin 1914, S. 1–202, hier S. 37. 6 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, Berlin 1913, S. 1–163, hier S. 122ff.
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Volker Gerhardt
weltoffenen Handeln des Menschen zu erweisen, das nach Möglichkeit, wissend bewältigt werden muss. Und hier zeigt sich die von Widersprüchen gekennzeichnete existenzielle Lage des Menschen, die ihn zur Liebe und zur tödlichen Feindschaft fähig macht, und ihn trotzdem die Verständigung mit seinesgleichen schätzen lässt. Erst dadurch wird der Mensch fähig, über seine eigensinnigen Abneigungen hinweg, den Wert der Einheit in den Leistungen anzuerkennen, die er im eigenen wie auch im gesellschaftlichen Interesse als vorrangig begründen kann. So kann der Königsberger Philosoph, der wie kein anderer vor ihm die »Unvertragsamkeit« der Menschen7 zu rühmen versteht, nicht nur zum Theoretiker der Verständigung und des Friedens werden, sondern auch zum scharfsinnigen Analysten der Humanität. Und dabei bewährt sich Kants Doppelbegabung als Kritiker und Systematiker: Er legt die Schwächen der menschlichen Natur unnachsichtig frei, und kann dennoch zum singulären Anwalt der Menschheit werden. Wer Kant lediglich als Kritiker wahrnimmt, übersieht, dass die Kritik bei ihm die Voraussetzung für eine systematisch bereinigte Sicht auf die verbliebenen Bestände ist, um aus den erkannten Defiziten die tragfähigen Prinzipien für humanes Handeln freizulegen. Und die nötigen ihn, die Menschheit nicht erst als Generalbedingung produktiver kultureller und politischen Leistungen, sondern bereits als grundlegende Prämisse des moralischen Selbstbegriffs eines jeden menschlichen Individuums anzusehen. Vielen Kritikern, insbesondere im 19. Jahrhundert, ist die Pointe dieser Verknüpfung von Moral und Politik entgangen; manche haben sie auch für ein Vorzeichen der Altersschwäche des »Chinesen von Königsberg« gehalten.8 Erst die Selbstzerrüttung der Menschheit im Ersten und im Zweiten Weltkrieg und das darauf folgende Wachstumsdelirium einer ihre eigenen moralischen, politischen und natürlichen Ressourcen aufzehrenden Zivilisation hat Kant-Lesern die Augen für den endzeitlichen Ernst in der Vernunftkritik dieses Denkers geöffnet. Seine Warnung vor den »höllischen Waffen«, die bereits in den Kriegen seiner Zeit zum Einsatz kommen, seine Kritik am »Kolonialismus« und der »allergrausamsten und ausgedachtensten Sklaverei«, in der die europäischen Eroberer von sich aus alles Vertrauen in die Gerechtigkeit zerstörten,9 seine Abrechnung mit der Verlogenheit der Politik und schließlich seine abgeklärte naturgeschichtliche Gewissheit, dass die Epoche des Menschen u. U. schon bald
7 Kant, Idee (wie Anm. 3), S. 21. 8 »Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker«, Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 210 (Giorgio Colli / Mazzino Montinari [Hg.], Kritische Studienausgabe, 5), München u. a. 1986, S. 144. 9 Kant, Frieden (wie Anm. 2), S. 359.
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ein Ende finden könnte,10 zeigen einen Realismus, der ausschließt, dass Kant in seiner Betonung der Menschheit und der mit ihr exponierten Verbindlichkeit der humanen Selbstverpflichtung einen leichtfertigen Idealismus vertritt.
3. Beachten wir nur den unscheinbaren Umstand, dass für Kant die Humanität dem Menschen nicht in die Wiege gelegt wird. Sie ist vielmehr eine Idee, die er dem Leiden des Menschen an sich selbst und der darin wachsenden Einsicht in die Notwendigkeit der Verständigung verdankt. Überdies kommen bei Kant die Erkenntnisse hinzu, die er der Wissenschaft seines Jahrhunderts, der Aufklärung und den politischen Ereignissen im letzten Drittel seines Jahrhunderts verdankt. Und sie haben eine lange Vorgeschichte in der Geschichte der Philosophie! Sie beginnt mit der inneren Verbindung von Universalität und Individualität, die das philosophische Denken überhaupt erst auf den Weg gebracht hat. Sie ist verbunden mit der für Kants Denken exemplarischen Gestalt des Sokrates, verdankt sich der Anregung durch Cicero, der erstmals humanitas, persona und dignitas (also Humanität, Personalität und menschliche Würde) verknüpft hat, um deutlich zu machen, wodurch allein die römische res publica gerettet werden kann. Man darf auch, den Einfluss der urchristlichen Botschaft mit ihrem primär an den Einzelnen adressierten Heilsversprechen – unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Bildung – nicht vergessen. Man hat überdies an den Verfasser des ersten neuzeitlichen Friedensrufs, Erasmus von Rotterdam, zu erinnern, der auch der erste war, der es für möglich hielt, die Monarchie mit den Prinzipien der Republik zu verbinden, Gegen Luther verteidigte Erasmus eine Freiheit, die unterschiedslos allen Konfessionen und Religionen zusteht. Und wenn man die Vorgeschichte wenigstens in ihren wesentlichen Punkten erfassen möchte, hätte man auch die gegen Kolonialismus und Sklaverei gerichtete Wiederbelebung des Naturrechts im Menschen- und Völkerrecht durch die Dominikaner und Jesuiten des 16. Jahrhunderts zu erwähnen. Zum definitiven Initial des Humanitätsgedanken bei Kant aber gehört die Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien mit der von Thomas Jefferson entworfenen Bill of Rights im Jahre 1776. In ihr wird das Menschenrecht zum neuen Maßstab politischer Gesetzgebung erhoben. Die Folgen sind bereits in Kants erster Vernunftkritik von 1781 zu erkennen, denn sie atmet in ihrer Zukunftsgewissheit den Geist einer sich in Jahrhunderten 10 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: AA 7, Berlin 1907–1917, S. 1–116, hier etwa S. 88–89.
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entwickelnden Humanität, die im Programm der Aufklärung zur Leitidee des Fortschritts geworden ist. Und mit den danach in dichter Folge publizierten politischen Schriften werden Menschheit und ihr elementarer Rechtsanspruch im Menschenrecht auch für Kant zur conditio sine qua non des politischen Handelns.
4. Von da an häuft sich in Kants Schriften der Gebrauch des Begriffs der »Menschheit«. Dessen politische Bedeutung kommt an Kants Mittagstafel mit den Erfolgen des Befreiungskrieges der Neuenglandstaaten (und der sich anschließenden Französischen Revolution) mit einer solchen Entschiedenheit zur Sprache, dass Kants englische Freunde verärgert und seine preußischen Gäste zunehmend besorgt sind. Mit dem Tod Friedrich II. kommt 1786 die Sorge hinzu, der Philosoph könne sich den Unmut der preußischen Staatsmacht zuziehen. Doch das geschieht erst 1792, als der Berliner Hof Anstoß an Kant liberalen Äußerungen über die Macht der Kirche nimmt. Den wichtigsten philosophischen Schritt vollzieht Kants in seinem Übergang zur Moralphilosophie 1785 mit der Abfasung seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hier zieht Kant die Konsequenz aus der von Anfang an bestehenden Parallele zwischen Individualität und Menschheit. Und es genügt ihm nicht, davon auszugehen, dass beide Begriffe aufeinander verweisen; er verbindet sie zu einer systematischen Einheit, die jedem, der sie begrifflich nachzuvollziehen sucht, den Atem verschlagen kann. Alle kennen die kühne Formel, in der Kant seinen »kategorischen Imperativ« populär gemacht hat: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst«.11 Hier verschmelzen die größten Gegensätze, die man sich nach unserer Kenntnis des alltäglichen Lebens nur vorstellen kann: In offenkundiger Doppelrolle bezieht sich »Menschheit« zum einen auf alle Menschen überhaupt und zum andern auf den intelligiblen Selbstbegriff, den jedes Individuum von sich selber hat! Mit einer in ihrer Paradoxie kaum zu überbietenden Denkbewegung gelingt es Kant, den alle Menschen überhaupt umfassenden Begriff der Menschheit zum innersten Selbstverständnis eines jeden einzelnen Menschen zu erklären. Er komprimiert die Totalität aller Menschen zum nur dem Einzelnen zugänglichen intelligiblen Nucleus in der Selbstreflexion des Individuums, von dem mit absoluter Gewissheit behauptet wird, dass sie in allen Menschen 11 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, Berlin 1911, S. 385–462, hier S. 429.
Kant als Theoretiker der Humanität
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gleichartig und gleichrangig ist. So wird der Begriff der Menschheit zur umfänglichsten und zugleich eindringlichsten Selbstbezeichnung des Menschen, der sich den Titel der Person zueignen kann. Zur rationalen Zumutung dieser Konstruktion kommt eine normative Maßlosigkeit – so jedenfalls haben es Zeitgenossen empfunden: In der Entsprechung von personaler Individualität und gattungsspezifischer Universalität liegt nach Kant die singuläre Würde des Menschen! Diese Würde ist jedem Menschen eigen, unabhängig von allen historischen Voraussetzungen, sachlichen Leistungen und gesellschaftlichen Ämtern; sie steht dem Menschen in seinem bloßen Dasein zu! Mit einem Schlag sind es nicht mehr die Staats- und Kirchenfürsten, denen die höchste Auszeichnung zukommt; auch den Weisen, Entdeckern und den Künstlern wird kein humanitärer Vorsprung gewährt. Die Würde bleibt allein dem Menschen in seiner natürlichen Existenz vorbehalten. In seiner menschlichen Geburt und seiner mit allen geteilten Sterblichkeit avanciert er zum einzigen und zugleich höchsten irdischen Würdenträger überhaupt. Was damit der sich selbst aufwertenden politischen Welt an moralischer Hochschätzung genommen wird, das gewinnt der einzelne Mensch mit seiner Würde an unüberbietbarem moralischem Gewicht, das durch die Politik geschützt und gesichert werden muss. Welches schier unglaubliche Paradox in dieser Auszeichnung der Politik liegt, ist offenkundig: Denn die Politik, die, wie wir sie aus dem Alltag kennen, vorrangig der Macht verpflichtet ist, muss sie, nach Kant, als die Größe angesehen werden, welche die Würde des Menschen am meisten bedroht! Und ausgerechnet sie, soll das Palliativ (oder gar der Schutzpanzer) der Würde sein?
5. Die politische Konsequenz aus dieser alle überlieferten Wertungen umkehrenden These hat Kant schon ein paar Jahre früher mit seiner Übernahme des Begriffs des Menschenrechts und dessen Anwendung auf einen Ausdruck, der schon zu seiner Zeit ganz alltäglich geworden war, gezogen: So wie man sich in der Regel nach der Geburt eines Menschen über den neuen »Erdenbürger« freut, so nennt Kant nun jeden Menschen einen »Weltbürger«! Dieser Titel gebührt jedem Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Bildungsstand oder Alter. Als »Weltbürger« sind alle gleich, und machen in ihrer Gesamtheit die politische Menschheit aus. Kant verbindet diesen Rang mit dem jedem Menschen zustehenden Anspruch, Inhaber bürgerlicher Rechte zu sein – einem Rechtstitel, der, nach Kant, in aller Welt anerkannt werden muss.
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Zwar wissen wir, dass der Königsberger Philosoph, in der Erörterung bestehender Rechtsordnungen noch gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern und eine Zeit lang auch noch zwischen selbständigen und abhängig beschäftigten Personen macht.12 Aber das liegt daran, dass er hier noch Bezug auf bestehende Verfassungen nimmt. Mit dem Übergang zu Erwägungen, die sich auf die Anlage von prinzipiell zu fordernden Republiken bezieht, ist bei ihm nur noch von Menschen die Rede – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Tätigkeit und ihrer Bildung! Damit ist auch die Frage entschieden, ob die Menschheit nach Kant in verschiedene »Rassen« zerfällt. Wäre es so, könnte man ihn einen »Rassisten« zu nennen. Zwar sagt er gelegentlich noch »Neger« (und hat als guter Lateiner gewiss nichts Böses darin gefunden); in einigen wenigen Fällen spricht er auch abwertend von Unterschieden zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe. Dass wir uns heute, nach den Erfahrungen mit Sklaverei und Menschenvernichtung solche Wertungen verbieten, versteht sich von selbst. Aber ehe wir mit einem historischen Abstand von mehr als 200 Jahren daraus Kant einen vernichtenden Vorwurf 13 machen, müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie sie vom Autor gemeint sind und von den Lesern, für die er schreibt, auch verstanden wurden. Und hier ist es ganz einfach: Denn Kant kommt in drei Aufsätzen aus den Jahren 1775, 1785 und 1789, in denen er sich primär mit dem Problem der »Rasse« befasst, zu dem Ergebnis, dass die Menschheit eine Einheit bildet! Sie hat einen »Stamm« und muss als eine »Familie« verstanden werden. In seiner Untersuchung von 1788 spricht er daher die Empfehlung aus, auf den missverständlichen Begriff der »race« ganz zu verzichten.14 Er selbst hält sich in 12 So etwa in der epochalen kleinen Schrift Immanuel Kant, Zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), AA 8, Berlin 1923, S. 35–42. 13 Damit meine ich natürlich nicht, dass man sich nicht kritisch mit abschätzigen Äußerungen, die sich bei Kant finden, befassen sollte. Die kritische Aufmerksamkeit muss es nicht nur mit Blick auf die Sklaverei und den Kolonialismus geben, sondern auch angesichts der verhängnisvollen Tradition des Rassismus in der deutschen Geschichte – von der Reformation über den Nazismus bis in die jüngste Gegenwart. Im Umfeld von Wolfram Hogrebe sind dazu bereits vor längerer Zeit kritische Studien entstanden. Kurt Röttgers hat 1993 in einer separaten Publikation auf die Vorurteile über die »Zigeuner« in Kants Umgebung hingewiesen (Kurt Röttgers, Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner, Heidelberg 1993); und Kants Urteil über den jüdischen Glauben war ein Thema, mit dem sich die Interpreten von Anfang an befasst haben. Daran haben sich insbesondere jüdische Philosophen beteiligt, unter denen namhafte Kantianer wie etwa Hermann Cohen zu finden sind. Bei aller Kritik sollte man unterscheiden, ob sich bei einem Autor als antisemitisch oder rassistisch bewertete Urteile finden, oder ob er als »Antisemit« oder gar als »Rassist« bezeichnet werden kann. 14 Immanuel Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien, AA 8, Berlin 1923, S. 157ff.
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allen noch folgende Publikationen, zu denen auch seine grundlegenden politischen Schriften gehören, an diesen seinen Rat. Die erkennbaren Differenzen in Aussehen und Verhalten zwischen den Menschen hält er für Folgen der klimatischen Differenzen zwischen den kontinentalen Herkunftsgebieten; und die Abweichungen in den Verhaltensweisen und Interessen der Menschen erklären sich für ihn aus historisch entstandenen kulturellen Besonderheiten, die sich individuell und gesellschaftlich ändern können. Kant ist, das darf man aus vielen Äußerungen der vorkritischen und der kritischen Zeit schließen, ein Kulturalist avant la lettre. Es könnte verwundern, dass sich der Autor, gut hundertfünfzig Jahre vor den genetischen Beweisen für seine These, seiner Auffassung so sicher ist. Doch er hat ein bezwingend einfaches Argument: Die Menschen können über alle vermeintlichen Wesensgrenzen hinweg Kinder zeugen. Für Kant ist die Paarungsfähigkeit der Menschen das untrügliche Zeichen der gattungsspezifischen Einheit des menschlichen Geschlechts. Somit gibt es für ihn keinen Grund, unterschiedliche moralische, rechtliche oder politische Ansprüche an verschiedene Menschengruppen zu stellen. Kants Insistenz auf der Gleichheit der Menschen ist so nachdrücklich und derart unbedingt, dass man ihn zu den Wegbereitern der Menschenrechte zu rechnen hat. Ohne Kant könnte die Kritik an der Rassendiskriminierung wohl kaum mit der kategorischen Unbedingtheit geäußert werden, in der es heute mit Recht geschieht. Wäre Kant tatsächlich ein »Rassist« gewesen, hätte er als entschiedenster Kritiker seiner selbst auftreten müssen.15
6. In den letzten zehn Jahren seiner publizistischen Präsenz hat Kant dem für ihn erledigten Thema der »race« keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Nach der 1790 vorgelegten dritten Kritik mit ihrer Grundlegung der Ästhetik und seiner ingeniösen und völlig neuartigen Theorie des Lebens, schreibt er seine Religionsphilosophie und präzisiert dabei seine kritische Bestandsaufnahme der Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen. Nachdem die Vereinigten Staaten und die Französische Republik zu ihrem verfassungstheoretischen Abschluss gefunden haben und in dem von Kant begrüßten Frieden von Basel 1795 der Koalitionskrieg der alten Monarchien gegen die junge Republik beendet werden konnte, widmet sich Kant dem Projekt des 15 Bei dem profiliertesten Kritiker der Philosophie, zu dem Kant ohne Selbstkritik niemals hätte werden können, ist das alles andere als eine rhetorische Pointe. Sie trifft ins Zentrum des Selbstbegriffs der kritischen Philosophie.
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Friedens zwischen der Staaten, entwickelt die Idee einer Föderation, die auch Staaten mit unterschiedlichen Verfassungen umfassen kann, und zeigt in einer bis heute viel zu wenig beachteten Überlegung, wie politische Öffentlichkeit und eine existenziell ernstgenommene Moralität der Individuen zu einem möglichst gewaltlosen Übergang in eine den Frieden sichernde republikanisch-demokratische Wert- und Weltordnung führen können. Mit diesem innovativen Abschluss seiner Kritik an einer seit Jahrhunderten vorherrschenden staatspolitischen Praxis sucht Kant nach einem Weg, der die von ihm methodologisch getrennten Begründungsmodelle von Moral und Recht zusammenführt: Die bereits moralisch geforderte Vereinigung zwischen moralischer Person und Menschheit erhält nunmehr ihre politische Entsprechung, indem die Politik über eine moralisch ernstgenommene Öffentlichkeit Recht und Moral so verbindet, dass Kant durch sie auch das Glück der Menschen befördert sieht.16 Dieses sein politisches Denken abschließende Programm ist für Kants Konzeption der Humanität von eminenter Bedeutung. Denn hier wird deutlich, dass so, wie im kategorischen Imperativ die Gesamtheit der Menschheit mit dem Selbstverständnis der Person innerlich verknüpft wird, fordert er hier, dass Recht und Moral im Medium der Öffentlichkeit zur Deckung gebracht werden müssen. Seine ätzende Kritik an den »politischen Moralisten«, die nur von Moral reden, sich in ihren Handlungen aber gar nicht um sie kümmern, ist literarisch eine Glanzleitung der politischen Satire, und philosophisch leitet sie über zur systematischen Verbindung zwischen Moral und Politik. Es ist der »moralische Politiker«, von dem Kant erwartet, dass er – nach Möglichkeit ohne Gewalt – den Übergang von der Monarchie zur Republik ermöglicht. Und mit diesem Schritt muss auch der »Zweizüngigkeit der Politik« ein Ende gemacht werden, um die »Achtung fürs Recht« zur »unbedingten Pflicht« für jeden politischen Menschen erhoben werden.17 Und damit vollzieht Kant – genau genommen schon in der Friedensschrift – den Übergang zur Demokratie! Denn die Demokratie verlangt nicht nur von den Politikern, sondern auch von den Bürgern die aus eigenem Antrieb kommende Einhaltung des Rechts. Während der kategorische Imperativ die Humanität moralisch verbindlich macht, ist eine das Recht achtende Demokratie die beste Gewähr für die politische Sicherung der Humanität. Diese Konsequenz mit ausdrücklicher Nennung der Demokratie zieht Kant freilich erst zwei Jahre später im § 52 der Metaphysik der Sitten.18 Hier ist der staatstheoretische Abschluss seiner politischen Lehre gefunden. Der Staat lässt 16 Kant, Vom ewigen Frieden (wie Anm. 2), S. 386. 17 Ebd., S. 385. 18 MS, Rechtslehre, § 52, AA 6, S. 339f.
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sich als »repräsentatives System« im Geist des Menschen- und des Weltbürgerrechts begreifen, das größere oder kleinere Einheiten umfasst und es nicht ausschließt, dass sich Teile der Staatenwelt zu einem Staat zusammenschließen.19 Auch eine einheitliche »Weltrepublik« hält Kant für denkbar; sie ist aber nicht seine vorrangige Option. Im Mittelpunkt seines Interesses steht die zur rechtsförmigen Kooperation genötigte Föderation.
7. Kant pflegte in seinen Logik-Vorlesungen die zentralen Aufgaben der Philosophie durch drei Fragen zu charakterisieren: »Was kann ich wissen?« »Was soll ich tun?« und: »Was darf ich hoffen?« In allen drei Fragen, in denen wir unschwer die Leitfragen seiner drei Kritiken, erkennen, spielt das »Ich« eine zentrale Rolle. In der Tat hat die Philosophie vom nicht nur fragenden, sondern auch zum Handeln genötigten und unter dem Erwartungsdruck seiner persönlichen Wünsche stehenden, »ich« sagenden Subjekt auszugehen. Dieses von sich selbst wissende Individuum ist konstitutiv für alles, was für einen Menschen Bedeutung hat – und dies so, dass die Bedeutung auch von seinesgleichen eben genau so begriffen werden kann. Schließlich wird noch eine weitere Frage hinzugefügt, in der die drei vorangehenden Fragen kulminieren: »Was ist der Mensch?« Das ist in der Tat die humanistische Zentralfrage, die in allem nach der Beschaffenheit, Aufgabe und Zukunft jedes Ich fragt, das als bewegende und bewegte Instanz in allem Wissen, in allem Handeln und allem Hoffen wirksam und betroffen ist. Aber da es allein im Gebrauch dieses singulären Ich zu Einsichten kommen kann, über die es nur in der Verständigung mit anderen »ich«-sagenden Wesen zur Erkenntnis der Welt und ihrer Beschaffenheit gelangt, hängt am Ich – und an dessen Fähigkeit zur »communicatio«20 der ganze vom Menschen erkennbare Zusammenhang der Welt. So erklärt sich auch der Zusammenhang von Individualität und Universalität: Er ist die umfassende Klammer, in der es dem Menschen möglich ist, sich selbst in kontinuierlicher Verbindung mit der Welt, die den ganzen menschlichen Horizont umschließt, zu denken. Das kann man mit Kant als »transzendentalen Idealismus« bezeichnen. Da dieser Idealismus aber an eine reale Funktion in der Welt, nämlich an die Verständigung, die »communicatio« lebendiger Wesen gebunden ist, bietet dieser 19 Ebd., § 61, S. 350. 20 Wie Kant in einer Erläuterung der »transzendentalen« Leistungen sagt, s. den Brief an J. S. Beck vom 1. Juli 1794; Briefwechsel, AA 11, Berlin 1900, S. 514ff.
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»transzendentale Idealismus« alles andere als einen »metaphysischen Idealismus«, der grundsätzlich alles umschließt. Über seine Bindung an leibhaftige, ichsagende Naturwesen, die sich »Menschen« nennen, bleibt der »transzendentale Idealismus« an ein Fundament in Natur und Gesellschaft gebunden, mit dem sich Kant Zeit seines Lebens beschäftigt hat. Als junger Gelehrter hat Kant im Anschluss an Newtons Kosmologie, eine »Allgemeine Naturgeschichte« des Kosmos entwickelt, in dem es erst nach Jahrmillionen zur Entstehung der Sonnensysteme mit ihren Planeten gekommen ist. Das Leben, wie es auf der Erde vorkommt, ist erst viel später auf dem sich langsam abkühlenden Sonnentrabanten entstanden. Nach einem weiteren sehr langen Zeitraum hat sich hier auch der Mensch entwickelt, der es selbst vermutlich nicht mehr erleben wird, dass die an Energie verlierende Erde sich der Sonne immer weiter nähert und am Ende in sie stürzt und in ihr verglüht – ein Vorgang, den Kant gleichwohl mit ausufernder Phantasie beschreibt,21 obgleich ihn von der Erde aus gewiss kein Mensch jemals miterleben wird. Spätestens mit dem »Feuerwerk« des Verschwindens der Erde in der Sonnenglut ist die Naturund Lebensgeschichte des Menschen auf seinem Heimatplaneten beendet. Wir wissen, dass Kant auch noch im Alter an diesem naturgeschichtlichen Modell festgehalten hat. Und unmittelbar nach Abschluss seiner Friedensschrift wurde er durch zwei von ihm geschätzte Naturforscher Petrus Camper und Friedrich Blumenbach auf ganz andere Weise an das Ende der Menschheit erinnert: Die beiden glaubten aus ihren Studien schließen zu können, dass die Menschen Vorläufer gehabt haben, die von ihnen erst verdrängt werden mussten, ehe sie selbst als Menschen zum dominierenden Lebewesen auf der Erde werden konnten. Aber diese Dominanz des Menschen, da ist auch Kant sich sicher, wird nicht von Dauer sein! Denn eines Tages werden andere Geschöpfe herangewachsen sein, die sich als überlegen erweisen und die Menschen verdrängen. Unter den Bedingungen einer Pandemie und einer drohenden Klimakatastrophe brauchen die Menschen heute keine science-fiction-Autoren, um sich ein solches Ende auf ihrem Planeten vorstellen zu können. Kant zeigt sich deshalb über die Mutmaßung von Camper und Blumenbach nicht überrascht. Er hält es offenbar für natürlich, dass die nach ihm von der Evolution stärker begünstigten Geschöpfe mit dem Menschen ebenso verfahren werden, wie der einst mit ihnen umgegangen ist.22 Kant denkt also das historische Ende der menschlichen Geschichte mit.
21 Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), AA 1, Berlin 1902–1910, S. 215–368, hier S. 316–22. 22 Kant, Streit (wie Anm. 10), 2,7, S. 89.
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Aber das hindert ihn nicht, an seinem kommunikativ fundierten sowie moralisch und politisch verbindlich gemachten Humanismus festzuhalten! Kant hat mit Blick auf die dem Menschen zur Pflicht gemachten Zukunft durchaus gute Gründe, weiterhin von »Fortschritt« zu sprechen. Aber er macht die Auszeichnung der Humanität nicht abhängig von einem gelingenden Ende der Geschichte oder von der Erfüllung einer geglaubten Verheißung eines Gottes, sondern allein vom Verhalten des Menschen, in dem Leben, das er hat. Der Mensch hat sich in seinem Wissen und Können sowie in seiner moralischen und politischen Verantwortung der Menschheit in seiner Person – wie auch in seiner politischen Organisation – als würdig zu erweisen. Hier kommt es, definitiv, nicht mehr darauf an, ob man Europäer, Afrikaner oder Amerikaner, Mann oder Frau, gebildet oder einfach nur gerade heraus und aufrichtig ist. Gesetzt, der Mensch kann sich durch den Einsatz von Politik, Wissenschaft und Technik nicht von der Gefahr eines von der Natur aufgezwungenen Ende befreien, hängt für den Menschen alles daran, wie er sich als einzelner Mensch in seiner menschlichen Nähe zu seinesgleichen versteht und ob es ihm in einer solchen Lage gelingt, seine Würde zu wahren und die Menschheit in seiner eigenen Person im Verhältnis zu sich selbst und zu seinesgleichen als höchsten Ausweis seiner Menschlichkeit zu sichern. Und eine Politik, die das begünstigt, wäre im Interesse der Menschheit.
Daria Barow-Vassilevitch
Ostpreußen unter der russischen Herrschaft 1758–1762 und die Königsberger Albertina: Ausnahmezustand oder Normalität?
Während die ältere wie neuere Forschung der russischen Okkupation Ostpreußens im Siebenjährigen Krieg einige Aufmerksamkeit schenkte,1 scheint speziell die Albertus-Universität Königsberg, das Universitätsleben und die universitäre Literaturproduktion in dieser Zeit nicht ausreichend Beachtung gefunden zu haben. Freilich gibt es das Standardwerk von Götz von Selle,2 und auch in der neuesten Geschichte der Königsberger Albertina von Kasimir Lawrynowicz3 ist ein Kapitel zu dieser Zeit enthalten, allerdings stützt der Letztere sich im Wesentlichen auf die Darstellung Götz von Selles und auf die sehr aufschlussreichen und in älterer wie in jüngerer Literatur gern zitierten Aufzeichnungen des sich als Offizier im damaligen Königsberg aufhaltenden Andrej Bolotov (1738–1833).4 1 Vgl. unter anderem Johann Wilhelm von Archenholtz, Geschichte des siebenjährigen Krieges 1756 bis 1763, Frankfurt [u. a.] 1788, S. 78–80; Xaver von Hasenkamp, Ostpreußen unter dem Doppelaar: historische Skizze der russischen Invasion in den Tagen des siebenjährigen Krieges, Königsberg 1866; Georg von Frantzius, Die Okkupation Ostpreußens durch die Russen im Siebenjährigen Kriege mit besonderer Berücksichtigung der russischen Quellen, Berlin 1916; Ernst von Frisch, Zur Geschichte der russischen Feldzüge im siebenjährigen Kriege: nach den Aufzeichnungen und Beobachtungen der dem russischen Hauptquartier zugeteilten österreichischen Offiziere, vornehmlich in den Kriegsjahren 1757–1758, Heidelberg 1919; Stefan Hartmann, Die Rückgabe Ostpreußens durch die Russen an Preußen im Jahre 1762, in: Zeitschrift für Ostforschung 36,3 (1987), S. 405–433; Francine-Dominique Liechtenhan, Königsberg, capitale de la Nouvelle Russie? La Prusse orientale sous l’occupation russe (1758–1762), in: Histoire, économie et société 32,2 (2013), S. 79–95; Marian Füssel, Der Preis des Ruhms. Eine Weltgeschichte des Siebenjährigen Krieges, München 2019. 2 Götz von Selle, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preussen, 2., durchges. u. verm. Aufl. (Veröffentlichungen des Göttinger Arbeitskreises, 145), Würzburg 1956. 3 Kasimir Lawrynowicz, Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, hg. v. Dietrich Rauschning (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises, 13), Berlin 1999. 4 Erstmals erschienen lange nach dem Tod des Autors: Zˇizn’ i prikljucˇenija Andreja Bolotova, 4 Bde., St. Petersburg 1871–1873; eine weitere Edition folgte 1931 in drei Bänden; Leben und Abenteuer des Andrej Bolotow, aus d. Russ. ausgew., hg. v. Marianne Schilow, 2 Bde., Leipzig 1989. Der Beitrag: Anna von Arseniew, Königsberger Bilder aus der Zeit der russischen Okkupation 1758 bis 1762, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 12 (1937), S. 19–23, stellt ebenfalls eine Übertragung des entsprechenden Ab-
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Eine Quellenanalyse (vor allem eine Auswertung von Matrikeln, Vorlesungsverzeichnissen und Dissertationen) zum Zeitabschnitt zwischen Wintersemester 1758 und Sommersemester 1762 – also zu der kurzen Periode unter der russischen Herrschaft – steht jedoch aus. Sich dieses Desiderates in erster Annäherung anzunehmen ist das Ziel dieses Beitrags, denn die genannten Quellen vermögen objektiv die Auswirkungen des zeitweiligen Machtwechsels auf den Universitätsbetrieb und auf das Wirken der Hauptakteure – Studenten und Dozenten – oder eben das Ausbleiben solcher belegen. Zu Beginn sollte ein Blick auf die Königsberger Matrikel geworfen werden, die von Georg Erler in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts ediert5 und so für die Nachwelt gerettet wurden.6 Wenn eine Bildungseinrichtung wie eine Universität, die eine überregionale kulturelle Ausstrahlung besitzt, sich auf einem Territorium befindet, das unter eine neue politische Verwaltung gekommen ist, ist es folgerichtig anzunehmen, dass diese Einrichtung verstärkt Studenten aus dem Siegerland anzieht: Sie brauchen ja die Hürden nicht zu überwinden, die vor ausländischen ›Bildungsmigranten‹ stehen. Über die Herkunft der Inskribierten geben die Albertina-Matrikeleinträge (die meistens von den Ankömmlingen eigenhändig vorgenommen wurden) mit sehr wenigen Ausnahmen genaue Auskunft. Seit dem 17. Jahrhundert gab es in Königsberg, wie an anderen deutschen Universitäten, eine nennenswerte Zahl der sich als Russus bezeichnenden Immatrikulierten mit Herkunftsorten in Russland, welche meistens aus Familien deutscher Einwanderer stammten (deutsche Kolonien in russischen Städten, besonders in Moskau, waren schon im 16.–17. Jahrhundert beträchtlich).7
schnitts der Memoiren Bolotovs ins Deutsche dar. In Hellmuth Weiss, Das Königsberg Kants in den Augen eines jungen russischen Teilnehmers am Siebenjährigen Kriege, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg Pr. 17 (1967), S. 49–62, wird derselbe Abschnitt nacherzählt, und auch Lawrynowicz, Albertina (wie Anm. 3), S. 143–151, geht auf Bolotovs Aufzeichnungen ein. 5 Georg Erler (Hg.), Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg (Publikationen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen, 16), 1: Die Immatrikulationen von 1544–1656, Leipzig 1910; 2: Die Immatrikulationen von 1657–1829, Leipzig 1911–1912; 3: Personenregister und Heimatsverzeichnis, Leipzig 1917. 6 Die alten Königsberger Matrikel befinden sich nicht in dem viel beachteten Bestand »AlbertusUniversität in Königsberg« im Staatsarchiv Olsztyn. Vgl. Beata Wacławik, Das Archiv der Albertus-Universität Königsberg im Bestand des Staatsarchivs in Olsztyn (Allenstein), in: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej / Bulletin der Polnischen Historischen Mission 6 (2011), S. 91–107, hier: S. 102. 7 Grundlegend zu den als Russus bezeichneten Studenten an deutschen Universitäten (auch unter Berücksichtigung der Vielschichtigkeit des Begriffs »russischer Student« im 18.– 19. Jahrhundert) siehe Andrej Andreev, Russkie studenty v nemeckich universitetach XVIII – pervoj poloviny XIX veka [Russische Studenten an deutschen Universitäten, 18. bis erste Hälfte des 20. Jahrhunderts], Moskau 2005.
Ostpreußen unter der russischen Herrschaft und die Königsberger Albertina
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Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts fallen aber in der Königsberger Matrikel Studenten mit russischen Nachnamen auf, welche sich, oft in Gruppen, an der Albertina immatrikulierten, so beispielsweise vier Männer (Ivan Kalusˇkin, Ivan Jersˇov – beide als nobilis bezeichnet – und Nikita Titov aus Moskau sowie Konon Ptachin, ein Adliger aus Novgorod Velikij), die im Februar-März 1717 als stipulati8 eingetragen wurden.9 Bei den nobiles dürfte es sich oft um Vertreter der ›neuen‹ Adelsgeschlechter handeln, die durch bedingungslose Treue die Macht Peters I. gegen die alten Bojareneliten sicherten. Als Gegenleistung erhielten die jungen Männer breite Karrierechancen in Armee und Flotte, Verwaltung und Bildung, gegebenenfalls verbunden mit einem Adelstitel. Sieben weitere Personen, die sich als Russen bezeichneten (drei aus Moskau, darunter zwei Adelige, zwei aus Sibirien, einer aus Kiew), sind im Mai-Juli 1717 eingetragen.10 Im April 1719 kamen zwei weitere russische Studenten (aus Moskau und Wladimir).11 Diese Welle12 flachte zur Jahrhundertmitte ab, so dass nicht jedes Semester und nicht jedes Jahr sich jemand aus Russland immatrikulierte. Betrachtet man etwa zwei Jahre vor der Besetzung Königsbergs durch die Truppen der Zarin Elisabeth I., einer Tochter Peters I., so findet man gar keinen Russus in der Königsberger Matrikel. Im Sommersemester 1558 taucht dann, bei einem leichten Rückgang der Gesamtzahl der Immatrikulierten, ein gewisser Eques Russus von Jeltchaninof, mit einem ganz und gar ›unrussischen‹ Vornamen Gottlieb auf. Das Adelsgeschlecht Elcˇaninov ist mit Besitzungen in Zentralrussland seit Mitte des 15. Jahrhunderts urkundlich belegt. Ein Elcˇaninov namens Bogdan (wörtlich »von Gott Gegebener«, was etwas an Gottlieb erinnert), ein Hauptmann, der sich Verdienste im russisch8 Ein Immatrikulierter, der keinen Universitätseid geleistet, sondern nur Gehorsamkeitsversprechen gegeben hat, oft in Verbindung mit einem Handschlag, wird in der Königsberger Universitätstradition als stipulatus/stipulatus manu bezeichnet (an anderen deutschen Universitäten wird dieser Status non iuratus im Unterschied zum vollwertigen Universitätsbürger iuratus genannt). Es gab verschiedene Gründe, die das Leisten des Eides verhinderten: das geringe Alter (unter 17 Jahren) oder das Nichterfüllen bestimmter fachlicher Voraussetzungen wie das Fehlen ausreichender Lateinkenntnisse. Außerdem konnte in Königsberg nur ein sich zum Lutherischen Glauben Bekennender einen Eid ablegen, somit waren nicht nur Katholiken, Juden und Orthodoxe, sondern auch Reformierte vom Erwerb des Status eines iuratus ausgeschlossen. 9 Erler, Die Matrikel der Albertus-Universität 2 (wie Anm. 5), WS 1716/1717, Nr. 23–25 und 36. 10 Ebd., SS 1717, Nr. 12–14, 26–27, 32, 41. 11 Ebd., WS 1718/1719, Nr. 71–72. 12 Lawrynowicz, Albertina (wie Anm. 3), S. 131–135 spricht von 33 russischen Studenten in Königsberg im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, allerdings unter Berufung auf Archivalien im Russischen Staatlichen Archiv der Alten Akten und nicht auf die Königsberger Matrikel, die etwas weniger Russen auflistet. Die Differenz mag dadurch zu erklären sein, dass einige junge Leute sich nicht ordentlich immatrikulierten, sondern als freie Hörer die Lehrveranstaltungen besuchten.
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Daria Barow-Vassilevitch
türkischen Krieg 1768–1774 erworben hatte und unter seinen Zeitgenossen als ein bekannter Dramatiker galt,13 war im Jahr 1758 vierzehn Jahre alt. Damit scheint er zwar etwas zu jung für den Besuch einer Universität zu sein, jedoch sind auch andere russische Inskribenten in diesem Alter in Königsberg belegt. Ab dem Wintersemester 1758/1759 steigen wieder die Immatrikuliertenzahlen an der Albertina, wobei sich die Zusammensetzung nach Herkunftsorten gar nicht ändert. Es fallen jedoch nun in jedem Semester (mit Ausnahme des Wintersemesters 1759/1760 und des Wintersemesters 1762/1763) russische Studenten auf: im Wintersemester 1758 drei Moskowiter, im Sommersemester 1759 vier Studenten – drei aus Moskau und einer aus Sibirien, im Sommersemester 1760 sieben Russen – sechs Adelige und ein Bürgerlicher mit deutschem Namen aus Moskau. Im Wintersemester 1760/1761 kam ein Student nach Königsberg, der zuvor in Kiew immatrikuliert war, im Sommersemester 1761 ein Sohn deutscher Einwanderer aus Samara an der Wolga, im Wintersemester 1761/1762 haben sich zwei Personen mit russischen Namen eingetragen, wobei Medizin und Chirurgie als Studienfächer angegeben sind, und im Sommersemester 1762 kam noch ein Medizinstudent namens Matthias Hermann, entsandt vom Medikamentenlager der Armee des Kaisers Peter III. in St. Petersburg. Peter bestieg nämlich am 5. Januar 1762 den russischen Thron nach dem Tod seiner kinderlosen Tante Elisabeth und schloss am 5. Mai desselben Jahres einen Friedensvertrag mit dem von ihm bewunderten Friedrich dem Großen, woraufhin sich die russische Besatzungsmacht aus Ostpreußen zurückzog.14 So begann das Wintersemester 1762/1763 in der wieder preußischen Stadt Königsberg, wobei kein einziger russischer Student immatrikuliert wurde. Dies kann man jedoch nicht als direkte Auswirkung des Abzugs der russischen Truppen aus Ostpreußen sehen, denn im Sommersemester 1763 kamen wieder ein Adeliger, der sich als Russo-Ukrainensis bezeichnet, und ein Russe an die Albertina, im Wintersemester 1763/1764 ein russischer Adeliger, im nächsten Semester ein Deutschstämmiger aus dem sibirischen Irkutsk. Also blieb die Zahl der Studenten aus Russland, bis auf die erwähnte Gruppe von sieben Immatrikulierten im Sommersemester 1760, konstant niedrig und unterschied sich somit nicht von den ebenfalls leicht schwankenden, aber unter 5 bleibenden Zahl der ›Bildungsmigranten‹ aus anderen Regionen wie etwa Ungarn, Polen, Schlesien etc. (Abb. 1). Später tauchen Studenten aus dem Russischen Reich in größeren zeitlichen Abständen auf: etwa 1769 zwei Brüder Fürsten Volkonskij, 1773 acht Studenten aus der Ukraine.15 13 Enciklopedicˇeskij slovar’ Brokgauza i Efrona [Enzyklopädisches Lexikon Brockhaus-Efron], Bd. 11, St. Petersburg 1894, S. 628. 14 Eingehend dazu Hartmann, Die Rückgabe (wie Anm. 1), S. 407–414. 15 Lawrynowicz, Albertina (wie Anm. 3), S. 151.
35
3 1 2 1
8 8
Russland
Livland
Mark
4 2 1
Kurland
Schlesien
Ungarn
Ostpreußen (inkl. Königsberg)
Pommern
Polen
4 2 0
5 3 1
9 10
20
30
40
50
60
70
50
6 4 3 1
50
36
2
44
3 2 1
27
5 3 2 1
46
55
11
2 1
48
87 6 3 2
44
4 1
27
3 1
52
5 4 2
49
64
13 10
5 3 2 1
35
62
14
40
13
8 6 4 1
58
6 4 3 1
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Ostpreußen unter der russischen Herrschaft und die Königsberger Albertina
IMMATRIKULIERTENZAHLEN
Abb. 1: Bedeutende Herkunftsorte der Inskribenten an der Albertina vor, während und nach der russischen Besetzung Königsbergs.
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Daria Barow-Vassilevitch
In der Galerie der russischen adeligen Elite an der Königsberger Albertina finden sich die Brüder Ivan und Nikolaj Sˇichmatov, Vertreter eines prominenten aus dem Krim-Chanat stammenden Fürstengeschlechts, dessen Stammvater in den Dienst des Moskauer Großfürsten Ivans III. (1440–1505) trat,16 und die Brüder Sergej und Nikolaj Buchvastov (aus einem Geschlecht, das in Tver im 17. Jahrhundert, später auch in Tambov und im Vologda-Gebiet als Grundbesitzer belegt ist).17 Lawrynowicz gibt an, unter Berufung auf Bolotovs Memoiren, dass die beiden Brüderpaare einen Vorbereitungskurs der Moskauer Universität abgeschlossen hatten und bei ihrer Ankunft in Königsberg 14 bis 18 Jahre alt waren. Anscheinend nicht aus Moskau kam ein wie die erwähnten Brüder im Sommersemester 1760 immatrikulierter Student aus dem prominenten Geschlecht ˇ oglokov, wohl einer der Söhne des Erziehers des Zaren Peter III. Gerade wegen C der engen Beziehung zu ihrem ungeliebten Gatten hegte die spätere Kaiserin ˇ oglokov (sein Name war NiKatharina II. eine tiefe Abneigung gegen Vater C 18 kolaj) und übertrug sie auf weitere Familienmitglieder – Karrieren aller seiner Söhne19 wurden wegen vermeintlicher Vergehen jäh beendet, und sie landeten in Sibirien, bis auf einen Sohn namens Simon, der Kavallerist war und 1762 starb.20 Um ihn handelt es sich bei dem in Königsberg Immatrikulierten. 1760 sollte er 16jährig gewesen sein – wie wir wissen, kein ungewöhnliches Alter für einen vorgebildeten russischen Jüngling beim Eintritt in eine Universität. Ein Edelmann namens Stepan Domasˇirov21 gibt seinen genauen Herkunftsort an: Novgorod, was für adelige Immatrikulierte jeglicher Landeszugehörigkeit eher untypisch war. Eine besondere Erwähnung verdient ein ukrainischer Adeliger, der im Sommersemester 1760 als Russus in Königsberg eingeschrieben wurde und von der Kiewer Geistlichen Akademie kam. Er hieß Ivan Chmel’nickij (1742–1794)22 und stammte in direkter Linie vom legendären Kosakenhetman Bohdan Chmel’nickij (1595–1657) ab, der den Schutzvertrag mit dem russischen Zarentum gegen Polen-Litauen schloss. Im August 1762 disputierte Ivan unter dem Präses Daniel Weymann an der Albertina zum Thema »Dilucidatio principiorum ontologico16 Enciklopedicˇeskij slovar’ (wie Anm. 13), 39a, St. Petersburg 1903, S. 590f. 17 https://web.archive.org/web/20120913082655/http://www.russianfamily.ru/b/buhvost.html (letzte Einsichtnahme 27. 01. 2022). 18 Aleksandr Polovcov (Hg.), Russkij biograficˇeskij slovar’ [Russisches biographisches Lexikon], Bd. 22, Moskau [u. a.] 1905, S. 435f. ˇ oglokov), S. 436 (Nikolaj C ˇ oglokov), S. 438 (Samuil C ˇ oglokov). 19 Vgl. ebd., S. 435 (Naum C 20 Angaben zu Simon sind nur dem Artikel über seinen Vater zu entnehmen: https://ru.wikipe dia.org/wiki/%D0%A7%D0%BE%D0%B3%D0%BB%D0%BE%D0%BA%D0%BE%D0%B2, _%D0%9D%D0%B8%D0%BA%D0%BE%D0%BB%D0%B0%D0%B9_%D0%9D%D0%B0% D1%83%D0%BC%D0%BE%D0%B2%D0%B8%D1%87 (letzte Einsichtnahme 27. 01. 2022). 21 Es ist nicht gelungen, dieses Geschlecht zu identifizieren. 22 Enciklopedicˇeskij slovar’ (wie Anm. 13), 37, St. Petersburg 1903, S. 461.
Ostpreußen unter der russischen Herrschaft und die Königsberger Albertina
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rum«.23 Das einzige heute bekannte Exemplar dieser Dissertation befindet sich in der Bibliothèque nationale et universitaire in Straßburg – ein seltener Beleg für die von Studenten aus dem Russischen Reich in Königsberg verteidigten und gedruckten Dissertationen. 1763 legte er ebenfalls in Königsberg den Aufsatz »Gravia quedam psychologiae dogmata sub incudem revocata« vor. Diese Angabe ist jedoch Pisanskis »Literärgeschichte«24 entnommen, in verfügbaren Bibliothekskatalogen und Datenbanken ist der Titel nicht nachweisbar. 1766 veröffentlichte Chmel’nickij an einem nicht ermittelten Ort eine 158 Seiten starke deutsche Abhandlung »Gedanken über die Frage: Ob Gott mehr als eine einzige unendliche Grundkraft besitze?« Das wiederum einzige auffindbare Exemplar wird heute in der Universitätsbibliothek Augsburg aufbewahrt. Später kamen weitere wissenschaftliche Werke und Übersetzungen aus der Feder Chmel’nickijs hinzu, die von der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurden, unter anderem eine Übersetzung der zweibändigen »Kleinen Enzyklopädie oder Lehrbuch aller Erkenntnisse« von Johann Samuel Halle.25 Ein weiterer Student der Kiewer Akademie war der im Wintersemester 1760/1761 eingeschriebene Maxim Cwit, in der Matrikel wird sogar vermerkt, dass er seit 1753 in Kiew studiert hatte. Die nächste wichtige Quelle, an der man Veränderungen des Universitätslebens und Lehrprozesses ablesen könnte, sind Dissertationen. In unserem Fall kann man hinterfragen, ob es nach dem Wintersemester 1757/1758 einen Bruch hinsichtlich der Thematik, Fakultät, Herkunft der Präsides, Respondenten oder Opponenten gegeben hat. Beginnen wir den Überblick, wie bei der Matrikel, zwei Jahre vor der russischen Besetzung Königsbergs und nehmen ein paar Jahre nach dem Abzug russischer Truppen dazu. Hier leistet die von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski entwickelte und von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen betriebene Datenbank der Königsberger Universitätsschriften seit dem Gründungsjahr der Albertina einen wertvollen Dienst.26 Eine Suche nach Abhaltungsjahr der Disputation bzw. nach Erscheinungsjahr der 23 Auf dem Titelblatt des Dissertationsdrucks ist der Respondent als »Johann Chmelnitzki« und »Russus« (wie auch in der Matrikel) ausgewiesen, auch Opponenten werden genannt: Karl Friedrich Siegwitz, Daniel Ficht, Heinrich Ernst Bertram und Johann Christoph Dmuschewski. 24 Georg Christoph Pisanski, Entwurf einer preußischen Literärgeschichte in vier Büchern, hg. von Rudolf Philippi, Königsberg 1886 (ND: Hamburg 1994 = Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 80/1), S. 538. 25 Kleine Encyclopedie, oder Lehrbuch aller Elementarkenntnisse, worinnen die Hauptbegriffe von allen Wissenschaften, von allen nützlichen Künsten, und von allen Dingen gegeben werden, die auf die bürgerliche Gesellschaft einen Einfluß haben, aus d. Französischen von Johann Samuel Halle, Bd. 1–2, Berlin 1779–1780. Vgl. Lawrynowicz, Albertina (wie Anm. 3), S. 151. 26 https://www.forschungen-engi.ch/datenbanken/koenigsberger-universitaetsschriften-undpromotionen-1544-bis-1905 (letzte Einsichtnahme 27. 01. 2022).
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gedruckten Dissertation ergibt in nur einem Schritt folgendes Ergebnis: 1756 wurden drei philosophische (zwei davon von dem Magister Daniel Weymann, auf den noch einzugehen sein wird), vier juristische und zwei medizinische Dissertationen verteidigt. Unter den Respondenten waren Königsberger und andere Ostpreußen, ein Schlesier, Studenten aus der Mark und aus Pommern, unter den Präsides die prominenten Ordinarien Watson und Jurist Boltz. Im nächsten Jahr ist nur eine juristische Dissertation belegt. 1758 gab es drei medizinische und drei philosophische Dissertationen, unter den Respondenten dominieren Personen aus Königsberg und anderen Orten Ostpreußens. Das Jahr 1759 war reich an Dissertationen: es wurden drei juristische, vier medizinische, drei philosophische (in einer davon tritt Weymann nun als Präses auf) und zwei theologische verteidigt. Eine Disputation hat Georg Christoph Pisanski (1725–1790) ohne Präses abgehalten.27 Neben verschiedenen Orten in Ostpreußen kamen einige Respondenten aus Pommern und Danzig, eine Medizindisputation wurde von einem aus Schlesien gebürtigen Arzt aus Insterburg verteidigt. 1760 ging die Zahl der Dissertationen auf zwei philosophische (beide mit Respondenten aus Danzig) und eine juristische zurück. 1761 wurden zwei medizinische Disputationen abgehalten und eine philosophische über Immaterialität der Seele28 unter dem Vorsitz des Ordinarius für Logik und Metaphysik Friedrich Johann Buck (1722–1786),29 bei der zum ersten Mal zwei russische Studenten als Opponenten auftraten: Alexander Karamysˇev (1744–1791) und Peter Veniaminov (1733–1775). Der Letztere studierte zuvor bereits an der Moskauer Universität und kam im Wintersemester 1758 nach Königsberg, der andere Opponent stammte aus Sibirien und schrieb sich im Sommersemester 1759 ein. Auffällig ist, dass beide Opponenten, die sich nach ihrer Rückkehr nach Russland als Mediziner und Naturwissenschaftler einen Namen gemacht haben (Karamysˇev war sogar korrespondierendes Mitglied der Schwedischen Königlichen Akademie der Wissenschaften), an einer allgemein-philosophischen Disputation beteiligten. 1762 fanden drei medizinische und vier bemerkenswerte philosophische Disputationen statt: zwei über preußische Literärgeschichte (hier ist Pisanski schon zum
27 Georg Christoph Pisanski, Commentatio philosophica, argumenta pro immortalitate animae a Cicerone allata expendens, Königsberg [?] 1759; Philosophische Fakultät, pro receptione, wahrscheinlich identisch mit der Magisterpromotion Pisanskis, abgehalten am 09. 04. 1759. Vgl. Deutsches Biographisches Archiv, Folge I, Mikrofiche 960, 319–359. 28 Ernst Christoph Schultz (Resp.) / Friedrich Johann Buck (Präses), Disputatio pneumatica evincens, quemcunque spiritum finitum corpus organicum habere non debere, Königsberg: Driest 1761; Philosophische Fakultät, Opponenten: Alexander Karamyscheff; Konstantin Philipp Wilhelm Jacobi und Peter Weniaminoff. Ein Exemplar dieser Dissertation ist in der Biblioteka Uniwersytecka in Thorn nachgewiesen. 29 1780 wurde Immanuel Kant Bucks Nachfolger, nachdem dieser in die ordentliche Mathematikprofessur wechselte.
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Präses geworden)30 und zwei unter dem Vorsitz Weymanns.31 An der Inauguraldisputation über den Einsatz von Phosphor in der Medizin beteiligten sich wieder zwei russische Studenten: der oben erwähnte Peter Veniaminov und sein Moskauer Kommilitone Seme:n Zybelin.32 So ging es auch in den folgenden Jahren weiter: Die jährliche Zahl der verteidigten Dissertationen lag um ein Dutzend, dabei wurden keine theologischen, nur wenige juristische, aber mehrere medizinische und philosophische verteidigt. Die starke Präsenz von Pisanski und Weymann als Präsides gibt einen Hinweis darauf, wo die thematischen Schwerpunkte an der Philosophischen Fakultät der Albertina zu dieser Zeit lagen: Zum einen sieht man das Aufkommen des Interesses an preußischen historischen Themen, zum anderen den Aufstieg des im schlesischen Brieg geborenen und in Königsberg studierten Magister legens Daniel Weymann, der den Studenten unter anderem die Lehre des Leipziger Theologen und Philosophen Christian August Crusius (1715–1775)33 nahebrachte. Als Illustration der Attraktivität der Lehrveranstaltungen Weymanns Ende der 1750er Jahre kann man die erwähnten Memoiren Andrej Bolotovs34 anführen, der als Offizier in der russischen Verwaltung in Königsberg tätig war und sich außerhalb des Dienstes hauptsächlich im Umfeld der Universität auf30 Friedrich Ernst Jester (Resp.) / Georg Christoph Pisanski (Präses), Historia litteraria Prussiae primis lineis adumbrata. Pars I: Sistens rei litterariae in Prussia ante conditam Academiam Regiomontanam, Königsberg: Driest 1762; Philosophische Fakultät, Opponenten: Ernst Christoph Schultz und Wilhelm Benjamin Conrad; Friedrich Albert Kiehl (Resp.) / Georg Christoph Pisanski (Präses), Historia litteraria Prussiae primis lineis adumbrata. Pars II: Sistens rei litterariae in Prussia a conditam Academiam Regiomontanam ad finem saeculi XVI, Königsberg: Driest 1762; Philosophische Fakultät, Opponenten: Friedrich Ernst Jester und Johann Mundel. Beide Dissertationen sind in der Biblioteka Narodowa in Warschau nachgewiesen. 31 Neben der bereits angesprochenen Dissertation von Ivan Chmel’nickij trat Weymann in der Dissertation Daniel Ludwig Webers (Resp.), Pars prima de vero stabiliendo juris naturae et gentium principio, Königsberg: Driest 1762 als Präses auf; Philosophische Fakultät, Opponenten: Gottlieb Theodor Bohlius und Johann Christian Leppack. Ein Exemplar davon wird, wie die Dissertation Chmel’nickijs, in Straßburg aufbewahrt und ein zweites in der Biblioteka Narodowa Warschau. 32 Johann Heinrich Thomas, Dissertatio medica inauguralis de usu phosphori in medicina, Königsberg: Hartung 1762; Medizinische Fakultät, pro gradu; weitere Beteiligten: Peter Weniaminoff, Simon Zibelin und Johann Jakob Blindow. Ob diese Personen als Opponenten (in Abwesenheit eines Präses) auftraten oder Gratulatoria an die Adresse des Promoventen verfasst hatten, geht aus dem Datenbankeintrag nicht hervor. Ein Dissertationsdruck ist in der Universitätsbibliothek Helsinki nachgewiesen. 33 Zu Crusius und seiner Lehre siehe Hans Saring, Art. Crusius, Christian August, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 432f.; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd1186 77438.html#ndbcontent (letzte Einsichtnahme 27. 01. 2022); Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Crusius, Christian August, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, 1, 2. Aufl., Hamm 1990, Sp. 1174. 34 Wie Anm. 4.
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hielt. Er lernte Professoren, deren Vorlesungen und auch Werke kennen. Magister Kant wird von Bolotov zwar nicht erwähnt, umso öfter Weymann. Bolotov, der gerade aus Gottscheds »Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit«35 und aus Vorlesungen an der Albertina die Lehre Christian Wolffs kennengelernt hatte, ließ sich von Weymann umstimmen und wurde zum Anhänger von Crusius. Anscheinend erschien dem »freien Hörer« Bolotov wie dem regulären Studenten Chmel’nickij (der ja unter Weymann disputierte) die von Crusius und Weymann postulierte Einheit von Vernunft und Offenbarung überzeugender als der Wolffsche Rationalismus. Offenbar erfreuten sich die Lehrveranstaltungen Weymanns, der eigentlich kein Ordinarius, sondern erst Konrektor der Löbenichter Schule, dann Konrektor und Rektor des altstädtischen Gymnasiums war und als Privatdozent an der Albertina las, bei vielen Studenten großer Beliebtheit, während die Professoren ihm wegen seiner Vorliebe für Crusius viel Missgunst entgegenbrachten, was auch Bolotov mit Bedauern feststellt.36 Wendet man sich nun den Königsberger Vorlesungsverzeichnissen, Catalogus Praelectionum Academiae Regiomontanae,37 zu, bestätigt sich der Befund, den die Dissertationen ergaben. Offenbar boten Ordinarien der Philosophischen Fakultät jahrzehntelang Lehrveranstaltungen zu der Crusius-Lehre an. So kündigte Friedrich Johann Buck für das Wintersemester 1760/1761 neben einer langen Reihe allgemeiner Logik-, Metaphysik-, Mathematik- und Physikvorlesungen eine Privatveranstaltung zur Metaphysik von Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757) und Christian August Crusius an, »in gratiam eorum, qui Philosophiam Sectariam amant«.38 Er wiederholt diese im Wintersemester 1761/ 1762 und liest abwechselnd dazu in den Sommersemestern 1761 und 1762 die Crusius-Logik. Bis 1770 bietet er dann regelmäßig ein Kolleg zur wolffianisch geprägten Philosophie Martin Knutzens (1713–1751) im Vergleich zur CrusiusLehre an. Um die rege Nachfrage unter den Studenten zu befriedigen, hielten auch zahlreiche Magistri ihre Veranstaltungen zu verschiedenen Aspekten der Crusius-Philosophie ab, allerdings finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen erst seit 1770 Belege dafür: In der Zeit davor wurden nur die Veranstaltungen der Ordinarien und Extraordinarien, aber nicht der Privatdozenten dokumentiert. Es 35 Johann Christoph Gottsched, Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, Teil 1–2, Leipzig 1748–1749 (5. Aufl.) oder Leipzig 1753 (6. Aufl.). 36 Vgl. Weiss, Das Königsberg Kants (wie Anm. 4) S. 58f. Zur Beziehung Kants zu Weymann siehe auch Werner Stark, Hinweise zu Kants Kollegen vor 1770, in: Reinhard Brandt / Werner Euler / Werner Stark (Hg.), Studien zur Entwicklung preußischer Universitäten (Wolfenbütteler Forschungen, 88), Wiesbaden 1999, S. 113–162 (hier auf S. 154 auch Nennung der Dissertation Ivan Chmel’nickijs von 1762 unter Weymann als Präses). 37 Michael Oberhausen / Riccardo Pozzo (Hg.), Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804), Teilbd. 1 (Forschungen und Materialien zur Universitätsgeschichte. Abt. I: Quellen zur Universitätsgeschichte, 1.1), Stuttgart-Bad Cannstadt 1999. 38 Ebd., S. 248.
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ist aber kaum zu bezweifeln, dass Daniel Weymann Veranstaltungen zu Crusius seit Ende der 1750er Jahren anbot und in den 1570er Jahren immer noch nicht damit aufhörte, bis 1775 jedwede Beschäftigung mit Crusius-Lehre von dem für das Bildungswesen zuständigen Etats-Minister Karl Abraham von Zedlitz (1731– 1793) verboten wurde. Der Verbot richtete sich namentlich an Weymann und an den Extraordinarius August Wilhelm Wlochatius.39 An diesem Beispiel kann man beobachten, wie die Albertina in den philosophisch-theologischen Diskurs innerhalb der deutschen Aufklärung eingebunden war, ohne dass sich ein irgendwie gearteter Einfluss des zeitweiligen politischen Machtwechsels in Königsberg bemerkbar gemacht hätte (z. B. etwa im Zusammenhang mit dem orthodoxen Glauben der neuen Verwaltung). Vielmehr wurden die im Kontext dieses Machtwechsels nach Königsberg gekommenen und sich im Universitätsumfeld aufhaltenden Personen in den europäischen philosophischen Diskurs ganz natürlich einbezogen und trugen ihre Kenntnisse, aber auch ihre neu gewonnenen Einstellungen zu den verschiedenen Lehren in ihre Heimat hinein. Nun stellt sich hinsichtlich des Lehrbetriebs speziell an der juristischen und theologischen Fakultät die Frage, ob man als Untertan eines Zarenreiches, in dem ein ganz anderes Rechtssystem herrschte und das von der orthodoxen Glaubensrichtung geprägt war, seine Universitätslehre so gestalten konnte wie bisher. Die Vorlesungsverzeichnisse bejahen diese Frage eindeutig. Im Sommersemester 1758 bietet der Primarius der juristischen Fakultät Coelestin Kowalewski (1700–1771) eine Vorlesung zum Magdeburger Recht an und der Dekan Johann Ludwig L’Estocq (1712–1779) erläutert die Anwendung des Pandektensystems in Preußen. Die Theologen Christoph Langhansen (1691–1770) und Johann Heinrich Daniel Moldenhauer (1709–1790) kommentieren Stellen aus dem Neuen Testament, und Franz Albert Schultz (1692–1763) gibt einen Kurs in dogmatischer Theologie. Der Theologieprofessor und Königsberger Hofprediger Daniel Heinrich Arnoldt (1706–1775) bietet im Wintersemester 1758/59 und in folgenden Semestern die übliche Vorlesung zur Moraltheologie an, und Johann Adam Grigorovius (anscheinend ein Sohn des gleichnamigen, 1749 verstorbenen Professors für Völker- und Naturrecht) veranstaltet eine praktische Übung zum Grundbesitzrecht. Der Letztere hält im Sommersemester 1760 eine weitere Veranstaltung zum germanischen Recht ab, unter Einbeziehung des Lehrbuches des Halleschen Rechtswissenschaftlers Johann Gottlieb Heineccius (1681–1741) zur Geschichte des römischen und germanischen Rechts.40 Im Sommersemester 1761 kündigt L’Estocq einen neuen Kurs zu den »drei Grundlagen der Jurisprudenz«: Philosophie, Geschichte und Literatur an. Die Veranstaltungen zu verschiedenen 39 Vgl. ebd., S. XXV. 40 Johann Gottlieb Heineccius, Historia iuris civilis romani ac germanici, Halle (Saale): Fritsch 1733.
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Büchern des Alten und Neuen Testaments, zu Teilbereichen der (evangelischen) Theologie und Kirchengeschichte werden in jedem Semester zwischen 1758 und 1762, davor und danach angeboten.41 An Vorlesungsverzeichnissen der Albertina ist also kein quantitativer oder inhaltlicher Bruch beim Einmarsch wie beim Abzug russischer Truppen zu erkennen. Werfen wir nun einen Blick auf eine wenig beachtete Gattung des Universitätsarchivguts wie die Senatsprotokolle der Königsberger Albertina, welche im Staatsarchiv Olsztyn (Archiwum Panstwowe w Olsztynie, Bestand XXVIII/1) aufbewahrt werden.42 Abgesehen von einigen Überlieferungslücken, zu denen die russische Okkupationszeit im Siebenjährigen Krieg allerdings nicht gehört, decken sie die Zeit zwischen 1752 und 1795 ab und geben Rechenschaft über das universitäre Innenleben. Protokolliert wurden Sitzungen des Senats, in dem die drei höheren Fakultäten durch sechs Ordinarien und die Philosophische Fakultät durch vier Professoren vertreten waren und der nach den gültigen Statuten über organisatorische, rechtliche und finanzielle Angelegenheiten an der Universität zu entscheiden hatte. Die von Beata Wacławik vorgenommene Auswertung der Olsztyner Akten ergab keinerlei erwähnenswerte Abweichungen oder Auffälligkeiten in den Protokollen, die von 1758 bis 1762 angefertigt wurden. So scheint sich auch hier der Befund zu bestätigen, dass sich die Besatzungsmacht eher nicht in die internen Universitätsangelegenheiten einmischte. Diese Nichteinmischung erstreckte sich auch auf die Drucktätigkeit an der Universität: Während die Druckproduktion in Königsberg allgemein der russischen Zensur unterlag, waren von ihr die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Professoren ausgenommen.43 Hatte die »russische Zeit« in Königsberg nun überhaupt keine Auswirkungen auf die Albertina und ihre kulturelle Ausstrahlung? Solche Auswirkungen sind sehr wohl zu beobachten, jedoch auf einer anderen Ebene, als im Titel des Aufsatzes suggeriert. Russland kam durch die Besetzung Königsbergs zu seiner zweiten Universität, nachdem seine erste 1755 in Moskau eröffnet wurde. Dies gab natürlich einen Anstoß der Intensivierung wissenschaftlicher Kontakte und der Knüpfung längerfristiger Beziehungen, die nach dem Abzug der russischen Truppen aus Königsberg keineswegs verloren gingen. Unter den russischen Jünglingen, die nach Königsberg zum Studium kamen, befanden sich sowohl Absolventen des Moskauer Universitätsgymnasiums als auch reguläre Studenten der Moskauer Kaiserlichen Universität. Die bereits erwähnten Pjotr Veniaminov und Seme:n Zybelin (1735–1802) erwarben anschließend an das 41 Vgl. Oberhausen / Pozzo, Vorlesungsverzeichnisse, (wie Anm. 36), S. 228–257. 42 Beata Wacławik, Die Tätigkeiten des Senats der Königsberger Universität im Spiegel von Protokollen der Jahre 1752–1795, in: Brandt / Euler / Stark (wie Anm. 36), S. 81–93. 43 Vgl. Lawrynowicz, Albertina (wie Anm. 3), S. 144–146.
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Königsberger Studium Doktortitel in Leiden und kehrten beide schon als Professoren an die Moskauer Alma mater zurück. Als Ordinarius der theoretischen Medizin ging Zybelin als Erster in seinen Lehrveranstaltungen von Latein zu Russisch über. Er arbeitete lange Zeit unentgeltlich als Arzt im Universitätskrankenhaus und vermachte der Universität seine Privatbibliothek.44 Veniaminov hielt als Ordinarius für medizinische Botanik Vorlesungen an der Universität ab und war sehr erfolgreich als praktizierender Arzt, 1771–1772 engagierte er sich gemeinsam mit Zybelin bei der Bekämpfung der Pest-Epidemie in Moskau.45 Chemiker und Mineraloge Alexander Karamysˇev, der gemeinsam mit Veniaminov bei einer philosophischen Disputation in Königsberg opponierte, tat sich als »Professor der ersten Stunde« an der neu eröffneten Petersburger Hochschule für Bergbau hervor. Er gilt als der Entdecker des Kobalterzes in Russland.46 Weitere zwei erst Moskauer und dann Königsberger Studenten wurden Dozenten an der angesehenen St. Petersburger Kadettenanstalt.47 Physikprofessor Johann Gottfried Teske (1704–1772), unter dessen Rektorat im Sommersemester 1760 eine Rekordzahl der Russen eingeschrieben wurde, wird in der Matrikel als Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Petersburg vorgestellt, und auch zu Johann Georg Bock (1698–1762), Professor für Poesie, der nach wenigen Monaten seines Rektorats im Sommersemester 1762 plötzlich im Amt verstarb, wird angegeben, dass er sowohl der Berliner als auch der Petersburger Akademie angehörte. Lawrynowicz, seinen Quellen folgend, attestiert dem Verhältnis zwischen der Königsberger Albertina und der russischen Besatzungsmacht das Ausbleiben jeglicher Dramatik, mal abgesehen von dem tradierten Bericht über die Verhaftung des Theologieprofessors Daniel Heinrich Arnoldt nach einer dem Sieger nicht genehmen Predigt. Die Geschichte endete aber nicht mit der befürchteten Deportation nach Sibirien, sondern mit der Aufforderung, von der Kanzel eigene Äußerungen zu widerrufen. Dies wussten Studenten oder andere Anhänger Arnoldts wohl zu verhindern, indem sie einen falschen Feueralarm auslösten. Die Sache verlief sich ohne weitere Konsequenzen für irgendjemanden im Sande.48
44 Enciklopedicˇeskij slovar’ (wie Anm. 13), 12a, St. Petersburg 1894, S. 724; Polovcov, Slovar’ (wie Anm. 18), 7, Moskau [u. a.] 1897, S. 571–573; Andrej Andreev / Dmitrij Cygankov (Hg.), Imperatorskij Moskovskij universitet 1755–1917: encyklopedicˇeskij slovar’ [Kaiserliche Moskauer Universität 1755–1917: enzyklopädisches Lexikon], Moskau 2010, S. 119. 45 Enciklopedicˇeskij slovar’ (wie Anm. 13), 5a, St. Petersburg 1892, S. 920; Andreev / Cygankov, Universitet (wie Anm. 43), S. 119. 46 Polovcov, Slovar’ (wie Anm. 18), 8, Moskau [u. a.] 1897, S. 514f.; Andreev / Cygankov, Universitet (wie Anm. 43), S. 304f. 47 Lawrynowicz, Albertina (wie Anm. 3), S. 148. 48 Diese Episode erwähnt auch Walther Hubatsch, Die Königsberger Universität und der preußische Staat, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Preußen 17 (1967),
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Abb. 2: Das Exemplar des Folio-Drucks aus der Universitätsdruckerei Hartung gehörte Georg Thomas von Asch, Generalstabsarzt der russischen Armee und ab 1777 Staatsrat unter Katharina II. von Russland, jetzt befindet es sich im Bestand der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (VD18 10971866).
Sonst sollen sich die Vertreter der Besatzungsmacht unerwartet stark für die Universität interessiert haben, aber nicht im Sinne »argwöhnisch beobachten« oder gar »reglementieren«. Die russische Administration, allen voran der Generalgouverneur von Königsberg, kurländischer Adeliger und enger Freund des späteren Zaren Peter III. Nikolaus Friedrich von Korff (1710–1766), nahmen gern an Universitätsfestlichkeiten teil und pflegten freundschaftlichen Umgang mit S. 74, wobei betont wird, dass Arnoldt einer derjenigen war, die Friedrich dem Großen die Treue hielten.
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Dozenten. Zeitgenossen berichten von vielen ausgelassenen Feiern in der Stadt, die das Leben der vom Pietismus geprägten Kreise der gebildeteren Gesellschaft lockerten.49 Es gibt übrigens zeitgenössische Hinweise darauf, dass Kant als Magister legens in den 1750er-1760er Jahren ein galanter Besucher verschiedenster großstädtischer Zusammenkünfte war und dem in Königsberg weilenden jungen Johann Gottfried Herder den Rat gab, sich nicht in den Büchern zu vergraben, sondern gesellig zu sein und von der Welt zu lernen.50 Natürlich wurde von den neuen Untertanen erwartet, dass sie die von der neuen Macht eingeführten Feiertage wie die Jahrestage der Thronbesteigung der Kaiserin mit gebührender Ehrerbietung begehen und dass der zuständige Professor der Eloquenz und Poesie in solchen Fällen entsprechende Texte verfasst. Tatsächlich legte Johann Georg Bock 1760 ein Poem auf die neue Herrscherin vor. Genauso mühelos leistete die ganze Stadt kurz nach dem Einzug der russischen Truppen im Januar 1658 den Treueeid auf die russische Zarin und schien zur Tagesordnung übergegangen zu sein. Ohne eine Mentalitätendiskussion eröffnen zu wollen, muss man festhalten: Mitte des 18. Jahrhunderts waren die gekrönten Häupter, egal, die Krone welches Landes sie trugen, für einen einfachen Handwerker wie für einen Adeligen oder Professor die gesalbten Gottes mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Was dem modernen Menschen, aber auch Friedrich dem Großen (der angeblich den Königsbergern ihre schnelle Loyalität der russischen Zarin gegenüber bis zuletzt übelnahm) wie eine Feigheit vorkommen mag, war vielleicht vielmehr nur die konsequente Unterwerfung der Weltordnung, die nicht national, sondern hierarchisch-feudal gedacht war. Aber, wie der alte Briest am Schluss des Romans von Theodor Fontane sagt, […] das ist ein zu weites Feld.51
49 Vgl. dazu von Frantzius, Die Okkupation (wie Anm. 1), S. 90–103. 50 Stark, Hinweise zu Kants Kollegen (wie Anm. 36), S. 142f. 51 Theodor Fontane, Effi Briest, in: ders., Werkausgabe in fünf Bänden, Bd. 4 (Diogenes Taschenbuch, 21077), Zürich 1983, S. 315.
Werner Stark
Ein historischer Blick auf die ersten Jahre des Privatdozenten Immanuel Kant
I.
Königsberg: Stadt und Universität
Das preußische Königsberg, die große und traditionsreiche Hafen- und Handelsstadt, lag stets außerhalb des Alten Reiches. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts führten rund 60.000 Bewohner1 innerhalb der Mauern und Wälle ein mehr oder weniger betriebsames Leben. Im Vergleich zu Verhältnissen im heutigen Kaliningrad, das rund die achtfache Zahl an Einwohnern aufweist, war das Leben beschaulicher, geruhsamer und noch deutlich von überkommenen Lebensformen bestimmt: Zunft (Gewerbe), Stand und Rang sind prägende Elemente im alltäglichen Leben der Menschen und strukturbildend für die Institutionen. Rund acht Jahre, nachdem Karl Rosenkranz die Stadt erlebt hat, schreibt er: »Denn das, was Königsberg äußerlich belebt, was ihm seine augenfällige Physiognomie gibt, ist der Handel. Dieser aber verkündet sich hier allenthalben in den Gebäuden der Börse, der Bank, der Speicher, des Packhofs; in den Schiffen aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, England, Schottland, Irland, Nordamerika; in den Lastenträgern, 1 August Hermann Lucanus / Karl August Maczkowski / Gustav Sommerfeldt / Emil Hollack (Hg.), Preußens uralter und heutiger Zustand. 1748 [Manuskript in der Königl. und Universitäts-Bibliothek zu Königsberg i. Pr. – Ms fol. 1553], 2 Bde., Lötzen 1901–1913, hier 1, S. 319: »Die Stadt wäre groß, weit und räumlich genug, eine noch stärckere Anzahl Menschen in sich zu fassen, als sie würcklich hat, indem man ihrer jetzigen Beschaffenheit nach kaum 60.000 bis 65.000 Seelen darin zehlen wird.« – Friedrich Samuel Bock, Versuch einer wirthschaftlichen Naturgeschichte von dem Königreich Ost- und Westpreussen, 1–5, Dessau 1782–1785, hier 1, S. 231: »Die 1754 verfertigten Verzeichniße der lebenden Einwohner in Königsberg beliefen sich etwa auf 50.000, in welcher Zahl doch die königliche Besatzung samt allen dazu gehörigen Bedienten, Ehefrauen, Kindern u. d. gl. die Fremden so allhier nicht beständig wohnen, und die, wenn sie hier sterben, doch in die Todtenliste gesetzt werden, und viele andere mehr, insonderheit die in den Gefängnißen befundenen, nicht mit begriffen sind. Man setzte also damals die Anzahl auf etliche 60.000, welches auch mit den nachfolgenden Listen übereinstimmet.« – Ludwig Baczko, Handbuch der Geschichte und Erdbeschreibung Preussens, 2 Teile [durchgehende Paginierung], Dessau / Leipzig, 1784, S. 408: »Der Umfang der Stadt wird auf zwey Meilen angegeben, doch sind hierin auch viele Gärten, Wiesen und unbebaute Plätze mit inbegriffen. Die Anzahl der Einwohner beträgt einige sechzigtausend Menschen.«
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Werner Stark
Steuerbeamten, Kaufdienern, die sich auf den Brücken und an den Ufern durch einander tummeln.«2
Obwohl der zitierte Text knapp vier Jahrzehnte nach Kants Tod verfasst ist, dürfte die Stadt als solche zu seinen Lebzeiten jedoch kaum anders wahrgenommen worden sein. Denn zumindest ein wesentliches Element der Beschreibung ist konstant: der innerstädtische Hafen. Per Schiene ist Königsberg über die »Preußische Ostbahn« erst ab 1851 erreichbar. Für moderne Hochseeschiffe geeignete Hafenanlagen sind erst in den 1920er Jahren gebaut worden – etwa gleichzeitig (1920) wird ein erster ziviler Flughafen in Devau (Rischskoje) eingerichtet. Im 18. Jahrhundert zählt Immanuel Kant zu den wenigen Hundert der damaligen Bewohner der Stadt, die als »Angehörige« oder besser »Bürger« der Universität bezeichnet werden. Diese, »Hohe Schule« oder auch »Akademie« genannte, Einrichtung war 1544 von Herzog Albrecht begründet worden; in Verfassung und Struktur ähnelt sie sehr der kurz zuvor (1527) etablierten Marburger Philipps-Universität. – Auch zweihundert Jahre später ist im Königsberg des 18. Jahrhunderts noch der von Philipp Melanchthon in Tübingen und Wittenberg entwickelte Typus einer protestantischen, humanistisch geprägten Gelehrten-Universität nahezu in Reinkultur erhalten. Der weit überwiegende Anteil der Studenten gehört zur theologischen Fakultät. Erst im vorletzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts werden mit der Einführung des sogenannten Abiturientenexamens (1788) im preußischen Gesamtstaat und der Etablierung einer zugehörigen zentralen Behörde, dem Oberschulkollegium in Berlin, auch für Königsberg grundlegende Wandlungen eingeleitet, deren sichtbarste und wirkungsmächtigste Erscheinungsform schließlich in der Errichtung einer Universität in Berlin zu sehen ist. In dieser Hauptstadt des nach den Napoleonischen Kriegen neu begründeten preußischen Gesamtstaates wird 1810/11 eine neuartige Universität mit vier gleichrangigen Fakultäten eröffnet. Die drei tradierten akademischen Berufe (Pfarrer, Jurist und Mediziner) werden um den eines staatlichen Gymnasiallehrers ergänzt. Die zuvor den oberen drei dienende – untere – Philosophische Fakultät erhält erstmals eine originäre Funktion im Staat. Einhergehend damit wird für gut 100 Jahre ein neuartiges Lehrkonzept mehr sukzessive entwickelt, denn staatlich verordnet. Es entsteht eine institutionelle Verbindung von Lehre und Forschung als Mustertyp akademischer Bildung. Dieser angeblich einer Humboldtschen Idee entsprungene 2 Karl Rosenkranz, Königsberger Skizzen, 2 Bde., Danzig 1842, hier 2, S. 137; zu Beginn von »Ein Morgengang am Bohlenwerk«. – In der Sache ähnlich Friedrich Wilhelm Schubert in seiner Kant-Biographie, in: Immanuel Kant, Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Rosenkranz / Friedrich Wilhelm Schubert, 12 Bde., Leipzig 1842–1845, hier 11,2, S. 12–14. – Zeitgenössisch: Karl Ehregott Mangelsdorf, Ueber die Manufacturen und Fabriken des Königreichs Preußen, in: Preußische Nationalblätter, 1,2 (1787), S. 33–77.
Ein historischer Blick auf die ersten Jahre des Privatdozenten Immanuel Kant
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Plan ist – nicht nur in Preußen – vielfach in Anspruch genommen worden – bis heute. Will man einen angemessenen Blick auf die universitär geprägte Lebenswelt von Immanuel Kant als Student und Dozent in Königsberg – also die Jahre 1740 bis 1796 – richten, so ist man gut beraten, auf hinreichende Distanz zu der angesprochenen Humboldtschen »Idee der Universität« zu gehen. Denn von einem darin als gemeinsam gedachten Engagement von Forschenden und Lehrenden wusste Kant offensichtlich nichts.3 Sein eigenes Verhalten als Dozent bewegte sich vielmehr in den seit der Renaissance tradierten Formen von eigenem »Lehrvortrag« und der Aufsicht über und Anleitung zu »Redeübungen« von Studenten. Weit überwiegend bestand seine Lehrpraxis durch vierzig Jahre in kritisch erläuternden Kommentaren zu etablierten Lehrbüchern. Hierin bildet das Colleg über die Physische Geographie die große und einzige4 Ausnahme: Nur bei dieser wird in Ankündigungen auf eigene dictata Bezug genommen. – Wir verfügen bis heute über den programmatischen, in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre abgefassten Text aus der Frühzeit des Privatdozenten. Er ist erstmals 2009 – historisch-kritisch und vollständig – in Band 26.1 der Kant-Ausgabe der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften publiziert worden. Bei diesem relativ kurzen Text handelt es sich – von anders gearteten Ausnahmen5 abgesehen – um das einzige unmittelbare Zeugnis über Kants eigene Vorbereitungen auf seine Tätigkeit als Dozent. Rund 20 Jahre später, nach der Entstehung dieser Vorlesung, lehnt Kant in einem Brief vom 1. April 1778 an den Leipziger Verleger und Drucker Breitkopf dessen Ansinnen ab, seine erstmals6 1775 mit der Einladungsschrift zur Vorlesung über »Physische Geographie« allgemein publik gemachten Ansichten über »Menschen Racen« weiter auszuarbeiten. Zur Begründung seiner Ablehnung führt Kant unter anderem an: 3 Eine ganz ähnliche Einschätzung: Bernhart Jähnig, Königsberger Universitätsprofessoren für Geschichte im Jahrhundert der Aufklärung, in: Hanspeter Marti / Manfred Komorowski (Hg.), Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2008, S. 319–344, hier S. 319f. 4 Die ab Winter 1772/73 gehaltene Vorlesung über Anthropologie ist nicht nur ohne ein schriftliches Konzept geblieben; sie folgt vielmehr mit ihrem ersten Teil »Empirische Psychologie« (Pars III der »Metaphysica« von A. G. Baumgarten). Ohne literarische Vorlage präsentiert der zweite Teil der Vorlesung eine eigenständige Charakter-Lehre – eine Form von Differentieller Psychologie; vgl. Immanuel Kant, Anthropologie, AA 25, Berlin 1996, und ders., Anthropologie, AA 15, Berlin 1913. 5 Notizen als Präparationen zu Teilabschnitten von Vorlesungen; in der Hauptsache zur Anthropologie; siehe: AA 15, Berlin 1913, S. 655ff. 6 Von den verschiedenen Racen der Menschen zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im Sommerhalbenjahre 1775, Königsberg 1775. Dem Abdruck in: Immanuel Kant, Vorkritische Schriften II, AA 2, Berlin 1905–1912, S. 427–443 liegt die inhaltlich umgeformte zweite Fassung zu Grunde; nach: Johann Jacob Engel, Philosoph für die Welt, 2ter Teil, Leipzig 1777; vgl. AA 2, S. 519.
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»[…], weil die Naturgeschichte nicht mein Studium, sondern nur mein Spiel ist und meine vornehmeste Absicht, die ich mit derselben habe, darauf gerichtet ist, die Kentnis der Menschheit auch vermittelst ihrer zu berichtigen und zu erweitern«.7
Ich möchte hier8 nur anmerken, dass diese Absicht für den noch jungen Privatdozenten der 1750er Jahre kaum hat gelten können, zumal in seinem Konzept von 1757/59 zur Vorlesung keine spezifische Theorie von »Menschenrassen« enthalten ist.9 Auch eine weitere allgemeine, aber wenig beachtete Besonderheit ist kurz zu erwähnen: Kant ist in seiner eigenen Studienzeit Augen- und Ohrenzeuge und Mitwirkender eines allmählich gravierende Veränderungen hervorbringenden Wechsels: Im Königsberg der 1740er Jahre wird das traditionelle Latein als Unterrichts- und Lehrsprache der philosophischen Fakultät durch ein modernes Deutsch verdrängt. So zutreffend es ist, dass er nicht zu den Mitgliedern einer 1743 in Königsberg begründeten »Königlich Deutschen Gesellschaft« gehörte;10 so richtig ist es, ihn – seinem Verhalten gemäß – diesen jungen Akademikern 7 Immanuel Kant, Briefwechsel, AA 10, Berlin 1900, S. 230,10–13. 8 Zur sukzessiven Entwicklung der Kantischen »Rassentheorie« siehe bereits Erich Adickes, Kant als Naturforscher, 2 Bde., Berlin 1924/25, hier 2, S. 406–459, und die einschlägigen Passagen der studentischen Nachschriften über »Physische Geographie« (1770ff.) in Immanuel Kant, Physische Geographie, AA 26,2, Berlin 2020. Es wird deutlich, dass die »Theorie« nichts weiter ist als ein Vorschlag zur historischen Erklärung bestehender phänotypischer Differenzen zwischen verschiedenen Populationen der Gattung »Mensch«. Im ursprünglichen Konzept zur Vorlesung, dem Ms. Holstein (1757/59) in: AA 26,1, Berlin 2009, ist die Theorie nicht enthalten. 9 Das Wort race erscheint fünf Mal (Ms Holstein, S. 120,14 / 133,16 / 134,7 / 138,10 / 156,12) und zwar ausschließlich im Zusammenhang mit von Menschen betriebener Tierzucht (Haustieren): Hühner, Pferde, Schafe und Hunde. 10 Borowski, dessen 1804 erschienene Kant-Biographie ursprünglich (1792) als öffentlicher Vortrag in der »Königlichen Deutschen Gesellschaft« konzipiert war, hat keine derartige Mitgliedschaft erwähnt. Wäre Kant ein Mitglied der Gesellschaft gewesen, erscheint ein solches Verschweigen geradezu undenkbar. Vgl. Ludwig Ernst von Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s. Von Kant selbst genau revidirt und berichtigt, Königsberg 1804, in: Felix Gross (Hg.), Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski, Berlin 1912, ND Darmstadt 1980, S. 3–7. – Für die Geschichte der Gesellschaft vgl. Gottlieb Krause, Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Festschrift zur Erinnerung an das 150jährige Bestehen der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen, Leipzig 1893; Philipp Zorn, Die Königliche Deutsche Gesellschaft zu Königsberg i. Pr. [Festrede zur Jubelfeier des 150jährigen Bestehens am 3. Dezember 1893], Königsberg 1893, auch in ders., Im Neuen Reich. Reden und Aufsätze zur preußisch-deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Bonn 1902, S. 296–318; Walther Ziesemer Kants Beziehungen zur Königlichen Deutschen Gesellschaft, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 17 (1942), S. 1–7; Gerhard Kozielek Aufgeklärtes Gedankengut in der Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft in Königsberg, in: Erik Amburger / Michal Ciesla / László Sziklay (Hg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1976, S. 321–47.
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zuzurechnen. Auch in Königsberg bildet sich eine Gruppe, deren Mitglieder sich ausdrücklich zu den sprachreformatorischen Zielen von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) bekennen. Im Geburtsjahr von Immanuel Kant – 1724 – flieht der Königsberger Magister legens Gottsched11 aus einer zunehmend pietistisch dominierten Stadt und Universität in das liberale, sächsische Leipzig und gründet dort 1727 eine »Deutsch übende Gesellschaft«. Kant hält, soweit wir wissen, als Privatdozent ab dem Winter 1755/56 seine Vorlesungen stets in deutscher Sprache; obwohl einige der zugrunde gelegten Lehrbücher lateinisch abgefasst sind und obwohl durch Archivalien gesichert ist, dass er in den ersten Jahren seiner akademischen Lehrtätigkeit Privat-Kollegien über Römischen Stil (also lateinische Sprache) gegeben hat.12 Nicht ganz geklärt ist, welches Gewicht ein angestrebtes Latein für die nach 1770 pflichtmäßig abzuhaltenden Übungen (Repetitorien) zu den beiden öffentlichen Kollegien über Logik und Metaphysik tatsächlich gehabt hat.13 Auch die ersten Veröffentlichungen von Immanuel Kant geschahen, soweit wir wissen, in deutscher Sprache. Sein in Folge ungeklärter Umstände 1749 mit vielleicht knapp drei Jahren Verzug erschienenes14 deutschsprachige Buch von 240 Seiten ist weder nach Thematik noch Darstellung als akademische Publikation im engeren Sinn einzuordnen. Es ist vielmehr der sehr selbstbewusst vorgetragene, eigenständige Lösungsvorschlag eines nichtgraduierten Studenten für eine damals aktuelle Frage der Physik, genauer der Mechanik. Die wahre Schätzung hat sich freilich als sachlich falsch entpuppt. Wir wissen nicht, wann genau der Autor den Fehlschlag als solchen erkannt hat. Wir wissen jedoch, dass 11 Gottsched, Johann Christoph (Praeses); Gottsched, Johann Friedrich (Resp.), Genuinam omnipraesentiae divinae notionem distincte explicatam et observationibus illustratam defendet pro receptione in facultatem phil. praeses Io. Christoph. Gottsched, philos. mag. et respondens Io Friedr. Gottsched ph. et med. cult. MDCC XXIII d xii Maii in auditorio philosophorum ab hor. viii ad xii, Königsberg 1723; Exemplar in Danzig / Gdan´sk, AkademieBibliothek: Fa 101, Nr. 52. – Dazu ein Lobgedicht von Johann Valentin Pietsch (1690–1733): »Auf Herren Johann Christoph Gottsched, bey dessen im Jahr 1723 nach Verdienst erlangten Würde eines Lehrers der Weltweisheit«, in: Johann Valentin Pietsch / Johann Georg Bock (Hg.), Gebundene Schriften in einer vermehrten Sammlung ans Licht gestellt, Königsberg 1740, S. 286. 12 Vgl. Werner Euler, Kants Briefwechsel und »Amtlicher Schriftverkehr«. Mit einem Anhang zu Kants Vorlesung über römischen Stil, in: Reinhard Brandt / Werner Stark (Hg.), Zustand und Zukunft der Akademie-Ausgabe von Immanuel Kants Gesammelten [!] Schriften (Kant-Studien 91. Jg., Sonderheft), Berlin u. a. 2000, S. 106–142. 13 Vgl. Michael Oberhausen / Riccardo Pozzo (Hg.), Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804) (Forschungen und Materialien zur Universitätsgeschichte, Abt. 1, Quellen zur Universitätsgeschichte), 2 Teilbde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 1, Einleitung, S. xxxvii – xli. 14 Das Titelblatt der »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« zeigt die Jahreszahl 1746; für den Zeitpunkt der Veröffentlichung vgl. AA 10 (wie Anm. 7), S. 1f. (BriefNr. 2: Judtschen den 23 Aug. 1749.). Abb. 1.
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er zur Zeit des Erscheinens des Buches die unmittelbare Nähe der Universität schon verlassen hat, um als Hauslehrer (Hofmeister) seinen Lebensunterhalt zu erwerben.15 Erst im Frühjahr 1754 kehrt er nach Königsberg zurück16 und publiziert unter seinem Namen in deutscher Sprache zwei kurze Abhandlungen im lokalen Intelligenz-Werk, ehe er zügig und zielstrebig eine in lateinischer Sprache abzufassende – jedoch nicht zu publizierende – Magisterarbeit ausführt. Dies ist im April 1755 der Fall.17 Etwa zur gleichen Zeit lässt Kant, ohne Nennung seines Namens, mit einer Widmung an den Preußischen König, die »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels« als gedrucktes Werk erscheinen.18 Der Untertitel kennzeichnet hinreichend Themenstellung und These: »Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt.« Mit dem theoretischen Rüstzeug der Newtonischen Gravitationstheorie wird eine Kosmogonie entfaltet. Spezifika oder Oberflächenphänomene der Erde werden freilich nicht betrachtet. Schließlich stellt Kant sich am 27. Sept. 1755 einer öffentlichen Disputation pro receptione, um von der Philosophischen Fakultät als Privatdozent zugelassen zu werden. Diese erste akademische Pflichtpublikation ist Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio. Die »Neue Beleuchtung der obersten Grundsätze der metaphysischen Erkenntnisse« behandelt eine erkenntnistheoretische Thematik; in den damaligen Begriffen gehört sie zur theoretischen Philosophie, nämlich zu ihrem »Logik« genannten Teilbereich. 15 Kant hat zwei auf den 23. August 1749 datierte Brief versendet: (1) Brief Nr. 2 der AA 10 (wie Anm. 7), vermutlich gerichtet an Albrecht von Haller in Göttingen; (2) ein erst nach 1945 in Leningrad aufgefundener Brief enthalten in: Immanuel Kant, Briefwechsel, hg. v. Otto Schöndörffer / Rudolf Malter / Joachim Kopper (Hg.), Leipzig 1924, 3. Aufl. Hamburg 1986, S. 925f.; vermutlich gerichtet an Leonhard Euler in St. Petersburg (oder Berlin?); mit genauerer Angabe des Ortes: Judtschen hinter Insterburg in Preußen. 16 Der Brief Nr. 3 der AA 10 (wie Anm. 7; an von Hülsen, Königsberg, 10. August 1754) ist der sicherste Anhaltspunkt; mir scheint jedoch, dass Kant sich deutlich früher in der Stadt aufhielt, denn in den »Wochentlichen Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten« [einmal wöchentlich, 1727–1774] erschienen seine Publikationen, am 8. und 15. Juni bzw. in der Zeit vom 10. August bis 14. September; vgl. Immanuel Kant, Vorkritische Schriften, AA 1, Berlin 1902–1910, S. 539 bzw. 543. – Vgl. Anm. 19. 17 AA 1 (wie Anm. 16), S. 369–384: de igne (Über das Feuer). Erstmals veröffentlicht in Kant, Sämmtliche Werke (wie Anm. 2), 5, 1839. 18 Angekündigt durch Kant selbst in: Frag- und Anzeigungsnachrichten (wie Anm. 16), 8. und 15. Juni 1754 als »Cosmogonie, oder Versuch, den Ursprung des Weltgebäudes, die Bildung der Himmelskörper, und die Ursachen ihrer Bewegung aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen der Materie, der Theorie des Newtons gemäß, her zu leiten« (vgl. AA 1 [wie Anm. 1], S. 191,04–08). – Durch die Person des Adressaten hat Kant der Widmung ein besonderes Gewicht gegeben; so gesehen scheint auch das Datum 14. März 1755 von Bedeutung zu sein. Nun ist mir in der Biographie des preußischen Königs, Friedrich II., nichts dazu Passendes begegnet. Infolgedessen vermute ich, dass der Grund für das kaum zufällige Datum im persönlichen Umfeld von Kant in Königsberg zu suchen ist.
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Abb. 1: Facsimile des eigenhändigen Briefes von Immanuel Kant (Judtschen, d. 23. Aug. 1749); Brief-Nr. 2 der Kant-Ausgabe der ehemaligen Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, Bd. 10 (Berlin 1900); nach einem Facsimile, seinerzeit im Besitz von Arthur Warda (1871–1929); Reproduktion nach: Altpreußische Monatsschrift 41 (1904), Beilage, vor S. 1.
Die beiden zuvor veröffentlichten deutschsprachigen Aufsätze können hingegen nicht nur durch ihre Thematik, sondern auch unter methodischen Perspektiven als Schlüsselwerke für eine philosophische Verortung der »Physischen Geographie« gelesen werden. Der erste, im Juni 1754 erschienene Aufsatz,19 antwortet 19 Vielleicht ist dieser Beitrag schon in Königsberg verfasst. Eine derartige Annahme ergibt sich fast zwangsläufig, wenn man danach fragt, aus welchen Informationsquellen er »auf dem Land« von der entsprechenden, im Juni 1752 gestellten Preisfrage der Berliner Akademie
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auf eine 1752 von der Berliner Akademie der Wissenschaften gestellte Preisfrage: In einem knappen Abriss wird gezeigt, dass und wie die Gezeiten der Ozeane die Rotation der Erde allmählich verlangsamen. Mit anderen Worten: Der Mond wirke per Gravitation und via Wassermassen der Ozeane als mechanische Bremse auf die sich drehende Erde. Aufgrund eines Rechenfehlers wird der Zeitpunkt eines somit physikalisch ermöglichten Stillstandes jedoch auf zwei statt 200 Millionen Jahre angesetzt.20 Hat man Zugang zu den »Wochentlichen Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten«,21 in denen dieser und ein weiterer in den Monaten August und September folgender Aufsatz veröffentlicht worden sind, so liegt es auf der Hand, dass die »Frage: Ob die Erde veralte? Physikalisch erwogen«, im Zusammenhang mit einem auch lokal geführten Disput um diese Frage entstanden ist. Kant setzt sich entschieden ab von einem in Königsberg zu der Zeit lebendigen Bemühen, die Texte der biblisch-christlichen Offenbarung direkt und unvermittelt für Themen und Thesen der Naturforschung in Anspruch zu nehmen. Er plädiert für äußerste Zurückhaltung und diskutiert eingehend vier »Theorien der Erde«.22 Es sind dies drei Vorschläge zu mechanischen Ursachen für die Annahme eines Alterungsprozesses der Erde als solcher. Hinzu kommt als viertes die unspezifische (aus heutiger Sicht biologisch oder metaphysisch anmutende) These von der »allmähligen Ermattung eines geheimen Triebwerkes des Natur«. – Ein eigener Vorschlag wird nicht formuliert.23 Klar ist freilich, zur Erklärung physischer Prozesse (Abläufe der und Ereignisse in der Natur) wird ausdrücklich nicht auf theologische Lehrmeinungen zurückgegriffen. Mir scheint offensichtlich: Es sollte als eine Tatsache angesehen und zur Kenntnis genommen werden, dass Kant zu Beginn seiner Zeit als Privatdozent in auffällig konzentrierter Weise mit Themen der »Physischen Geographie« oder allgemeiner der »Naturgeschichte« beschäftigt war. Bei Ausnahme der akademischen, lateinisch abzufassenden Pflichtschriften sind sämtliche Arbeiten der 1750er Jahre in dieser Hinsicht als unmittelbar einschlägig anzusehen und nicht,
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erfahren haben kann. Kant veröffentlichte seine These offenbar ehe in Königsberg bekannt war, dass der Termin zur Einlieferung der Antworten um zwei Jahre hinausgeschoben wurde. Vgl. AA 1 (wie Anm. 16), S. 539; bzw. das Nachlass-Blatt D 31 (Immanuel Kant, Vorarbeiten und Nachträge, AA 23, Berlin 1955, S. 1ff.). AA 1 (wie Anm. 16), S. 540–542 sowie die Anm. zu S. 188,30ff. Die Jahrgänge 1752, 1753 und 1754 sind in der UB Poznan´ vorhanden, – Abb. 2 und 3. AA 1 (wie Anm. 16), S. 197,30. Vgl. AA 26,2 (wie Anm. 8); Ms Hesse (1770), p. 20 und die Erläuterung: »in Übereinstimmung mit Buffon 1750, Bd. I.2 (Kap. 5), S. 42: ›Plato erklärt in seinem Timäus nicht nur wie der Mensch, die Thiere, die Pflanzen, die Elemente, sondern auch, wie der Himmel und die Götter durch zurückstrahlende Abschilderungen und aus der schöpfenden Gottheit gezogene Bilder sind erzeugt worden, indem solche sich mit einer harmonischen Bewegung nach den Eigenschaften, der Zahlen in die vollkommenste Ordnung gesetzet haben. Die Welt ist nach ihm ein Bild der Gottheit […]. Die Welt ist ein Thier in vorzüglichem Verstande […].‹«
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wie häufig zu lesen und man bei flüchtiger Betrachtung wohl meinen kann, der Naturwissenschaft oder gar einer mathematisch disziplinierten Physik gewidmet – wie noch bei der ersten Schrift über die lebendigen Kräfte vertretbar erscheinen mag. Kennt man Struktur und Inhalte der selbst konzipierten Vorlesung, so ist der behauptete Zusammenhang offensichtlich.24
Abb. 2: Titelblatt der ›Wochentlichen Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten‹ (10. August 1754, Nr. 23); nach dem einzig erhaltenen Exemplar in der Bibliothek der Universität Poznan´: https://www.wbc.poznan.pl/dlibra/publication/111523.
Eine Rekonstruktion der für Kant und seine Vorlesung über Physische Geographie gegebenen Ausgangssituation ist möglich, obwohl dazu bislang kaum nennenswerte Vorarbeiten geleistet worden sind. Die wenigen vorhandenen Werke und Sammlungen zur Universitätsgeschichte25 haben die Königsberger Naturforschung der hier relevanten Zeitspanne nur sehr kursorisch oder gar 24 Titelblatt der ersten Einladung zur Vorlesung im Sommersemester 1757; siehe AA 2 (wie Anm. 6), S. 455, nach dem Exemplar in der heutigen Stadtbibliothek Worms. – Abb. 4. 25 Götz von Selle, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preussen (Königsberg 1944), und vor allem in der politisch-ideologischen Tendenz verändert: 2. Aufl. Würzburg 1956; Kasimir Lawrynowicz [Lavrinovic], Albertina. Ocerki istorii kenigsbergskogo universiteta. K 450-letiju so vremeni osnovanija [Skizzen zur Geschichte der Königsberger Universität. Zum 450. Jahrestag seit der Gründung] Kaliningrad 1995, aus dem Russ.: Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität in Preußen, hg. v. Dietrich Rauschning, übers. Gerhild Luschnat (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises, 13), Berlin 1999; Dietrich Rauschning / Donata von Nerée (Hg.), Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren (Jahrbuch der Albertus-Universität, 29), Berlin 1995; Marti / Komorowski (wie Anm. 3).
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nicht in den Blick genommen. Auch in der direkt auf Kant und seinen Werdegang zielenden Literatur ist der lokalen Naturforschung des 18. Jahrhunderts keine eigene Rolle zuerkannt worden. Dies gilt ausdrücklich nicht für den verwandten Bereich der »Astronomie«, wie Hans-Joachim Waschkies in seiner Kieler Habilitationsschrift26 überzeugend dargelegt hat.
Abb. 3: Erste Seite von Kants Aufsatz »Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse […] einige Veränderungen […] erlitten habe« – so die Titelangabe in Kants gesammelten Schriften, Bd. I, S. 183. Das ist sachlich zutreffend; hingegen der Wortlaut nach der am 8. und 15. Juni 1754 erschienenen, zu Abb. 2 genannten Zeitschrift: »Untersuchungen der Frage, welche von der Königl. Academie der Wissenschaften zu Berlin zum Preise vor das jetzt laufende Jahr aufgegeben worden«.
Will man den biographischen Kontext der von Kant über 40 Jahre hin gehaltenen Vorlesungen über Physische Geographie kennen lernen, dann gilt es zunächst, diejenigen lokalen Rand- oder Ausgangsbedingungen zu ermitteln und 26 Hans-Joachim Waschkies, Physik und Physikotheologie des jungen Kant. Die Vorgeschichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmel, Amsterdam 1987.
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Abb. 4: Titelblatt des Einladungsprogramms von Immanuel Kant zu seiner Vorlesung über Physische Geographie des Sommersemesters 1757; nach dem Exemplar der Stadtbibliothek Worms (Bestand: ehemaliges Paulus-Museum); technische Aufbereitung: Werner Stark.
zu beschreiben, die für diese langanhaltende Tätigkeit bestimmend gewesen sind oder zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit von erheblichem Einfluss gewesen sein können. Der Fokus des Interesses ist dabei auf die Zeit der Entstehung der Vorlesung und die ersten Jahre des Privatdozenten zu richten. Bei dem weitgehenden Mangel27 an direkten biographischen Zeugnissen aus der Frühzeit 27 Es sind keinerlei persönliche Unterlagen aus Schule oder Universität (etwa Zeugnisse oder Aufsätze) bekannt geworden; nur das Avancement in der Schule ist schon vor 1900 rekonstruiert worden; vgl. Friedrich August Gotthold, Andenken an Johann Cunde, einen Freund Kant’s und Rhunken’s, in, Neue Preußische Provinzialblätter, 2. Folge, 3 (1853), S. 241–258, hier S. 247f.; Rudolf Reicke (Hg.), Kantiana. Beiträge zu Immanuel Kants Leben und Schriften, in: Neue Preußische Provinzialblätter, 3. Folge 5 (1862), S. 97ff., auch Separatdruck Königsberg 1860, hier S. 43–47; Gustav Zippel, Geschichte des Königlichen Friedrichs-Kollegiums zu Königsberg Pr. 1698–1898, Königsberg 1898, S. 110; Emil Arnoldt / Otto Schöndörffer (Hg.), Gesammelte Schriften, 6 Bde., Berlin 1907–1909, hier 3,2, S. 112f.; bzw. Heiner F. Klemme, Die Schule Immanuel Kants. Mit dem Text von Christian Schiffert über das Königsberger Collegium Fridericianum (Kant-Forschungen, 6), Hamburg 1994, S. 32ff. – Einzige Ausnahme bilden die durch eine Abschrift von Wasianski überlieferten Eintragungen
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– Schule und Studium – gilt der Blick in der Hauptsache den personellen und institutionellen Rahmenbedingungen. Gerade in dieser Hinsicht schien jedoch nach 1945 die Quellenlage nahezu hoffnungslos.28 Grundsätzlich ist kaum vorstellbar, dass der Privatdozent Immanuel Kant ohne lokale – also Königsberger – intellektuelle Mentoren befähigt war, sich zu dem seine Umgebung schließlich überragenden akademischen Gelehrten und Philosophen entwickeln zu können, als der er der Nachwelt bekannt ist. – Im Zuge meiner Recherchen stellte sich beinahe unwillkürlich29 die Vermutung ein, dass er sich in seinem Vorgehen an Lehre und Person des verstorbenen Königsberger Extraordinarius für Physik, Karl Heinrich Rappolt (geb. 1702) orientiert hat: Rappolts plötzlicher Tod (23. Oktober 1753) bietet unverhofft eine Chance30 zur akademische Karriere. Der Hofmeister Kant beendet seinen Aufenthalt in der Provinz. – Die Gründe für eine derartige These sind historischbiographischer Natur; sie sind eng verbunden mit der Annahme einer persönlichen Schüler-Lehrer-Beziehung zu Rappolt. Die Gründe, die für eine solche Vermutung sprechen, ergeben sich nahezu zwanglos aus einem detaillierten Blick31 auf die Lage der Institution, auf die hin der 30jährige Kant mit seiner Rückkehr nach Königsberg eine Karriere entworfen und realisiert hat.
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in einem sogenannten »Familienbuch« der Eltern von Immanuel Kant: Hinweise darauf schon bei Wasianski, in: Gross (Hg.), Immanuel Kant (wie Anm. 10), S. 251; Zitate bei Schubert in Kant, Sämmtliche Werke (wie Anm. 2) 11.2, S. 15 und 30; Abdruck in Arnoldt / Schöndörffer, Schriften, 3,2, S. 107–109; vgl. auch Immanuel Kant, Briefwechsel, AA 13, Berlin 1922, S. 462. Der chronologisch letzte Eintrag (von Immanuel Kant selbst) hat den Tod des Vaters am 24. März 1746 zum Gegenstand. – Die ersten im Inhalt überlieferten eigenhändigen Schriftstücke sind zwei Briefe aus dem Frühjahr 1749, dem Beginn der Hofmeisterzeit in Judtschen. Nach 1945 als Manuskript verfügbar ist nur der eine in St. Petersburg; der andere in Form eines Faksimile aus den Jahren 1904 und 1924; vgl. Kant / Malter (Hg) 1986, S. 925, Nr. 1a; Fischer 1985 und 1985a bzw. für das Faksimile AM, Bd. 41 (1904) und Warda 1924a. Vgl. z. B. die Hinweise von Waschkies (wie Anm. 26), S. 51f. Ähnlich bereits Benno Erdmann, Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants, Leipzig 1876, ND Hildesheim 1973, S. 139f.; Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie. Aus dem Engl. Martin Pfeiffer, 3. Aufl. München 2004, S. 76. Mitwirkend dürfte auch der noch nicht weit zurückliegende Tod des Extraordinarius für Logik und Metaphysik Martin Knutzen am 29. Januar 1751 gewesen sein: Etwa ab diesem Zeitpunkt verliert die pietistischen Fraktion ihre Dominanz in der Universität. – Zu Person und Lehre von Rappolt s. Theodor Christoph Lilienthal, Nachricht von des seel. Herrn Carl Heinrich Rappolts, der Naturlehre öffentlichen Professors auf hiesiger Universität, Leben und Schriften, in: Frag- und Anzeigungsnachrichten (wie Anm. 16), 1–2 (5. und 12. Jan. 1754); auch in: Neues Gelehrtes Europa, 5ter Teil, Wolfenbüttel 1754, S. 138–153. Siehe zum Teil schon Werner Stark, Naturforschung in Königsberg – ein kritischer Rückblick. / Aus den Präliminarien einer Untersuchung über die Entstehungsbedingungen von Kant’s Vorlesung über Physische Geographie, in: Ubirajara Rancan de Azevedo Marques / Nuria Sànchez (Hg.), Kant and the empirical sciences. Monographic issue of Estudos
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Zur Quellenlage
Glücklicherweise hat sich in den drei zurückliegenden Jahrzehnten gezeigt, dass deutlich mehr Quellen aus und zur Geschichte der Königsberger Albertus-Universität im 18. Jahrhundert erhalten und verfügbar sind, als vordem angenommen wurde.32 Trotz des nahezu vollständigen Verschwindens der Königsberger Bibliotheks- und Archivlandschaft aus der Oblast Kaliningrad sind erhebliche Bestände an Archivalien33 und Büchern erreichbar, deren Entstehung direkt auf die akademische Tradition der Albertina zurückgeht: Zahlreiche Dissertationen und andere Kleindrucke – häufig aus den Beständen der früheren Stadtbibliothek Königsberg herrührend – können in verschiedenen Bibliotheken in Polen (Olsztyn/Allenstein, Torun´/Thorn, Warszawa/Warschau)34 eingesehen werden. Kantianos 2,2 (Juli-Dezember 2014), S. 29–59; ausführlicher künftig in: ders., »Erneute Untersuchungen zu Kants Vorlesungen über physische Geographie«. 32 Friedrich Benninghoven, Die Kantausstellung des Geheimen Staatsarchivs, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 12 (1974–1975), S. 214–222, hier S. 217–219; bzw. die Kataloge der Kant-Ausstellungen in Mainz bzw. Berlin und München aus dem Jahr 1974: Friedrich Benninghoven, Immanuel Kant. Leben-Umwelt-Werk. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Beständen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Bayrischen Staatsbibliothek München, des Hauses Königsberg in Duisburg und anderer Leihgeber zur 250. Wiederkehr von Kants Geburtstag am 22. April 1974, Berlin o. J. [1974]; Günther Richter, 4. Internationaler Kantkongreß Mainz. Immanuel Kant. Katalog der Ausstellung. Hrsg. von der Kantgesellschaft e. V. in Verbindung mit dem Kulturdezernat der Stadt Mainz und der Universitätsbibliothek Mainz, Mainz 1974. 33 Mit dem Staatsarchiv Königsberg sind die Akten des Etatsministeriums, der bis 1806 noch in Königsberg ansässigen Preußischen Regierung, nach 1945 auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland gelangt; vgl. Kurt Forstreuter, Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg. Ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, 3); Göttingen 1955. Seit 1974 sind diese im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem zugänglich; inzwischen benannt als XX. Hauptabteilung. Der wichtigste Aufgabenbereich des Etatsministeriums war im 18. Jahrhundert die Königsberger Albertina. – Die Akten des Berliner »Unterrichtsministeriums« wurden hingegen im »Deutschen Zentralarchiv« in Merseburg auf dem Gebiet der früheren DDR aufbewahrt; nach 1990 sind die Bestände in das Geheime Staatsarchiv zurückgeführt worden. – Die für die Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften nur zu einem sehr geringen Teil herangezogenen Unterlagen der Albertus-Universität selber galten nach 1945 in der »westlichen Forschung« als verloren. Erst 1990 zeigte sich, dass rund 60 Prozent dieses Bestandes den Zweiten Weltkrieg überdauert haben und im Wojewodschaftsarchiv Olsztyn (Allenstein) zugänglich sind; vgl. Werner Stark, Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, Berlin 1993, S. 219ff. 34 Die gedruckte literarische Produktion der alten Königsberger Universität ist in hinreichendem Umfang existent, wie in den vergangenen Jahren peu à peu hat nachgewiesen werden können. Vgl. Anke Lindemann-Stark / Werner Stark 1995, Beobachtungen und Funde zu Königsberger Beständen des 18. Jahrhunderts, in: Nordost-Archiv, NF 4 (1995), S. 63–100; und https://www.forschungen-engi.ch/datenbanken/koenigsberger-universitaetsschriften-u nd-promotionen-1544-bis-1905. – Eine summarische Übersicht der bis dato auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion wieder aufgefundenen Buch-Bestände würde hier zu weit führen;
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Werner Stark
Hinzu kommen etliche Drucke Königsberger Provenienz, die – als eine Nebenfolge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 – sich bis heute in der Bibliothek der Universität Strasbourg im Elsass befinden. Für die Drucke kommt in jüngster Zeit schließlich hinzu, dass mit der rasch ansteigenden Quantität an elektronisch zugänglichen Katalogen – nicht nur für die Bestände in deutschen Bibliotheken – die Anzahl der in vertretbarer Zeit erreichbaren Titel erheblich angestiegen ist. Auch unabhängig von kriegsbedingten Verlagerungen bieten die weitgehend intakten Bestände der früheren Danziger Stadtbibliothek (Bibliothek der polnischen Akademie der Wissenschaften in Gdan´sk; Biblioteka Gdan´ska PAN) und die vollständig erhaltene Stadtbibliothek in Thorn (Torun´, Ksiaznica Kopernika Miejska) ein zumindest von der historisch orientierten Kant-Forschung nach 1945 nicht hinreichend erkanntes und nahezu unbeachtetes Quellen-Potential. Die relative geographische Nähe der alten Städte Danzig und Thorn zu Königsberg bedingte für ihr überwiegend deutschsprachiges, protestantisches Bürgertum und die von ihm mitgetragenen Bildungs- und Forschungseinrichtungen auch eine erhebliche intellektuelle Nähe zur Königsberger Universität. So lassen sich z. B. zwischen dem Lehrpersonal der akademischen Gymnasien dieser beiden Städte, die erst in Folge der 1793 erfolgten zweiten Teilung des Staates Polen auch politisch zu Preußen geschlagen wurden, und den Königsberger Intellektuellen vielfache Verflechtungen nachweisen, die bis in das direkte persönliche Umfeld von Kant reichen.
III.
Physikotheologie?
Ich überspringe die Zeit des Siebenjährigen Krieges, der für Königsberg als eine unmittelbare Folge des »Friedens von St. Petersburg« (5. Mai 1762) mit dem Abzug russischer Truppen im Sommer 1762 endete. – Abschließend und nur knapp möchte ich Ihre Aufmerksamkeit für die philosophisch gewichtigste35 Publikation des Magister legens Immanuel Kant lenken: den »Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes«. Die Schrift ist vgl. dazu Axel Walter (Hg.), Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte, Köln u. a. 2004. Rätselhaft ist nach wie vor der Umstand, dass nur sehr wenige Handschriften Königsberger Provenienz auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion aufgefunden worden sind. 35 Klaus Reich hat das Buch – in systematischer Hinsicht – zutreffend als »zusammenfassende Neubearbeitung« zweier 1755 publizierten Schriften charakterisiert: die »Allgemeine Naturgeschichte« und die Nova dilucidatio; Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, hg. v. Klaus Reich, Hamburg 1963, S. VII. – Für die konkreten Anspielungen und zeitgenössischen Bezüge vgl. die Ausgabe Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Historischkritische Edition, hg. v. Lothar Kreimendahl / Michael Oberhausen, Hamburg 2011.
Ein historischer Blick auf die ersten Jahre des Privatdozenten Immanuel Kant
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mit der Jahreszahl 1763 bereits im Dezember 1762 erschienen. Ihre Thematik ist zugleich abstrakt als auch in wesentlichen Teilen der Argumentation sehr konkret und empirisch ausgerichtet. Im »Beweisgrund« lässt sich nachvollziehen, dass und wie Kant sich mit einer aus dem England des ausgehenden 17. Jahrhunderts36 stammenden philosophischen Strömung auseinandersetzt – der Physikotheologie. Ihre vor allem im deutschen Sprachraum des frühen 18. Jahrhunderts zahlreichen Vertreter37 sind sich einig im Bemühen darum, Geschehnisse (Phänomene) der Natur als Zeugnisse für die Existenz eines Schöpfergottes und / oder seiner Eigenschaften in Anspruch zu nehmen – vor allem seinem entscheidenden Merkmal: Vollkommenheit. Der Kantische »Beweisgrund« macht an zahlreichen Stellen Gebrauch von Phänomenen und Einsichten, die in der Vorlesung über Physische Geographie thematisch sind. Ich greife nur einen Punkt heraus: Die Schrift beginnt mit einem Vergleich zwischen theoretischen Bemühungen der Metaphysik und einer sehr konkreten Aufgabe der Seefahrt. Um zu dem gewünschten und beabsichtigten Zweck seiner Schrift zu gelangen, müsse »man sich auf den bodenlosen Abgrund der Metaphysik wagen. Ein finsterer Ocean ohne Ufer und ohne Leuchtthürme, wo man es wie der Seefahrer auf einem unbeschifften Meere anfangen muß, welcher, sobald er irgendwo Land betritt, seine Fahrt prüft und untersucht, ob nicht etwa unbemerkte Seeströme seinen Lauf verwirrt haben, aller Behutsamkeit ungeachtet, die die Kunst zu schiffen nur immer gebieten mag«.38
Für einen heutigen Leser mag dieser Vergleich als eine bloß metaphorische Rede erscheinen, oder etwa assoziativ mit dem programmatischen Titelblatt von Francis Bacons Instauratio magna (1620) [Abb. 5] in Verbindung gebracht werden. Kennt man studentische Nachschriften der Vorlesung über Physische Geographie wird ein sehr konkreter, lebensweltlicher Aspekt sichtbar. Zuvor gilt es, sich an ein essentielles Motiv in der von Bacon und anderen seiner Zeitgenossen zu Beginn des 17. Jahrhunderts propagierten Überlegenheit der »Neueren« gegenüber den »Alten« (der Antike) zu erinnern: Die Erfindung technischer Apparaturen wie dem Magnet-Kompass (in Europa seit dem 12. Jahrhunderts), dem Thermometer (Mitte des 17. Jahrhunderts in Italien) und
36 Der Beginn wird üblicherweise in der ersten »Boyle Lecture«, gehalten von Richard Bentley (1662–1742), gesehen: »A Confutation of Atheism […]« (1692/93); deutsch: »Die Thorheit und Unvernunft Des Atheismi Wird erwiesen Aus der Nutzbarkeit und Süßigkeit eines gottseeligen Lebens / Aus den Kräfften der menschl. Seelen / Aus dem künstlichen Zusammenhang eines belebten Cörpers Und Aus dem Ursprunge u. Zustande der Welt: In Acht Predigten / Welche in denen von dem Ritter Robert Boyle angeordneten Andachten im Jahr 1692 […]«, Hamburg 1715. 37 Ihr wichtigster Vertreter in Königsberg ist Martin Knutzen; siehe Waschkies (wie Anm. 26). 38 AA 2 (wie Anm. 6), S. 66,01–06.
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Werner Stark
Abb. 5: Titelblatt der ersten Auflage von Francis Bacon »Instauratio magna« (London 1620) – gemeinfrei (Wikimedia Commons). Erläuterung: Die begrenzenden »Säulen des Herkules« werden mit vollen Segeln überwunden; darunter das Motto »Multi pertransibunt & augebitur scientia«.
den optischen Instrumenten Teleskop und Mikroskop (zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden und Italien). Kant gehörte sicher nicht zu denjenigen, die an Entwicklung oder Gebrauch derartiger Techniken und Apparaturen unmittelbar und aktiv beteiligt waren; er war und blieb jedoch ein hinreichend interessierter Beobachter solcher »Neuerungen«; denn: Das Zitat aus der Eingangspassage des »Beweisgrundes« beschreibt tatsächlich das seinerzeit seit langer Zeit beklagte und noch 1762 be-
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stehende Unvermögen zu einer sicheren Navigation auf hoher See.39 Deren essentielle Voraussetzung ist eine hinreichend genaue Positionsbestimmung auf See – ohne Sicht auf Landmarken, wie sie für die Küstenschifffahrt charakteristisch ist. Gelöst wurde das Navigationsproblem von einem in Yorkshire geborenen autodidaktischen Uhrmacher: John Harrison (1693–1776). 1759 erfüllte seine Uhr Nr 4 die 1714 von der britischen Regierung gesetzten Bedingungen für ein Verfahren zur sicheren und schnellen Feststellung eines Längengrades.40 – 1767 hat Kant in der deutschen Übersetzung des Publikationsorgans der Schwedischen Akademie der Wissenschaften lesen können: »Die Aufgabe, die Länge der See zu finden, ist seit langer Zeit berühmt. König Philipp III. in Spanien setzte 1600 eine Belohnung für den auf, der sie auflösen könnte, […]. Aber die Belohnung, welche das englische Parlament ausgesetzt hat, ist insbesondere die Veranlassung von Harrisons Versuche. Im Jahr 1714 den 11ten Jun. verordnete das englische Parlament einige zu dieser Absicht geschickte Leute, die Frage von der Erfindung der Länge zu untersuchen. […] Die Belohnung für denjenigen, der die Länge bestimmen würde, ward auf 10.000 Pf. Sterling (43.323 schw. Rthlr.) gesetzt, wenn dadurch die Länge innerhalb eines Grades oder 60 Seemeilen nach englischer Rechnung genau bestimmt würde; […] und auf 20.000 Pf. Sterling (86.647 schw. Rthlr.), wenn sie noch nicht 30 Seemeilen betrüge. […] Harrisons Seeuhr ist ohnstreitig das bequemste Mittel, die Länge zur See zu finden, und diese Aufgabe, die ihm mehr als dreyßig Jahr Mühe kostete, ist nun endlich aufgelöst.«41 39 Das auf Galileis Entdeckung der Jupitermonde zurückgehende, landgestützte astronomische Verfahren wird im Text des »Beweisgrundes« (AA 2 [wie Anm. 6], S. 131,15f.) erwähnt. Kant besaß (Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher. Mit einer getreuen Nachbildung des bisher einzigen bekannten Abzuges des Versteigerungskataloges der Bibliothek Kants, Berlin 1922, S. 18) eine Ausgabe dieses ersten neuzeitlich strukturierten Werkes zur Geographie: Bernhard Varenius, Geographia generalis, in qua affectiones generales telluris explicantur etc. Ab Isaaco Newton Math. Prof. Lucasiano apud Cantabrigienses. Editio secunda auctior et emendatior, Cambridge 1681. Die darin enthaltenen Notizen von Kants Hand sind bis dato nicht in der AA enthalten. – In der Erstausgabe (Amsterdam 1650) wird das Thema »Längengrad« S. 634–651 abgehandelt, Liber III, Caput 31, Propositio 7. 40 Für eine bündige Darstellung vgl. Dava Sobel / Neil Armstrong, Longitude. The true story of a Lone Genius who solved the greatest scientific problem of his time, London 2005. 41 Fr. Mallet, Bericht von Harrisons Versuche, die Länge zur See zu finden, aus dem Schwed., in: Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften Abhandlungen, aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik, 27 (1767), S. 3–17, hier S. 3–4 und 16. – Die wegweisende Idee, das Problem mittels einer präzisen, auf See mitzuführenden Uhr zu lösen, beschreibt Bernhard Varenius bereits in Geographia generalis, in qua affectiones generales telluris explicantur, Amsterdam 1650, S. 645f. – Die erst in jüngerer Zeit entdeckten »Neuen Reflexionen« in Kants ältestem Exemplar der Metaphysica von A. G. Baumgarten bezeugen, dass Kant schon 1755/56 um diese Idee wusste: Immanuel Kant, Neue Reflexionen. Die Frühen Notate zu Baumgartens Metaphysica. Mit einer Edition der dritten Auflage dieses Werks, hg. v. Günther Gawlick / Lothar Kreimendahl / Werner Stark (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstadt 2019, S. 53 (zu § 103): »Die äußere Möglichkeit einer Schiffsuhr ist alsdenn nur
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Werner Stark
Laut der Nachschrift des baltischen Studenten Georg Hesse hat Kant im Sommer 1770 etwa Folgendes mitgeteilt:42 »Die Erfindung der longitudinis maris ist eine Methode, von einem jeden Orte in der Welt zu finden, wie weit er östlich oder westlich von einem andern Orte entfernet liege. Dieselbe hat vor kurzer Zeit Harrison in Engelland durch eine sehr accurate Schifsuhr, welche vermittelst vieler Faden die man zu verschiedenen Zeiten aufziehen muß, wenig oder nichts abweichet, hervorgebracht. Bisher hat man diese noch nicht gehabt, denn perpendiculUhren, welche die genauesten sind, sind auf dem Schiffe unbrauchbar, und die gewöhnlichen Feder Uhren sind bisher immer abgewichen.«
Abschließend möchte ich fragen: Darf der nun explizierte Vergleich zwischen »Metaphysik« und »Navigation auf See« auf Kants eigenes Bemühen angewendet werden? Mit anderen Worten: Kann die 1781 erschienene »Critik der reinen Vernunft«43 als Instrument angesehen werden, welches Orientierung im unübersichtlichen Ozean der Metaphysik herbeiführt? Also, eine definitive Behandlung von drei essentiellen Themenbereichen der überkommenen »Metaphysik« (Psychologie, Kosmologie, Theologie) ermöglicht und deren Menschheitsfragen nach: Ich, Welt und Gott beantwortet?
wenn es Künstler giebt die sie machen können«. Möglicherweise im Blick auf Maupertuis 1753, S. 55–61 »13. Brief. Von der Meereslänge«. – Zur Datierung dieser frühen Kantischen Notizen vgl. Werner Stark, Kant und Baumgarten, Exemplare der Metaphysica. Ein nachfragender Bericht, in: editio. Internationales Jahrbuch der Editionswissenschaft 27 (2014), S. 96–111. 42 Ms Hesse, p. 81. 43 Die »Schiffsuhr« erscheint in der Critik innerhalb der »Methodenlehre« als Beispiel für einen Begriff, dessen »Möglichkeit durch diesen willkürlichen Begriff noch nicht gegeben [ist]« (A 729; Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA 3, Berlin 1904–1911, S. 478,26) – also ein Projekt, dessen Realität grundsätzlich offen ist.
Hanspeter Marti
Immanuel Kant und die Disputation als traditionelle Unterrichtsform
1.
Frühneuzeitliche Königsberger Dissertationen
Neben der Vorlesung, der lectio, war die Disputation seit dem Mittelalter bis um 1800 die an Hohen Schulen wichtigste Unterrichtsform. An Universitäten, akademischen Gymnasien, an Ordensschulen sowie an protestantischen Synoden wurde in der Frühen Neuzeit häufig disputiert, entweder zum Erwerb eines akademischen Grades oder für eine Stelle im Lehrkörper oder aber in verschiedenen Formen, öffentlich oder privat, bloß übungshalber.1 Von etwa 1600 an nahm in deutschsprachigen Ländern die Zahl der gedruckten Dissertationen sprunghaft zu. Diese Thesenschriften hatten die Funktion von Einladungsprogrammen zum mündlichen Streitgespräch. Ungefähr seit 1680 lässt sich an ihnen eine starke Verschriftlichung des Disputationswesens ablesen. Die Dissertationen konnten eine Reihe von Paratexten umfassen: Widmungen, Gratulationen in Vers und in Prosa, ferner Zusatzthesen zum Haupttext, sogenannte Corollaria. In der Regel verteidigte in der Disputation ein Respondent bestimmte, mehr oder weniger fachgebundene, in der Dissertation formulierte Thesen meist gegen die Einwände eines oder mehrerer Opponenten. Aus dem Titelblatt der Dissertation geht hervor, wo und wann, unter der Ägide welcher Fakultät sowie unter wessen Vorsitz respektive Präsidium eine Disputation abgehalten werden sollte (Abb. 1). Aus frühneuzeitlichen Hohen Schulen deutschsprachiger Länder – und um sie geht es hier – sind Zehntausende gedruckter Dissertationen überliefert, die, bibliographisch unterschiedlich gut erschlossen, einen vertieften Einblick in den Stoff der Lehrveranstaltungen, in das Beziehungsnetz der Gelehrten sowie über 1 Hanspeter Marti, Disputation, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 2, Tübingen 1994, Sp. 866–880; ders., Dissertation, in: ebd., Sp. 880–884. Ders., Dissertationen, in: Ulrich Rasche, Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven (Wolfenbütteler Forschungen, 128), Wiesbaden 2011, S. 293–312. Meelis Friedenthal / Hanspeter Marti / Robert Seidel (Hg.), Early Modern Disputations and Dissertations in an Interdisciplinary and European Context (Intersections, 71), Leiden, Boston 2021.
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Hanspeter Marti
deren Stellung in Staat, Schule und Kirche vermitteln. Manchmal werden in den Disputationsschriften, die oft einen Originalitätsanspruch anmelden, tatsächlich bestimmte Themen erstmals behandelt. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an sank die Zahl der sogenannten Übungsdisputationen und der ihnen zugrundeliegenden Dissertationen kontinuierlich.2 Übrig blieb an den Universitätsfakultäten nur die Inauguraldissertation, meist zum Erwerb des Doktorgrades, die aber nicht mehr immer in einer mündlichen Disputation verteidigt werden musste.
Abb. 1: Titelblatt einer frühneuzeitlichen Dissertation: Cölestin Christian Flottwell (Präses), Johann Daniel Funck (Respondent), Orator Romanus philosophus (18. März 1739), Königsberg (Universitätsbibliothek Kiel, Signatur: Ke 9964-46).
Dank der Initiative und Mitarbeit von Manfred Komorowski und der Beteiligung von Daria Barow-Vassilewitch findet man auf der Webseite der von meiner 2 Hanspeter Marti, Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums. Versuch eines skizzenhaften Überblicks (Abhandlungen zum Studentenund Hochschulwesen, 10), Köln 2001, S. 1–20.
Immanuel Kant und die Disputation als traditionelle Unterrichtsform
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Frau und mir vor mehr als 25 Jahren gegründeten Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen eine Datenbank, die mehr als 5000 Königsberger Dissertationen seit den Anfängen der Albertina bis zum Jahr 1905 mit Standortnachweisen allgemein und kostenlos zugänglich macht.3 Dort sind mindestens 95 % aller einschlägigen Titel erfasst. Nach wie vor werden aber neue Funde gemacht, und von manchen Thesenschriften, die gedruckt wurden, ist bis jetzt kein einziges Exemplar mehr aufzufinden.4 Die wegen den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs zu beklagenden Verluste an Königsberger Drucken sind immerhin geringer als noch vor gut einem Jahrzehnt angenommen.5 Aber frühneuzeitliche Königsberger Dissertationen liegen an weit verstreuten Standorten vor, namentlich in deutschen, polnischen, litauischen, estnischen und russischen Bibliotheken. Deshalb ist die bibliothekarische Rekonstruktion des Gesamtbestands recht aufwändig und oft von Zufallsfaktoren abhängig. Vor Kurzem erst erhielten wir Kenntnis von einer Königsberger Dissertation aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, von der ein Exemplar bislang nur in den Beständen der Universitätsbibliothek Voronezh nachweisbar ist.6 Von der proloco-Dissertation Simon Dachs wurde bis heute kein vollständiges Exemplar wiedergefunden. Vor dem Zweiten Weltkrieg war sie in verschiedenen Bibliotheken noch vorhanden. Heute befindet sich lediglich ein unvollständiges Stück 3 https://www.forschungen-engi.ch/projekte/koenigsberger-universitaetsschriften-und-promo tionen (letzte Einsichtnahme 30. 12. 2022). 4 Beispiel: Joachim Cimdarsus (1553–1618): De fabulis sive fictionibus poetarum, siehe Manfred Komorowski, Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg im 17. Jahrhundert, in: Axel E. Walter (Hg.), Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken (Frühe Neuzeit, 126), Tübingen 2008, S. 47–66, hier S. 60. 5 Axel E. Walter (Hg.), Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas, 1), Köln, Weimar, Wien 2004, darin: Manfred Komorowski / Hanspeter Marti, Erfassung und Erschließung von Königsberger Universitätsschriften der Frühen Neuzeit – Eine Projektskizze, S. 787–800. – Ferner: Manfred Komorowski, Promotionen an der Universität Königsberg 1548–1799. Bibliographie der pro-graduDissertationen in den oberen Fakultäten und Verzeichnis der Magisterpromotionen in der philosophischen Fakultät, München, London, New York, Paris 1988; Hanspeter Marti, Frühneuzeitliche Dissertationen der Universität Königsberg. Erschließung und historiographische Bedeutung eines vernachlässigten Quellencorpus, in: Bernhart Jähnig (Hg.), 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung, 23), Marburg 2008, S. 271–302; ders., Dissertationen als personen- und familiengeschichtliche Quellen. Das Beispiel Königsbergs – eine Datenbank der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi/Glarus Süd (Schweiz), in: Altpreußische Geschlechterkunde, Neue Folge 41 (2011), S. 311–324; Daria Barow-Vassilevitch, Who Needs Albertina Dissertations in Russia? Königsberg Dissertations from the Early Modern Age in the Russian State Library (Moscow), in: Friedenthal / Marti / Seidel (wie Anm. 1), S. 577–599. 6 Johannes Jönsenius (Präses), Wilhelm Blanckenhagen (Respondent), Discursus philologicus de vocis ἀκρίδες, apud Matth: 3,4. Marc. 1,6. significatione. (8. November), Königsberg 1651.
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Hanspeter Marti
in der Nationalbibliothek in Warschau. Zum Glück enthält eine Edition der Vorkriegszeit den ganzen Text der Dissertation des Dichters der Königsberger Kürbishütte.7 Neulich wurde in der Akademiebibliothek Riga sowie in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen je ein Exemplar der seit der Vorkriegszeit verschollenen Dissertation Immanuel Kants, des Originaldrucks der Nova dilucidatio, ausfindig gemacht.8 (Abb. 2). Die Titel der Königsberger Dissertationen, die seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts dank eines Doublettentransfers von der Königsberger Universitätsbibliothek nach Straßburg in der dortigen Bibliothèque nationale et universitaire aufbewahrt werden, sind zum überwiegenden Teil noch mit unserer Datenbank abzugleichen. Seit Langem beschäftigt sich die Forschung mit dem Werk des vorkritischen Kant,9 seit den letzten beiden Jahrzehnten vermehrt mit institutions-, alltags-,
7 Hanspeter Marti / Lothar Mundt, Zwei akademische Schriften von Simon Dach aus den Jahren 1639 und 1640 – Analyse und Dokumentation, in Walter (wie Anm. 4), S. 67–114. – Vgl. auch Hanspeter Marti, Dach, Simon (Präses), Roman, Christoph (Respondent), Trias assertionum ad rem poëticam spectantium. Königsberg 1640, in: Hanspeter Marti / Reimund B. Sdzuj / Robert Seidel (Hg.), Rhetorik, Poetik und Ästhetik im Bildungssystem des Alten Reiches. Wissenschaftshistorische Erschließung ausgewählter Dissertationen von Universitäten und Gymnasien 1500–1800, Köln, Weimar, Wien 2017, S. 124–130. 8 Hansmichael Hohenegger, Antonio Lamarra, Riccardo Pozzo, Neuaufgefundene Exemplare des Erstdrucks der Nova dilucidatio, in: Kant-Studien 112(1), (2021), S. 133–136. Den Verfassern danke ich für ihre Kooperation, aus der mein Beitrag vielfach Nutzen zog, insbesondere für die Erlaubnis, das Titelblatt und eine Seite des handschriftlichen Kommentars hier als Abbildungen zu verwenden sowie die in Vorbereitung stehende Edition zu benutzen (Mastercopy: Recently Rediscovered Copies of the Original Print of Kant’s Nova dilucidatio). Als Titelwort begegnet ›dilucidatio‹ beim Tübinger Philosophieprofessor und Wolffianer Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750), als Zwischentitel in Christian August Crusius’ proloco-Dissertation De usu et limitibus principii rationis determinantis vulgo sufficientis (Leipzig 1743), mit dem sich Kant eingehend in der Nova dilucidatio auseinandersetzt (vgl. dazu Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, S. 88, Anm. 297). Dagegen übernahm der Königsberger magister legens und Kantgegner Daniel Weymann (1732–1795) in der unter ihm verteidigten Dilucidatio principiorum ontologicorum (1762) das Wort für seinen Titel von Kant (Werner Stark, Hinweise zu Kants Kollegen vor 1770, in: Reinhard Brandt / Werner Euler (Hg.), unter Mitwirkung von Werner Stark, Studien zur Entwicklung preußischer Universitäten (Wolfenbütteler Forschungen, 88), Wiesbaden 1999, S. 113–162, hier S. 136 u. 154). Exemplarnachweis in unserer elektronischen Datenbank (vgl. Anm. 3). 9 Aus der Fülle allgemeiner Sekundärliteratur zum vorkritischen Kant sei an dieser Stelle bloß eine kleine Auswahl Klassiker erwähnt: Hinske, Kants Weg (wie Anm. 8); Hans Joachim Waschkies, Physik und Physikotheologie des jungen Kant (Die Vorgeschichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels), Habilitationsschrift, philosophische Fakultät Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 1984 (Typoskript); Stark, Hinweise (wie Anm. 8). – Wegleitend: Gerd Irrlitz, Kant-Handbuch, Leben und Werk, 3., überarbeitete und ergänzte Auflage, Stuttgart 2015, hier S. XIX, wo hervorgehoben wird, dass Kant »seine transzendentale Logik als den Ausgang der Philosophie aus der Antinomik der in ihren eigenen Phänomenwelten befangenen Kultur (verstand)«.
Immanuel Kant und die Disputation als traditionelle Unterrichtsform
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Abb. 2: Titelblatt des Rigaer Exemplars von Kants Nova dilucidatio (Akademische Bibliothek der Universität Lettlands, Signatur: Inv. Nr. 3493, Nr. 17).
kultur- und sozialgeschichtlichen Kontexten.10 Nicht nur in diesem Zusammenhang schenkte man der Geschichte der Königsberger philosophischen Fakultät als ganzer und damit den Unterrichtsinhalten mehr Aufmerksamkeit.11 Im Folgenden wird aus der Sicht frühneuzeitlicher Disputationsforschung ein sehr selektiver Blick auf die Geschichte der disputatio an der Albertina sowie ein perspektivisches Schlaglicht auf Leben und Werk Immanuel Kants geworfen. Dieser zum philosophiehistorischen Kanon zählende Autor dient hier als Beispiel für eine – durchaus kritische – Nutzung der Disputation im Unterricht. 10 Eine starke Ausrichtung auf den (akademischen) Alltag und auch auf außeruniversitäre Kontexte in der Kantbiographie findet sich bei Steffen Dietzsch, Immanuel Kant. Eine Biographie, Leipzig 2003. – Vgl. zum selben Thema die Forschungen Rudolf Malters, insbesondere den Überblick: Kant in Königsberg seit 1945. Eine Dokumentation, bearbeitet von Rudolf Malter / Ernst Staffa, unter Mitarbeit von Peter Wörster, Wiesbaden 1983; Bernd Dörflinger / James Jakob Fehr / Rudolf Malter†, Königsberg 1724–1804. Materialien zum politischen, sozialen und geistesgeschichtlichen Hintergrund von Leben und Werk Immanuel Kants (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, 78), Hildesheim, Zürich, New York 2009. 11 Vgl. dazu Literaturangaben in Anm. 5 sowie Stark, Hinweise (wie Anm. 8).
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2.
Hanspeter Marti
Die Disputation im Logikkompendium von Kants Lehrer Martin Knutzen
Die meisten frühneuzeitlichen Logikkompendien enthalten, gewöhnlich am Schluss des Kapitels über die Methode, einen Abschnitt zur disputatio. Die Disputation war ein geeignetes Medium, Unterrichtsstoff zu repetieren, Wahrheits- oder auch nur Wahrscheinlichkeitsansprüche durch Abwägen von Pround Kontra-Argumenten zu überprüfen, neue Erkenntnisse öffentlich zu verbreiten und sich für eine berufliche Karriere zu qualifizieren. Um Hauptpunkte der traditionellen ars disputandi exemplarisch zu veranschaulichen, gehe ich auf das 1747 erschienene Logiklehrbuch Martin Knutzens, eines Lehrers von Kant, ein.12 Knutzen wurde 1713 in Königsberg geboren, durchlief die universitäre Ausbildung und erlangte 1733 den Magistergrad, im Jahr darauf eine außerordentliche Professur der Logik und der Metaphysik. Diese hatte er bis zu seinem Tod im Jahr 1751 inne.13 Das erwähnte Kompendium erschien sieben Jahre nach Kants Immatrikulation.14 Knutzen, Schüler des Pietisten Franz Albert Schultz (1692–1763), gilt als Hauptrepräsentant des pietistisch geprägten Königsberger Wolffianismus.15 Knutzens Einfluss auf den Studenten Kant ist umstritten, bald wird er stärker hervorgehoben, bald weniger betont, ja sogar als gering eingestuft.16 Die Selbstdeklaration Knutzens, er neige der mathematischen Methode Christian Wolffs zu, muss zwar ernst genommen werden, aber ein strenger
12 Martin Knutzen, Elementa philosophiae rationalis sive logicae cum generalis tum specialioris mathematica methodo in usum auditorum suorum demonstrata, Königsberg 1747. 13 Michael Albrecht, § 9. Der frühe Wolffianismus. 8. Martin Knutzen, in: Helmut Holzhey / Vilem Mudroch (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, 5/1. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa, Basel 2014, S. 180–183. 14 Georg Erler (Hg.), Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr., 2. Die Immatrikulationen von 1657–1829 (Publikation des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreussen), Leipzig 1911/12, S. 385, Immatrikulation Kants, Sommersemester 1740, 24. September. 15 James Jakob Fehr, »Ein wunderlicher Nexus Rerum«. Aufklärung und Pietismus in Königsberg unter Franz Albert Schultz (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, 66), Hildesheim, Zürich, New York 2005, insbesondere S. 273f. (mit dem Akzent auf der Bedeutung von Schultz), S. 283. 16 Stark, Hinweise (wie Anm. 8), S. 123f., 129: Nicht Kant, sondern Friedrich Johann Buck war Knutzenschüler; Albrecht, Knutzen (wie Anm. 13), S. 182f., und vor allem Benno Erdmann, Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants, Leipzig 1876, Reprint Hildesheim 1973, schätzen ihn höher ein. Es bedarf weiterer Forschungen, auch des stärkeren Einbezugs von Knutzens Logik, dazu Erdmann, S. 107–114.
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Wolffianer war er nicht.17 Er ist auch als von John Locke und anderen Philosophen beeinflusster Eklektiker zu betrachten.18 Der historische Abriss zur Geschichte der disputatio nimmt in den Elementa mit den Ägyptern (Hermes Trismegistus) den Anfang und setzt den Akzent bei den Griechen Zeno, Sokrates, Euklid und Aristoteles. Knutzen lässt es in den Abschnitten zur disputatio beim historiographischen Hinweis auf Autoritäten des Altertums bewenden, neuzeitliche werden nicht erwähnt. Sokrates repräsentiert die Frage-Antwort-Methode, Aristoteles die syllogistische. Beim Disputieren werden alle geistigen Kräfte, nämlich die Aufmerksamkeit, die Begabung, das Urteil und das Gedächtnis, überdies die Sprachkompetenz, gefordert und gefördert.19 In der Disputation wie in der ihr zugrunde liegenden Thesenschrift, der Dissertation, sind die Regeln der Syllogistik zu befolgen. Den Respondenten und Opponenten gibt Knutzen einen Kodex formallogischer Regeln auf den Weg. Der Präses übernimmt auch in diesem Kompendium die Aufgabe, den Respondenten zu unterstützen.20 Wie andere Disputationstheoretiker legt Knutzen Wert darauf, dass die Disputierenden die Argumente des Kontrahenten erfassen, genau wiedergeben, daher sachadäquat ihre Position vertreten und verteidigen können.21 Auch der Rekurs auf tugendhaftes Verhalten wie Mäßigung und die Unterdrückung der Affekte, insbesondere von Neid und Hass, sowie die Vermeidung persönlicher Attacken zählen einmal mehr zum normativen Grundinventar des Disputierens.22 Letzteres hat in einer freundschaftlichen
17 Über Gemeinsamkeiten und Differenzen, Erdmann, Martin Knutzen (wie Anm. 16), S. 109– 111; Albrecht, Knutzen (wie Anm. 13), S. 181f. 18 Knutzen, Elementa (wie Anm. 12), § 570, S. 380, erwähnt zum Beispiel mehrere Autoritäten, die auf Mittel zur Befreiung von Vorurteilen ausführlich eingehen: Außer John Locke werden Nicolas Malebranche, Isaak Watts und Jean-Pierre Crousaz genannt. Erdmann, Martin Knutzen (wie Anm. 16), S. 112, 114, betont den Einfluss John Lockes sowie des englischen Sensualismus und Empirismus im Allgemeinen; Stark, Hinweise (wie Anm. 8), S. 121. – Zur Lockerezeption, zu den Locke-Übersetzungen von Knutzen (nicht gedruckt, nicht überliefert), zu Georg David Kypke (Of the Conduct of Understanding) und zu deren Einfluss auf Kant siehe Alois Winter, Selbstdenken – Antinomien – Schranken. Zum Einfluß des späten Locke auf die Philosophie Kants, in: Norbert Hinske (Hg.), Aufklärung; Eklektik, Selbstdenken; Aufklärung 1 (1986), S. 27–66. Weitere Referenzen zu Locke, auf dessen Lehre der Wahrscheinlichkeit Knutzen in der Vorlesung genauer einzugehen versprach, vgl. Elementa (wie Anm. 12), § 332, S. 202, sowie ebd., § 550, S. 359f., über Vorurteilskritik und die unendliche Teilbarkeit der Körper. 19 Knutzen, Elementa (wie Anm. 12), § 634, S. 425f. 20 Ebd., §§ 636–638, S. 426–429. 21 Ebd., § 637, S. 428, zur Vorbereitungsarbeit des Respondenten (didaktisch, in wolffscher Art motivierte Kursivierungen im Zitat von Knutzen): »1) Respondens thesin, vel dissertationem probe intelligere debet, ac ante conflictum meditari, quaenam obiectiones contra thesin formari possint, ac quomodo solvi queant; sic tela praevisa minus nocebunt.« 22 Ebd., § 636, S. 427 (gegen Zorn, spitze Bemerkungen und argumenta ad personam, für Mäßigung und Menschlichkeit [›humanitas‹] des Opponenten); § 637, S. 429 (gegen Ruhmsucht,
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Atmosphäre stattzufinden.23 Knutzen sah in den Schuldisputationen ein wichtiges Übungsfeld für die spätere Anwendung diskursiver Praktiken außerhalb von Schule und Unterricht.24 Auf die rhetorischen Teile der Disputation, höfliche Begrüßungs- und Schlussreden, wollte er nur mündlich in der Vorlesung eingehen, wohl auch, weil sie in die Zuständigkeit der Rhetorik und nicht in die der Logik fielen. Aber auch an anderen Stellen der Elementa wird einschlägiger Unterrichtsstoff den Erörterungen in der lectio, der Knutzen unter anderem sein Lehrbuch zugrunde legte, zugewiesen.25 Der Autor versah das lateinsprachige Kompendium mit deutschen Randglossen, die den Inhalt der Paragraphen zusammenfassen.Knutzen beschreibt und bekämpft mit Einzelhinweisen zahlreiche Vorurteile, die er falsche Prinzipien nennt, die ihrerseits viele Irrtümer generierten.26 Als psychologische Hauptursachen bezeichnet er die mit Faulheit verbundene Nachlässigkeit und deren Resultat, das übereilte, ungeprüfte Urteil, das seinerseits auf die unbedachte Übernahme von Autoritätsbeweisen zurückgehen kann. Die Vorurteile werden in drei Klassen aufgeteilt: Sie können auf defizitäre Wahrnehmungsorgane und mangelhaftes Erkenntnisvermögen (Sinne, Einbildungskraft, Verstand, Gedächtnis), auf die Lenkung des Willens durch das Temperament und / oder durch Affekte (hierfür erklärt Knutzen die praktische Philosophie zuständig), auf die Dinge als solche sowie auf Lebensumstände der involvierten Personen zurückgehen.27 Gegen einen verdorbenen
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Hartnäckigkeit und für die Wahrheitsliebe des Respondenten: »Cedat amor gloriae amori veritatis«); § 630, S. 424 (gegen Neid und Hass). Ebd., § 633, S. 425 (»amica duarum sententiarum contradictoriarum collatio«). Ebd., § 634, S. 426. Vgl. Michael Oberhausen / Riccardo Pozzo, Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804), Teilbd. 1 (Forschungen und Materialien zur Universitätsgeschichte [FMU], Abteilung I: Quellen zur Universitätsgeschichte, 1.1), Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, SS 1746, S. 161; WS 1746/47, S. 164; SS 1747, S. 167; WS 1747/48, S. 170; SS 1748, S. 173; WS 1748/49, S. 176; SS 1749, S. 179; WS 1749/50, S. 182; SS 1750, S. 185; WS 1750/51, S. 188. Vgl. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA], Abteilung II: Monographien, 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 178–180, über Knutzen, der »die ausführlichste Vorurteilslehre der Wolffschen Schule« (ebd., S. 178) präsentiere. »Man darf daher vermuten, daß schon durch Knutzen eine sehr detaillierte Kenntnis des Vorurteilsproblems an Kant weitergegeben wurde« (ebd., S. 180); zu Kants Vorurteilstheorie ausführlich, ebd., S. 278–311, aber es wird deren Abhängigkeit von Georg Friedrich Meier betont, ebd., S. 209, 281, 294, 303. Die Theorien der Vorurteile von Knutzen und Meier, insbesondere in des Letzteren Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts (Halle 1766), verdienen einen ausführlichen Vergleich. Norbert Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, unterstreicht sehr überzeugend Meiers überwältigenden Einfluss auf Kant, insbesondere S. 123–128 (vor allem hinsichtlich der Vorurteilslehre). Knutzen, Elementa (wie Anm. 12), §§ 470–570, S. 313–382 (die weit ausgreifende Lehre der Irrtümer und Vorurteile); § 570, S. 380: Vorurteile, die entweder auf Dinge oder auf Personen
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Willen und die Herrschaft verwerflicher Affekte kapituliert der natürliche Verstand. Knutzen bringt als Heilmittel das Vertrauen in den göttlichen Beistand und das Gebet ins Spiel.28 Er verstand sich, abhängig von moralischen Grundsätzen der Königsberger Pietisten, als Repräsentant einer betont christlichen Philosophie, in deren Dienst er auch den Logikunterricht und die Vorurteilskritik stellte. Zu deren Verdeutlichung sei ein Blick auf Knutzens Lehre der Sinnesorgane geworfen. Aus dem Vorurteil des von den Sinnen wahrgenommenen Scheins gehen laut Knutzen viele Irrtümer hervor: Zum Beispiel werde das unermesslich Große, die Existenz Gottes, geleugnet oder das Vorhandensein kleinster Teilchen, so der von Leibniz angenommenen Monaden, abgelehnt. Daher warnte Knutzen auch vor einem anthropomorphen Gottesbegriff.29 Die Widerlegung des Scheins (»consuetudo secundum sensuum adparentiam«, § 489, kursiv im Original) durch Vorurteilskritik bringt positive Erkenntnis hervor.30 Der Einfluss von Knutzens Logik auf Kant ist wahrscheinlich größer, als bis jetzt angenommen, auch wenn es in Kants Werk an Belegen zu einer solchen Aufwertung fehlt. Freilich setzte Knutzen die Vorurteilskritik zur Gewinnung positiver ontologischer Erkenntnisse ein, während Kant, ausgeprägt in der Kritik der reinen Vernunft, derartige Seinsaussagen grundsätzlich verwarf. Für Knutzen stand dagegen, was richtig und was falsch sei, aufgrund der etablierten Vorurteilskritik fest, die er dann argumentativ nur noch auf den zur Debatte stehenden Einzelfall anwenden musste. Wahrheitsaussagen setzten, so gesehen, ›nur‹ die Eindämmung von Vorurteilen durch Aufklärung, das heißt die korrekte Anwendung von Regeln und Inhalten logischer Propädeutik, voraus. Die Wahrheit oder wenigstens der höchste Grad an Wahrscheinlichkeitserkenntnis konnten demnach durch inventio gefunden, vielmehr wieder entdeckt, in Syllogismen und Enthymeme gekleidet, aufgereiht, gelernt, memorisiert und vermittelt werden. In der Disputation wurde oft, wie angedeutet, lediglich um Grade von Wahrscheinlichkeit, nicht also nur, wie vorwiegend in der Kontroverstheologie, um Wahrheitsansprüche gestritten. Die Disputation schien Knutzen geeignet, die Geltung von Aussagen über Pro und Kontra abzuwägen und verbindlich zu beurteilen. Widerlegte man Vorurteile mit Hilfe der von der Logik prophylaktisch abgesteckten methodischen Vorgaben, erfüllte die Disputation eine erkenntnistheoretisch und -praktisch unentbehrliche Funktion. zurückgehen, werden ausgeklammert, stattdessen Autoren genannt, die sie behandeln (vgl. Anm. 18). 28 Ebd., christliche Religion bewahrt vor Irrtümern; § 569, S. 379, Empfehlung des Gebets (»praesertim Divini Numinis auxilium ardentissimis precibus exorare debes«, kursiv im Original). 29 Knutzen, Elementa (wie Anm. 12), §§ 487–492, S. 321–324. 30 Das ist bei der von Kant transzendentalphilosophisch begründeten Kritik des Scheins freilich nur insofern der Fall, als sie die Grenzen metaphysischer Erkenntnis ins Bewusstsein ruft.
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3.
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Kants Abhandlung zur Magisterpromotion und seine Qualifikationsdissertationen
Am 17. April 1755 reichte Kant der philosophischen Fakultät der Universität Königsberg im Vorfeld des Magisterexamens, das rund einen Monat später, am 13. Mai, stattfand, eine Abhandlung über das Feuer ein. Das nur als Manuskript überliefert gewesene Specimen, das aus der Universitätsbibliothek Königsberg stammte und zuletzt in der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin aufbewahrt wurde, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwar verschollen, aber seit 1839 in verschiedenen Kanteditionen gedruckt zugänglich.31 Wiederholt ist von dieser Schrift als von einer Dissertation oder der Magisterdissertation Kants die Rede,32 was einer Präzisierung bedarf. Für den Erwerb des Magistertitels war in Königsberg wie an anderen Universitäten deutschsprachiger Länder grundsätzlich keine Dissertation erforderlich. Mehr noch: Gedruckte Promotionsdissertationen, die auch als solche deklariert sind, gab es in Königsberg während der ganzen frühen Neuzeit nur an der medizinischen, juristischen und theologischen Fakultät.33 Bei Kants De igne handelt es sich also nicht um eine Dissertation, die unter dem Vorsitz eines Präses oder ohne einen solchen (sine praeside) in einer öffentlich stattfindenden Disputation verteidigt wurde. Kant wurde rund einen Monat nach dem Examen, am 12. Juni 1755, zum Magister promoviert, und der Dekan der philosophischen Fakultät lud offiziell zur Promotionsfeier mit einem Einblattdruck ein.34 Kants erste Abhandlung war ein
31 Zur Überlieferung der Handschrift und zur Edition von 1902: Kurd Lasswitz, Meditationum quarundam de igne succincta delineatio, AA 1, Berlin 1902 (Text, S. 369–384; Kommentar, S. 562), zu den Drucken vgl. Antonio Lamarra / Pietro Pimpinella / Ada Russo, KantIndex. 44: Stellenindex und Konkordanz zu den lateinischen Dissertationen. Teilbd. 1: Einleitung, Wortschatzverteilungsindex, Hauptindex und Konkordanz (A–C), Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. XLIII f, ebd. auch Hinweise auf wichtige Kantbibliographien. 32 Lasswitz, Meditationum (wie Anm. 31), S. 562, spricht zurückhaltend und zutreffender von einer ›Abhandlung‹. Ohne die hier vorgenommenen Präzisierungen Marti, Frühneuzeitliche Dissertationen (wie Anm. 5), S. 274. 33 Dazu bereits im Zusammenhang mit De igne, Karl Rosenkranz / Friedrich Wilhelm Schubert (Hg.), Immanuel Kants Sämmtliche Werke. Fünfter Theil, Schriften zur Philosophie der Natur, Leipzig 1839, S. XIV, verdeutlichend: »Da es bei der Königsberger p h i l o s o p h i s c h e n [im Original gesperrt] Facultät nicht Sitte ist, dass die Promotionsschrift gedruckt wird, wenn nicht etwa der Verfasser sie zugleich als Habilitationsschrift pro venia legendi benutzen will, was unter Genehmigung der Facultät auch schon damals geschehen konnte, so war diese Abhandlung de igne bei den Facultätsacten bis zum Tode Kant’s verblieben.« Es ist bezeichnend, dass die Begriffe ›Disputation‹ und ›Dissertation‹ hier nicht verwendet werden. Ferner Komorowski, Promotionen (wie Anm. 5), S. X. 34 Komorowski, Promotionen (wie Anm. 5), S. 82, Nr. 661 (Promotionsdatum). – Standorte der gedruckten Promotionseinladung Bibliotheka Narodowa, Warschau, Signatur: BN.XVIII.4.1184; Dietzsch, Immanuel Kant (wie Anm. 10), S. 59, Abbildung des im Staatsarchiv Olsztyn
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Leistungsausweis, der den Verfasser für eine universitäre Karriere besser qualifizieren sollte. Soweit bis jetzt bekannt, ist aus der Universität Königsberg kein gleichartiges Probestück überliefert, was annehmen lässt, dass die Einreichung eines solchen zu Promotionszwecken tatsächlich nicht die Regel war und / oder dass das Manuskript Kants De igne aufbewahrt wurde, weil es aus der Feder einer berühmten Persönlichkeit stammt.35 Blicken wir vom Promotionsjahr Kants mehr als vier Dezennien zurück. Am 18. November 1710 hatte Friedrich I., König in Preußen, verordnet, dass niemand Professor ordinarius werden dürfe, der nicht wenigstens 12 Disputationen oder andere Nachweise (»Specimina«) seines Könnens unterbreitet habe, für ein Extraordinariat müssten davon sechs vorliegen.36 Sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm, erließ am 20. September 1717 ein Reskript, dass das öffentliche Examen anlässlich von Magisterpromotionen abzuschaffen sei, da die Kandidaten ihre Fähigkeiten im Rigorosum sowie mit schriftlichen Ausarbeitungen genügend unter Beweis stellen könnten. Auch seien mit diesem Zeremoniell hohe Kosten und ein großer Zeitaufwand verbunden, es würden unnütze Fragen gestellt und Streitigkeiten provoziert.37 1736 wurde diese Bestimmung in einem königlichen Reskript wieder in Erinnerung gerufen und zudem verordnet, dass ein Extraordinarius, wegen der hohen Kosten, den Doktor- respektive den Magistertitel nicht erwerben müsse. Denn »solches sei auf keiner Universität gebräuchlich, und begreifen wir also nicht, warum man in Königsberg darauf bestehe«.38 Wahrscheinlich wollten die philosophische Fakultät und andere von Promotionen Begünstigte auf die mit dieser Graduierung verbundenen Einnahmen nicht verzichten.39 Einschlägig für Kant war dann das königliche Reglement vom 24. Dezember 1749, das die Beförderung von Professoren erstmals genau und
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vorhandenen Exemplars (vgl. ebd., S. 313, Anm. 51: Bestand 1646, Nr. 306: Facultatis Philosophiae 1751–1772, Eintrag Nr. IV im Sommersemester 1755, fol. 189/190). Zur Aufbewahrung von De igne vgl. Rosenkranz / Schubert, Immanuel Kants Sämmtliche Werke (wie Anm. 33), S. XIV: Kants Manuskript wurde »als eine ehrenwerthe Reliquie der Universitätsbibliothek übergeben«. Daniel Heinrich Arnoldt, Zusätze zur Historie der königsbergischen Universität. Mit 250 Lebensbeschreibungen preußischer Gelehrter, Neudruck der Ausgabe Königsberg 1756, Aalen 1994 (Reprint, C), Beylage No. 2, S. 224f. Daniel Heinrich Arnoldt, Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der königsbergischen Universität. Teil 2. Mit Anhang: Nachricht von dem Leben und den Schriften 100 preußischer Gelehrter, Neudruck der Ausgabe Königsberg 1746, Aalen 1994 (Reprint, B), Beylage No. 57, S. 80. Arnoldt, Zusätze (wie Anm. 36), Beylage No. 3, S. 225f., hier S. 225. Hanspeter Marti, Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums. Versuch eines skizzenhaften Überblicks, in: Rainer A. Müller (Hg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, 10), Köln 2001, S. 1–20, hier S. 19 (Zusammenstellung: Kosten und Begünstigte).
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verbindlich wie folgt regelte:40 Es hatte nur das Recht, öffentliche Lehrveranstaltungen abzuhalten, wer außer bei der Magisterpromotion auch bei anderen Disputationen den Vorsitz innehatte, das hieß als Präses amtete.41 Wer Extraordinarius werden wollte, hatte zusätzliche drei Disputationen als Präses zu absolvieren, wer ein Ordinariat anstrebte, hatte noch drei Disputationen in seiner Stellung als Extraordinarius hinter sich zu bringen. Sogar etablierten Professoren, die nicht bereits dreimal bei Disputationen präsidiert hatten, wurde rückwirkend eine Disputationspflicht auferlegt: Wer nicht mindestens dreimal eine Disputation präsidierte, musste dies innerhalb von zwei Jahren nachholen. Geschah dies nicht, hatte der Säumige mit Besoldungs- und Rangeinbußen zu rechnen. Mit diesen Bestimmungen versuchte die preußische Regierung Aufsichtsansprüche über die Universität durchzusetzen. Sie betonte den Nutzen des Disputierens, weil »dieses nicht allein zu großer Aufmunterung sowol Lehrender als Lernender gereichet, sondern auch dadurch der Grund zu denen großen Wercken und berühmten Schriften, mittelst welcher die Profeßores vormals inclaresciret, geleget worden«.42 Der königliche Erlass erklärt auch, weshalb Kant, wollte er eine Professur erlangen, mindestens dreimal als Magister zu disputieren hatte, ein Pensum, das er in Teilen in den Jahren 1755 und 1756, dann aber erst am 21. August 1770 mit der berühmt gewordenen Inauguraldissertation pflichtschuldig erfüllte. Kurz zuvor, wohl bereits am 31. März 1770, war seine Beförderung zum Ordinarius für Logik und Metaphysik erfolgt.43 Wahrscheinlich war man der Ansicht, dass Kants akademische Leistungen für diesen direkten 40 Arnoldt, Zusätze (wie Anm. 36), Beylage No. 1, S. 222–224. 41 Ebd., S. 223, fällt auf, dass hier ausdrücklich von einer »bey der Promotion in Doctorem vel Magistrum gehaltenen Disputation« die Rede ist. Diese Aussage bezieht sich wohl auf das proreceptione-Verfahren, also auf Magister, die gleichzeitig mit ihrer Promotion den Erwerb eines universitären Lehramts anstrebten. Verstünde man den Satz als allgemeine, auf sämtliche Magisterpromotionen bezogene Vorschrift, müsste man sich einmal mehr fragen, warum aus Königsberg keine frühneuzeitlichen Magisterdissertationen (pro gradu magisterii oder ähnlich) überliefert sind. In den Statuten der philosophischen Fakultät der Universität Königsberg ist zwar detailliert von Magistern und deren Promotion, aber nirgends von einer Disputation als Anforderung die Rede. Verlangt waren ein privates und ein öffentliches Examen, die näher umschrieben werden; vgl. dazu die Quellenedition in Daniel Heinrich Arnoldt, Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der königsbergischen Universität. Teil 1. Mit Beilagen. Neudruck der Ausgabe Königsberg 1746, Aalen 1994 (Reprint, A), Beilagen Nr. 48 (S. 170–171), 49 (S. 186–191), 70 (S. 409–411, zu den Magistern, hier S. 410 über die Disputation zur Aufnahme als magister legens in die philosophische Fakultät: »Ut singuli habeant Disputationem pro Receptione, antequam Collegia aperiant« [kursiv im Original]). 42 Arnoldt, Zusätze (wie Anm. 36), S. 222. 43 Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München 2004, S. 223. Dietzsch, Immanuel Kant (wie Anm. 10), S. 108 (Denominationstermin: 16. April 1770), Kühn, Kant (wie Anm. 43), S. 223 (31. März 1770). Den Widerspruch zwischen den beiden in der Sekundärliteratur erwähnten Ernennungsterminen kann ich nicht auflösen.
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Sprung auf die höchste Stufe der Fakultätshierarchie genügten und man die Bestimmungen des königlichen Reskripts von 1749 in seinem Fall nicht anwenden müsse. Sein Vorgänger auf demselben Lehrstuhl, Johann Friedrich Buck (1722–1786), hatte nämlich das vom königlichen Erlass für die verschiedenen Hierarchiestufen geforderte Disputationspensum buchstabengetreu erfüllt.44 Seit der Magisterpromotion Kants waren also ganze 15 Jahre vergangen, während denen er an der Universität Königsberg unterrichtete, ohne dass sein Name in den Vorlesungsverzeichnissen erschien. Die Ankündigung von Lehrveranstaltungen war nämlich bis zum Sommersemester 1770 allein den Professoren vorbehalten.45 1770 bildete für Kant eine Zäsur, das Ende der vorkritischen Zeit, das sich nach der einhelligen Auffassung der Forschung bereits lange zuvor angekündigt hatte.
3.1.
Die erste Qualifikationsdissertation
Die Reihe der drei Dissertationen, die ihn dafür qualifizieren sollten, als Privatdozent oder besser, weil im Fall Kants klarer, als magister legens Lehrveranstaltungen durchzuführen, eröffnete Kant in kurzen zeitlichen Abständen, auch zum Erstling De igne, mit der bereits am 27. September 1755 verteidigten Nova dilucidatio. Aus dem Wortlaut des Titelblatts geht der Zweck der Disputation hervor (zur Aufnahme, pro receptione, in die philosophische Fakultät).46 Schon am 10. April 1756 folgte die Verteidigung der Thesenschrift Metaphysicae cum geometria iunctae usus.47 Die rasche chronologische Folge der ersten beiden öffentlichen Disputationen wurde am 8. April 1756 noch mit der in einem Brief 44 Stark, Hinweise (wie Anm. 8), S. 145–147. 45 Oberhausen / Pozzo, Vorlesungsverzeichnisse (wie Anm. 25), Teilbd. 2. 46 Immanuel Kant (Präses), Christoph Abraham Borchard (Respondent), Opponenten: Johann Gottfried Möller, Friedrich Heinrich Samuel Lysius, Johann Reinhold Grube, Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (= Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis) (27. September), Königsberg 1755, in: Immanuel Kant, Vorkritische Schriften bis 1768. Erster Teil. Mit Übersetzungen von Monika Bock / Norbert Hinske (= Kant, Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel) 1, Darmstadt 1975, S. 401–509. 47 Immanuel Kant (Präses), Lukas David Vogel (Respondent), Opponenten: Ludwig Ernst Borowski, Georg Ludwig Mühlenkampf, Ludwig Johann Krusemarck, Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam (= Der Gebrauch der Metaphysik, sofern sie mit der Geometrie verbunden ist, in der Naturphilosophie, dessen erste Probe die physische Monadologie enthält) (10. April), Königsberg 1756, in Kant, Werke (wie Anm. 46), S. 511–563. Dazu ausführlich Karl Vogel, Kant und die Paradoxien der Vielheit. Die Monadenlehre in Kants philosophischer Entwicklung bis zum Antinomienkapitel der reinen Vernunft, Meisenheim am Glan 1975, hier S. 131–178.
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an König Friedrich II. angezeigten Bewerbung um die durch den Tod des Logikund Metaphysikprofessors Martin Knutzen freigewordene Stelle unterbrochen,48 die bezeichnenderweise zwei Tage vor dem zweiten Disputationstermin Kants erfolgte. Dieser Zeitplan lässt auf den dezidierten Willen des Petenten schließen, möglichst rasch die universitäre Karriereleiter emporzusteigen, um zur erstrebten Professur für Logik und Metaphysik zu gelangen. An Universitäten deutscher Länder war es durchweg üblich, in Thesenschriften, mit denen die Bewerbung um eine Professur verbunden war, die Leistung und den Nutzen der zu vertretenden akademischen Disziplin anzupreisen. Nichts anderes als das tat Kant in den beiden ersten Qualifikationsdissertationen, allerdings ohne sich in einem allgemeinen Lob des Fachs zu erschöpfen, sondern in mathematisch (more mathematico) abgestützten Beweisgängen. Der Autor griff zwar Probleme der Metaphysik auf, stellte aber die traditionelle Würde des Fachs grundsätzlich nicht in Frage. In der Nova dilucidatio distanzierte sich Kant vom Satz des Widerspruchs als einzigem Grundsatz der Erkenntnis und setzte an dessen Stelle den der Identität, der genau genommen aus zwei grundlegenden Sätzen, dem bejahenden der Identität und dem verneinenden der Nichtidentität, bestehe.49 Sodann wollte er den von Christian Wolff in Abhängigkeit von Leibniz aufgestellten Satz vom zureichenden Grund nicht unverändert übernehmen. Er erhob diesen mit der ihm präziser erscheinenden Begriffsverbindung des bestimmenden Grunds (ratio determinans) im Sinn des Leipziger Philosophieprofessors, Leibniz- und Wolffkritikers Christian August Crusius (1715–1775) zum allgemeinen metaphysischen Prinzip.50 Menschliches Handeln war für Kant ganz entschieden von der Freiheit des Willens sowie einer von unterschiedlichen Bewusstheitsgraden geprägten Intention bestimmt, während Beweggründe, die auf natürliche 48 Stark, Hinweise (wie Anm. 8), S. 122; Brief Kants an Friedrich II. vom 8. April 1756, in: AA 10, S. 3. 49 Kant / Borchard, Nova dilucidatio (wie Anm. 46), S. 408–421. 50 Ebd., S. 423–487, insbesondere S. 426f. (Abgrenzung von Wolffs zureichendem Grund); S. 470f., 494–497 (Crusius); vgl. Hans-Jürgen Engfer, Principium rationis sufficientis, in: Joachim Ritter† / Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 7, Basel 1989, Sp. 1325–1336, hier Sp. 1329. Zu Crusius: Detlef Döring, Der Leipziger Philosoph und Theologe Christian August Crusius in seinen letzten Lebensjahren, in: Leila Kais (Hg.), Das Daedalus-Prinzip. Ein Diskurs zur Montage und Demontage von Ideologien, Steffen Dietzsch zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 409–436. Ferner: Michael H. Walschots, Crusius on Freedom of Will, in: Frank Grunert / Andree Hahmann / Gideon Stiening (Hg.), Christian August Crusius (1715–1775), Philosophy between Reason and Revelation, Berlin, Boston 2021, S. 189–207; Steven Tester, Crusius on Liberty of Indifference and Determinism, in: ebd., S. 229–248. – Zu Kant und Crusius: Gabriel Rivero, Dependence and Obedience. Crusius’ Concept of Obligation and its Influence on Kant’s Moral Philosophy, in: ebd., S. 301–317; Christian Kanzian, Kant und Crusius 1763, in: Kant-Studien 83 (1993), S. 399–407.
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Einflüsse zurückgingen (Begierden), für ihn nicht das gleiche Gewicht hatten.51 Neben der Willensfreiheit thematisierte Kant eine zweite metaphysische Grundfrage, die Existenz Gottes. Er wandelte die leibnizische Lehre der Theodizee in eine von der Möglichkeit menschlicher Selbstbestimmung beherrschte Anthropodizee um und gelangte auf diesem Weg zur Explikation des auf dem Kausalitätsdenken beruhenden Gottesbeweises.52 Die Erörterung der Gottes- und der Freiheitsfrage in der Nova dilucidatio begründete das nahe Verhältnis von Metaphysik, Ethik und Religion, das dann in den Kritiken eine ausführliche, transzendentalphilosophisch abgestützte Behandlung erfuhr. Kant versuchte einerseits Einwänden zuvorzukommen, Opfer des Vorurteils des Neuen und der Respektlosigkeit Autoritäten gegenüber geworden zu sein,53 nahm aber andererseits den Anspruch, neue Erkenntnisse zu vermitteln, sogar in den Titel seiner ersten Qualifikationsschrift auf. Alles machte er von der demonstrativen Beweiskraft der im Einzelnen geleisteten Begründungsarbeit abhängig. An der Position zeitgenössischer Autoritäten (Joachim Georg Darjes)54 übte er bestimmt, aber ohne Polemik Kritik, bekannte sich bald im Grundsätzlichen emphatisch zu Crusius, dessen Annahmen er aber auch nicht durchweg übernahm.55 Zwar wollte er seine Beweisgänge nicht mit rhetorischem Schmuck verzieren, veranschaulichte aber seine Argumentation vereinzelt mit vergleichenden Beispielen, herkömmlichen Metaphern und weiteren rhetorischen Stilmitteln.56 In der Dissertation war er bemüht, sich mit den referierten Posi-
51 Kant / Borchard, Nova dilucidatio (wie Anm. 46), S. 444f. (Crusius wird überschwänglich gelobt); S. 452–469; 472–475. Hinske, Kants Weg (wie Anm. 8), S. 89f. (Akzentuierung der Willensthematik). Crusius identifizierte in seiner pro-loco-Dissertation die Freiheit mit dem Theorem des Gleichgewichts, siehe ders.: Dissertatio philosophica de appetitibus insitis voluntatis humanae (22. September 1742), Leipzig, § LXIX, S. 36f.: »Huiusmodi vero libertas, in qua plenaria aequilibrii in utramque partem indifferentia obtineat, non nisi ibi locum invenit, ubi duae res erga eundem appetitum prorsus similem, quantum nos quidem perspicimus, relationem habent, vel ubi ex obiectis appetituum aeque validorum alterutrum eligendum est. Sed quia in magni momenti rebus verum rationum aequilibrium raro occurrit, ideo prorsus libere eligere tunc metuimus, quo metu moventur aliqui, ut vel sorti obedire, quam libere eligere malint.« 52 Kant / Borchard, Nova dilucidatio (wie Anm. 46), S. 432f., 464–469, 480f. 53 Ebd., S. 406f. (Respekt vor den Verdiensten »berühmter Männer«), S. 444f. (beispielhaft: Rücksichtnahme auf Autoritäten), S. 498f. (Novitätsanspruch). 54 Ebd., S. 444f. (Darjes; 1714–1791). 55 Ebd., vgl. Alois Winter, Seele als Problem in der Transzendentalphilosophie Kants unter besonderer Berücksichtigung des Paralogismus-Kapitels, in: Klaus Kremer (Hg.), Seele, ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person, Leiden, Köln 1984, S. 100–168, insbesondere S. 110f. (Beweise, deren Konklusionen sich gegenseitig widersprechen, obwohl sie keine formalen Fehler enthalten). 56 Kant / Borchard, Nova dilucidatio (wie Anm. 46), S. 406f. (Verzicht auf rhetorischen Schmuck; Kleidmetapher); S. 414f. (Schatz im Acker, in Anlehnung an Äsop), S. 460f. (Kampfmetaphorik im Dialog), S. 472f. (Referenz auf das Bohnenspiel), S. 484f. (emphati-
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tionen auseinanderzusetzen, sich von ihnen abzugrenzen, gleichzeitig für ihn Verwendbares zu übernehmen sowie aus den Resultaten dieser kritisch sichtenden Eklektik konsistente Grundsätze für das von ihm vertretene philosophische Fach abzuleiten. Im Schlussabschnitt der Thesenschrift klingt verhaltener metaphysischer Erkenntnisoptimismus an, der einen mittleren Weg zwischen uneingeschränkter Apologie des Fachs und dessen radikaler Kritik sucht und sich auch für legitimatorische Verbesserungen aufgeschlossen zeigt.57 Die irenische Grundhaltung, zu der sich der Verfasser bereits am Anfang der Thesenschrift bekennt,58 hielt ihn also im Argumentationsprozedere nicht von harten Konfrontationen mit etablierten zeitgenössischen Meinungen ab; er beteuerte aber immer wieder, auf die disputationseigene Gattungsnorm der brevitas Rücksicht zu nehmen.59 Die Vorgaben der wolffschen Philosophie kamen ihm bei der Strukturierung der Dissertation zwar entgegen, wurden aber den Argumentationsbedürfnissen angepasst und um frei gewählte formallogische Textbausteine erweitert. Auf drei Hauptabschnitte (sectiones) werden dreizehn Lehrsätze (propositiones) verteilt, die ihrerseits, der jeweiligen Fragestellung angepasst, unterschiedlich betitelte Erläuterungen (scholia, dilucidationes), Beweise (demonstrationes), Widerlegungen, Folgerungen (corollaria), Zusätze (additamenta) sowie Anwendungen (usus) enthalten und eine logisch strukturierte Gedankenführung ermöglichen. Dieses Gerüst trägt den thematischen Hauptaspekten ebenso Rechnung wie der von Kant eingeflochtene Dialog, der den status controversiae zuspitzt. Das erwähnte Kopenhagener Exemplar der Dissertation enthält elf Seiten handschriftliche Notizen, die wahrscheinlich vom Opponenten Johann Reinhold Grube, dem mutmaßlichen Besitzer des überlieferten Exemplars, stammen und möglicherweise der Vorbereitung der Disputation dienten. (Abb. 3) Jedenfalls wiederholen die handschriftlichen Anmerkungen die Metapher des Kleides der Rhetorik, das der Philosophie ausgezogen werden müsse.60 Immerhin enthält
57 58 59 60
scher Ausruf als Geste von Ablehnung). Kant zog zur Verdeutlichung seiner Beweisgänge nicht ungern rhetorisch-persuasive Register. Ebd,, S. 508f. Ebd., S. 406f. Ebd., S. 407f., 408f., 468f., 492f. Kant / Borchard, Nova dilucidatio (wie Anm. 46, Kopenhagener Exemplar), vgl. Anm. 8. Zur Verwendung von Metaphern durch Kant, unter anderem aus dem semantischen Feld des Kampfs, vgl. Maja Schepelmann, Kants Gesamtwerk in neuer Perspektive, Münster 2017, S. 160, hier auch die Akzentuierung rhetorischer Argumentation in Kants Gesamtwerk. Dass in diesem der personalisierte Dialog nie verwendet werde (ebd., S. 329), trifft, wie gleich gezeigt wird, nicht zu. Gemäß Schepelmann übernimmt der Leser durchgängig die Rolle eines Richters, dessen Einverständnis Kant erstrebe. Ferner David R. Greeves, Kritik der Rhetorik am Ende des 18. Jahrhunderts. Das Verhältnis zwischen Rhetorik und Philosophie bei Kant, Stuttgart 2000, S. 21, wertet die Bedeutung der Rhetorik in den Kritiken auf, indem er die verbreitete, verallgemeinernde Entrhetorisierungsstrategie als Interpretament zurückweist.
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die Thesenschrift eine – natürlich rhetorisch konzipierte – Widmungstafel des Respondenten Christoph Abraham Borchard an den preußischen Feldmarschall Johann von Lehwaldt (1685–1768)), der 1757, im Siebenjährigen Krieg, mit seinem Heer die Ostpreußen gegen die Russen zu verteidigen versuchte. Ferner schob der Verfasser zur besseren Verständlichkeit der Argumentation im Haupttext einen um die Wahrheit ringenden Dialog zwischen den beiden fiktiven Gesprächspartnern Caius und Titius über die Gleichgültigkeit respektive Indifferenz des Willens und dessen bestimmenden Grund in die Dissertation ein.61 Das Gespräch, das grundsätzlich rhetorischer amplificatio zugänglich ist und zudem, in welcher Form auch immer, die mündliche disputatio charakterisiert, war in den frühneuzeitlichen Dissertationen wohl nicht zufällig ein sehr selten eingesetztes Mittel der Veranschaulichung von Streitpunkten. Wie in Dissertationen pro receptione oft üblich, wurden auch in dieser Thesenschrift keine panegyrischen Paratexte in Form von Gratulationen veröffentlicht. Kants Freund Johann Daniel Funk, Doktor und Dozent des Rechts (1721–1764),62 sowie der Rhetorikprofessor Johann Bernhard Hahn (1725–1794), der in der Zeit der Magisterpromotion Kants das Amt des Dekans der philosophischen Fakultät innehatte,63 übernahmen wohl, was ihre auf dem Titelblatt des Kopenhagener Exemplars handschriftlich hinzugefügten bloßen Namen bezeugen, die Rolle außerordentlicher Opponenten. Die neu entdeckte Quelle ermöglicht also, weitere Protagonisten und als relevant betrachtete Argumente kennenzulernen, gewährt aber keinen Einblick in den Ablauf der Disputation. Dieser wurde in der Frühen Neuzeit, anders als in den reportationes im Mittelalter, nur ganz selten schriftlich festgehalten.64
61 Kant / Borchard, Nova delucidatio (wie Anm. 46), S. 455–469. Dieser Dialog verdiente eine detaillierte Analyse, da sich in ihm allgemeine argumentative und ethische Normen der disputatio im Sinn Kants spiegeln. Ebd., S. 472–475, Widerlegung voluntativer Indifferenz. 62 Vgl. Daniel Heinrich Arnoldt, Fortgesetzte Zusätze zu seiner Historie der Königsbergschen Universität, nebst Nachrichten von 311 preußischen Gelehrten, Königsberg 1769, S. 91, sowie Abbildung 1 in diesem Aufsatz: Funck als Respondent einer unter Cölestin Christian Flottwell verteidigten rhetorischen Dissertation. 63 Lebensdaten bei Anette Syndikus, Historia literaria als Propädeutikum an der Königsberger Universität des 18. Jahrhunderts, in: Hanspeter Marti, Manfred Komorowski (Hg.), Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit, unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 379–422, hier S. 420 (Geburtsjahr 1722 [mit Fragezeichen] und 1725 angegeben), zum Einladungsprogramm siehe Anm. 34. 64 Vgl. Martin Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart, Weimar 2007, hier, Kapitel 7, Der ausgescherte Opponent. Akademische Unfälle und Radikalisierung, S. 191–215.; Ulrich Schlegelmilch, Andreas Hiltebrands Protokoll eines Disputationscollegiums zur Physiologie und Pathologie (Leiden 1604), in: Marion Gindhart / Hanspeter Marti / Robert Seidel (Hg.), Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens. Unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach, Köln, Weimar, Wien 2016, S. 49–88.
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Abb. 3: Seite (= eingeschobenes Blatt recto nach Textseite 2) mit handschriftlichen Bemerkungen aus dem Kopenhagener Exemplar von Kants Nova dilucidatio (Königliche Bibliothek Kopenhagen, Signatur: UA ÆS Fls 4°).
In die erste Qualifikationsdissertation nahm Kant Überlegungen auf, die er bereits 1746 in den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte angestellt hatte.65 Diese frühere Publikation war keine Disputationsschrift. 65 Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise derer sich Herr von Leibnitz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen, Königsberg 1746 (Titel der Originalausgabe (A)), in: Kant,
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Manfred Kühn beantwortete in seiner Kantbiographie die Frage, warum der Königsberger Philosoph dieses Werk nicht als Thesenschrift verteidigen ließ, mit der plausiblen Vermutung, dass die dort feststellbare Distanz zur Lehre Knutzens und zu den Pietisten, genauer die von Letzteren abgelehnte Lehre von der prästabilierten Harmonie Leibnizens, der pragmatische Grund gewesen sei.66 Mit der Wahl des Deutschen als Ausgangssprache verstieß die Schrift von vornherein wohl bewusst gegen die in frühneuzeitlichen Dissertationen durchweg streng eingehaltene lateinische Sprachnorm. Denn vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden an der Universität Königsberg, wie anderswo zumeist auch, keine deutschsprachigen Dissertationen akzeptiert. Auch verstieß die Abhandlung über die Kräfte weit eklatanter als die Nova dilucidatio gegen die Gattungsnorm der brevitas.
3.2.
Die zweite Qualifikationsdissertation
Das Titelblatt weist diese Thesenschrift als pro-loco-Dissertation aus und bringt das Einverständnis der Fakultät mit der wiederum vier Stunden dauernden öffentlichen Disputation zum Ausdruck (»consentiente amplissimo philosophorum ordine«). Wie erwähnt, wurde die zweite Qualifikationsschrift am 10. April 1756 unter Kants Vorsitz verteidigt.67 Sie enthält eine gemeinsame Widmungstafel des Präses und des Respondenten an den preußischen Kriegsminister Wilhelm Ludwig von der Groeben (1690–1760), der einst an der Universität Königsberg Jurisprudenz studiert hatte.68 (Abb. 4) Diese Thesenschrift propagiert explizit den Nutzen der Metaphysik,69 der unter Beizug der Mathematik, namentlich der Geometrie, unter Beweis gestellt wird. Auch werden die Darlegungen seltener als in der Nova dilucidatio durch rhetorische Mittel veranschaulicht, die formallogischen Strukturen strenger eingehalten. Daher entfallen die in der ersten Dissertation durch eigenwillige Zwischentitel strukturierten Beweisführungen und Widerlegungen. An ihre Stelle tritt die sinnliche Evidenz abgebildeter geometrischer Figuren, auf die der Text mit erklärenden Verweisen und Erläuterungen rekurriert und die den Nachvollzug der Gedanken erleich-
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Vorkritische Schriften (wie Anm. 46), S. 7–218. Ein Vergleich mit der Nova dilucidatio wäre aus disputationsgeschichtlicher Sicht lohnend. Kühn, Kant (wie Anm. 43), S. 117. Kant / Vogel, Metaphysicae cum geometria (wie Anm. 47). Christian Krollmann, APB 1, Marburg/Lahn 1974, S. 234. Kant / Vogel, Metaphysicae cum geometria (wie Anm. 47), S. 518f., wird der Begriff der Transzendentalphilosophie mit dem der Metaphysik gleichgesetzt, dazu auch Hinske, Kants Weg (wie Anm. 8), S. 43.
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tert.70 Diese machen unter anderem die Unteilbarkeit der Monaden sowie die unendliche Teilbarkeit des Raums, hiermit die Grenzen sinnlicher Wahrnehmung plausibel, die erreicht und sogar überschritten werden.71 Wie die erste Dissertation nimmt auch die zweite mögliche Einwände, allerdings nicht in rhetorisch auflockernder Gesprächsform, vorweg und versucht das eigentlich der mündlichen Disputation vorbehaltene Kontra der Opponenten durch verbindliche Schriftlichkeit zu entkräften. Auch in dieser Thesenschrift wollte sich der Verfasser kurz fassen (brevitas), sah sich aber, wie er bekennt, außerstande, dieser von den Disputationstheoretikern immer wieder eingeschärften Argumentationsnorm zu entsprechen.72 Wiederholt wandte er sich gegen Vorurteile und deren Entstehungsgründe, im Vorspann bereits gegen die Leichtfertigkeit.73 Die von ihm anlässlich seiner Magisterpromotion gehaltene Rede Vom leichtern und vom gründlichern Vortrage der Philosophie, die zu Kants Verhältnis von Ausführlichkeit und Kürze weiteren Aufschluss geben könnte, ist leider nicht überliefert.74 Jedenfalls etablierte Kant in seiner Dissertation ein hohes Reflexionsniveau. Die Protagonisten der disputatio mussten im mündlichen Diskurs anspruchsvolle schriftlich fixierte Überlegungen nachvollziehen, prüfen und der Kritik unterwerfen. Wie zum Beispiel die auch mit mathematischen und anderen Figuren illustrierten astronomischen Dissertationen Erhard Weigels im 17. Jahrhundert75 förderte die mathematisch-demonstrative Behandlung metaphysischer Themen eine verstärkte Verschriftlichung des Disputationswesens. Mit der zunehmenden Auffächerung der Disziplinen der philosophischen Fakultät und der Spezialisierung des Wissens, namentlich nach dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, waren die Protagonisten der traditionellen disputatio, die das 70 Kant, Vorkritische Schriften (wie Anm. 47), Abbildung auf der letzten unpaginierten Seite des Bands. 71 Kant / Vogel, Metaphysicae cum geometria (wie Anm. 47), S. 522f. (Monade als einfache Substanz); S. 524–527, 532f. (Teilbarkeit des Raumes). Zum beiderseitigen Vorurteil der in dieser Dissertation durch Kant vorgestellten Positionen, Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik (wie Anm. 26), S. 120. 72 Kant / Vogel, Metaphysicae cum geometria (wie Anm. 47), S. 518f., 548f. 73 Ebd., S. 516f. (Leichtfertigkeit), S. 532f. (Voreingenommenheit, von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes auf die der Elemente zu schließen »praeconcepta illa, quamvis non satis examinata opinio, ac si divisibilitas spatii, quod elementum occupat, elementi etiam ipsius in partes substantiales divisionem argueret«). Zum Vorurteil der Leichtfertigkeit und Voreiligkeit vgl. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik (wie Anm. 26), S. 295, 307–309 u. Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik (wie Anm. 26). 74 Stark, Hinweise (Anm. 8), S. 121. 75 Vgl. Marion Gindhart, Erhard Weigels pro-loco-Disputation in Jena über den Kometen von 1652. Ein Paradigma für die Polyfunktionalität frühneuzeitlicher Disputationen, in: Reimund B. Sdzuj / Robert Seidel / Bernd Zegowitz (Hg.), Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur. Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag, Wien, Köln, Weimar 2012, S. 482–510.
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Abb. 4: Titelblatt des Erstdrucks von Kants Metaphysicae cum geometria iunctae usus (Universitätsbibliothek Tartu, Signatur: R Mrg 3366a, aus der Bibliothek Karl von Morgensterns, 1770– 1852).
ganze philosophische Spektrum beherrschen sollten, überfordert. Der Übergang von diesem umfassenden philosophischen Lehrpensum zum fakultätsinternen Spezialwissen in den Universitäten deutschsprachiger Länder bleibt im Einzelnen erst noch zu erforschen.
3.3.
Die Inauguraldissertation
Nach der Ernennung zum Professor der Logik und der Metaphysik76 wurde von Kant mit der dritten Dissertation Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen der letzte, von offizieller Stelle allgemein geforderte Qualifikationsnachweis erbracht. Wie gesagt, trägt diese Thesenschrift auf dem Titelblatt den pro-loco-Vermerk und sogar den ausdrücklichen Hinweis auf die erwähnten statutarischen Promotionsbestimmungen (»quam Exigentibus Sta76 Vgl. Anm. 43.
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tutis Academicis«). Auch die traditionelle Widmung einer pro-loco-Dissertation an den preußischen Herrscher ist vorhanden.77 (Abb. 5 u. 6) Kant setzte in ihr den Kampf gegen Vorurteile fort, insbesondere gegen die Neigung zur Bequemlichkeit, die leichtfertiges Philosophieren begünstigt. Und auch in dieser Abhandlung erhob er Novitätsansprüche,78 welche die Philosophiegeschichtsschreibung im Rückblick zumindest teilweise als gerechtfertigt bestätigt. Die Thesenschrift entwickelte ein neues Raum- wie Zeitverständnis, erörtert die Frage nach den 77 Immanuel Kant (Präses), Markus Herz (Respondent), Opponenten: Georg Wilhelm Schreiber, Johann Augustus Stein, Georg Daniel Schroeter, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Dissertatio pro loco […] (21. August 1770) (siehe Abbildung 5). Auf Grundlage des lateinischen Textes der Berliner Akademie-Ausgabe neu übersetzt und mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Klaus Reich, Hamburg 1958; die Widmung an den preußischen König Friedrich den Großen ist in dieser Edition, nach der hier zitiert wird, leider nicht abgedruckt. Sie findet sich aber in Kant, Werke (wie Anm. 46), 5, Schriften zur Metaphysik und Logik. Mit einer Übersetzung von Norbert Hinske, Darmstadt 1975, S. 10f. Zur Überlieferung der Varianten der Erstausgabe mit Standorthinweisen, vgl. Lamarra, Kant-Index (wie Anm. 31), S. XXVI Anm. 29 u. S. XLV. Kants Inauguraldissertation erfuhr von allen seinen Thesenschriften in der Forschung am meisten Beachtung, vgl. die separate Edition von Reich; Hinske, Kants Weg (wie Anm. 8 ), S. 127, lässt mit ihr das separierende Lösungsmodell bzw. die zweite Etappe der Antinomienproblematik beginnen (ebd., S. 109), das er chronologisch vor dem kritischen der Kritik der reinen Vernunft ansiedelt, hier auch die Auseinandersetzung mit Reichs historiographischer Einordnung (S. 97–99); Kevin Chang, Kant’s disputation of 1770, the dissertation and the communication of knowledge in early modern Europe, in: Addendum 01 (Spring 2016), S. 8–12. – Zur wegweisenden Bedeutung und Wirkung der Inauguraldissertation und des Briefwechsels Kants mit Markus Herz bereits Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Darmstadt 1974, S. 123–148 (5. Die Entdeckung des kritischen Grundproblems); Lothar Kreimendahl, Kant – Der Durchbruch von 1769, Köln 1990, sehr ausführlich (S. 213–252), betont den Zwittercharakter der Inauguraldissertation, zählt die Lehre von Raum und Zeit zu den innovativen Lehrstücken, verortet im strengen Dualismus von sinnlicher und Verstandeserkenntnis (S. 228) rationale Defizite, glaubt jedoch, dass die pflichtgemäß verfasste Thesenschrift den damaligen Reflexionsstand Kants unzutreffend wiedergebe (S. 224f.). Dazu die hauptsächlich quellenkritischen Einwände sowie die Aufwertung der kantschen Inauguraldissertation durch Norbert Hinske, Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens. Erwiderung auf Lothar Kreimendahl, in: Robert Theis / Claude Weber (Hg.), De Christian Wolff à Louis Lavelle. Métaphysique et histoire de la philosophie. Recueil en hommage à Jean Ecole à l’occasion de son 75e anniversaire. Von Christian Wolff bis Louis Lavelle. Geschichte der Philosophie und Metaphysik. Festschrift für Jean Ecole zum 75. Geburtstag, Hildesheim, Zürich, New York 1995, S. 102–121. – Erwähnenswert ist Hinskes von mir im Haupttext übernommener Verbesserungsvorschlag der Übersetzung des Dissertationstitels (mit anderem syntaktischem Bezug von »principiis«, ebd., S. 113): »Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen«. Die Thesenschrift sei eine der »gedankenreichsten Abhandlungen in Kants Oeuvre überhaupt« (ebd., S. 112). Irrlitz, Kant-Handbuch (wie Anm. 9), S. 48, nennt sie »den Höhepunkt in Kants analytischer Denkperiode«. Eine im Detail und Fortgang der Paragraphen genaue Interpretation dieser Thesenschrift unter Einbezug der Paratexte steht aus. Ich zähle sie zu den philosophiegeschichtlich wichtigsten frühneuzeitlichen Disputierschriften deutschsprachiger Länder. 78 Kant, De mundi (wie Anm. 77), S. 86f. (explizit); S. 96f. (Novität; Bequemlichkeit, der es an der gründlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand mangelt).
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Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungsurteilen und stellt die rigide Trennung der Welt der Sinne von der des Verstandes respektive der Vernunft unter Beweis.79 Einerseits wird das von den Sinnen wahrgenommene Objekt von dessen »Urbild« streng unterschieden, zum anderen den Sinneseindrücken, beruhend auf den Erkenntnisprinzipien von Raum und Zeit, trotzdem Wahrheitsqualität zugebilligt; Raum- und Zeitstrukturen werden auf erworbene Begriffe des erkennenden Geists zurückgeführt.80 Allein diese kleine Auswahl von Gesichtspunkten begünstigt eine Interpretation, welche in der pro-loco-Dissertation, ohne Differenzen zu verkennen, bereits Hinweise auf die Inhalte der Kritik der reinen Vernunft erkennt. Unabhängig von der Gewichtung des Innovationsgrads bestätigt Kants Inauguraldissertation das meist überdurchschnittliche Niveau frühneuzeitlicher pro-loco-Dissertationen. Immerhin stellt die letzte Thesenschrift des Königsberger Philosophen eine wichtige Zwischenstation in der entstehungsgeschichtlichen Dynamik der als Gedankensystem intendierten kantschen Philosophie dar.81 Kant griff das Problem der Bedingungen menschlichen Urteilens immer wieder auf und versuchte es später mit dem kategorischen Imperativ in der Anwendung auf die Ethik sowie daraufhin in der Kritik der teleologischen und der ästhetischen Urteilskraft immer präziser und umfassender transzendentalphilosophisch zu begründen.82
3.4.
Kurzes Fazit zu Kants Dissertationen
Alle Thesenschriften Kants, insbesondere aber die dritte öffentlich verteidigte Dissertation, verdienen generell Beachtung, weil als Respondenten und Opponenten in den Disputationen fast ausnahmslos Studenten der oberen Fakultäten, vor allem solche der Theologie und Kandidaten der Jurisprudenz, auftraten. Beiläufig hebe ich aus Kants Freundeskreis die Person des Medizin- und Philosophiestudenten Markus Herz (1747–1803) hervor, der zu den seltenen Protagonisten jüdischer Abstammung in frühneuzeitlichen Disputationen überhaupt zählte und dem in der dritten Disputation Kants die Ehre des Respondenten zufiel. Unter den protestantischen Hochschulen deutschsprachiger Länder hatte 79 Ebd., vgl. z. B. die Schlüsselstellen S. 26f., 76f. Dazu Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik (wie Anm. 26), S. 121–123 (zum separierenden Lösungsmodell, vgl. Anm. 77). 80 Kant, De mundi (wie Anm. 77), S. 32f. (Raum und Zeit); S. 26–29, 58f. (erworbene Begriffe); S. 54–57 (Raum); S. 38f., 46–49 (Zeit als formales Erkenntnisprinzip). 81 Zur unterschiedlichen Einschätzung der Qualität der Inauguraldissertation vgl. Anm. 77; für weit weniger bedeutsam (»nicht viel mehr als eine in Eile abgefaßte Universitätsschrift«) hält sie Kühn, Kant (wie Anm. 43), S. 224, der aber gleichzeitig die Vorwegnahme wichtiger Aspekte der kritischen Philosophie anerkennt. 82 Dazu Rainer Enskat, Kant im Kontext. Hauptweg und Nebenwege. Zwei Essays, Freiburg, München 2021, S. 117.
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Abb. 5: Titelblatt eines Erstdrucks von Kants Inauguraldissertation (Nationalbibliothek Warschau, Signatur: SD XVIII.2.3552 adl.).
Abb. 6: Widmung in Kants Inauguraldissertation (gleiches Ex. wie Abb. 5, Rückseite des Titelblatts).
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sich die Universität Königsberg am längsten gegen die Aufnahme und Promotion von Juden zur Wehr gesetzt, bevor 1781 eine Wende eintrat.83 Nicht unerwähnt lasse ich den späteren Kantbiographen Ludwig Ernst Borowski, der auf dem Titelblatt der zweiten Kantdissertation unter den Opponenten an erster Stelle genannt wird. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheinen auf dem Frontispiz regelmäßig deren Namen, eine für die Universität Königsberg typische, im Allgemeinen aber seltene Gepflogenheit. Durch einen königlichen Erlass vom 23. Dezember 1749 wurden nämlich den Königsberger Stipendiaten vor dem Verlassen der Universität Disputationspflichten auferlegt, und es wurde verlangt, dass die Namen der Opponenten auf dem Titelblatt der Dissertationen anzugeben seien.84 Zu den Biographien der Respondenten und Opponenten in der kantschen Dissertationstrias gibt es weiteren Forschungsbedarf. Auch fehlen nach wie vor gründliche Einzeluntersuchungen zu Kants Thesenschriften, z. B. der kommentierende Nachvollzug der Beweise im Einzelnen sowie eine detaillierte Kontextualisierung der Argumentationsgänge. Wie Christian Wolff in den unter seinem Vorsitz verteidigten Dissertationen verzichtet zwar auch Kant in seiner Thesenschrift nicht auf die Nennung von Gewährsleuten, von denen er sich zumeist abgrenzt, nimmt aber in sie keine Autoritätszitate und (außer in der Inauguraldissertation) höchst selten Fußnoten auf. Deren Fehlen weist erneut auf eine Abkehr von rhetorischer amplificatio hin, die vom stringenten Beweisgang nur ablenken würde. Kants philosophische Thesenschriften förderten die steigende Tendenz, das mündliche Streitgespräch durch anspruchsvolle schriftlich niedergelegte Gedankengänge herauszufordern. Nicht zufällig ließ es Kant bei den drei für die akademische Karriere geforderten Disputationsschriften bewenden. Aus seiner Feder folgten ausnahmslos deutschsprachige Abhandlungen, die keine mündliche Verteidigung auf der Basis disputatorischer Gattungsnormen vorsahen und sich damit auch inneruniversitärer Auseinandersetzung, Präsenz und Kontrolle entzogen. Sie richteten sich an eine neue Gruppe von Rezipienten, an Philosophen vom Fach, vor allem außerhalb der Albertina.
83 Manfred Komorowski, Bio-bibliographisches Verzeichnis jüdischer Doktoren im 17. und 18. Jahrhundert, München, London, New York, Paris 1991, S. 8, 63 (Nr. 267); zu Herz ausführlich Dietzsch, Immanuel Kant (wie Anm. 10), S. 133–136. 84 Arnoldt, Zusätze (wie Anm. 36), S. 234. Den Kollatoren hatten die Stipendienbezüger außerdem zu einem festgesetzten Zeitpunkt die erfüllten Disputationspflichten nachzuweisen.
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4.
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Die Logikvorlesungen
Doch die dritte, auf dem Titelblatt ausdrücklich als »pro loco professionis logicae et metaphysicae ordinariae« verteidigte Dissertation bildet, trotz der erwähnten, auf einer verordneten Trias beruhenden Wahl der Textgattung, nicht den Abschluss von Kants Beschäftigung mit der disputatio. Man nimmt an, dass er bereits als magister legens, also seit dem Wintersemester 1755/56, und später als Professor bis im Jahr 1796, dem Ende der Vorlesungstätigkeit, Lehrveranstaltungen zur Logik meist über den 1752 erschienenen Auszug aus der Vernunftlehre Georg Friedrich Meiers (1718–1777) abhielt.85 Nachdem Kant die Professur erlangt hatte, kündigte er solche Einführungen recht regelmäßig an, zum Beispiel im gedruckten Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1776.86 Der Verfasser Meier zählt nur wahrheitsstiftende Beweisgänge zur Vernunftlehre, die er von einer rhetorischen Argumentation abgrenzt, die, statt zu überzeugen, nur überrede.87 Auch zieht er eine strenge Grenze zur Logik der Wahrscheinlichkeit, die er bereits im Einleitungskapitel des Kompendiums nicht zur Vernunftlehre rechnet.88 Hingegen erlaubt er, im logischen Beweisgang »schöne Beispiele« einzustreuen, also durch ästhetische Argumente eine auf den Adressaten angenehm wirkende Gedanken- respektive Beweisführung zu ermöglichen.89 Im dritten Hauptteil des Auszugs finden sich kurze Bemerkungen zur Disputation.90 In der Nachfolge Christian Wolffs plädiert Meier für formale Korrektheit, welche ihm mit der Anwendung von Syllogismen gewährleistet erscheint, lässt die methodus Socratica ausnahmsweise zu und lehnt die platonische 85 Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752. Elfriede Conrad, Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Die Ausarbeitung der Gliederungsentwürfe in den Logikvorlesungen als Auseinandersetzung mit der Tradition, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, hier S. 66 präzise Angaben, auch zur Vorlesung (WS 1755/56 u. SS 1756) über Meiers Grosse Vernunftlehre, die hier unberücksichtigt bleibt. Zu Meiers Vernunftlehren vgl. Riccardo Pozzo, Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung FMDA, Abteilung II: Monographien, 15), Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. 86 Oberhausen / Pozzo, Vorlesungsverzeichnisse (wie Anm. 25), S. 388. Zur Regelmäßigkeit vgl. Anm. 85. 87 Meier, Auszug (wie Anm. 85), § 488, S. 135, ferner §§ 184 u. 185, S. 52. 88 Ebd., § 6, S. 2. 89 Ebd., § 487, S. 135. »Der gelehrte Vortrag wird deutlich: […] 3) Wenn man die abstracte Erkentniß durch schöne Beyspiele erläutert. 4) Man trage eine Sache, wenn sie es ihrer Wichtigkeit wegen verdient, auf eine vielfältige und mannigfaltige Art vor, und man bediene sich der ästhetischen erläuternden Argumente.« Zur Bedeutung der Rhetorik für Meier vgl. Riccardo Pozzo, G. F. Meiers rhetorisierte Logik und die freien Künste, in: Rhetorica 36, Issue 2 (2018), S. 160–178. 90 Meier, Auszug (wie Anm. 85), dritter Hauptteil, dritter Abschnitt, von einer gelehrten Rede, §§ 479–517, S. 133–143.
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rundweg ab. Er unterstellt die Opponenten der Beweispflicht, während er die Respondenten von dieser gänzlich entlastet, da sonst, wie durch die erwähnten Argumentationsformen der beiden Griechen, die Disputation unnötig in die Länge gezogen würde. Die einzige Aufgabe des Respondenten, der im Bedarfsfall vom Präses unterstützt wird, besteht im Nachvollzug sowie in der Überprüfung der vom Kontrahenten vorgebrachten Einwände. Kurze Reden, die anlässlich einer Disputation gehalten werden und ein Gebot des höflichen Umgangs der Teilnehmer untereinander sind, behandelt Meier ausdrücklich nicht in der Vernunftlehre.91 Mit der skizzierten Aufwertung der Opponenten räumte er der mündlichen disputatio den Vorrang ein, während andererseits die Verteidigung der schriftlich formulierten Thesen durch den Respondenten im Disput ganz in den Hintergrund trat. Die Dissertation setzte Meier als Grundlage einer öffentlichen Disputation stillschweigend voraus.92 Der Inhalt von Kants Logikkollegien ist in verschiedenartigen Nach-Schriften überliefert, die den Unterricht natürlich verkürzt und gefiltert wiedergeben. Mit Ausnahme der Vorlesungsnotizen Johann Gottfried Herders (mutmaßlich 1762/ 63 entstanden) sind aus den hier hauptsächlich in Betracht gezogenen Jahren bis 1770 leider keine solchen Aufzeichnungen vorhanden.93 Sie stammen erst aus der Zeit nach der Publikation der Inauguraldissertation. In späten Nachschriften zu den Logikvorlesungen Kants zeigt sich, dass die Referenzen des Vortragenden auf den dritten und den vierten Teil von Meiers Auszug (in diesen Kapiteln wird die Disputation behandelt) sich vermindern.94 Dies ist möglicherweise ein Indiz für die durch Kants Transzendentalphilosophie stark in Frage gestellten Eigenheiten der traditionellen ars disputandi. Kant nahm herkömmliche Begriffe der Dialektik in seine Vorlesungen auf, unter der er einerseits die von ihm abgelehnte Disputierkunst der Sophisten, andererseits die Logik der Wahrscheinlichkeiten verstand. Letztere bildeten für ihn aber nicht den Gegensatz zur Wahrheit, den er mit dem durchweg negativ konnotierten Terminus des Scheins bezeichnete. In den späteren Vorlesungen entwickelte Kant ein eigenes Verständnis von Dialektik, indem er sie einerseits als Inventar der über Inhalte nichts aussagenden formalen Regeln, andererseits als Kritik des transzendentalen Scheins der Vernunft fasste, die davor warnen sollte, Behauptungen über das Ding an sich auf91 Ebd., §§ 514–517, S. 142f.; § 430, S. 118f., wo es nicht um die Disputation geht, äußert Meier allerdings keine Vorbehalte gegen die sokratische Frage-Antwort-Methode und die Übernahme des platonischen Dialogs. 92 Zu Meier allgemein: Gideon Stiening / Frank Grunert (Hg.), Georg Friedrich Meier (1718– 1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit« (Werkprofile, Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts, 7), Berlin, Boston 2015. Die Analyse der Dissertationen Meiers, die generell Beachtung verdienen, ist ein Forschungsdesiderat. 93 Conrad, Kants Logikvorlesungen (wie Anm. 85), S. 60. 94 Riccardo Pozzo, Prejudices and Horizons: G. F. Meier’s Vernunftlehre and its Relation to Kant, in: Journal of the History of Philosophy 43, no. 2 (2005), S. 185–202.
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zustellen.95 Kants Priorisierung der Methodenfrage lässt weitere Aussagen über sein Verhältnis zur Disputation zu, die in die Zuständigkeit der polemischen sowie der skeptischen Methode fallen. Während das polemische Verfahren auf eine Wahrheitserkenntnis hinauslaufe, eine solche vielmehr voraussetze, halte die allein in der Metaphysik anwendbare skeptische Methode die Erkenntnisse der einen wie der dieser entgegengesetzten Position im Status unentscheidbarer Gleich-Gültigkeit.96 In den auf die frühen Siebzigerjahre datierten Logikhandschriften97 – der Logik Philippi und der Logik Blomberg – ist von den Disputationen die Rede, am ausführlichsten in der ersteren, wo die Verteidigung der Thesen in der disputatio im Mittelpunkt der Erörterungen steht und dem Disputieren mit Vorbehalt ein Nutzen konzediert wird. Die Disputation wird hier als »exercitium scholasticum« eingestuft. Nicht zufällig steht daher der bloße Erwerb lateinischer Sprachkompetenz im Vordergrund.98 In der wahrscheinlich in die Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts zu datierenden Nachschrift DohnaWundlacken ist nur sehr kurz von Respondenten und Opponenten die Rede, im Weiteren von der Rolle des Präses und von der unentbehrlichen Anwendung von Syllogismen in der disputatio.99 Allerdings kündigte Kant wiederholt eine nicht näher bestimmte Repetition und Disputationsübung an, so im Sommersemester 1771 für den Mittwoch- und Samstagnachmittag »Ad Exercitationes repetitorias et disputatorias«.100 Direkte Aufzeichnungen zu diesem Unterrichtstypus sind meines Wissens nicht überliefert. Einzig ein Kurzbericht wirft ein Schlaglicht auf eine solche Lehrveranstaltung: »In seinem Disputatorio hatte jemand 1758 die These zum Ventilieren gegeben: ›daß der Umgang überhaupt, auch unter Studierenden besonders mit Grazie verknüpft sein müsse‹. Er [Kant; M.] strich dieses nicht weg; setzte uns 95 Conrad, Kants Logikvorlesungen (wie Anm. 85), S. 106–110 (Disputierkunst; Logik der Wahrscheinlichkeiten); S. 109 (Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Schein); S. 111 (Grenzen der formalen Logik, Abstraktion von den Inhalten); S. 113 (Ablehnung von Aussagen über das Ding an sich, die in der Inauguraldissertation noch enthalten waren). 96 Dazu Norbert Hinske, Kants Glaube an die Macht der Methode. Zum Zusammenhang von dogmatischer, polemischer, skeptischer und kritischer Methode im Denken Kants, in: Christian Böhr / Heinrich P. Delfosse (Hg.), Facetten der Kantforschung. Ein internationaler Querschnitt. Festschrift für Norbert Hinske zum 80. Geburtstag, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 25–36. 97 Umfassend zu den Überlieferungs- und den Datierungsfragen Conrad, Kants Logikvorlesungen (wie Anm. 85), S. 46–61. 98 Immanuel Kant, Vorlesungen über Logik, Erste Hälfte (AA 24), Berlin 1966, mit Bezug auf § 514 des meierschen Auszugs: Logik Blomberg, S. 7–302, hier S. 296; Logik Philippi, S. 303–496, hier S. 490. Zu den beiden Nachschriften auch Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik (wie Anm. 26), S. 96–98. 99 Kant, Vorlesungen (wie Anm. 98), Zweite Hälfte (AA 24), Berlin 1966, Logik DohnaWundlacken, S. 687–784, sehr knapp hier S. 782f. Zur unsicheren Datierung vgl. Conrad, Kants Logikvorlesungen (wie Anm. 85), S. 60. 100 Oberhausen / Pozzo, Vorlesungsverzeichnisse (wie Anm. 25), Teilbd. 2, S. 318.
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aber beim Disputieren mit einer Deutlichkeit und Feinheit, die mir diese Stunde bis jetzt unvergeßlich macht, auseinander, was zu einem Umgang mit Grazie eigentlich gehören könnte; zeigte uns, daß das Wort Höflichkeit eigentlich nur Hofmanieren in Worten und Gebärden bedeute; ermunterte uns zu dem, was man Urbanität nennt, die er der Höflichkeit weit vorzog u.f. Diese Stunde war sehr lehrreich für uns alle und man sah es ihm an, er gefiel sich selbst in jenen Auseinandersetzungen.«101 Kants Ablehnung der traditionellen Dialektik, die er als Kunst scheinhafter Erkenntnis und historisch mit sophistischer Philosophie identifizierte, aus der er aber dennoch erkenntniskritisch Nutzen zog, wurde, wie angedeutet, von der Kantforschung auf der Basis der Logiknachschriften so genau wie möglich rekonstruiert.
5.
Aperçu zur Instrumentalisierung der traditionellen disputatio in den Kritiken
In der Antinomienlehre der Kritik der reinen Vernunft wird die traditionelle Logik in Gestalt der ars disputandi für die Gegenüberstellung von Thesis und Antithesis instrumentalisiert, welche gleichermaßen problematische metaphysische Positionen hinsichtlich der kosmologischen Ideen bzw. der rationalen Kosmologie vertreten. Als theologische Referenzautoren wurden in der Kantforschung der Hallenser Theologieprofessor Paul Anton (1661–1730) und sein Gesinnungsgenosse, der Königsberger Pietist Franz Albert Schultz, bemüht. Obwohl ihr Einfluss in den Werken Kants nicht explizit belegt werden kann, ist vor allem der Schultzens doch sehr wahrscheinlich.102 Beide Pietisten stellten in der kontroverstheologischen Lehre dem Kanon der Rechtgläubigkeit die Glaubensirrtümer der Häretiker im scharfen Kontrast gegenüber. Im Unterschied dazu nutzte Kant in seiner ersten Kritik die Antithetik einander ausschließender herkömmlicher metaphysischer (sprich philosophischer) Positionen dazu, die 101 Immanuel Kant, sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen / Die Biographien von L. E. Borowski / R. B. Jachmann / A. Ch. Wasianski, Berlin 1912, S. 60 (Kantvita Borowskis), auch publiziert in: Immanuel Kant in Rede und Gespräch, hg. und eingeleitet von Rudolf Malter, Hamburg 1990, S. 45f. 102 Dazu Norbert Hinske, Kants Begriff der Antithetik und seine Herkunft aus der protestantischen Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts. Über eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantischen Antinomienlehre, in: Archiv für Begriffsgeschichte XVI (1972), S. 48–59, hier S. 51–54 (Anton), S. 54 (Schultz als Bindeglied zwischen Anton und Kant), S. 55 (Dogmatikvorlesung von Schultz über ›Theologia thetico-antithetica‹ bzw. ›Collegium thetico-polemicum‹). Vgl. Oberhausen / Pozzo, Vorlesungsverzeichnisse (wie Anm. 25), Teilbd. 1, S. 129, z. B. SS 1741 unter dem Titel: »Collegium thetico polemicum et morale«. Zu einer Nachschrift von Schultz’ Vorlesung ausführlich Kreimendahl, Kant (wie Anm. 77), S. 177–181.
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unauflösbaren Widersprüche, die sich aus der harten Gegenüberstellung ergeben, auch druckgraphisch sichtbar zu machen.103 In solche Unvereinbarkeiten verfängt sich nach Kant die Vernunft nämlich dann, wenn sie sich nicht auf Erscheinungen beschränkt und des Dings an sich habhaft zu werden versucht. Indem sie auch nur bestrebt ist, dieses zu fassen, ist die Erkenntnis bereits verloren. Die Antinomienlehre, das Herzstück der Kritik der reinen Vernunft, bildet seit jeher einen Hauptgegenstand der Kantforschung,104 in dessen Umfeld auch die in der ersten Kritik transzendentalphilosophisch geprägte Beurteilung der traditionellen Disputation gehört. In einem ironisch gefärbten Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft bestätigt Kant die epistemologische Überlegenheit des auf die Rollen von Respondent und Opponent gleichmäßig verteilten Attackierens in einer imaginierten traditionellen disputatio.105 Der Erzähler überlässt die Streithähne, die im ergebnislosen Kampf um die metaphysische Wahrheit ihre Kräfte aufzehren und schließlich ermüdet ihre Waffen niederlegen, ihrem Schicksal. Über Sieg oder Niederlage entscheidet nicht – das ohnehin zwecklose – Argument im hin- und herwogenden metaphysischen Pro und Kontra, sondern die reine (formallogische) Strategie, die den Angreifenden stets die Überlegenheit garantiere und den Widerpart zum Geschlagenen mache. Wie die konträren Positionen der Protagonisten beweisen, fehlt es auf keiner Seite an der Konsistenz der Argumentation, sondern es liegt am erkenntnistheoretischen Irrweg, den beide Kontrahenten einschlagen und der sie daher zu gleich fragwürdigen Ergebnissen führt. Sie veranstalten, mit anderen Worten, ein Scheingefecht und tragen im kantschen Sinn einen Meinungsstreit im Schatten des transzendentalen Scheins aus. Kant übernimmt in der Schilderung der als Redeschlacht inszenierten traditionellen disputatio die Rolle des außenstehenden Beobachters, der den sinnlosen Meinungskampf bestenfalls anstieß und die in den Logiknachschriften gepriesene Methode anwendet, »einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht, um endlich zum Vorteile des einen oder des andern Teils zu entscheiden, sondern, um zu 103 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, zweiter Teil, in: Werke (wie Anm. 46), 4, Darmstadt 1975, hier die vier Vernunftantinomien (Gegenüberstellung: Thesis-Antithesis) S. 412–439. 104 In Auswahl Hinske, Kants Weg (wie Anm. 8); Kreimendahl, Kant (wie Anm. 77); Irrlitz, Kant-Handbuch (wie Anm. 9), S. XIX, nimmt sogar an, dass der »Gedanke des ursprünglich antinomischen Charakters des menschlichen Bewusstseins, eines ,Widerstreits der Gesetze (Antinomie) der reinen Vernunft’ selbst und das Problem von dessen Vermeidung […] eine Grundfigur des Kantschen Denkens bilde« (ebd.). Begriffsgeschichtlicher Überblick von Norbert Hinske, Antinomie, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1, Basel, Stuttgart 1971, Sp. 393–396. 105 Kant, Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 103), Transzendentale Dialektik, Die Antinomie der reinen Vernunft, Zweiter Abschnitt, S. 411f.; das Attackieren wird nicht allein dem Opponenten überlassen, sondern das ganze Streitgespräch erscheint hier im Licht von Angriffen beider Protagonisten.
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untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei, wornach jeder vergeblich haschet, und bei welchem er nichts gewinnen kann, wenn ihm gleich gar nicht widerstanden würde, dieses Verfahren, sage ich, kann man die s k e p t i s c h e M e t h o d e nennen«.106 Meier hatte im Auszug aus der Vernunftlehre dem Opponenten eine starke Stellung in der Disputation zugesichert, die traditionelle Disputation als Quelle der Erkenntnis nicht in Frage gestellt, noch weniger die grundsätzlichen Schwierigkeiten thematisiert, metaphysische Fragen überhaupt zu beantworten. Kant dagegen erklärte die bisher positiv konnotierten ontologischen Aussagen der traditionellen Metaphysik durch den Aufweis des transzendentalen Scheins als nichtig und verwies metaphysische Ambitionen in die Schranken der transzendentalen Bedingungen möglicher Erkenntnis. Damit entzog er zum einen den Geltungsansprüchen der ars disputandi in der Metaphysik den Boden, setzte aber andererseits die Regeln der traditionellen Logik nicht einfach außer Kraft, im Gegenteil.107 Ein elementar propädeutischer Nutzen wurde der Syllogistik auch in einer Abhandlung von 1762 zugestanden, obwohl Kant sie bereits damals eher verächtlich zur Athletik der Gelehrten zählte.108 Der kategorische Imperativ, das in der Kritik der praktischen Vernunft etablierte Sittengesetz, das die Antinomienlehre der Kritik der reinen Vernunft begründungstheoretisch aufnimmt, verlegt das moralische Urteil in das Innere des ethisch postulativ mündig erklärten, unter der angenommenen Freiheitsprämisse autonom und daher selbstverantwortlich handelnden, aber auch auf die Mitmenschen bezogenen Subjekts.109 Die Bewunderung des Sternenhimmels und des moralischen Gesetzes, die als Topos in den Katalog weitherum bekannter Lesefrüchte einging, steht im Schlusskapitel der Kritik der praktischen Vernunft im selben antinomischen Kontext.110 Dessen Beweiskraft fand auch Aufnahme in
106 Kant, ebd. Zu dieser Stelle in der Kritik der reinen Vernunft siehe auch Georg W. Bertram, Rhetorik und Argumentation in der Philosophie, in: Andreas Hetzel / Gerald Posselt (Hg.), Handbuch Rhetorik und Philosophie (Handbücher Rhetorik, 9), Berlin, Boston 2017, S. 451–471, hier S. 466f. 107 Conrad, Kants Logikvorlesungen (wie Anm. 85), S. 111. 108 Immanuel Kant, Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, in: Kant, Werke (wie Anm. 46), 2, S. 595–615, hier S. 610: »Es gibt noch eine gewisse andere Brauchbarkeit der Syllogistik, nämlich vermittelst ihrer in einem gelehrten Wortwechsel dem Unbehutsamen den Rang abzulaufen.« 109 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Zweiter Teil, Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft, in: Immanuel Kant, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Erster Teil, (= Kant, Werke [wie Anm. 46]. 6, Darmstadt 1975), S. 105–302, insbesondere S. 220, 234f., 237, 243–249, 281, 299. 110 Ebd., S. 300, vgl. ihre Lokalisierung im eingrenzenden Weder-Noch der transzendentalphilosophisch begründeten Möglichkeit des Erkennens: »Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und
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die Kritik der Urteilskraft, in der sie die Brücke zurück zu den beiden anderen Kritiken schlug.111 In der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft, wo die Antinomie des Geschmacks thematisiert wird, befindet sich die wichtige Stelle, an der das Disputieren über Geschmacksfragen in den Strudel der transzendentalen Dialektik gerät und widersprüchliche Aussagen hervorbringt.112 Auch die Kritik der teleologischen Urteilskraft zieht Nutzen aus der Antinomienlehre.113 Die Relativierung der Geltungsansprüche der traditionellen Logik durch die Transzendentalphilosophie führte aber, noch einmal, nicht zur totalen Verleugnung der traditionellen Logik als propädeutischer Disziplin im akademischen Unterricht, in den Kant zeitlebens letztlich aus Gründen der Selbsterhaltung eingebunden blieb. Aber auch in den Hauptwerken blieb sie vor allem in der Antinomienlehre durchweg als Beweismittel im beschriebenen transzendentalen Dienst präsent.
6.
Kant als Opponent in einer pro-loco-Disputation zur Ästhetik
Kant trat 1777 in der pro-loco-Disputation Johann Gottlieb Kreutzfelds (1745– 1784), der bereits 1776 an der Universität Königsberg die Poetikprofessur übernommen hatte, als außerordentlicher Opponent auf,114 der aber als solcher nicht wie die gewöhnlichen Opponenten auf dem Titelblatt der Dissertation erscheint. Seine Einwände sind in der Universitätsbibliothek Tartu handschriftlich überliefert. Kant führt Sinnestäuschungen auf voreiliges Urteilen, auf drei Arten von Fehlschlüssen, zurück und moniert unter anderem, dass der
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bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.« Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kant, Werke (wie Anm. 46), 8, Darmstadt 1975, S. 171–620, hier S. 447. Ebd., S. 443, hier die Thesis: »Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweise entscheiden)«, und die Antithesis »Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich, ungeachtet der Verschiedenheit desselben, darüber auch nicht einmal streiten (auf die notwendige Einstimmung anderer mit diesem Urteile Anspruch machen).« Ebd., Dialektik der teleologischen Urteilskraft, insbesondere S. 498–503. Kurz zu Kants Verhältnis zur Rhetorik, insbesondere in der Kritik der Urteilskraft, Peter L. Oesterreich, Rhetorik und Philosophie bei Kant, im Deutschen Idealismus und in der Romantik, in: Hetzel / Posselt, Handbuch Rhetorik und Philosophie (wie Anm. 106), S. 169–188, insbesondere S. 171–176. Inwieweit Kants Genieästhetik der Rhetorikgeschichte zugeordnet werden kann, wäre auch im Licht antirhetorischer Konzepte weiter zu diskutieren; mit der ars disputandi als Unterrichtsdisziplin hat das Genie im Sinn Kants wenig am Hut. Vgl. die ausführliche Präsentation der Kreutzfeld-Dissertation durch Reimund B. Sdzuj in: Rhetorik, Poetik und Ästhetik im Bildungssystem des Alten Reiches (wie Anm. 7), S. 527– 535, ebd. auch der Eintrag Sdzujs zur pro-receptione-Dissertation desselben Präses mit dem analogen Titel, ebd., S. 519–526.
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Verfasser in der Dissertation den betrügerischen Schein nicht vom spielenden unterscheide. Transzendentalphilosophische Überlegungen bringt er nicht vor, verneint aber die Notwendigkeit, in der Argumentation hier Syllogismen zu verwenden, und setzt sich gegen eine Gleichsetzung von Dichter und Philosoph zur Wehr. Der Präses bewegte sich thematisch und persönlich im Umfeld von Kants Fakultätskollegen Friedrich Johann Buck, dessen Sohn Karl Wilhelm einer der drei ordentlichen Opponenten war. Karl Ferdinand Nicolai (1752–1802), der dritte Opponent, besuchte Lehrveranstaltungen Kants in Anthropologie und Metaphysik. Hier übernahmen ein Student der Jurisprudenz sowie zwei Theologiestudenten Opponentenrollen, und die Thesenschrift widmete der Präses, wie bei Königsberger pro-loco-Dissertationen üblich, dem preußischen Herrscher, hier König Friedrich II. Ausnahmsweise liegt hier einmal mehr ein schriftliches Zeugnis aus der Feder eines Opponenten vor, das mit der Autorität und dem Ansehen von Kants Person wohl den hohen Stellenwert des Opponierens in der Königsberger Universität bestätigt.
7.
Ausblick
Auch abgesehen vom Auftritt Kants als Opponent in der Kreutzfeld-Disputation läutete die nicht unumstrittene kantsche Transzendentalphilosophie so wenig wie später die humboldtsche Reform und die idealistischen Systeme Fichtes, Schellings sowie Hegels das Ende des universitären Promotionswesens ein, wenngleich dieses zur Hauptsache auf das Rigorosum und auf die vom Promovenden verfasste Dissertation zum Erwerb des Doktorgrads beschränkt blieb. Um noch einmal auf Kant zurückzukommen, sei abschließend ein Blick auf die von ihm jeweils versammelte Tischgemeinschaft gestattet, die außerhalb des offiziellen Lehrbetriebs, aber auch nicht gänzlich unabhängig von diesem, persönliche Begegnungen ermöglichte. Sie holte die Teilnehmer aus der Gefahrenzone transzendentalphilosophischer Vereinsamung heraus, lockerte die Fesseln der universitären Institution und brachte die Beteiligten wohl einander näher als die Einhaltung formallogischer Regeln in den von Kant pflichtschuldigst absolvierten Disputationen.115 Doch dieses Schlaglicht auf die Alltagsgeschichte soll nicht das letzte Wort über die disputatio und über die Konversationsgemeinschaft sein, die sich um und mit Kant versammelte. Dieser widmete dem Tischgespräch sogar in der Kritik der praktischen Vernunft ein freundliches 115 Zur Tischgemeinschaft vgl. Norbert Hinske, Kants »höchstes moralisch-physisches Gut«. Essen und allgemeine Menschenvernunft, in: Klaus Gerteis (Hg.), Alltag in der Zeit der Aufklärung, Hamburg 1991, S. 49–58. Generell zu Kants Alltag die Quellenedition: Immanuel Kant in Rede und Gespräch (wie Anm. 101).
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Wort116 und verband damit die Transzendentalphilosophie mit dem von ihm inaugurierten privaten täglichen Gedankenaustausch, dessen hedonistische Komponente ihm sehr wohl bewusst war. Das Beispiel Kants möge dazu anregen, das Verhältnis weiterer Repräsentanten des frühneuzeitlichen philosophischen Kanons zur Disputation darzustellen und die Disputationsgeschichte um historiographische Facetten zu erweitern. Mehr noch: Die Beziehung der Philosophie zur Rhetorik und dieser zu jener fände in der stärker berücksichtigten Geschichte der (frühneuzeitlichen) Disputation Anhaltspunkte, die verschiedenste Strömungen aktueller Wissenschafts-, Ideologie- und Kulturkritik besser verständlich machten.
116 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 109), S. 289.
Steffen Dietzsch
Königsberg 1789–1799: Der Alltag der Philosophie in Zeiten der Revolution Kein Staat, er sey von welcher Art er wolle, kann ohne Polizey und ohne Gerechtigkeitspflege bestehen.*
Diese erste europäische Revolutionsperiode (1789–1799) sollte auch einen Widerhall in Königsberg finden. Wenn man das auf eine allgemeine Formel bringen wollte, dann ging es hier um den Zusammenhang von Vernunft und Autorität – und es gab Immanuel Kant Gelegenheit über sozusagen eine »vierte Kritik«, eine der Politik nachzudenken. »Man erwartete überdies noch von ihm die vollständige Aufstellung eines Systems der Politik, worauf er theils selbst als öffentlicher Lehrer hingewiesen, theils auch am Ende seiner Vorrede der Rechtslehre hingedeutet hatte«, und später [1801] wurde er »von Dr. Andreas Richter brieflich aufgefordert, ihm die Erlaubnis zur Herausgabe eines Lehrbuchs der Politik nach den Grundsätzen seines Systems zu ertheilen, wenn er selbst nicht mehr daran gedächte, ein eigenes Werk darüber dem Druck zu übergeben«.1 Welche städtische und universitären Dispositionen für so ein Unternehmen hier in Königsberg in Frage kommen könnten, das soll im Folgenden in drei Abschnitten dargestellt werden: 1. Im Hörsaal – Sommer des Aufruhrs? / 2. Widerstand als Recht? / 3. Universität als Republik? ***
* Johann Daniel Metzger, Handbuch der Staatsarzeneykunde, Züllichau 1787, Einleitung, § 1. 1 Friedrich Wilhelm Schubert, Immanuel Kant und seine Stellung zur Politik in der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, in: Friedrich von Raumer (Hg.), Historisches Taschenbuch, 9, Leipzig 1838, S. 533. – Der Brief von Andreas Richter (1764–1837) – mit dem Konzept eines »Grundriß der Politik« – an Kant von 1801 in: Immanuel Kant, Briefwechsel, 3: 1795–1803. Nachträge u. Anhang, AA 12, Berlin 1912, S. 328–31.
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I.
Steffen Dietzsch
Im Hörsaal – Sommer des Aufruhrs?
Von den blutigen Veduten, die im Sommer 1789 in Paris das Jahr I der Freiheit illustrierten, blieb Königsberg am Pregel zunächst verschont. Doch »der Same des Aufruhrs«,2 wie Kant sagt, fand überall mehr oder weniger fruchtbaren Boden. Die neuen Freiheits-Gleichheits-Brüderlichkeits-Erregungen bleiben sowohl in der Stadt als auch in der Königsberger Gelehrtenrepublik – über die Entfernung hin – sehr entspannt und moderat: hier äußert sich das dann in nicht viel mehr als in Diskurs-Quisquilien (die archivalisch als Tumultakten abgelegt wurden); kurzum, hier stürmt nicht die Freiheit (delacroix-malerisch) durch die Gassen, hier kräht allenfalls mal ein gallischer Hahn … Kurzum: Kant erlebt eine gewisse Unruhe unter den Studenten, aber eben mit der »vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen.«3 Drei Beispiele dazu: Wir wissen – zum ersten – von einem Cafehaus-Streit um Kant. Es fing damit an, dass zwei Studenten in einem Königsberger Café-Haus, einer kam von der Mosel, der andere aus Göttingen, sich über die verschiedenen Irrungen und Fehden unsrer modernen Philosophen in die Haare kriegten. Der »Linksrheinische« pries die Kantsche Philosophie über die Maßen, ließ keine Göttingischen Einwände gelten und brach bald in »ein paar beißende Sarkasmen gegen alle Kantischen Gegner, und namentlich gegen die Herren Göttinger aus, mit dem ausdrücklichen Beifügen: Diese hätten sich ›[…] vor den Augen von ganz Deutschland blamirt‹«.4 Da griff ein Berliner Student in den Disput ein, er verteidigte seinen philosophischen Landsmann Mendelssohn gegen die Vermutung, »durch die Kantische Philosophie werde der dogmatisirenden Metaphysik Mendelssohns und seiner Vorgänger zu Grabe geläutet«, und im Übrigen: »Kant ist ein Hochmuths-Narre, der sich gegen alle gescheute Leute aufhält und alles besser wissen will!«5 Das fröhliche »und vice versa« des Rheinländers beendete die erste – verbale – Ebene des Streits. Die Norddeutschen verlangten Genugtuung! Es wurde blank gezogen … und bald war die schönste Paukerei im Gange. Die gewann der rheinische Kantianer. Die Fortsetzung war tags drauf vor dem Universitätsgericht. Der Sieger verteidigte sich mit seiner Pflicht, gerade hier in Königsberg für einen Mann, wie Kant einzustehen! Von den – schlechten – Verlierern hörte man Äußerungen wie, es müsse ja um Kants Philosophie »schief stehen«, »wenn sie nöthig hätte, auf
2 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, AA 7, Berlin 1907–1917, S. 34. 3 Oskar Becker, Dasein und Dawesen, Pfullingen 1963, S. 103. 4 Studenten-Balgerey über die Kantische Philosophie, in: Analekten für Politik, Philosophie und Literatur, Leipzig 1787, S. 133f. 5 Ibid., S. 135.
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solche Weise soutenirt [unterstützt] zu werden«.6 Die Verlierer in der Kneipe siegten vor dem akademischen Senat. Der wehrhafte Kantianer musste in den Universität-Karzer. Er fand sich beileibe nicht damit ab, sondern verfasste in drei Tagen eine Schrift gegen drei der Mitglieder des akademischen Senats – zwei Theologen und ein Philosoph –, denen er Parteiisches unterstellte. Sie hätten nämlich seit Jahr und Tag vom Katheder gegen den besten Denker ihrer Stadt gewettert, weil sie nicht dulden könnten, »daß Kant die Haupt-Stüzzen der Dogmatik und Polemik wegschlage, die Zierde von tausend schönen Demonstrationen […] übersinnlicher Gegenstände für überflüssig oder unstichhaltig darstelle«.7 Oder, 2. ein Streit der Studenten Johannes Wilhelm Pfeiffer, Karl Daniel Hermes und Johann Heinrich Lehmann um einen Platz im Hörsaal Kants. Dennoch wurde das aktenkundig. Der »Tumult« war kaum der Rede wert, aber er fand statt im Hause Kant, und wir befinden uns im Jahr 1792! – Die Studenten sollten bestraft werden, zunächst dachte man immerhin an eine Custodien-Strafe [Gefängnis] von vierzehn Tagen. Die Betroffenen schrieben Bittgesuche nach Berlin. Ihre Gründe betrafen immerhin die Grundfesten ihrer bürgerlichen Existenz. Pfeiffer wurde vom Rektor im Sommersemester, Christian Jacob Kraus, Fachkollege Kants, geraten, sich direkt um Gnade an den König zu wenden. Auch der Akademische Senat unterstützte diese Bitte beim König, um die Strafen in Geldstrafen umzuwandeln. Die Kontrahenten seien inzwischen wieder versöhnt, und einer von ihnen, Pfeiffer, habe ohnehin Königsberg schon verlassen, um in Halle eine Stelle anzutreten. »Wenn nun endlich nach dem Zeugnis unseres zweyten Professoris Theologiae, OberHofPrediger Schulz, Supplicant [der Bittsteller] in der hiesigen Reformirten Kirche bereits gepredigt hat, auch noch izt das Stipendium aus dem hiesigen WaisenHaus geniest, […] so können wir seinem Gesuch um so weniger entgegen seyn, als die von ihm begangene PrivatInjurie sich im Affeckte des Zorns gründete«.8 So wurde schließlich die Strafe umgewandelt, – in eine Geldbuße von 10 thl. – Kant war bei der Sitzung anwesend, auch er unterzeichnete das Schreiben. Schließlich gab es 3. im Herbst 1799 in Königsberg den – misstrauisch beobachteten – Versuch der Gebrüder Böhmer, Goltz, Woÿdke und Gensen, einen studentischen Gesprächskreis zu etablieren. Vielleicht war das nach dem Vorbild des Jenaer Studentenbundes Gesellschaft der freien Männer gedacht, der ebenfalls in dieser Zeit bekannt wurde. Die Königsberger trafen sich immer Samstag beim Gastwirt Krause im Hinterzimmer, »wo sie eine geheime Ordensverbin6 Ibid., S. 138. 7 Studenten-Balgerey (wie Anm. 4), S. 139. 8 Akademischer Senat an den König vom 20. Juni 1792, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, XX. Hauptabteilung, Etatsministerium, 139 j, Nr. 132, fol. 10.
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dung unterhalten«.9 Sie waren also offensichtlich von Anfang an der Obrigkeit bekannt. Und die hatte bereits am 23. Juli 1798 Eine Verordnung wegen Verhütung und Bestrafung der die öffentliche Ruhe störenden Exzesse der Studirenden10 erlassen. Einer der romantischen Akteure, Gensen, erhielt einen diesbezüglichen Avis: »Warnen Sie die Herren die sich vorgenomen Haben morgen ein Fensterschiessen […] anzustellen; Ihr Versamlungs Ort bey Krause ist ausgekundtschaftet, und bereits ein Befehl zu ihrer Aufhebung beym Gouvernement ausgewürkt« – und, um die Dringlichkeit zu betonen: »Cito [geschwind]!«11 Während von Berlin aus darauf gedrungen wird, die inkriminierten Subjekte zu relegieren, ist im Akademischen Senat der Kant-Freund Johann Schulz[e] gelassener. An den Rektor des Wintersemesters (1799/1800) Christoph Friedrich Elsner schreibt er, das alles »sei eine litterärische Gesellschaft zum Nutzen der Philosophie«.12 – Kurze Zeit später – im Wintersemester 1801/1802 – tauchen in Königsberg »aufrührerische Zettel […] des Inhalts Auf, Albertinens Söhne, vertheydigt eure Freyheit.«13 Und 4. sahen allerdings wohl einige von der preußischen Obrigkeit solche studentischen – augenscheinlich frankophilen – Verfehlungen auch in gewisser Weise verursacht durch ihre akademischen Lehrer. Und Kant schien dabei von einer auffällig exemplarischen und anhaltenden Renitenz zu sein. – Natürlich waren die Interessen des Ordinarius Kants auf diese »große Weltbegebenheit« gerichtet, und das dominierte, wie schon Biograph Jachmann bemerkte, alle seine Gespräche, welche »er darüber in allen Gesellschaften mit gleicher Lebhaftigkeit führte. Man sah es ihm an, mit welcher Ungeduld er auf die, jetzt freilich sehr schlecht geratene Auflösung dieses Problems harrte«.14 Und so geriet eben der Republikanismus Kants bisweilen unter Verdacht, – und wie bei jeder Verdächtigung, blieb immer »der Verdacht wie gewöhnlich hie und da haften«.15 Vom Beginn der neunziger Jahre ist ein sozusagen selbstbewusst-republikanischer Akt des couragierten Kants und des Akademischen Senats überliefert. – In der Stadt war es seit einiger Zeit zu Händel zwischen den Studenten und der Garnison gekommen. Da entstand ein Klärungsbedarf, den der Gouverneur der Stadt Königsberg auf seine Weise bewältigen wollte. Er befiehlt kurzerhand und 9 Aktennotiz vom 22. November 1799, in: Archiwum Pan´stwowe w Olsztynie [künftig: APO], 1646, fol. 8. 10 APO, 1647, Kuratorium Nr. 251, fol. 4–9. 11 Denunziationszettel für Gensen, in: APO, 1646, fol. 17. 12 Johann Schultz an Christoph Friedrich Elsner vom 16. Dezember 1799, ebd., fol. 42/43. 13 Rektor Johann Daniel Metzger an den König vom 13. Februar 1802, in: APO, 1647, Kuratorium, Nr. 251, fol. 81. 14 Jachmann in: Hermann Schwarz (Hg.), Immanuel Kant. Ein Lebensbild nach Darstellung der Zeitgenossen Borowski, Jachmann, Wasianski, Halle 1907, S. 187. 15 Schubert (wie Anm. 1), S. 560.
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terminlich wie terminologisch etwas unbeholfen: »Die respectiven Mitglieder eines hiesigen Hochweisen und Wohllöbl. Academischen Senats, werden hiedurch ersucht, Morgen Montag des 24ten d. Monats des Morgens um 8 Uhr auf dem hiesigen Gouvernement am Roßgärtner Markt zu erscheinen.«16 Dieser Befehl war nicht nur wegen der Kürze des angesetzten Treffens – das für selbstverständlich immer bereite Militärpersonen gemacht schien – ein Skandal, er setzte sich auch über alle Normen des Umgangs mit einer immerhin juridisch autonomen Anstalt, wie es die Universität war, hinweg. Keine Frage, der derzeitige Hausherr im Großen Jägerhof – der alten Regimentskaserne – am Roßgärtner Markt, der General Graf Victor Amadeus Henkel-von Donnersmarck (1727–1793), war ein tapferer Kriegsmann, er war – seit 1789 – General-Inspekteur der Ostpreußischen Infanterie, Ritter der St. Johanniter Malteser und sogar Träger des Ordens Pour le Merite. – Aber hier hat er sich gravierend in seiner Kompetenz und vor allem im Stil vergriffen. Auch schien er keine Vorstellungen zu haben, was es bedeutetet, wenn Montagmorgen fast ein Dutzende Ordinarien von ihren Vorlesungen fernbleiben sollten. – Jedenfalls entschieden sich die Professoren ebenso postwendend, dass sie dieser Einberufung nicht folgen werden. Insgesamt blieb bei allem Hin und Her der ostpreußische Landfrieden erhalten. In der Präfatio zum Vorlesungsverzeichnis für das SS 1791 [diese Praefaciones stammen – jedenfalls in Königsberg – wohl vom jeweiligen PhilosophieDekan] gibt der akademische Senat den Studenten zu bedenken, wie sicher wir doch »vor jener Wildheit der Bürger« gelebt hätten, und, was allerdings zu beklagen sei, nämlich: »sogar zu den erhabenen Plätzen der Wissenschaft und jeglicher Bildung, zu den ehrwürdigen Heiligtümern der Musen, von denen Frechheit und Gewalt möglichst weit entfernt sein sollte, hat sich die frevelhafte Verwegenheit vorgewagt. Wer hat denn nicht von den Unruhen hier, den grausamen Schicksalsschlägen da gehört?«17
II.
Widerstand als Recht?
Dass jener 14. Juli 1789 nicht nur in der Stadtgeschichte von Paris in Erinnerung bleiben würde, war Kant sofort klar; fünf Wochen später stellen sich ihm jene Ereignisse so dar, dass sie »für Despoten in der jetzigen Crisis von Europa von großer Wirkung seyn muß«.18 Und mancher in der Königsberger Stadtgemein16 General Graf v. Henkel an den Akademischen Senat vom 23. Oktober 1791, in: APO, 1647, Kuratorium, Nr. 481, fol. 9. 17 Praefatio zum Vorlesungsverzeichnis SS 1791 der Albertina, in: Steffen Dietzsch, Immanuel Kant. Eine Biographie, Leipzig 2003, Anhang, S. 307. 18 Kant an Jacobi, vom 30. August 1789, Briefwechsel II: 1789–1794, AA 11, Berlin 1900, S. 75.
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schaft bemerkte dann auch eine verdächtige Nähe des Philosophieprofessors Kant zur, wie Lichtenberg das genannt hat, neufränkischen Experimentalpolitik. So erinnerte sich beispielsweise sein alter Senats-Kontrahent Metzger (in einer Memorialschrift aus Kants Todesjahr) an einen spezifischen Eigensinn des Kollegen: Unter diesen Eigenheiten war auch zu rechnen »die Freymüthigkeit und Unerschrockenheit, mit welcher Kant seine der französischen Revolution viele Jahre hindurch […] günstigen Grundsätze gegen jedermann, auch gegen Männer der höchsten Würden im Staat verfocht. Es war eine Zeit in Königsberg, wo jeder, der von der französischen Revolution nicht etwa günstig, sondern nur glimpflich urtheilte, unter den Namen eines Jacobiners in schwarze Register kam. Kant ließ sich dadurch nicht abschrecken, an den vornehmsten Tafeln der Revolution das Wort zu reden, und man hatte so viel Achtung für den sonst so sehr geschätzten Mann, ihm diese Gesinnung zu gute zu halten.«19 Allerdings sah sich Kant auch von einer Mehrheit von Kollegen umgeben, die, wie er im »Streit der Fakultäten« schrieb, »von dem verschrieenen Freiheitsgeist der Vernunft und Philosophie noch nicht angesteckt«20 wurden. Gegenüber dem Berliner Redakteur Biester musste er sogar das »mir unwahrscheinliche« Gerücht zerstreuen, »als hätten Sie sich sehr günstig über die mir immer ekelhafter werdende französische Revoluzion erklärt, worin doch die eigentliche Freiheit der Vernunft u. die Moralität u. alle weise Staatskunst u. Gesetzgebung auf das schändlichste mit den Füssen getreten werden, – und welche selbst […] den Begriff einer bürgerlichen Verfassung auf das gröbste verletzet u. aufhebt«.21 Kant prinzipielle Haltung zu politischen Umwälzungen überhaupt kommt in einer Nachlass-Notiz zum Ausdruck – er war der Überzeugung: »Auf die Rechte der Menschen kommt mehr an, als auf die Ordnung (und Ruhe). Es läßt sich große Ordnung und ruhe bey allgemeiner Unterdrükung stiften. und Unruhen im gemeinen Wesen, welche aus der Rechtsbegierde entspringen, gehen vorüber.«22 Denn es geht letztlich um eine Polis, die »nach inneren Rechtsprincipien im Menschengeschlechte vereinigt«,23 zu organisieren wäre. Und gerade dazu erhebt sich aus Königsberger Sicht dann die Frage: Ob man die »Revolution der Denkungsart« (die von hier ausging) mit einem »Recht auf Revolution« verbinden könne? – Dass hier nicht einfach eine implikative Logik am Werke sein wird, war Kant natürlich klar – denn durch Revolutionen, so Kant, kann »vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und ge-
19 [Johann Daniel Metzger], Aeußerungen über Kant, seinen Charakter und seine Meinungen. Von einem billigen Verehrer seiner Verdienste, o.O. [Königsberg] 1804, S. 15f. 20 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 24. 21 Biester an Kant vom 5. Oktober 1793, Briefwechsel (wie Anm. 18), S. 456. 22 Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie, AA 15,2,2, Berlin 1923, Refl.Nr. 1404, S. 612. 23 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 88.
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winnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen«.24 Ideen und Affekte zum politischen Widerstand wurden in den zeitgenössischen Naturrechtslehren immer auf den Zusammenhang von Pflichten und Rechten eingehegt und kodifiziert; so etwa bei Pufendorf, als er betonte, es sei ja immerhin »die hohe Staatsgewalt noch mit dem Charakter einer sonderbahren Hochachtung versehen / dersgestalt daß es nicht allein das grosseste Unrecht ist / wenn man sich ihren rechtmaessigen Befehlen widersetzet /sondern wenn auch die Unterthanen ihre Strengigkeit nicht eben mit […] Geduld [wie Eltern gegenüber ihren Kindern] ertragen«.25 Aber jetzt, Ende der Achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts, schien die LebensLage der Untertanen in einen katastrophalen Wirbel zu geraten, die nicht nur den natürlichen, klimatischen oder epidemischen Unwägbarkeiten ihrer Lebensumstände zuzuschreiben wäre, sondern im selbstherrlichen Mutwillen der Oberschicht begründet schienen. Jetzt konnte ein Entschluss zur Revolution, namentlich aus französischer Sicht, einen besonders legitimen Grund beanspruchen. Der hat einen Namen: La Grande Peur,26 die Große Furcht. Was heißt das? Jetzt, im Sommer 1789 habe die Aristokratie »die Hoffnung verloren […] die Erneuerung des Staates und die Festigung der Freiheit durch den Einsatz von despotischer [d.i. institutioneller] Gewalt verhindern [zu können] – [und so] scheinen sie den verbrecherischen Plan gefasst zu haben, über den Weg der Unordnung und Anarchie zum selben Ziel zu gelangen«.27 – Noch in der Rezension von Kants »Ewigen Frieden« (im Le Moniteur, Anfang Januar 1796) wurde Aufruhr legitimiert, »die die Laster des Ancien Régime in Frankreich musste geschehen lassen«.28 In der Alltagskommunikation des »Dritten Stands« stellte sich jene »Große Furcht« dann so dar, dass – eine frühe Verschwörungserzählung! – die Herrschenden mit krimineller Militanz unterwegs wären, dem Volk die Basis ihrer Selbsterhaltung (Nahrung, Umwelt, Gemeinschaft) planvoll zu zerstören. – Und gegen diese singuläre Bedrohung des Lebens selber sei Widerstand sozusagen naturrechtlich allemal geboten. Zumal dieser Widerstand jetzt über Sein oder 24 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? AA 8, Berlin 1923, S. 36. 25 Samuel Pufendorf, De officio, hg. v. Gerald Hartung, Berlin 1997, 9. Kap. (Von den vornehmsten Eigenschafften der buergerlichen Staatsgewalt), S. 207. 26 Vgl. Georges Lefébvre, La Grande Peur de 1789, Paris 1932 (2. Aufl. 1970). 27 Proklamation der Nationalversammlung, Paris, 10. August 1789, zit. nach: Walter Markov, Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789–1799, 1: Aussagen und Analysen, Leipzig 1982, S. 93. – Und: Die »Große Furcht« im Soissonnais, 28. Juli 1789, in: ebd., 2: Gesprochenes und Geschriebenes, Leipzig 1982, Nr. 24, S. 90–92. 28 Rezension zu Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796–1800, hg. v. Steffen Dietzsch, Leipzig 1984, S. 63. – Der Rezensent war Ludwig Ferdinand Huber (1764–1804).
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Nichtsein der Untertanen existentiell entscheiden würde; jetzt sollte nicht nur ein korrupter Verwaltungsapparat beseitigt werden, sondern »der dritte Stand« (das Volk) schien sich seiner Vernichtung selber erwehren zu müssen. Müsste man diesen Widerstand nun nicht gerade erst recht einen juridischen Modus geben? Das wäre für Kant aber doppelt verfehlt, denn das tauge – als dann legitimierte Gewalt – weder für eine vernünftige Praxis und es ist auch in der Theorie falsch; falsch, weil dadurch »das Recht« als Rechtsquelle selber unbrauchbar gemacht würde (so wie ein Recht auf Lüge das Recht unbrauchbar macht). »Hieraus folgt: daß alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung […], aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist; weil es dessen Grundfeste zerstört.«29 Darin aber liegt für Kant eine zivilisatorische Gefahr – warum? Kant will nur den widerspruchsvollen – sogar paradoxen! – und rechtsfernen Sinn des Umsturzes publik machen. Kant will dem Umstürzler nur zu bedenken geben, dass er etwas Paradoxes will: nämlich ein Recht, um das Recht abzuschaffen. Das aber ist, wenn es so etwas wie Vernunft gibt, vernunftwidrig. Es wäre – juristisch gesprochen – legis corruptio. Eben darum, weil, wie Kant erläutert, »einen fehlerhaft und rechtswiedrig eingerichteten Staat durch Revolution umformen zu wollen [dann] derselbe gänzlich in Anarchie aufgelöst zu werden Gefahr läuft«.30 Die praktische Folge ist dann – menschenfreundlich hin oder her – die Rückverwandlung des menschlichen Zusammenlebens aus einem (wenn auch dürftigen) Rechtszustand in den Naturzustand. Das aber ist eben der »Zustand der Rechtlosigkeit«,31 in dem sich dann naturwüchsig eine Gewaltkultur der verschiedenen (politischen, religiösen oder anderer) Gemeinschaften, Clans oder Milizen untereinander und gegeneinander Platz schaffen würde – eben, »weil die entgegengesetzten Parteien mehr mit Leidenschafft als mit der Vernunft streiten«.32 Denn deren interne Verhaltensregeln (auch wenn sie die vielleicht charismatischen oder religiösen Schriften entlehnen) entbehren das Entscheidende, die diese Verhaltensvorschriften erst zu »Recht« werden lassen könnten: ihre konfessionell, ethnisch, aber auch sozial neutrale Allgemeingültigkeit, d. h. ihre allen unter-
29 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA 8, Berlin 1923, S. 299. 30 Immanuel Kant, Vorarbeiten und Nachträge, AA 23, Berlin 1955, S. 183. 31 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA 6, Berlin 1914, S. 312. – Vgl. dazu: Horst Gebhardt, Liberté, Égalité, Brutalité. Gewaltgeschichte der Französischen Revolution, Augsburg 2011; Hans-Jürgen Schings, Revolutionsetüden, Würzburg 2012. 32 Dreißig Revolutions-Aphorismen, in: Neuer Niedersächsischer Merkur als Beylage zum Neuen Grauen Ungeheuer, Upsala [d.i. Altona] 1799, Heft 2, S. 103.
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schiedlich Verschiedenen in der Gesellschaft zumutbare (weil Selbsterhaltung fördernde) Verbindlichkeit. Kant zeigt dem Revolutionär einen schmalen Ausweg. Der kann sich nämlich legitimieren, aber nur dann, wenn er eines schafft: nämlich auf einen Zustand hinzuwirken, ihn herzustellen, »wo es auf das Heiligste, was unter Menschen nur sein kann (aufs Recht des Menschen) ankommt«.33 – Und so bestimmt Kant dann sein allgemeines Rechtsgesetz: »Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.«34 Dieser Begriff des Rechts »geht gänzlich aus dem Begriff der Freiheit im äußerlichen Verhältnis der Menschen zueinander hervor und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicherweise haben und […] der Mittel dazu zu gelangen zu thun«.35 Das übrigens ist inhaltlich identisch mit dem Artikel 4 der universellen »Erklärung der Rechte des Menschen und der Bürger« vom 26. August 1789 (aus Paris). – dadurch war es auch von Königsberg her möglich, den Menschen neu zu bestimmen als citoyen du monde. Damit war Kant vielen Zeitgenossen geistig weit voraus – so seinem alten Amanuensis Herder mit seinem Seufzer: »Und nun die Philosophen mit ihrer Alleweltsbürgerschaft, die nirgends zu Hause ist?«36 – oder auch Abbé Barruels Klage gegen Kants »Mysterien seines sogenannten Kosmopolitismus«.37 Diese in der Französischen Revolution sichtbar gewordene moralische Anlage unserer Gattung – das universelle, säkulare und formale Recht als Lebensform – sieht Kant eben in der neuen Citoyen-Verfassung, die vernünftigerweise keine andere Form als »die republicanische«38 haben kann – also Gewaltenteilung als neuer Herrschaftsalltag. Diese argumentative Rede Kants gegen undefinierte Rechtsformen der (Gegen)Gewalt war es dann auch, die ein jakobinisches Verdikt gegen das Gewicht der Philosophie als Theorie für (Welt)Veränderungspraktiken zur Folge hatte – wie etwa die Meinung des deutschen Jakobiners Georg Kerner, der (in seinem fünften Brief aus Paris, April 1795) schrieb: es seien »alle Philosophen von Plato bis auf Kant und Sieyès als Träumer auf ewig aus dem Reich der praktischen Politik und Gesetzgebung verbannt, der Philosophie selbst aber alle Greuel und
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Kant, Metaphysik (wie Anm. 31), S. 304. Ebd., S. 231. Kant, Gemeinspruch (wie Anm. 29), S. 289. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, hg. v. Johann von Müller, Tübingen 1810, Eilfter Theil, S. 184. 37 Augustin Barruel, Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus, 1, Hannover 1800. 38 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 85.
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Übel aufgebürdet, die die Dummheit, die Feigheit und die Verdorbenheit erzeugt haben«.39 Die Revolution kann für Kant also nicht, wie noch für den deutschen Jakobiner Georg Forster, »anzusehen [sein] als ein Werk der Gerechtigkeit der Natur«40 [also gewissermaßen »objektivistisch«]. Sie ist aber auch nicht einfach ein gerechtes Ziel politischen Handelns. In einer Vorarbeit, dem sog. »Krakauer Fragment«, markiert Kant die Asymmetrie von Recht und Politik: »Die Politik dem Recht zu accomodiren ist gut und nützlich, aber umgekehrt falsch und abscheulich. Das gefährlichste aller Experimente ist die gewaltsame Veränderung oder vielmehr Umwandlung der Staatsverfassung.«41 Eine Revolution mag nun – nolens volens – »eine moralische Anlage im Menschengeschlecht«42 bezeugen – aber dennoch bleibt als ein überzeitlicher Befund Kants zur Empirie allen Umsturzes: »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde.«43
III.
Die Universität als Republik?
Aber einige neue republikanische Grundprinzipien der französischen Revolution sollten für den Königsberger Universitätsbetrieb relevant werden. Als Kant nach langer Erfahrung mit der Universität den Zustand seiner Gelehrtenrepublik – das gelehrte gemeine Wesen44 – bedenkt, so bemerkt er strukturelle Konflikte zwischen den drei Fakultäten, die mit Erkenntnissen haushalten und der Fakultät, die Erkenntnisse prüft, – technisch gesprochen zwischen Interessen und Wahrheit, zwischen Verstand und Vernunft. Dass man mit der (Lehr)Freiheit der Philosophischen Fakultät auch in jener Zeit obrigkeitlich aber seine Probleme haben könnte, machte einmal eine (Göttinger) Universitätsschrift – von Johann David Michaelis – deutlich, in der 39 Georg Kerner, Jakobiner und Armenarzt, Reisebriefe, Berichte, Lebenszeugnisse, hg. v. Hedwig Voigt, Berlin 1978, S. 174. 40 Johann Wilhelm von Archenholtz (Hg.), Annalen der brittischen Geschichte, 5, Karlsruhe 1791, S. 242. 41 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, hg. v. Steffen Dietzsch, Leipzig 1992, Anhang, S. 117. 42 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 85. 43 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 85. 44 Ebd., S. 19.
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gewarnt wird, »dass es doch wirklich in der Philosophie so gefährliche Lehren geben kann, dass man einem Professor, der in einer andern Facultät sehr brauchbar ist, nicht immer gestatten kann, seine philosophischen Lehren früh der unprüfenden Jugend einzuflößen«.45 Das kritische Potential der herkömmlichen Universität war schon strukturell eingehegt (beschränkt) durch die Fakultätsgliederung: drei »obere« Fakultäten (Theologie, Recht, Medizin) und die philosophische als »untere«. Schon Christian Wolff betonte (1729) in seinem Aufsatz »In wie ferne die Philosophie keine Magd sei«, dass sich die Philosophie freizumachen habe von ihrer traditionell dienenden Rolle und vielmehr jetzt sozusagen die Fackel voranzutragen und so für Erleuchtung auf den Denkwegen der anderen Fakultäten zu sorgen hätte. – Kurzum, daß also »der Grund irrig seye, warum die philosophische Facultät, in Absicht auf die höhern, die niedrige genennet wird«.46 Und daraus folgen Probleme mit der überkommenen Fakultätsgliederung der Universität: »Die 3 oberen [Fakultäten] suchen alle die untere in Mißcredit zu bringen – die erste durch vorgespiegelten Frevel gegen heilige Lehren, die zweyte durch Angriffe gegen Majestätsvorrechte oder Vorzug des Empirismus in der Staatserrichtung […] die dritte durch den Vorzug des Tappens der unmittelbaren Erfahrung des Arztes vor dem Naturkenner. Und nennen die Philosophen Theoristen, sich selbst aber practische Gelehrte.«47 Die unvermeidliche Folge im wissenschaftsalltäglichen Auf und Ab war dann die deutungs-politische Konkurrenz der Fakultäten untereinander: »Bald verschluckte die dialectic, bald die Theologie, bald moral, bald Gesetzgebung alles.«48 Aber Philosophie, so Kant, sei doch gerade »in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig, (hat) keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen die Freiheit«.49 Kant sah jedenfalls, dass es damit zwischen der Philosophischen Fakultät und den, wie er sagt, »Geschäftsleuten jener oberen Fakultäten«50 als »Werkzeuge« jeder Regierung bald schon zu einem kommunikativen Problem kommen muss, da sich beide in Ansehung der Wahrheitsfrage auf ganz unterschiedlichen Positionen befinden. Kant nennt den so anhebenden Streit der Fakultäten dann auch einen gesetzmäßigen Streit, der die Verkehrsform an der Universität bleiben wird. Kant überlegt nun zunächst, die herkömmliche Hierarchie der Fakultäten einfach umzudrehen und die Untere Fakultät zur Obersten zu machen, – eben, 45 [Johann David Michaelis], Raisonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland, Zweiter Theil, Frankfurt / Leipzig 1770, S. 15f. 46 Christian Wolff, Gesammelte kleine philosophische Schriften, Halle 1737, S. 71. 47 Immanuel Kant, Nachlass, AA 23, Berlin 1955, S. 427. 48 Ebd., S. 953. 49 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 19f. 50 Ebd., S. 28.
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um mindestens administrativ zu gewährleisten, »alles der Gesetzgebung der Vernunft zu unterwerfen«.51 Aber er vermeidet es, in der alten Rangordnung der Fakultäten alles nur sozusagen vom Untersten zum Obersten umzukehren, – denn, wie er an anderer Stelle zu bedenken gibt, »dass Philosophen Könige würden [oder vice versa – St. D.], ist nicht zu erwarten aber auch nicht zu wünschen, weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt«.52 Um diese Konsequenz zu vermeiden, bemüht Kant nun philosophisch sozusagen die Denkfigur »des Dritten«, – jenseits von Unterordnung oder Überordnung einer Fakultät. Kant überlegt, ob man die Gelehrtenrepublik nicht gewissermaßen republikanisch reorganisieren sollte? Dieses Modell aus der neuen politischen Welt (aus Paris), d. h. die Gewaltenteilung von Legislative und Exekutive im neuen republikanischen Staat, sollte auch im Reich des Geistes – in der Gelehrtenrepublik – ihren produktiven Sinn beweisen dürfen. Nämlich wie dort legislative und exekutive Funktionen regelbestimmt miteinander umgehen, so sollen hier Vernunft (das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien) und Verstand (das Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittels Regeln) in einen wohldefinierten Diskurs eintreten. Für die Gelehrtenrepublik – da es hier, anders als in der Politik, nicht um Kompromiss, sondern um Wahrheit geht – besteht Kant allerdings auf einem Rechtsvorbehalt: »Streit kann und soll nicht durch friedliche Übereinkunft (amicabilis compositio) beigelegt werden, sondern bedarf (als Proceß) einer Sentenz, d.i. des rechtskräftigen Spruches eines Richters (der Vernunft).«53 – Denn im Mäandern der Interessen sollte die Universität doch die zentrale Idee ihres Selbstverständnisses nicht vergessen, die gerade von der kritischen Philosophie zu gestalten wäre – nämlich, wie Kant einmal an Johann Bernoulli schreibt (am 16. November 1781), immer wieder in den Wissenschaften »einen sicheren Probierstein der Wahrheit und des Scheins«54 zu konstruieren. Die Idee der Universität als Mittelpunkt des geistigen Lebens einer Nation – sozusagen als »die Pflanzschule für den mündig gewordenen, für den freien Bürger im Staat und in der Kirche«,55 erfordert gerade von der Philosophischen Fakultät dreierlei: freie Forschung, Öffentlichkeit und zensurfreie Publizistik. 51 Immanuel Kant, Ungedruckte Vorarbeit zur Einleitung des ›Streit der Fakultäten‹, in: Bayerische Staatsbibliothek, München, Kantiana, Hagen 23, zit. nach: Reinhard Brandt, Zum ›Streit der Fakultäten‹, in: Reinhard Brandt / Werner Stark (Hg.), Kant-Forschungen, 1, Hamburg 1987, S. 31. 52 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, AA 8, Berlin 1923, S. 369. 53 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 33. 54 Immanuel Kant an Johann Bernoulli vom 16. November 1781, AA 10, S. 277. 55 Alexander Jung, Die Universität und das freie Bürgerthum, in: Königsberger Literatur-Blatt 3 (1844), Nr. 68, vom 24. August 1844, S. 540.
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Also: Die Fakultätsordnung wird jetzt als parlamentarisch verfasst gedacht: »Die Classe der obern Facultäten (als die rechte Seite des Parlaments der Gelahrtheit) verteidigt die Statute der Regierung, indessen daß es in einer so freien Verfassung, als die sein muß, wo es um Wahrheit zu thun ist, auch eine Oppositionspartei (die linke Seite) geben muß, welche die Bank der philosophischen Facultät ist, weil ohne deren strenge Prüfung und Einwürfe die Regierung von dem, was ihr selbst ersprießlich oder nachtheilig sein dürfte, nicht hinreichend belehrt werden würde.«56 – Das ist dann das konsequente letzte Wort der kritischen Revolution der Denkungsart und es wird von Kants in Bezug auf die Gelehrtenrepublik einprägsam mit einer ganz neuen – politischen – Metapher aus der parlamentarischen Alltagskultur in der benachbarten französischen Republik verdeutlicht. Dieses Rechts-Links-Konzept wurde mit der französischen Revolution für die politische Ordnung entworfen: »die konservative Rechte ist auf den Erhalt des Lehrbestands, die progressive Linke auf ›den Fortschritt der Einsichten und Wissenschaften‹ [Kant] bedacht«.57 Aber Kant hat damit nicht bloß eine neue (politische) Verwaltungstechnik aufgegriffen; vielmehr hat diese »Rechts-Links«-Struktur auch eine anthropologische Disposition. Insofern nämlich, als das »auf unseren Körper und seine Orientierung im Raum bezogen ist«,58 – insofern würde das einer Pragmatischen Anthropologisierung jener Polis der Vernunft zur Folge haben können – um den Kantischen Titel seiner jährlichen großen Vorlesung in Königsberg zu assoziieren. Dass Philosophie in dieser Polis der Vernunft »links« verortet wird, bedeutet natürlich nicht wieder eine (womöglich politische) Suprematie dieses Fachs, sondern verweist auf die ihr zentrale innere Mobilität, die – wie durch die parlamentarische Kritik – im universitären Zusammenwirken auch die Stabilität der drei (ehemals »oberen«) Fakultäten unterstützt, verändert und auf den Menschen hin konzentriert. Allerdings: Kants Universitätsidee aus dem Geist des Parlamentarismus bleibt bloß ein temporärer Einfall innerhalb der Königsberger Gelehrtenrepublik – sie kann auch de facto nicht umgesetzt werden, als dann (nach Kants Tod) dem preußischen König die Funktion der Magnifizenz übertragen und dem dann aus dem akademischen Senat lediglich ein (geschäftsführender) Prorektor zugeordnet wird. Auch später bei der Gründung der neuen Berliner Universität wird dann die traditionelle Fakultätsstruktur wieder hergestellt.
56 Kant, Streit (wie Anm. 2), S. 35. 57 Reinhard Brandt, Die politische Institution bei Kant, in: Gerhard Göhler / Kurt Lenk u. a. (Hg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1990, S. 350. 58 Reinhard Brandt, Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants ›Streit der Fakultäten‹, Berlin 2003, S. 39.
Johannes von Lüpke
Herausgeforderte Vernunft. Johann Georg Hamann im Wortwechsel mit Immanuel Kant
1.
Orte der Zusammenkunft
Das Bild, das Emil Doerstling gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Kants Tischgesellschaft gemalt hat, zeigt den großen Philosophen in geselliger Runde und weist ihm zugleich eine besondere Stellung am Kopf der Tafel zu. Er trägt vor, die anderen, Männer der Königsberger Gesellschaft verschiedener Profession, wenden sich dem Lehrer zu, um auf seine Worte zu lauschen und von seiner Weisheit zu lernen. Die gespannte Aufmerksamkeit gilt dem Meister. Ob und wie sich die anderen am Gespräch beteiligen, ob sie überhaupt etwas zu sagen haben, das dem Professor der Philosophie zu denken gegeben hat, bleibt offen. Aber waren die Rollen so eindeutig verteilt? Wahrscheinlich war auch Kant froh, bei Tische nicht die großen Fragen der Philosophie besprechen zu müssen, die er zuvor in seinen Vorlesungen erörtert hatte, sondern teilzunehmen an den je aktuellen Vorkommnissen der Stadt, in der sie alle auf je verschiedene Weise ihr Wirkungsfeld hatten, als Kaufmann, als Arzt, als Geistlicher oder auch als Packhofverwalter beim Zoll. Das letztere war die berufliche Tätigkeit Johann Georg Hamanns, eine Tätigkeit, die ihm freilich genug Zeit ließ, um Briefe zu schreiben und kleine Schriften zu verfassen. Und dieser Schriftstellerei hat er sich in großer Freiheit hingegeben, in einer Freimütigkeit, die man am treffendsten mit dem griechischen Wort parrhesia zum Ausdruck bringen kann,1 geht es doch um die Freiheit zur Rede, zum »Wortwechsel«. In ihm hat Hamann den
1 In einem Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 18. August 1759 schreibt Hamann (Briefwechsel, hg. v. Walther Ziesemer / Arthur Henkel, 7 Bde., 1955–1979 [im Folgenden abgekürzt unter der Sigle ZH und Bandzahl], hier 1, S. 396,35–397,2): »Der Begrif, den ich von der Gabe der Sprachen […] gebe ist vielleicht so neu, als der Begrif, den Paulus vom Weißagen giebt, daß nämlich selbiges an der parrhesie und ἐξουσια also zu strafen und also zu richten bestünde, daß das Verborgene des Herzens offenbar würde […]«. Zur »Gabe der Sprachen« und insbesondere der Gabe der Weissagung vgl. das 14. Kapitel des 1. Korinterbriefs in Luthers Übersetzung von 1545, insbes. 1Kor 14,24f.
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Johannes von Lüpke
»Reichthum aller menschlichen Erkenntnis«2 gesucht und gefunden. Der von Hamann geübte Wortwechsel ist allerdings etwas anderes als eine akademische Disputation, bei der Thesen im Austausch von Argumenten pro und contra geprüft, bestätigt oder auch verworfen werden. Hamann geht es eher um Einwürfe, um »Einfälle und Zweifel«,3 die er so äußert, dass dabei nicht zuletzt auch eine gehörige Portion von dem im Spiel ist, was im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts als Witz bezeichnet wird.4 Solchen Wortwechsel hat Hamann, der in der mündlichen Rede gehemmt war, eher indirekt betrieben, im Medium von Texten, in denen er selbst als Autor hinter Masken zurücktritt und seine Adressaten im Zitat zu Wort kommen lässt, ihnen also ihr eigenes Wort in einem anderen Kontext neu zu bedenken gibt.5 Das Gespräch wird als Rollenspiel inszeniert. Intendiert sind Sprachhandlungen, die nicht nur Sachverhalte feststellen, sondern Autor und Leser in eine Konstellation versetzen, in der sie sich selbst und die in Rede stehende Sache neu und anders wahrzunehmen lernen können. Wollte man diese literarisch vermittelten Gespräche bildlich darstellen, müsste man eine Bühne entwerfen, auf der ein Schauspiel in wechselnden Szenen, unter Beteiligung verschiedener Schauspieler zur Aufführung gelangt. Um sie zu verstehen, ist daher immer auch nach der Dramaturgie zu fragen.6 Und nicht zuletzt: Gesprächspartner und Interpreten sind eingeladen mitzuspielen. Das gilt insbesondere auch für Hamanns Bemühungen, mit Kant in einen Wortwechsel einzutreten. Ihr Ort ist weder der Hörsaal der akademischen Lehre 2 Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hg. v. Josef Nadler, 6 Bde., Wien 1949–1957 [im Folgenden abgekürzt mit der Sigle N und Bandzahl], hier 2, S. 129,5f. (Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache). 3 »Auch ich war einst im Arkadien der Literatur und mischte mich unter die Legion anonymer und pseudonymer Scribler, suchte in kleinen Heften mit Zweifeln und Einfällen gegen die Dictatoren der reinen Lehre und Vernunft […] zu laboriern.« So Hamanns Selbstcharakterisierung im Rückblick N 4, 460,39–41. Die beste Einführung in Hamanns Schriften unter dem Gesichtspunkt ihrer formalen Eigenart bietet: Oswald Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer (Serie Piper 918), München u. a. 1988, S. 9–61. 4 Witz ist »das zwischen Sinnen- und Verstandeswelt angemessen vermittelnde Vermögen« (Klaus Bohnen in der Einleitung zu dem von ihm neu herausgegebenen Buch von Georg Friedrich Meier, Gedancken von Schertzen (1744), Kopenhagen 1977, S. IX, mit Verweis auf die grundlegende Studie von Paul Böckmann, Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a.M. 1932/33, S. 52–130). 5 Sören Kierkegaard wird später mit grundsätzlichen Erwägungen zum Verhältnis von direkter und indirekter Mitteilung sowie mit seinen eigenen pseudonymen Werken an Hamanns Autorschaft anknüpfen. 6 Zu den theologischen Aspekten vgl. Johannes von Lüpke, Zur theologischen Dramaturgie in Hamanns Autorschaft, in: Bernhard Gajek (Hg.), Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1992 (Regensburger Beiträge zur Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, 61), Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 305–329.
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noch die Tafelrunde, die uns im Bild von Dörstling vor Augen gestellt wird, sondern die imaginäre Bühne, die Hamann entwirft und die zu betreten er Kant und uns als einen erweiterten Kreis von Adressaten, Leserinnen und Lesern einlädt. Dabei bedient er sich vielfältiger literarischer Vorbilder, wie sie ihm, dem unersättlichen Leser, aus dem breiten und tiefen Strom poetischer, philosophischer und religiöser, insbesondere biblischer Texte von der Antike her gleichsam zugespielt werden. Im Folgenden soll dieses Vorgehen zunächst am Beispiel eines sokratischen Vorspiels, das Hamann in seinem ersten überlieferten Brief an Kant inszeniert, verdeutlicht werden (2.), bevor wir (3.) in einer Zwischenreflexion die Thematik und Problematik, um deren Klärung es im Gespräch der beiden Königsberger geht, in einer ersten Näherung zu bestimmen suchen: Was ist Vernunft? Was ist Sprache? Anschließend sollen weitere Versuche Hamanns, mit Kant ins Gespräch zu kommen, vorgestellt werden. Dabei kann es nicht um Vollständigkeit gehen.7 Wir konzentrieren uns auf die Grundkonstellation des Gesprächs (4.), um daraufhin zwei Beiträge, die Hamann in Form von Briefen vorgebracht hat, zu interpretieren: zum einen die Briefe, in denen Hamann Kant für das Projekt einer Physik für Kinder zu gewinnen sucht, zum anderen seinen berühmten Brief an Christian Jakob Kraus, in dem Hamann Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« seinerseits beantwortet (5.). Schließlich soll der von Hamann geprägte Begriff der Metakritik in seinem Entstehungszusammenhang, gleichsam an seinem Geburtsort, in der Kritik Hamanns an Kants »Kritik der reinen Vernunft«, erläutert werden (6.). Dass Hamann in diesen Texten sich durchaus der Mittel der Ironie und der Polemik bedienen kann, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Königsberger Zeitgenossen einander mit wechselseitiger Wertschätzung als Freunde begegnet sind.8 Und es ist zu vermuten, dass sie im Rahmen der Tischgesellschaft, auch wenn hier keine philosophischen Diskurse stattfanden, doch zumindest miteinander haben scherzen können.
7 Erwähnenswert, hier allerdings nur am Rande, ist Hamanns Rezension der »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von M. Immanuel Kant, 1764«, in: N 4, 289–292 (Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen, 30. April 1764). Dazu Hans Graubner, ›Stil‹, ›Anti-Stil‹ und ›stilus atrox‹ Zu Hamanns Theologie des Stils, in: Eric Achermann / Janina Reibold (Hg.), … sind noch in der Mache. Zur Bedeutung der Rhetorik in Hamanns Schriften (Hamann-Studien, 5), Göttingen 2021, S. 69–81, 76: In seiner Rezension »zeigt Hamann, wie Kant das Schöne von den sinnlichen Empfindungen ablöst und in die Intellektualität der Moral, in die ›Tugend‹ verlagert, wobei die ›fünf Sinne des Menschen gänzlich übergangen‹ werden.« 8 Vgl. die frühe Äußerung Hamanns (28. April 1756 in einem Brief an seinen Bruder): »Kant ist ein fürtrefl.« Kopf (ZH I, 191,6).
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2.
Johannes von Lüpke
Ein sokratisches Vorspiel
Bereits der erste überlieferte Brief Hamanns an Kant ist beispielhaft für seine Vorgehensweise.9 Angeredet wird hier Kant als »HöchstzuEhrender Herr Magister«, indirekt aber auch Johann Christoph Berens, dem sich beide, Hamann und Kant, freundschaftlich verbunden wussten. Es ist eben diese Dreierkonstellation, die dazu herausfordert, die zwischen den Freunden bestehenden Beziehungen zu klären, und das heißt vor allem: die eigene Rolle zu erkennen und bewusst zu ergreifen: »Sind Sie [sc. Kant] Socrates und will Ihr Freund [sc. Berens] Alcibiades seyn; so haben Sie zu Ihrem Unterricht die Stimme eines Genii nöthig. Und diese Rolle gebührt mir, ohne daß ich mir den Verdacht des Stoltzes dadurch zuziehe – Ein Schauspieler legt seine Königliche Maske, seinen Gang und seine Sprache auf Steltzen ab; so bald er den Schauplatz verläst – Erlauben Sie mir also, daß ich so lange Genius heißen und als ein Genius aus einer Wolke mit Ihnen reden kann, als ich Zeit zu diesem Brief nöthig haben werde.«10
»Rolle«, »Schauspieler«, »Maske«, »Schauplatz« – es ist die Sprache des Theaters, deren sich Hamann bedient, um mit Kant ins Gespräch zu kommen. Der Brief wird zur Bühne, der Briefschreiber zum Schauspieler, und der Adressat wird aufgefordert, nun auch seinerseits eine Rolle zu übernehmen und sich auf eine Sprache einzulassen, die Hamann als eine Sprache auf Steltzen charakterisiert. Es handelt sich mithin um eine höchst artifizielle Sprache, wie sie auf der Bühne gesprochen wird. So wie der natürliche Gang durch den Stelzengang gehoben, erschwert und verlangsamt wird, so stellt auch die ›gestelzte‹ Bühnensprache vor besondere Anforderungen. Man stützt sich auf ein vorgefertigtes Instrument, dessen Gebrauch gelernt, eingeübt werden will. So müssen Schauspieler und Zuschauer die im Text eines Dramas vorgegebene Sprache lernen, ihre ›Gangart‹ annehmen und sich ihrem Duktus anvertrauen. Möglicherweise kommt man nur hinkend11, stolpernd, unter besonderer Kraftanstrengung voran. 9 ZH 1, S. 373–381; zur Interpretation dieses Briefes gibt aufschlussreiche Hinweise Harald Steffes, Der Genius aus der Wolke, Hamanns Brief an Kant vom 27. 7. 1759 als Keimzelle der Sokratischen Denkwürdigkeiten, in: Manfred Beetz / Johannes von Lüpke (Hg.), Hamanns Briefwechsel. Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2010 (Hamann-Studien 1), Göttingen 2016, S. 173–200; herangezogen wurde außerdem: Johann Georg Hamann: Kommentierte Briefausgabe, hg. v. Leonard Keidel / Janina Reibold (HKB), im Internet aufzurufen unter www.hamann-ausga be.de. 10 ZH 1, S. 373,28–34 (an Kant am 27. Juli 1759). 11 Dazu passt Hamanns späte Selbstcharakterisierung: er werde »als hinkender Bote« endigen, was er »als Vorläufer angefangen« habe (ZH 7, S. 43,33f; an Friedrich Heinrich Jacobi am 5. 11. 1786). Vielleicht schwingt hier auch mit, was in dem Sprichwort »weltkinder rennen zur höll, christen steltzen und hincken zum himmel« (so zitiert aus dem »Florilegium politicum«
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Hamann kennt ein breites Spektrum von Stilen, deren je besondere Gangart er gern durch Vergleiche aus der Tierwelt illustriert.12 An späterer Stelle des Briefes an Kant schreibt er: »Jedes Thier hat im denken und schreiben seinen Gang. Der eine geht in Sätzen und Bogen wie eine Heuschrecke; der andere in einer zusammenhängenden Verbindung wie eine Blindschleiche im Fahrgleise, der Sicherheit wegen, die sein Bau nöthig haben soll. Der eine gerade, der andere krumm.«13 Hamanns »Sprache auf Steltzen« ist sowohl von der fliegenden als auch von der kriechenden Fortbewegungsart des Denkens und Schreibens zu unterscheiden. Keinesfalls will er sich den Schlangenstil mit seiner eigentümlichen logischen Stringenz und ästhetischen Eleganz zu eigen machen. Demgegenüber mutet seine Vorgehensweise eher sprunghaft an. Gleichwohl beansprucht er auch für seinen Stil einen logischen Zusammenhang: »In meinem mimischen Styl herrscht eine strengere Logic und eine geleimtere Verbindung als in den Begriffen lebhafter Köpfe.«14 Was ist das für eine Logik? Offenbar nicht die Logik der begrifflichen Deduktion, vielmehr eine Logik des Urteils, die darin streng ist, dass durch sie Menschen ihrer Unwissenheit oder auch ihrer Irrtümer überführt und zur Selbsterkenntnis geführt werden. Es ist die Logik des treffenden Wortes. Man denke beispielhaft an Gleichniserzählungen oder auch Schauspiele, durch die den Hörerinnen und Hörern gleichsam ein Spiegel vorgehalten wird, in dem sie sich selbst wiedererkennen können, vorausgesetzt, dass sie sich auf dieses Spiel einlassen. Mit einem von Hamann gern zitierten Satz des Horaz gesagt: Mutato nomine de te fabula narratur.15 Übersetzt: Ändere den Namen, setze deinen eigenen Namen ein, und die Geschichte erzählt von dir. »Erzählte Geschichten bieten Identifikationsmöglichkeiten.«16 Sie vermitteln eine Wahrheit, die persönlich, je individuell angeeignet werden will.17 Um Wahrheit in diesem Sinne zu erkennen, ist Kant, der »HöchstzuEhrende Herr Magister«, gefragt, ob er bereit ist, in dem von Hamann inszenierten Bühnenstück die Rolle des Sokrates zu übernehmen. Dazu müsste er zunächst den Text lesen, den Hamann in seinem Brief zitiert und in den er Kant, Berens und sich selbst hineinzitiert. Als Grundtext in diesem Sinn dient hier Platons Dialog »Alkibiades I«, so wie er Hamann in deutscher Übersetzung unter dem
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[1640] von Christophorus Lehman(n) im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 18, Sp. 2294, s.v. stelzen) zum Ausdruck kommt. Zu Hamanns »Zoologie des Stils« und ihrem theologischen Hintergrund vgl. Hans Graubner, ›Stil‹, ›Anti-Stil‹ und ›stilus atrox‹ (wie Anm. 7). ZH 1, S. 379,24–27. ZH 1, S. 378,24f. Horaz, Satiren I/1, 69f; von Hamann zitiert ZH 1, S. 396,27; ZH 2, S. 144,24; ZH 6, S. 272,32. Oswald Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch (s. Anm. 3), S. 77. Vgl. zur Unterscheidung zwischen veritas uniuersalis und veritas personalis ZH 1, S. 397,23– 37 (an Johann Gotthelf Lindner am 18. 7. 1759).
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Titel »Platos Lehrreiches Gespräch von der menschlichen Natur« vorlag.18 Nur wenn Kant versteht, was Sokrates seinem Freund Alkibiades in diesem Dialog sagt, kann er verstehen, was Hamann ihm sagen will. Liest man den platonischen Dialog im Zusammenhang, stößt man insbesondere auf zwei sokratische Einsichten, denen Hamann sich selbst verpflichtet weiß und die er Kant als seinem philosophischen Gesprächspartner nahelegt. An ihnen entscheidet sich, ob und wie weit Kants Philosophie dem Typus der sokratischen Weisheit entspricht. Zum einen ist der im »Alkibiades I« zu Wort kommende Sokrates darin vorbildlich, dass er um seine Abhängigkeit von einer göttlichen Stimme weiß. Gleich zu Beginn des Gesprächs beruft er sich auf den »Geist«, der ihn bislang zurückgehalten, ihm aber nun die »Freiheit« gegeben habe, sich dem Freund Alkibiades zu nähern, in der Hoffnung, »daß ihm unser Umgang fernerhin nicht unangenehm seyn wird«.19 Die Freundschaft, die Sokrates im Gespräch mit Alkibiades und in Analogie dazu Hamann im Gespräch mit Kant und Berens sucht, steht unter der »Aufsicht« eines Gottes.20 Ihn kann Sokrates im Laufe des weiteren Gespräch auch als einen »bessern und weisern Vormund«21 bezeichnen, »besser und weiser« als menschliche Autoritäten wie etwa Perikles, den Alkibiades als seinen Lehrmeister anführt. Indem Sokrates sich auf diese göttliche Instanz bezieht, wahrt er die unaufhebbare und unumkehrbare Abhängigkeit seiner eigenen Vernunft, identifiziert er seine individuelle Vernunft also gerade nicht mit dem göttlichen Logos. Es ist diese sokratische Selbstbescheidung, die Hamann auch in seinem weiteren Gespräch mit Kant sowie mit den zeitgenössischen Philosophen überhaupt immer wieder kritisch anmahnen wird. So sehr Gott und die Vernunft aufeinander bezogen sind, so wenig dürfen sie miteinander verwechselt werden. Zum anderen rückt Sokrates die Aufgabe der Selbsterkenntnis ins Zentrum des philosophischen Interesses. Um »die Kunst, welche uns selbst besser macht, zu erkennen«, gilt es zunächst zu »wissen, was wir selber sind«: »lerne dich selber kennen« lautet die bekannte Lehre, die über der Tür des Apollotempels zu Delphi 18 Platos Lehrreiches Gespräch von der menschlichen Natur. Uebersetzt. Glogau und Leipzig bey Christian Friedrich Günther, 1755. In Übersetzung wird hier nur der Erste Alkibiades geboten. Ob Hamann zum Zeitpunkt des Briefes auch den Zweiten Alkibiades kannte und möglicherweise auf dessen Thematik anspielt, wie Steffes (s. Anm. 9), S. 179–181, plausibel zu machen sucht, lasse ich offen. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass Hamann später in einer Annotation zu den »Sokratischen Denkwürdigkeiten« auf diesen Dialog hingewiesen hat (N 2, 77,16f; in der Neuedition hg. v. Leonard Keidel / Janina Reibold [Philosophische Bibliothek 748], Hamburg 2021, S. 38 mit dem Kommentar S. 217f und 219). Dass ihn dessen Thematik besonders interessieren musste, ist deutlich. 19 Platos Lehrreiches Gespräch (wie Anm. 18), S. 3 (Alkibiades I, 103a/b); vgl. S. 8 (105d/e). 20 Ebd., S. 22 (109d); darauf spielt Hamann offenbar an, wenn er Kant und Berens an den »Gott der Freundschaft« erinnert (ZH 1, S. 375,15). 21 Platos Lehrreiches Gespräch (wie Anm. 18), S. 69 (124c).
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geschrieben stand.22 Um diese Lehre »recht [zu] verstehen«,23 lenkt Sokrates die Aufmerksamkeit auf die Seele und in ihr auf das höchste Seelenvermögen, mithin auf den Teil, »in welche[m] ihre ganze Kraft, das ist, die Weisheit, gezeuget wird«.24 Solche Selbsterkenntnis ist freilich keine bloße Selbstbetrachtung. Der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis ist vielmehr die »Seele […], von der die unsrige ein Ebenbild ist, diese göttliche Seele muß man ansehen, und darinnen die ganze Gottheit, das ist Gott und die Weisheit, beschauen, wenn man sich selber vollkommen kennen will«.25 Kurz: Ohne Gotteserkenntnis keine Selbsterkenntnis. Wenn Hamann diese sokratische Einsicht Kant zu bedenken gibt, hatte er gewiss auch deren christliche Interpretation im Sinn, wie er sie in den Londoner »Brocken«, datiert auf den 16. Mai 1758, so formuliert hatte: so »nothwendig sei unser Selbst in dem Schöpfer desselben gegründet […], daß wir die Erkenntnis unserer Selbst nicht in uns[erer] Macht haben, daß um den Umfang desselben auszumäßen, wir biß in den Schooß der Gottheit dring[en] müssen, die allein d[as] ganze Geheimnis uns[eres] Wesens bestimmen und auflösen kann«.26 Hamann will »Platos Lehrreiches Gespräch von der menschlichen Natur« zur Aufführung bringen, indem er Kant und Berens als Sokrates und Alkibiades auf die Bühne bittet und sie hier mit der Stimme des göttlichen Geistes konfrontiert, auf den sich Sokrates beruft. Fragwürdig allerdings bleibt, ob Sokrates und Kant überhaupt wissen, wer dieser Geist eigentlich ist, wem also das Gottesprädikat in Wahrheit zukommt. Ist also die sokratische Unwissenheit im Kern auch eine Unwissenheit in theologischer Hinsicht? Genau an diesem Punkt bringt sich Hamann selbst ins Spiel: er nimmt die Rolle des Genius für sich in Anspruch und erweitert den Dialog damit zum Dreiergespräch. Als ein Genius aus einer Wolke nimmt er sich zugleich die Freiheit, das platonische Gespräch auf einer anderen Bühne weiterzuführen und zu vertiefen. Mit der Ortsangabe »aus einer Wolke« zitiert er zunächst einen weiteren klassischen Autor: Aristophanes. In dessen Komödie »Die Wolken« wird Sokrates als Verehrer der Wolken vorgestellt. Sie seien »unsre Götterwesen«, lässt Aristophanes ihn sagen.27 Sie ruft er an; sie, »die himmlischen Wolken sind’s, […], die Verstand, Debattierkunst und Urteilskraft uns Erwählten gnädig gewähren […]«.28 Dass hier Ironie mitschwingt ist deutlich. Sollte Sokrates wirklich 22 23 24 25 26
Ebd., S. 85f. (128e/129a). Ebd., S. 98 (132c). Ebd., S. 101 (133c). Ebd., S. 102 (133c). Johann Georg Hamann, Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer / Bernd Weißenborn, München 1993, S. 409,7–12. 27 Aristophanes, Die Wolken. Komödie, übers. v. Otto Seel (Reclams Universal-Bibliothek 6498), Stuttgart 1963, S. 19 (Z. 252f.). 28 Aristophanes, Die Wolken (wie Anm. 27), S. 22 (Z. 316f.).
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so leichtgläubig oder gar abergläubisch sein, dass er als göttlich angesehen hätte, was sich doch durchaus wandelbar, vergänglich und schwankend darstellt? Letztlich kann man doch alles Mögliche in den Wolken widergespiegelt sehen. Als ein Genius aus einer Wolke führt Hamann sodann diese Vielgestaltigkeit des Religiösen auf eine Gestalt zurück. In die polytheistische Szenerie der griechischen Komödie wird ein biblisches Motiv eingeblendet, mit dem es Hamann durchaus ernstmeint. Es ist das Motiv des »aus der Wolke« redenden Gottes (Dtn 5,22), konkret: die Stimme, die »vom Himmel herab«, »aus der Wolke« auf Jesus Christus als den Sohn Gottes hindeutet (Mt 3,17 parr; 17,9 parr), von dem es an anderer Stelle heißt, er komme »mit den Wolken« (Apk 1,7; vgl. Dan 7,13; Mt 24,30 parr). Der unbestimmte »Geist«, dessen »Aufsicht« und »Vormundschaft« sich Sokrates im Gespräch mit Alkibiades unterstellt, wird somit als der Heilige Geist identifiziert, dessen Stimme Hamann seit seiner Londoner Lebenswende in den Texten der Bibel vernimmt. Er ist für Hamann der »bessere Vormund«, nicht zuletzt deswegen, weil er ein Geist der Freiheit29 ist, ein Geist, der dazu befähigt, die Autorität menschlicher Vormünder in Frage zu stellen und ihnen gegenüber eigene Antworten zu geben. Ohne sich selbst mit diesem Geist zu identifizieren, versteht sich Hamann als dessen Zeuge und übernimmt damit eine gegenüber dem vorgegebenen platonischen Dialog neue Rolle, die Rolle des Verkündigers. Das Vorbild hierfür ist der Apostel Paulus, dessen Aufforderung »Folgt meinem Beispiel wie ich dem Beispiel Christi!« Hamann sich zu eigen macht und weitergibt.30 Der sokratische Dialog wird also paulinisch rezipiert und damit in einen neuen Kontext transponiert, man könnte auch sagen: verfremdet. Möglich ist das allerdings nur, weil es im Verhältnis von sokratischer und paulinischer Weisheit einen Punkt der Übereinstimmung gibt. Hier wie dort werden Menschen, die etwas zu wissen meinen, ihrer Unwissenheit überführt. Der Satz des Paulus »So jemand sich dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nicht, wie er wissen soll« (1Kor 8,2) wird für Hamann zum »Siegel« und »Schlüssel« »für des Sokrates Zeugnis von seiner Unwissenheit«.31 Dabei geht es ihm ebenso wie Sokrates im Gespräch mit Alkibiades auch um jene »Art von Unwissenheit […], welche machet, daß man etwas, so man nicht weiß, dennoch zu wissen glaubet«.32 Hatte Hamann zunächst Kant die Rolle des Sokrates zugewiesen, so begibt er sich nun selbst in diese Rolle:
29 Vgl. N 2, S. 108,32f (Wolken, 3. Aufzug). 30 Mit dem Zitat aus Phil 3,17 und 1Kor 11,1 beschließt Hamann seine »Wolken« (N 2, 109,8f.; in der Neuedition Keidel / Reibold (wie Anm. 18), S. 91,11–13 mit Kommentar S. 299f); vgl. auch ZH I, 424,20f (an den Bruder am Michaelistag 1759). 31 N 2, S. 74,20–26; in der Neuedition Keidel / Reibold (wie Anm. 18), S. 34,11–19. 32 Platos Lehrreiches Gespräch (wie Anm. 18), S. 51 (117d).
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»[…] Ich glaube wie Socrates alles, was der andere glaubt – und geh nur darauf aus, andere in ihrem Glauben zu stöhren. Dies muste der weise Mann thun, weil er mit Sophisten umgeben war, und Priestern, deren gesunde Vernunft und gute Werke in der Einbildung bestanden. […] Der eines andern Vernunft mehr glaubt als seiner eigenen; hört auf ein Mensch zu seyn und hat den ersten Rang unter das servum pecus der Nachahmer. Auch das größte menschliche genie sollte uns zu schlecht dazu seyn.«33
Das von Hamann inszenierte sokratische Gespräch spitzt sich auf die Frage nach der Vernunft zu. Aufgenommen und zurückgegeben wird damit eben die Frage, die Kant und Berens ihrem Freund Hamann nach seiner Rückkehr aus London gestellt haben, sofern sie ihn, dessen Glaube ihnen allzu schwärmerisch, wenn nicht gar verrückt erschienen sein mag, wieder zur »gesunden Vernunft« zurückführen wollten. Gegen die einfache Antithese von Vernunft und Glaube gibt Hamann den Anwälten der Vernunft nun zu bedenken, dass auch sie »ihre[n] Glauben haben«, und zwar möglicherweise einen Glauben im Sinne des illusionären Bewusstseins – man bildet sich ein, vernünftig zu sein, ist es aber nicht – oder auch im Sinne der Leichtgläubigkeit: man »glaubt« dem, was andere für vernünftig halten und vernachlässigt darüber den eigenen Vernunftgebrauch.
3.
Was ist Vernunft? Was ist Sprache?
Doch was ist wahre, »gesunde« Vernunft? Für Kant zweifellos der »Führer«, dem man sich auf dem »Weg zur Wahrheit« anvertrauen kann. So heißt es in der Ankündigung seiner Vorlesung vom 1. April 1758: »Ich wünsche, daß sich meine Leser, auf einen Augenblick in diejenige Verfassung des Gemüts versetzen könnten, welche Cartes vor so unumgänglich nötig zur Erlangung richtiger Einsichten hält, und worin ich mich jetzo befinde, nämlich so lange, als diese Betrachtung währet, aller erlernten Begriffe vergessen zu machen, und den Weg zur Wahrheit ohne einen andern Führer als die bloße gesunde Vernunft von selber anzutreten.«34
Auf diese von Kant empfohlene und von Descartes klassisch vorgeführte Methode hat sich Hamann allerdings nicht einlassen können.35 Und man kann seine Regieanweisung, mit der er Kant und sich selbst in einen sokratischen Dialog versetzen wollte, als programmatische Gegeninszenierung verstehen. Der Zweifel 33 ZH 1, S. 377,26–37; mit servum pecus (sklavisches Vieh) zitiert Hamann Horaz (epistulae I,19,19): »O Ihr Nachahmer, unfreies Herdenvieh!« 34 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe, zitiert nach: Immanuel Kant, Werke in zehn Bdn., hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 41975, 2, 569f. 35 Zu Hamanns Descarteskritik und seinem Gegenentwurf vgl. Oswald Bayer, Wahrheit oder Methode? In: ders., Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, S. 83–107.
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betrifft, wie weiter unten noch ausführlicher dargelegt werden soll, die Annahme einer gesunden Vernunft. Im Gespräch zwischen Hamann und Kant steht mithin in Frage, wozu die Vernunft dem Menschen gegeben ist. Worin erweist sie sich als wahrhaft vernünftig? Hamann beantwortet diese Frage, indem er sich Paulus anschließt und das, was dieser über das Gesetz sagt, auf die Vernunft überträgt: »Die Vernunft ist euch nicht dazu gegeben, dadurch weise zu werden, sondern eure Thorheit und Unwißenheit zu erkennen; wie das Mosaische Gesetz den Juden nicht sie gerecht zu machen, sondern ihnen ihre Sünden sündlicher.«36 Auch Kant wird bekanntlich der Frage nach der Bestimmung der Vernunft weiter nachgehen und in den großen Werken der »Kritik« zu beantworten suchen. Auf Hamanns briefliche Herausforderung hat er freilich nicht direkt geantwortet. Auch die folgenden Versuche Hamanns, mit Kant in einen Dialog einzutreten, sind ohne direkte Antwort geblieben. Allenfalls lassen sich »Spuren« finden, die darauf hindeuten, dass Kant Impulse Hamanns in sein Denken aufnehmen konnte.37 Offenbar fiel es Kant schwer, auf Hamann zu antworten. Und diese Schwierigkeit dürfte vor allem in der Sprache Hamanns begründet sein. In den »Sokratischen Denkwürdigkeiten«, als deren Vorspiel der zitierte Brief an Kant anzusehen ist, nimmt Hamann für sich in Anspruch, er habe »über den Sokrates auf eine sokratische Art geschrieben«, und wünscht sich Leser, die gleichsam »schwimmen«38 können; sie müssten die Verbindung zwischen verschiedenen Sätzen, die ihnen mitgeteilt werden, selbst herstellen. Was der von Hamann zitierte Sokrates über die Fragmente des Heraklit sagte, kennzeichnet auch Hamanns Stil: »Ein Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen in jener lebenden Elegie vom Philosophen machte desselben Sätze vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten.«39
Für Kant, der den sicheren Gang der Methode im Sinne des cartesischen Wissenschaftsprogramms bevorzugte, musste dieser Stil eine Zumutung sein. Weder konnte und wollte er so wie Hamann »auf Stelzen« sprechen, noch war er bereit, 36 ZH 1, S. 379,32–35. 37 Vgl. Josef Simon, Spuren Hamanns bei Kant? In: Bernhard Gajek (Hg.), Hamann – Kant – Herder. Acta des vierten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1985 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 34), Frankfurt a. M. u. a. 1987, S. 89–110. Eine »Spur« verfolgt Jürgen Goldstein, Die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis und der Weg zur Vergötterung bei Hamann und Kant, in: Kant-Studien 101 (2010), S. 189–216. 38 N 2, S. 61,28 (Sokratische Denkwürdigkeiten); in der Neuedition Keidel / Reibold (wie Anm. 18), S. 12 mit Kommentar S. 144f. 39 N 2, S. 61,28–31.
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sich »schwimmend« in das Element der Sprache hineinzubegeben und die zwischen den Sätzen fehlenden Verbindungen selbst herzustellen. Wie er Hamanns Sprache verstanden hat und warum sie ihm unverständlich geblieben ist, ist einem späteren Brief zu entnehmen, in dem er auf Herders Schrift »Älteste Urkunde des Menschengeschlechts« Bezug nimmt und Hamann um Erläuterung bittet.40 Hier heißt es: »Wenn Sie werther Freund meinen Begrif, von der Hauptabsicht des Verfassers [also Herders], worinn zu verbessern finden so bitte mir Ihre Meinung in einigen Zeilen aus; aber wo möglich in der Sprache der Menschen. Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der Anschauenden Vernunft garnicht organisirt. Was man mir aus den gemeinen Begriffen nach logischer Regel vorbuchstabiren kan das erreiche ich noch wohl.«41
Indem Kant die »Sprache der Menschen« von der »Göttersprache der Anschauenden Vernunft« abgrenzt, bildet er dort einen Gegensatz, wo Hamann gerade die kommunikative Einheit wahrzunehmen sucht: Die menschliche Sprache, insbesondere die Sprache der Bibel, ist für ihn das Medium, in dem Gott selbst zum Menschen spricht. »Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden« – dieser Grundsatz, den Jesus im Blick auf die Ehe geltend macht (Mt 19,6 par), wird von Hamann wissenschaftstheoretisch verallgemeinert und in grundsätzlicher Schärfe gegen die Philosophie gewendet: »Die Philosophen haben von jeher der Wahrheit dadurch einen Scheidebrief gegeben, daß sie dasjenige geschieden was die Natur zusammengefügt hat und umgekehrt […].«42 Umgekehrt in einer nochmaligen Wendung der Kritik zusammenzufügen, was auf einer ersten Ebene der Kritik geschieden wird, ist das Anliegen, das Hamann später – in seiner Kritik der »Kritik der reinen Vernunft« Kants – mit dem Begriff der Metakritik zum Ausdruck bringen wird. Zusammenfügen, was die von Hamann kritisierten Philosophen voneinander sondern, ist mehr und anderes als bloße Addition. Vielmehr geht es darum, die voneinander sehr wohl zu unterscheidenden, durchaus gegensätzlichen Größen miteinander kommunizieren zu lassen. In diesem Sinn bedenkt Hamann sowohl die Kommunikation zwischen Gott und Mensch als auch die innerseelische Kommunikation zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Anschauung und Begriff. Schon früh und immer 40 Vgl. dazu die Briefe ZH 2, S. 80–90 (April 1774), 100, 159, 165f, 198–200; zur Sache, d. h. zum Verhältnis von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft: Ulrich Moustakas, Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann (Theologische Bibliothek Töpelmann 114), Berlin u. a. 2003, S. 24–69. 41 ZH 2, S. 82,9–14. 42 N 3, S. 40, 3–5; Philologische Einfälle und Zweifel); vgl. N 3, S. 278,15f (Rezension: Kritik der reinen Vernunft); S. 286,32–34 (Metakritik); S. 300,31–36 (Golgatha und Scheblimini); ZH 6, S. 534,16–19 (an Jacobi am 24. 8. 1786) und ZH 7, S. 158,16f (an Jacobi am 23. 4. 1787).
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wieder plädiert er für das Recht der Ästhetik; ohne »Sinne und Leidenschaften«,43 ohne Bilder und Metaphern keine Erkenntnis. Der Begriff der »Anschauenden Vernunft«, unter dem Kant in dem zitierten Brief Hamanns und Herders Denken fasst, ist insofern durchaus treffend und bezeichnet den Punkt, an dem die Wege der beiden Königsberger zunächst auseinandergehen, zumindest in den Sprachformen, in denen sie der Frage nach der Vernunft nachgehen. Das Sachproblem, wie sich Anschauung und Begriff zueinander verhalten, ist ihnen gemeinsam. Und es bleibt offen und wohl erst im Gespräch ihrer Interpretinnen und Interpreten zu klären, wie weit sie sich an diesem Punkt verständigen können. Für Hamann ist allerdings von vornherein klar, dass es sich bei den verschiedenen Sprachformen des Denkens keineswegs um eine bloße Äußerlichkeit handelt. Die Frage »Was ist Vernunft?« vertieft sich für ihn zur Frage »Was ist Sprache?«44 Und Sprache ist nicht nur, wie es in der platonischen Tradition heißt, »Organon« der Vernunft, sondern auch ihr Kriterium, ihr Lebenselement, von dem sie sich nur zu ihrem Schaden emanzipieren kann.45 Gemessen an Hamanns Sprachverständnis ist das von Kant geforderte »Vorbuchstabieren aus den gemeinen Begriffen nach logischer Regel« zweifellos eine Verkürzung, wenn nicht gar eine Misshandlung der Sprache. Doch lässt sich unter diesen Voraussetzungen verschiedener Methoden und Logiken überhaupt ein Dialog führen und ein wechselseitiges Verstehen gewinnen?
4.
Die Grundkonstellation
Es dürfte schon deutlich geworden sein, dass Hamann in das sokratische Gespräch, das er mit Kant zu führen sucht, biblische Motive einspielt und dass er in seinem Rollenspiel beide Vorbilder nachzuahmen sucht: Sokrates und Paulus. Von Paulus lässt er sich die Grundkonstellation im Verhältnis von Philosophie und Theologie und in ihr seine eigene Rolle vorgeben. Gemeint ist die Begegnung des Paulus mit den Philosophen, mit Epikureern und Stoikern, auf dem Areopag 43 N 2, S. 197,22–24 (Aesthetica in nuce): »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit«. 44 Vgl. zusammenfassend, nach Kants »Kritik der reinen Vernunft« niedergeschrieben (ZH 5, S. 264,34–36; an Friedrich Heinrich Jacobi am 14. 11. 1784) »Bey mir ist nicht so wol die Frage: was ist Vernunft? sondern vielmehr: was ist Sprache? und hier vermuthe ich den Grund aller Paralogismen und Antinomien, die man jener zur Last legt.« 45 Zum platonischen Verständnis vgl. die Dialoge Kratylos (388a) und Alkibiades I (130d/e), Platos lehrreiches Gespräch (s. Anm. 18), S. 92. Zu Hamanns Formel »Organon und Kriterion« siehe N 3, S. 284,24f (Metakritik), dazu weitere Belegstellen und Erläuterungen bei Oswald Bayer, Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 14f. und 264–271.
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zu Athen, eben jene Konstellation, von der die Apostelgeschichte im 17. Kapitel erzählt und die Paulus selbst inszeniert, wenn er im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth scharf unterscheidet zwischen der Weisheit der Welt und der Torheit der Predigt, die den gekreuzigten Christus als Gestalt der göttlichen Weisheit und Kraft vor Augen stellt (1Kor 1,18–2,5). Wenn Hamann von seinem »mimischen Stil« spricht,46 so geht es ihm maßgebend um die Mimesis der paulinischen Verkündigung. Er bedient sich paulinischer Denkfiguren.47 Das heißt zum einen: Wie schon erwähnt übersetzt er die paulinische Kritik des Gesetzes in eine Kritik der Vernunft. In einem Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 3. Juli 1759 heißt es: »Unsere Vernunft ist […] eben das, was Paulus das Gesetz nennt – und das Gebot der Vernunft ist heilig, gerecht und gut. Aber ist sie uns gegeben – uns weise zu machen? eben so wenig als das Gesetz der Juden sie gerecht zu machen, sondern uns zu überführen von dem Gegentheil, wie unvernünftig unsere Vernunft ist, und daß unsere Irrthümer durch sie zunehmen sollen, wie die Sünde durch das Gesetz zunahm. Man setze allenthalben wo Paulus vom Gesetz redt – das Gesetz unsres Jahrhunderts und die Losung unserer Klugen, und Schriftgelehrten – die Vernunft: so wird Paulus mit unsern Zeitverwandten reden; und seine Briefe werden nicht mehr einer Trompete ähnlich seyn, nach deßen Schall sich keiner zum Streit rüstet, weil sie unverständlich das Feldzeichen giebt.«48
Die Vernunft ist ebenso wie das Gesetz »heilig, gerecht und gut«, wie Paulus in Röm 7,12 sagt. Die Frage ist nur, wozu sie gegeben ist und ob sie im Sinne ihrer Bestimmung recht gebraucht wird. Ist sie uns zur Selbsterkenntnis, zur Einsicht in unsere Unwissenheit gegeben, verbietet sich aller Selbstruhm, alle Selbstverherrlichung, wie sie Hamann in der zeitgenössischen Rede von einer gesunden, geradezu göttlichen Vernunft diagnostiziert. Hier setzt seine Kritik der Vernunft an: »Die Gesundheit der Vernunft ist der wohlfeilste, eigenmächtigste und unverschämteste Selbstruhm, durch den alles zum voraus gesetzt wird, was eben zu beweisen war, und wodurch alle freye Untersuchung der Wahrheit gewaltthätiger als durch die Unfehlbarkeit der römisch-katholschen Kirche ausgeschloßen wird.«49
46 S. o. bei Anm. 14. 47 Vgl. Elfriede Büchsel, Paulinische Denkfiguren in Hamanns Aufklärungskritik. Hermeneutische Beobachtungen zu exemplarischen Texten und Problemstellungen, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 30 (1988), S. 269–284. 48 ZH 1, S. 355,36–356,9; neben Röm 7,12 ist hier auch 1Kor 14,8 zitiert. Wiederholt kommt Hamann auf diese Analogie von Vernunft und Gesetz zurück, zusammenfassend in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 16. 1. 1785: »Ich hab es bis zum Eckel und Ueberdruß wiederholt, daß es dem Philosophen wie den Juden geht; und beyde nicht wißen, weder was Vernunft noch was Gesetz ist, wozu sie gegeben, zur Erkenntnis der Sünde und Unwissenheit – nicht Gnade u Wahrheit, die geschichtlich offenbart werden muß, und sich nicht ergrübeln, noch ererben noch erwerben läßt« (ZH 5, S. 326,20–24). 49 N 3, S. 189,18–22 (Zweifel und Einfälle).
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»Denn was ist die hochgelobte Vernunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewißheit und Evidenz? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet.«50
Die »hochgelobte Vernunft« droht im unkritischen Glauben an sich selbst dem Aberglauben zu verfallen. Eben damit ist der zweite Gesichtspunkt angesprochen, unter dem Hamann die Szene von der Predigt des Paulus auf dem Areopag rezipiert. Die dort versammelten Philosophen werden auf ihren Glauben und ihre Gottesvorstellung angesprochen. So wie Luther die Anrede übersetzt und wie Hamann sie übernommen hat, lautet sie (Apg 17,22f): »Ihr Männer von Athen, ich sehe euch, dass ihr in allen Stücken allzu abergläubig seid. Ich bin herdurch gegangen und habe gesehen eure Gottesdienste und fand einen Altar, darauf war geschrieben Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch denselbigen, dem ihr unwissend Gottesdienst tut.« Indem Hamann in diese Konstellation eintritt und sich den Spottnamen eines Spermologen, eines »Lotterbuben«, wie Luther das griechische Wort spermologos (Apg 17,18) übersetzt, durchaus zu eigen machen kann, versetzt er seine philosophischen Kontrahenten auf die Seite der »allzu Abergläubigen«. Gehört aber auch Kant auf diese Seite? Dessen »Kritik der reinen Vernunft« ist ja entscheidend eine Selbstkritik der Vernunft, in deren Vollzug die Vernunft ihrer Grenzen innewird, um dem Glauben Platz zu geben.51 Ist der von Kant propagierte philosophische, moralische Glaube am Ende auch eine Gestalt des Aberglaubens? Hamann hat es offenbar so gesehen. Nach der Lektüre von Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« schreibt er an Herder: »Statt der reinen Vernunft ist hier von einem andern Hirngespinst und Idol die Rede, dem guten Willen. Daß K. einer unserer scharfsinnigsten Köpfe ist, muß ihm auch sein Feind einräumen, aber leider! ist dieser Scharfsinn sein böser Dämon […]; denn eine neue Scholastik und ein neues Papstum sind die beyden Midasohren unsers herrschenden Seculi.«52
Gegen Ende seines Lebens, in der Mappe von Münster, hat Hamann diese Kritik noch einmal in die Szene von Apg 17 eingezeichnet. Vor Augen gestellt wird ein »leere[r] Altar«, auf dessen Vorderseite die Aufschrift zu lesen ist:
50 N 3, S. 225,3–6 (Konxompax). 51 Vgl. den berühmten Satz aus der Vorrede zur »Kritik der reinen Vernunft« (2. Aufl.), in: Kant, Werke (wie Anm. 34), 3, 33: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen […].« 52 ZH 5, S. 418,21–26 (an Herder am 14. April 1785); vgl. auch ZH 5, S. 434,24–26 (an Scheffner am 12. Mai 1785): Reine Vernunft »und guter Wille sind noch immer Wörter für mich, deren Begriff ich mit meinen Sinnen zu erreichen nicht im stande bin, und für die Philosophie habe ich keine fidem implicitam«.
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»Der unbekannten Göttin reiner Lehre und Vernunft«,
unterschrieben mit dem beiden Initialen S (für Spinoza) und K (für Kant).53 Auf diese beiden beziehen sich offenbar auch zwei Tiergestalten, die den Stil der beiden verdeutlichen: Von der einen Ecke des Altars lässt sich eine Spinne »an einem Faden ihres Hirngespinstes« herunter, von der anderen Seite »ein fliegender Schmetterling oder schwärmende Mücken«. Der Verdacht, die beiden genannten Philosophen seien Verehrer einer »unbekannten Göttin«,54 versteht man nur, wenn der von ihnen gelehrte Gottesbegriff mit der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus konfrontiert wird. Im Hintergrund dieser Konfrontation steht zweifellos die von Pascal klassisch vollzogene Unterscheidung zwischen dem Gott der Philosophen und dem »Gott Jesu Christi«. Während die Weltweisen ihren Gottesbegriff im Aufstieg, auf dem Weg der Schlussfolgerung vom Irdischen auf eine metaphysische, übersinnliche Wirklichkeit des Göttlichen hinführend, zu gewinnen suchen, folgt die von Hamann propagierte Erkenntnis der umgekehrten Bewegung der Menschwerdung Gottes. Gott will demnach in seiner Kondeszendenz, letztlich in der Niedrigkeit des Kreuzes erkannt werden. Während die Weisen dieser Welt auf ein Maximum, ein höchstes und in seiner Größe nicht mehr zu übertreffendes Sein aus sind, gilt die Aufmerksamkeit des biblischen Denkens, so wie Hamann es einzuüben sucht, gerade dem Geringen, dem vermeintlich Törichten.55 Sein Wahlspruch, den er von seinem Lieblingsdichter Persius übernimmt, lautet: »MINIMVM est quod scire laboro!«56
5.
Kondeszendenz: Kinderphysik und »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«
Kann man in der Areopagszene, in der Konfrontation von Weltweisheit und Verkündigung des gekreuzigten Christus, die Grundkonstellation erkennen, die Hamanns Verhältnis zu den zeitgenössischen Philosophen im Kontext der Aufklärung vorzeichnet, so ist der Gedanke der Kondeszendenz grundlegend
53 N 4, S. 460,31–38. 54 Vgl. ZH 1, S. 437,21–24. 55 Zusammenfassend hat Hamann diese Gegenläufigkeit von metaphysischem Aufstieg und Menschwerdung Gottes im »Letzten Blatt« formuliert; vgl. dazu Oswald Bayer / Christian Knudsen, Kreuz und Kritik. Johann Georg Hamanns Letztes Blatt. Text und Interpretation (BHTh 66), Tübingen 1983. 56 N 3, S. 132,23 (Prolegomena über die neueste Auslegung).
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und zentral für Hamanns Verständnis von Geschichte57 sowie für seine Autorschaft insgesamt. So wie der allmächtige Gott sich herunterlässt, sich den Schwachen und Geringen zuwendet und gerade in der Schwäche des Leidens seine Stärke erweist, so soll auch der menschliche Autor, der Schriftsteller und Lehrer, den Schwachen dienen. Damit ist ein Bildungsprogramm, ein Erziehungs- und Aufklärungsprogramm formuliert, das im Folgenden an zwei Beispielen verdeutlicht werden soll. In beiden Fällen geht es um Programmatisches, über das sich Hamann mit Kant in durchaus provozierender Weise zu verständigen sucht. Anknüpfung und Widerspruch liegen hier ineinander. »[…] Liebesbriefe an einen Lehrer der Weltweisheit, der eine Physick für Kinder schreiben wollte« – unter diesem Titel hat Hamann eine Auswahl seiner an Kant im Jahr 1759 geschriebenen Briefe veröffentlicht.58 In ihnen ist er bemüht, Kant für ein gemeinsames Buchprojekt zu gewinnen, und fordert ihn zugleich heraus, indem er Grundsätze formuliert, die Kants Selbstverständnis radikal in Frage stellen. Der erste Brief mündet ein in den Wahlspruch, den auch Kant später als Motto der Aufklärung herausstellen wird: »sapere AVDE«.59 Doch welcher Mut und welches Wissen, welche Weisheit ist gemeint, wenn Hamann dieses Horazwort aufgreift? »Nun prüfen Sie sich, ob Sie so viel Herz haben, der Verfaßer einer einfältigen, thörichten und abgeschmackten Naturlehre zu sein? Haben Sie Herz, so sind Sie auch ein Philosoph für Kinder.«60 Weisheit ist somit auch eine Sache des Herzens. Um Kinder zu unterrichten, muss man, »wie man im gemeinen Leben sagt, einen 57 Umfassend herausgearbeitet von Karlfried Gründer, Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns »Biblische Betrachtungen« als Ansatz einer Geschichtsphilosophie, Freiburg u. a. 1958. 58 N 2, S. 369; Zitate aus diesen Briefen im Folgenden nach ZH 1, S. 444–454. Zum Entstehungskontext und insbesondere zu möglichen Referenztexten vgl. die gründliche Studie von Hans Graubner, Physikotheologie und Kinderphysik. Kants und Hamanns gemeinsamer Plan einer Physik für Kinder in der physikotheologischen Tradition des 18. Jahrhunderts, in: Bernhard Gajek / Albert Meier (Hg.), Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fünften Internationalen Hamann-Kolloquiums in Münster i. W. (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 46), Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 117–145; danach ist davon auszugehen, dass Kant und Hamann als Schüler Martin Knutzens und als Mitglieder einer physikotheologischen Gesellschaft mit Werken der Physikotheologie vertraut waren, diese aber in verschiedenen Richtungen aufgenommen und verarbeitet haben. Hamann konnte an einen Plan Kants anknüpfen, konfrontierte ihn jedoch mit einem theologisch anders gelagerten Entwurf, den Kant als Provokation empfinden musste und wohl auch sollte. Dass es überhaupt ein gemeinsames Projekt gegeben habe, wird energisch bestritten von Werner Stark in der Einleitung zu Kant’s Vorlesungen, hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 3: Vorlesungen über Physische Geographie, 1. Tl. (Kant’s gesammelte Schriften 26), Berlin u. a. 2009), S. V–LXXX, insbes. XXIII–XXIX. Hamann bietet nach seiner Auffassung einen »Alternativ-Vorschlag« gegen Kants Vorlesung über Physische Geographie (S. XXVI). 59 ZH 1, S. 446,3. 60 ZH 1, S. 446,1–3.
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Narren an den Kindern gefressen«61 haben, man muss sie lieben. An Kant gerichtet lautet daher die Frage: »Fühlen Sie unter Ihren Schooßneigungen die Schwäche einer solchen Kinderliebe; so wird Ihnen das Aude sehr leicht fallen, und das sapere auch flüßen.«62 Der erforderliche Mut ist zweifellos eine Zumutung: Für den gelehrten Philosophen ist es ja keine »Kleinigkeit […], sich in ein Kinde zu verwandeln, trotz Ihrer Gelehrsamkeit«63, und »mit einer freiwilligen Entäußerung aller Überlegenheit an Alter und Weisheit, und mit einer Verläugnung aller Eitelkeit«64 ans Werk zu gehen. »Das größte Gesetz der Methode für Kinder besteht also darinn, sich zu ihrer Schwäche herunterzulassen; ihr Diener zu werden, wenn man ihr Meister seyn will; ihnen zu folgen, wenn man sie regieren will; ihre Sprache und Seele zu erlernen, wenn wir sie bewegen wollen die unsrige nachzuahmen.«65
Diese Methode hat ein theologisches, aber auch ein philosophisches Vorbild. Sie erinnert wohl nicht zufällig an die Lehre des Sokrates, die Hamann an anderer Stelle folgendermaßen charakterisiert: »Das beste Uebungsmittel unserer Vernunft besteht darinn, Schule in sich selbst zu halten. Die Fertigkeit zu fragen und zu antworten ertheilt uns das Geschick eines Lehrers und ernährt zugleich die Demuth eines Schülers in uns. Der weiseste Bildhauer und Meister der Griechischen Jugend, der die Stimme des Orakels für sich hatte, frug wie ein unwißendes Kind, und seine Schüler waren dadurch im stande wie Philosophen zu antworten ja Sitten zu predigen, ihm und sich selbst.«66
Theologisch verstanden, folgt die von Hamann propagierte Lehrmethode, dem Weg Gottes, der sich nicht erst in der Menschwerdung, sondern schon in der Schöpfung auf den Menschen einlässt, zu ihm herunterlässt. »Die Schöpfung ist […] kein Werk der Eitelkeit; sondern der Demuth, der herunterlaßung.«67 Dem entsprechend konzipiert Hamann die geplante Kinderphysik als Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte. »Wenn Sie [Kant] ein Lehrer für Kinder seyn wollen; so müßen Sie ein väterl. Herz gegen Sie haben, und dann werden Sie ohne roth zu werden auf das höltzerne Pferd der Mosaischen Mähre sich zu setzen wißen. Was Ihnen ein höltzern Pferd vorkommt, ist vielleicht ein geflügeltes – –.«68
61 62 63 64 65 66 67 68
ZH 1, S. 446,19f. ZH 1, S. 446,21–23. ZH 1. 445,7f. ZH 1, S. 445,33–35. ZH 1, S. 446,14–17. ZH 1, S. 248,37–249,7 (an Gottlob Immanuel Lindner im September 1758). ZH 1, S. 452,23f. ZH 1, S. 451,6–9.
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Hier deutet sich an, dass es im Verständnis der Natur um mehr als Physik geht. Auch die Poesie, auch die Kunst der Auslegung, die Hermeneutik, auch die Ästhetik im weiten Sinn des Wortes sind erforderlich, um die Natur zu verstehen, ist diese doch, wie Hamann schreibt, »ein Buch« oder auch ein »Brief«, zu dessen Verständnis man erkennen sollte, wer ihn schreibt und an wen er adressiert ist. »Gesetzt wir kennen alle Buchstaben darinn so gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren und aussprechen, wir wißen so gar die Sprache, in der es geschrieben ist – – Ist das alles schon genung ein Buch zu verstehen, darüber zu urtheilen, einen Charakter davon oder einen Auszug zu machen. Es gehört also mehr dazu als Physik um die Natur auszulegen. Physik ist nichts als das Abc. Die Natur ist eine Aequation einer unbekanten Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern geschrieben wird, zu dem der Verstand die Puncte setzen muß.«69
Halten wir den Satz fest, »um die Natur auszulegen, braucht es mehr […] als Physik«. Wir würden Hamann jedoch fundamental missverstehen, wenn wir dieses »Mehr als Physik« im Sinne der Metaphysik verstehen würden. Es geht Hamann um die Wahrnehmung der Natur als Schöpfung, als Raum, in dem sich das Wirken des Schöpfers in der Geschöpflichkeit, in der Sinnlichkeit und insbesondere in der menschlichen Sprache geradezu aufdringlich mitteilt. Insofern kann man sagen, dass für Hamann das »Mehr als Physik« auf dem Felde einer theologischen Ästhetik zu suchen ist, wie er sie klassisch in seiner Schrift »Aesthetica in nuce« entworfen hat. Auf Hamanns »[…] Liebesbriefe an einen Lehrer der Weltweisheit, der eine Physick für Kinder schreiben wollte«, hat der angesprochene Kant nicht geantwortet. Hamanns letzter Brief zur Sache schließt mit der Aufforderung: »Sie müßen mich fragen und nicht sich, wenn sie mich verstehen wollen.«70 Dazu hat sich Kant jedoch nicht bereitgefunden. Als »armer Erdensohn« – wir haben das Zitat bereits gehört – konnte er Hamanns Sprache, die vermeintliche »Göttersprache der Anschauenden Vernunft« nicht verstehen, blieb er bei seiner Forderung: »Was man mir aus den gemeinen Begriffen nach logischer Regel vorbuchstabiren kan das erreiche ich noch wohl.«71 Auch der zweite Wortwechsel zwischen Kant und Hamann, auf den ich noch in Kürze eingehen will, ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Methoden, Sprachformen und Stile. Kants berühmter Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, erstmals erschienen im Dezember 1784, hat Hamann zu einer überaus scharfen Kritik herausgefordert. Hamanns Antwort, die er bezeichnenderweise nicht direkt an Kant adressiert, sondern in einem Brief an einen anderen Genossen der Tischgesellschaft Kants, an Christian Jacob Kraus, 69 ZH 1, S. 450,13–20. 70 ZH 1, S. 453,14f. 71 ZH 2, S. 82,9–14.
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noch im selben Monat schreibt, läuft, wie er selbst schreibt auf eine »Verklärung der Kantschen Erklärung« hinaus. Gemeint ist eine »Umkehrung einer verkehrten Aufklärung in wahre Aufklärung«.72 In welchem Sinne Kants Verständnis der Aufklärung in Hamanns Augen verkehrt ist und der Umkehrung bedarf, kann man, von den frühen Briefen zur Kinderphysik herkommend, schon vermuten: Es geht auch hier noch einmal um Kondeszendenz, um die Zuwendung zu den Schwachen, zu den Unmündigen. Der erste Absatz bei Kant lautet: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«73
Den Grundfehler dieser Definition von Aufklärung sieht Hamann »in dem vermaledeyten adiecto oder beywort selbstverschuldet«.74 »Unvermögen« sei »eigentlich keine Schuld«, sie werde »nur zur Schuld durch den Willen und deßelben Mängel an Entschließung und Muth«.75 Dann aber sei die Schuld nicht allein den Unmündigen anzulasten. Schuldig vielmehr seien die Vormünder: Sie schulden es den Unmündigen, dass sie sich auf deren Voraussetzungen einlassen, um sie nicht nur mit ihrem Wissen zu belehren, sondern auch ihren Willen und Mut zu stärken. »Wahre Aufklärung« müsste daher »in einem Ausgange des unmündigen Menschen aus seiner allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft« bestehen.76 Vormundschaft ist in diesem Zusammenhang theologisch konnotiert: es geht um eine angemaßte Mündigkeit, es geht um den Menschen als Sünder, der sich dem Hören auf Gottes Wort verschließt und damit die Stelle des Vormunds, die, wie wir schon von Sokrates gehört haben, letztlich Gott allein zukommt, selbst besetzt. Diese Vormundschaft bedarf der Zurechtweisung: »Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang – und diese Weisheit macht uns feig zu lügen und faul zu dichten – desto muthiger gegen Vormünder, die höchstens den Leib tödten und den Beutel aussaugen können – desto barmherziger gegen unsere unmündige Mitbrüder und fruchtbarer an guten Werken der Unsterblichkeit.«77
72 Oswald Bayer in seiner eindringlichen Exegese des Briefes: Selbstverschuldete Vormundschaft: Hamanns Brief an Christian Jacob Kraus vom 18. Dezember 1784, in: Bayer, Vernunft ist Sprache (wie Anm. 45), S. 427–468, 439. 73 Zitiert nach: Kant, Werke (wie Anm. 34), 9, S. 53–61, 53. 74 ZH 5, S. 289,30f. 75 ZH 5, S. 289,32–34. 76 ZH 5, S. 291,23f. 77 ZH 5, S. 291,24–28.
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Verglichen mit dieser Aufklärung, die auch eine Aufklärung des Herzens ist, erweist sich die von Kant repräsentierte »Aufklärung unsers Jahrhunderts« als »ein bloßes Nordlicht«, als »ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne Aufklärung für den faulen Verstand und ohne Wärme für den feigen Willen […]«.78
6.
»Metakritik über den Purismum der Vernunft«79
Es empfiehlt sich zur Lektüre und zum Verständnis der Schriften Hamanns, dem Titelblatt besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Der Titel ist gleichsam die Physiognomie, durch die sich die Seele einer Schrift mitteilt. Verweilen wir also bei dem Titel der nun abschließend vorzustellenden Kantkritik Hamanns, so ist zunächst das Wort Metakritik bemerkenswert. Es ist eine Neuprägung Hamanns und hat in der Auseinandersetzung mit Kants »Kritik der reinen Vernunft« ihren »Geburtsort«. Erfunden hat Hamann dieses Wort freilich als Analogiebildung. Metakritik ist eine Analogiebildung zu Metaphysik. Hamann erinnert an den »Geburtsort« des Begriffs der Metaphysik, »der in der zufälligen Synthese eines griechischen Vorworts liegt«.80 Entsprechend entwirft Hamann seine »Metakritik« nach der »Kritik der reinen Vernunft«. Es geht ihm dabei allerdings nicht nur um Fragen und Probleme, die Kants Kritik offenlässt, die man also einfach nach ihr behandeln kann. Vielmehr zeigt der Titel ja auch deutlich, dass die Metakritik sich zurückbezieht auf die Kritik Kants. Sie ist also eine Kritik der Kritik, indem sie Annahmen betrifft, die bei Kant unkritisch vorausgesetzt oder auch ebenso unkritisch als Ziel gesetzt werden. Gegenstand der Metakritik ist die Reinheit der Vernunft. Der »Purismus der Vernunft« fordert Hamann zum Widerspruch heraus: die Reinigung der Vernunft, die Hamann in drei Stufen vorstellt: »Die erste Reinigung der Philosophie bestand […] in dem theils misverstandenen, theils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen. Die zweite ist noch transcendenter und läuft auf nichts 78 ZH 5, S. 291,3–9. 79 Hamanns Versuch der »Metakritik«, den er Herder am 15. 9. 1784 brieflich übermittelt hat (ZH 5, S. 210–216; abgedruckt in der Werkausgabe N 3, S. 281–289), kann hier nur schlaglichtartig vorgestellt werden. Zum tieferen Verständnis ist der Kommentar von Oswald Bayer, Vernunft ist Sprache (wie Anm. 45) unverzichtbar. Zu »Grundlinien der Vernunftkritik« in der Moderne vgl. den gleichnamigen Sammelband, hg. v. Christoph Jamme (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1324), Frankfurt a. M. 1997, darin die instruktive Einleitung des Herausgebers (S. 9–32) und Bayer, Johann Georg Hamann. Radikaler Aufklärer als Metakritiker, S. 55–70. 80 N 3, S. 285,5f. Angespielt wird auf die bibliothekarische Erklärung des Begriffs: Andronikos von Rhodos habe die Schriften des Aristoteles geordnet und dabei die Texte der von Aristoteles so genannten »ersten Philosophie« nach den Schriften zur Physik angeordnet: das heißt die griech. Präposition meta hinzugefügt.
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weniger als eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induction hinaus […]. Der dritte höchste und gleichsam empirische Purismum betrifft also noch die Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum. Es geht aber einem auch beinah mit diesem Idol, wie jenem Alten, mit dem Ideal der Vernunft. Je länger man nachdenkt, desto tiefer und inniger man verstummt und alle Lust zu reden verliert.«81
Entscheidend ist die letzte Stufe: Für Hamann ist die Vernunft abhängig von der Sprache. Die Sprache ist nicht nur »Organon«, Werkzeug, dessen sich die Vernunft bedient, sondern im Sprachgebrauch findet die Vernunft auch ihr »Kriterion«.82 Grundsätzlich formuliert Hamann: »Ohne Sprache hätten wir keine Vernunft, ohne Vernunft keine Religion, und ohne diese drey wesentliche Bestandtheile unserer Natur weder Geist noch Band der Gesellschaft.83 Und: Ohne Wort, keine Vernunft — keine Welt. Hier ist die Quelle der Schöpfung und Regierung.«84
Wenn Hamann somit die Vernunft nicht als Schöpferin, sondern als Geschöpf der Sprache versteht, denkt er vor allem an ihre geschichtliche Abhängigkeit im Verhältnis zur Umgangssprache, zum überlieferten Sprachgebrauch, in dem Sinnlichkeit und Verstand unauflöslich miteinander verbunden sind. In diesem Verweis auf die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand, wie sie in der Sprache gegeben ist, sofern Wörter »ein ästhetische und logisches Vermögen«85 haben, liegt nicht zuletzt auch eine Gegenthese zur Metaphysik, wenn denn das Unternehmen der Metaphysik auf eine übersinnliche, rein geistige Wirklichkeit ausgerichtet ist und sich von der sinnlichen Welt ablöst. Gerade diese metaphysische Scheidung wird in Hamanns Metakritik kritisiert und überwunden. Was setzt Hamann der so verstandenen Metaphysik entgegen? Metakritik ist als Fortsetzung der Kritik zugleich deren Aufhebung, deren Übersetzung in eine andere Weise der Erkenntnis. Die Frage ist somit auch: Wie antwortet Hamann auf Kants »Kritik der reinen Vernunft«? Achtet man auf die Sprachform der »Metakritik«, fällt auf, dass Hamann sich immer wieder der bildlichen Rede bedient. Angesprochen wird mithin nicht nur die Vernunft in ihrem Vermögen, Begriffe zu bilden und zu ordnen, sondern auch in ihrem Vermögen der intellektuellen Anschauung. Nicht zufällig verdichtet sich die »Metakritik« in einem Bild, das man durchaus als Gegenentwurf zur metaphysischen Scheidung verstehen kann. Hamann findet es in der biblischen Erzählung vom Traum Jakobs
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N 3, S. 284,7–28. Wie Anm. 45. N 3, S. 231,10–12 (Zwey Scherflein). ZH 5, S. 95,21f (an Jacobi am 2. 11. 1783). N 3, S. 288,1.
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(Gen 28,10–15), die er mit Mitteln der Rhetorik als Sprachhandlung neu zu inszenieren sucht: »O um die Handlung eines Demosthenes und seine dreyeinige Energie der Beredsamkeit […]! so würd ich dem Leser die Augen öfnen, daß er vielleicht sähe – Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf- und Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit herabsteigen, auf einer Leiter, die kein Schlafender sich träumen läst […].«86
Nochmals wird »dem Leser«, in erster Linie also Kant, eine Rolle angeboten: die Rolle des träumenden Jakobs. Sich in ihn hineinzuversetzen, das hieße nicht nur den unendlichen Abstand zwischen Himmel und Erde, Gott und Mensch wahrzunehmen, sich mithin nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Gott im Himmel, der Mensch aber auf Erden ist (Pred 5,1). Es hieße vor allem auch, sich dafür offen zu halten, dass Himmel und Erde, Gott und Mensch miteinander kommunizieren können. Das Bild von der Leiter, auf der Heerscharen von Engeln auf und nieder steigen, steht ursprünglich in diesem theologischen Zusammenhang, kann aber auch, so wie Hamann es hier gebraucht, auf die menschliche Vernunft hin ausgelegt werden. Auch sie kennt ein Höchstes: »die Veste des reinen Verstandes«, und eine Tiefe: »den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit«. Himmelweit sind die Extreme auseinanderzuhalten, voneinander zu unterscheiden, und zugleich kommen sie auf geheimnisvolle Weise im Sprachvollzug zusammen, haben doch »Wörter«, wie eben bereits zitiert, »ein ästhetisches und logisches Vermögen«. Indirekt ist mit diesem Traumbild auch die Frage nach dem Ort der Vernunft aufgeworfen. Traut sie sich zu – und das dürfte der Verdacht Hamanns sein – die Leiter gleichsam hochzusteigen und den höchsten Punkt selbst zu besetzen, um von oben, also als oberstes Seelenvermögen, die unteren Instanzen von Verstand und Sinnlichkeit in ihrem Zusammenwirken zu beherrschen? Dann freilich würde die Jakobsleiter einseitig verkürzt,87 nicht nur in der Weise, dass in der Aufstiegsbewegung von der Gegenbewegung der Kondeszendenz abstrahiert wird, sondern auch mit dem Ergebnis, dass der Versuch, von unten zum höchsten Punkt aufzusteigen, prinzipiell zu kurz greift, um den »Himmel« wirklich zu erreichen. Das biblische Bild für diesen Fehlversuch ist der Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9). Wenn Hamann gegen Ende der »Metakritik« vom »Eckstein des kritischen Idealismus und seines Thurms und Logenbaues der reinen Ver-
86 N 3, S. 287,26–32; hier zitiert nach Bayer, Vernunft ist Sprache (wie Anm. 45), S. 362; dazu der Kommentar S. 362–373. 87 »Was ist das für eine Philosophie mit ihrer Jakobsleiter im Traum nach verjüngtem Maasstabe?« So Hamanns Frage in »Konxompax« (N 3, S. 225,24f.).
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nunft«88 spricht, sieht er auch in Kants Systembau eine »babylonische Architektonik«89 am Werk. Dabei dürfte auch Hamann nicht übersehen haben, dass es Kant mit seiner systematischen Bestandsaufnahme des menschlichen Erkenntnisvermögens gerade darum ging, die Vernunft von allen himmelstürmenden Bestrebungen abzuhalten und sie kritisch auf ihre Möglichkeiten hin zu begrenzen. Gleichwohl erkennt Hamann gerade in dieser Bescheidenheit auch Momente der Unbescheidenheit, sofern der Kantsche Systembau doch auf ein Ganzes ausgreift, das die Vernunft vollständig zu beherrschen trachtet, weil und sofern sie es »gänzlich aus sich selbst hervorbringt«.90 An dieser Stelle, wo es um den »Grundstein«, mithin um die prinzipiellen Voraussetzungen des Theoriegebäudes geht, kommen Idealisierungen ins Spiel, deren Fiktionalität Hamann metakritisch zu entlarven sucht. Er sucht und findet »Kants archimedischen Punkt und gleichzeitig Grundfehler […] in dem Versuch, die unumgängliche sprachliche Verfaßtheit des Denkens auf dessen reine, im Erkenntnisvermögen des Gemüts verankerte und von ihrer sprachlich-kontingenten Bezeichnung unabhängige Struktur hin zu überspringen«.91 Auch Kants Vernunft dichtet und träumt92 und steht in der Gefahr, allzu unkritisch, allzu leichtgläubig ihren eigenen Fiktionen zu verfallen. Dann aber ergeht es dem Philosophen so wie dem Hund in der Fabel Äsops: Er schnappt nach dem Bissen Fleisch, den er im Spiegel des Wassers sieht und verliert darüber das reale Stück Fleisch, das er schon im Maul hat. Dann aber liegt auf dem Grund der Kantschen Kritik »Unkunde der menschl. [Vernunft], mit der man anfangen muß und sehr bekannt seyn muß, ehe man es wagt nach jener Perle unterzutauchen und sie zu fischen. Sonst geht es uns wie dem Hunde in der bekannten Fabel, über dem Schatten verlieren wir den Bißen, über das Ideal das Reelle, und über das Epitheton der Reinigkeit die Sache selbst und ihre Substantz«.93 Nochmals ist es also ein »vermaledeytes« Adjektiv, das Hamanns Widerspruch erweckt. Doch welches Adjektiv könnte positiv die menschliche Vernunft cha88 N 3, S. 289,14–16. 89 N 3, S. 240,11f (Zwey Scherflein); zur weiteren Verwendung und Auslegung der Turmbaugeschichte bei Hamann: Johannes von Lüpke, »Über Protestantismum, Catholicismum und Atheismum«. Konfessionelle Vielfalt und Einheit in der Sicht Hamanns, in: Manfred Beetz / Andre Rudolph (Hg.), Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 45), Berlin u. a. 2012, S. 173–195, insbes. 180–183 und 186f. 90 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Vorrede zur 1. Aufl., A XX), in: Kant, Werke (wie Anm. 34), 3, S. 18. 91 Bayer, Vernunft ist Sprache (wie Anm. 45), S. 407f. 92 Vgl. N 3, S. 289,6–10: »Hier schnarcht der Homer der reinen Vernunft ein so lautes Ja! […], weil er sich den bisher gesuchten allgemeinen Charakter einer philosophischen Sprache als bereits erfunden, im Geiste geträumt.« 93 ZH 7, S. 49, 28–33 (an Jacobi am 9. 11. 1786).
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rakterisieren? Worin besteht ihre Menschlichkeit? Entscheidend wohl darin, dass sie um ihre Geschöpflichkeit weiß und sich der Selbstzuschreibung göttlicher Prädikate enthält. So wie es »keine absolute[n] Geschöpfe«94 gibt, so lässt sich auch die Vernunft nicht »absolut« behandeln.95 Als Geschöpf findet sich der Mensch vielmehr in Verhältnissen vor, die es wahrzunehmen und zu wahren gilt. Mit dem Begriff »ächter, lebendiger, verhältnismäßiger Vernunft«96 formuliert Hamann exakt den Gegenbegriff zur »reinen«, in ihrer Reinheit letztlich nur auf sich selbst bezogenen und somit verhältnislosen Vernunft. Für »verhältnismäßige Vernunft« könnte man auch kommunikative Vernunft sagen, wobei der Begriff der Kommunikation für Hamann theologisch, genauer: christologisch geprägt ist. In Jesus Christus kommen Gott und Mensch, göttliche und menschliche Eigenschaften, unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt zusammen, so dass sie in klarer Unterschiedenheit voneinander zugleich in intensivster Weise aufeinander eingehen und miteinander kommunizieren, ja einander austauschen. Dieses christologische Dogma, wie es das Konzil von Chalcedon 451 n. Chr. formuliert hat, wird für Hamann zum Schlüssel, um zu verstehen, was der Logos im Allgemeinen wesentlich ist. Zurückbezogen auf den Begriff des Logos ist auch der Begriff der Vernunft wesentlich durch sprachliche Austauschbeziehungen bestimmt. Zugespitzt formuliert: »Vernunft ist Sprache Λογος […].«97 Fasst sich Hamanns Metakritik in dieser These zusammen, so hat er doch mit ihr keineswegs Abschließendes behauptet. Es ist vielmehr, wie er sogleich hinzufügt, der »Markknochen«, an dem »nag’ ich und werde mich zu Tod drüber nagen. Noch bleibt es immer finster über diese Tiefe für mich: Ich warte noch immer auf einen apokalyptischen Engel mit einem Schlüßel zu diesem Abgrund.«98 Welches Licht könnte diese Dunkelheit, die »im Augapfel des Sensus communis«, »in der Gebärmutter der Begriffe«99 verborgen liegt, aufhellen? Das Licht der Vernunft in der Rückwendung auf sich selbst? Hat Kant verstanden, womit Hamann gerungen und was er ihm zu denken gegeben hat? Und muss der von Hamann angeregte Wortwechsel an diesem Punkt abbrechen? In jedem Fall sind wir als diejenigen, die Hamann und Kant zu verstehen suchen, herausgefordert, an dem »Markknochen« von Sprache und Vernunft weiter zu »nagen«.
94 ZH 7, S. 174,17f (an Friedrich Heinrich Jacobi am 30. 4. 1788). 95 »Seyn, Glaube, Vernunft sind lauter Verhältniße, die sich nicht absolut behandeln lassen […]« (ZH 7, S. 173,8f; an Jacobi am 29. 4. 1787). 96 ZH 7, S. 168,34 (an Jacobi am 27. 4. 1788). 97 ZH 5, S. 177,18 (an Johann Gottfried Herder am 8. 8. 1784). 98 ZH 5, S. 177,18–21; zur Figur des »apokalyptischen Engels« vgl. Apk 9,1; 20,1. 99 N 3, S. 31,20f (Ritter von Rosencreuz).
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Die Königsberger Kant- und Copernicus-Wochen 1939–1942
I Das Jahr 1924 brachte mit dem 200. Geburtstag Immanuel Kants am 12. 4. 1924 für Stadt und Universität Königsberg eine gute Gelegenheit zur Selbstvergewisserung in einer schwierigen Phase,1 die aus der Retrospektive als Zwischenkriegszeit2 bezeichnet werden kann. Die Provinz Ostpreußen war nach dem Versailler Vertrag und der Abtretung Westpreußens und der Freien Stadt Danzig ohne Landverbindung zum Deutschen Reich, dessen Aufmerksamkeit allerdings seit 1923 vorrangig dem Ruhrkampf galt. Das bildete für Arnold Kowalewski (1873–1945) den Ansatzpunkt für eine »moderate ›Verostpreußung‹ des Philosophen« Kant.3 Dieses regionalgeschichtliche Verständnis war vorbereitet worden durch den jüdischen, gleichwohl dem Nationalsozialismus zeitweilig nahestehenden und sich ihm geradezu andienenden, Königsberger Historiker Hans Rothfels (1891–1976).4 Es ermöglichte eine Berufung auf Kant unabhängig von 1 Christian Tilitzki, Die Königsberger Kant-Tradition 1904–1945, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 50 (2004), S. 191–287, zur Kant-Feier 1924 ebd. S. 221– 226. 2 Boris Barth, Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt am Main u. a. 2016. 3 Tilitzki, Kant-Tradition (wie Anm. 1), S. 211. Zu Kowalewski vgl. Protokollbuch der Philosophischen Fakultät der Albertus-Universität zu Königsberg i Pr. 1916–1944, hg., eingeleitet, kommentiert und mit einem bio-bibliographischen Anhang versehen von Christian Tilitzki (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 30), Osnabrück 2014, S. 154f. Anm. 707. Kowalewski erhielt, nachdem 1922 der Einsatz von Hans Vaihinger (1852–1933) zu seinen Gunsten ins Leere gelaufen war, 1934 »einen gut dotierten Lehrauftrag« für ostpreußische Geistesgeschichte, indem seine Unterstützer ihn trotz seines früheren Liberalismus als einen Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung darstellten (ebd. S. 238–241). 4 Tilitzki, Kant-Tradition (wie Anm. 1), S. 234–241. – Zu Rothfels allgemein vgl. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biografie im 20. Jahrhundert (2001); Wolfgang Neugebauer. Art. Rothfels, Hans, in: NDB 22 (2005), S. 123–125, hier S. 123. Vgl. auch Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 621f; Ingo Haar, Hans Rothfels, in: Michael Fahlbusch / Ingo Haar / Alexander Pinwinkler (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure,
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einem Bekenntnis zu seinem Weltsystem und damit auch eine Umgehung des umstrittenen Neukantianismus.5 Durch die damit verbundene Historisierung trat Kant in die Reihe großer Deutscher, die man ohne Diskurs und ohne genauere Kenntnis seiner Werke würdigen und verehren konnte. Dabei musste es zumindest politisch keineswegs immer »moderat« zugehen. So appellierte Friedrich Baethgen in einer Rede am Kanttag 1939 mit der Phrase vom geschichtsprägenden »Gegenstoß des Slawentums«6 an die Gefühle von Erniedrigung und Bedrohung, die in Ostpreußen selbst wenige Monate vor dem deutschen Überfall auf Polen und selbst im gebildeten Bürgertum Königsbergs vorherrschten und die durch die bereits erfolgten Annexionen Österreichs und des Sudetenlandes7 naturgemäß eher befeuert wurden und zu einem aggressiven Ton führten, den die Königsberger Kantfeier von 19248 noch nicht kannte. Dabei setzte diese vielbeachtete Feier von 1924 Maßstäbe. Man versuchte die Bedeutung von Stadt und Universität am Pregel für das Reich zu betonen und dessen Interesse an der isoliert und fernab liegenden Provinz Ostpreußen wach zu halten. Man hatte den bedeutenden Berliner Theologen und Kulturpolitiker Adolf von Harnack (1851–1930) für die Festrede am Grabmal gewonnen.9 An der Universität sprach zuvor der Islamwissenschaftler und – als preußischer Staatssekretär und Kultusminister – auch Hochschulreformer Carl Heinrich
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Netzwerke, Forschungsprogramme, Teilband 1–2, ²(2017), hier 1, S. 662–669, bes. S. 664 über Rothfels’ aktive Rolle bei den Königsberger Studentenprotesten von 1931 gegen den Versailler Vertrag. Hans-Ludwig Ollig, Der Neukantianismus, Stuttgart 1979 (Sammlung Metzler 187); ders. (Hg.), Materialien zur Neukantianismus-Diskussion (Wege der Forschung 67), Darmstadt 1987. Ansprachen von Wilhelm Gallas und Friedrich Baethgen, Königsberg 1939 (Der Kant-Tag der Albertus-Universität in Königsberg [Pr.] 1939). Enthält: (a) Wilhelm Gallas, Zum Gedächtnis Immanuel Kants, S. 3–10, (b) Friedrich Baethgen, Vom deutschen Reich des Mittelalter, S. 11–254, hier S. 18. – Dass es sich hier nicht bloß um populistische Rhetorik handelt, zeigt Baethgens Brief an den deutschen Botschaftsrat Johannes Smend in Rom (Königsberg, 13. 3. 1932, in Kopie erhalten in München, Archiv der Monumenta Germaniae Historica, Nachlass Friedrich Bock NLB 188, Nr. 6). Baethgen konstatiert unter den Polen »ein unaufhaltsames Anwachsen des Nationalismus chauvinistischer Färbung, und diese Entwicklung geht überall in erster Linie zu Lasten der deutschen Minderheit und damit auch der Beziehungen zum Reich. Die Memelaffaire erscheint uns daher auch nicht als ein isolierter Vorgang, sondern gewissermaßen als ein Probestück, das an mehr als einer Stelle Nachahmung finden könnte. Vor allem haben wir um Danzig die allerschwersten Sorgen, und dass dann Ostpreussen an die Reihe kommen soll, sprechen selbst amtliche polnische Persönlichkeiten mit einem Zynismus aus, der kaum zu überbieten ist.« Baethgen, Vom deutschen Reich des Mittelalter (wie Anm. 6), S. 11f. Tilitzki, Kant-Tradition (wie Anm. 1), S. 221–226 unter besonderer Berücksichtigung der Festansprachen. Adolf von Harnack, Immanuel Kant (1724–1924). Gedächtnisrede zur Einweihung des Grabmals, im Auftrag der Albertus-Universität und der Stadt Königsberg in Preußen am 21. April 1924 im Dom zu Königsberg gehalten, Berlin 1924.
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Becker (1876–1933)10 über »Kant und die Bildungskrise der Gegenwart«.11 Eine Reihe spektakulärer Ehrenpromotionen sollte außerdem das reichsweite Interesse auf Königsberg lenken – und zwar mit Erfolg: Das Presseecho war enorm. Mit Bernhard Schmidt (1872–1947), dem damaligen Direktor der Marienburg, und vor allem der Dichterin Agnes Miegel (1879–1964) ehrte man Persönlichkeiten aus der Provinz Ostpreußen, die auch im Reich bekannt waren, und konnte so den ostpreußischen Beiträge zur deutschen Kultur herausstellen. Diesem Ziel diente auch eine 269 Seiten umfassende Festschrift, die in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig herauskam.12 Zumeist erst im Mai folgten weitere Kantfeiern in Berlin, Würzburg, Frankfurt am Main, Rostock, Basel und Zürich. Die Erinnerung an den Königsberger Festakt zum 200. Geburtstag blieb über den Zusammenbruch Ostpreußens hinaus lebendig; am 6. Juni 1964 etwa brachte das »Ostpreußenblatt« einen autobiographischen Bericht über den Festakt.13 Als bemerkenswert wurde allgemein aufgenommen, dass der Abriss des bereits wieder verfallenen neuen Kant-Grabmals von 1880 und die Errichtung des bis heute erhaltenen Memorialbaus an gleicher Stelle nicht von der öffentlichen Hand sondern privat durch Hugo Stinnes (1870–1924)14 finanziert wurde, einem Industrie-Mogul aus dem westdeutschen Bergbau, der gleichzeitig mit der französisch-belgischen »Mission interalliée de Contrôle des Usines et des Mines« (MICUM) über eine Beilegung des Ruhrkampfes verhandelte.15 Stinnes erlebte die Einweihung des Denkmals allerdings nicht mehr – er starb zwölf Tage vorher am 10. 4. 1924. Das neue, auf einem Entwurf von Friedrich Lahrs (1880–1964)16 basierende Grabmal dokumentiert eindrucksvoll, welche Rolle Kant hier zugedacht wurde. Anstelle der bisherigen neugotischen Kapelle, die der äußeren Form nach noch an ein traditionelles Totengedenken und die Fürbitte für die arme Seele erinnerte, trat ein Tempel aus rotem Rochlitzer Porphyr mit der Säulenordnung 6:5, allein 10 Obschon keiner Partei angehörend, wirkte er 1921 und 1925–1930 als preußischer Kultusminister, dazwischen als Staatssekretär im preußischen Kultusministerium. 11 Carl Heinrich Becker, Kant und die Bildungskrise der Gegenwart. Festrede gehalten bei der Königsberger Kantfeier 1924, Leipzig 1924, Nachdruck bei Traugott Weisskopf: Immanuel Kant und die Pädagogik. Beiträge zu einer Monographie, Zürich 1970 (Basler Beiträge zur Philosophie und ihrer Geschichte 5), S. 497–511. 12 Immanuel Kant. Festschrift zur Zweiten Jahrhundertfeier seines Geburtstages, hg. von der Albertus-Universität in Königsberg i. Pr., Leipzig 1924. 13 Die Kantfeier 1924 im Königsberger Stadttheater, in: Das Ostpreußenblatt vom 6. Juni 1966, 15. Jahrgang Folge 23, S. 12. Quelle sind die Erinnerungen von Frieda Magnus-Unzer. 14 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen, 1870–1924, München 1998; Werner Plumpe, Art. Stinnes, Hugo, in: Neue Deutsche Biographie (NDB) 25 (2013), S. 355. 15 Feldman, Stinnes (wie Anm. 14), S. 842–881. 16 Professor an der Königsberger Kunstakademie 1911–1934.
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auf rechten Winkeln aufbauend und ohne alle Rundformen, mit minimalistischer Epigraphik17 und ebenso reduziertem plastischem Schmuck. Es wurde so verstanden, dass diese klaren Strukturen etwas mit Kants Philosophie zu tun haben.18 Ob dies einer kritischen Überprüfung Stand hält, sei dahingestellt. Konkret sind die von antiken Tempeln entlehnten Formen auf Ehrfurcht und Bewunderung, fast Anbetung angelegt. Im Zentrum der Weihestätte wurde an der Wand zum Dom ein wuchtiger Kenotaph errichtet, da Kants Gebeine in der nunmehr überbauten eigentlichen Grabstätte in der Erde verblieben. In gewisser Weise konterkariert er mit seiner Leere die quasi-religiöse Stimmung. Diese inhaltliche Beliebigkeit ermöglichte es 1934 Hitlers Architekten Ludwig von Troost, für die Umgestaltung des Münchner Königsplatzes bei den Ehrentempeln für die Toten des Hitlerputsches von 1923 auf ähnliche Formen zurückzugreifen und eine ähnliche Wirkung zu erzielen, auch wenn er die Tempel in München freistehend und breiter und wuchtiger ausgestaltete.19
II Wenn man fragt, was einen Hugo Stinnes bewogen haben mag, in Königsberg ein Ehrenmal für Kant zu finanzieren, so wird man auf die hohe Popularität des Philosophen gerade in der Nachkriegszeit stoßen. Die Verehrung Kants im deutschen Bildungsbürgertum wurde seit 1905 durch Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) geprägt, der mit seiner ca. 1000 Seiten umfassenden Monographie »Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk« einen germanischen Heros beschworen und für seine bürgerlichen Leser erschlossen hatte, um ihn, wie Chamberlain im Vorwort sagt, »nicht einer Gelehrtenkaste zum Al-
17 Bereits 1904 hatte Lahrs die Kant-Tafel an der Zyklopenmauer am Gesekus-Platz mit dem für die populäre Kant-Rezeption maßgeblichen Zitat aus dem ›Beschluss‹ der ›Kritik der reinen Vernunft‹ installiert, die vor 1924 auch das Grabmal zierten: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«. Vgl. Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, hier 7, S. 300. 18 Vgl. Herbert M. Mühlpfordt, Ewige Ruhe am Dom. Zum 195. Todestag von Immanuel Kant, in: Das Ostpreußenblatt vom 13. 2. 1999, S. 9: »Der Künstler dieses würdevollen Baues hat mit den hohen Pfeilern wohl den Flug der hohen Gedanken, mit dem granitenen Sarkophag die Wucht der Maxime Kants versinnbildlichen wollen.« 19 Klaus Anton Altenbuchner, Der Königsplatz in München. Entwürfe von Leo von Klenze bis Paul Ludwig Troost, in: Oberbayerisches Archiv 125 (2001), 7–126; »zu den Vorbildern der ›Ehrentempel‹ in der Grabmalsarchitektur« verweist Altenbuchner a. a. O., S. 87 Anm. 320 auf Karl Arndt, Die Ehrentempel und das Forum der NSDAP am Königsplatz in München, in: Kunstchronik 21 (1968), S. 395–398, hier S. 397.
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leinbesitz zu überlassen«.20 Eine erweiterte 2. Auflage erschien 1909, Luxusausgaben und Nachdrucke folgten. Noch stärker verbreitet als das Kant-Buch waren Chamberlains »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts«,21 die neben anderen Geistesgrößen wiederum Kant in den Mittelpunkt stellten und eine dezidiert rassistische Betrachtung der deutschen Geschichte boten. Chamberlain versprach darin nichts weniger als eine »Darstellung des Werdens und Wachsens unserer germanischen Weltanschauung bis zu Kant«.22 Entscheidend in dieser Kulturgeschichte sind die Heroen der Naturerkenntnis: »Die Menschen, die wir Genies nennen, ein Leonardo, ein Shakespeare, ein Bach, ein Kant, ein Goethe, sind unendlich fein organisierte Beobachter; freilich nicht in dem Sinne des Grübelns und Grabbelns, wohl aber im Sinne des Sehens, sowie des Aufspeicherns und Verarbeitens des Gesehenen.«23 Im Genie tritt nach der völkischen Auffassung nur der Wesenskern eines Volkes konzentriert auf, dass sich darin wiedererkennen soll. So sei der »Trieb zum forschenden Entdecken dem Germanen« geradezu »angeboren«, aber »Rom hat stets mit unfehlbarem Instinkt es verstanden, dasjenige, was geeignet war, das Germanentum zu fördern, hintanzuhalten«,24 wobei Rom gleichermaßen die katholische Kirche und die romanische Welt schlechthin meint. Chamberlains Kant-Buch selbst mündet in unverhohlenes antisemitisches Pathos, mit der auch zuvor schon propagierten Abschaffung der Vorstellung Gottes als eines Weltenschöpfers soll ein judenfreies, deutsches Christentum entstehen.25 Durch schillernde Darstellung, die Handlungsanweisungen vermied, war Chamberlain für ein breites Spektrum in der bürgerlichen Welt zugänglich und verhalf damit auch den weitaus rüderen Formen des Antisemitismus – etwa der Nationalsozialisten – im Bürgertum zu einem grundsätzlichen Entgegenkommen. Dennoch war Chamberlain nicht einfach »Hitlers Vordenker«, wie ihn unlängst Udo Bermbach im Untertitel einer Monographie bezeichnet hat.26 20 Houston Steward Chamberlain, Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk, ²München 1909, S. 3. 21 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. 1–2, München 1899. 22 Chamberlain, Grundlagen, 2 (wie Anm. 21), S. 738. 23 Ebd., S. 762. 24 Ebd., S. 763f. 25 »Um Kant zu verstehen, müssen wir also vor allem die ganze schwere Last an angeerbten und angelernten jüdischen Vorstellungen ein für allemal von uns abwälzen; Kant’s Religionslehre, so wissenschaftlich nüchtern sie auch auftritt, ist ein wahrer Jungbrunnen, aus dem wir gebadet und endlich – nach Jahrtausenden! – von den semitischen Wahngedanken gereinigt hervorgehen.« Vgl. Houston Steward Chamberlain: Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk, ²München 1909, S. 854f. 26 Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain: Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart 2015. Wolfgang W. Müller, Der Bayreuther Kreis und sein Umfeld. Religion – Macht – Musik (TeNOR – Text und Normativität 9), Basel 2022; Sven Fritz, Houston Stewart Chamberlain – Rassenwahn und Welterlösung. Biographie, Paderborn 2022.
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Ausdrücklich auf Chamberlain berief sich allerdings Hitlers früher Weggefährte Alfred Rosenberg (1893–1946)27 in seinem »Mythus des XX. Jahrhunderts«.28 Chamberlain markiert den gefährlichen Scheitelpunkt zwischen dumpfem Germanenkult und Antisemitismus auf der einen und bürgerlicher Kultur auf der anderen Seite; sein zweifelhaftes Verdienst ist es, beide miteinander zu vereinen. So ist auch das Kantbuch zunächst nichts anderes als der Versuch, Kants Bedeutung für die aktuellen Naturwissenschaften darzustellen und ihn gleichzeitig als Wegbereiter einer modernen Religiosität zu würdigen, die ihre Bedeutung allein in der »praktischen Vernunft«, d. h. der Ethik, habe. Vor allem aber stellt Chamberlain Kant in die Abfolge von exzeptionellen genialischen Menschen,29 deren Zusammenstellung etwas Willkürliches hat und je nach Bedarf auch abgeändert werden konnte – so wie man in Königsberg alsbald Copernicus anstelle von Giordano Bruno in diese Reihe aufnahm. Das war auch folgerichtig, denn im Kontext von Chamberlains Gesamtwerk gehört Kant zum Repräsentanten des kulturschöpfenden Germanentums, das sich in ihm über die romanische Welt erhob. Das war besonders nach dem Versailler Vertrag Balsam für die deutschnationale und mehr noch die ostpreußische Seele.
III Während die Königsberger Kant-Gesellschaft – so jedenfalls der Ergebnis der Untersuchungen von Christian Tilitzki – auf ihren nicht-öffentlichen Tagungen sich über längere Zeit von den politischen Erwartungen des NS-Regimes fern halten konnte,30 verschob sich das öffentlich präsentierte Kant-Verständnis seiner Universität nach 1933 massiv. Das lag nicht primär am direkten Zugriff des Nationalsozialismus auf Kant, dessen Schrifttum weder zur Rassenlehre noch zum Führerstaat passte, geschweige denn zu den unverkennbaren Kriegsvorbereitungen. Erst durch Eingliederung in die Reihe deutscher Genies, wie sie Chamberlain vorbereitet hatte, konnte Kant auch für das den NS-Staat nutzbar gemacht werden. Dies geschah insbesondere durch die Fiktion einer ostpreußischen Kontinuität zwischen Copernicus und Kant. In der NS-Presse wurde 27 Reinhard Bollmus, Art. Rosenberg, Alfred Ernst, in: Neue Deutsche Biographie (NDB) 22 (2005) S. 59–61; Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005. 28 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, Hoheneichen, München 1930 (und zahlreiche spätere Aufl.) Zur Kritik: Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, ²München 2002. 29 Das Kant-Buch überschreibt seine Kapitel: Goethe – Leonardo – Descartes – [Giordano] Bruno – Plato – Kant, wobei das letzte Kapitel mit über 250 Seiten bei weitem das umfangreichste darstellt. 30 Tilitzki, Kant-Tradition (wie Anm. 1), S. 241–258.
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darum freudig begrüßt, dass Alfred Rosenberg in seiner Königsberger Ansprache von 1939 »die Taten Kants und Copernikus eingehend würdigte und zugleich erneut unter Beweis stellte, dass der Nationalsozialismus Bewahrer und Fortsetzer einer großen Vergangenheit sei. So wie einst die kopernikanische Idee ein altes Weltbild in Trümmer gelegt habe, sowie die Erkenntniskritik von Immanuel Kant das kritiklose Geschwätz und die hemmungslose Schwärmerei überwunden habe, so habe heute das rassegebundene Denken ebenfalls einen weiteren Ballast artfremder Gedankengebilde von sich abgeschüttelt.«31 Dabei galt das Interesse der Berliner Parteifunktionäre weit mehr dem Frauenburger Astronomen als Kant und das umso mehr, als die polnische Presse diesen Copernicus für sich reklamierte und vehement die Forderung nach der Gründung einer Universität in einer ehemals westpreußischen Stadt, vorzugsweise in Torun´, erhob, die seinen Namen tragen sollte. Es kam auf deutscher Seite zu hektischem Schriftwechsel verschiedenster ostpreußischer Stellen und dem für das Universitätswesen zuständigen »Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« (abgekürzt: REM) unter der Leitung von Bernhard Rust (1883–1945), der zuvor Studienrat am Ratsgymnasium Hannover und Gauleiter von Lüneburg-Stade bzw. Süd-Hannover-Braunschweig gewesen war.32 Den polnischen Initiativen wollte man durch eine deutsche Copernicus-Universität zuvorkommen,33 die bald in Posen, bald in Frauenburg oder Allenstein, bald durch Umbenennung der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau oder der Albertina in Königsberg verwirklicht werden sollte, jedoch nie zustande kam. Nach mancherlei Hin und Her, das sich in einer Akte des Reichswissenschaftsministerium niedergeschlagen hat, die heute im Bundesarchiv Standort Lichterfelde liegt (R 4901 1325 und 1326), beschloss man zum einen die Durchführung von Copernicus-Feiern und -Ausstellungen an allen deutschen Universitäten und für Königsberg eine gemeinsame Kant- und Copernicuswoche, die zum einen die Königsberger Kant-Tradition erneuern zum anderen die Inanspruchnahme des Copernicus für das Deutschtum stärken sollten. 31 Aus der Bewegung, in: Illustrirte Zeitung Leipzig Nr. 4904 vom 9. März 1939, S. 122. Fast wortgleich die Zusammenfassung vor dem Abdruck der Ansprache: Alfred Rosenberg: Coppernicus und Kant, in: ders., Tradition und Gegenwart. Reden und Aufsätze 1936–1940, hg. von Karlheinz Rüdiger, 3München 1941 (Blut und Ehre 4), S. 232–244, hier S. 232. 32 Hans-Christof Kraus, Art. Rust, Karl Josef Bernhard, in: Neue Deutsche Biographie (NDB) 22 (2005), S. 301; Anne Christine Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945 (Fischer Taschenbücher Allgemeine Reihe. Zeit des Nationalsozialismus 19425), Frankfurt 2012. 33 Kurt Forstreuter, Der Plan einer deutschen Copernicus-Universität in den Jahren 1938/ 1939, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 36 (1972), S. 161–172. Für die Verleugnung der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge ist die Ausblendung jeglicher NS-Bezüge bei der von Albert Brackmann initiierten Publikationsstelle Berlin-Dahlem und bei Funktionären wie dem Gauleiter Erich Koch oder dem SS-Obersturmbannführer Heinrich Harmjanz kennzeichnend.
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Ob Copernicus »Deutscher« oder »Pole« gewesen sei, das war schon lange ein Streitpunkt, der sich nicht zuletzt in einer nicht enden wollenden Debatte über die Schreibweise dieses Namens ausdrückte.34 Die letztendliche Entscheidung der deutschen Seite für die einfache germanisierte Schreibweise »Nikolaus Kopernicus« wurde nicht von einem Expertengremien sondern von »Reichsleiter« Alfred Rosenberg getroffen. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als würde »Nikolaus Koppernikus« den Sieg davontragen, dann wieder »Nicolaus Coppernicus« (immer noch mit doppeltem p), aber das verhinderte Rosenberg mit einer Stellungnahme, die sich der Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877– 1946) mit Erlass vom 28. 12. 1942 zu eigen machte.35 Gleichzeitig sorgte er sich um die Eingliederung des Frauenburger Domherren in die Reihe deutscher Ausnahmegestalten, in denen sich der von Chamberlain beschworene germanische »Trieb zum forschenden Entdecken« manifestiert habe. Damit wurde er geradezu zum Zwillingsbruder Immanuel Kants.
IV Die Albertina hatte 1932 den Kant-Forscher Hans Heyse (1891–1976) auf den KantLehrstuhl berufen. Dieser trat 1933 der NSDAP bei (das war noch nicht ungewöhnlich) und suchte dann (was aussagekräftiger ist) die Nähe zu Rosenberg. 1934 wandte er sich in den von Rosenberg herausgegebenen »Nationalsozialistischen Monatsheften« an die Parteigenossen, um ihnen »Kant und wir«36 nahezubringen. Da war er schon Rektor der Albertina – und blieb es bis 1935, wo er nach Göttingen wechselte – oder wegen Bevorzugung ostpreußischer vor parteipolitischen Interessen auf Druck des Reichswissenschaftsministeriums wechseln musste (wie Ralf Meindl vermutet).37 Doch auch dort blieb er Rosenberg verbunden und übernahm auf dessen Wunsch die Leitung der Hallenser Kant-Gesellschaft und damit die Herausgabe der »Kant-Studien«.38 Rudolf Malter, der sich 1992 mit den »Königsberger Kant-Ansprachen 1804–1945« befasste, beschreibt dies als Einbruch »der neuen politischen Ära, deren Kulturpolitik die Hallenser Kant-Gesellschaft zum Opfer fiel«, wohingegen seiner Meinung nach »in den Reden, die bei den 34 Hans Koeppen, Die Schreibweise des Namens Copernicus. Betrachtungen zur Schreibung des Namens des großen Astronomen, ausgehend von der Kontroverse im Dritten Reich, in: Friedrich Kaulbach / Udo Wilhelm Bargenda / Jürgen Blühdorn (Hg.), Nicolaus Copernicus zum 500. Geburtstag, Köln, Wien 1973, S. 185–230. 35 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1326, Bl. 42r–47r. 36 Hans Heyse, Kant und wir, in: Nationalsozialistische Monatshefte 5 (1934), S. 894–899. 37 Rolf Meindl, Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch, eine politische Biographie (Einzelveröffentlichungen des deutschen Historischen Institutes Warschau 18), Osnabrück 2007, S. 162. 38 Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 6), S. 75.
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›Kanttagen‹ 1938 und 1939 sowie bei der Kant-Kopernikus-Feier 1940 in Königsberg gehalten wurden, […] die allgegenwärtige Ideologe so gut wie keine Rolle« spielte.39 Etwas vorsichtiger äußerte sich 2014 Christian Tilitzki: »Während des Zweiten Weltkrieges forderte die neu begründete Tradition einer ›Kant-Coppernicus-Woche‹ zum Ende des Wintersemesters den Ehrgeiz der Fakultät heraus, als seriösere Alternative zur NS-Ideologie der ›Volksgemeinschaft‹ wieder verstärkt weltanschauliche Sinnstiftung vermitteln zu können«.40 War das so?
Abb. 1: Offizielles Programmheft zur Kant-Copernicus-Woche 1939, hg. vom NSDAP-Gau Ostpreussen, Bildquelle: Bundesarchiv, Standort Lichterfelde, R 4901 1325 Bl. 322.
Die Kant-Copernicus-Wochen fanden an der Albertus-Universität statt; die Schriftenreihe »Reden zur Kant-Coppernicus-Woche« wurde in ihrem Namen publiziert. Die Presse hingegen sprach von der »Königsberger Kant-CoppernicusWoche veranstaltet von der Gauleitung der NSDAP«, ebenso ein Programmheft 39 Rudolf Malter (Hg.), »Denken wir uns aber als verpflichtet…«. Königsberger Kant-Ansprachen 1804–1945, Erlangen 1992, S. 27. 40 Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 25f.
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von 1939 von der »Kant-Coppernicus-Woche des Gaues Ostpreussen«. Beides war richtig, denn Universitätsleitung und Partei waren in der Gestalt des neuen Rektors der Albertina untrennbar verbunden. Nach einem kurzen, zweijährigen Zwischenspiel des baltischen Philologen Georg Gerullis (1888–1945)41 hatte 1937 der 34-jährige Hans-Bernhard von Grünberg (1903–1975),42 Professor für »wirtschaftliche Staatswirtschaft«, das Rektorat der Albertina angetreten und versah es bis zum Ende. 1937 hatte er über »Elemente einer rassen- und willensgebundenen Wirtschaftslehre« publiziert43 und gehörte 1964 zum Gründungsvorstand der NPD. 27 Jahre zuvor setzte er sich maßgeblich für eine Neugestaltung der universitären Kant-Feierlichkeiten ein und fand dabei die Unterstützung des ostpreußischen Oberpräsidenten Erich Koch (1869–1986).44 Das ergab sich sozusagen auf dem Flur der Gauleitung der Königsberger NSDAP: Koch war Gauleiter und von Grünberg ab 1938 der ihm nachgeordnete Gauamtsleiter sowie Gaudozentenbundführer – und dementsprechend wurde auch die »Kant-Coppernicus-Woche« zu einer gemeinsamen Veranstaltung von Gauleitung und Universität. Doch zunächst sorgte von Grünberg für eine erhebliche Aufwertung des jährlichen Kant-Gedenkens an der Albertina. Auf der Sitzung der Philosophischen Fakultät vom 22. 6. 1937 erfuhren deren Mitglieder, dass der Rektor »beabsichtigt, den Todestag Kants zum Feiertag der Universität zu machen«. Es gab eine – inhaltlich nicht dokumentierte – »Aussprache darüber«.45 Eine weitere Befassung der Fakultät scheint es vor der Feier 1938 nicht gegeben zu haben, es blieb ein Projekt der Universitätsleitung und der – im Fakultätsprotokoll nicht erwähnten – Gauleitung. In einem professionell gesetzten und gedruckten, also nicht etwa bloß maschinenschriftlichen oder per Matrize vervielfältigtem Rundschreiben vom 22. Januar 1938 erklärt der Rektor: »Die Universität hat die Absicht, jährlich am Todestage Kants ein Universitätsfest zu begehen und die Verbundenheit der ostpreußischen Bevölkerung mit ihrer Universität an diesem Tage zu betonen. Wir hoffen, für dieses Fest Formen zu entwickeln, die, alljährlich wiederholt, jener Verbundenheit zwischen Bevölkerung und Universität das
41 Zu ihm vgl. Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 581f.; Grüttner, Lexikon (wie Anm. 38), S. 59. – Gerullis wurde nach Auseinandersetzungen mit dem Gauleiter Koch kurzerhand abgesetzt und wechselte anschließend auf den Lehrstuhl für Baltische Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Er wurde wegen angeblicher Kriegsverbrechen von der Roten Armee hingerichtet, aber 2002 postum rehabilitiert. 42 Friedrich Richter: Hans Bernhard von Grünberg, letzter Rektor der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 1937–1945. Biographische Notizen über sein Leben, in: Preußenland 32 (1994), S. 57–64; Grüttner, Lexikon (wie Anm. 38), S. 65. 43 Hans-Bernhard von Grünberg: Wirtschaft und Kultur. Elemente einer rassen- und willensgebundenen Wirtschaftslehre, Berlin 1937. 44 Meindl, Koch (wie Anm. 37); Armin Fuhrer / Heinz Schön (Hgg.), Erich Koch: Hitlers brauner Zar, Gauleiter von Ostpreußen und Reichskommissar der Ukraine, München 2010. 45 Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 485.
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Gepräge verleihen sollen. Ich verweise auf das untenstehende Programm des Universitätstages. Es geht daraus hervor, daß die Universität beabsichtigt, am Vortage des Todestages Kants, dem 11. Februar, durch alle ihre Fakultäten sich an weite Kreise der Bevölkerung unserer Provinz zu wenden, um mit Vorträgen aus allen Fachgebieten und mit Führungen durch besonders die Allgemeinheit interessierende Universitäts-Einrichtungen anregend und belehrend zu wirken. Ich bitte ergebenst, der Bedeutung dieses Tages entsprechend, weiten Kreisen die Möglichkeit zu geben, die Veranstaltungen der Universität zu besuchen, in den oberen Klassen der höheren Schulen Urlaub zu erteilen und in den Dienststellen für einen zahlreichen Besuch dieser Veranstaltungen zu werben. Es wird durch Plakatanschläge und Pressenotizen vom 1. Februar d. J. ab noch weiter auf die Veranstaltungen der Universität an diesem Tage hingewiesen. Wir hoffen, daß wir diesen Universitätstag Jahr für Jahr noch weiter ausbauen können und bitten ergebenst, uns bei diesem Bestreben zu unterstützen. v. Grünberg«
Den Vorschlag zur Verbindung von Kant und Copernicus unterbreitete (in dieser Reihenfolge!) Koch dem Reichserziehungsministerium am 5. Oktober 1938 unter dem Briefkopf des ostpreußischen Oberpräsidenten unter Verwechslung des Todestages des Copernicus mit seinem Geburtstag: »Am Sonntag, den 12. Februar 1939 jährt sich der Todestag von Immanuel Kant und am 19. Februar der Todestag von Coppernicus. Die zwischen diesen Gedenktagen liegende Woche soll von Partei, Reichspropagandaamt und Universität zu einer großen ostpreußischen Kulturwoche ausgestaltet werden, die unter der Bezeichnung ›Kant-Coppernicus-Woche‹ veranstaltet würde und in deren Mittelpunkt Ehrungen von Kant und Coppernicus stehen sollen. Höhepunkte dieser Woche sollen sein: (a) Eine Universitätsfeier mit Stiftung je eines Kant- und Coppernicus-Preises. […] (b) Die feierliche Eröffnung einer Kant- und Coppernicus-Ausstellung, die einmalig zusammenfassend alles Material über diese beiden grossen Deutschen enthalten soll. […] (c) Eine grosse Abschlußkundgebung der Partei, auf der ein führender Vertreter der Partei über Coppernicus und seine Leistung als Deutscher spricht.«46
Am 12. November 1938 lag der Philosophischen Fakultät ein Entwurf für die Feierlichkeiten des Folgejahres vor, die aufwändiger gestaltet werden sollten. Das Protokoll dokumentiert eine intensive Diskussion, die den Grundgedanken jedoch nicht antastete und in der sich der Mittelalterhistoriker und spätere Präsident der »Monumenta Germaniae historica« und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Friedrich Baethgen (1890–1972),47 als geistiger Zögling von Albert Brackmann und seiner »Ostforschung«48 erwies: 46 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, Bl. 203r und 192v. 47 Hans Martin Schaller, Nekrolog Friedrich Baethgen †, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), S. 783–786; Horst Fuhrmann, Friedrich Baethgen (1890–1972). Besinnung und
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Abb. 2: Beilage zur Preussischen Zeitung, 13. 2. 1939 (Nachlass Friedrich Baethgen, Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica 4° Al 11725). Auf dem Bild im Vordergrund Hans-Bernhard von Grünberg im Ornat des Rektors der Albertina, im Hintergrund das Kant-Denkmal.
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»Plan der Kant-Coppernicusfeier der Universität vom 11. 2. bis 19. 2. 1939. Diskussion über Namensschreibung. Coppernicus richtige Schreibung49. Plan von Magnifizenz z. B. Ausstellung a) Koppernicus und Kant. Aussprache Baethgen, Meyer; b) geistesgeschichtliche Ausstellung für den Osten (Baethgen verlangt entsprechende Mittel). Frage, ob eine Ausstellung (in Hinblick auf die noch ganz unvorbereitete 4. Jahrhundertfeier) nicht verfrüht ist (Baethgen). Frage eines geistesgeschichtlichen Ostpreußenvortrages [zu] der Feier. Theiler spricht gegen weitere Zersplitterung des Programms. Ziesemer stimmt bei. Vorschlag Baethgen: Aufforderung zum Studium der slavischen Sprachen; dazu andere provisorische Meldungen.«50
Auch wenn leider nichts über die Diskussion zu der »Frage eines geistesgeschichtlichen Ostpreußenvortrages [zu] der Feier« dokumentiert ist, darf doch schon das Aufkommen dieser Debatte Aufmerksamkeit beanspruchen. Es ist gewissermaßen die Einengung der von Baethgen vorgeschlagenen »geistesgeschichtlichen Ausstellung für den Osten«, in der völlig unabhängig von Kants Wirken eine regionale Identität produktiv werden soll. Hans-Bernhard von Grünberg richtete als Rektor der Königsberger Universität am 14. November 1938 ein Schreiben an das REM, in dem er über die Veranstaltungen des so genannten »Kant-Tages am 11. und 12. Februar 1938« berichtet, gleichzeitig aber eingestehen muss, dass der für den Todestag (d. h. den 23./24. Mai) geplante Copernikus-Tag[!] »nicht abgehalten werden konnte«.51 Die Diskussion der Fakultät über die Namensschreibweise hat ihn offenbar noch
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Neuanfang, in: Dietmar Willoweit (Hg.), Denker, Forscher und Entdecker. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Porträts, München 2009, S. 337–355; Joseph Lemberg, Der Historiker ohne Eigenschaften. Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen (Campus Historische Studien 71), Frankfurt am Main u. a. 2015; Nikola Becker, Die Neuetablierung der Monumenta Germaniae Historica in Bayern ab 1944 im Spannungsfeld zwischen Theodor Mayer, Otto Meyer, Walter Goetz und Friedrich Baethgen, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 77 (2014), S. 43–68; Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 564. Lemberg, Historiker (wie Anm. 47), S. 215f.; Friedrich Baethgen, Albert Brackmann, 24. 6. 1871–17. 3. 1952 (Nachruf), in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1952, München 1953, S. 169–174, hier S. 174 prophezeit Brackmanns »Ostforschung« eine Renaissance in der Nachkriegszeit und bekennt sich damit einmal mehr dazu. Zur gleichen Zeit bemühten sich Brackmanns frühere Mitarbeiter von der »Publikationsstelle« Berlin-Dahlem um eine neue institutionelle Verankerung, was später zur Gründung des Herder-Institutes in Marburg führte, vgl. Jörg Hackmann, An einem neuen Anfang der Ostforschung. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 232–258, hier S. 232f. Fünf Tage später, am 17. 11. 1938, richtete Rektor von Grünberg ein Schreiben an das Reichswissenschaftsministerium, in dem er mitteilt, dass die Philosophische Fakultät angeregt habe, »die Schreibweise des Namens Coppernicus einheitlich zu regeln«, wobei er für C und Doppel-P plädiert: »Diese Schreibung ist in polnischer Sprache nicht möglich und damit ein Zeugnis seiner Deutschheit.« (Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, Bl. 187r). Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 493. Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, Bl. 191r.
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nicht erreicht, da er bei der lateinischen Form Copernicus bleibt. Der vor allem von Baethgen geforderten Ausweitung der Konzeption hat er sich nicht angeschlossen und betont, trotz der Hindernisse könne »die damalige Planung in ihren Grundzügen aufrecht erhalten werden, d. h. einmal die Durchführung einer Copernikus-Ausstellung, ferner die Ehrung des Copernikus durch die Universität unter Beteiligung von Naturforschern aus dem Reich und endlich die Veranstaltung einer grossen politisch wichtigen Feier. Daß diese Ehrung auf den 24. 5., den Todestag des Copernikus gelegt wird, ist nicht wichtig. Es könnte sich sogar als unzweckmäßig erweisen, neben dem Kant-Tag im Winter Semester einen CopernikusTag im Sommer Semester zu begehen; doch kann diese Frage auf sich beruhen, da es mir jedenfalls für die erste Begehung des Copernikus-Tages richtig erscheint, den Geburtstag des Copernikus am 19. 2. zum Anlass zu nehmen, um diesen Tag mit der Traditions-Feier des Kant-tages zu verbinden und beide zu einer Hochschulwoche auszugestalten.«52
Seine Beweggründe erläutert von Grünberg ausführlich in einem weiteren Schreiben vom 23. Januar 1939 und versucht gleichzeitig, sich selbst größeren Einfluss auf die beabsichtigten Preisverleihungen zu sichern: »Der Gedanke, die Coppernicus[!]-Ehrung mit der Kant-Ehrung zu verbinden, ist von der Universität aus vorgetrieben worden, weil wir der Auffassung sind, daß die Ehrung dieser beiden grossen Menschen des Ostens in gemeinsamer Form die Verbundenheit der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften, zum Ausdruck bringen soll. Wir haben deshalb die Bitte ausgesprochen, neben dem Coppernicus-Preis auch einen Kant-Preis zu stiften, der ebenfalls in gewissen Abständen zur Verteilung für hervorragende geisteswissenschaftliche Leistungen gelangen soll. Es wäre dann also der gestiftete Coppernicus-Preis in einen Kant-Preis umzuwandeln und das Vorschlagsrecht auf den Rektor und die Philosophische Fakultät der Universität Königsberg zu übertragen.«53
Rust genehmigt in einem internen Memo vom 12. 1. 1939 die gemeinsame Gedenkveranstaltung und einen Zuschuss von 3000 RM.54 Der Erlass an alle nachgeordneten preußischen Dienststellen wird am gleichen Tag ausgefertigt.55 Allerdings kam es kurz darauf, am 30. 1. 1939, zu einer Verstimmung, weil Koch sich ohne Wissen des REM an Goering als Reichskommissar für das preußische Innenministerium gewandt hatte mit der Bitte um Stiftung eines CopernicusPreises. Diese wurde am 9. 1. 1939 vom Generalfeldmarschall bewilligt mit dem Wunsch, »daß möglichst bald der polnischen Propaganda entgegengetreten wird.«56 Das REM verzichtete daraufhin auf die Einrichtung einer eigenen Stif52 53 54 55 56
Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, Bl. 191r. Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, Bl. 220r. Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, Bl. 203r–209v. Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, Bl. 210r. Ministerpräsident Generalfeldmarschall Göring an den Herrn Oberpräsidenten der Provinz Ostpreussen, 9. 1. 1939. Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325, 217r.
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tung.57 Hierauf antwortet Koch mit der Bitte, die von Göring bewilligten Mittel nicht für eine Preisverleihung sondern für Studien zur Lebensgeschichte des Copernicus verwenden zu dürfen, denn sie sei unzureichend erforscht und es läge »die Geschichte der deutschen Naturwissenschaft überhaupt im Argen«, und holt dann zu grundsätzlichen Überlegungen aus: »Die Durchführung der Coppernicus-Feier war nicht als eine Veranstaltung der Universität gedacht, sondern sollte mit Rücksicht auf die politische Bedeutung der Angelegenheit auch von den politischen Stellen, in erster Linie der Partei, veranstaltet werden. Der Grundgedanke der beabsichtigten Kant-Coppernicus-Woche ist, durch Zusammenwirken aller kulturell interessierten Stellen Ostpreußens die engen Beziehungen der Geistesund Naturwissenschaften zum politischen und kulturellen Lebens unseres Volkes sinnfällig herauszustellen, indem die Woche mit Universitätsfeiern zur Ehrung von Kant beginnt und in einer Großkundgebung der NSDAP mit einer Coppernicus-Ehrung abschließt. Ferner wird durch die Veranstaltungsfolge erreicht, daß der ostpreußische Mensch sich der Größe seiner Kulturgeschichte bewußt wird und daß im Ostseeraum Königsberg als wichtiger traditioneller kultureller Mittelpunkt herausgestellt wird. Abschließend bitte ich nochmals dringend, die Stiftung eines Kantpreises in wohlwollende Erwägung zu ziehen.«58
Man erkennt hier, dass Göring und Rust primär an Copernicus interessiert sind, den sie als deutschen Naturforscher im Sinne Chamberlains und gegen die polnischen Bestrebungen in Szene setzen möchten. Die Königsberger Interessen sind davon durchaus verschieden; die versprochenen Sondermittel möchte man zwar nicht verschmähen, andererseits aber an Kant als Ikone der lokalen Wissenschaft festhalten. Differenzen zwischen Universität und regionalen Parteigrößen gibt es infolge der Personalunion nicht, der Gegensatz orientiert sich einzig an dem traditionellen Gegensatz der Provinz zur Reichshauptstadt. Aber auch das Interesse an Kant gilt mehr der Ikone als seinem Werk; es geht nicht um einen kritischen Diskurs, sondern um völkische Bewusstseinsbildung, nämlich »daß der ostpreußische Mensch sich der Größe seiner Kulturgeschichte bewußt wird und daß im Ostseeraum Königsberg als wichtiger traditioneller kultureller Mittelpunkt herausgestellt wird.« Sich selbst möchte von Grünberg mit dem Kant-Preis ein Steuerungsmittel für die wissenschaftliche Forschung sichern, z. B. in Form eines Lehrauftrags für die Geschichte der deutschen Naturwissenschaft.59 Die Kant-Copernicus-Woche 1939 begann am Sonnabend, den 11. 2., mit einer »feierlichen Kranzniederlegung am Grabe Kant’s durch den Gauleiter, Rektor und Dekane, Studenten- und Dozentenschaftsführer. Das Grabdenkmal wird würdig geschmückt und beleuchtet, Männer des NS-Studentenbundes bilden mit Fackeln Spalier. Die Ausgestaltung liegt in Händen des Gau-Propagandaam57 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325 Bl.212r–214r. 58 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325 Bl. 216av. 59 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325 Bl. 221r.
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tes.«60 Es folgte am Sonntag Morgen eine »Morgenfeier zum Gedächtnis Immanuel Kants«, die dem Philosophen nur insofern Raum gab, als man »Kant-Worte, gesprochen von einem Kameraden des NSD-Studentenbundes« vortrug und anschließend den »Auszug des Rektors und der Dekane zur Ehrung Kants am Denkmal auf dem Paradeplatz« vor dem Universitätsgebäude beiwohnte, zu dem auch eine »Aufstellung des NSD-Studentenbundes« hinzukam.61 Der interne Bericht des Wissenschaftsministeriums vermerkt, »Partei und Wehrmacht waren entsprechend vertreten.«62 Unter den Öffentlichen Vorträgen am Donnerstag, den 16. Februar, stach eine »Kundgebung des rassepolitischen Amtes« hervor, bei der Reichsamtsleiter Dr. Groß zum Thema »Der nationalsozialistische Rassegedanke im Weltbild unserer Zeit« sprach.63 Der »Coppernicus-Tag der deutschen Naturwissenschaft« am 19. 2. 1939 wurde vornehmlich durch die bereits zitierte Ansprache von Alfred Rosenberg bestritten. Was den Reichsleiter an Kant offenbar nur interessierte, war der Kampf gegen den »Ballast artfremder Gedankengebilde«, eine Auseinandersetzung mit Kant erübrigte sich für ihn sowieso, da ja »heute das rassegebundene Denken« aktuell war. Die Abschlussfeier am gleichen Tag wurde mit Musik von Händel untermalt; am Schluss aber trat der Studentenbundchor auf und stimmte die Zuhörerschaft auf Bedrohung und finstre Tage ein, so wie es für die Akzeptanz des kommenden Krieges und zur Stärkung der Angst vor der Einkreisung durch den »Gegenstoß des Slawentums«64 erforderlich war: »Heilig Vaterland, in Gefahren, Deine Söhne sich um dich scharen, von Gefahren umringt, heilig Vaterland, alle stehen nun, Hand in Hand.«
Alleine diese Einkleidung sorgte dafür, dass die Veranstaltung in der richtigen Weise wirkte. Je bedrohter sich Ostpreußen fühlte und je auserwählter, desto größere Akzeptanz würde es finden, wenn der Reichskanzler verkündete, dass Polen »zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen« habe und dass »jetzt zurückgeschossen« wird und er »diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind«. Es ist nicht sicher, dass diese aufwändige Feier ihren Zweck erreichte. Das Protokoll der Sitzung der Philosophischen Fakultät vom 2. 12. 1939 vermerkt, dass 60 Entwurf des Rektors der Albertina vom 14. 11. 1938, Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325 Bl. 200r, ähnlich der Entwurf vom 18. 1. 1939, ebd. Bl. 223r. Endgültige Fassung ebd. Bl. 266v. 61 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325 Bl. 267r. 62 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325 Bl. 327r. 63 Bundesarchiv Berlin, R 4901 1325 Bl. 268v. 64 Baethgen, Vom deutschen Reich des Mittelalter (wie Anm. 6), S. 18.
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in der voraufgegangenen Sitzung des Senats eine »Festschrift f. d. 400-Jahr-Feier d. Universität 1944 + 400 j[ähriger] Todestag v. Coppernicus 1943 u.a.m. Anregung zu Diss[ertationen] hierzu« gehandelt worden sei, vermerkt aber für die Planungen zu Feierlichkeiten 1940 lapidar: »Kant-Coppernicus-Feier 10.–12. II. (in kleinerem Rahmen als seither). Herr v. Raumer wird um einen Vortrag hierbei gebeten.«65 Die Dimensionen hatten sich beachtlich verkleinert. Das Rektorat hat die Gestaltung der künftigen Feierlichkeiten teilweise an die Philosophische Fakultät abgegeben, die lapidar beschließt: »Kant-Kopernikus-Tag 1941: Herr v. Raumer mit der Programmgestaltung beauftragt.«66 Allerdings erfuhren der Dekan Walther Ziesemer und die Philosophische Fakultät am 7. 2. 1942 das bereits festgesetzte Programm für die Kant-Coppernicus-Woche des gleichen Jahres aus einer Mitteilung des Rektors.67
V Werfen wir nun einen Blick auf die publizistische Seite der Veranstaltungen. Schon 1938 erschien die Festrede des Königsberger Altphilologen Walther F[riedrich] Otto (1874–1958)68 zum Kant-Tag der Universität bei Gräfe und Unzer in gedruckter Form.69 Als Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses des Nietzsche-Archivs schien er auch für Kant geeignet, den er als Vorbereiter und Überwinder der »großen Revolution von 1789« sieht (S. [5]). Kant wird für ihn zum deutschen geistigen Heroen; und wenn auch Otto immer wieder bei den Nationalsozialisten aneckte und sie nach dem Bericht von Hubert Cancik 1943 bei der Verleihung des Königsberger Kant-Preises gegen ihn opponierten, so beweist die Rede doch jene deutschnationale Gesinnung, die ihn auch mit Kaiser Wilhelm II. im holländischen Exil korrespondieren ließ. In dieser Tradition erschienen 1939 die »Ansprachen von Wilhelm Gallas und Friedrich Baethgen«, die eigentlich zur Kant-Copernicus-Woche gehörten, ebenfalls noch unter dem Titel »Der Kanttag der Albertus-Universität«. Der in St. Petersburg geborene Wilhelm Gallas (1903–1989) 70, der »zum Gedächtnis Immanuel Kants« sprach, war seit 1935 Professor für Strafrecht in Königsberg. Ihn beschäftigt Kants Sittengesetz, 65 Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 502f. Zu Kurt von Raumer (1900–1982) vgl. ebd. S. 617f.; zu seinem Vortrag vgl. Anm. 77. 66 Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 508. 67 Vgl. Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 525: »Rektor, Schreiben: Kant-Kopernikusfeier 1942. Vorträge: v. Glasenapp, Baumgarten.« Zu den jeweiligen Vorträgen vgl. ebd. Anm. 2242. 68 Hubert Cancik, Otto, Walter Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie (NDB). 19 (1999), S. 713f. 69 Walther F. Otto, Feierliche Ansprache (Der Kanttag der Albertus-Universität in Königsberg [Pr.] 1938), Königsberg 1938. 70 Hans-Heinrich Jescheck / Karl Lackner / Manfred Maiwald u. a.: In memoriam Wilhelm Gallas, Heidelberg 1990.
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und darin folgt er Otto Dietrich, dem Reichspressechef der NSDAP, der 1935 »die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus« behandelt und Kants Sittengesetz als »geradezu klassische Formulierung nationalsozialistischer Ethik« bezeichnet hatte71. Gallas weiß aber parteikonform an Kant zu kritisieren, dass seiner Philosophie »der Bezug auf die lebendige Gemeinschaft des Volkes, die für uns heute Grundelement aller Rechtsordnung ist«, fehle (S. 10). Hierauf folgt Friedrich Baethgens Vortrag »Vom deutschen Reich des Mittelalters«. Baethgen war bereits 1929 als Mittelalterhistoriker nach Königsberg berufen worden und wechselte noch 1939 nach Berlin. Seine Darstellung ist geprägt von ostpreußischer Sorge um die slawische Einkreisung, obschon er gleich zu Beginn die Annektion Österreichs und des Sudentenlandes und das neue »großdeutsche Reich« herausstellt; er wirft den mittelalterlichen Kaisern geradezu vor, sich zu sehr um Italien und das Papsttum und zu wenig um die deutsche »Ostbewegung« gekümmert zu haben und »an die Stelle eines organisch angelegten Gesamtplanes« (S. 16) nur partikulare Initiativen gefördert zu haben. Der Versuch des Deutschen Ordens, eine Landbrücke zum Reich zu schlagen, sei zu spät gekommen. Baethgen weist angesichts von dessen Scheitern darauf hin, »welche einschneidenden Folgewirkungen bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein es gehabt hat« (S. 16). Man darf angesichts von Baethgens sonstigen Publikationen, die allesamt auf das Papsttum und Italien verweisen, annehmen, dass er hier opportunistischen Motiven folgt und außerdem keine Ahnung hat, was zur gleichen Zeit auf dem Obersalzberg bereits beschlossene Sache war, aber wenige Wochen vor dem Überfall auf Polen und der Konzeption des Generalplans Ost72 durch Baethgen durchaus nahestehende Historiker wie Albert Brackmann,73 Theodor Schieder74 und Hermann Aubin75 ist diese Inszenierung 71 Otto Dietrich, Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Ein Ruf zu den Waffen deutschen Geistes, Breslau, 1935, S. 23. Hierzu Volker Böhnigk, Kant und der Nationalsozialismus. Einige programmatische Bemerkungen über nationalsozialistische Philosophie (Bonner philosophische Vorträge und Studien 9), Bonn 2000, S. 36. 72 Helmut Heiber, Der Generalplan Ost, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Dokumentation 6 (1958), S. 281–325; Mechtild Rössler / Sabine Schleiermacher (Hgg.): Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik (Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts), Berlin 1993; Bruno Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940–1944, Basel 1994; Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, London 2002. 73 Vgl. Burleigh, Germany turns Eastwards (wie Anm. 72), S. 131–137; Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 570. 74 Götz Aly, Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, hg. v. Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle, Frankfurt am Main 2000, S. 163–182, hier insbesondere S. 177: Die beiden Historiker hätten »auf ihre Weise und professionell – als gut ausgebildete Historiker eben – am Menschheitsverbrechen Holocaust mitgewirkt. Schieder propagierte den Krieg und die
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ostpreußischer Bedrohtheit schwer erträglich, zumal wenn sie als Hommage an Kant daherkommt. Mit dem Jahr 1940 beginnen die »Reden zur Kant-Coppernicus-Woche der Albertus-Universität zu Königsberg [Pr.]« in ihrer »Geisteswissenschaftlichen Reihe«. Ihre Einrichtung wurde am 4. 5. 1940 von der Philosophischen Fakultät verhandelt und durch Einsetzung einer Kommission begleitet.76 Rudolf Malter druckte 1992 in seinem Sammelband von Königsberger Kant-Ansprachen die ersten beiden Beiträge wieder ab; insgesamt waren es aber drei. Schauen wir sie uns an. Sie sind so gegensätzlich wie sie nur sein könnten. Kurt von Raumers Essay »Der Kantische Geist in der Erhebung von 1807/13« und Arturo Farinellis »Traumwelt und Jenseitsglaube bei Kant« wurden 1940, Ernst Forsthoffs »Grenzen des Rechts« im Jahr 1941 veröffentlicht,77 der erste nähert sich stark einer Blut- und Bodenmystik an, der zweite sucht nach einer Metaphysik jenseits von Kant, die natürlich nicht mehr so heißen darf. Ernst Forsthoff schließlich, den Autor der dritten Schrift, erleben wir auf seinem Weg von der NS-Panegyrik zum Verteidiger des Verfassungsstaats. Von Raumer, der 1939 an Stelle des trotz aller Winkelzüge am Ende doch wegen seiner jüdischer Abstammung zwangsemeritierten Hans Rothfels Ordinarius für neuere Geschichte in Königsberg geworden war, wendet sich gegen den Versuch, »kantische Philosophie und friderizianisches Preußen« in eins zu setzen (S. 14), vielmehr habe »allein die entscheidende Einwirkung Kant’schen Geists die Fort- und Umbildung zum Preußen der Erhebung und der Befreiungskriege« bewirkt (S. 15), und zwar in der Person Theodor von Schöns, den er als »KantNachfolger« apostrophiert. Das sei aber nicht aufgrund der Aufklärung so geschehen, sondern beruhe »auf jenem Eingegliedert- und Eingewachsensein Kants in einen Raum […]. Wir meinen jenen tiefen Einbruch ostpreußischen Denkens und Handelns, jenen starken Ausschlag östlicher, grenzbestimmter GeschichtsVorstellung von der rassisch definierten Nation; er plädierte für die gewaltsame Germanisierung immer größerer eroberter Regionen und schrieb einen Teil seiner Texte ausschließlich für den exekutiven Gebrauch.« 75 Ursula Wolf, Litteris et patriae. Das Janusgesicht des Historie (Frankfurter Historische Abhandlungen 37), Stuttgart 1996, S. 290–293; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der ›Volkstumskampf‹ im Osten. Göttingen 2000, S. 11. 76 Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 504. 77 Kurt von Raumer, Der Kantische Geist in der Erhebung von 1807/13, Königsberg 1940 (Reden zur Kant-Coppernicus-Woche der Albertus-Universität zu Königsberg [Pr.]. Geisteswissenschaftliche Reihe [1]), nachgedruckt bei Malter (wie Anm. 39), S. 212–233; Arturo Farinelli, Traumwelt und Jenseitsglaube bei Kant (Reden zur Kant-Coppernicus-Woche der Albertus-Universität zu Königsberg [Pr.]. Geisteswissenschaftliche Reihe [2]) , Königsberg 1940, nachgedruckt Malter a. a. O. S. 233–249; Ernst Forsthoff, Grenzen des Rechts. Vortrag gehalten auf der Kant-Feier der Albertus-Universität am 12. Februar 1941, Königsberg 1941 (Reden zur Kant-Copernicus-Woche der Albertus-Universität zu Königsberg [Pr.]. Geisteswissenschaftliche Reihe [3]) (nicht bei Malter).
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kräfte gegen die Mitte, jenen schöpferischen Beitrag des alten blutgetränkten Ordenslands zur großen preußischen und deutschen Geschichte, die in der Erhebung von 1807/13 gerade unter dem beherrschenden Einfluß des Kant’schen Geists erfolgt sind« (S. 15), und dieser überwiege den »völkischen Gehalt« der Befreiungsbewegung – wobei »völkisch« hier »deutsch« meint und nicht etwa die allgemeine politische Gesinnung, der der Essay dennoch getrost zugerechnet werden darf. Es kann bezweifelt werden, dass Kant sich in all dem wiedergefunden hätte, zumal nicht klar wird, was dieser »Kant’sche Geist« mit dem Theodor von Schön zugeschriebenen »an das Reich und die Ordenszeit anknüpfenden Mythos der Marienburg« (S. 21) zu tun hat. Weit von sich weist von Raumer den Gedanken, Kant »zum konstitutionellen Liberalen machen zu wollen« (S. 23) – und so muss man muss schon sehr eilig über seine Darstellung hinweglesen, um nicht die Tendenzen zu Blut und Boden und autoritärer Gesellschaftsform zu erkennen, die nicht unbedenklicher werden, weil sie nicht pauschal deutschtümelnd, sondern als Verklärung angeblich ostpreußischer Eigenschaften daherkommen. Da hat man es mit Arturo Farinelli leichter, der sich 1925 kritisch mit der Geschichte des judenfeindlichen Schimpfwortes »marrano« befasste,78 das vermutlich der Vorläufer der »Judensau« war.79 Es ist hier nicht der Ort, sich kritisch mit seiner emotional stark aufgeladenen Darstellung Kants zu befassen, die in ein Kapitel der Missverständnisse über den bestirnten Himmel und das ewige Gesetz gehören würde. Der mystifizierende, raunende Stil mag aber die Zeitgenossen – und dabei vielleicht auch einige Parteigenossen! – angesprochen haben, wenngleich Farinelli im Jahr 1940 mutig genug war, Kant die Fähigkeit zuzuschreiben den »verirrten Erdenkindern […] zur Rettung des Heiligsten, zum Triumphe der Aufrichtigkeit, der reinen Wahrheit und Menschlichkeit, ja auch zu seinem [d.i. Kants] von dem Haß der Völker und der zerrütteten Erde nimmer verdienten Idealen eines ewigen Friedens, still und sanft zu verhelfen« (S. 24). Ernst Forsthoff,80 der Verfasser der dritten »Rede zur Kant-Copernicus-Woche«, war 1936 nach Königsberg berufen worden, 1937 in die NSDAP eingetreten und seit 1939 Dekan der Juristischen Fakultät. Er war von 1940 bis 1941 Sekretär der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Er gehörte der »Akademie für deutsches Recht« zwar nicht persönlich an, in der sich NS-Juristen mit Himmler und anderen NS-Größen zusammenfanden, um 78 Arturo Farinelli, Marrano. Storia di un vituperio, Genève 1925 (Biblioteca dell’Archivum Romanicum 2, 10). 79 Benjamin Scheller, Die Stadt der Neuchristen. Konvertierte Juden und ihre Nachkommen im Trani des Spa¨tmittelalters zwischen Inklusion und Exklusion, Berlin 2013 (Europa im Mittelalter 22), S. 330f. 80 Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, Berlin 2011.
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eine neue Rechtsordnung zu gestalten, beriet sie aber z. B. in religionspolitischen Fragen, woraus sich eine Nähe zur evangelischen Kirche entwickelte; auch im Königsberger Vortrag spricht er von einer »theologische[n] Jurisprudenz oder juristische[n] Theologie« (S. 7). Dabei ist er zunächst auf Allgemeinplätze aus: Das Recht kann nicht alle Fragen, vor allem solche der Ethik, regeln. Doch lässt er durchblicken »daß die Frage für die Gegenwart, die uns am Beginn einer neuen Rechtsgestaltung sieht, neu gestellt ist« (S. 7), wobei Forsthoff schon 1933 klargestellt hat, wo er sich selbst sah: Er publizierte »Der totale Staat«,81 in dem er die Machtergreifung freudig begrüßte. Er hat allerdings, wie Horst Dreier 2001 unter Verweis auf den Königsberger Vortrag notierte, »in den Kriegsjahren sehr entschieden Rationalität und Formalität des Rechts betont: Charakteristika, die ansonsten von der offiziellen Doktrin eher geschmäht und als typisch liberalistisch bezeichnet wurden«.82 Doch auch wenn Forsthoff im deutschen Nachkriegsrecht eine bedeutende Stellung einnehmen sollte – hier ist er dort noch nicht angekommen; er bindet das »gerechte Recht« an die »Volksordnung« – und bleibt damit in der Terminologie der »Akademie für deutsches Recht«, auch wenn er sich bereits stark von früheren Positionen gelöst hat. Seine Auftraggeber werden es vermutlich nicht einmal bemerkt haben, so wie er selbst nicht wissen konnte, dass sein Essay mit einer sehr bedenklichen Kette von rhetorischen Gegensatzpaaren in die Nationalhymne der künftigen Bundesrepublik Deutschland einmündete. »Wir bekennen uns damit zum Primat des Geistes vor dem Ding, des Ethos vor dem Zweck, der Persönlichkeit vor dem Typus, des Volkes vor der Masse. Der Vollzug dieses Bekenntnisses ist unser Beitrag in dem Ringen um Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.« Eine weitere Publikation ist hier noch zu würdigen, die 1939 parallel zur ersten Kant-Copernicus-Woche erschien: »Heroen des Geistes. Coppernicus – Kant« aus dem Königsberger »Sturm-Verlag Ferdinand Hirt« und der »Pädagogischen Verlagsgemeinschaft Ostpreußen GmbH«.83 Dieses Haus zeichnete sich eher durch populäre Produkte aus wie die »Bastelfibel« von den Herausgebern Erich Singer, Hermann Luding und Rudolf Thurau mit dem Titel »Land der dunklen Wälder […]. Ostpreußische Dichtung unserer Zeit« oder die Erzählung »Rotes Kopftuch, blaues Kleid« von Hildegard Kolberg – eine Erzählung über die Erlebnisse zweier »Arbeitsmädel«. 81 Ernst Forsthoff, Der totale Staat, 1. Aufl. Hamburg 1933, 2. Aufl. 1934. 82 Horst Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus [u. a.] Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000, mit Beiträgen von: Horst Dreier, Walter Pauly, Ingolf Pernice, Peter M. Huber, Gertrude Lübbe-Wolff, Christoph Grabenwarter, Wolfgang Löwer, Thomas Puhl und Michael Holoubek (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 60), Berlin 2001, hier S. 17 Anm. 39. 83 Heroen des Geistes im deutschen Osten. Copernicus-Kant. Königsberg o. J. [1939].
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Der Kant-Coppernicus-Band enthält vier wissenschaftliche Beiträge: (a) Erich Przybyllok (1880–1954),84 Professor für Astronomie und Leiter der Sternwarte in Königsberg bemühte sich um eine allgemein verständliche Darstellung über »Das Weltbild des Coppernicus«; (b) Hans Joachim Schoenborn (1909–1945),85 der 1938 in Königsberg über den humanistischen Historiographen Erasmus Stella promoviert hatte, bemühte sich um »Coppernicus der Deutsche«; (c) Theodor Schieder (1908–1984),86 damals Leiter der universitären Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte und wenige Monate später (am 7. Oktober 1939) Verfasser einer Denkschrift über die »Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Gebieten«, die Blaupause für den »Generalplan Ost« und seine radikalen ethnischen Säuberungen im Westen Polens. Er steuerte eine Darstellung über »Deutsches Geistesleben Altpreußens von Coppernicus bis Kant« bei; (d) Arnold Kowalewski (1873–1945),87 Vorsitzender der Königsberger KantGesellschaft und ao. Professor der Universität sowie Lehrbeauftragter für ostpreußische Geistesgeschichte behandelte »Die Bedeutung der Kantischen Philosophie«. Schließlich handelte noch (e) Arnold Gehlen (1904–1976),88 seit 1938 Philosophieprofessor an der Albertina und zu diesem Zeitpunkt noch im Banne Alfred Rosenbergs89 »Über Kants Persönlichkeit«.
84 Zu ihm Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 615. 85 Friedrich Baethgen, Karl Kasiske und Hans Joachim Schoenborn, in: Jahrbuch der AlbertusUniversität zu Königsberg, Pr. 1 (1951), S. 18–25. 86 Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), S. 625; Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013; Christoph Nonn, Direkte und indirekte Beiträge zur nationalsozialistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. Die Landesstelle Ostpreußen der Zentralstelle für Nachkriegsgeschichte unter Theodor Schieder, in: Sven Kriese (Hg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Forschungen 12), Berlin 2015, S. 211–219. 87 Vgl. Anm. 3. 88 Zu Gehlen Tilitzki, Protokollbuch (wie Anm. 3), 580f.; Christian Thies: Arnold Gehlen zur Einführung, ²Hamburg 2007, S. 11–22; Gerwin Klinger: Die Modernisierung des NS-Staates aus dem Geist der Anthropologie. Die Konzepte »Zucht« und »Leistung« bei Arnold Gehlen, in: Wolfgang Bialas / Manfred Gangl (Hg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt 2000, S. 299–324. 89 Kritische Edition durch Karl-Siegbert Rehberg in: Arnold Gehlen, Über Kants Persönlichkeit, in: Arnold Gehlen Gesamtausgabe, Philosophische Schriften II (1933–1938). In Königsberg entstand Gehlens bedeutendstes Werk: Arnold Gehlen: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. Kritische Ausgabe: Der Mensch: Seine Natur und
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Man muss diese Zusammenstellung nicht weiter kommentieren; die Auswahl der Autoren und die gewählten Titel lassen keinen Zweifel daran, welch Geistes Kind dieses Heft war, auch wenn nicht jeder Beitrag offen nationalsozialistische Propaganda betrieb.
Abb. 3: Kant-Portrait des Königsberger Graphikers Heinrich Wolff (1875–1940) aus: Heroen des Geistes (1943, wie Anm. 83). Bild: Universitätsbibliothek Köln.
seine Stellung in der Welt, hg. von Karl-Siegbert Rehberg (Klostermann RoteReihe 89), Frankfurt 2016 [nach Bd. 3,1 der Gehlen-Gesamtausgabe].
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VI 1944 war das Jahr der Vierhundertjahrfeier der Albertina, und ein letztes Mal traten Repräsentanten des NS-Regimes am Grabe Kants auf. Der in Trakehnen aufgewachsene Reichswirtschaftsminister Walther Immanuel Funk (1890–1960)90 und der Reichswissenschaftsminister Rust reisten persönlich an: »Die Vierhundertjahrfeier der Königsberger Universität erlebte ihren Höhepunkt mit den Reden der beiden Reichsminister und der vom Studententum gestalteten abendlichen Feierstunde an der Grabstätte von Kant sowie den anderen studentischen Veranstaltungen. Reichsminister Rust hielt scharfe Abrechnung mit der Ungeistigkeit des Bolschewismus und gab bekannt, daß die Reichsregierung im fünften Kriegsjahr die Mittel für die Errichtung von acht neuen Lehrstühlen an der Königsberger Universität bereitgestellt habe. (…) Gauleiter Erich Koch nahm an den Gedenkfeiern teil und würdigte die große kulturpolitische Ostaufgabe der Königsberger Hochschule. Die Verdienste des Rektors, Prof. Dr. von Grünberg, fanden mehrfache Würdigung.«91 Im Folgejahr kam es, bereits unter Artilleriebeschuss der Roten Armee, zu einer letzten einsamen Kranzniederlegung durch den letzten Vorsitzenden der Königsberger Kant-Gesellschaft (den so genannten »Bohnenkönig«) Bruno Schumacher.92 Die Universität und die Gauleitung traten nicht mehr in Erscheinung.
VII Diese äußerst verdichtete Zusammenstellung illustriert die Königsberger Wissenschaft während der NS-Zeit und konfrontiert mit gut zwei Dutzend Namen, von denen manche in der Wissenschaftslandschaft der jungen Bundesrepublik bedeutend wurden. In einigen Fällen, wie Erich Koch oder Theodor Schieder, wurde von anderen längst die Frage nach der persönlichen Schuld gestellt und unter Aufdeckung späterer Lebenslügen wahrheitsgemäß beantwortet. Für die 90 Ernst Klee, Walther Funk, in: ders., Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main 2005, S. 172. 91 Aus dem Reich: Königsberg und Halle, in: Die Bewegung. Zeitung der deutschen Studenten 12 (1944), S. 72. Auf gleicher Seite wird über das »Totengedenken in der Sommersonnenwendnacht« der Königsberger Studenten berichtet. 92 Sein Bericht abgedruckt: Der 12. Februar 1945, in: Malter (wie Anm. 39), S. 250. – Zu Schumacher vgl. Fritz Gause, Bruno Schumacher, in: Zeitschrift für Ostforschung 6 (1957), S. 401–403; Ernst Opgenoorth, Vergangenheitsbewältigung auf ostpreußisch. Der späte Bruno Schumacher, in: Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Festschrift für Udo Arnold zum 60. Geburtstag, hg. von Bernhart Jähnig, Lüneburg 2000 (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 20), S. 783–814.
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anderen ist es meist nicht so einfach, lassen sich doch oft nicht einmal die konkreten Vorträge, über die wir gesprochen haben, klar als »nationalsozialistisch« klassifizieren. Dennoch sind die Kanttage und die Kant-Copernicus-Wochen Teil nationalsozialistischer Propaganda, sie schürten in der ostpreußischen Bevölkerung sowohl das Bewusstsein des Auserwähltseins wie des Eingeschlossenseins und beförderten so die Akzeptanz des längst geplanten Überfalls und der Zerschlagung Polens. Nur wenn man sich die keineswegs zufällige Koinzidenz der ersten KantCopernicus-Woche und der Vorbereitungen für den Angriff auf Polen vergegenwärtigt, wird der Vorgang verständlich und erhalten die Ansprachen ihre wahre Dimension zurück. Friedrich Baethgen ahnte vermutlich gar nicht, wie nah er den kommenden Verbrechen kam, als er für die mittelalterliche Ostsiedlung eine »organisch angelegten Gesamtplan« forderte. Das berechtigt nicht, ihm eine Mitschuld an den Verbrechen zuzuschreiben, aber es zeigt, wie das NS-Regime sich der Geisteswissenschaftler bediente, und zwar auch dann, wenn diese keine »glühenden« Nazis gewesen waren – wie übrigens der Gros der Personen, die zwischen 1933 und 1945 am Grabe Kants auftraten. Dennoch aber waren sie Helfer, und sei es nur, weil sie dem Gauleiter Koch und dem Rektor von Grünberg ermöglichten, als Kulturmenschen aufzutreten.
Matthias Barelkowski / Agnieszka Pufelska
Kants Amts- und Lehrtätigkeit am Beispiel der überlieferten Akten der Albertina im Staatsarchiv Olsztyn – Arbeitsbericht zu einem Digitalisierungsprojekt
Schon seit längerer Zeit ist bekannt, dass sich die Überlieferungen der AlbertusUniversität zu Königsberg (Albertina) sowie des Kuratoriums im Staatsarchiv Olsztyn befinden. Ersterer Bestand umfasst nach den Angaben des Archivs 38,2 lfd. Meter, letzterer 9,4 lfd. Meter. Die Findbücher zu beiden Beständen sind nur teilweise über die Suchmaschine der Polnischen Staatsarchive recherchierbar und bisher nicht digitalisiert.1 Das 2024 anstehende Kant-Jubiläum bietet eine besondere Gelegenheit, diesen bisher ungehobenen Schatz sichtbarer zu machen und damit die erste Etappe der Digitalisierung der Albertina-Bestände einzuleiten. Die Bereitstellung der entsprechenden Digitalisiate im Internet würde nicht nur auf die Bedeutung der in Olsztyn aufbewahrten Kant-Quellen aufmerksam machen, sondern auch neue Forschungsperspektiven für die Beschäftigung mit Kants Dienstjahren an der Universität Königsberg eröffnen. Rund ein halbes Jahrhundert war der Philosoph nämlich eng mit der Albertina verbunden. Nachdem er sich im September 1740 immatrikuliert hatte, wurde ihm bereits zum Wintersemester 1755 nach seiner Habilitation die Lehrbefugnis erteilt. Weitere 15 Jahre später wurde Kant zu Beginn des Sommersemesters 1770 zum ordentlichen Professor für Logik und Metaphysik ernannt. Im Anschluss daran bekleidete er wechselnde Universitätsämter, u. a. war er »Dekan der philosophischen Fakultät«, »Rektor der Universität« und »Mitglied des Senats«. Die zahlreich vorhandenen Kant-Biographien weisen, was die Darstellung seiner Amtstätigkeit angeht, beträchtliche Lücken auf. Der bisherigen Forschung zu Kants Amtstätigkeit, die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, kommt zwar das Verdienst zu, Quellenforschung und -auswertung betrieben und deren Resultate auch publiziert zu haben, das Forschungsinteresse blieb jedoch abhängig von Zufallsfunden oder beschränkt auf Einzelanalysen. Die einzige Biographie, die sich ausführlich mit Kants Dienstjahren an der Albertina auseinandersetzt, stammt von Steffen Dietzsch. Als einer der wenigen Kant-Biographen wertete er 1 Online unter: szukajwarchiwach.gov.pl (letzte Einsichtnahme 6. 1. 2023).
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die Akten des Königsberger Universitätsarchivs in Olsztyn aus und gibt in seinem 2003 erschienenen Buch Einblicke sowohl in die Geschichte Königsbergs als auch in das Wirken Kants an der Königsberger Universität als Professor, Dekan und Rektor.2 Im Vorwort zur polnischen Übersetzung seiner Biographie hebt Dietzsch auch die enorme Bedeutung der Olsztyner Albertina-Bestände für die heutige Kant-Forschung hervor. Seiner Ansicht nach bildet das Staatsarchiv in Olsztyn dank seiner Königsberger Sammlung neben so bekannten Forschungsstellen wie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe von Kants Schriften) und der Kant Forschungsstelle der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz »das dritte große Zentrum der künftigen Quellenforschung zum Leben und Werk dieses Philosophen und seiner preußischen Umgebung«.3 Ob sich das Olsztyner Archiv jemals zu einer wichtigen Anlaufstelle für die Kant-Forschung entwickelt, muss sich noch erweisen. Bereits 1990 nahmen Werner Stark und Werner Euler im Rahmen eines Marburger DFG-Projekts über Kants Amtstätigkeit Archivstudien in Olsztyn auf.4 Verschiedene Forschungsbeiträge, die im engeren oder weiteren Zusammenhang mit diesem letztlich nie zu Ende geführten Vorhaben standen, griffen in der Folge auf Archivalien aus dem dortigen Archiv zurück. Leider wurden diese Vorstöße in die quellenkritische terra incognita von der übrigen Forschung kaum zur Kenntnis genommen. Die geplante erste Digitalisierung würde somit helfen, die ausstehende Erschließung und Bereitstellung der Kant-Akten aus Olsztyn endlich voranzubringen und das Interesse an der Beleuchtung von Kants Dienstgeschäften anzuregen. Das Nordost-Institut in Lüneburg erfüllt alle notwendigen Voraussetzungen, um das vorliegende Digitalisierungsprojekt durchzuführen und zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Seit zwei Jahren besteht eine vertraglich geregelte Kooperation zwischen dem Stadtarchiv Olsztyn und dem Nordost-Institut. Die Leiterin des Projekts, PD Dr. Agnieszka Pufelska, hat bereits mehrere projektbezogene Gespräche mit der Leitung und den Mitarbeiter/-innen des Archivs geführt und entsprechende Absprachen getroffen. In Zusammenarbeit mit dem Archiv wurden von ihr auch die ersten zu digitalisierenden Quellen ausgesucht und bestimmt. Fachliche Beratung bei der Erstellung der begleitenden Texte erhält das Projekt insbesondere von Prof. Dr. Werner Stark, Marburg, der an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bis zu seiner Pensionierung für die Neuedition, Revision und den Abschluss der Werke Immanuel 2 Steffen Dietzsch, Immanuel Kant – Eine Biographie, Leipzig 2003. 3 Steffen Dietzsch, Vorwort zur polnischen Ausgabe, in: Immanuel Kant. Biografia, Warszawa 2005, S. 11. 4 Werner Euler, Kants Amtstätigkeit – ein neues Projekt der Kantforschung, in: Information Philosophie 5 (1992), S. 76; Werner Stark, Kants Amtstätigkeit. Ein Kurzbericht zu einem Vorhaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: Kant-Studien 85 (1994), S. 470–472.
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Kants zuständig war. Die internationale Vernetzung und wissenschaftliche Kooperationen des Nordost-Instituts garantieren zudem eine breite Resonanz des Projektes, nicht nur in der Fachwelt. Die Präsentation des Digitalisierungsprojektes auf dem Online-Portal des Nordost-Instituts wird nicht unwesentlich zur Popularisierung der Kant-Ausstellung im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg beitragen. Das Museum plant, die Präsentation der Kant-Exponate um einige Kopien von KantDokumenten aus dem Olsztyner Archiv zu ergänzen. Die fachliche Bearbeitung und digitale Bereitstellung ausgewählter Olsztyner Kantiana durch das NordostInstitut können somit die Museumssammlung vervollständigen und ihre wissenschaftliche Dimension hervorheben. Das Digitalisierungsprojekt wird auch die Potenziale der institutionellen Kooperation zweier nach § 96 BMVG geförderter Einrichtungen aufzeigen und in der Öffentlichkeit Lüneburg als einen Ort präsentieren, an dem die Erinnerung an Königsberg durch historische Dokumentation und museale Präsentation wachgehalten wird. Die bisher ausgewerteten Bestände zur Königsberger Universität im Olsztyner Staatsarchiv enthalten natürlich weit mehr als nur Angaben zu Kants Amtstätigkeit. Es finden sich auch zahlreiche Schriftstücke über seine Qualifikationszeit (Studium, Promotion, Habilitation), sein didaktisches Engagement (Seminare, Vorlesungen, Kontakte mit Studenten) sowie über den Umgang der Universität mit der Erinnerung an Kant (Bestattungsfeierlichkeiten, Kant-Jubiläen, Veröffentlichung seiner Schriften). Eine wichtige Quelle für die Erforschung von Kants Dienstjahren bilden zudem die Akten der Philosophischen Fakultät, weil sie Aufschluss über die personelle Besetzung der Fachbereiche, Bewerbungsverfahren, Rechtsstreitigkeiten oder Stipendienvergaben geben. Dies waren Prozesse, in die Kant als Lehrkraft und Dekan direkt oder indirekt eingebunden war und die von ihm häufig mitbestimmt wurden, auch wenn es keine direkten Belege (Primärquellen) dazu gibt. Um Kants Tätigkeit an der Albertina für ein möglichst breites Publikum anschaulich zu machen und im Kontext darzustellen, sollen für die zu erstellende Seite thematische »Module« entwickelt werden, in denen jeweils ein längerer erklärender Text mit Beispielen aus den digitalisierten Akten »bebildert« wird. Folgende Module sind bisher vorgesehen: 1. Kant in Allenstein/Olsztyn (Projektdarstellung) 2. Die Albertina in Königsberg 3. Kant als Student, Dozent, Professor 4. Kant als Amtsträger (Dekan, Rektor, Senator) 5. Kant und die Schul- und Universitätsreform 6. Kant und die staatliche Zensur 7. Kants Nachleben (Bestattung, Denkmal, Jubiläen) 8. Forschungsprojekte zu Kants Amts- und Lehrtätigkeit
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Matthias Barelkowski / Agnieszka Pufelska
9. Das Staatsarchiv in Olsztyn 10. Die Quellenbestände zur Albertina. Ferner werden Angaben zu Fundort, Signatur und Entstehungsdatum jedes einzelnen digitalisierte Schriftstück gemacht sowie Fotos aus dem Archiv vorgestellt. Um die Lesbarkeit der online bereitgestellten Schriftstücke zu erleichtern, werden alle in deutscher Kurrentschrift verfassten Handschriften-Digitalisate in lateinische Schrift übertragen. Eine solche Erschließung der Materialien (Einordnung in einen Sachzusammenhang, historischer Kommentar, Abbildung ausgewählter Digitalisate, Transkription) ermöglicht eine schnelle und einfache Zugänglichkeit mit einem erhöhten Nutzungskomfort. Die zu gestaltende Seite wird darüber zahlreiche Links zu anderen Kant-Projekten auflisten, die im Zusammenhang mit dem 300. Geburtstag des Königsberger Philosophen entstehen bzw. sein Werk in Langzeitprojekten publizieren.
Abb. 1: Beispieldigitalisat: Erlass Friedrich II. vom 31. März 1770, wonach Immanuel Kant die Professur für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg erhält, »[…] da selbiger sich durch seine fleißigen Vorlesungen um besagte Universität verdient gemacht, und durch seine Schriften der gelehrten Welt rühmlichst bekannt geworden […]«. Quelle: Archiwum Pan´stwowe w Olsztynie [APO], Signatur: 42/1646/34/0022-23.
Beitragende
Matthias Barelkowski, M.A., ist als Historiker, Polonist und Übersetzer freiberuflich in Berlin tätig. Dr. Daria Barow-Vassilevitch ist Germanistin und in den Bereichen wissenschaftliche Handschriftenerschließung, Buch- und Bibliotheksgeschichte sowie Geschichte des Universitätsschrifttums tätig. Aktuell ist sie Projektmitarbeiterin an der Staatsbibliothek zu Berlin. Dr. Steffen Dietzsch lehrte als Professor und Lehrbeauftragter Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Dr. h.c. mult. Volker Gerhardt lehrt als Seniorprofessor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und bemüht sich seit 1999 um eine Aktualisierung der Akademieausgabe der Werke Kants. Dr. Tim Kunze ist Philosoph und Kurator der neuen Kant-Dauerausstellung am Ostpreußischen Landesmuseum. Dr. Hanspeter Marti ist Germanist und Wissenschaftshistoriker sowie Gründer und Leiter der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi / Schweiz. Dr. Arno Mentzel-Reuters ist außerplanmäßiger Professor für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg und leitet das Archiv der Monumenta Germaniae Historica in München. Dr. Agnieszka Pufelska ist Privatdozentin an der Universität Potsdam und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nordost-Institut in Lüneburg. Dr. Werner Stark ist Honorarprofessor der Philipps-Universität Marburg.
168
Beitragende
Dr. Johannes von Lüpke war von 1995 bis 2017 Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel.
Register der im Text zitierten Werke Kants
Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels 28, 52, 60 Briefwechsel 27, 50, 52f., 58, 77f., 86, 99, 103f., 110 De igne 52, 74f., 77 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis 85–88 Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes 60–62 Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft 19 Frage: Ob die Erde veralte? Physikalisch erwogen 54 Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte 51, 82 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 22, 26, 106f., 126 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 19f. Kritik der praktischen Vernunft 19, 95f., 97f. Kritik der reinen Vernunft 14, 64, 73, 86f., 93–95, 123f., 126, 132f., 135, 140 Kritik der Urteilskraft 25, 96
Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam 77, 83–85 Nachlass 109 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe 121 Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio 52, 60, 68f., 77–83 Rechtslehre 26f. Reflexionen zur Anthropologie Streit der Fakultäten 107–11
104
21, 28, 100, 104,
Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien 24 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis 106f. Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse […] einige Veränderungen […] erlitten habe 56 Vom Ewigen Frieden 19f., 26, 105, 110 Vom leichtern und vom gründlichern Vortrage der Philosophie 84 Vorarbeiten und Nachträge 106
170 Vorlesungen über Anthropologie 49 Vorlesungen über Logik 27, 90–93 Vorlesungen über Physische Geographie 49f., 53–57
Register der im Text zitierten Werke Kants
Zur Beantwortung der Frage, was ist Aufklärung? 24, 105, 130f.
Register der Orts- und Personennamen [nicht aufgenommen: Kant]
Äsop (Aisopos) 135 Albrecht, Herzog von Preußen 48 Alkibiades 116–20 Allenstein (Olsztyn) 14, 32, 42, 59, 143, 163–66 Andronikos von Rhodos 132 Anton, Paul 93 Aristophanes 119 Aristoteles 71, 132 Arnoldt, Johann Heinrich 41, 43f. Athen 126 Aubin, Hermann 154 Augsburg 37 Bach, Johann Sebastian 141 Bacon, Francis 61f. Baethgen, Friedrich 138, 147, 149, 153f., 161 Barelkowski, Matthias 10, 14 Barow-Vassilevitch 10, 14, 66 Barruel, Augustin 107 Basel 25, 139 Baumgarten, Eduard 153 Baumgarten, Siegmund Jakob 40 Beck, J. S. 27 Becker, Carl Heinrich 138f. Beethoven, Ludwig van 17 Bentley, Richard 61 Berens, Johann Christoph 116–18, 121 Berlin 9, 11, 22, 48, 53f., 56, 100f., 139, 143f., 146f., 149–52, 154, 164 Bermbach, Udo 141 Bernoulli, Johann 110 Bertram, Heinrich Ernst 37
Beuys, Joseph 13 Blanckenhagen, Wilhelm 67 Blindow, Johann Jakob 39 Blumenbach, Friedrich 28 Bock, Friedrich 138 Bock, Johann Georg 43, 45 Böhmer, [Johann Friedrich Gustav] 101 Bohlius, Gottlieb Theodor 39 Bolotov, Andrej 31f., 36, 39–40 Boltz, Johann Christoph 38 Borchard, Christoph Abraham 77, 81 Borowski, Ludwig Ernst 77, 88 Brackmann, Albert 143, 147, 149, 154 Brandenburg, Mark 38 Breslau (Wrocław) 143 Breitkopf, Johann Gottlob Immanuel 49 Brieg 39 Bruno, Giordano 142 Buchvastov, Nikolaj 36 Buchvastov, Sergej 36 Buck, Johann Friedrich 38, 40, 77, 97 Buck, Karl Wilhelm 97 Camper, Petrus 28 Cancik, Hubert 153 Chalcedon 136 Chamberlain, Houston Stewart 144, 151 Chmel’nickij, Bohdan 36 Chmel’nickij, Ivan 36f., 39f. Cicero, Marcus Tullius 21 Cimdarsus, Joachim 67 ˇ oglokov, Naum 36 C ˇ oglokov, Nikolaj 36 C
140–42,
172
Register der Orts- und Personennamen
ˇ oglokov, Samuil 36 C ˇ oglokov, Simon 36 C Cohen, Hermann 24 Conrad, Wilhelm Benjamin 39 Copernicus, Nicolaus 10, 137, 142f., 144– 47, 149–53, 158, 161 Crusius, Christian August 39–41, 78f. Cwit, Maxim 37 Dach, Simon 67 Dalí, Salvador 13 Danzig (Gdan´sk) 38, 60, 137f. Darjes, Joachim Georg 79 Delphi 118 Descartes, René 121f., 142 Devau (Rischskoje) 48 Dietrich, Otto 154 Dietzsch, Steffen 10, 14, 163f. Dilthey, Wilhelm 9 Dmitrieva, Nina 14 Dmuschewski, Johann Christoph Doerstling, Emil 113, 115 Domasˇirov, Stepan 36 Dreier, Horst 157 Duisburg 9 Elcˇaninov, Bogdan 33 Elcˇaninov, Gottlieb 33 Elisabeth I. Zarin 33, 44f. Elsner, Christoph Friedrich 102 Erasmus von Rotterdam 21 Erler, Georg 32 Ermakova, Nadezda 14 Euklid 71 Euler, Leonhard 52 Euler, Werner 164 Farinelli, Arturo 155f. Ficht, Daniel 37 Fichte, Johann Gottlieb 97 Flottwell, Cölestin Christian 66 Floyd, George 17 Fontane, Theodor 45 Forster, Georg 108 Forsthoff, Ernst 155–57 Frankfurt a.M. 139
37
Frankreich 22, 25, 100, 102, 104f., 108, 111 Frauenburg (Frombork) 143f. Frick, Wilhelm 144 Friedrich I., König in Preußen 75 Friedrich II., König von Preußen 21, 34, 44f., 52, 75, 78, 97, 166 Friedrich Wilhelm I. König in Preußen 75 Friedrich Wilhelm II. König von Preußen 101 Funck, Johann Daniel 66, 81 Funk, Walther Immanuel 160 Galilei, Galileo 63 Gallas, Wilhelm 138, 153f. Gehlen, Arnold 158 Gensen, […] 101f. Gerhardt, Volker 9f., 15 Gerullis, Georg 146 Goering, Hermann 150f. Göttingen 44, 52, 100, 108, 144 Goltz, [Carl] 101 Gottsched, Johann Christoph 40, 51 Grigorovius, Johann Adam 41 Grimoni, Lorenz 9, 11 Groß, Walter 152 Großbritannien 63 Grube, Johann Reinhold 77, 80 Händel, Georg Friedrich 152 Hagen, Karl Gottfried 14 Hahn, Johann Bernhard 81 Halle 41, 93, 144 Halle, Johann Samuel 37 Hamann, Johann Georg 10, 14–15, 113–36 Hannover 143 Harmjanz, Heinrich 143 Harnack, Adolf von 138 Harrison, John 63f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 97 Heineccius, Johann Gottlieb 41 Helsinki 39 Henkel-von Donnersmarck, Victor Amadeus, Graf 102f. Heraklit 122 Herder, Johann Gottfried 45, 91, 107, 123f., 126, 132, 136
173
Register der Orts- und Personennamen
Hermann, Matthias 34 Hermes, Karl Daniel 101 Herz, Markus 86f., 89 Hesse, Georg 64 Heydeck, Johannes 9, 11 Heyse, Hans 144 Himmler, Heinrich 156 Hirt, Ferdinand 157 Hitler, Adolf 140–42, 152 Hogrebe, Wolfgang 24 Homer (Homeros) 135 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 128 Insterburg 38, 52 Irkutsk 34 Italien 62 Ivan III. Großfürst von Moskau
117,
36
Jachmann, Reinhold Bernhard 50, 102 Jacobi, Friedrich Heinrich 116, 123–25, 133, 135f. Jacobi, Philipp Wilhelm 38 Jakob 133f. Jefferson, Thomas 21 Jena 101 Jersˇov, Ivan 33 Jester, Friedrich Ernst 39 Jönsenius, Johannes 67 Judtschen 52f. Kalusˇkin, Ivan 33 Karamysˇev, Alexander 38, 42 Katharina II. Zarin 36, 44 Kerner, Georg 107f. Kiefer, Anselm 13 Kiehl, Friedrich Albert 39 Kiel 56, 66 Kiew 33f., 36f. Knutzen, Martin 40, 58, 61, 70–73, 78, 83, 128 Koch, Erich 143, 146f., 150f., 160f. Köln 159 Königsberg (Kaliningrad) 9f., 13f., 20, 24, 31–45, 47–52, 58f., 66–70, 74–77, 83, 89,
96f., 99f., 101–03, 107, 113, 115, 124, 137–39, 142–48, 151–57, 159, 163–66 Kohnen, Joseph 15 Kolberg, Hildegard 157 Komorowski, Manfred 37, 66 Kopenhagen 68, 80–82 Kowalewski, Arnold 137, 158 Kowalewski, Coelestin 41 Kraus, Christian Jacob 101, 115, 130f. Krause [Gastwirt] 101f. Kreutzfeld, Johann Gottlieb 96f. Krusemarck, Ludwig Johann 77 Kühn, Manfred 83 Kunze, Tim 10, 13 Kurland 44 Lahrs, Friedrich 139 Langhausen, Christoph 41 Lawrynowicz, Kasimir 31, 36, 43 Lehmann, Johann Heinrich 101 Leibniz, Gottfried Wilhelm 73, 78, 82f. Leipzig 39, 49, 51, 139 Leonardo da Vinci 141f. Leppack, Johann Christian 39 L’Estocq, Johann Ludwig 41 Lichtenberg, Georg Christoph 104 Lindner, Gottlob Immanuel 129 Lindner, Johann Gotthelf 117, 125 Litauen 36 Locke, John 71 London 119f. Luding, Hermann 157 Lüneburg 9, 13, 15, 17, 164f. Luther, Martin 21, 126 Lysius, Friedrich Heinrich Samuel 77 Magritte, René 13 Mainz 164 Malter, Rudolf 15, 144f., 155 Marburg 48, 164 Marienburg 156 Marti, Hanspeter 10, 14, 37 Meier, Georg Friedrich 72, 90, 95 Meindl, Ralf 144 Melanchthon, Philipp 48 Mendelssohn, Moses 100
174 Mentzel-Reuters, Arno 10 Metzger, Johann Daniel 99, 102, 104 Meyer, Karl-Heinrich 149 Michaelis, Johann David 108f. Miegel, Agnes 139 Minneapolis 18 Möller, Johann Gottfried 77 Moldenhauer, Johann Heinrich Daniel 41 Morgenstern, Karl von 85 Moskau 32–34, 36, 38f., 42f. Mühlenkampf, Georg Ludwig 77 München 140 Münster 126 Mundel, Johann 39 Newton, Isaac 28 Nicolai, Karl Ferdinand 97 Niederlande 62 Niedersachsen 9, 15 Nietzsche, Friedrich 20, 153 Novgorod Velikij 33 Österreich 138, 154 Ostpreußen 10, 13, 31, 34, 38, 81, 103, 137– 39, 142, 145–47, 149, 152, 154f., 158, 161 Otto, Walther F[riedrich] 154 Paris 100, 107, 110 Pascal, Blaise 127 Paulus 120, 122, 124–26 Perikles 118 Persius (Aulus Persius Flaccus) 127 Peter I. Zar 33 Peter III. Zar 34, 36, 43 Pfeiffer, Johannes Wilhelm 101 Philipp III. König von Spanien 63 Pisanski, Georg Christoph 37–39 Plato 107, 117–19, 124, 142 Polen 34, 36, 60, 138, 152, 161 Pommern 38 Posen (Poznan´) 54f., 143 Preußen 48f., 60, 75f., 86, 111 Przybyllok, Erich 158 Ptachin, Konon 33 Pufelska, Agnieszka 10, 14, 164 Pufendorf, Samuel 105
Register der Orts- und Personennamen
Rappolt, Karl Heinrich 58 Richter, Andreas 99 Riga 68f. Röttgers, Kurt 24 Rom 141 Rosenberg, Alfred 142–44, 152, 158 Rosenkranz, Karl 47 Rostock 139 Rothfels, Hans 137, 155 Russland 10, 14, 31–39, 42–44, 60, 81 Rust, Bernhard 143, 150f., 160 Samara 34 Scheffner, Johann Georg 126 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 97 Schieder, Theodor 154f., 158, 160 Schiller, Friedrich 17 Schlesien 34, 38 Schmidt, Bernhard 139 Schoenborn, Hans Joachim 158 Schreiber, Georg Wilhelm 86 Schröter, Georg Daniel 86 Schultz, Ernst Christoph 39 Schultz, Franz Albert 41, 70, 93 Schulz, Johann Ernst 101f. Schumacher, Bruno 160 Schweden 63 Shakespeare, William 141 Sibirien 34, 36, 38, 43 Sˇichmatov, Ivan 36 Sˇichmatov, Nikolaj 36 Siegwitz, Friedrich 37 Sieyès, Emmanuel Joseph 107 Singer, Erich 157 Smend, Johannes 138 Sokrates 21, 71, 90, 115–22, 124, 129, 131 Spinoza, Baruch de 127 St. Petersburg 34, 37, 42, 60, 153 Stark, Werner 10, 14, 164 Stein, Johann Augustus 86 Stella, Erasmus 157 Stinnes, Hugo 139f. Straßburg (Strasbourg) 37, 39, 60, 68 Sudetenland 138, 154 Tambov
36
175
Register der Orts- und Personennamen
Tartu 85, 96 Teske, Johann Gottfried 43 Theiler, Willy 149 Thomas, Johann Heinrich 39 Thorn (Torun´) 59f., 143 Thümler, Björn 15 Thurau, Rudolf 157 Tilitzki, Christian 142, 145 Titov, Nikita 33 Troost, Ludwig von 140 Tübingen 48 Tver 36 Ukraine 17, 34, 36 Ungarn 34 Vaihinger, Hans 137 Varenius, Bernhard 63 Veniaminov, Peter 38f., 42f. Vereinigte Staaten von Amerika 21f., 25 Vogel, Lukas David 77 Vologda-Gebiet 36 Volonskij, Fürst 34 von Asch, Georg Thomas 44 von Borowski, Ludwig Ernst 50 von Glasenapp, Helmut 153 von Goethe, Johann Wolfgang 141f. von der Groeben, Wilhelm Ludwig 83 von Grünberg, Hans-Bernhard 146–51, 160f. von Haller, Albrecht 52 von Humboldt, Wilhelm 48, 97 von Korff, Nikolaus Friedrich 44 von Lehwaldt, Johann 81
von Lüpke, Johannes 10, 14 von Raumer, Kurt 153, 155f. von Schön, Theodor 155f. von Selle, Götz 31 von Xylander, Cheryce 14 von Zedlitz, Karl Abraham 41 Voronezh 67 Wacławik, Beata 42 Warda, Arthur 53 Warschau (Warszawa) 39, 59, 68, 88 Waschkies, Hans-Joachim 56 Wasianski, Andreas Christoph 50, 57f. Watson, Matthias Friedrich 38 Weber, Daniel Ludwig 39 Weber, Matthias 13 Weigel, Erhard 84 Westpreußen 137 Weymann, Daniel 36, 38–41 Wilhelm II. deutscher Kaiser 153 Wittenberg 48 Wladimir 33 Wlochatius, August Wilhelm 41 Wolff, Christian 40, 70f., 78, 80, 89f., 109 Wolff, Heinrich 159 Worms 56f. Woydke, [Michael Friedrich] 101 Würzburg 139 Zeno 71 Ziesemer, Walther 149, 153 Zürich 139 Zybelin, Seme:n 39, 42f.