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German Pages 182 Year 2009
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 56
Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft Forschungskolloquium anlässlich der Verabschiedung von Eckart Klein Herausgegeben von Marten Breuer, Astrid Epiney, Andreas Haratsch, Stefanie Schmahl, Norman Weiß
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 56
Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft Forschungskolloquium anlässlich der Verabschiedung von Eckart Klein
Herausgegeben von Marten Breuer, Astrid Epiney, Andreas Haratsch, Stefanie Schmahl, Norman Weiß
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13227-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Einleitungsworte Von Norman Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung: Steuerung durch Verantwortlichkeit und Haftung Von Georg Nolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung: Kommentar Von Matthias Ruffert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Herausforderungen und Perspektiven des internationalen Menschenrechtsschutzes Von Christian Tomuschat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Vom Marktbürger zum Unionsbürger Von Rudolf Streinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Die Unionsbürgerschaft: Mehr als ein Status des Bourgeois? – Kommentar Von Martin Nettesheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, den USA und Europa als Trägerin einer gemeinsamen Rechtswahrungsaufgabe Von Thomas Giegerich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Verfassungsgerichtsbarkeit in Italien Von Karin Oellers-Frahm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Das Staunen des Juristen Von Christoph Menke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Einleitungsworte Von Norman Weiß Sehr geehrte Frau Dekanin, lieber Herr Klein, meine sehr geehrten Kollegen, liebe Studenten! Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu diesem Forschungskolloquium, das wir, seine Schüler, aus Anlass der Verabschiedung von Prof. Dr. Eckart Klein aus dem aktiven Dienst als Hochschullehrer veranstalten. Wir, das sind Astrid Epiney (Professorin in Fribourg) und Stefanie Schmahl (Professorin in Würzburg), Marten Breuer (Habilitand in Potsdam), Andreas Haratsch (Professor in Hagen) und ich (Privatdozent in Potsdam). Wir freuen uns über das Interesse an diesem Kolloquium und über die spontane Bereitschaft der Referenten und Kommentatoren, sich aktiv an der Veranstaltung zu beteiligen. Beides ist Ausdruck der Wertschätzung, die Kollegen, Freunde, Weggefährten und natürlich Ihre Schüler Ihnen, lieber Herr Klein, entgegenbringen. I. Das Thema des Kolloquiums lautet: „Im Dienste des Menschen: Recht – Staat – Staatengemeinschaft“. Wir Veranstalter greifen damit eine zentrale Botschaft auf, die Sie uns nachhaltig vermittelt haben: Dass nämlich Recht und Staat kein Selbstzweck sein können, sondern dem Wohl des Menschen zu dienen haben. Sie, lieber Herr Klein, haben freilich nicht
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nur uns Fünfen, sondern zahlreichen Doktoranden und vielen Studentengenerationen eindringlich vor Augen geführt, dass der Satz „Fiat iustitia, pereat mundus“ in die Irre führt. Dass Sie in diesem Zusammenhang rechtlicher Bindungslosigkeit oder gar moralischer Beliebigkeit und hedonistischer Lebensweise das Wort geredet hätten, wird zu Recht niemand hier annehmen. Herr Kirchhof, der heute leider nicht bei uns sein kann, hat konstatiert: „Der Zeitgenosse der westlichen Welt versteht sich jedoch oft weniger als mitverantwortlicher Bürger und mehr als freies Mitglied einer Gesellschaft. Er entfaltet teilweise eine zivilgesellschaftliche Selbstgewißheit, die alle Bindungen an den Staat lockert, möglichst die Steuer vermeidet und Wahlen fernbleibt. Dieser Mensch ohne Bürgersinn übersteigert die Erwartungen an den Staat – auf gutes Recht und gutes Geld –, überfordert den Staat und wendet sich sodann enttäuscht vom Staat ab.“1
Nun ist der Mensch, in dessen Dienst Recht, Staat und Staatengemeinschaft stehen, ein vielgestaltiges, nicht immer sympathisches Wesen. Jeder wird in seinem Bekannten- oder Kollegenkreis Personen kennen, mit denen sich der persönliche Umgang schwierig gestaltet, deren Lebensstil befremdet oder deren Arbeitsergebnisse enttäuschen. Doch ist all das kein Grund für Recht und Staat, solchen Menschen den Dienst zu versagen, ihnen weniger Recht widerfahren zu lassen als angenehmeren Zeitgenossen. Dass dies erst recht für die pathologischen Fälle gilt, erfahren Juristen jeden Tag. Die Menschenrechtsbeschwerde des Markus Gäfgen gehört zu dem, was vom Publikum zwar diskutiert werden kann, aber auszuhalten ist. Vom Recht ist sie nicht einmal zu diskutieren, sondern schlicht abzuarbeiten.2
1 Paul Kirchhof, Menschenbild und Freiheitsrecht, in: Rainer Grote u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, FS für Christian Starck, 2007, S. 275 – 296 (S. 289). 2 EGMR, Gäfgen . / . Deutschland, Urt. v. 30. 6. 2008, Nr. 22978 / 05, EuGRZ 2008, S. 466.
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II. Das Kolloquium wird sich vier Themenstellungen widmen, die jeweils Aspekte des Generalthemas untersuchen. Heute Nachmittag wird es zunächst um „Frieden und Sicherheit durch internationale Zusammenarbeit“ gehen. Herr Nolte hat sich freundlicherweise bereit erklärt, hierzu vorzutragen. Mit ihm kommt ein Völkerrechtler zu Wort, der sich mit Aspekten dieses breiten Themas nicht zuletzt in seiner Habilitationsschrift „Eingreifen auf Einladung“3 befasst hat. Anlässlich der NATO-Intervention im Kosovo hat Herr Nolte 1999 formuliert: „Wenn allerdings wirklich keine Zusammenarbeit zur Verhinderung von Völkermord oder ,ethnischen Säuberungen‘ möglich ist, dann ist die Frage nach der Weltverfassung auch, und zwar im entgegengesetzten Sinn entschieden. Es wäre dann an der Zeit, einen erneuten Versuch zu unternehmen, die Welt in eine bessere Verfassung zu bringen. Dies aber setzt das Eingeständnis voraus, daß die alte Ordnung nicht mehr besteht. Vor diesem Eingeständnis schreckt man aber – noch? – aus guten Gründen zurück.“4
Er hat hinzugesetzt: „Es bleibt zu hoffen, daß die Weltgemeinschaft die einseitige Intervention der NATO-Staaten konstruktiv bewältigt.“
Herr Ruffert, der auf dem Gebiet des Völkerrechts nicht nur die „Zuständigkeitsgrenzen internationaler Organisationen im institutionellen Rahmen der internationalen Gemeinschaft“5 im Blick hat, wird die Diskussion darüber, wo wir zehn Jahre später stehen, mit einem Kommentar eröffnen. 3 Georg Nolte, Eingreifen auf Einladung – Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes fremder Truppen im internen Konflikt auf Einladung der Regierung, 1999. 4 Georg Nolte, Kosovo und Konstitutionalisierung: Zur humanitären Intervention der NATO-Staaten, in: ZaöRV 50 (1999), S. 941 – 960 (S. 958). Dort auch das nachfolgende Zitat. 5 Matthias Ruffert, Zuständigkeitsgrenzen internationaler Organisationen im institutionellen Rahmen der internationalen Gemeinschaft, in: AVR 2000, S. 129 – 168.
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Anschließend wird Herr Tomuschat zum Thema „Herausforderungen und Perspektiven des internationalen Menschenrechtsschutzes“ sprechen. Dabei kann er aus einem reichen Erfahrungsschatz auch als Praktiker, der sich viele Jahre international engagiert hat, schöpfen. Unlängst hat Herr Tomuschat formuliert: „Menschenrechte sollen echte Rechte sein, die für das begünstigte Individuum eine Grundlage seiner persönlichen Lebensgestaltung bilden. Sie bedürfen also allgemeiner Anerkennung und dürfen nicht den Zufällen des subjektiven Meinens ausgesetzt sein.“6
Es folgt der Hinweis auf die Notwendigkeit tatsächlicher Durchsetzung, um auch wirklich „im Dienste des Menschen“ zu wirken. Dies ist eine Mahnung, mehr für die Durchsetzung zu tun, gleichzeitig aber auch eine Warnung vor allzu leichtfertiger, weil schwierig umzusetzender Normkreation: „In der Tat findet nicht jede normative Gewährleistung ihre tatsächliche Erfüllung.“7
Denn, so könnte man anfügen, Menschenrechte gibt es nicht zum Nulltarif. Mit einem schlichten Folterverbot ist wenig erreicht, wenn ein Land, seine Gerichte, Justiz- und Polizeibehörden auf eine jahrzehntelange Folterpraxis zurückblicken. Aber auch gesichert scheinende Positionen können ins Wanken geraten, wenn einerseits die Bevölkerung Freiheit für weniger erstrebenswert hält als staatlicherseits bevormundend zugeteilte Gerechtigkeit und andererseits der Staat versucht, Beschränkungen dieser von den Bürgern offenbar selbst nicht sonderlich hoch veranschlagten Freiheitsrechte mit Sicherheitsversprechen angesichts internationaler Bedrohungslagen zu erlangen. Wir sind gespannt auf die Ausführungen von Herrn Tomuschat. Dem aktuellen Programm können Sie entnehmen, dass 6 Christian Tomuschat, Recht und Politik bei der Gewährleistung der Menschenrechte, in: Ingo Richter (Hrsg.), Transnationale Menschenrechte, 2008, S. 266 – 280 (S. 266). 7 Tomuschat, ebd., S. 267.
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der ursprünglich angekündigte Kommentar von Herrn Simma leider entfallen muss. Herr Simma wird durch Geschäfte des Internationalen Gerichtshofs im Haag festgehalten; er lässt Ihnen allen recht herzliche Grüße ausrichten. Die geladenen Gäste treffen sich dann heute Abend zum Essen. Bei dieser Gelegenheit wird Herr Menke, der mit Herrn Klein seit dem Jahre 2001 das MenschenRechtsZentrum gemeinsam leitet, zum Thema „Das Staunen des Juristen“ sprechen.8 Mit seinen im Jahr 2000 erschienenen „Spiegelungen der Gleichheit“9 hat er eine Kritik der Gleichheit am Maßstab der Individualität vorgelegt. Wir freuen uns auf Gedanken aus philosophischer Perspektive zum speziellen Dienstverhältnis, das wir auf dieser Tagung diskutieren. Morgen vormittag wenden wir uns der Frage zu, welche Entwicklung sich hinter der Überschrift „Vom Markt- zum Unionsbürger“ verbirgt. Die Konzentration auf den Bürger jedenfalls stellt den Menschen in den Brennpunkt gemeinschafts- und unionsrechtlicher Kontexte. Dies ist besonders interessant und wirkungsmächtig, weil von dort aus auch auf den Nationalstaat eingewirkt wird. Maßnahmen des Gesundheits- oder Verbraucherschutzes, um nur zwei Beispiele zu nennen, sorgen in den Mitgliedstaaten stets für Wirbel: im Dienste des Menschen greifen sie in dessen Gewohnheiten ein. Herr Streinz wird das Referat halten und Herr Nettesheim wird sich kommentierend dazu äußern. Beide sind ausgewiesene Kenner, Erläuterer und Kommentatoren des Europarechts; ich muss die Fülle möglicher Zitate auf einen Aspekt beschränken, den ich bei Herrn Streinz gefunden habe. Er hat die Legitimationsfrage als „einen Ansatzpunkt für den Sinn und Zweck des Nationalstaats im Rahmen von Europäisierung und Globalisierung“10 bezeichnet und damit zum AusDer Beitrag ist am Ende des Bandes abgedruckt. Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, 2000. 10 Rudolf Streinz, Sinn und Zweck des Nationalstaates in der Zeit der Europäisierung und Globalisierung, in: Jürgen Bröhmer u. a. (Hrsg.), 8 9
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druck gebracht, dass die bürgerschaftliche Verbundenheit mit der Europäischen Union noch nicht besonders stark ausgebaut sei. Dafür gibt es sicherlich viele Gründe und wir freuen uns, davon zu hören. Schließlich wird Herr Giegerich über das Thema „Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und den USA“ sprechen. Diesen besonderen Wächtern der verfassten Ordnung kommt vor allem, aber nicht nur im Bereich des Grundrechtsschutzes die Aufgabe zu, Vorgaben im Interesse des einzelnen, zum Schutze seiner Rechte und seiner Würde zu formulieren und durchzusetzen. Nicht erst mit seiner Dissertation über die „Privatwirkung der Grundrechte in den USA“11 hat sich Herr Giegerich mit der Rechtsprechung des Supreme Court beschäftigt, und auch das Bundesverfassungsgericht hat er schon mehrfach rechtsvergleichend betrachtet. Das Grunddilemma der Verfassungsgerichtsbarkeit hat er wie folgt umrissen: „Wie kann die Verfassungsbindung der politischen Zweige der Staatsgewalt – der Legislative und der Exekutive – gewährleistet werden, ohne dass die Volksherrschaft zur politischen Herrschaft demokratisch nicht hinreichend legitimierter und kontrollierter Richter und die rechtsstaatliche Gewaltenbalance zu einem Übergewicht der dritten Gewalt denaturiert?“12
Frau Oellers-Frahm, die als Kennerin internationaler und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung ausgewiesen ist, wird mit ihrem Kommentar die Diskussion eröffnen und dabei den Blick auch auf das italienische Verfassungsgericht lenken.
Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, FS für Georg Ress, 2005, S. 1277 – 1293 (S. 1280). 11 Thomas Giegerich, Privatwirkung der Grundrechte in den USA: Die State Action Doctrine des U.S. Supreme Court und die Bürgerrechtsgesetzgebung des Bundes, 1992. 12 Thomas Giegerich, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt im europäisch-atlantischen Verfassungsstaat: Vergleichende Bestandsaufnahme mit Ausblick auf die neuen Demokratien in Mittelund Osteuropa, in: ZaöRV 57 (1997), S. 409 – 564 (S. 414).
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III. Ihr wissenschaftliches Œuvre, lieber Herr Klein, weist zu jedem dieser Themen gewichtige Beiträge auf, die eine intensive, oft jahrelange, nicht selten Jahrzehnte währende Beschäftigung mit den damit zusammenhängenden Problemstellungen erkennen lässt. Ich darf in umgekehrter Reihenfolge beginnen: Bereits im Jahre 1974 erschien der Aufsatz „Das richterliche Prüfungsrecht in den Vereinigten Staaten zu Beginn des vorigen Jahrhunderts“13, 1982 dann der vielbeachtete Aufsatz „Zur objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde“14. 1991 und 2001 ist das Lehrbuch zum Verfassungsprozessrecht erschienen, gemeinsam verfasst mit Herrn Benda, der heute leider verhindert ist. Im Bereich des Europarechts ist die Bearbeitung zahlreicher Artikel im „Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union“15 zu nennen. Hinzu kommen beispielsweise die Aufsätze „Die europäische Integration im Licht unterschiedlicher Rechtssysteme“16 und zur „Zulässigkeit von Wirtschaftssanktionen der EWG gegen ihre Mitgliedstaaten“17. Das Thema Menschenrechte hat auch schon vor 1994, dem Jahr der Gründung des MenschenRechtsZentrums, eine Rolle gespielt. Ich weise nur auf die Beiträge „Der Individualrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland bei Verstößen gegen die Menschenrechte und Grundfreiheiten der Europäi13 Eckart Klein, Das richterliche Prüfungsrecht in den Vereinigten Staaten zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, in: ZaöRV 34 (1974), S. 83 – 111. 14 Eckart Klein, Zur objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde, in: DÖV 1982, S. 797 – 805. 15 Kay Hailbronner / Eckart Klein / Siegfried Magiera / Peter-Christian Müller-Graff, Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union (EUV / EGV), 1991 ff. 16 Eckart Klein, Die europäische Integration im Licht unterschiedlicher Rechtssysteme, in: Eduard J. M. Kroker / Bruno Dechamps (Hrsg.), Europa – ein Weg zum Frieden?, Königsteiner Forum 1991, S. 115 – 135. 17 Eckart Klein, Zulässigkeit von Wirtschaftssanktionen der EWG gegen ihre Mitgliedstaaten, in: RIW / AWD 1985, S. 291 – 297.
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schen Menschenrechtskonvention“18 und „Human Rights of the Third Generation“19 hin. Zu erinnern ist gerade hier in Potsdam aber auch an das wichtige Buch „Before Reforms. Human Rights in the Warsaw Pact States“,20 erschienen 1990. 1995 dann eröffnet die auf einen Vortrag vor der Potsdamer Juristischen Gesellschaft zurückgehende Schrift „Menschenrechte“21 einen Reigen von wichtigen Beiträgen, der ergänzt wird durch die Herausgeberschaft vieler Konferenzbände. Partes pro toto seien genannt: „Stille Diplomatie und Menschenrechte“22 (1996), „The Monitoring System of Human Rights Treaty Obligations“23 (1998) und „Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht“24 (2003). Auch aus der Vielzahl der Publikationen zu völkerrechtlichen Themen können nur Beispiele erwähnt werden: zuallererst der Abschnitt über die „Internationalen und Supranationalen Organisationen“ in dem von Graf Vitzthum herausgegebenen Lehrbuch zum Völkerrecht, das 2007 in 4. Auflage erschienen ist25 und dessen 2. Auflage 2001 ins Chinesische 18 Eckart Klein, Der Individualrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland bei Verstößen gegen die Menschenrechte und Grundfreiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Ernst Mahrenholz / Meinhard Hilf / Eckart Klein, Entwicklung der Menschenrechte innerhalb der Staaten des Europarates, 1987, S. 43 – 66. 19 Eckart Klein, Human Rights of the Third Generation, in: Christian Starck (Hrsg.), Rights, Institutions and Impact of International Law according to the German Basic Law, 1987, S. 63 – 73. 20 Eckart Klein, The Position under International Law, in: Georg Brunner et al.: Before Reforms, Human Rights in the Warsaw Pact States 1971 – 1988, 1990, S. 1 – 26, und ders., Marriage and the Family, ebenda, S. 233 – 280. 21 Eckart Klein, Menschenrechte: Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, 1996. 22 Eckart Klein (Hrsg.), Stille Diplomatie und Menschenrechte, Überlegungen zum effektiven Schutz der Menschenrechte, Wechselseitige Erwartungen an Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen, 1996. 23 Eckart Klein (Hrsg.), The Monitoring System of Human Rights Treaty Obligations, 1998. 24 Eckart Klein (Hrsg.), Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, 2003.
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übersetzt wurde. Aber bereits im Jahre 1974 erörtern Sie ein seit einigen Jahren praktisch bedeutsam gewordenes Thema: „Rechtsprobleme einer deutschen Beteiligung an der Aufstellung von Streitkräften der Vereinten Nationen“.26 Allein in der Encyclopedia of Public International Law (1992 – 2003) stammen dreizehn Artikel aus Ihrer Feder. Und schließlich erreichen Sie mit dem Beitrag „Die Vereinten Nationen und das Völkerrecht“, erschienen 2007 in dem Buch „Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen“,27 auch einen nicht ausschließlich rechtswissenschaftlich orientierten Leserkreis. Viele weitere Beiträge verknüpfen die bislang angesprochenen Fragestellungen, exemplarisch etwa der Vortrag vor der Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1990, „Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft“.28 Eine Reihe von Themen, die von mir kaum angesprochen werden können, konnten aus Zeitgründen leider nicht Gegenstand dieses Kolloquiums werden: beispielsweise die Rechtslage Deutschlands29 und das Staatshaftungsrecht30. Aber auch in der Lehre sind diese Themen von Ihnen kontinuierlich behandelt sowie die zugrundeliegenden Probleme 25 Eckart Klein, Die Internationalen und die Supranationalen Organisationen, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, S. 272 – 385. 26 Eckart Klein, Rechtsprobleme einer deutschen Beteiligung an der Aufstellung von Streitkräften der Vereinten Nationen, in: ZaöRV 34 (1974), S. 429 – 451. 27 Eckart Klein, Die Vereinten Nationen und das Völkerrecht, in: Helmut Volger (Hrsg.), Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen, 2007, S. 21 – 66. 28 Eckart Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), S. 56 – 96. 29 Vgl. nur Eckart Klein, Wiedervereinigungsgebot und Völkerrecht, in: Deutschlandvertrag, westliches Bündnis und Wiedervereinigung, Studien zur Deutschlandfrage Bd. 9 (1985), S. 55 – 76. 30 Eckart Klein, Staatshaftung (Anhang zu § 839), in: Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, Bd. 12, 13. Aufl. 2005, S. 697 – 812 (teilw. zus. mit Andreas Krekel und Marten Breuer).
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und die notwendigen Grundentscheidungen vermittelt worden. Dies gilt für die engagiert gehaltenen Vorlesungen ebenso wie für die auf wissenschaftlichen Austausch und Dialog zielenden Seminare.
IV. Lieber Herr Klein, mit diesem Kolloquium erweisen wir, Ihre Schüler, Ihnen unsere Reverenz und sagen Dank für all das, was wir von und bei Ihnen lernen durften. Das Generalthema der Tagung nimmt hierunter einen herausgehobenen Platz ein. Einführende Worte kommen offenbar ohne organisatorische Hinweise nicht aus; ich kann mich aber kurz fassen. Erstens: Wir werden nach dem ersten Abschnitt eine Kaffeepause machen. Zweitens: Meine Habilitationsgeschwister werden die einzelnen Abschnitte moderieren und dabei auch näher auf die Referenten eingehen. Den Anfang macht Marten Breuer, nach der Pause übernimmt Stefanie Schmahl. Morgen wird Astrid Epiney beginnen und dann an Andreas Haratsch übergeben. Ich möchte nicht schließen, ohne mich zu bedanken. Die Zusammenarbeit unter uns Veranstaltern war unaufgeregt und unproblematisch. Ich habe das, wie schon bei anderen Gelegenheiten,31 sehr geschätzt. Maria Augustin, Auszubildende im Sekretariat des MenschenRechtsZentrums, hat uns in der Endphase der Vorbereitungen unterstützt. Heute und morgen greifen wir auf die studentischen Hilfskräfte am Lehrstuhl von Herrn Klein, Gundula Ziegenhagen und Udo Moewes, sowie 31 Vgl. Andreas Haratsch / Norbert Janz / Sonja Rademacher / Stefanie Schmahl / Norman Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 41. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht“, Potsdam 2001, 2001; Marten Breuer / Norman Weiß (Hrsg.), Das Vertragswerk von Locarno und seine Bedeutung für die internationale Gemeinschaft nach 80 Jahren, Ergebnisse eines interdisziplinären Rundtischgesprächs, 2007.
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am MenschenRechtsZentrum, Margarita Georgas und Lutz Römer, zurück. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Besonderer Dank gilt Frau Schiller, der Sekretärin von Herrn Klein, die uns umsichtig und besonnen beigestanden hat. Wie stets in den vergangenen 15 Jahren war sie eine verlässliche Stütze und eine meiner wichtigsten Kolleginnen. Aufgrund der thematischen Nähe veranstalten wir dieses Kolloquium gemeinsam mit dem MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam, das für die zur Finanzierung einer Konferenz heute unerlässlichen Drittmittel gesorgt hat. Diese stammen von der Margarete-Markus-Charity, der ebenfalls unser Dank gilt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und bitte nun Frau Prof. Assmann, die Dekanin der Juristischen Fakultät, in deren Festsaal wir freundlicherweise tagen dürfen, ihr Grußwort an uns zu richten.
Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung: Steuerung durch Verantwortlichkeit und Haftung Von Georg Nolte I. Einleitung und Fragestellung „Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung“ ist, mit Fontane gesprochen, „ein weites Feld“. Die Formulierung legt es nahe, eine Sonntagsrede zu schreiben, etwa zum Stand des UN-Friedenssicherungssystems heute. Aber das dürfte weder den Intentionen der Schüler Eckart Kleins, welche eine Erörterung dieses Themas gewünscht haben, noch ihm selbst gerecht werden. Hinter der unbestimmten Themenstellung liegt, so nehme ich an, der Wunsch verborgen, eine gleichzeitig grundsätzliche und konkrete Fragestellung aus diesem der großen Arbeitsbereiche von Eckart Klein zu behandeln. Erlauben Sie mir also, die Frage zu erörtern: Wie beeinflusst das allgemeine Völkerrecht, insbesondere dessen Regeln über Verantwortlichkeit und Haftung, die Bereitschaft der Staaten, bei der Friedenssicherung zusammenzuarbeiten? In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf eine konkrete Rechtsregel kommen, über die der Privatdozent Eckart Klein als einer der ersten geschrieben hat.
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II. Allgemeine Zusammenarbeitspflichten: Anspruch und Wirklichkeit Die Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung ist gleichzeitig selbstverständlich und gar nicht selbstverständlich: Selbstverständlich ist diese Zusammenarbeit in unendlich vielen Bereichen. Die Friedensmissionen der Vereinten Nationen sind nur die Spitze des Eisbergs. Die selbstverständliche Zusammenarbeit beruht auf unbestrittenen rechtlichen Grundlagen und Verpflichtungen. Die UN-Charta nennt als ersten Zweck der Organisation die Friedenssicherung durch gemeinsame Maßnahmen. Der Frieden soll durch Zusammenarbeit auf ökonomischem, sozialem, kulturellem, humanitärem und menschenrechtlichem Gebiet untermauert werden. Die Hauptverantwortung des Sicherheitsrates wird von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Artikel 2 Ziff. 5 der Charta flankiert, den Vereinten Nationen bei allen Maßnahmen Hilfe zu leisten,1 und also bei der Friedenssicherung zusammenzuarbeiten. Die Prinzipiendeklaration von 1970 hat die Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung bekräftigt und genauer ausbuchstabiert.2 Aber damit ist der Anspruch, der in dem Zusammenarbeitsgebot liegt, noch nicht verwirklicht. Zwar wird die grundsätzlich bestehende Zusammenarbeitspflicht vielfach zufriedenstellend erfüllt. Problematisch ist dagegen die Passivität der Staaten in Hinblick auf viele Störungen des Friedens, die nach einer effektiven Zusammenarbeit geradezu schreien. Welcher Staat ist bereit, sich gemeinsam mit anderen gegenüber dem Sudan zu engagieren, so dass das Leiden der Menschen in Darfur messbar gemildert wird? Kann es ausreichen, dass eine Minimaltruppe entsandt und gegen den Staatschef des Landes ein Haftbefehl beantragt wird? Wichtig ist auch zu bestim1 Jochen Abr. Frowein / Nico Krisch, Art. 2 (5), in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, 2. Auflage 2002, S. 136 ff. 2 Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States in Accordance with the Charter of the United Nations (1970), UNGA Res. 2625 (XXV) v. 24. 10. 1970.
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men, wann die unbestimmte Pflicht zur Zusammenarbeit in konkrete Verpflichtungen für dritte Staaten umschlägt, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen, das sich negativ auf die Friedenssicherung auswirken könnte.
III. Neuere Entwicklungen Moralisch und politisch gesehen kann ein begrenztes Engagement in Fällen wie dem Sudan natürlich nicht ausreichen. Aber wann liegt in Passivität auch eine Rechtsverletzung? Lange hat man die allgemeinen Verpflichtungen der Charta zur Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung für allzu unbestimmt gehalten. Verstöße hiergegen wurden bislang in aller Regel politisch geltend gemacht. Verantwortlichkeit im haftungsrechtlichen Sinn stand nicht in Rede. Nun gibt es allerdings Anzeichen, dass sich dies ändern könnte. 1. Schutzverantwortung
Die bekannteste Tendenz, die in diese Richtung weist, ist im Konzept der Schutzverantwortung verkörpert, der „responsibility to protect“.3 Dieses Konzept wurde erst vor kurzem wieder in Anspruch genommen, als der französische Außenminister seine Forderung nach einem Eingreifen in Myanmar nach der Überschwemmungs- und Versorgungskatastrophe hiermit untermauerte.4 Die responsibility to protect zielt aller3 Ingo Winkelmann, „Responsibility to Protect“: Die Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft zur Gewährung von Schutz, in: PierreMarie Dupuy u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 449 – 460; Carsten Stahn, Responsibility to Protect: Political Rhetoric or Emerging Legal Norm?, AJIL 101 (2007), S. 99 – 120; Christian Schaller, Die völkerrechtliche Dimension der „Responsibility to Protect“, SWP-Aktuell 46, Juni 2008, abrufbar unter http: //www.swp-berlin.org/common / get_document.php?asset_id=5024. 4 US-Diplomatin befürchtet 100.000 Tote, Süddeutsche Zeitung v. 7. 5. 2008.
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dings nicht in erster Linie auf die Begründung einer Pflicht dritter Staaten zur Zusammenarbeit. Vielmehr geht es dabei um eine Umdeutung des Souveränitätsbegriffs und um eine Begründung und Begrenzung von Befugnissen Dritter, sei es der Vereinten Nationen oder dritter Staaten.5 Das Konzept der responsibility to protect ist entwickelt worden, um den Streit um die Zulässigkeit nicht-autorisierter humanitärer Intervention, der nach der Kosovo-Intervention der NATOStaaten ausgebrochen war, in eine konstruktive Richtung zu lenken. Die Karriere des Konzepts ist auch die seiner langsamen Entschärfung – von der ernsthaften Erwägung einer Rechtfertigung einseitiger humanitärer Interventionen im sog. ICISS-Bericht von 20006 bis zur Betonung der Mechanismen kollektiver Sicherheit und der Begrenzung auf Völkerrechtsverbrechen im Outcome-Dokument der UN-Generalversammlung von 2005.7 Eine Verpflichtung dritter Staaten zum Tätigwerden und damit auch eine konkretere rechtliche Verpflichtung zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit ist aus dem Begriff der Schutzverantwortung zwar dem Sinn der Sache nach konstruierbar, sie ist im Verständnis der Staaten darin aber noch nicht enthalten. 2. Verhinderungspflichten
Welches ungeheure rechtliche Potential im Konzept der Schutzverantwortung steckt, kann man allerdings ermessen, wenn man das Urteil des IGH im Völkermord-Fall zwischen 5 Vgl. Georg Nolte, Sovereignty as Responsibility?, in: Proceedings of the 99th Annual Meeting of the American Society of International Law, 2005, 389 – 392. 6 „The responsibility to protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty“, Dezember 2001, abrufbar unter www.iciss.ca/pdf/Commission-Report.pdf. 7 2005 World Summit Outcome, UN Doc. A / RES / 60 / 1 v. 24. 10. 2005, Rn. 139.
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Bosnien-Herzegowina und Serbien als Signal versteht. Darin hat das Gericht aus der Verpflichtung aus Art. I der GenozidKonvention, Völkermord zu verhindern, eine Rechtspflicht aller Staaten zur Zusammenarbeit mit echtem Haftungsrisiko abgeleitet. Danach trifft die Pflicht zur Verhinderung von Völkermord nicht nur die Staaten für ihr eigenes Territorium und für die unter ihrer Kontrolle stehenden Personen. Vielmehr hängt diese Pflicht aller Staaten von ihrer bloßen Fähigkeit ab, das Verhalten von Personen zu beeinflussen, die Völkermord begehen oder wahrscheinlich begehen werden – „the capacity to influence effectively the action of persons likely to commit, or already committing, genocide.“8 Diese Pflicht, Völkermord auch außerhalb des eigenen Machtbereichs nach Maßgabe der eigenen faktischen und rechtlich zulässigen Einflussmöglichkeiten zu verhindern, wird vom IGH nicht nur als individuelle Rechtspflicht konstruiert, sondern auch als eine Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit.9 Solange nämlich die Möglichkeit besteht, dass gemeinsame Bemühungen mehrerer Staaten – the combined efforts of several states – den Völkermord verhindert hätten, wird ein einzelner Staat nicht mit dem Argument gehört, auch seine maximalen individuellen Bemühungen hätten nicht ausgereicht, die Tatbegehung zu verhindern.10 Damit wird für den Bereich des Völkermords eine Rechtspflicht zur Zusammenarbeit mit ganz erheblichen haftungsrechtlichen Implikationen absehbar: Wenn jeder Staat je nach dem Grad seiner individuellen und kollektiven Einflussmöglichkeiten für die Begehung eines Völkermordes rechtlich verantwortlich ist, sollte sein Verhalten auch vom Haftungsrisiko bestimmt werden. Dieses Haftungsrisiko hängt dann konkret sehr von der Instanz ab, die mit der Sache befasst wird, sowie 8 Case concerning the application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Hercegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil v. 27. 2. 2007, Rn. 430. 9 Ebd., Rn. 427, 430. 10 Ebd., Rn. 430.
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von der konkreten Prozesssituation. Deshalb ist es gar nicht so wichtig, dass es der IGH im Fall Bosnien gegen Serbien für ausreichend gehalten hat, eine bloße Feststellung der Verletzung der Verhinderungspflicht durch Serbien auszusprechen und auf das Zusprechen konkreter materieller Ausgleichsansprüche zu verzichten.11 Dies mag auf die konkrete Prozesssituation zurückzuführen gewesen sein, dem IGH im konkreten Fall angemessen erschienen sein oder bloß ein Ausdruck mangelnder Konsequenz gerade dieses Gerichts gewesen sein. Jedenfalls hätte ein anderes zuständiges Gericht, sei es ein internationales oder ein nationales, in einer Konstellation wie Bosnien gegen Serbien auf der Grundlage der Urteilsbegründung des IGH auch zu dem Ergebnis kommen können, dass Serbien, welches die Hauptverantwortung für den Genozid in Srebrenica trägt, sagen wir: achtzig Prozent einer bestimmten Entschädigungssumme zugunsten der Hinterbliebenen zu zahlen hat, die Niederlande, die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland als die einflussreichsten sonstigen Staaten weitere zehn Prozent gemeinsam und die Organisation der Vereinten Nationen als Vertretung aller Staaten die restlichen zehn Prozent zahlen müssen. Nun hat der IGH im Fall Bosnien v. Serbien allerdings auch betont, dass seine weite Auslegung der Verhinderungspflicht allein aus der Völkermordkonvention gespeist sei. Eine allgemeine Rechtsprechung zu den Verhinderungspflichten in anderen Verträgen wolle er damit nicht begründen.12 Diese Aussage mag ernst gemeint sein. Es ist aber genauso gut möglich, dass es sich dabei lediglich um die notwendige Absicherung einer Innovation im ersten Fall handelt. Weshalb sollten Verhinderungspflichten aus der Folterkonvention, der Rassendiskriminierungskonvention13 oder der Konvention zur UnterEbd., Rn. 462. Ebd., Rn. 429. 13 IGH, Case concerning Application of the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Georgia v. Russian Federation), Request for the Indication of Provisional Measures, 11 12
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drückung von nuklearem Terrorismus nicht ähnliche primärund sekundärrechtlichen Implikationen für die Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit bei friedensgefährdenden Rechtsverletzungen haben, welche außerhalb des eigenen Staatsgebiets eintreten? Wie der Fall Ilas¸cu zeigt, leitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entsprechende Handlungs- und Zusammenarbeitspflichten aus einzelnen Menschenrechten ab. Auch wenn Moldawien und Russland keine direkte Kontrolle über den in Transnistrien inhaftierten Herrn Ilasçu hatten, mussten sie sich um diesen bemühen und mit anderen Akteuren zusammenarbeiten und wurden, weil sie nicht ausreichend tätig geworden waren, auch finanziell, für Verletzungen der Freiheit der Person verantwortlich gemacht.14 Diese menschenrechtliche Pflicht mag sich nicht unmittelbar aus der allgemeinen Zusammenarbeitspflicht der Staaten bei der Friedenssicherung ableiten, sie mag im Prinzip auch nur auf bestimmte „verantwortliche“ Akteure und bestimmte Gegenstände bezogen sein und deshalb eher spezifische Zusammenarbeitspflichten begründen. Sie ist aber doch so grundsätzlich menschenrechtlich verankert, dass sie ein generelles Haftungsrisiko und eine relevante Anreizwirkung für Staaten zur Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung begründet. Allerdings sollte man sich aber auch die Grenzen einer Verstärkung der allgemeinen Pflicht zur Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung durch besondere haftungsbegründende Normen vor Augen führen. Die menschenrechtlich begründete Pflicht zur Zusammenarbeit setzt immer noch ein gewisses Näheverhältnis, eine bereits vorher begründete Verantwortung, voraus. Selbst die Pflicht zur Verhinderung von Genozid trifft in erster Linie diejenigen, die über eine besondere Beziehung zu Täter, Opfer oder Territorium verfügen. Was ist aber Order, 15. 10. 2008, Rn. 125 f., abrufbar unter: http: // www.icj-cij.org/ docket/files/140/14801.pdf. 14 EGMR, Ilas¸cu u. a. . / . Moldau und Russland, ECHR 2004-VII, Rn. 313, 313, 335, 336 ff., 394 = NJW 2005, S. 1849.
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mit einzelnen Drittstaaten oder Organisationen, die noch nicht oder kaum in eine Situation verwickelt sind? Wird die allgemeine Zusammenarbeitspflicht bei der Friedenssicherung auch für sie rechtlich schärfer und stärker mit echten Haftungsrisiken belastet? 3. ILC-Projekt zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen
Ganz unmittelbar scheint dies nicht der Fall zu sein, denn das Konzept der responsibility to protect hat sich ja gerade noch nicht zu einer Rechtspflicht verdichtet. Allerdings gibt es Tendenzen, welche den Druck und das Haftungsrisiko für unbeteiligte Drittstaaten und Internationale Organisationen indirekt erhöhen. Das Projekt der International Law Commission zur Formulierung von Regeln zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen für völkerrechtswidriges Handeln beansprucht zwar nicht, neue Primär- oder Sekundärregeln zu begründen. Die bloße Artikulation von Regeln, die bislang eher unbestimmt grundsätzlich, aber kaum je konkretpraktisch anerkannt worden sind, regt aber die juristische Vorstellungskraft an und veranlasst, in gedanklich bislang unterbelichtete Gebiete vorzustoßen. Warum soll die Organisation der Vereinten Nationen eigentlich nicht dafür haften, dass sie während der Völkermorde in Ruanda und Srebrenica weitgehend passiv geblieben ist? Für den Fall Srebrenica ist diese Frage bekanntlich vor niederländischen Gerichten verhandelt worden.15 Lässt man den Gedanken zu – und die Frage der Immunität für einen Moment beiseite –, stellt sich dann die Frage des Haftungsrisikos für Staaten in ihrer Eigenschaft als 15 Die Klage gegen die UN ist mit Entscheidung v. 10. 7. 2008 vom Amtsgericht in Den Haag für unzulässig erklärt worden, Case no. 295247 / HA ZA 07 – 2973, Netherlands International Law Review 2008, S. 428 – 439; die im Zeitpunkt des Vortrags noch verhandelte weitere Klage gegen die Niederlande ist mittlerweile ebenfalls entschieden, Case no. 295247 / HA ZA 07 – 2973, Netherlands International Law Review 2008, S. 440 – 455.
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Beitragszahler der Vereinten Nationen. Auch der passive und unbeteiligte Drittstaat hätte so einen Grund mehr, auf das Funktionieren des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen hinzuwirken. 4. Zurechnung bei UN-Friedensmissionen
Ebenso wie die Steigerung des Haftungsrisikos einen Anreiz zu verstärkter Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung darstellen kann, kann unter Umständen auch dessen Verringerung einen solchen Anreiz bieten. Eben dieser Gesichtspunkt hat in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Behrami und Saramati gegen Frankreich und Norwegen eine Rolle gespielt. Darin hat der Gerichtshof bekanntlich die Inhaftierung eines Bewohners des Kosovo durch UN-autorisierte und NATO-geführte französische Streitkräfte den Vereinten Nationen und nur den Vereinten Nationen zugerechnet.16 Damit war die ansonsten bestehende menschenrechtliche Verantwortlichkeit Frankreichs entfallen. Die Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen war mangels eines gegebenen Rechtswegs einstweilen nur theoretisch begründet und praktisch ausgeschlossen. Ein Grund, den der Gerichtshof für seine Entscheidung nannte, war, dass die Effektivität der Friedensoperationen nach Kapitel VII der Charta von der Unterstützung der Mitgliedstaaten abhänge.17 Damit hat der Gerichtshof den Eindruck erweckt, dass er das Haftungsrecht unmittelbar als Mittel zur Beeinflussung der Bereitschaft der Staaten, sich bei der gemeinsamen Friedenssicherung zu engagieren, einsetzt, und zwar auf den ersten Blick nach der Maßgabe: Wer sich bei der UN-Friedenssicherung beteiligt, wird durch eine Haftungsfreistellung belohnt und kann Menschenrechtsverletzungen begehen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. 16 EGMR, Behrami und Behrami . / . Frankreich, Saramati . / . Frankreich, Deutschland und Norwegen, Entsch. v. 2. 5. 2007, Nr. 71412 / 01, 78166 / 01, Rn. 141 = EuGRZ 2007, S. 522. 17 Ebd., Rn. 149.
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Müsste der EGMR so verstanden werden, könnte er nur kritisiert werden. Dass er so verstanden worden ist, hat sich der Gerichtshof zum Teil selbst zuzuschreiben. Er hat die Zurechnungsnorm, die in Art. 5 der Entwurfsartikel der ILC zur Verantwortlichkeit Internationaler Organisationen formuliert ist, verbogen und eine „effektive Kontrolle“ der Vereinten Nationen über das Handeln von KFOR-Soldaten behauptet, wo doch nur eine unbestimmte Ermächtigung durch den Sicherheitsrat ohne Befehlskette zu einem UN-Organ vorlag.18 Deshalb scheint der Gerichtshof die Frage der Zurechnung als Mittel zur Wahl des schwächeren Haftungsregimes zu missbrauchen, so als ob er zweitklassiges Recht für zweitklassige Staaten und Gruppen schaffen würde. Das Recht darf die Zusammenarbeit zur Friedenssicherung aber nicht um den Preis des Verlusts seiner eigenen Standards fördern. Allerdings kann man die Entscheidung des EGMR im Fall Behrami und Saramati auch freundlicher interpretieren: Das Abstellen auf die Funktionsfähigkeit der Vereinten Nationen ist im Prinzip ein legitimer Gesichtspunkt. Ebenso legitim ist es anzunehmen, dass die Funktionsfähigkeit von der Einheitlichkeit der Zurechnung der ermächtigten Akte abhängt und dass die besondere Lage bei Friedensmissionen ein besonderes Haftungsregime rechtfertigt. Damit ist nicht gesagt, dass eine vollkommene Haftungsfreistellung gerechtfertigt werden könnte, sondern nur, dass es in bestimmten Situationen eben besondere sachangemessene Haftungsregime geben darf. Wichtig ist auch, dass die Vereinten Nationen die Aufgabe und den Raum besitzen, ein sachangemessenes Haftungsregime für Friedensmissionen selbst zu schaffen. Dies liegt im langfristigen Interesse sowohl der Organisation als auch ihrer Mitglieder. Der Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedens18 Vgl. auch Aurel Sari, Jurisdiction and International Responsibility in Peace Support Operations: The Behrami and Saramati Cases, HRLR 8 (2008), S. 151 (165); Pierre Bodeau-Livinec / Gionata P. Buzzini / Santiago Villalpando, International Decisions: Agim Behrami & Bekir Behrami v France; Ruzhdi Saramati v. France, Germany & Norway, AJIL 102 (2008), S. 323 (328).
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sicherung kann es auch nur nützen, wenn es ein einheitliches und sozialisiertes Haftungsrisiko bei der Beteiligung an Friedensmissionen gibt. Die Möglichkeit einer Ausgestaltung des Haftungsregimes innerhalb eines gewissen Rahmens kann kraft des Vorrangs der Charta aber nur den Vereinten Nationen und nicht auch anderen Völkerrechtssubjekten zustehen. 5. Konkrete Unterlassungspflichten
Wie beeinflusst das Völkerrecht die Bereitschaft der Staaten zur Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung sonst noch – also außer durch die Postulierung positiver Pflichten zur Zusammenarbeit und ihrer nuancierten Sanktionierung? Zu denken ist in diesem Zusammenhang noch über die Rolle konkreterer Unterlassungspflichten, welche als Formen der Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung begriffen werden können. Das naheliegendste Beispiel hierfür sind Wirtschaftssanktionen des Sicherheitsrates. Aber neben solchen vertraglich begründeten konkreten Unterlassungspflichten gibt es auch solche im allgemeinen Völkerrecht. Hier muss man an Art. 41 der ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit19 denken: Dritte Staaten haben eine Pflicht zur Zusammenarbeit, zur Nichtanerkennung und zur Unterlassung von Beihilfe, wenn ein Staat schwerwiegende Verletzungen zwingender Normen begeht. Diese Norm bewirkt eine Minimalzusammenarbeitspflicht bei der Friedenssicherung – in einer Kombination allgemein gehaltener positiver Normen und konkreterer Unterlassungspflichten, aber eben nur soweit es um den Ausnahmefall der schwerwiegenden Verletzungen zwingender Normen geht. Was gilt aber außerhalb des Bereichs schwerwiegender Verletzungen zwingenden Rechts? Dürfen sich Staaten im Rahmen unbestimmter allgemeiner Zusammenarbeitsverpflichtungen und besonderer vertraglicher Verpflichtungen 19
UN Doc. A / RES / 56 / 83 v. 12. 12. 2001, Annex.
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frei verhalten? Grundsätzlich trifft das zu, denn es gilt der Grundsatz der Freiheit und Selbstverantwortung der Staaten. Und dies selbst dann, wenn der Frieden dadurch gefährdet wird, dass sich andere Staaten untereinander Rechtsverletzungen zufügen. Dritte Staaten müssen hierauf grundsätzlich nicht in spezifischer Weise reagieren. Diese Freiheit hat im Prinzip auch einen friedensfördernden Zweck, denn durch ihre Ausübung werden Eskalationsprozesse vermieden, die durch unbestimmte Reaktionspflichten ausgelöst werden könnten. 6. Allgemeines Beihilfeverbot
Es gibt allerdings eine weitere Regel, die in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen könnte und deren mögliche Tragweite erst langsam ins Bewusstsein tritt: Dies ist das Verbot der Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Akten, welches in Art. 16 der ILC-Artikel zur Staatenverantwortlichkeit formuliert worden ist. Die Bedeutung dieses Verbots für das Völkerrecht und für die Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung hat Eckart Klein als einer der Ersten erkannt: In seinem Beitrag zur Festschrift für Jürgen Schlochauer hat sich Klein im Jahr 1981 mit dem ersten Entwurf eines Artikels zu „Aid and Assistance by a State to another State for the Commission of an Internationally Wrongful Act“ auseinandergesetzt.20 Diesen Artikel hatte der Berichterstatter der International Law Commission zur Staatenverantwortlichkeit, Roberto Ago, der Kommission im Jahr 1978 unterbreitet. In seinem Beitrag hat Klein deutlich herausgestellt, dass die ILC mit dieser Bestimmung „unübersehbar Neuland“ betreten habe21 und zwar in einer Weise, dass damit „eine dem interna20 Beihilfe zum Völkerrechtsdelikt, in: Ingo v. Münch (Hrsg.), Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, 1981, S. 425 – 438. 21 Ebd., S. 425.
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tionalen Frieden abträgliche Bahn beschritten sein [ . . . ] könnte.“22 Klein ging es im Wesentlichen um die Weite und die Unbestimmtheit der Vorschrift sowie um die damit verbundenen Folgen. Wenn, wie der Wortlaut der Vorschrift es nahelege, jede denkbare Unterstützungshandlung eines Staates A für jede denkbare Völkerrechtsverletzung eines Staates B gegenüber einem Staat C zu einer eigenen Völkerrechtsverletzung von A gegenüber C werde, dann werde, so Klein, der bisher anerkannte Satz auf den Kopf gestellt, dass es keine generelle Pflicht der Staaten gibt, auf völkerrechtswidriges Handeln anderer Staaten zu reagieren.23 Eine solche Pflicht möge es zwar für den Fall der Verletzung von ius cogens geben. „Eine Generalisierung“ führe aber „notwendig zu einer Verunsicherung der Rechtslage, weil dadurch Reaktionsmaßnahmen (Repressalien) geradezu provoziert werden.“24 In der Tat: Ein Beihilfeverbot beeinflusst die Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung dadurch, dass es sie zwingt, ihre Kooperationsverhältnisse zu überdenken und sich von Partnern zu distanzieren, die Rechtsverletzungen begehen, darauf abzielen oder zu begehen drohen. Insofern bedeutet ein Beihilfeverbot einen Vorfeldschutz bei der Friedenssicherung, bei dem Rechtsverletzungen die Funktion von Warnzeichen haben, auf die alle Staaten zumindest mit einer Distanzierung reagieren und insofern auch zusammenarbeiten müssen. Aber hat Klein damals nicht übertriebene Befürchtungen geäußert? Liegt es nicht vielmehr in der generellen Entwicklung der Völkerrechtsordnung hin zu einer Betonung von Gemeinschaftsinteressen, dass dritte Staaten bereits im Vorfeld von Friedensgefährdungen tätig werden bzw. bestimmte Handlungen unterlassen müssen? Sollte es nicht gerade eine 22 23 24
Ebd., S. 435. Ebd., S. 434, 436. Ebd., S. 435.
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Pflicht der Staaten geben, einen Sicherheitsabstand zu den möglichen Friedensgefährdungen zu halten, die in allen Rechtsverletzungen liegen? Diese Fragen stellen sich heute so deutlich wie noch nie. Im Jahr 2001 hat die ILC das Beihilfeverbot zwar im Wortlaut, nicht aber in der Sache verändert als Artikel 16 in ihre Artikel zur Staatenverantwortlichkeit aufgenommen. Sie hat sich also nicht von Eckart Klein und einer kritischen Stellungnahme der Bundesrepublik davon abhalten lassen. Aber ist die Kleinsche Kritik deshalb unbegründet gewesen? Zunächst fällt auf, dass die Begründung, welche die ILC für das allgemeine Beihilfeverbot gibt, nicht ganz überzeugt. Im Kommentar zu Art. 16 werden praktisch nur Fälle genannt, die bereits durch Primärnormen als eigenständige Völkerrechtsverletzungen zu beurteilen sind.25 Der prominenteste Fall ist das Zurverfügungstellen des eigenen Territoriums für einen Angriff eines anderen Staates auf einen Drittstaat. Dieser Tatbestand begründet nach Art. 3 lit. f) der Aggressionsdefinition von 1974 bereits eine eigenständige Rechtsverletzung.26 Letztlich kommt es auf die Validität der Begründung im Jahr 2001 allerdings nicht an. Dass ein Beihilfeverbot im Sinne des Art. 16 der Artikel zur Staatenverantwortlichkeit gewissermaßen „in der Luft lag“, zeigt dessen relativer Erfolg nach seiner Proklamierung. Der IGH hat in seinem Urteil zur Völkermordkonvention zustimmend auf Art. 16 Bezug genommen,27 ebenso wie die Venedig-Kommission des Europarats im Zusammenhang mit ihrer Analyse der Pflichten der Staaten in Hinblick auf CIA-Transporte und Geheimgefängnisse.28 25 ILC-Kommentar zu Artikel 16, in: James Crawford (Hrsg.), The International Law Commission’s Articles on State Responsibility, 2002, Art. 16, Rn. 7 – 9. 26 Declaration on the Definition of Aggression, UNGA Res. 3314 (XXIX) v. 14. 12. 1974. 27 Case concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Hercegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil v. 27. 2. 2007, Rn. 420.
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Höchste deutsche Gerichte haben die Vorschrift als Maßstab herangezogen, um Unterstützungshandlungen der Bundesrepublik für die USA bei ihrem Krieg gegen den Irak und bei der internationalen Rechtshilfe bei der Terrorbekämpfung zu überprüfen.29 Auch wenn manche solcher Berufungen auf Art. 16 nicht ganz treffend sind, spricht einiges dafür, dass ein allgemeines Beihilfeverbot inzwischen völkergewohnheitsrechtlich verankert ist.30 Das bedeutet aber nicht, dass die Zeit über die Bedenken von Eckart Klein hinweggegangen ist. Heute, da das Beihilfeverbot praktisch relevant wird, stellen sich seine damaligen Fragen im Rahmen der Auslegung des Art. 16. Ein Beispiel ist der von der Türkei geplante Bau eines Staudamms am Tigris.31 Hiergegen hat Syrien Einwände unter Berufung auf den völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz der angemessenen Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen sowie des Prinzips der guten Nachbarschaft erhoben.32 Ob der Bau und die geplante Nutzung tatsächlich gegen die genannten Grundsätze verstoßen, ist nicht klar.33 Das Vereinigte Königreich hat den Wunsch der Türkei nach einem Kredit für die Finanzierung des Projekts abgelehnt. Deutschland, Österreich und die Schweiz sind auf das Begehren der Türkei unter bestimmten Bedingungen eingegangen. Was ist, wenn sich herausstellt, dass die Nutzung des Staudamms trotz der Erfüllung der Bedingungen der Kreditgeber gegen Völker28 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the International Legal Obligations of Council of Europe Member States in Respect of Secret Detention Facilities and Interstate Transport of Prisoners, Opinion no. 363 / 2005 v. 17. 3. 2006, Rn. 45. 29 BVerfGE 109, 13 (26 f.); BVerwGE 127, 302. 30 Dazu genauer Georg Nolte / Helmut Philipp Aust, Equivocal Helpers – Complicit States, Mixed Messages, and International Law, ICLQ 58 (2009), S. 1 – 30. 31 Vgl. F.A.Z vom 1. 3. 2007, S. 5 und vom 9. 3. 2007, S. 12. 32 The Independent vom 16. 7. 2000, S. 10. 33 Vgl. Astrid Epiney, Nachbarrechtliche Pflichten im internationalen Wasserrecht und Implikationen für Drittstaaten, AVR 39 (2001), S. 1.
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gewohnheitsrecht verstößt – etwa nachdem sich die Türkei und Syrien auf ein schiedsgerichtliches Verfahren geeinigt haben? Würden Deutschland, Österreich und die Schweiz im Prinzip wegen verbotener Beihilfe haften? Der Fall stellt ein gutes Beispiel zur Begründung der These dar, dass das allgemeine völkerrechtliche Beihilfeverbot nicht allzu weit ausgelegt werden sollte. Der Kredit ist zwar eine Unterstützung für eine Handlung, die sich als völkerrechtswidrig herausstellen kann. Aber kann die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, aus denen sich die Völkerrechtswidrigkeit ergibt, zur Begründung des notwendigen subjektiven Elements der verbotenen Beihilfe ausreichen? Ist der Kredit wirklich ausreichend spezifisch mit dem Unrecht, das in der konkreten Nutzung liegt, verknüpft? Ist es wirklich angemessen, dass die kreditgebenden Staaten das Risiko tragen, dass sich der Bau als völkerrechtswidrig herausstellt? Ich meine, dass alle diese Fragen negativ beantwortet werden sollten. Wenn man dies anders sieht, unterwirft man viele typischerweise nützlichen Formen der zwischenstaatlichen Kooperation einem unangemessenen Haftungsrisiko. Zwar sollte dann, wenn Verletzungen von ius cogens in Rede stehen, im Zweifel ein Haftungsrisiko bestehen, das einen Sicherheitsabstand dritter Staaten bewirkt. Im Fall einfacher Völkerrechtsverletzungen scheint mir aber noch einiges für die zurückhaltende Position zu sprechen, die Eckart Klein in der Schlochauer-Festschrift eingenommen hat. Eine weite Auslegung des Beihilfeverbots könnte in der Tat „eine dem internationalen Frieden abträgliche Bahn“34 beschreiten, indem typischerweise nützliche Formen der Kooperation durch Haftungsrisiken zurückgedrängt werden. Das allgemeine Beihilfeverbot sollte auf Fälle beschränkt werden, in denen die Verletzung einer bestimmten Rechtsnorm durch den handelnden Staat für den unterstützenden Staat deutlich erkennbar ist, die Unterstützung einen konkreten Bezug zur Rechtsverletzung hat, eine Erheblichkeitsschwelle überschritten hat, sowie 34
Klein (Fn. 20), S. 435.
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„in Hinblick auf“ die Rechtsverletzung geleistet wird. Unter diesen Voraussetzungen kann das allgemeine Beihilfeverbot auch eine nützliche Rolle bei der Friedenssicherung und der Zusammenarbeit der Staaten spielen. Anderenfalls droht es kontraproduktiv zu werden.
IV. Fazit Wie beeinflusst das Völkerrecht also die Bereitschaft der Staaten zur Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung? Ich habe hierzu einige Normen und jüngere Entwicklungen vorgestellt. Damit wollte und konnte ich allerdings keinen systematischen Anspruch oder gar einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Was aber wohl als allgemeinere These formuliert werden kann, ist, dass es in jüngerer Zeit verstärkt Tendenzen im Völkerrecht gibt, die unbestimmten Pflichten zur Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung zu konkretisieren und einem ernsthafteren Haftungsrisiko zu unterwerfen. Ich bin allerdings ein wenig skeptisch, ob es sich dabei um eine in jeder Beziehung erfolgversprechende und wünschenswerte Tendenz handelt. Eine verschärfte Verantwortlichkeit zu postulieren ist eine Sache. Die damit begründeten Erwartungen ohne kontraproduktive Wirkungen für die internationale Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung einzulösen, eine andere. „Im Dienste des Menschen“ sind „Recht, Staat und Staatengemeinschaft“ aber nur dann, wenn ihnen das auch gelingt.
Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung: Kommentar Von Matthias Ruffert I. Zur Fragestellung Man mag darüber streiten, inwieweit die Völkerrechtsordnung als Verfassung der Internationalen Gemeinschaft verstanden werden kann, und Eckart Klein nimmt hier eher eine zurückhaltende Position ein.1 Der Schritt vom Koordinationszum Kooperationsvölkerrecht ist jedoch schon seit langem vollzogen.2 Innerhalb der völkerrechtlichen Problemlagen ist wiederum die Friedenssicherung eine der zentralen Aufgaben, wenn nicht die herausragende Leitidee der Völkerrechtsordnung. Mit Georg Nolte kann daher die Kernfrage, die Friedenssicherung und Kooperationsgedanken miteinander verbindet, als Frage danach formuliert werden, wie das Völkerrecht die Bereitschaft der Staaten beeinflusst, sich gemeinsam bei der Friedenssicherung zu engagieren. Diese Fragestellung ist wiederum prinzipiell in drei Teile zu unterteilen, indem erstens nach Kooperationspflichten gefragt wird (s. u. II.), zweitens nach Kooperationsverboten (s. u. III.) und drittens nach dem völkerrechtlichen Rahmen für Kooperationen im Sinne eines Kooperationsangebots (s. u. IV.).
1 S. etwa Eckart Klein, Die Internationalen und die Supranationalen Organisationen, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, 4. Abschnitt, Rn. 37 f. 2 Klassisch: Wolfgang Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, S. 45 ff.
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II. Kooperationspflichten Bei den Kooperationspflichten drängt sich die Betrachtung des Systems der kollektiven Friedenssicherung nach der UNCharta auf. Die Art. 43 – 48 UN-Charta, in denen die Staatenkooperation zum militärischen Eingreifen durch ein hochgradig verdichtetes System der Streitkräfteintegration vorgesehen ist, sind indes gegenwärtig nicht die tatsächliche Basis kooperativen Handelns der Staatengemeinschaft zur Friedenssicherung.3 Hier könnte man in der Tat mit einer „Sonntagsrede“ völkerrechtspolitische Desiderate aufzeigen, würde jedoch dadurch der Völkerrechtspraxis nicht gerecht. Längst hat sich die „Ermächtigungslösung“, die Mandatierung von Staaten und Staatenbündnissen durch den Sicherheitsrat, als wirkmächtige Alternative durchgesetzt.4 Zu Beginn freilich, beim Überfall des Irak auf Kuwait und der Reaktion der Internationalen Gemeinschaft darauf, lagen die Dinge noch nicht so klar, und die Abgrenzung des Mandatierungsansatzes zur kollektiven Selbsthilfe ist vor allem von Eckart Klein bedenkenswert thematisiert worden.5 Die Herleitung von Kooperationspflichten aus der Ermächtigungslösung erfordert mehr argumentativen Aufwand als die schlichte (und nicht praktizierte) Anwendung von Art. 43 ff. UN-Charta, wenngleich sie grundsätzlich möglich ist. Zumindest eine Pflicht zur Zusammenarbeit besteht aus Art. 25 UNCharta, wenn einem Staat oder Staatenbündnis konkrete Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, eine Konfliktsituation zu bereinigen, die der Sicherheitsrat als Bedrohung für den Frieden oder Bruch desselben bewertet hat, und wenn dieser Staat bzw. diese Staatengruppe entsprechend 3 Zur älteren Praxis Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, §§ 237 – 240. 4 S. instruktiv Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 11. Kapitel, Rn. 115 ff.; sowie Matthias Herdegen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2008, § 41, Rn. 19 ff. 5 Eckart Klein, Völkerrechtliche Aspekte des Golfkonflikts 1990 / 1991, AVR 29 (1991), S. 421 (429 ff.).
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mandatiert wird. Auch der Rückgriff auf Art. 48 UN-Charta ist denkbar.6 Die Staaten können sich also der Beurteilung durch den Sicherheitsrat nicht allein durch politische Opportunitätserwägungen entziehen. Mit dem Konzept der responsibility to protect ist eine konkrete Unterstützungspflicht hinzugekommen, die nach der Rechtsprechung des IGH zu den Pflichten nach der Völkermordkonvention auch ausdrücklich Kooperationspflichten auslösen kann.7 Weil die Verpflichtung nicht ergebnisabhängig ist, entfällt nicht nur der Vorwurf, ein Staat habe trotz allen Bemühens einen Völkermord nicht verhindert, es wird auch die rechtfertigende Argumentation entkräftet, alle möglichen Bemühungen hätten ohnehin nicht zum Ziel der Vermeidung des Völkermordes führen können. Solche Bemühungen müssen aber ggf. durch „the combined efforts of several states“ unternommen werden.8 Anders gewendet: Zur Vermeidung von Völkermord ist zwingend zu kooperieren. Will man diese Verpflichtung vom konkreten Anwendungsfall der Völkermordkonvention abstrahieren und als Kooperationspflicht zur schützenden Friedenssicherung entwickeln, so ist Georg Nolte darin zuzustimmen, dass das Friedenssicherungsgebot nicht mehr als eine Anreizwirkung bietet. In Anknüpfung an die Entwicklung des Friedenssicherungssystems der UN-Charta ist zudem zu fordern, dass sich Weiterentwicklungen des Ansatzes der responsibility to protect im multilateralen Rahmen der Vereinten Nationen vollziehen. Dies ist schon dann der Fall, wenn konkrete Schutzverantwortlichkeiten aus speziellen UN-Menschenrechtsinstrumenten hergeleitet werden (wie dies bei Nolte geschieht). Eine weitergehende Wahrnehmung der responsibility im Kontext der Friedenssicherung sollte im6 Zur Problematik Jost Delbrück, in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Art. 25, Rn. 27 f. 7 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro, Urt. v. 26. Februar 2007, Ziff. 425 ff. 8 IGH (Fn. 7), Ziff. 430 a.E.
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mer auch in den prozeduralen Rahmen der Befassung des Sicherheitsrates eingebettet sein.9
III. Kooperationsverbote Zu den Kooperationsverboten hat sich Georg Nolte ausführlich und umfassend geäußert. Seinem Plädoyer, den von Eckart Klein entwickelten Ansatz einer restriktiven Interpretation des Beihilfeverbots im heutigen Art. 16 ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit zu vertiefen und auszubauen, ist wenig hinzuzufügen. Gerade in der Praxis muss sich diese Völkerrechtsnorm bewähren, und Probleme treten vor allem dann auf, wenn die Völkerrechtskonformität der „Haupttat“ nicht eindeutig beurteilt werden kann. Zu ergänzen ist noch, dass Art. 16 ILC-Entwurf (dessen völkergewohnheitsrechtlicher Charakter mit Nolte bejaht werden sollte) im subjektiven Tatbestand einen Ansatz zur Restriktion enthält. Voraussetzung für die Staatenverantwortlichkeit aufgrund von Beihilfe ist die „Kenntnis der Umstände der völkerrechtswidrigen Handlung“. Erforderlich ist Kenntnis dieser Umstände; es kommt nicht auf Kennenmüssen oder (grob) fahrlässige Unkenntnis an.10 Auf diese Weise ließen sich partiell die Probleme für die Bundesrepublik Deutschland mit der Unterstützung von USA und Vereinigtem Königreich beim Angriff auf den Irak in den Griff bekommen.11 Heute ist die Nichtexistenz bedrohlicher Massenvernichtungswaffen im IrakKrieg allgemeine Meinung; 2002 / 2003 waren – zumindest in Deutschland – die Erkenntnisse eher unklar. Ob Art. 51 UNCharta allerdings überhaupt eine völkerrechtliche Basis für 9 S. zur Parallelproblematik der humanitären Intervention Bruno Simma, NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, EJIL 10 (1999), S. 1. 10 International Law Commission, Kommentar zu den Draft Articles on State Responsibility, Yearbook of the International Law Commission, 2001, vol. II, Part Two, Commentary to Art. 16, Nr. 4 – S. 66. 11 S. die Nachweise bei Nolte, Fn. 29.
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den Angriff auf den Irak sein konnte, steht auf einem anderen Blatt. IV. Rahmen und Anreiz für Kooperation Jenseits strikter Ge- und Verbote zur friedenssichernden Kooperation ist vor allem entscheidend, dass die Staaten einen völkerrechtskonformen Rahmen für die Zusammenarbeit vorfinden sowie Anreize erhalten, den Rahmen im Sinne der Friedenssicherung auszufüllen. Die Flexibilität der UN-Charta mit Blick auf ihre Anpassung an die geänderte weltpolitische Situation 1989 / 1990 ist hier jedenfalls ein ermutigendes Signal. Ein weiterer Schritt besteht in der fortschreitenden faktischen Aufwertung regionaler Organisationen, deren rechtliche Bedeutung durch Art. 52 – 54 UN-Charta bereits anerkannt wird. Während zur Zeit des Kalten Krieges die Anerkennung der NATO als Regionalorganisation i. S. v. Kapitel VIII vor allem an der praktischen Hürde der Berichtspflicht nach Art. 54 UN-Charta gescheitert ist, spricht der Wandel der Aufgaben der NATO hin zu einer Organisation mit umfassender regionaler Sicherheitsfunktion heute für eine Einbindung in den UN-Kontext zum beiderseitigen Nutzen.12 Parallel dazu hat sich im Verfassungsrecht ein Verständnis herausgebildet, nach dem die NATO als System kollektiver Sicherheit gemäß Art. 24 Abs. 2 GG angesehen werden kann.13 Auch die EU wächst im Rahmen ihrer kompetenziellen Möglichkeiten in die Rolle einer friedenssichernden regionalen Staatenkooperation (mit Rechtspersönlichkeit) hinein.14 Ähnliche Entwicklungen nehmen auch andere Internationale Organisationen, beispielsweise die Afrikanische Union.15 12 Grundlegend zu den Regionalorganisationen Christian Walter, Vereinte Nationen und Regionalorganisationen, 1996. 13 Str., s. Hans D. Jarass, in: ders. / Bodo Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 24, Rn. 20 m. w. N. pro und contra. 14 S. die Perspektive bei Hans-Joachim Cremer, in: Christian Calliess / Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 17 EUV, Rn. 25 (sog. „Petersberg-Aufgaben“).
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V. Ausblick Kooperative Strukturen sind die Basis der modernen Völkerrechtsentwicklung. Zugleich gilt, dass Kooperation nur in multilateralen Strukturen eine reelle Chance hat, die Erfüllung der Staatenaufgabe „Friedenssicherung“ nachhaltig voranzubringen. In seinem wegweisenden Beitrag zum Recht der Internationalen Organisationen hat Eckart Klein die Bausteine für ein solches multilaterales Kooperationsrecht zusammengefügt.16 Den allgemeinen Rahmen hierfür muss das Völkerrecht setzen – mit Kooperationspflichten, notfalls mit Kooperationsverboten und schließlich und vor allem mit Kooperationsanreizen.
15 S. Corinne A. A. Packer / Donald Rukare, The New African Union and Its Constitutive Act, AJIL 96 (2002), S. 365. Zur Entwicklung Philippe Sands / Pierre Klein, Bowett’s Law of International Institutions, 5. Aufl. 2005, Chap. 10; Heribert Franz Köck / Peter Fischer, Das Recht der Internationalen Organisationen, 3. Aufl. 1997, S. 510 ff. 16 S.o. Fn. 1.
Herausforderungen und Perspektiven des internationalen Menschenrechtsschutzes Von Christian Tomuschat I. Einleitung Bei einem Blick auf den Stand der Menschenrechte in der heutigen Welt empfindet der Beobachter wenig Grund, zu einer Jubelfeier aufzurufen. Gewiss, es herrscht rege Geschäftigkeit, die grundlegenden Pakte der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte sind von rund 160 Staaten (IPBPR: 162, IPWSKR: 159) ratifiziert worden, eine Konferenz jagt die nächste, und Juristen wie Politikwissenschaftler arbeiten mit großer Hingabe an Analysen und Verbesserungsvorschlägen. Aber die alltägliche Praxis scheint alle diese Fortschrittsberichte Lügen zu strafen. Das Fernsehen liefert jeden Tag erschreckende Bilder ins Haus. Besonders dramatisch ist die Lage in einigen Staaten Afrikas. Der Osten Kongos ist seit dem Völkermord in Ruanda und den daraus resultierenden Bevölkerungsbewegungen nicht zur Ruhe gekommen, sondern wird weithin von kriminellen Banden terrorisiert. In Somalia gibt es keine gefestigte Regierung mehr, in den Straßen der Hauptstadt bekriegen sich rivalisierende Clans. Eine besondere Herausforderung für die internationale Gemeinschaft bildet die Lage im Sudan, wo seit mehreren Jahren in der Provinz Darfur eine blutige Auseinandersetzung tobt, in die nach Auffassung des Anklägers beim Internationalen Strafgerichtshof, Luis Moreno Ocampo, die Regierung des Landes als Befehlszentrale tief verstrickt ist. Die von ihm geführten Ermittlungen haben den Ankläger vor wenigen Tagen deswegen veranlasst, beim Gericht den Erlass eines
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Haftbefehls gegen den Staatschef, Omar al Bashir, zu beantragen. Grundlage für diesen Schritt sind Beweisunterlagen, die zu belegen scheinen, dass der Staatschef selbst Anweisungen erteilt hat, welche die Streitkräfte des Landes zur Begehung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufrufen.1 Schon ist eine heftige Debatte über die Frage entbrannt, ob ein Haftbefehl gegen einen amtierenden Staatschef nicht lediglich kontraproduktiv wirken wird, so dass die positiven Aspekte des Vorgehens des Internationalen Strafgerichtshofs sich letzten Endes in Symbolik erschöpfen würden. Hier zeigt sich die Schwäche des Gebildes „internationale Gemeinschaft“, das sich zwar auf der internationalen Bühne der Vereinten Nationen auf gemeinsame Wertvorstellungen und Regeln geeinigt hat, dem aber die notwendige institutionelle Struktur fehlt, um seine Normativität auch effektiv durchzusetzen. Gerade im Falle des Sudan wird deutlich, wie kräftig nach wie vor der von vielen längst totgesagte souveräne Staat ist. Es ist niemand anderes als die Regierung eines jeden Staates, die in dessen Gebiet die physische Herrschaftsgewalt ausübt. Alle Gebote aus der Sphäre der internationalen Gemeinschaft können an dem Schutzpanzer der Souveränität abprallen – solange die internationale Gemeinschaft sich nicht entschließt, Waffengewalt anzuwenden, was sie nur im äußersten Notfall zu tun bereit ist. Die Rechtsmacht zu solchem Eingreifen steht ihr freilich auf Grund des Kapitels VII der UNCharta heute unbestritten zu.
II. Stufen der Effektivierung der Menschenrechte Dass Menschenrechte sich nicht allein von selbst entfalten, sondern dass sie eines kräftigen Anschubs und Rückhalts 1 Am 15. 10. 2008 erließ die Kammer I eine Entscheidung, mit der sie die Anklagebehörde aufforderte, bis spätestens zum 15. 11. 2008 zusätzliches Beweismaterial vorzulegen.
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bedürfen, ist seit den Anfängen der modernen Menschenrechtsbewegung durch die UN-Charta allen verantwortlichen Politikern vollauf bewusst gewesen. Denn es ging ja gerade darum, eine Welt zu schaffen, in der Gräueltaten, wie sie von der Nazibarbarei verübt worden waren, ein für allemal ausgeschlossen sein sollten. Mit bloßen Papierkonstruktionen konnte man sich deswegen nicht begnügen. 1. Der erste Schritt musste die Einigung auf einen Katalog grundlegender Menschenrechte sein. Bei der Gründungskonferenz von San Francisco war dies nicht gelungen. Bekanntlich hat sich dann sogleich nach ihrer Errichtung die Menschenrechtskommission daran gemacht, Texte für eine Deklaration und ein späteres Abkommen auszuarbeiten. In einer überwiegend noch vom Westen bestimmten Weltorganisation, aber keineswegs ohne Mittun von Vertretern der Dritten Welt, gelang es in der Tat, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, ein Dokument zu erstellen, welches Rechte aufführt, die für jede Person auf dieser Welt, ohne Rücksicht auf ihren Status, ihr Geschlecht, ihre Hautfarbe und andere Merkmale, allein auf Grund ihres Menschseins gelten sollen. Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte feierlich durch die Generalversammlung angenommen, freilich bei acht Enthaltungen sämtlicher damals schon in die Vereinten Nationen aufgenommenen sozialistischen Staaten2 wie auch Saudi-Arabiens und Südafrikas. Damit war eine wichtige Vorbedingung für die Gewährleistung von Menschenrechten geschaffen. Ohne eine Definition kann es keine Aufsicht und keine Kontrolle geben. Aber allen Beteiligten war durchaus bewusst, dass mit der Verabschiedung der Erklärung lediglich eine erste Etappe erreicht sei. In ihrem Vorspann bezeichnet sich die Erklärung selbst lediglich als ein „von allen Völkern und Nationen und Nationen zu erreichende[s] gemeinsame[s] Ideal“. Weitere Schritte mussten also folgen. 2 Sowjetunion, Weißrussland, Ukraine, Jugoslawien, Polen, Tschechoslowakei.
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2. Geplant war von vornherein, die Substanz der Erklärung in ein verbindliches völkerrechtliches Übereinkommen zu überführen. Die zweite Verhandlungsperiode dauerte wegen der seinerzeit endemischen Ost-West-Gegensätze wesentlich länger als die erste, nämlich 18 Jahre. Erst im Jahre 1966 konnten die beiden Weltpakte, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte wie auch der Parallelpakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, von der Generalversammlung angenommen werden, diesmal einstimmig, ohne irgendwelche durch Enthaltung gekennzeichnete Vorbehalte. Unvermeidlich schloss sich der Ernsthaftigkeitstest des Ratifikationsprozesses an. Dieser verlief zunächst stockend, aber nach zehn Jahren war für beide Pakte die Schwelle von 35 Ratifikationen erreicht. Bis heute hat sich die Zahl der Vertragsparteien auf 162 für den Politischen Pakt und auf 159 für den Sozialpakt vermehrt3 – ein großer Erfolg, der anfangs nicht für möglich gehalten worden wäre, als viele Beobachter glaubten, der Westen werde sich auf die Annahme des Politischen Paktes beschränken, der Osten auf die Annahme des Sozialpaktes. Trotz der verbleibenden Lücken – ich nenne nur China für den Politischen Pakt (mit guten Grund!) und die USA für den Sozialpakt – lässt sich diese Bilanz nach über 40 Jahren durchaus sehen. 3. Aber wird durch die Ratifikation eines Menschenrechtsabkommens die Lage in den Vertragsländern tatsächlich verbessert? Ein kritischer Kommentator hat sogar gemeint, die Ratifikation könne als Feigenblatt benutzt werden, um unter ihrem Schutz umso ungestörter die Menschenrechte verletzen zu können,4 eine Ansicht, die wenig Zustimmung erfahren hat.5 Aber es ist selbstverständlich, dass Menschenrechte wie auch sonst alle übrigen Rechte erst durch Rechtsmittel zum Stand: 26. 9. 2008. Oona A. Hathaway, Do Human Rights Treaties Make a Difference?, in: Yale Law Journal 111 (2002), S. 1935 – 2042. 5 Ryan Goodman / Derek Jinks, Measuring the Effects of Human Rights Treaties, in: EJIL 14 (2003), S. 170 – 183. 3 4
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Leben erweckt werden. Das Berichtsprüfungsverfahren in den Abkommen selbst hat zwar viele Vorzüge, aber der „konstruktive Dialog“, der zwischen den Mitgliedern des Menschenrechtsausschusses und einer anwesenden Regierungsdelegation geführt wird, läuft doch das Risiko, nur als Ritual, als Zwangsveranstaltung begriffen zu werden, die man hinterher so schnell als möglich vergessen sollte. Größere Durchschlagskraft besitzen sicherlich individuelle Rechtsmittel, wo anhand eines Einzelfalles in die konkreten Lebensverhältnisse eines Landes hineingeschaut werden kann. Bekanntlich ist in Europa mit der Europäischen Menschenrechtskonvention gleichsam ein Wunder vollbracht worden. Nicht weniger als 47 Staaten mit über 700 Millionen Menschen sind heute der Rechtskontrolle durch den Straßburger Gerichtshof unterworfen, und jeder Einwohner eines dieser Staaten hat das Recht, sich an den Gerichtshof zu wenden, der verbindliche Urteile sprechen darf, die den unterlegenen Staat verpflichten, die gebotenen Abhilfemaßnahmen zu treffen. So weit ist man auf Weltebene noch lange nicht. Dort gibt es bekanntlich zur Geltendmachung der Rechte aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte nach einem besonderen Fakultativprotokoll ein Individualbeschwerdeverfahren, das immerhin bisher von 111 Staaten ratifiziert worden ist. Auf dieser Stufe hat sich der Effektivierungsprozess schon deutlich verlangsamt. Viele Staaten, unter ihnen prominent die USA, haben das Fakultativprotokoll eben nicht angenommen. Und der Ausgang eines solchen Verfahrens ist in gewisser Weise enttäuschend. Die „Ansichten“ („views“), die der Menschenrechtsausschuss äußern darf, sind rechtlich nicht verbindlich. Und viele Staaten nehmen das durchaus wörtlich, kümmern sich nicht um die Empfehlungen, die der Menschenrechtsausschuss ihnen erteilt, und antworten noch nicht einmal auf Aufforderungen, ausdrücklich Stellung zu nehmen und zu erklären, wie sie sich auf die ihnen zugegangenen Ansichten einlassen. 4. Diese betrübliche Praxis führt nicht etwa nur zu der Forderung, dass eben auch auf Weltebene, im Gleichklang mit
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den Errungenschaften in Europa, ein verbindliches Beschwerde- oder sogar Gerichtsverfahren eingeführt werden sollte, sondern darüber hinaus zu der Einsicht, dass es in hohem Maße für die Effektivität der Menschenrechte auf das politische Gesamtklima in einem Staatswesen ankommt. Es reicht nicht aus, für ein Land einen speziellen Mechanismus der Menschenrechtssicherung einzuführen, um damit von heute auf morgen die Lage im Alltag der Menschen tatsächlich zu verbessern. Es muss ein Gesamtrahmen vorhanden sein, innerhalb dessen sich Recht und Freiheit entfalten können. Wenn eine Regierung über Jahrzehnte gewöhnt war, den Richtern im Lande jedenfalls in Fällen mit politischem Hintergrund Anweisungen zu geben, wie diese Fälle zu entscheiden seien, so wird sie nicht von heute auf morgen von ihrer bösen Praxis Abstand nehmen. Noch düsterer sieht es aus, wenn wie im failed state überhaupt keine organisierte Verwaltung und kein funktionsfähiges Justizwesen vorhanden sind. Dann hängt es eher vom Zufall, ja von dem Gewaltpotential des einzelnen Bürgers ab, ob er seine Rechte durchsetzen kann. Im Krieg schließlich brechen die meisten normativen Sicherungen zusammen. Unvermeidlich gerät menschliches Leben in Gefahr. Das humanitäre Recht nimmt eine Ersatzfunktion auf reduziertem Niveau wahr. Aber von echtem, ungeschmälertem Genuss der Menschenrechte kann im bewaffneten Konflikt nicht mehr die Rede sein. Diese Kontextabhängigkeit der Menschenrechte hat man in der jüngeren Vergangenheit zunehmend entdeckt und auch in ein begriffliches Schema eingebracht. An sich sind dies alles Selbstverständlichkeiten, aber die Politik braucht offenbar Leit- und Zielbegriffe, um eine klare Handlungsrichtung festlegen zu können. Zu nennen ist an erster Stelle good governance: jedes Land braucht eine Regierung, die ihre Tätigkeit in Verantwortung für ihr Volk ausführt, die einer demokratischen Rechenschaftspflicht (accountability) unterliegt und die sich resistent gegenüber allen Versuchungen zeigt, die Amtsstellung zur Erlangung wirtschaftlicher Vorteile auszunutzen und überzunutzen.6 Diese Makroanalyse hat in der Tat ein
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neues Element in die Debatte eingeführt, da sie das StaatBürger-Verhältnis nicht nur von der Seite des Rechtsunterworfenen her betrachtet, sondern klare Forderungen an den Staatsapparat stellt, dem es aufgetragen ist, die Menschenrechte zu schützen und zu wahren. Nicht so eindeutig ist, ob der neue Begriff der human security ebenfalls unseren Erkenntnisstand verbessert.7 Im Grunde bedeutet human security nichts anderes, als dass der Einzelmensch in den Genuss all der Rechte kommen soll, die feierlich in den wichtigen Menschenrechtsabkommen kodifiziert worden sind. Damit hat man in einem Schlagwort verdichtet, was sonst eher mühsam unter Berufung auf die Gesamtheit der Menschenrechte zum Ausdruck gebracht werden muss. „Security“, Sicherheit, ist im Übrigen ein Begriff, der sich anders als „Menschenrechte“ bisher nicht abgenutzt hat. Sicherheit vor den Gefährdungen des Lebens will jeder, daran entdeckt man nichts Übertriebenes und Übersteigertes. In der Abschlusserklärung des Weltgipfels von 2005,8 auf dem eine grandiose Reform der Vereinten Nationen beschlossen werden sollte, die dann vor allem wegen amerikanischer Störmanöver nicht zustande gekommen ist, hat man sich immerhin auf den Begriff der responsibility to protect, der Schutzverantwortung, geeinigt. Dieser Begriff liegt als Beschreibung eines Gesamtrahmens menschenrechtlicher Verantwortlichkeit der nationalen Regierungen in enger Nachbarschaft zur human security. Gesagt wird in Ziff. 138 jener Erklärung, die bei Anwesenheit einer hohen Anzahl von Staatsoberhäuptern und Regierungschefs angenommen wurde, dass jeder Staat die Verantwortlichkeit habe, seine Bevölkerung gegen Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen 6 Dazu etwa Christian Tomuschat, Human Rights. Between Idealism and Realism, 2. Aufl. 2008, S. 62 f. 7 Dazu jetzt Jacqueline Stein-Kaempfe, Human Security – Völkerrechtliche Aspekte eines internationalen Sicherheitskonzeptes zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2008. 8 GA Res. 60 / 1 vom 16. 9. 2005.
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die Menschlichkeit zu schützen.9 Damit ist im Grunde nichts Neues gesagt, denn genannt sind hier die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, wie sie auch als Straftaten in den Zuständigkeitskatalogen der internationalen Strafgerichtshöfe erscheinen. Aber die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Staaten gehen ja viel weiter, denn selbst die Grundsatznormierungen in der Charta selbst und im völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht beschränken sich nicht auf solche Massenphänomene, sondern verlangen Einhaltung der Menschenrechte in jedem Einzelfall. Fast könnte man daher von einem Rückschritt sprechen, wenn nicht in Ziff. 139 die Warnung ausgesprochen würde, dass in solchen Fällen die internationale Gemeinschaft, gestützt auf das Kapitel VII der UN-Charta, bereit sei, entsprechende Maßnahmen unter Einschluss militärischer Gewalt zu treffen. Nur darin liegt das Spezifikum der „Schutzverantwortung“. Klargestellt ist nunmehr auch durch die Generalversammlung als das Repräsentativorgan der internationalen Gemeinschaft, dass der Sicherheitsrat, der ja ursprünglich zur Einhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit eingesetzt worden war, berechtigt ist, für die Bekämpfung massenhaften Unrechts im Innern eines Landes Sorge zu tragen, ohne sich den Vorwurf einhandeln zu müssen, er überschreite seine Befugnisse. Es liegt auf der Hand, dass es dem Sicherheitsrat nicht leicht fällt, diese Verantwortung wahrzunehmen. Denn er ist ja nur ein bürokratisches Organ, besetzt mit Diplomaten, das eine beschlossene Aktion nicht selbst durchführen kann. Es müssen Mitgliedstaaten der Weltorganisation gefunden werden, die bereit sind, nicht nur mit Geld, sondern gegebenenfalls auch mit dem Leben ihrer Soldaten Belange eines universellen Gemeinwohls durchzusetzen. Der Gedanke einer weltweiten Solidarität wird dabei bis zu seinen äußersten Grenzen strapaziert. In Ruanda hat die internationale Gemeinschaft im Jahre 1994 vor dem Völkermord in dieser Hinsicht versagt. 9 Dazu etwa Carsten Stahn, Responsibility to Protect: Political Rhetoric or Emerging Legal Norm?, AJIL 101 (2007), S. 99 – 120; Ingo Winkelmann, „Responsibility to Protect“: Die Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft zur Gewährung von Schutz, in: Völkerrecht als Wertordnung. Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 449 – 460.
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5. Und noch eines wird man aus den geschilderten Vorgängen ableiten können. Menschenrechtsorganisationen starren meist gebannt auf die Regierung, wenn sich die Verhältnisse in einem Lande zum Nachteil der Menschenrechte entwickeln. Man geht von der naiven Annahme aus, dass es lediglich am Willen der Regierung fehle, die Dinge zum Besseren zu wenden. Aber eine Nation ist ein komplexes Ensemble von Staat, verstanden als hoheitliche Organisation, und Gesellschaft. In vielen Fällen spiegelt eine unfähige, ja kriminelle Regierung lediglich den Zustand der Gesellschaft wider. Die simple Gleichung: die Regierung ist schlecht, aber die Gesellschaft ist gut, aufgestellt nach dem von Rousseau beschriebenen Modell des bon sauvage, stimmt einfach nicht. Es ist eine unleugbare Tatsache, dass sich Gesellschaften in einem Zustande der Depravierung befinden können, der für den Augenblick jedenfalls jede rasche Abhilfe unmöglich macht. Es gibt Länder in Lateinamerika – ich nenne im Augenblick keine Namen –, deren politischer Zustand als cultura de la violencia bezeichnet wird. Wo in der Tat in einer Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg die Gewalt ganz unbefangen und selbstverständlich als Mittel zur Lösung von Konflikten eingesetzt worden ist, ist menschliches Leben strukturell in Gefahr und kann auch von einer mit den besten Absichten auftretenden Regierung nicht effektiv geschützt werden. Wo eine Gesellschaft sich angewöhnt hat, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, eine Minderheit, zu diskriminieren, kann auch wiederum eine auf Abhilfe bedachte Regierung auf keinen plötzlichen Umschwung hoffen, selbst wenn sie das Mittel des Strafrechts zum Einsatz bringt. Nach allen mir zu Ohren gekommenen Berichten gibt es etwa in Japan eine solche Gruppe, die Burakumin, Abkömmlinge von früher als unsauber angesehenen Berufen, die nach wie vor ein Außenseiterdasein führen müssen, obwohl sie äußerlich durch nichts von ihren Mitbürgern unterschieden sind. Wo eine ganze Generation von Jugendlichen herangewachsen ist, die nichts als den Umgang mit Waffen zur Durchsetzung krimineller Ziele gelernt hat, werden nicht morgen schon Ordnung und Sicherheit herrschen.
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Mit anderen Worten, Menschenrechte können letzten Endes an den Gesellschaften, an ihren Traditionen, scheitern. Man muss sich in diesem Zusammenhang klarmachen, dass die durch völkerrechtlichen Vertrag übernommenen Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschenrechte ja weit hinausgehen über den klassischen Vertrag, der irgendwelche Fragen im Verhältnis zwischen zwei Staaten regelte. Die Menschenrechtsabkommen treten mit einem ungeheuren Anspruch auf. Schon allein die beiden internationalen Pakte von 1966 zusammen genommen, ohne Berücksichtigung der übrigen zahlreichen Übereinkommen, kann man als eine Blaupause für die Gestaltung der innerstaatlichen Ordnung bezeichnen. Ein Koordinatenkreuz wird über das gesamte politische Geschehen auf nationaler Ebene gelegt. Zum Extrem gebracht bedeutet Verwirklichung der Menschenrechte letzten Endes Herstellung eines irdischen Paradieses. Je mehr die Arbeit der Überwachungsgremien der großen Menschenrechtsübereinkommen voranschreitet, umso mehr enthüllt sich das ganze Ausmaß der darin angelegten Vorgaben. Vor allem der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wird nicht müde, durch seine allgemeinen Bemerkungen, seine general comments, den Vertragsparteien umfangreiche Lastenhefte (cahiers de charges) vorzublättern. Damit sind wir beim anderen Extrem angelangt. Hier wird versucht, zu vereinheitlichen, zu zentralisieren, ohne große Rücksicht darauf, in welchem Zustand sich das jeweilige Land befindet. Das muss zu Friktionen und Missstimmungen führen. Und in der Tat gibt es immer deutlicher Ansätze, wonach die Menschenrechte stärker den nationalen Eigenheiten und Besonderheiten angepasst werden müssten. Wo liegt die richtige Lösung als Kompromiss zwischen den beiden Gegenpositionen?
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III. Menschenrechte zwischen Universalität und Partikularität Aufschlussreich für dieses Spannungsverhältnis sind gewisse Nuancierungen, die sich seit den Vorbereitungskonferenzen für die Wiener Welt-Menschenrechtskonferenz von 1993 in den amtlichen Dokumenten der Vereinten Nationen finden. Die jüngste Formel, die in genereller Form auf unterschiedliche gesellschaftliche Zustände und deren Einfluss auf die Bedeutung der Menschenrechte hinweist, findet sich in dem Schlussdokument des Weltgipfels im Jahre 2005,10 wo es heißt (§ 121, Satz 2): „While the significance of national and regional particularities and various historical, cultural and religious backgrounds must be borne in mind, all States, regardless of their political, economic and cultural systems, have the duty to promote and protect all human rights and fundamental freedoms.“
Es trifft zu, dass in der Tat die gesellschaftlichen Traditionen in weltweiter Runde höchst unterschiedlicher Art sind. Das Gegenteil zu behaupten hieße die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Offensichtlich versucht sich die zitierte Wendung an einer Abwägung, wo schon die Auswahl der zu berücksichtigenden Faktoren von großer Vorsicht geprägt ist. Abgehoben wird in der an erster Stelle genannten, für zulässig gehaltenen Differenzierungsklausel auf das historische, das kulturelle und das religiöse Umfeld mit seinen entsprechenden Prägungen. Nicht genannt wird dabei der politische Kontext, und zwar offensichtlich mit klarer Absicht, denn es wird nachfolgend in der mit dem Tadel der Unzulässigkeit belegten Negativklausel ausdrücklich betont, dass das politische, wirtschaftliche und kulturelle System nicht zu Abstrichen bei der Einhaltung der Menschenrechte führen dürfe. Die Menschenrechte sollen nicht von der politischen und wirtschaftlichen Gesamtsituation in einem bestimmten Lande abhängig sein. 10
Oben Fn. 8.
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1. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat sich die Lehre von der margin of appreciation / marge d’appréciation entwickelt, wonach den Staaten bei der Anwendung der Rechtsgarantien der EMRK ein gewisser Beurteilungsspielraum zusteht.11 Diese Lehre birgt klar erkennbare Gefahren in sich. Sie ist geeignet, die Überwachungsfunktion des EGMR in Gefahr zu bringen. Wären nationale Regierungen berechtigt, in jedem Falle auf ihre speziellen nationalen Anschauungen und Praktiken zu verweisen, um auf diese Weise dem Vorwurf eines Rechtsbruchs zu entgehen, so könnte der gemeinsame europäische Grundrechtsstandard, den die EMRK anstrebt, nicht nur ausfransen, sondern regelrecht zerfallen. Der EGMR hat diese potentiell destruktive Tendenz seiner eigenen Rechtsprechung klar erkannt. Deshalb übt er große Vorsicht, was das sachliche Anwendungsfeld des nationalen Beurteilungsspielraums angeht. Der Bereich par excellence, wo der Berufung auf die nationalen Eigenheiten eine gewisse Relevanz zuerkannt wird, ist die Sexualmoral, wo in der Tat, jedenfalls in den Anfangsjahren der Tätigkeit des Straßburger Gerichtshofs, eine weite Kluft zwischen den eher freizügigen Auffassungen der skandinavischen Länder und den strikteren Vorstellungen im katholischen Süden des Kontinents herrschte.12 Was hingegen die politischen Freiheitsrechte angeht, so hat der EGMR sich niemals von dem Argument des Beurteilungsspielraums beeindrucken lassen. Besonders instruktiv erscheinen insoweit eine Reihe von Urteilen, die zum Nachteil von Österreich gefällt wurden. Zur Zeit von Bundeskanzler Kreisky hatte sich in Österreich eine Art von Untertanengeist breitgemacht, der jede schärfere Kritik an dem Staatsoberhaupt sogleich als ein strafrechtliches Vergehen wertete.13 Auch dem 11 Vgl. etwa Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, S. 117, Rn. 20. 12 Selbst in Großbritannien durfte das aus Dänemark stammende „Little Red Schoolbook“, ein von sexueller Offenheit geprägtes kommerzielles Handbüchlein für Schüler, verboten werden, vgl. EGMR, Handyside . / . Vereinigtes Königreich, Series A no. 24 = EGMR-E 1, 217.
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Führer der Freiheitlichen Partei Österreichs, Jörg Haider, wurde ein solcher besonderer Schutz zuerkannt.14 Keine der angegriffenen nationalen Gerichtsentscheidungen hielt indes gegenüber den Angriffen der Verurteilten stand. Was den politischen Meinungsbildungsprozess in der freiheitlichen Demokratie angeht, so wie sie durch die EMRK vorgegeben ist, duldet der EGMR keine „Österreicheleien“. Wenn er sich einmal mit den Verhältnisse in Russland zu befassen haben wird, wird er auch keine Eigenheiten der russischen Demokratie akzeptieren, selbst wenn diese Eigenheiten auf die kulturellen Traditionen des Zarentums zurückzuführen sein mögen. In den Verfahren vor dem Menschenrechtsausschuss (MRA) nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) spielten diese und ähnliche Fragen vor allem in den Auseinandersetzungen zwischen Ost und West eine erhebliche Rolle. Die Ratifikation des IPBPR war für die sozialistischen Staaten ein erhebliches Wagnis. Denn die Grundphilosophie des Paktes mit seinen politischen Freiheitsrechten und seinem strikten Verbot politischer Diskriminierung stand in einem unauflösbaren Widerspruch zu der sozialistischen Ideologie, wonach der Sozialismus den Zentralpfeiler der Staatlichkeit bildete und jegliche Kritik daran strafrechtlich geahndet werden konnte. Von den Mitgliedern des MRA aus den sozialistischen Staaten war sich niemand schärfer dieser Spannungslage bewusst als Bernhard Graefrath, das Mitglied aus der DDR. Er versuchte eine Theorie zu entwickeln, wonach sämtliche Freiheitsrechte des Paktes in den Vertragstaaten unter einem allgemeinen Vorbehalt der tragenden Staatsideologie stünden.15 Mit diesen Bemühungen zur Immunisierung der sozialistischen Ideologie gegenüber dem 13 Vgl. EGMR, Lingens . / . Österreich, Series A no. 103 = EuGRZ 1986, S. 424. 14 Vgl. EGMR, Oberschlick . / . Österreich (Nr. 2), Reports 1997-IV = NJW 1999, S. 1321. 15 Bernhard Graefrath, Menschenrechte und internationale Kooperation. 10 Jahre Praxis des Internationalen Menschenrechtskomitees, 1988, S. 62 f.
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IPBPR ist er freilich gescheitert. Dabei waren es gar nicht so sehr die Mitglieder aus den westlichen Demokratien, die seine Konzepte zu Fall brachten, als vielmehr die Mitglieder aus der Dritten Welt, die unisono gegen die Unterordnung der politischen Freiheitsrechte unter nationale Verfassungszielbestimmungen Front machten. 2. Auch soweit das Gipfeldokument von 2005 sich für die Berücksichtigungsfähigkeit von kulturellen Unterschieden ausspricht, muss es gewisse Grenzlinien geben. Das gilt auch, soweit man anerkennt, dass die Wirkungskraft von Menschenrechten sich primär aus ihrer kulturellen Verwurzelung ergibt.16 Mit zwei Problemen vor allem muss man sich insoweit auseinandersetzen. Zum einen ist es gar nicht einfach, die Kultur eines Volkes oder gar einer ganzen Weltregion zu bestimmen. Zum anderen muss man sich auch eingestehen, dass nicht jede Tradition in gleicher Weise erhaltenswert ist. a) Wo und wie findet man kulturelle Strukturen? Eine der wenig überprüften Idealvorstellungen ist etwa diejenige einer heilen Welt in Afrika vor der Landnahme durch die europäischen Eroberer und Kolonisatoren. In dem Buch „Roots“ des amerikanischen Autors Alex Haley (1977) hat dieser schwärmerische Gedanke vor mehreren Jahrzehnten einen bildhaften Ausdruck gefunden. Geschildert wird eine Welt von Frieden und Solidarität, nicht eine Welt von Kampf, Blutvergießen und Tod. Wie die frühen Verhältnisse im Afrika südlich der Sahara tatsächlich gewesen sind, wird sich mangels schriftlicher Zeugnisse auch mit den modernsten Methoden der Wissenschaft nicht mehr aufklären lassen. Aber es kommt ja auch auf die heutige Situation an, auf den heutigen „Kulturbefund“. Insofern fällt ins Gewicht, dass Afrika, soweit es nicht über Ägypten an die mediterranen Kulturen angeschlossen war, jedenfalls seit einem halben Jahrtausend im Austausch mit den 16 Vgl. etwa Christian Tomuschat, Is Universality of Human Rights Standards an Outdated and Utopian Concept?, in: Roland Bieber et al. (Hrsg.), Das Europa der zweiten Generation. Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Bd. II, 1981, S. 585 (591 ff.).
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Europäern stand, wobei über viele Jahrhunderte der Einfluss der seefahrenden Nationen sich auf die küstennahen Zonen beschränkte und erst das 19. Jahrhundert die eigentliche Kolonisation in Gang setzte. Afrika hat durch die Kolonisation einen Zivilisationsschub erlebt. Es hat Zugang zu einer Gedankenwelt und gleichzeitig zu einer technologischen Zivilisation erhalten, die auf seinem Boden nicht gediehen waren. Zu den negativen Erfahrungen hat andererseits bis in das 20. Jahrhundert hinein eine Politik der offenen Diskriminierung gezählt. Afrikaner wurden von allen Kolonialmächten als Menschen zweiter Klasse behandelt. Kolonialkriege wurden nicht nach den Maßstäben des Völkerrechts geführt, auf die man sich 1899 und 1907 in Den Haag geeinigt hatte. Jeder, der sich gegen die Kolonialherrschaft auflehnte, wurde als verbrecherischer Aufrührer betrachtet. Noch im Jahre 1950 wurde bei der Abfassung der EMRK darauf geachtet, jeder Kolonialmacht die Möglichkeit einzuräumen, ihre nicht zu dem eigentlichen Metropolgebiet gehörenden Hoheitsgebiete aus dem territorialen Geltungsbereich auszuschließen (heute: Art. 56 Abs. 1), was dann auch tatsächlich geschah. Die Angehörigen der afrikanischen Kolonialvölker kamen so nie unter den Schutz der EMRK. Dennoch haben sich die afrikanischen Länder kulturell nicht etwa „rein“ erhalten. Ihre gesamte Lebenswelt steht vor allem in der Moderne seit 1945 unter den Einflüssen der globalisierten Welt. Radio, Fernsehen und Internet sind allgegenwärtig. Auch die Tatsache, dass seit nunmehr 60 Jahren die Menschenrechte ständig in geradezu ritueller Weise beschworen werden, hat unvermeidlich die Denkweisen geprägt. Hinzu kommt, dass Afrika sich im Jahre 1981 die Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker17 gegeben hat, die sich ebenfalls zu den Grundwerten bekennt, die auf universeller Ebene zu Leitlinien der Politik und verbindlichen Verhaltensmaßstäben erklärt worden sind. Entstanden ist so17 Abgedruckt etwa bei: Ian Brownlie / Guy S. Goodwin-Gill (Hrsg.), Basic Documents on Human Rights, 4. Aufl. 2002, S. 728 ff.
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mit ein Konglomerat, dessen Einzelbestandteile sich gar nicht mehr voneinander trennen lassen. Das entspricht den üblichen Abläufen kultureller Prozesse. Kulturen sind niemals abgeschlossene, unveränderliche Gebilde. Gerade weil sie Kulturen sind, sind sie auf Dialog, auf Austausch und gegenseitige Befruchtung hin angelegt. Eine Gesellschaft, die sich auf sich selbst zurückzieht und ihr Ziel in der Erhaltung der Identität durch Abkapselung von außen sieht, verliert ihre Vitalität und begibt sich auf einen Kurs der inneren Auszehrung. Es wäre daher illusorisch, nach einer wahrhaft authentischen, spezifischen afrikanischen Kultur zu suchen, etwa in dem Bestreben, diesen wahren Kern durch Aussonderung und Abscheidung der „fremden“ Elemente aufspüren zu können. Rätsel gibt auch ein Blick auf China auf. Wo liegt hier die ethisch-kulturelle Substanz? Unzweifelhaft hat China eine konfuzianische Vergangenheit. Aber diese historische Grundlage wird seit vielen Jahrzehnten überlagert durch die kommunistische Ideologie, die wiederum im Wirtschaftsleben eine kapitalistische Struktur akzeptiert hat. Welche Verbindung diese unterschiedlichen Stränge eingegangen sind, wird wohl nur der Soziologe feststellen können, und auch dieser muss sich mit einer Momentaufnahme für das Hier und Heute begnügen. So bleibt jede Aussage über das kulturelle Eigenprofil Chinas letzten Endes in Annahmen und Vermutungen stecken. Es bleiben nur einige wenige Grundtendenzen, etwa in dem Sinne, dass für China die stärkere Betonung der Pflichtenstellung des Einzelnen typisch ist. Letzten Endes wird man sich eingestehen müssen, dass in einer Welt der Globalisierung, wo über die Netze der Kommunikation fast jeder mit fast jedem verbunden ist, die Blöcke, an denen man sich früher so leicht hat orientieren können, ihre scharfen Kanten verloren haben. Natürlich gibt es immer noch das „Typische“, was immer man darunter verstehen mag, sei es nun reines Vorurteil oder aus empirischen Beobachtungen abgeleitet. Aber fast keine Volks- oder Nationalkultur hat sich in Reinform erhalten. Unverrückbar, ewig – das sind Begriffe, die wohl nie gepasst haben und die heute noch weniger
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als jemals zuvor passen. Tatsache ist, dass es einen weltweit geführten Dialog über Menschenrechte und Grundwerte gibt, von dem sich eine Gruppe selbst dann nicht ausschließen könnte, wenn sie dies zur Absicht haben sollte. Unvermeidlich prägt dieser Dialog die kulturellen Überzeugungen. Was Tag für Tag angepriesen und als Ideal für die Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen dargestellt wird, findet Eingang in die ethisch-moralischen Grundlagen einer jeden Gesellschaft, freilich in unterschiedlicher Stärke, mit unterschiedlichen Nuancierungen. b) Zur Frage, ob alle kulturellen Traditionen in gleicher Weise erhaltenswert sind, ist es nicht ohne Belang, wie die Querbeziehungen zwischen Menschenrechten und solchen Traditionen vom MRA wahrgenommen werden. Aussagekräftig sind die Stellungnahmen, mit denen er seine Schlussfolgerungen über Länder mit starken eigentümlichen Zügen kundtut. Ein repräsentatives Beispiel für eine solche Stellungnahme sind die concluding observations zu dem letzten Bericht, der ihm vom Sudan vorgelegt worden war.18 Die Prüfung dieses Berichts fand im Juli 2007 statt. Hier ging es um so grundlegende Fragen wie die Gleichberechtigung der Frau im gesamten öffentlichen Leben wie auch im Ehe- und Familienrecht, ferner das Problem der Genitalverstümmelung, eine gesellschaftliche Praxis, die aber vom sudanesischen Staat wenn nicht gefördert, so jedenfalls doch nicht unterbunden wird. Der MRA schreckte hier nicht vor klaren Worten zurück. Eindeutig wird die offensichtliche Benachteiligung der Frau in allen diesen Lebensbereichen verurteilt, scharfe und entschiedene Kritik findet auch die fortbestehende Praxis der Beschneidungen, die für viele junge Mädchen auf der Schwelle zum Status der erwachsenen Frau Siechtum und sogar Tod mit sich bringen kann. Ganz offensichtlich betrachtet es der MRA als völlig irrelevant, dass die gegeißelten Regeln oder Verhaltensweisen tief in der kollektiven Psyche wurzeln oder sogar religiösen Vorgaben folgen.19 18
UN-Dok CCPR / C / SDN / CO / 3 vom 29. 8. 2007.
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Diese Beobachtung wirft die allgemeine Frage auf, was gelten soll, wenn man eine grundlegende Diskrepanz zwischen dem normativen Anspruch der internationalen Verträge zum Schutze der Menschenrechte und der gelebten gesellschaftlichen Praxis feststellen kann. Soll man etwa das Ziel, gegen die Genitalverstümmelung anzukämpfen, aufgeben, weil eben eine einflussreiche Gruppe innerhalb der in Rede stehenden Bevölkerung, möglicherweise sogar eine Mehrheit, diese Initiation in die Erwachsenenwelt gutheißt? Ist es vielleicht sogar undemokratisch, solche Forderungen zu stellen? An dieser Stelle ist eine klare politische Stellungnahme unabdingbar. Das in den internationalen Menschenrechtsverträgen verankerte Recht wird von einem Ethos der Aufklärung getragen.20 Es geht um grundlegende Gerechtigkeitspostulate wie Gleichheit und Lebensglück auf der einen Seite, um Distanzierung von damit unvereinbaren Sitten und Gebräuchen auf der anderen Seite. Menschenrechte sind eben nicht rein naturwüchsige Produkte, Konstruktionen, die ihre Grundlagen lediglich in der Empirie haben. Sie lassen sich ohne den ihnen innewohnenden Fortschrittsglauben, ihre Herkunft vom Gleichheitsgrundsatz und den Satz von der menschlichen Würde gar nicht verstehen.21 Es kann keinen Kotau vor gewachsenen 19 Vgl. auch die Bemerkungen des MRA zur traditionellen Rechtsstellung der Frauen in Botswana, insbesondere betr. Polygamie, UN-Dok. CCPR / C / BWA / CO / 1 vom 24. 4. 2008, S. 3 Nr. 11. 20 In seiner Schrift Zum ewigen Frieden aus dem Jahre 1795 nennt Kant als Grundbedingungen der bürgerlichen Verfassung in jedem Staat Freiheit und Gleichheit, hrsg. von Weischedel, Bd. VI, 1964, S. 191 (204). 21 Vgl. dazu die Rede, die Papst Benedikt XVI. am 18. 4. 2008 vor der UN-Generalversammlung gehalten hat: „It is evident, though, that the rights recognized and expounded in the Declaration apply to everyone by virtue of the common origin of the person, who remains the high-point of God’s creative design for the world and for history. They are based on the natural law inscribed on human hearts and present in different cultures and civilizations. Removing human rights from this context would mean restricting their range and yielding to a relativistic conception, according to which the meaning and interpretation of rights could vary and their universality would be denied in the name of different cultural, political, social and even religious outlooks. This great variety of viewpoints must
Herausforderungen des internationalen Menschenrechtsschutzes
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Formen der Ungleichheit geben. Ebenso wenig wie die Genitalverstümmelung sind etwa die Witwenverbrennung und die Sklaverei hinnehmbar – oder auch Zwangsverheiratungen von Minderjährigen oder der Ausschluss vom Schulbesuch zulasten junger Mädchen. Die Normativität der Menschenrechte ist ganz bewusst gegen bestimmte Verirrungen im Entwicklungsprozess der menschlichen Gesellschaften gerichtet. Man darf also, ja man muss sogar gelegentlich, von Verstocktheit und von schwarzer Vergangenheit sprechen, die es zu bekämpfen gelte. Solche Äußerungen sind weder undemokratisch, noch spiegelt sich in ihnen ein postkolonialer Geist westlichen Bevormundungsstrebens wider.
not be allowed to obscure the fact that not only rights are universal, but so too is the human person, the subject of those rights“, http: // www.zenit.org/article-22334?l=english.
Vom Marktbürger zum Unionsbürger Von Rudolf Streinz I. Einleitung Mit der durch den Vertrag von Maastricht – zusammen mit der dadurch gemäß Art. 1 Abs. 1 EUV (ex-Art. A EUV) gegründeten „Europäischen Union“ – gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 1 EGV (ex-Art. 8 EGV) „eingeführten“ so genannten „Unionsbürgerschaft“ wurde an ein von der Kommission entwickeltes und vor allem vom Europäischen Parlament unterstütztes Konzept aus den 70er Jahren angeknüpft, das später zu einem wesentlichen Element eines weiter ausgreifenden „Europas der Bürger“ wurde. Damit wurde die Vorstellung vom „Marktbürger“ des Gemeinsamen Marktes um eine politisch-bürgerrechtliche Dimension erweitert, wodurch ein Anknüpfungspunkt zur Herausbildung einer spezifischen „europäischen Identität“ geschaffen werden sollte. Die Brisanz dieser Bestimmung wurde von manchen verkannt, ihr erhebliches Entwicklungspotential unterschätzt. Anders Eckart Klein, der gleich nach Einführung dieses Instituts die zentralen Problempunkte erkannte und deutlich ansprach. Zu nennen sind hier u. a. die Unterscheidung zwischen Unionsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit, die es als europäische Staatsangehörigkeit mangels Staatsqualität nicht geben könne; das Verhältnis der Freizügigkeit aus der Unionsbürgerschaft gemäß Art. 18 EGV (ex-Art. 8a EGV) zu den Rechten aus den Grundfreiheiten und zu den Rechten aus dem auf Art. 7 Abs. 2 EWGV, jetzt Art. 12 Abs. 2 EGV, gestützten Sekundärrecht, d. h. den – mittlerweile durch die allgemeine Freizügigkeitsrichtlinie aufgehobenen – Richtlinien über die Freizügigkeit für Rentner, Studenten und letztlich alle Staatsangehörigen der
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Mitgliedstaaten; die Einräumung des aktiven und passiven Wahlrechts zum Europäischen Parlament bei der Wahl der Repräsentanten eines anderen Staatsvolks; die verfassungsrechtlichen Fragen des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger; völkerrechtliche Implikationen des durch die Unionsbürgerschaft gewährten diplomatischen Schutzes.1 Neben diesen Grundsatzfragen widmete er sich auch speziellen, die Universität besonders interessierenden Themen wie dem Aufenthaltsrecht der Studenten nach der Einführung der Unionsbürgerschaft.2 Alle von Eckart Klein hier aufgeworfenen Fragen wurden nicht nur in der Literatur eingehend behandelt, sondern haben sich auch in der Rechtsprechung als praktisch relevante Probleme erwiesen. Angesichts der fast unüberschaubar gewordenen Materialfülle3 muss ich mich hier im Wesentlichen auf Stichworte beschränken.
1 Vgl. Eckart Klein, Der Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten, Der Staat 33 (1994), S. 39 (49 ff.); ders. / Andreas Haratsch, Neuere Entwicklungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, DÖV 1993, S. 785 (788 ff.); ders., Gedanken zur Europäisierung des deutschen Verfassungsrechts, in: Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1301 (1309 ff.). 2 Vgl. Eckart Klein / Andreas Haratsch, Das Aufenthaltsrecht der Studenten, die Unionsbürgerschaft und intertemporales Gemeinschaftsrecht, JuS 1995, S. 7 (7 ff.). 3 Vgl. dazu neben den Kommentaren zu Art. 17 – 22 EGV z. B. Thomas Giegerich, Unionsbürgerschaft, politische Rechte, in: Reiner Schulze / Manfred Zuleeg (Hrsg.), Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006, S. 289 ff. (§ 9); Stefan Kadelbach, Die Unionsbürgerrechte, in: Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, S. 553 ff.; ders., Unionsbürgerschaft, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 539 ff.; sowie die Monographien von Christoph Schönberger, Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht, 2006 und Ferdinand Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt – Die Herausbildung der Unionsbürgerschaft im unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime, 2007.
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II. Begriff und Konzept des „Marktbürgers“ 1. Begriff
Der Begriff des „Marktbürgers“ wurde von Hans-Peter Ipsen erstmals auf dem Haager FIDE-Kongress 1963 geprägt.4 Um Ipsen selbst zu zitieren: „Die Menschen, die als Staatsangehörige Status im Mitgliedstaat haben, treten durch die Normen des Gemeinschaftsrechts in Rechtsbeziehungen zur Gemeinschaft“. Dadurch „gelangen sie nicht in einen zusätzlichen Gemeinschafts-Status, der den aus der Staatsangehörigkeit verdoppelte. Es gibt keine Gemeinschaftsangehörigkeit. Gleichwohl kann ihre Gemeinschaftsrechts-Berührung ihre Rechtsstellung kennzeichnen, und dies unter ihrer individuellen Benennung als „Marktbürger“, ihrer derartigen Rechtsstellung als „Marktbürgerschaft“. Diese Benennung meint den einzelnen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates in seiner Teilhabe am Gemeinsamen Markt, also funktional insoweit, als ihm Freiheit und Gleichheit zur Erfüllung der ökonomischen Ziele der Gemeinschaften gewährleistet wird.“5
Der Begriff entsprach im Wesentlichen der Teilintegration durch eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, deren Ziel die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes durch die Grundfreiheiten war. Er macht deutlich, dass der Marktbürger nicht Teilhaber an der staatlichen Aktivbürgerschaft ist, die sich insbesondere im Wahlrecht zeigt.6 Diese Grundfreiheiten sind nach wie vor das Fundament auch der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union. Sie bleiben nach wie vor auch für den Unionsbürger die bedeutendsten Rechte. Dies ist bei einer Gegenüberstellung von Marktbürgerschaft und Unionsbürgerschaft zu berücksichtigen.7 4 Vgl. Hans-Peter Ipsen / Gert Nicolaysen, Haager Kongreß für Europarecht und Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, NJW 1964, S. 339 (340 f.). 5 Näher dazu Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 250 f. 6 Vgl. Albrecht Randelzhofer, Marktbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Staatsbürgerschaft, in: Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 580 (582 ff.).
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2. Rechte des „Marktbürgers“
Die Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes stellten den „Marktbürger“ eines anderen Mitgliedstaates dem Inländer in ihrem Anwendungsbereich gleich (Grundsatz der Inländergleichbehandlung). Gemäß der Rechtsprechung des EuGH wurden die Grundfreiheiten – bis auf die Freiheit des Kapitalund Zahlungsverkehrs, die diesen Status erst zum 1. Januar 1994 erlangte – mit Ablauf der Übergangszeit ab 1. Januar 1970 unmittelbar, d. h. auch ohne sekundärrechtliche Konkretisierung, anwendbar und begründeten subjektive Rechte, die wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts entgegenstehendes nationales Recht der Mitgliedstaaten verdrängten. Freilich musste und muss dies häufig erst durchgesetzt werden. Die dadurch verursachten Verzögerungen und Unklarheiten erforderten und erfordern auch weiterhin die Setzung von Sekundärrecht, wie zuletzt z. B. die Dienstleistungsrichtlinie8 und die Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie9 zeigen. Dies entspricht auch dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der die Gestaltung der Rahmenbedingungen dem Gesetzgeber, d. h. hier dem Gemeinschaftsgesetzgeber, und nicht dem Gerichtshof zukommen lässt. Auch die Rechte des „Marktbürgers“ waren nicht allein wirtschaftlich motiviert. Sie knüpften und knüpfen in der Form der herkömmlichen Grundfreiheiten zwar an eine wirtschaftliche Erwerbstätigkeit an, berücksichtigten aber von Anfang an auch soziale Aspekte. Zu nennen sind hier das Bleiberecht nach Beendigung der Erwerbstätigkeit oder bei Krankheit und unverschuldeter Arbeitslosigkeit und die abgeleiteten Rechte der Familienangehörigen.10 Alles andere wäre Vgl. Schönberger (Fn. 3), S. 15 f. Richtlinie 2006 / 123 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006 Nr. L 376 / 36). 9 Richtlinie 2005 / 36 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. 9. 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005 Nr. L 255 / 22). 7 8
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auch in einer Gemeinschaft, die sich der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet fühlt und deren Mitgliedstaaten dieser verpflichtet sind, unerträglich. Hier war man sich bewusst, dass dem Ruf nach Arbeitskräften Menschen nachkommen. III. Wege zur Unionsbürgerschaft 1. Initiativen für „besondere Rechte“ für die Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft
Bereits seit den Anfängen der Europäischen Gemeinschaften wurden Ideen entwickelt, auch politische Rechte auf europäischer Ebene für alle Bürger der Mitgliedstaaten zu schaffen.11 Einen rechtlichen Ansatzpunkt dafür – oder zumindest einen rechtspolitischen Auftrag – sah man im ersten Erwägungsgrund der Präambel des EWG-Vertrages und jetzt EGVertrages, der von einem „immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker“ spricht. Seit der Haager Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten von 1969 wurden wiederholt Initiativen zur Schaffung besonderer, und zwar politischer Rechte der als „Gemeinschaftsbürger“ verstandenen Bürger der Mitgliedstaaten ergriffen, wofür das Schlagwort „Europa der Bürger“ geprägt wurde. Genannt seien hier nur der Bericht „Europa für die Bürger“, der u. a. bereits das kommunale Wahlrecht forderte, die Passunion, die mit der Herausgabe des einheitlichen europäischen Passes (rechtlich als Pass des jeweiligen Mitgliedstaates) realisiert wurde, die vom Europäischen Parlament 1975 vorgeschlagene „Charta der Bürgerrechte der EG“, die bereits 1979 von der Kommission vorgeschlagene Richtlinie über ein 10 Vgl. dazu Rudolf Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 780, 878 ff. m. w. N. 11 Vgl. zum Folgenden Marcel Haag, in: Hans von der Groeben / Jürgen Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV-Kommentar, 6. Aufl. 2003, Art. 17 EG, Rn. 2 m. w. N.
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allgemeines Aufenthaltsrecht unabhängig von einer wirtschaftlichen Tätigkeit, die 1990 in drei Richtlinien über das Aufenthaltsrecht für Studenten, Rentner sowie alle weiteren Personen realisiert wurde. Der Begriff der „Unionsbürgerschaft“ wurde erstmals im Spinelli-Entwurf des Europäischen Parlaments zur Gründung der Europäischen Union verwendet. 1984 setzte der Europäische Rat in Fontainebleau den sog. Adonnino-Ausschuss „Europa der Bürger“ ein, der eine Reihe von Bürgerrechten empfahl, die allerdings noch nicht in die nächste Vertragsreform, nämlich die Einheitliche Europäische Akte von 1986, Eingang fanden. Dies geschah erst, nachdem seitens der Kommission weitere Berichte und auch förmliche Vorschläge für Sekundärrecht vorgelegt worden waren, im Unionsvertrag von Maastricht. 2. Die „Unionsbürgerschaft“ als Begleitmaßnahme in der Gründung der Europäischen Union
Durch den Vertrag von Maastricht wurde die „Europäische Union“ gegründet. Diese blieb zwar deutlich hinter den Plänen einer wirklichen Politischen Union als Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion zurück. Gleichwohl wollte der Unionsvertrag die stärkere Verankerung des Bürgers in der Europäischen Union deutlich machen. Dies geschah zum einen durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens (ex-Art. 189b EGV, jetzt Art. 251 EGV), das das Europäische Parlament zum – wie es nach dem Vertrag von Lissabon ausdrücklich heißen soll – Gesetzgeber zusammen mit dem Rat macht, zum anderen durch die Einführung einer „Unionsbürgerschaft“. Diese wird zwar deutlich von der Staatsbürgerschaft, die die Unionsbürgerschaft vermittelt, abgegrenzt. Gleichwohl wurde die Assoziation an den Begriff der Staatsbürgerschaft bewusst gewählt, um eine entsprechende europäische Identität und Identifikation des Bürgers mit Europa zu fördern. Ähnliches versprach man sich ja auch vom Begriff „Verfassung“ im Verfassungsvertrag, was sich aber wohl als kontraproduktiv erwies.12
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Was, wenn nicht der Unionsvertrag bot sich dafür an, eine Unionsbürgerschaft einzuführen. Dass sie selbst nicht im EUVertrag, sondern im EG-Vertrag (Art. 17 ff. EGV) verankert wurde, hängt damit zusammen, dass man sie der Jurisdiktion des EuGH unterstellen wollte, die hinsichtlich des EU-Vertrages sehr eingeschränkt ist (vgl. Art. 35 EUV). Die Unionsbürgerschaft wurde von manchen als plakative Formel ohne besondere konkrete Wirkungen angesehen. Joseph H. H. Weiler meinte z. B., dass „the Citizenship clause in the TEU is little more than a cynical exercise in public relations“.13 Damit wurde aber, wie sich bald zeigen sollte, das Entwicklungspotential dieses Instituts,14 insbesondere des dadurch begründeten allgemeinen Freizügigkeitsrechts, gewaltig unterschätzt. Angesichts der Praxis des EuGH hätte man und hätten auch die Mitgliedstaaten, die diese Bestimmungen mit dem Vertrag von Maastricht ratifizierten, freilich damit rechnen können, wenngleich vielleicht nicht in diesem Ausmaß. IV. Die Unionsbürgerschaft als „Grundfreiheit ohne Markt“ 1. Die Realisierung des Entwicklungspotentials der unterschätzten Unionsbürgerschaft
Die Unionsbürgerschaft wird als „Grundfreiheit ohne Markt“ bezeichnet.15 Von manchen eher als bloßes Symbol eingeschätzt und je nach Standpunkt kritisiert, von manchen politischen Verantwortlichen vielleicht auch weitgehend als solches gedacht, hat sie das von anderen bereits prognosti12 Vgl. dazu Juliane Kokott, Die Freizügigkeit der Unionsbürger als neue Grundfreiheit, in: Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 207 (209). 13 Joseph H.H. Weiler, The Selling of Europe: The Discourse of European Citizenship in the IGC 1996, Harvard Jean Monnet Working Paper 3 / 96. 14 Vgl. dazu Haag (Fn. 11), Art. 17 EG, Rn. 6. 15 So der Titel der Dissertation von Wollenschläger (Fn. 3).
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zierte Entwicklungspotential entfaltet und diente dem EuGH als Katalysator für den Ausbau der nicht-wirtschaftlichen Komponente der Europäischen Union. Ausgangspunkt dafür ist die Erklärung der Unionsbürgerschaft zum „grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“.16 Daraus zog der EuGH weitreichende Folgerungen. Als entscheidend hat sich dabei die durch Art. 18 EGV begründete Freizügigkeit erwiesen, da der EuGH diese als „begründet“ im Sinne von konstitutiv verstand.17 Sie ist das Einfallstor für die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Vertrages und eröffnet damit das allgemeine Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 12 Abs. 1 EGV). Bei dieser Kombination von Art. 18 EGV mit Art. 12 EGV beließ es der Gerichtshof aber in beide Richtungen nicht. Im Fall Trojani bestand kein Aufenthaltsrecht aus Art. 18 EGV. Dem EuGH genügte für die Anwendung des Art. 12 EGV mit der Folge nichtdiskriminierenden Zugangs zur belgischen Sozialhilfe des Minimex der nach belgischem Recht mangels Verweigerung oder Beendigung der Aufenthaltserlaubnis rechtmäßige Aufenthalt. Die Inanspruchnahme des Sozialhilfesystems allein soll aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht begründen dürfen.18 Diese Rechtsprechung des EuGH ist zum Teil auf sehr heftige Kritik gestoßen. Kay Hailbronner fragte nach dem „Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH“,19 was wiederum auf den Gerichtshof verteidigende Kritik stieß.20 Betrachtet man die 16 EuGH, Urt. v. 20. 9. 2001, Rs. C-184 / 99 (Grzelczyk / Centre public d’aide sociale), Slg. 2001, I-6193, Rn. 31; Analyse von Rudolf Streinz, JuS 2002, S. 387 ff. 17 Deutlich EuGH, Urt. v. 17. 9. 2002, Rs. C-413 / 99 (Baumbast und R / Secretary of State for the Home Department), Slg. 2002, I-7091, Rn. 84; Analyse von Rudolf Streinz, JuS 2003, S. 494 ff. Vgl. dazu Kokott (Fn. 12), S. 214 f. 18 EuGH, Urt. v. 7. 9. 2004, Rs. C-456 / 02 (Trojani / Centre public d’aide sociale de Bruxelles – CPAS), Slg. 2004, I-7573, Rn. 41 ff., 45; Analyse von Rudolf Streinz, JuS 2005, S. 1117 ff. 19 Kay Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, S. 2185 (2185 ff.).
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konkret entschiedenen Fälle, so erscheinen die Ergebnisse durchaus vertretbar, ja sogar verständlich. Problematisch ist jedoch das Ausgreifen über offensichtlich als solche gedachte Limitierungen hinweg, ja deren Verkehrung ins Gegenteil – zugegeben nicht ohne argumentativen Ansatz. In der allgemeinen Freizügigkeitsrichtlinie 2004 / 38 / EG21 wurde die Rechtsprechung des EuGH weitgehend nachvollzogen. Andererseits hat der EuGH in späteren Urteilen seine Rechtsprechung insoweit präzisiert und dadurch Bedenken teilweise entschärft. Die Kritik ist offenbar nicht auf gänzlich taube Ohren gestoßen. Im Fall Turpeinen wurde deutlich, dass der EuGH Art. 18 EGV nicht nur als Diskriminierungs-, sondern auch als Beschränkungsverbot versteht,22 so dass sich daraus losgelöst von Art. 12 EGV Rechte auf Freizügigkeit ergeben. Wie bei den herkömmlichen Grundfreiheiten auch hat dies Auswirkungen auf Materien, die – wie das Recht der direkten Steuern – an sich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben sind. Der Fall Morgan23 zeigt, dass dies auch gleichberechtigten Zugang zu Leistungsansprüchen – nicht den Anspruch auf diese selbst – begründen kann.
Kokott (Fn. 12), S. 219 ff. Richtlinie 2004 / 38 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. 2004 Nr. L 229 / 35). 22 EuGH, Urt. v. 9. 11. 2006, Rs. C-520 / 04 (Turpeinen), Slg. 2006, I-10685, Rn. 20 ff.; Analyse von Rudolf Streinz, JuS 2008, S. 160 ff. 23 EuGH, Urt. v. 23. 10. 2007, verb. Rs. C-11 / 06 und C-12 / 06 (R. Morgan / Bezirksregierung und Landrat), Slg. 2007, I-9161, Rn. 25 ff.. Vgl. dazu Michael Schweitzer, Artikel 18 Abs. 1 EGV – Die fünfte Grundfreiheit, in: Festschrift für Michael Bothe, 2008. S. 1159 (S. 1171). 20 21
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2. Die Freizügigkeit aus der Unionsbürgerschaft als neue Grundfreiheit a) Rechtsprechung des EuGH
Gemäß Art. 18 Abs. 1 EGV hat jeder Unionsbürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“. Die Einschränkung könnte darauf hindeuten, dass die Freizügigkeit nur nach Maßgabe sekundärrechtlicher Konkretisierung besteht. Nachdem dies längere Zeit umstritten und die Rechtsprechung nicht eindeutig war, hat der EuGH im Fall Baumbast Art. 18 EGV, da aus der Unionsbürgerschaft als dem grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten fließend, unmittelbare Anwendbarkeit zuerkannt.24 Damit ist das allgemeine, d. h. von den ökonomischen Grundfreiheiten unabhängig bestehende Freizügigkeitsrecht primärrechtlich verankert und begründet subjektive Rechte. Die in Art. 18 Abs. 1 EGV genannten Durchführungsvorschriften können dieses Recht beschränken, sie bedingen es aber nicht. Bei den Beschränkungen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, dessen Einhaltung der EuGH überprüft. Dies wirkt sich auch in der Anwendung der durch die Freizügigkeitsrichtlinien von 1990 und die jetzige Freizügigkeitsrichtlinie von 2004 vorgesehenen Zulassungsvoraussetzungen aus, nämlich „ausreichender Existenzmittel“, so dass während des Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch genommen werden müssen, sowie das Bestehen eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes (vgl. Art. 7 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2004 / 38 / EG). Der EuGH hat die durch Art. 18 EGV begründete Freizügigkeit ausdrücklich als „Grundfreiheit“ bezeichnet.25 Allerdings ist hinsichtlich der Terminologie EuGH, Rs. 413 / 99 (Fn. 17), Slg. 2002, I-7091, Rn. 84. Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 9. 11. 2000, Rs. C-357 / 98 (Nana Yaa Konadu Yiadom), Slg. 2000, I-9265, Rn. 25; ferner z. B. EuGH, Urt. v. 11. 7. 2002, Rs. C-224 / 98 (D’Hoop), Slg. 2002, I-6191, Rn. 29. 24 25
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beim EuGH Vorsicht geboten, da er in anderen Urteilen von einem „Grundrecht“ sprach.26 Auf die Einbeziehung in die Kategorie „Grundfreiheit“ deutet auch die weitgehend einheitliche Behandlung der herkömmlichen Grundfreiheiten und der „neuen“ Grundfreiheit in der Freizügigkeitsrichtlinie 2004 / 38 / EG hin.27 Das Erfordernis des grenzüberschreitenden Bezugs ist auch bei dieser Freizügigkeit gegeben, wenngleich die Anforderungen dafür nicht allzu hoch sind, was aber für alle Grundfreiheiten gilt. b) Subsidiarität der Unionsbürgerschaft
Obwohl sich dafür in Art. 18 EGV keine textliche Andeutung findet, ist die Freizügigkeit aus der Unionsbürgerschaft gegenüber den Berechtigungen aus den ökonomischen Grundfreiheiten subsidiär. Diese gehen als die spezielleren Vorschriften vor. So verfährt auch die Rechtsprechung des EuGH.28
Vgl. dazu Schweitzer (Fn. 23), S. 1169. Vgl. Art. 1 RL 2004 / 38 / EG und dazu Winfried Kluth, in: Christian Calliess / Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV-Kommentar, 3. Aufl. 2007, Rn. 2. „Grundrechte“ bzw. entsprechende Rechte für alle Unionsbürger enthalten die auf Art. 13 EGV gestützten Antidiskriminierungsrichtlinien (vgl. dazu Martin Nettesheim, in diesem Band) sowie Art. 141 Abs. 1 EGV und die auf Art. 141 Abs. 3 EGV gestützten Richtlinien. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union richtet sich in erster Linie gegen die Union und ihre Organe, gegen die Mitgliedstaaten nur „ausschließlich“ bei der „Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Grundrechtecharta). Die Tragweite der Bindung der Mitgliedstaaten ist umstritten, vgl. Martin Borowsky, in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006, Art. 51, Rn. 1 ff. 28 Vgl. dazu Siegfried Magiera, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV / EGVKommentar, 2003, Art. 18 Rn. 7 m. w. N. 26 27
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3. Konvergenz der Grundfreiheiten, einschließlich der Unionsbürgerschaft?
Die Rechtsprechung des EuGH hat, wie besonders deutlich die sog. Gebhard-Formel29 zeigt, zu einer Konvergenz der Grundfreiheiten hinsichtlich allgemeiner Elemente geführt. Gerade das Gebhard-Urteil, in dem es um die Abgrenzung zwischen Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit ging, zeigt aber auch, dass die Unterscheidung zwischen den einzelnen Grundfreiheiten nach wie vor von Bedeutung ist.30 Beachtet man die Besonderheiten, lässt sich auch die durch Art. 18 EGV garantierte Freizügigkeit in das allgemeine System der Grundfreiheiten einordnen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber ging davon offenbar bei Erlass der Freizügigkeitsrichtlinie 2004 / 38 / EG aus.
V. Probleme der Unionsbürgerschaft 1. Das Verhältnis von Unionsbürgerschaft und Staatsbürgerschaft a) Das Konzept des Art. 17 Abs. 1 Satz 3 EGV
Art. 17 Abs. 1 Satz 3 EGV stellt klar, dass die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt, aber nicht ersetzt. Damit sollte sicher auch Befürchtungen Rechnung getragen werden, die Mitgliedstaaten würden als solche in einer Europäischen Union aufgehen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Unionsbürgerschaft im MaastrichtUrteil31 und im Darkazanli-Urteil32 mit unterschiedlicher 29 EuGH, Urt. v. 30. 11. 1995, Rs. C-55 / 94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Rn. 37. 30 Dies bestätigt auch die Differenzierung zwischen Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit in der Richtlinie 2006 / 123 / EG (vgl. Art. 9 ff. gegenüber Art. 16 ff.). Vgl. dazu Rudolf Streinz / Stefan Leible, in: Monika Schlachter / Christoph Ohler (Hrsg.), Europäische Dienstleistungsrichtlinie – Handkommentar, 2008, Einleitung, Rn. 2.
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Tendenz gewürdigt. Das Thema ist nicht frei von Emotionen,33 aber auch nicht von manchen Illusionen, und dies in unterschiedlicher Richtung. Die Bedeutung der Staatsangehörigkeit mag durch das moderne Völkerrecht zunehmend relativiert sein.34 Eine Rechtsordnung, deren Organisation in den Vereinten Nationen auf der „souveränen Gleichheit der Staaten“ basiert (vgl. Art. 2 Nr. 1 SVN),35 offenbart auch in der Praxis ihre fortbestehende Bedeutung. Dies gilt ungeachtet besonderer Relativierungen durch die Unionsbürgerschaft auch für die Staatsangehörigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Deutlich zeigt sich dies im Wahlrecht zu den nationalen Parlamenten, aber nicht nur dort. Gemäß der Evolutivklausel36 des Art. 22 EGV ist die Unionsbürgerschaft auf Fortentwicklung angelegt. Auch ohne eine solche Bestimmung sind weder die Unionsbürgerschaft 31 BVerfGE 89, 155 (159 f.): Wiedergabe der Regelung der ex-Art. 8, Art. 8a-8c EGV, jetzt Art. 17, Art. 19 – 21 EGV. 32 BVerfGE 113, 273 (298): „Die Unionsbürgerschaft ist – ungeachtet ihrer sonstigen Bedeutung (vgl. BVerfGE 89, 155 [184]) – ein abgeleiteter und die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit ergänzender Status (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EG); auch Art. I-10 Abs. 1 Satz 2 des Vertrages über eine Verfassung für Europa hält daran fest, wenn er bestimmt, dass die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzutritt, ohne diese zu ersetzen. Dem entsprechend ist auch das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit nicht umfassend angelegt, sondern gilt im Einklang mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur für die vertraglich festgelegten Ziele, insbesondere im Rahmen der Grundfreiheiten. Dies trägt zugleich dazu bei, dass die Mitgliedstaaten ihre auch vom Unionsrecht geschützte nationale Identität bewahren können (Art. 6 Abs. 3 EU), die in der jeweiligen grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Struktur zum Ausdruck kommt (vgl. Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf [Hrsg.], Recht der Europäischen Union, Art. 6 EUV Rn. 78 ff. und Art. I-5 Abs. 1 des Vertrages über eine Verfassung für Europa).“. 33 Vgl. dazu Kokott (Fn. 12), S. 209. 34 Vgl. dazu Kokott (Fn. 12), S. 210. 35 „The Organization is based on the principle of the sovereign equality of all its Members“. 36 Werner Kaufmann-Bühler, in: Carl Otto Lenz / Klaus-Dieter Borchardt (Hrsg.), EU- und EG-Vertrag – Kommentar, 4. Aufl. 2006, Art. 22 EGV, Rn. 1.
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noch die nationale Staatsangehörigkeit statisch. Die Erfahrung mit dem Verfassungskonzept und dem Verfassungsbegriff, die wesentlich zum Scheitern des Verfassungsvertrages jedenfalls in dieser Form beigetragen haben,37 sollte allerdings dazu mahnen, eventuelle Grenzen der Integration zumindest zu bedenken. b) Der Annex zur Staatsbürgerschaft gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EGV
Gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EGV wird die Unionsbürgerschaft durch die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten vermittelt. Dieses Konzept kommt auch in föderativen Staaten vor, z. B. in der Schweizerischen Bundesverfassung oder in der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871,38 ist dort aber selten und basiert auf anderen Voraussetzungen als im Staatenverbund der Europäischen Union. Die Mitgliedstaaten haben die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch andere Mitgliedstaaten grundsätzlich (d. h. wohl abgesehen von offensichtlichen Missbrauchsfällen) zu respektieren und dürfen die Gewährung der Rechte aus Art. 17 ff.EGV nicht von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig machen.39 Dass ein Unionsbürger zusätzlich über die Staatsangehörigkeit eines Nichtmitgliedstaates verfügt, ist dabei unerheblich.40 Die Regelung warf bislang – soweit ersichtlich – nur in besonderen Fällen Probleme auf, nämlich der verfassungsrechtlich ermöglichten 37 Vgl. zur Verfassungsstrategie als ungeeigneter Integrationsmethode z. B. Udo Diedrichs / Wolfgang Wessels, Die Europäische Union in der Verfassungsfalle? Analysen, Entwicklungen und Optionen, integration 2005, S. 288 (291 f.). 38 Vgl. Kokott (Fn. 12), S. 211 f. 39 Erklärung zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates, beigefügt der Schlussakte zum Vertrag von Maastricht (ABl. 1992 Nr. C 191 / 98). Vgl. dazu Haag (Fn. 11), Art. 17 EG, Rn. 8 und Kaufmann-Bühler (Fn. 36), Art. 17, Rn. 2. 40 EuGH, Urt. v. 7. 7. 1992, Rs. C-369 / 90 (Micheletti u. a. / Delegación del Gobierno en Cantabria), Slg. 1992, I-4239, Rn. 10 f.
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generellen doppelten Staatsbürgerschaft41, dem zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich kontroversen Status Gibraltars42 sowie der Geburt eines Kindes von Drittstaatsangehörigen in Nordirland,43 wodurch nach dem ius soli der Republik Irland die irische Staatsbürgerschaft erworben wurde.44 Der Fall Zhu und Chen zeigt aber, dass der EuGH durch erweiternde Interpretation auch Drittstaatsangehörige in den personellen Anwendungsbereich des Art. 18 Abs. 1 EGV bringt.45 Freilich: Dass das Aufenthaltsrecht des Kleinkindes mit irischer Staatsbürgerschaft und dadurch vermittelter Unionsbürgerschaft ohne Aufenthaltsrecht der drittstaatsangehörigen Mutter leer laufen würde, leuchtet an sich irgendwie ein.
41 Vgl. zu dem gemäß Art. 4 der Verfassung der Republik Portugal vom 2. 4. 1976 maßgeblichen Gesetz hinsichtlich Angehörigen von Staaten portugiesischer Sprache (d. h. vor allem Brasilien) mit ständigem Aufenthalt in Portugal José Joaquin Gomes Canotilho / Vital Moreira, Constituicao da República Portuguesa Anotada, Bd. 1, 4. Aufl. 2007, Art. 4, S. 223. Gemäß Art. 11 Abs. 3 Satz 1 der Verfassung des Königreichs Spanien vom 29. 12. 1978 kann der Staat mit den iberoamerikanischen Ländern oder solchen, die durch besondere Beziehungen mit Spanien verbunden waren oder sind, Verträge über doppelte Staatsangehörigkeit schließen. Vgl. dazu EuGH, Rs. C-369 / 90 (Fn. 40), Slg. 1992, I-4239, Rn. 10. 42 Vgl. zu Gibraltar Meinhard Schröder, in: von der Groeben / Schwarze (Fn. 11), Art. 299 EG, Rn. 32. 43 Vgl. EuGH, Urt. v. 19. 10. 2004, Rs. C-200 / 02 (Zhu und Chen), Slg. 2004, I-9925, Rn. 18 ff. 44 Vgl. Art. 2 Satz 1 der Verfassung der Republik Irland vom 1. 7. 1937 i.d.F. vom 24. 6. 2004: „Jede auf der Insel Irland einschließlich ihrer Inseln und Meere geborene Person hat Anspruch und Geburtsrecht darauf, Teil der irischen Nation zu sein.“ Durch ein Referendum vom 11. 6. 2004 wurde diese Bestimmung bei 60 % Beteiligung mit 79% Ja-Stimmen abgeschafft (Argument der Befürworter der Abschaffung: Missbrauch durch „Schwangerschaftstourismus“). 45 Vgl. EuGH, Rs. C-200 / 02 (Fn. 43), Slg. 2004, I-9925, Rn. 42 ff.
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2. Verbleiben besondere Rechte aus den herkömmlichen Grundfreiheiten?
Das allgemeine Freizügigkeitsrecht wirft die Frage auf, ob und inwieweit angesichts des allgemeinen Freizügigkeitsrechts noch „besondere Rechte“ aus den herkömmlichen Grundfreiheiten verbleiben. Was das Aufenthaltsrecht angeht, so bleiben Unterschiede allein hinsichtlich der Vorbehalte bestehen, die einen sog. „Sozialleistungstourismus“ verhindern sollen. Die ökonomischen Grundfreiheiten honorieren insoweit den Beitrag zur Wirtschaft des Aufnahmestaates, was bereits angesichts konkret geleisteter „Beiträge“ zu dessen Sozialversicherungssystemen geboten ist. Vereinzelt in Frage gestellt wurde das Fortbestehen des Instituts der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit, woran der EuGH aber offenbar festhält. Im Übrigen behalten die differenzierenden Grundfreiheiten ungeachtet der Konvergenz in den allgemeinen Elementen ihre jeweils spezifische Bedeutung. 3. Verwässerung des Regelungsvorbehalts in Art. 18 EGV durch den EuGH
Der EuGH hat den Regelungsvorbehalt in Art. 18 EGV nicht nur – dies zu Recht – als Schranke und nicht Bedingung der Freizügigkeit angesehen, sondern zum Teil verwässert und in der Argumentation sogar teilweise ins Gegenteil des vom Gemeinschaftsgesetzgeber offensichtlich Gewollten verkehrt. Aus der Vermeidung einer Belastung „über Gebühr“ wurde gefolgert, dass eine darunter liegende Belastung zumutbar und insoweit der Ausschluss von Sozialleistungen unverhältnismäßig sei. Auch hier zeigt sich, dass beabsichtigte Schranken des Gemeinschaftsrechts klar und möglichst im Primärrecht formuliert werden müssen. Berücksichtigt man bestehende Regelungen wie z. B. das – allerdings seitens mancher Mitgliedstaaten mit erheblichen Vorbehalten versehene – im Rahmen des Europarats geschlossene Europäische Fürsorgeabkommen, die vom EuGH entschiedenen Fälle und die in
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neueren Entscheidungen des EuGH vorgenommenen Präzisierungen, so sollte einerseits die Gefahr eines „Sozialleistungstourismus“ nicht überschätzt, andererseits aber auch gesehen werden, dass es sich hier um ein äußerst sensibles Thema handelt. Wie weit reicht europäische Solidarität wirklich und wie weit soll sie rechtspolitisch vernünftig reichen? 4. Nachvollzug der EuGH-Rechtsprechung im sekundären Gemeinschaftsrecht
Die Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit aus der Unionsbürgerschaft wurde weitgehend in der Freizügigkeitsrichtlinie 2004 / 38 / EG nachvollzogen. In den Erwägungsgründen wird auch der „grundlegende Status“ der Unionsbürgerschaft genannt. 5. Die Unionsbürgerschaft als Element ausgreifenden Gemeinschaftsrechts
Der Fall Bidar hinsichtlich Studienbeihilfen,46 das auf etwas eigenartige Weise im Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon suspendierte Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen des Hochschulzugangs,47 der Fall Garcia Avello, der zu einem Anspruch auf Besserstellung von belgisch-spanischen Doppelstaatern gegenüber Inländern hinsichtlich des Namensrechts führte,48 zuletzt der Fall Turpei46 EuGH, Urt. v. 15. 3. 2005, Rs. C-209 / 03 (Bidar), Slg. 2005, I-2119, Rn. 42. 47 Vgl. EuGH, Urt. v. 7. 7. 2005, Rs. C-147 / 03 (Kommission / Österreich), Slg. 2005, I-5969, Rn. 32 ff. Um die Zustimmung Österreichs zum Vertrag von Lissabon zu erreichen, sicherte Kommissionspräsident Barroso dem österreichischen Bundeskanzler Gusenbauer zu, innerhalb fünf Jahren „Erprobungszeit“ das an sich wegen Nichtbefolgung des Urteils des EuGH gemäß Art. 228 EGV vorgesehene Vertragsverletzungsverfahren auszusetzen, vgl. Die Presse.com v. 28. 11. 2007, abrufbar unter http: //diepresse.com/home/politik/innenpolitik/346223/index.do?from= suche.intern.portal, zuletzt geprüft am 4. 2. 2009.
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nen49 hinsichtlich des Einkommensteuerrechts und der Fall Morgan50 hinsichtlich des BAföG für das Auslandsstudium von Deutschen zeigen, dass das Freizügigkeitsrecht aus der Unionsbürgerschaft zu einem Ausgreifen des Gemeinschaftsrechts und seiner Vorgaben in Materien führt, die „an sich“ in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben sind. Letzteres betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, fügt aber zu Recht gleichzeitig hinzu, dass dies nicht von der Beachtung der Grundfreiheiten entbindet. Insoweit fügt sich die „neue“ Grundfreiheit nur in den Reigen der herkömmlichen ein und stellt keine Besonderheit dar. Dieses Ausgreifen macht aber die für wesentlich gehaltene klare Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Gemeinschaft bzw. Union und den Mitgliedstaaten, wozu im Vertrag von Lissabon im Ansatz Versuche unternommen wurden, begrenzt wirksam. Gerade dieses Kompetenzausgreifen trägt aber im Wesentlichen zu Akzeptanzproblemen der Europäischen Union bei ihren Bürgern bei, da es als undurchschaubar und unberechenbar empfunden wird. Eine zufriedenstellende Lösung wurde hier bislang nicht gefunden. 6. Das Wahlrecht der Unionsbürger
Nur einige Bemerkungen zum Wahlrecht bzw. zu den Wahlrechten der Unionsbürger: a) Wahlrecht zum Europäischen Parlament
Das durch die Unionsbürgerschaft verliehene Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art. 17 Abs. 2, Art. 190 Abs. 1 EGV) führt an sich zu einem Systembruch, solange das Wahlrecht auf die „Völker“ und nicht auf die Bevölkerung der Mit48 Vgl. EuGH, Urt. v. 2. 10. 2003, Rs. C-148 / 02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, Rn. 25, Rn. 31 ff. 49 EuGH, Rs. C-520 / 04 (Fn. 22), Slg. 2006, I-10685, Rn. 24 ff. 50 EuGH, Rs. C-11 / 06 (Fn. 23), Slg. 2007, I-9161, Rn. 22.
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gliedstaaten bezogene Quoten vorsieht (vgl. Art. 189, Art. 190 EGV). Dieser Systembruch kann bei entsprechenden Rahmenbedingungen aus integrationspolitischen Gründen hingenommen werden. Er offenbart aber auch die Probleme bzw. Besonderheiten demokratischer Legitimation im europäischen Staatenverbund. Auch deshalb ist eine zweigleisige demokratische Legitimation über das Europäische Parlament und über die nationalen Parlamente mit entsprechenden Sicherungen geboten, wie sie das Bundesverfassungsgericht im MaastrichtUrteil so schön beschrieben hat51 und wie sie – vielleicht eine späte Genugtuung für das zum Teil zu Recht, in vielen Bereichen aber zu Unrecht kritisierte Bundesverfassungsgericht – der Vertrag von Lissabon betont. Zu diesen Sicherungen gehört zum einen auf Gemeinschafts- bzw. Unionsebene der demographische Faktor bei den Abstimmungen im Rat, den übrigens bereits das bestehende Gemeinschaftsrecht vorsieht (vgl. Art. 205 Abs. 4 EGV), als Kompensation der fehlenden Gleichheit der Wahl zum Europäischen Parlament, zum anderen auf der Ebene der Mitgliedstaaten die Verbesserung der Kontrolle der jeweiligen Vertreter im Rat. Solche Verbesserungen sieht das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon vor, das aber von dessen Inkrafttreten abhängt und somit derzeit nicht nur in Karlsruhe, sondern auch an Irland hängt. Der Vertrag von Lissabon sieht hinsichtlich des Wahlrechts zum Europäischen Parlament eine wesentlich stärkere Fokussierung auf die Unionsbürger vor.52 Tatsächlich wäre mehr Bürgernähe hier aber nur durch eine wirklich europäische Wahlrechtsreform erreichbar.53 51 BVerfGE 89, 155 (182 ff.). Zu kritisieren ist allein, dass das Europäische Parlament lediglich als „Stütze“ und nicht als zweiter Pfeiler beschrieben wird. 52 Vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 EUV n. F.; Art. 20 Abs. 2 lit. b AEUV; Art. 39 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. den Verträgen (EUV und AEUV) rechtlich gleichgestellt wird. 53 Vgl. zu den erfolgten Reformen und zu den gescheiterten Reformbestrebungen Marcel Haag / Roland Bieber, in: von der Groeben / Schwarze (Fn. 11), Art. 190 EG, Rn. 32 ff. Denkbar wäre z. B. eine Kom-
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b) Kommunalwahlrecht
Die Einräumung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger im Aufenthaltsstaat ist verfassungsrechtlich durch Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG legitimiert und begegnet keinen durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hatte dazu im Urteil zum Kommunalwahlrecht für Ausländer im schleswig-holsteinischen und im hamburgischen Recht eine Türe offen gelassen.54 Praktische Probleme, wie spezielle (nationale) Listen für EUAusländer, die der Intention der Integration zuwiderliefen, sind bislang nicht ersichtlich.55 c) Folgen für die politische Betätigung
Der durch das Gemeinschaftsrecht eröffnete Zugang von Unionsbürgern zur politischen Willensbildung in anderen Mitgliedstaaten beschränkt nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auch die durch Art. 16 EMRK vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten bination von Direktwahlkreisen (wobei jeder Mitgliedstaat, also auch Luxemburg und Malta, mindestens einen Wahlkreis bekäme) mit europäischen Listen, die die bisherigen Parteibünde insoweit (partiell) zu europäischen Parteien machen würde. 54 Vgl. BVerfGE 83, 37 (50 ff., 59): „Daraus folgt nicht, daß die derzeit im Bereich der Europäischen Gemeinschaften erörterte Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer nicht Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein kann“. Zum Problem und Streitstand vgl. Michael Nierhaus, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 28, Rn. 25 m. w. N. 55 Zur Realisierung des Regelungsvorbehalts in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EGV vgl. die Richtlinie 94 / 80 / EG des Rates vom 19. 12. 1994 (ABl. 1994 Nr. L 368 / 38), ergänzt durch die Richtlinie 96 / 30 / EG (ABl. 1996 Nr. L 122 / 14). Der Vorbehalt für bestimmte Funktionen wird durch das Primärrecht gedeckt (Magiera, in: Streinz [Fn. 28], Art. 19, Rn. 19 m. w. N. auch zur Gegenansicht) und entspricht dem Funktionsvorbehalt in Art. 39 Abs. 4 EGV (Bürgermeister als Chef der Verwaltung in der süddeutschen Kommunalverfassung). Vgl. dazu Nierhaus (Fn. 54), Art. 28, Rn. 27. Von dieser Beschränkung haben nur Bayern (Art. 39 GKWG) und Sachsen (§ 49 Abs. 1 Satz 1 GO, § 45 LKrO) Gebrauch gemacht.
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für die politische Tätigkeit von Ausländern, soweit diese Unionsbürger sind. 7. Grenzen der Unionsbürgerschaft
In Art. 22 EGV ist die Weiterentwicklung der Rechte aus der Unionsbürgerschaft vorgesehen. Hier werden zum Teil sehr weitgehende Ansätze bis hin zu einem allgemeinen Wahlrecht im Aufenthaltsstaat, auch zu den nationalen Parlamenten, diskutiert, um die völlige Gleichstellung aller Bürger innerhalb der Union zu erreichen. Auch hier sollte aber die Frage nach dem Sinn des „immer enger“, nach dem sinnvollen und den Bürgern vermittelbaren Ausmaß der Integration gestellt werden. Dies ist generell, gerade aber nach dem irischen Referendum zum Vertrag von Lissabon, geboten. Die NeinStimmen waren – abgesehen von notorischen Neinsagern – wohl hauptsächlich weder durch den konkreten Vertrag, der in manchen Kritikpunkten sogar Verbesserungen bringt, noch innenpolitisch motiviert – der politisch angeschlagene Premierminister ist ja vorsichtshalber rechtzeitig zurückgetreten. Hauptmotiv dürfte ein Unbehagen gegenüber einem als unkontrollierbar und unabsehbar empfundenes Ausmaß der europäischen Integration gewesen sein. Und es spricht vieles dafür, dass dies auch in anderen Mitgliedstaaten, so diese ein Referendum zugelassen hätten, ein Risiko für die Annahme des Vertrages von Lissabon gewesen wäre. VI. Fazit Betrachtet man die Praxis der Unionsbürgerschaft 15 Jahre nach ihrer Einführung, so gewinnt man den Eindruck, dass das „Civis Europaeus sum“ nach wie vor hauptsächlich bei den Grundfreiheiten und deren Erweiterung auf die Grundfreiheit ohne Markt zum Tragen kommt und ins Feld geführt wird. Dabei werden viele Folgen der Grundfreiheiten, wie der freie Warenverkehr oder die Abschaffung der Grenzkontrol-
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len, heute als selbstverständlich empfunden und gar nicht mehr als Besonderheit einer Unionsbürgerschaft wahrgenommen. Das Positive wird stillschweigend akzeptiert, erst wenn sich die oft zwangsläufige Kehrseite eines Binnenmarktes als Raum ohne Binnengrenzen zeigt, regt sich Protest.56 Die persönlichen Vorteile der Union werden dem Unionsbürger vor Augen geführt, um ihn für die Union zu gewinnen, und folgerichtig erscheint er insoweit als Bourgeois. Der europäische Citoyen sollte sich eigentlich bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zeigen, doch hier ist eher wenig zu spüren. Wahlen zum Europäischen Parlament werden, wie die geringe Wahlbeteiligung zeigt, in ihrer Bedeutung unterschätzt und sind nach wie vor hauptsächlich von nationalen Themen bestimmt. Dies geht auf die politisch Verantwortlichen zurück, die die Europawahlen selbst entsprechend „zweckentfremden“. Gerade bei jungen, mobilen Menschen, die durch die Unionsbürgerschaft verbesserte Studienbedingungen genießen, zeigt sich aber doch der Unionsbürger als der von Thomas Oppermann dem Marktbürger gegenübergestellte europäische „Bildungsbürger“. Wie weit europäische Solidarität geht, muss sich in Krisenzeiten zeigen. Solidarität hat ja – gerade als finanzielle Solidarität – auch im Bundesstaat ihre Grenzen. Grundsätzlich dürfte aber auf absehbare Zeit der von manchen bereits als überholt angesehene Nationalstaat im Mehrebenensystem der „Identitäten“ die stärkste Identitätsebene bleiben.57 Als Beleg dafür das „Flaggezeigen“ bei „Som56 Vgl. z. B. das Problem von Produktionsverlagerungen, die als solche durch Streiks zu bekämpfen gemeinschaftsrechtswidrig wäre (vgl. EuGH, Urt. v. 11. 12. 2007, Rs. C-438 / 05 [International Transport Workers’ Federation, Finnish Seamen’s Union / Viking Line], Slg. 2007, I-10779; Analyse von Rudolf Streinz, JuS 2008, S. 447) oder das Aufbrechen von Abschottungen durch Berufsregelungen (vgl. EuGH, Urt. v. 21. 4. 2005, Rs. C-140 / 03 (Kommission / Griechenland), Slg. 2005, I-3177– Optiker), sowie das auf Vorlage des VG des Saarlandes anhängige Verfahren hinsichtlich des Mehr- und Fremdbesitzverbotes für Apotheken, EuGH, verb. Rs. C-171 und 172 / 07, ABl. 2007 Nr. C 140 / 11). 57 Vgl. dazu Rudolf Streinz, Die Bedeutung des Nationalstaats im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung, in: Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 1277 (1285 ff.).
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mermärchen“ wie 2006 und – die Wiederholung ist doch erstaunlich – 2008 anzuführen, wäre aber unfair: Denn erstens ist dies eine temporäre Erscheinung; und zweitens werden Welt- und Europameisterschaften zwischen Nationalmannschaften ausgetragen, die „National“spielern auch nach der Rechtsprechung des EuGH vorbehalten bleiben dürfen,58 da die Wettbewerbe, wie schon der Name sagt, zwischen den Nationen ausgetragen werden – andernfalls würden sie ihren Sinn verlieren. Eine solche Nationalmannschaft kann Europa aber nicht haben.
58 EuGH, Urt. v. 15. 12. 1995, Rs. C-415 / 93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 127, 133.
Die Unionsbürgerschaft: Mehr als ein Status des Bourgeois? – Kommentar Von Martin Nettesheim Die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft gehören zu den Bereichen des Unionsrechts, in denen sich gegenwärtig die Integrationsdynamik am stärksten entfaltet.1 Rudolf Streinz hat dies in seinem Beitrag ausführlich dargestellt. Ich möchte mich in diesem kurzen Kommentar darauf beschränken, die Probleme, die sich mit der Rechtsprechung des EuGH zu diesem Institut des Unionsrechts verbinden, herauszustellen. Die Entwicklungen, die sich seit 1993 unter dem Stichwort „Unionsbürgerschaft“ abspielen, lassen sich in verschiedener Weise einordnen: 1. Man kann sie als Erfolgsgeschichte betrachten, die in den Wurzeln eines zunächst auf die Wirtschaft konzentrierten Integrationsprojekts bereits angelegt war und nunmehr ihre Vollendung erfahren hat. Dieser Sichtweise zufolge musste es mit Notwendigkeit zur Aufnahme politisch-konstitutioneller Elemente wie der Unionsbürgerschaft in die Verträge kommen. Der Prozess funktionaler Integration, in den fünfziger Jahren mit einem vorsichtigen Ausgriff in den Bereich des Wirtschaftlichen hinein gestartet, findet mit dem umfassenden Einbezug politischer Elemente danach seine Vollendung. Diese Perspektive liegt wohl auch der Auffassung zugrunde, dass es sich bei der Unionsbürgerschaft um eine „Grundfreiheit ohne Markt“ (Wollenschläger, Streinz) handelt – Begriff 1 Hierzu etwa Thomas Oppermann / Claus D. Classen / Martin Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 17.
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und Konzept stehen aufgrund ihrer engen Anlehnung an den bisherigen Bestand für Kontinuität. Wenn sich die Grundfreiheiten schon bei der Öffnung von Märkten so hervorragend bewährt haben: Wie könnte man Einwände dagegen erheben, diese Form der Steuerung mitgliedstaatlichen Verhaltens nun auszuweiten und auf Bereiche zu erstrecken, die jenseits der Sphäre des Ökonomischen liegen? Es ist dieser Integrationsund Fortschrittsoptimismus, der in weiten Passagen des so ansprechenden Vortrags von Herrn Streinz durchklingt. Die Frage, ob es zwischen einer richterrechtlich vorangetriebenen Öffnung von Märkten und der richterrechtlichen Herstellung von Freiheit und Gleichheit im nicht-ökonomischen Bereich der Gesellschaft nicht relevante Unterschiede gibt, schimmert zwar immer wieder durch, wird aber nicht explizit gestellt. 2. Man kann das Studium der Entwicklung der Unionsbürgerschaft auch aus einer anderen Perspektive betreiben. Ihre Entwicklung erweist sich dann als das Zusammenspiel einer kompromisshaft-zaghaften, eher an Symbolik als an Substanz interessierten Politik mit einem entschlossen ein bestimmtes Integrationsbild durchsetzenden EuGH. Dieses Bild vermittelt sich vor allem dann, wenn man sich die Ausgangslage bei der Einführung der Unionsbürgerschaft nochmals in Erinnerung ruft: Es war spätestens zur Wende der neunten zur zehnten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts überdeutlich geworden, dass sich in der Darstellung und in der Legitimation der drei Gemeinschaften eine Schieflage entwickelt hatte. Die Kompetenzbreite der Gemeinschaften war enorm angewachsen; der politische Selbststand hatte durch eine zunehmende institutionelle Verselbständigung und die Einführung des Mehrheitsprinzips im Rat deutlich zugenommen; die Durchschlagskraft ihres Rechts war unter Anwendung der Prinzipien der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Vorrangs des EG-Rechts groß. Schon in den achtziger Jahren machen sich auf diesem Hintergrund Bestrebungen bemerkbar, den Integrationsprozess ideell („Europa der Bürger“) und rechtlich (Verfassungsentwurf von 1984) auf eine neue Basis zu stellen. In den Verhandlungen über den Vertrag, der dann
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im Februar 1992 in Maastricht unterzeichnet werden sollte, drängte sich die Notwendigkeit, etwas für Bürgernutzen und Bürgernähe, Responsitivität und demokratische Kontrolle zu tun, handgreiflich auf. Nicht zuletzt auf Drängen der damaligen spanischen Ratspräsidentschaft kam es zur Aufnahme der Unionsbürgerschaft in den durch „Maastricht“ geänderten EG-Vertrag. Mustert man auf diesem Hintergrund den Gehalt der Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft, dann ist die Schärfe der Kritik, die etwa Joseph Weiler geäußert hat,2 nur zu berechtigt. Die im Vertrag enthaltenen Bestimmungen über den konsularischen Schutz (Art. 20 EGV), über das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen (Art. 19 Abs. 1 EGV) und zum Europäischen Parlament (Art. 19 Abs. 2 EGV) im jeweiligen Aufenthaltsstaat werden im Leben der ganz überwiegenden Mehrzahl der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger niemals eine Rolle spielen. Selbst das in Art. 18 EGV gewährte Freizügigkeitsrecht wird wohl nur von einer kleinen Minderheit der Bürger je in Anspruch genommen werden. Wenn es denn einen Beleg dafür gibt, dass es den Vertragspartnern mehr um Symbolik als um Substanz ging, findet er sich in Art. 21 EGV. Danach wird den Unionsbürgern das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament gewährt. Ein Blick in Art. 194 EGV verdeutlicht jedoch, dass es sich hier gerade nicht um ein Recht der Unionsbürger handelt, sondern um ein Menschenrecht. Art. 21 EGV ist insofern nicht nur überflüssig, sondern sogar irreführend. Man kann den überschießenden symbolischen Gehalt der Unionsbürgerschaft damit verteidigen, dass mehr und anderes politisch nicht durchsetzbar gewesen sei. Man kann auf den immer schon kompromisshaften Charakter europäischer Vertragsgebung verweisen. Man kann auch geltend machen, dass es schon immer (bewährte) Praxis war, Bestimmungen des 2 Joseph H. H. Weiler, The Selling of Europe: The Discourse of European Citizenship in the IGC 1996, Harvard Jean Monnet Working Paper 3 / 96.
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Vertrags der Europäischen Gerichtsbarkeit zur Fortentwicklung zu überantworten. Gerade das letztgenannte Argument macht allerdings die Fragwürdigkeit eines derartigen Vorgehens deutlich: Entspricht es wirklich der Vorstellung funktionaler Aufgabenverteilung im Prozess der Entwicklung europäischer Integration, wenn eine so zentrale Entscheidung wie diejenige über die Entwicklung einer Bürgerschaft in die Hand der Judikative gelegt wird? Es verwundert nicht, dass der EuGH dieses Angebot angenommen hat. Um rechtliche Konkretisierung handelt es sich bei dieser Aufgabe der Verfassungsentwicklung allerdings nur noch in sehr entferntem Sinne. Die eisige Kritik, die die Rechtsprechung des EuGH etwa bei Kay Hailbronner hervorgerufen hat,3 verwundert vor diesem Hintergrund nicht. Man könnte über das Auseinanderfallen von Symbolik und Inhalt hinwegsehen, wenn es sich nicht hierbei um eine zunehmende Tendenz im politischen Prozess der Vertragsfortschreibung zu handeln schiene. Der in gewisser Weise abenteuerliche Versuch, die greifbaren Meinungsverschiedenheiten über die Fortentwicklung des Integrationsprozesses durch einen „Verfassungsvertrag“ zu überspielen, in dessen einführenden Bestimmungen ganze Kataloge von „Werten“ und „Zielen“ aufgelistet werden, ist – nicht ganz überraschend – von den skeptischen Bürgern in der EU zurückgewiesen worden. Es gibt für das Scheitern dieses Vorhabens sicherlich eine Reihe von Gründen – die Differenz zwischen Symbolik und Inhalt war aber sicherlich nicht der geringgewichtigste. Es wäre zu wünschen, dass man sich im Prozess der Vertragsfortschreibung wieder auf die Substanz konzentriert. Wenn dies bedeutet, dass man in einem bestimmten Bereich keinen Fortschritt erzielen kann, dann ist dies eben hinzunehmen. 3. Man kann der Kritik der Unionsbürgerschaft schließlich noch eine dritte Perspektive zugrunde legen. Mit der Verwendung des Begriffs „Bürgerschaft“ knüpfen die Vertragsgeber 3 Kay Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, S. 2185 ff.
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an ein verfassungstheoretisches Konzept an, das ideengeschichtlich, verfassungsrechtshistorisch und staatstheoretisch imprägniert ist. Auch wenn es dem Vertragsgeber rechtlich möglich ist, sich bei der Bezeichnung unionsrechtlicher Rechtsinstitute von begrifflichen Traditionen abzulösen, diese vielleicht sogar einfach beiseite zu schreiben: Damit gehen politische Irritationen, semantische Folgeprobleme und verfassungstheoretische Gewissheitsverluste einher, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Die Fehlverwendung oder der Missbrauch verfassungstheoretischer Konzepte lösen Irritationen aus, veranlassen zu Kritik oder geben gar Anlass zu offener Zurückweisung. Aus dieser Perspektive kann man sich dem gegenwärtigen Stand der Dogmatik der Unionsbürgerschaft nur mit großer Ambivalenz nähern. Bürgerschaft im Gemeinwesen bedeutet immer ein Doppeltes: Sie umfasst die Freiheit und Gleichheit in der politischen Gemeinschaft, aber darüber hinaus auch die politische Teilhabe an der Ausübung der Hoheitsgewalt, der die Bürger unterworfen werden. Beide Aspekte gehören untrennbar zusammen. Bürgerschaft ohne Freiheit und Gleichheit verdient ihren Namen selbst dann nicht, wenn damit politische Autonomie verbunden ist. Auf der anderen Seite verbleibt der Status des Herrschaftsunterworfenen im Stadium einer bourgeoisen Untertanenstellung, wenn nicht auch eine politische Freisetzung erfolgt. Die von Rudolf Streinz aufgezeigte Entwicklung der Unionsbürgerschaft macht nun anschaulich deutlich, wie sehr sich die mit dem Begriff der Unionsbürgerschaft verbundene Rechtsstellung bislang in einseitiger Weise auf den Aspekt von Freiheit und Gleichheit im Staat konzentriert. Hier hat der EuGH in der Tat Großes geleistet.4 Die rechtliche Integration, die über die Freiheitsgewähr nach Art. 18 EGV und den Anspruch auf Gleichbehandlung nach Art. 18 EGV i. V. m. Art. 12 EGV bewirkt wird, ist eine konsequente und in der Integrationsteleologie 4 Juliane Kokott, Die Freizügigkeit der Unionsbürger als neue Grundfreiheit, in: Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 207 ff.
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angelegte Fortführung des Vergemeinschaftungsprozesses. Wie etwa die Entscheidung „Förster“ vom 18. November 20085 belegt, gelingt es dem EuGH dabei auch, zwischen dem Anliegen rechtlicher Gleichstellung und dem Schutz mitgliedstaatlicher Sozialsysteme einen angemessenen Ausgleich herzustellen. Einen verfassungstheoretischen Gehalt gewinnt die damit verliehene Rechtsstellung allerdings erst dann, wenn man sie nicht mehr als funktional zweckgebunden versteht: Es handelt sich nicht mehr um eine Grundfreiheit, deren Gewährung der Vertragsgeber mit der Erwartung verbindet, dass damit bestimmte jenseits der individuellen Autonomie liegende Zwecke verfolgt werden. Es ist keine Rechtsstellung, in der das „Um-zu“ bereits eingeschrieben ist. Die in Art. 18 EGV angelegten Ansprüche auf Freiheit und Gleichbehandlung werden vielmehr zum Schutz der individuellen Autonomie gewährt – es sind grundrechtliche Gewährleistungen. Inzwischen werden auch erste Konturen erkennbar, welches Verständnis von Freiheit und Gleichheit der EuGH bei einer Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft zugrunde legt.6 Mit Blick auf die Konkretisierung dessen, was die Inhalte und den Bezugspunkt der Ansprüche auf Gleichbehandlung angeht, steht der EuGH dabei vor einer schwierigen Aufgabe. Noch schwieriger wird sich die Aufgabe des EuGH darstellen, wenn er den in der Entscheidung „Garcia Avello“ eingeschlagenen Weg weiter gehen wird und die Unionsbürgerschaft als Anspruch auf Besserstellung interpretiert.7 Bürgerschaft bedeutet nach dem Gesagten aber nicht nur Freiheit und Gleichheit. In der Tat können Bürger nur in einer 5 EuGH, Urt. v. 18. 11. 2008, Rs. C-158 / 07, Förster, noch nicht in der amtl. Sammlung veröffentlicht. 6 Vgl. hierzu Ferdinand Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt – Die Herausbildung der Unionsbürgerschaft im unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime, 2007; Christoph Schönberger, Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht, 2006; Martin Nettesheim, Grundrechtskonzeptionen des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Europarecht 2009, S. 24. 7 EuGH, Rs. C-148 / 02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613.
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statusrechtlich gesicherten Weise ihre politische und zivilrechtliche Rechtsstellung genießen.8 Solange sich mit der Unionsbürgerschaft nicht auch ein substanzielles Maß an politischer Partizipationsmöglichkeit im europäischen Raum verbindet, geht es um nicht mehr als die Freiheit des Bourgeois, vor allem dann um seine materielle Absicherung. Umso mehr ist zu bedauern, dass der EuGH sich in der Dogmatik der Unionsbürgerschaft mit Fragen der politischen Partizipation der Bürger im Prozess der Ausübung von EU-Hoheitsgewalt nicht befasst. Seine Rechtsprechung wirkt auf der Basis der Bestimmungen der Unionsbürgerschaft zwar steuernd auf die Verhältnisse in den Mitgliedstaaten ein. Man kann dies als „Ausbau der nicht-wirtschaftlichen Komponente der Europäischen Union“ bezeichnen.9 Aber eine handgreifliche Leerstelle bleibt im Umfang mit der Unionsbürgerschaft erhalten. Angesichts der weiterhin ungenügenden demokratischen Rückbindung der EU in der europäischen Bürgerschaft, die ungeachtet aller horizontalen Parlamentarisierung des EUEntscheidungsprozesses zu konstatieren ist,10 wiegt dieses Defizit schwer.
8 Albrecht Randelzhofer, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Loseblatt, Art. 16 Abs. 1 Rn. 2. 9 Rudolf Streinz, Vom Marktbürger zum Unionsbürger (in diesem Band), bei Fußnote 16. 10 Oppermann / Classen / Nettesheim (Fn. 1) § 16.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, den USA und Europa als Trägerin einer gemeinsamen Rechtswahrungsaufgabe Von Thomas Giegerich I. Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Gerichtsbarkeit Die Verfassungsstaatlichkeit als bislang erfolgreichster Versuch, politische Macht durch das Recht zu bändigen, findet ihre Krönung in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese entzieht verfassungsrechtliche Streitfragen der politischen Entscheidung demokratischer Mehrheiten und überantwortet sie unabhängigen Gerichten. Verfassungsgerichtsbarkeit ist damit ein politischer Machtfaktor und eine eminent politische Gerichtsbarkeit – die Fortsetzung der Politik mit den geistigen Mitteln der Jurisprudenz. Deshalb ist ihre Autorität stets gefährdet. Mehr als andere Gerichtsbarkeiten lebt sie von den Kardinaltugenden der Klugheit, der Stärke und der Mäßigung. Verfassungsgerichtsbarkeit findet statt in einem magischen Viereck von Selbstermächtigung, Selbstbehauptung, Selbstbeschränkung und Selbstgerechtigkeit. Dies gilt gleichermaßen für nationale und supranationale Verfassungsgerichtsbarkeit, wie ich am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts, des US Supreme Court, des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zeigen möchte.1 Am Ende soll 1 Vgl. auch Christian Tomuschat, Das Bundesverfassungsgericht im Kreise anderer nationaler Verfassungsgerichte, in: Peter Badura / Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht Bd. I (2001), S. 245 ff.
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deutlich werden, dass die effektive Sicherung der Verfassungsstaatlichkeit durch Verfassungsgerichte ein grenzüberschreitendes Anliegen darstellt.
II. Die Begründung von Verfassungsgerichtsfunktionen zwischen Kompetenzzuweisung und Selbstermächtigung 1. Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA: John Marshalls Selbstermächtigung
Im Einklang mit ihrem zweitwichtigsten Ziel („to establish Justice“)2 richtet die Bundesverfassung der USA vom 17. 9. 1787 durch Art. III eine Bundesgerichtsbarkeit ein und garantiert verfassungsunmittelbar ein Oberstes Bundesgericht. Dass die Bundesjudikative auch Verfassungsgerichtsbarkeit ausüben soll, stellt die Vorschrift ebenso ausdrücklich klar wie ihre Zuständigkeit für völkerrechtliche Fragen.3 Darüber hinaus bestimmt Art. VI, Section 2, dass die Bundesverfassung selbst, nach ihrer Maßgabe erlassene Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge der USA dem einzelstaatlichen Recht vorgehen und die einzelstaatlichen Richter binden sollen.4 Schon 1796 2 Dieses Ziel wird in der Präambel der US-Verfassung an zweiter Stelle genannt. 3 Art. III lautet auszugsweise: „Section 1. The judicial Power of the United States, shall be vested in one supreme Court, and in such inferior Courts as the Congress may . . . ordain and establish. The Judges, both of the supreme and inferior Courts, shall hold their Offices during good Behaviour . . . Section 2. The judicial Power shall extend to all Cases . . . arising under this Constitution, the Laws of the United States, and Treaties made, or which shall be made, under their Authority . . . In all Cases affecting Ambassadors, other public Ministers and Consuls, and those in which a State shall be Party, the supreme Court shall have original Jurisdiction. In all the other Cases before mentioned, the supreme Court shall have appellate Jurisdiction . . . with such Exceptions, and under such Regulations as the Congress shall make. . . .“ (abgedruckt z. B. in: Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Aufl. 2001, S. 265 ff.). 4 „This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof; and all Treaties made, or which shall be made,
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entschied der US Supreme Court auf Grund dieser supremacy clause, dass er einzelstaatliche Gesetze am vorrangigen Bundesrecht überprüfen und ggf. verwerfen könne, im konkreten Fall übrigens zugunsten eines vorkonstitutionellen völkerrechtlichen Vertrags der USA.5 Zwei essentielle Fragen beantwortet der Verfassungstext jedoch nicht: ob die Verfassung Vorrang auch vor den Bundesgesetzen haben und ob die Bundesgerichtsbarkeit zuständig sein soll, diese gegebenenfalls zu verwerfen (judicial review).6 Beide Fragen, die materielle und dann aus Effektivitätserwägungen konsequenterweise auch die Kompetenzfrage, bejahte der US Supreme Court 1803 in einer berühmten, von Chief Justice Marshall verfassten Entscheidung im Fall Marbury v. Madison.7 So etablierte sich die dritte Gewalt in den USA als Hüterin der Verfassung gegenüber den beiden anderen gleichgeordneten Gewalten und fügte damit den Schlussstein in das Gewölbe der US-Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese kühne Selbstermächtigung war weder interpretatorisch zwingend, noch blieb sie unangefochten.8 Dass sie sich under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby, any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding.“ 5 Ware v. Hylton, 3 U.S. (3 Dall.) 199 (1796). Vgl. weiter Worcester v. Georgia, 31 U.S. (6 Pet.) 515 (1832), wo ein einzelstaatliches Gesetz zugunsten eines völkerrechtlichen Vertrages mit einem Indianerstamm verworfen wurde – eine Entscheidung, deren Durchsetzung allerdings Schwierigkeiten bereitete (David P. Currie, The Constitution in the Supreme Court: The First Hundred Years 1789 – 1888, 1985, S. 181 ff.). 6 Currie (Fn. 5), S. 72 ff. 7 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803). Siehe bereits die ausführliche Begründung für ein richterliches Prüfungsrecht über Gesetze von Alexander Hamilton im Federalist No. 78. Die Constitutional Convention, die den Verfassungstext schrieb, scheint von einem solchen Prüfungsrecht ausgegangen zu sein, auch wenn sie es nicht ausdrücklich in die Verfassung aufnahm (vgl. Gerald Gunther, Constitutional Law, 12th ed. 1991, S. 14 f.). 8 Vgl. die Diskussion bei Gunther (Fn. 7), 13 ff. Winfried Brugger, Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre Marbury v. Madison, JuS 2003, S. 320 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsgerichtliche Kontrolle in den USA und Europa, JZ 2003, S. 269 ff.
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letztlich durchsetzen und zum weltweiten Vorbild werden konnte, hing auch damit zusammen, dass die bundesgerichtliche Verwerfungskompetenz über Kongressgesetze erst Jahrzehnte später praktisch-politisch relevant zu werden begann.9 Außerdem hat der US Supreme Court im Laufe der Zeit verschiedene Techniken der Selbstbegrenzung entwickelt, die seine Selbstermächtigung den anderen Gewalten gegenüber erträglicher erscheinen lassen: So beantwortet er verfassungsrechtliche Fragen nur, wenn und soweit dies zur Entscheidung eines anhängigen Verfahren unbedingt notwendig ist.10 Auch legt er Gesetze, wo irgend möglich, verfassungskonform aus, um sie weiterhin anwenden zu können.11 Ein Bundesgesetz, das der US Supreme Court für verfassungswidrig erklärt hat, ist keineswegs nichtig, sondern nur unanwendbar, solange die Kollision andauert.12 Ungeachtet dieser Ansätze zum judicial restraint hat es nie an Stimmen aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern gefehlt, die für eine Zurückdrängung der Verfassungsgerichtsbarkeit bis hin zu ihrer gänzlichen Abschaffung plädieren, um der demokratischen politischen Entscheidung (wieder) mehr Freiraum zu schaffen.13 Stets arbeitet der US Supreme Court unter den wachsamen Augen einer kritischen Öffentlichkeit. Seiner Selbstermächtigung im Bereich der horizontalen Gewaltenteilung fügte der US Supreme Court einige Jahre später auf ebenso unsicherer verfassungstextlicher Grundlage eine weitere im Bereich der vertikalen Gewaltenteilung hinzu: 9 Erst nach mehr als fünfzig Jahren machte der US Supreme Court von seiner Verwerfungskompetenz Gebrauch: im berüchtigten Fall Dred Scott v. Sandford (60 U.S. [19 How.] 393 [1857]), in dem er den Missouri Compromise (ein Bundesgesetz von 1820, das die Sklaverei territorial beschränkt hatte) für verfassungswidrig erklärte (Currie [Fn. 5], S. 263 ff.). 10 Erwin Chemerinsky, Constitutional Law, 3. Aufl. 2006, S. 53. 11 Vgl. z. B. Chemerinsky (Fn. 10), S. 269 f. 12 Vgl. Gunther (Fn. 7), S. 28. 13 Vgl. z. B. aus konservativer Sicht Robert H. Bork, The Tempting of America, 1990; aus linksliberaler Sicht Mark Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts (1999), mit Besprechung von Winfried Brugger, Der Staat 39 (2000), S. 135 ff.
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die Befugnis, die Interpretation von Bundesverfassungs- und sonstigem Bundesrecht durch einzelstaatliche Höchstgerichte revidieren zu können.14 Auch diese mit der Wahrung der bundesweiten Rechtseinheit begründete Kassationsbefugnis, mit der der US Supreme Court innerhalb der Judikative das letzte Wort in bundesrechtlichen Fragen für sich in Anspruch nahm, blieb lange Zeit umstritten, ist heute aber etabliert.15 2. Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland: Altständische Traditionen und Rezeptionsansätze 1848 / 49 – 1919 – 1949
In Deutschland reichen die Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit bis zur Gründung des Reichskammergerichts und des Reichshofrats im ausgehenden 15. Jahrhundert zurück. Beide übten nach Maßgabe ihrer jeweiligen Ordnungen auch verfassungsgerichtliche Zuständigkeiten aus.16 Dazu gehörten etwa Streitigkeiten zwischen Reichsunmittelbaren,17 Streitigkeiten von Landständen oder Untertanen mit ihrer reichsunmittelbaren Obrigkeit18 und Klagen von Untertanen wegen Rechtsverweigerung, -verzögerung oder schwerer Verfahrensfehler seitens der Territorialgerichte.19 Mit dem Alten Reich endete zunächst die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland: Das Zeitalter des Konstitutionalismus war nicht bereit, politische 14 Martin v. Hunter’s Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304 (1816); Cohens v. Virginia, 19 U.S. (6 Wheat.) 264 (1821). Currie (Fn. 5), S. 91 ff. 15 S. Gunther (Fn. 7), S. 36 ff. 16 Reichskammergerichtsordnung vom 7. 8. 1495 (in: Arno Buschmann [Hrsg.], Kaiser und Reich [1984], S 172 ff.), später mehrfach geändert. Die letzte Reichshofratsordnung stammt vom 16. 3. 1654 (ibid., S. 403 ff.). 17 Vorläufer des heutigen Zwischenländerstreits (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 2. Var. GG). 18 Vorläufer des heutigen Binnenländerstreits (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 3. Var. GG), teilweise auch der Verfassungsbeschwerde gegen Maßnahmen der Landesgewalt (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). 19 Vorläufer der heutigen Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 Satz 2, 103 Abs. 1 GG.
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Machtfragen von regulären Gerichten entscheiden zu lassen.20 Nach der Reichsverfassung vom 16. 4. 187121 war der Bundesrat berufen, nicht-privatrechtliche Streitigkeiten zwischen Bundesstaaten, subsidiär auch Verfassungsstreitigkeiten in einem Bundesstaat beizulegen sowie Rechtsverweigerungen in einem Bundesstaat abzuhelfen (Art. 76 und 77). Zur Lösung von Streitigkeiten zwischen dem Reich und einem Bundesstaat stand nur die Reichsexekution zur Verfügung (Art. 19). Die deutsche Verfassungsdiskussion im 19. Jahrhundert wurde erheblich von der Verfassungsentwicklung in den USA beeinflusst.22 Das in Abschnitt V (§§ 125 ff.) der Frankfurter Paulskirchenverfassung23 vorgesehene Reichsgericht orientierte sich am Modell des US Supreme Court, sollte – anders als dieser – jedoch kein oberstes Bundesgericht mit umfassender Zuständigkeit für alle bundesrechtlichen Streitigkeiten, sondern ein spezialisiertes Verfassungsgericht zur Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten auf Reichs- und Landesebene sein.24 Geradezu spektakulär erscheint die dem US-Vorbild geschuldete „Verfassungsbeschwerde“ zur Durchsetzung der Grundrechte, die in § 126 Buchst. g der Paulskirchenverfassung eingeführt wurde, aber näherer gesetzlicher 20 Die Art. 3 ff. der später in einen Beschluss der Bundesversammlung des Deutschen Bundes umgegossenen Sechzig Artikel vom 12. 6. 1834 sahen vor, dass verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Regierung und Ständen in den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes durch ein auf Bundesebene einzurichtendes Schiedsgericht zu entscheiden seien (Ernst Rudolf Huber [Hrsg.], Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I [3. Aufl. 1978], S. 137). Vgl. auch den Streit zwischen Bismarck und Rudolf von Gneist um die Durchsetzung der Ministerverantwortlichkeit im preußischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1863 (Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III [3. Aufl. 1988], S. 313). 21 Hans Boldt (Hrsg.), Reich und Länder (1987), S. 456 ff. 22 Hierzu im Einzelnen Helmut Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung (1987); ders., American Constitutionalism and German Constitutional Development, in: Louis Henkin / Albert J. Rosenthal (eds.), Constitutionalism and Rights, 1990, S. 199 ff. 23 Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. 3. 1849 (FRV – in: Boldt [Fn. 21 ], S. 391 ff.). 24 S. im Einzelnen den Zuständigkeitskatalog in § 126 FRV.
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Ausgestaltung überantwortet blieb, zu der es dann nicht kam.25 Klargestellt wurde auch, dass das Reichsgericht befugt ist, Reichsgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Reichsverfassung zu überprüfen.26 Eine moderne Verfassungsgerichtsbarkeit entstand im Deutschland der Weimarer Republik. Die Reichsverfassung vom 11. 8. 191927 legte den Vorrang der Verfassung ebenso ausdrücklich fest wie die Zuständigkeit eines obersten Gerichtshofs des Reiches zur Entscheidung über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht,28 nicht hingegen das richterliche Prüfungsrecht gegenüber förmlichen Reichsgesetzen, das erst durch mutige Entscheidungen des Reichsgerichts seit 1921 praktisch durchgesetzt wurde.29 Soweit dem in Art. 108 WRV vorgesehenen Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich Verfassungsgerichtsbarkeit reichsgesetzlich übertragen wurde, orientierte man sich an der Paulskirchenverfassung und damit indirekt am US-Modell.30 Eine dem US-Vorbild vergleichbare starke Verfassungsgerichtsbarkeit errichtet aber erst das Grundgesetz.31 Neben dem Geltungsvorrang des Verfassungsrechts vor dem einfachen Gesetzesrecht legt es jetzt auch die zu seiner Durchsetzung erforderliche Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts eindeutig fest.32 Ebenso klar statuiert wird die Bindung der Landesverfassungsgerichte an die Karlsruher Auslegungen des Grundgesetzes.33 Steinberger (Fn. 22), 205. § 126 lit. a FRV. S. auch § 80 Satz 2 FRV. 27 In: Boldt (Fn. 21), 490 ff. 28 Art. 13 Abs. 2, 70, 76 WRV. 29 Näher Steinberger (Fn. 22), S. 210 f.; Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (1997), S. 216 ff. 30 Steinberger (Fn. 22), S. 209 f. 31 Zu US-amerikanischen Einflüssen im Einzelnen Marcel Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht (2007), S. 20 ff. 32 Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 31, 93 Abs. 1 Nr. 2, 100 Abs. 1 GG. 33 Art. 100 Abs. 3 GG. 25 26
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Seine ihm dergestalt übertragene Machtfülle mildert das Bundesverfassungsgericht im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes durch eine Reihe von Selbstbegrenzungstechniken: Ähnlich wie der US Supreme Court interpretiert es Gesetze nach Möglichkeit verfassungskonform (d. h. geltungserhaltend). Unter Hinweis auf die Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit beschränkt es sich im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen fachgerichtliche Entscheidungen darauf, Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts zu prüfen.34 Im Interesse der Rechtssicherheit verzichtet das Bundesverfassungsgericht teilweise auf die Nichtigerklärung von Gesetzen, erklärt diese stattdessen für mit dem Grundgesetz unvereinbar und setzt dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung. Mitunter beschränkt es sich auch auf die Feststellung, ein Gesetz sei derzeit noch verfassungsgemäß, und ermuntert den Gesetzgeber, den sich abzeichnenden Verfassungsverstoß von sich aus zu vermeiden (Appellentscheidung).35 3. EuGH und EGMR als europäische Verfassungsgerichte: Selbstermächtigung in der supranationalen Dimension
In der 1. Säule der Europäischen Union wird die Verfassungsgerichtsfunktion für den EG-Vertrag in seiner Eigenschaft als Verfassung der Europäischen Gemeinschaft durch den EuGH ausgeübt.36 Angesichts seiner nach Art. 46 EUV 34 Ernst Benda, in: Ernst Benda / Eckart Klein, Verfassungsprozeßrecht (2. Aufl. 2001), Rn. 651 ff.; Stefan Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), in: Badura / Dreier (Fn. 1), S. 55 ff.; Philip Kunig, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 34 ff. Umfassend Ralf Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006). 35 Näher dazu Eckart Klein, in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 1267 ff. 36 Franz C. Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2003), S. 229 ff.; Lukas Bauer, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht? (2008).
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eingeschränkten Zuständigkeiten für die 2. und 3. Säule der Europäischen Union (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen) kann man den EuGH in Bezug auf die EU insgesamt aber nur als Teil-Verfassungsgericht bezeichnen.37 Der EG-Vertrag bestimmt ausdrücklich den Vorrang des Primärrechts vor dem Sekundärrecht und die Verwerfungskompetenz des EuGH über Sekundärrechtsakte.38 Diese interpretiert der Gerichtshof in richterlicher Selbstbeschränkung zwar nach Möglichkeit primärrechtskonform,39 hat seine Verwerfungskompetenz aber andererseits im Interesse der gemeinschaftsweiten Rechtseinheit zu einem Verwerfungsmonopol fortgebildet. Dementsprechend sind auch unterinstanzliche nationale Gerichte zur Einholung einer Vorabentscheidung nach Art. 234 EGV verpflichtet, wenn sie einen Sekundärrechtsakt für ungültig halten.40 Damit Privaten aus diesem Verwerfungsmonopol kein irreparabler Schaden entstehen kann, gestattet der EuGH den nationalen Gerichten unter strengen Voraussetzungen, vorläufigen Rechtsschutz gegen den Vollzug von Sekundärrechtsakten zu gewähren, bis er deren zweifelhafte Gültigkeit geklärt hat.41 Spezifisch ermächtigt wird der EuGH durch den EG-Vertrag, die Geltung von primärrechtswidrigen Sekundärrechtsakten aus Gründen der Rechtssicherheit vorübergehend aufrechtzuerhalten.42 37 Vgl. Matthias Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht (3. Aufl. 2007), S. 37 ff. Wenn der Vertrag von Lissabon vom 13. 12. 2007 (ABl. Nr. C 306) in Kraft tritt, wird er dem nur in Bezug auf die derzeitige 3. Säule abhelfen, deren Materien dann voll der Gerichtsbarkeit des EuGH unterstehen, während die derzeitige 2. Säule ein im wesentlichen gerichtsfreier Raum bleibt (Art. 275 AEUV). 38 Art. 230, 231, 234 Abs. 1 lit. b EGV. 39 Vgl. z. B. EuGH, Slg. 2007, I-8075 (Rs. C-457 / 05 – Schutzverband der Spirituosen-Industrie), Rn. 22. 40 EuGH, Slg. 1987, 4199 (Rs. 314 / 85 – Foto-Frost). 41 EuGH, Slg. 1991, I-415 (Rs. C-143 / 88 u. a. – Zuckerfabrik Süderdithmarschen); Slg. 1995, I-3761 (Rs. C-465 / 93 – Atlanta III). 42 Art. 231 Abs. 2 EGV, der u. a. auf Richtlinien analog angewendet wird (EuGH, Slg. 1992, I-4193 Rn. 26 [Rs. C-295 / 90]).
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Im EG-Vertrag fehlt die in der US-Verfassung vorhandene eindeutige Aussage zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht und dementsprechend auch zur diesbezüglichen richterlichen Verwerfungskompetenz. Wenig überraschend hat der EuGH beide Fragen integrationsfreundlich beantwortet: Gemeinschaftsrecht genieße Anwendungsvorrang vor nationalem Recht jedweder Ebene, und die nationalen Gerichte seien verpflichtet, diesen durchzusetzen, indem sie im Einzelfall gemeinschaftsrechtswidrige nationale Rechtsnormen unangewendet ließen.43 Der Gerichtshof übt die Verwerfungskompetenz über nationales Recht also nicht selbst aus, sondern nimmt hierfür die Gerichte der Mitgliedstaaten in Anspruch, die dann in einer Art Organleihe europäische Verfassungsgerichtsbarkeit wahrnehmen. Derzeit noch ungeklärt und umstritten ist die Frage, ob die mitgliedstaatlichen Gerichte eine nationale Regelung stets ab dem Zeitpunkt, an dem ihre Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eintritt, unangewendet lassen müssen oder ob sie dem nationalen Gesetzgeber aus Gründen der Rechtssicherheit eine Übergangsfrist zur Anpassung einräumen und die gemeinschaftsrechtswidrige nationale Vorschrift einstweilen weiter anwenden können.44 Anders als der US Supreme Court musste sich der EuGH nicht seine verfassungsgerichtliche Funktion gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber auf der horizontalen Gewaltenteilungsachse selbst zuweisen. Erkämpfen musste er aber den Vorrang des EG-Rechts gegenüber dem nationalen Recht und die daran anknüpfende verfassungsgerichtliche Funktion der nationalen Gerichte als „ordentliche Gemeinschaftsgerichte“ gegenüber den nationalen Gesetzgebern, also die Gewährleistung spezifisch bundesverfassungsgerichtlicher Funktionen in der vertikalen Achse des quasi-föderalen Koordinatensystems 43 EuGH, Slg. 1964, 1251 (Rs. 6 / 64 – Costa . / . ENEL); Slg. 1970, 1125 (Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft); Slg. 1978, 629 (Rs. 106 / 77 – Simmenthal II). 44 Vgl. nur Dirk Ehlers / Anke Eggert, Zur Zulässigkeit einer zeitlich begrenzten weiteren Anwendung gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Rechts, JZ 2008, S. 585 ff.
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der EG. Bei der Ausübung dieser bundesverfassungsgerichtlichen Funktion sind die nationalen Gerichte nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EGV gehalten, nationale Gesetze möglichst gemeinschaftsrechtskonform auszulegen.45 Trotz dieser Unterschiede ist die im jeweiligen Verfassungsdokument angelegte Selbstermächtigung der beiden Gerichte im Grundansatz vergleichbar,46 auch was ihre Akzeptanz durch die politischen Gewalten betrifft.47 Der EGMR übt nur auf einem allerdings wichtigen Teilgebiet europäische Verfassungsgerichtsbarkeit aus, indem er subsidiär48 für den Schutz der in der EMRK als europäischer Teilverfassung gewährleisteten Menschenrechte gegenüber den Vertragsstaaten sorgt. Er ist gewissermaßen der europäische „Grundrechtssenat“, bleibt allerdings auf die Feststellung von Konventionsverletzungen beschränkt.49 Nur begrenzt hat der EGMR seine Verfassungsgerichtsfunktion selbst ausgeweitet. Beispiele sind selten gemachte leistungsurteilsähnliche Vorgaben für die Beseitigung einer Konventionsverletzung (z. B. die Freilassung eines Inhaftierten)50 und das Insti45 Rudolf Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV (2003), Art. 10 EGV Rn. 16. 46 Vgl. zu Unterschieden auch Werner Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit – 200 Jahre Marbury v. Madison, Der Staat 42 (2003), S. 281 ff.; Michel Rosenfeld, Comparing constitutional review by the European Court of Justice and the U.S. Supreme Court, International Journal of Constitutional Law 4 (2006), S. 618 ff. Aus politologischer Sicht Marcus Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten: Der Europäische Gerichtshof im Vergleich zum U.S. Supreme Court (2008). 47 Während der gescheiterte Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29. 10. 2004 (ABl. Nr. C 310) den Vorrang des Unionsrechts in Art. I-6 ausdrücklich kodifizieren wollte, schweigt der Vertrag von Lissabon (Fn. 37) zwar. Doch hat die Regierungskonferenz ihrer Schlussakte eine zustimmende „Erklärung zum Vorrang“ beigefügt (ABl. 2007 Nr. C 310 / 256). 48 Nach Art. 35 Abs. 1 EMRK ist die Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe Zulässigkeitsvoraussetzung einer Individualbeschwerde. 49 Hans-Joachim Cremer, Entscheidung und Entscheidungswirkung, in: Rainer Grote / Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG (2006), Kap. 32 Rn. 32.
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tut des „Piloturteils“, in dem die Große Kammer einen Konventionsstaat zur Beseitigung struktureller Defizite verpflichtet, die eine Vielzahl gleichgelagerter Individualbeschwerden auslösen.51 Dogmatisch nicht leicht zu begründen, beruht die Piloturteilstechnik politisch auf Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats.52
III. Funktion und Status der Verfassungsgerichtsbarkeit: Selbstbehauptung gegenüber den politischen Gewalten 1. Verfassungsgerichtsfunktion als Aufgabe der allgemeinen Gerichtsbarkeit oder einer Spezialgerichtsbarkeit
In den USA wird die Verfassungsgerichtsbarkeit nach englischem Vorbild von der ordentlichen Gerichtsbarkeit dezentral mit wahrgenommen, während sie in Deutschland – im Anschluss an das österreichische Modell Hans Kelsens – einem eigenständigen Verfassungsgericht übertragen worden ist.53 Dies erlaubt dem Bundesverfassungsgericht eine Spezialisierung und Konzentration auf Verfassungsstreitigkeiten mit der Folge, dass es rein quantitativ wesentlich mehr verfassungsrechtliche Fragen beantworten und damit größeren Ein50 Vgl. z. B. Ziff. 14 a des Entscheidungstenors im Urteil vom 8. 4. 2004 (Assanidze v. Georgia [Nr. 71503 / 01]), ECHR 2004-II = EuGRZ 2004, 268; Ziff. 22 des Entscheidungstenors im Urteil vom 8. 7. 2004 (Ilas¸cu et al. v. Moldova and Russia [Nr. 48787 / 99]), ECHR 2004-VII = NJW 2005, 1849. 51 Marten Breuer, Das Recht auf Individualbeschwerde zum EGMR im Spannungsfeld zwischen Subsidiarität und Einzelfallgerechtigkeit, EuGRZ 2008, S. 121 ff. 52 Stefanie Schmahl, Piloturteile des EGMR als Mittel der Verfahrensbeschleunigung, EuGRZ 2008, S. 369 (373, 377 ff.). 53 Im Unterschied zum Kelsen’schen Vorbild ist das BVerfG den deutschen Fachgerichten vorgeordnet, während der österreichische Verfassungsgerichtshof in einem Gleichordnungsverhältnis zu den übrigen Gerichten steht (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, NJW 1999, S. 9 [13]).
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fluss auf den politischen Entscheidungsprozess gewinnen kann. Demgegenüber übt der US Supreme Court für die USA die Funktionen des deutschen Bundesverfassungsgerichts und aller obersten Bundesgerichte gemeinsam aus. Dies macht ihn zum Lenker des gesamten Rechtslebens auf der Bundesebene und gibt ihm Dank des Vorrangs des Bundesrechts erheblichen Einfluss auch auf das einzelstaatliche Recht. Ähnlich dem US Supreme Court fungiert der EuGH als oberstes Bundesgericht im umfassenden Sinne, während der EGMR als auf den Grundrechtsschutz spezialisiertes Teil-Verfassungsgericht in gewissem Sinne dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts ähnelt. 2. Verfassungsorganstellung des Bundesverfassungsgerichts v. Court-Packing Plan in den USA
Das Bundesverfassungsgericht musste in seinen Anfangsjahren um seinen verfassungsrechtlichen Status kämpfen, von dem konkrete Rechtsfolgen abhängen, insbesondere in Bezug auf die Geschäftsordnungsautonomie, aber auch die Budget-, Verwaltungs- und die Personalhoheit.54 Dass es in seiner Status-Denkschrift vom Sommer 1952 den Anspruch erhob, nicht nur ein Gericht, sondern ein eigenständiges Verfassungsorgan zu sein,55 erklärt sich mit der damaligen politischen Atmosphäre. In der erbitterten Auseinandersetzung um die deutsche Wiederbewaffnung versuchten Regierung wie Opposition, das Gericht für ihre Zwecke zu funktionalisieren.56 In dieser Lage kam es dem Bundesverfassungsgericht darauf an, seine Ebenbürtigkeit mit den politischen Gewalten zu dokumentieren. Seine Verfassungsorganstellung steht inzwischen längst außer Streit, auch wenn sie im Grundgesetz selbst nicht Benda, in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 100, 104. Die Status-Denkschrift findet sich im JöR NF 6 (1957), S. 110 ff. Vgl. auch Benda, in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 103 ff. 56 Thomas Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß (2003), S. 1241 ff. 54 55
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ausdrücklich festgeschrieben ist, sondern sich nur aus § 1 Abs. 1 BVerfGG erschließen lässt. Die Frage, ob und inwieweit dieser Status den verfassungsändernden Gesetzgeber daran hindern könnte, das Gericht abzuschaffen oder seine Jurisdiktion zu stark zu beschneiden, ist hierzulande glücklicherweise nur von theoretischem Interesse. Es spricht viel dafür, dass eine funktionsfähige Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Schutz von Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 GG steht.57 Soweit ersichtlich, wird in den USA der Status des US Supreme Court als „Verfassungsorgan“ nicht näher diskutiert. Man stuft die Bundesgerichtsbarkeit insgesamt als eine der drei coequal branches of government ein. Der US Supreme Court wird als einziges Bundesgericht durch die Verfassung selbst eingerichtet und mit bestimmten verfassungsunmittelbaren Kompetenzen ausgestattet.58 Seine Gleichrangigkeit mit dem Kongress und dem Präsidenten zeigt sich auch daran, dass der Chief Justice dem Präsidenten den Amtseid abnimmt59 und in Amtsenthebungsverfahren (impeachment) gegen den Präsidenten dem zur Sachentscheidung berufenen Senat vorsitzt.60 Im Federalist No. 78 bezeichnete Alexander Hamilton die Judikative als diejenige Gewalt, die den in der Verfassung verankerten politischen Rechten am wenigsten gefährlich werden könne.61 Denn anders als die Exekutive und die Legislative verfüge sie weder über Zwangsgewalt noch Gestaltungswillen, sondern lediglich über Urteilsfähigkeit. Zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen sei sie auf die Hilfe der Exekutive angeSo Benda in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 101. Art. III, Sections 1 und 2 US-Verfassung. Vgl. noch unten VI. 2. a). zur gesetzgeberischen Zugangskontrolle. 59 Vgl. Art. II, Section 1, Clause 8 US-Verfassung, wo nicht geregelt ist, wem gegenüber der Präsidenten seinen Eid ablegen muss. 60 Art. I, Section 3, Clause 6 US-Verfassung. 61 Vgl. Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch: The Supreme Court at the Bar of Politics (2. Aufl. 1986). 57 58
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wiesen. In der Tat hängt die Autorität des US Supreme Court letztlich davon ab, ob die politischen Gewalten glauben, sich über seine Entscheidungen hinwegsetzen zu können, ohne dafür vom Wähler „bestraft“ zu werden. Ein solcher Glaube war zumindest in der Anfangsphase der USA durchaus noch erkennbar.62 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Autorität des Gerichts aber so unangefochten gewesen, dass die politische Macht selbst kontroverse oder unliebsame Entscheidungen akzeptiert und notfalls durchgesetzt hat.63 Wie gefährdet diese Autorität jedoch stets bleibt, zeigt ein Rückblick auf die dreißiger Jahre, als es zu einer ernsten Machtprobe zwischen Politik und Justiz kam. Damals mähten die „apokalyptischen Reiter“ auf der Richterbank etliche populäre New Deal-Gesetze nieder, mit denen die Roosevelt-Administration die Wirtschaftskrise überwinden wollte. Nachdem Präsident F. D. Roosevelt 1936 mit großer Mehrheit wiedergewählt worden war, drohte er damit, die Richterzahl durch eine Gesetzesänderung von 9 auf 15 zu erhöhen, um die Mehrheitsverhältnisse auf der Richterbank zugunsten seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen zu verändern. Dieser sogenannte „Court-packing plan“ 62 Vgl. den (legendenhaft überlieferten) Ausspruch von Präsident Andrew Jackson zur Entscheidung Worcester v. Georgia (31 U.S. [6 Pet.] 515 [1832]): „John Marshall has made his decision. Now let him enforce it.“ (Gunther [Fn. 7], 25). S.o. Fn. 5. 63 Insbesondere Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer, 343 U.S. 579 (1952) – Verbot der Beschlagnahme von Stahlwerken durch den Präsidenten zur Abwendung eines Streiks während des Korea-Krieges; Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954) und 349 U.S. 294 (1955) – Verbot der Rassentrennung in Schulen und seine Durchsetzung; U.S. v. Nixon, 418 U.S. 683 (1974) – Verpflichtung des Präsidenten zur Übergabe von Tonbändern an Watergate Special Prosecutor; Bush v. Gore, 531 U.S. 98 (2000), wo eine Fünfermehrheit letztlich über den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2000 entschied; Boumediene v. Bush, 553 U.S. – (2008) – ausländische „illegale Kombattanten“, die außerhalb des Territoriums der USA in Guantánamo (Kuba) gefangen gehalten werden, stehen unter dem Schutz des verfassungsrechtlichen „Privilege of the Writ of Habeas Corpus“ (deutsche Übersetzung in EuGRZ 2008, S. 505 ff. mit Anmerkung von Maierhöfer, ebd., S. 449 ff.).
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von 1937 wurde letztlich abgewendet, weil der US Supreme Court seine Rechtsprechung zugunsten der New Deal-Politik änderte: „A switch in time that saved nine“.64 Mag auch die Richtermehrheit in ihrem Eifer, eine Modernisierung der Wirtschafts- und Sozialordnung zu verhindern, zu weit gegangen sein, so war doch der politische Druck auf das Gericht rechtsstaatlich bedenklich. Seine schnelle Wirkung zeigt allerdings auch, dass eine Mehrheit der Justices die Gefahr für die eigene Autorität schließlich erkannte. Der EG-Vertrag zählt den EuGH zwar neben dem Europäischen Parlament, dem Rat, der Kommission und dem Rechnungshof zu den Gemeinschaftsorganen.65 Statusmäßig völlig gleichberechtigt ist er indessen nicht, verfügt er doch – anders als das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission,66 aber vergleichbar mit dem Rechnungshof67 – nicht über die Geschäftsordnungsautonomie. Vielmehr bedarf er für den Erlass seiner Verfahrensordnung der Genehmigung des Rates, der mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.68 Während die Geschäftsordnungsautonomie des EGMR demgegenüber feststeht,69 wird seine Autonomie dadurch geschmälert, dass er hinsichtlich seines Budgets und seines Personals vom Europarat abhängt.70 64 Currie (Fn. 5), 205 ff.; William H. Rehnquist, The Supreme Court (1987), 215 ff.; Marcel Kau, Roosevelts Court-Packing Plan von 1937 und seine Folgen, JöR NF 56 (2008), 599 ff. 65 Art. 7 Abs. 1 EGV. Vgl. auch Christian Kohler, Zur institutionellen Stellung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 2003, S. 117 ff. 66 Art. 199 Abs. 1, 207 Abs. 3, 218 Abs. 2 EGV. 67 Art. 248 Abs. 4, letzter Unterabsatz EGV. 68 Art. 223 Abs. 6 EGV. Dabei wird es auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon bleiben (Art. 253 Abs. 6 AEUV i. V. m. Art. 16 Abs. 3 EUV n. F.). 69 Art. 26 lit. d EMRK. 70 Näher dazu Norbert Paul Engel, Status, Ausstattung und Personalhoheit des Inter-Amerikanischen und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EuGRZ 2003, S. 122 (131 f.); ders., Unabhängigkeit des EGMR als Voraussetzung für den Beitritt der EU zur EMRK, EuGRZ
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3. Allgemeinverbindliche Letztinterpretation der Verfassung?
Das Bundesverfassungsgericht besitzt die Kompetenz zur allgemeinverbindlichen Letztinterpretation des Grundgesetzes. Denn seine Entscheidungen binden nach § 31 BVerfGG alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden und haben teilweise sogar Gesetzeskraft.71 Während sich die Gesetzeskraft auf den Entscheidungssatz beschränkt, erfasst die Bindungswirkung auch die tragenden Gründe von Sachentscheidungen72 und macht das Bundesverfassungsgericht im wahrsten Sinne des Wortes zum „Hüter der Verfassung“. Im Verfassungs- und Gesetzesrecht der USA fehlen entsprechende Vorschriften. Dort sind nach den Common-lawRegeln über die Präjudizienbindung zwar alle nachgeordneten Gerichte an die ratio decidendi (d. h. die tragenden Gründe) der Entscheidungen des US Supreme Court gebunden, nicht aber die Exekutive oder die Legislative, soweit sie nicht als Parteien im konkreten Verfahren beteiligt waren. Auch diesen coequal branches of government gegenüber hat der US Supreme Court zwar für sich die Funktion eines Letztinterpreten der Verfassung in Anspruch genommen, ist damit allerdings auf Widerspruch gestoßen, ohne dass es zur offenen Missachtung konkreter Entscheidungen gekommen wäre.73 Die Rechtssicherheit verlangt, dass jedenfalls Urteile, die man nicht plausiblerweise als durch tatsächliche oder rechtliche Entwicklungen überholt ansehen kann, vom Präsidenten und vom Kongress beachtet werden, selbst wenn sie ihnen inhaltlich nicht überzeugend erscheinen.74 2003, S. 388. Abweichend Maud de Boer-Buquicchio, Klarstellung zum Status des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seiner Beziehungen zum Europarat, EuGRZ 2003, S. 561 ff. 71 Klein, in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 1309 ff. Die Ermächtigung zu dieser Regelung ergibt sich aus Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG. 72 Ebd., Rn. 1323 ff. 73 Die klarste Stellungnahme, die allerdings ihrerseits nur den Charakter eines obiter dictum hat, findet sich in Cooper v. Aaron (358 U.S. 1 [1958]). Näher Gunther (Fn. 7), S. 21 ff.; Chemerinsky (Fn. 10), S. 28 ff.
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Aus der umfassenden Übertragung der Rechtswahrungsaufgabe (Art. 220 EGV) auf den EuGH, der Pflicht letztinstanzlicher nationaler Gerichte zur Vorlage an ihn (Art. 234 Abs. 3 EGV) und seiner ausschließlichen Zuständigkeit zur Entscheidung von Streitigkeiten der Mitgliedstaaten über die Auslegung oder Anwendung des EG-Vertrags (Art. 292 EGV) lässt sich ableiten, dass ihm die Funktion eines Letztinterpreten des EG-Vertrags zusteht. Darüber hinaus nimmt der EuGH auch die Kompetenz zur letztverbindlichen Fortbildung der Gemeinschaftsverfassung für sich in Anspruch.75 Anderenfalls ließe sich weder die Autonomie des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem Völkerrecht und dem Recht der Mitgliedstaaten noch der Status des EG-Vertrages als grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft wahren.76 Auch wäre sonst die gemeinschaftsweite Rechtseinheit gerade im Hinblick auf das Primärrecht77 ebenso gefährdet wie die Gleichheit der Mitgliedstaaten und der Unionsbürger vor der Gemeinschaftsverfassung. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dem EuGH diese Letztzuständigkeit abgesprochen.78 Seither geht in Europa das Gespenst des „ausbrechenden Rechtsakts“ um, d. h. eines Rechtsakts eines Gemeinschaftsorgans, den der EuGH zwar für mit dem EG-Vertrag vereinbar erklärt hat, das Bundesverfassungsgericht dann aber auf Grund eines engeren Verständnisses dieses Vertrages für kompetenzwidrig und deshalb 74 Vgl. das Bekenntnis: „We are not final because we are infallible, but we are infallible only because we are final.“ (Brown v. Allen, 344 U.S. 443, 540 [1953] – Jackson, J. concurring). 75 Vgl. etwa EuGH, Slg. 1996, I-1029 (Rn. 24 ff.) (verb. Rs. C-46 / 93 u. a. – Brasserie du Pêcheur). 76 Vgl. EuGH, Slg. 1991, I-6077 (Rn. 21) (Gutachten 1 / 91 – EWR I). 77 Zum Grunderfordernis der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung vgl. etwa EuGH, Slg. 1996, I-1029 (Rn. 33) (verb. Rs. C-46 / 93 u. a. – Brasserie du Pêcheur). 78 BVerfGE 89, 155 (188, 210) – unter Berufung auf BVerfGE 58, 1 (30 f.); 75, 223 (235, 242). Auch die Höchstgerichte einiger anderer Mitgliedstaaten haben sich ein gewisses Letztentscheidungsrecht vorbehalten (näher Mayer in: Bogdandy [Fn. 36 ], S. 248 ff.).
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in Deutschland unanwendbar hält. Der EG-Vertrag kennt ein solches Gespenst natürlich nicht, aber ebenso wenig das Grundgesetz, das die EU als rechtsstaatliche Einrichtung versteht (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Diese Rechtsstaatlichkeit stände auf dem Spiel, wenn nationale Höchstgerichte den EGVertrag für ihren Jurisdiktionsbereich abweichend vom EuGH auslegen könnten.79 Steht dem EuGH demnach die Kompetenz zur Letztinterpretation des EG-Vertrags zu, so sind seine Entscheidungen nicht im förmlichen Sinne allgemeinverbindlich, sondern nur für die Parteien des konkreten Verfahrens und in Vorabentscheidungsverfahren für die mit dem konkreten Ausgangsrechtsstreit befassten Gerichte. Doch verlangt die Rechtssicherheit ähnlich wie bei Urteilen des US Supreme Court, dass die anderen Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten alle nicht offensichtlich überholten EuGH-Entscheidungen beachten. Auch der EGMR ist zur letztverbindlichen Auslegung der EMRK und ihrer Protokolle berufen. Ansonsten könnte er seine Aufgabe, die Einhaltung der von den Hohen Vertragsparteien übernommenen Menschenrechtsverpflichtungen sicherzustellen,80 nicht erfüllen. Die Entscheidungen des EGMR binden zwar kraft ausdrücklicher Regelung nur denjenigen Konventionsstaat förmlich, der in der konkreten Rechtssache Partei ist (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Diese und vergleichbare Bestimmungen für andere internationale Gerichte81 sollen zwar eine Präjudizienbindung im Sinne des common law ausschließen. Dessen ungeachtet setzt sich die Erkenntnis immer mehr durch, dass den EGMR-Entscheidungen über den Einzelfall hinaus eine normative Leitfunktion zukommt: Die Konventionsrechte sind in allen Mitgliedstaaten im Lichte der Giegerich (Fn. 56), S. 694 ff. Art. 19 EMRK. 81 Vgl. entsprechend Art. 59 IGH-Statut; Art. 33 des Statuts des Internationalen Seegerichtshofs in der Anlage VI zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1982 (BGBl. 1994 II S. 1799). 79 80
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Straßburger Rechtsprechung auszulegen und anzuwenden, jedenfalls solange angenommen werden muss, dass sie der Gerichtshof auch in zukünftigen Fällen ebenso interpretieren wird und deshalb nur eine Beachtung seiner Rechtsprechung weitere Konventionsverletzungen zu verhindern vermag.82 Dementsprechend verweist auch die Charta der Grundrechte der EU, soweit sie Konventionsrechte rezipiert, in ihrer Präambel ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EGMR.83 Wen sollte es verwundern, dass das Gespenst des „ausbrechenden Rechtsakts“ vereinzelt auch schon in Straßburg gesichtet wurde, so vor einigen Jahren vom Bundesverwaltungsgericht.84 Doch bestätigt hat sich diese Sichtung bisher nie. 4. Vollstreckung von Entscheidungen
Unterstrichen wird die Funktion des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“ durch seine Herrschaft über die Vollstreckung seiner Entscheidungen (§ 35 BVerfGG).85 Auch seine Vollstreckungsanordnungen erschöpfen sich indes in der Macht des Wortes; echte Zwangsmittel kann ihm letztlich nur die Exekutive zur Verfügung stellen. Ebenso kann der US Supreme Court Anweisungen zur praktischen Umsetzung seiner Entscheidungen erteilen,86 doch bleibt er ebenfalls auf die Unterstützung der Exekutive angewiesen, falls Widerstände zu überwinden sind. Die berühmte Entscheidung gegen die Rassentrennung in den Schulen musste die Regierung Eisenhower in den Südstaaten mit Hilfe der Bundesarmee zwangsweise durchsetzen.87 82 Jörg Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (1993), 279 ff.; BVerwGE 110, 203 (210 ff.); BVerfGE 111, 307 (319 ff.). 83 ABl. 2000 Nr. C 364 / 1; Neufassung im Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon in ABl. 2007 Nr. C 303 / 1. 84 BVerwGE 104, 265. 85 Klein, in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 1349 ff. 86 Berühmtes Beispiel: Brown v. Board of Education, 349 U.S. 294 (1955).
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Eine Vollstreckung von EuGH-Entscheidungen im eigentlichen Sinn ist nur insoweit vorgesehen, als sie Zahlungen auferlegen, freilich auch dann nicht gegenüber Staaten.88 Im Übrigen sorgen Kommission und EuGH gemeinsam mittels Pauschalbeträgen und Zwangsgelds für die Durchsetzung von im Vertragsverletzungsverfahren ergangenen Entscheidungen gegenüber den Mitgliedstaaten.89 Eine Durchsetzung der Verpflichtung von Organen aus Urteilen, die im Nichtigkeitsklage- oder Untätigkeitsklageverfahren ergangen sind, sieht der Vertrag nicht vor, sondern vertraut auf deren appellative Autorität.90 Die Sachurteile des EGMR stellen Konventionsverletzungen verbindlich fest. Es ist regelmäßig Sache des verurteilten Vertragsstaats, daraus die notwendigen Folgerungen in eigener Verantwortung zu ziehen.91 Die Durchführung der Urteile zu überwachen, obliegt derzeit allein dem Ministerkomitee des Europarats.92 Diesem stehen politische Druckmittel zur Verfügung, die bis hin zum Europarats-Ausschluss eines Konventionsstaats reichen, der die Befolgung Straßburger Urteile systematisch boykottiert.93 Durch das noch nicht in Kraft geCooper v. Aaron, 358 U.S. 1 (1958). Art. 244, 256 EGV. 89 Art. 228 Abs. 2 EGV. Vgl. z. B. EuGH, Slg. 2005, I-6263 (Rs. C-304 / 02 – Kommission / Frankreich). 90 Art. 233 EGV. 91 S.o. Text bei Fn. 49 ff. (auch zum Piloturteilsverfahren); s. auch Claudia Mahler / Norman Weiß, Die EMRK und nationales Recht: Deutschland – eine Spurensuche / Österreich – ein Königsweg, in: dies. (Hrsg.), Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, 2004, S. 148 ff. 92 Art. 46 Abs. 2 EMRK. Vgl. EGMR, Haase u. a. . / . Deutschland, Entsch. v. 12. 2. 2008, Nr. 34499 / 04: Der EGMR sei nicht zuständig zu entscheiden, ob eine Vertragspartei ihre Verpflichtungen aus einer seiner früheren Entscheidungen erfüllt hat. 93 Art. 3, 7 und 8 der Satzung des Europarats (Sartorius II Nr. 110). Vgl. Georg Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die Grenzen seiner Judikatur, in: Meinhard Hilf / Jörn Axel Kämmerer / Doris König (Hrsg.), Höchste Gerichte an ihren Grenzen (2007), S. 55 (58 f.). 87 88
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tretene Protokoll Nr. 14 zur EMRK soll ein Verfahren eingeführt werden, in dem der EGMR auf Antrag des Ministerkomitees verbindlich feststellt, ob ein Vertragsstaat seiner Verpflichtung zur Durchführung eines Urteils nachgekommen ist. Verneinendenfalls ist das Ministerkomitee berufen, die „zu treffenden Maßnahmen“ zu prüfen.94 Da Verfassungsgerichte über keine eigene Zwangsgewalt verfügen, sind sie auf Anerkennung seitens der politischen Machthaber angewiesen. Dies gilt für die übernationalen Gerichte in besonderem Maße. Ihr stärkster Verbündeter ist dabei die öffentliche Meinung. 5. Wirksamkeit in der Öffentlichkeit als Machtsicherung
In seiner Öffentlichkeitswirksamkeit ist der US Supreme Court den drei anderen Gerichten um Längen voraus. Er trifft alle seine Sachentscheidungen nach einer öffentlichen mündlichen Verhandlung. Auch außerhalb der Juristenzunft sind die Institution und die einzelnen Richterpersönlichkeiten einer breiteren Öffentlichkeit in den USA bekannt. Ein Besuch des pompösen neoklassischen Gerichtsgebäudes gehört zum Standardprogramm für Touristen in Washington, D.C. Der US Supreme Court ist Gegenstand einer ganzen Reihe populärwissenschaftlicher Bücher geworden, die sich intensiv auch mit dem internen Funktionieren und den Arbeitsbeziehungen der Justices untereinander befassen.95 Über einzelne Richterpersönlichkeiten gibt es Dutzende von Büchern. Außerdem 94 Vgl. die neuen Absätze 3 – 5 von Art. 46 EMRK, die durch Art. 16 des Protokolls Nr. 14 vom 13. 5. 2004 (BGBl. 2006 II S. 138) angefügt werden. Das Inkrafttreten des Protokoll Nr. 14 hängt allein noch von seiner Ratifikation durch Russland ab. 95 Vgl. nur Bob Woodward / Scott Armstrong, The Brethren: Inside the Supreme Court (1979); Rehnquist (Fn. 64); David G. Savage, Turning Right: The Making of the Rehnquist Supreme Court (1992); Edward Lazarus, Closed Chambers: The First Eyewitness Account of the Epic Struggles inside the Supreme Court (1998); Jeffrey Toobin, The Nine: Inside the Secret World of the Supreme Court (2007).
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haben etliche Justices Memoiren verfasst, teilweise noch während ihrer Amtszeit.96 Demgegenüber kennt die politisch interessierte Öffentlichkeit in Deutschland zwar das Bundesverfassungsgericht, kaum jedoch seine einzelnen Richter und schon gar nicht sein geheimnisumwittertes internes Funktionieren. Besuchergruppen in Karlsruhe bestehen typischerweise aus Fachjuristen oder Jurastudenten. Der allgemeine Tourismus hat das ziemlich unspektakuläre Gerichtsgebäude im Schlossbezirk noch nicht entdeckt. Auch die im Vergleich mit dem US Supreme Court wenigen mündlichen Verhandlungen locken neben Medienvertretern nur die interessierte Fachwelt an.97 Neuerdings veranstaltet das Bundesverfassungsgericht „Tage der offenen Tür“, um sich der Allgemeinheit näher zu bringen, und wird es in Büchern beschrieben, die für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt sind.98 Für den EuGH trifft die berühmte Charakterisierung von Eric Stein – „Tucked away in the fairyland Duchy of Luxemburg . . .“ heute nicht mehr in gleicher Schärfe zu.99 Mit der Zunahme und thematischen Ausweitung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf viele juristische Kernmaterien ist der Luxemburger Gerichtshof heute viel stärker ins Bewusstsein nicht nur der Juristen, sondern auch der Allgemeinheit gerückt, häufig freilich im Sinne negativer, mitunter geradezu verzerrender, Publizität.100 Trotzdem bleibt er abgeschlagen 96 Z. B. Sandra Day O’Connor / H. Alan Day, Lazy B: Growing Up on a Cattle Ranch in the American Southwest, 2002, und Clarence Thomas, My Grandfather’s Son, 2007. 97 Rüdiger Zuck, Wie bürgernah ist das Bundesverfassungsgericht?, DÖV 2008, S. 322 (326). 98 Z. B. Jutta Limbach, Das Bundesverfassungsgericht (2001); Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (2004). 99 Eric Stein, Lawyers, Judges, and the Making of a Transnational Constitution, American Journal of International Law 75 (1981), S. 1. 100 Vgl. nur Roman Herzog / Lüder Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 9. 2008, S. 8 und
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hinter dem US Supreme Court und dem Bundesverfassungsgericht zurück. Für den EGMR gilt dies in noch stärkerem Maße, weil seine Entscheidungen gerade in Deutschland selbst im juristischen Alltag auch aus sprachlichen Gründen nur sehr allmählich zur Kenntnis genommen werden. Als nationale Hoffnungsträger taugen supranationale und internationale Gerichte ohnehin von vornherein nicht.
IV. Die personale Komponente: Richterzahl, Richterwahl und Amtsdauer 1. Gerichtsorganisation und Rechtsprechungsdivergenzen
In der personalen Struktur bestehen signifikante Unterschiede zwischen dem einen US Supreme Court mit neun Justices und dem aus zwei Senaten bestehenden Bundesverfassungsgericht mit insgesamt 16 Richtern. Die Zwillingsstruktur des Karlsruher Gerichts kann Gefahren für die Einheitlichkeit der Verfassungsrechtsprechung begründen, denen § 16 BVerfGG durch die Einrichtung des Plenums zu begegnen versucht. Ein horror pleni ist freilich unverkennbar.101 Ein gewisses Auseinanderdriften der deutschen Verfassungsrechtsprechung hängt auch mit der so genannten „Kammermusik“ zusammen: Zahlreiche Nichtannahmebeschlüsse der insgesamt sechs Kammern und eine nicht unbeträchtliche Zahl von stattgebenden Kammerentscheidungen enthalten teils eingehende Begründungen.102 Da sie jeweils nur von drei dazu meinen Leserbrief (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 9. 2008, S. 8). 101 Der spektakulärste Fall betraf die Einstufung eines ungewollten Kindes „als Schaden“. Der Erste Senat wehrte hier einen Präjudizierungsversuch des Zweiten Senats (BVerfGE 88, 203 [296]) ohne Anrufung des Plenums ab (BVerfGE 96, 375). Benda, in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 151 f. 102 Kritisch zur „Kammermusik“ z. B. Franz-Wilhelm Dollinger, in: Dieter C. Umbach / Thomas Clemens / Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz (2. Aufl. 2005), § 15a Rn. 26 ff. Positiver
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Richtern gezeichnet und in der Praxis maßgeblich von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erarbeitet werden, lassen sich Divergenzen und Ungereimtheiten nicht ausschließen, ja nicht einmal effektiv kontrollieren. Die Fülle der Kammerbeschlüsse neben den Senatsentscheidungen103 macht die deutsche Verfassungsrechtsprechung unübersichtlich und lässt Abweichungen in der Argumentation, wenngleich nicht im Ergebnis erkennen.104 Dies gilt in noch weit stärkerem Maße für die beiden europäischen Verfassungsgerichte, mit ihren 27 (EuGH) bzw. 47 (EGMR) Richtern, deren Rechtsprechung von einer Vielzahl unterschiedlich zusammengesetzter Kammern getragen wird und von den jeweiligen Großen Kammern mit 13 (EuGH) bzw. 17 Richtern (EGMR) nur mühsam zusammengehalten werden kann. Der EGMR hat daher bereits 2001 das Amt des Jurisconsult eingeführt, um die Kohärenz und Qualität seiner Rechtsprechung zu sichern.105 In der Luxemburger Gemeinschaftsgerichtsbarkeit kommt die Einführung eines Instanzenzuges mit Gerichtlichen Kammern (Art. 225a EGV) und dem Gericht erster Instanz (Art. 225 EGV) erschwerend hinzu. In den USA wird ein Fall vom Plenum des US Supreme Court entweder mit einem unbegründeten Beschluss nicht zur Entscheidung angenommen oder mit einem begründeten Urteil entschieden. Die jährlich ungefähr achtzig Endurteile, von denen längst nicht alle verfassungsrechtliche Fragen betreffen, sind leichter überschaubar als die Fülle der Karlsruher Rechtsprechung. Die Übersichtlichkeit der VerfassungsrechtspreRenate Jaeger, Erfahrungen mit Entlastungsmaßnahmen zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2003, S. 149 (150 f.). 103 Von 1951 bis 2006 sind 6783 Senatsentscheidungen und 133.831 Kammerbeschlüsse ergangen (http: //www.bundesverfassungsgericht.de/ organisation/organisation.htm [8. 10. 2008]). 104 Georg Hermes, Senat und Kammern, in: Badura / Dreier (Fn. 1), S. 725 (731 ff.). 105 Martina Keller, 50 Jahre danach: Rechtsschutzeffektivität trotz Beschwerdeflut?, EuGRZ 2008, S. 359 (367 f.).
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chung wird in den USA jedoch auf andere Weise in Frage gestellt, die gewisse Parallelen zu den Luxemburger Verhältnissen aufweist: Auch die unteren Bundesgerichte üben dort Bundesverfassungsgerichtsbarkeit aus und haben wegen der restriktiven Annahmepraxis des US Supreme Court in vielen Fällen für lange Zeit das letzte Wort. Dies gilt in deutlich stärkerem Maße als in Deutschland, wo Aussagen der Fachgerichte zu verfassungsrechtlichen Streitfragen meistens zumindest in einen begründeten Nichtannahmebeschluss einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts münden. Eine herausgehobene Rolle spielen wegen der örtlichen Zuständigkeit der US Court of Appeals for the District of Columbia Circuit und der ihm im Rechtszug vorgelagerte US District Court for the District of Columbia. 2. Amtsdauer und Amtsverständnis: Unabhängigkeit und Selbstgerechtigkeit
Die US-Verfassungsrechtsprechung wird auch dadurch unübersichtlich, dass die Urteile des US Supreme Court in viel stärkerem Maße zersplittert sind als die Karlsruher Senatsentscheidungen. Denn zustimmende und abweichende Sondervoten kommen in den USA weitaus häufiger vor als hierzulande. Dies hängt mit dem Amtsverständnis der Justices zusammen, das wiederum auf der Ausgestaltung ihrer Stellung beruht: Die einzelne Richterpersönlichkeit tritt in den USA viel stärker hervor als bei uns, nicht zuletzt weil sie eine echte Lebenszeitstellung innehat. Einmal ernannt, bleibt ein Justice bis zum Tode oder freiwilligen Ausscheiden im Amt. Daher sind Amtszeiten von zwei oder gar drei Jahrzehnten keine Seltenheit. Der derzeit dienstälteste Richter Stevens, Jahrgang 1920, vollendet 2008 sein 33. Dienstjahr. Wie in Deutschland, und übrigens auch in Luxemburg und Straßburg,106 spielt das Amtsenthebungsverfahren (impeachment) in den USA praktisch keine Rolle.107 Umgekehrt stärkt die im Vergleich zu 106
Art. 6 des Protokolls über die Satzung des EuGH; Art. 24 EMRK.
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Karlsruhe größere personelle Kontinuität im US Supreme Court die Kontinuität im richterlichen Grundansatz. Die einzelnen Justices verstehen sich nicht selten als Vertreter einer bestimmten geistigen Grundhaltung, zu deren durchaus offensiver Repräsentation in der (Verfassungs-) Rechtsprechung sie sich beauftragt glauben. In Deutschland beträgt die Amtsdauer der Richter des Bundesverfassungsgerichts höchstens zwölf Jahre (§ 4 BVerfGG), und der dadurch bedingte häufigere personelle Wechsel erschwert die Bildung von Kontinuitätslinien in der Rechtsprechung. Andererseits sehen sich die Karlsruher Richterinnen und Richter in erster Linie als Mitglieder eines Gesamtorgans und nehmen ihre Persönlichkeit typischerweise stärker zurück als ihre Kolleginnen und Kollegen in Washington. Im Gegensatz sowohl zu den USA als auch zu Deutschland dauert die Amtsperiode der Richter an den beiden europäischen Verfassungsgerichten nur sechs Jahren und ist beliebig oft verlängerbar.108 Augenscheinlich sollen die Luxemburger und Straßburger Richter relativ schnell austauschbar sein, damit sie von vornherein keine Richterherrschaft ausbilden können. Da die jeweilige nationale Regierung entscheidenden Einfluss auf die Kandidatenauswahl hat,109 besteht die Gefahr, dass Richter bei der Entscheidungsfindung auf die Erwartungen „ihrer“ Regierung schielen, um ihre Wiederernennung zu sichern, oder sogar von dieser unter Druck gesetzt werden können.110 Der Vertrag von Lissabon ändert daran für die EU nichts Wesentliches.111 Demgegenüber legt das noch nicht in Kraft getretene Protokoll Nr. 14 zur EMRK die Amtszeit der Straßburger Richter auf einmalig neun Jahre fest.112 107 Vgl. aber William H. Rehnquist, Grand Inquests: The Historic Impeachments of Justice Samuel Chase and President Andrew Johnson (1992). 108 Art. 223 Abs. 1, 4 EGV; Art. 23 Abs. 1 EMRK. 109 Art. 223 Abs. 1 EGV; Art. 22 EMRK. 110 Vgl. Engel (Fn. 70), S. 129 f. 111 Art. 253 Abs. 1 AEUV.
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Durch dieses Wiederernennungsverfahren begründete Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit sind für den EGMR ernster als für den EuGH. Denn anders als in Luxemburg nimmt in Straßburg der juge national an der Entscheidung aller Beschwerden gegen seinen Heimatstaat teil und hat zudem das Recht, ein Sondervotum abzugeben.113 3. Transparenz und Ideologieabwehr bei der Richterwahl
Das Richterwahlverfahren läuft in den USA und Deutschland sehr unterschiedlich ab. Hierzulande ist eine Zweidrittelmehrheit im Wahlausschuss des Bundestages oder im Bundesrat notwendig.114 Praktisch teilen die beiden großen Parteien die Sitze untereinander auf und stimmen die Kandidatinnen und Kandidaten im Vorfeld vertraulich miteinander ab – ein ausgesprochen intransparentes und im Hinblick auf Art. 33 Abs. 2 GG zweifelhaftes Verfahren.115 Immerhin hält das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit Personen, die ideologisch zu exponiert scheinen, aus Karlsruhe fern. In den USA werden Kandidaten für Richterpositionen am US Supreme Court vom Präsidenten nominiert und mit Zustimmung einer einfachen Mehrheit im Senat ernannt.116 Daher kann der Präsident u.U. prononcierten Vertretern seiner Ideologie in ein Jahrzehnte währendes einflussreiches Amt verhelfen. Eine gewisse Kontrollmöglichkeit verbleibt der BGBl. 2006 II S. 138 (140). Art. 27 Abs. 2, 45 Abs. 2 EMRK. 114 Art. 94 Abs. 1 GG, §§ 5 ff. BVerfGG. 115 Näher Uwe Kischel, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III (3. Aufl. 2005), § 69 Rn. 21 ff. Die öffentliche Diskussion um den Kollegen Horst Dreier als Kandidaten für die Nachfolge des (Vize-)Präsidenten des BVerfG bestätigt als Ausnahme die Regel (vgl. Patrick Bahners, Im Zweifel gegen Dreier, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 4. 2008, S. 37). 116 Art. II, Section 2, Clause 2 US-Verfassung. Näher Norman Dorsen, The selection of U.S. Supreme Court justices, International Journal of Constitutional Law 4 (2006), S. 652 ff. 112 113
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Minderheit durch das sog. Filibuster, mit der sie eine Schlussabstimmung im Senat durch endlose Fortsetzung der Debatte verhindern kann, solange sich nicht 60 von 100 Stimmen für ein Debattenende (cloture) aussprechen. Unabhängig von dieser „Notbremse“ hat es Fälle gegeben, in denen Kandidaten des Präsidenten von der Mehrheit des Senats wegen zu extremer Auffassungen abgelehnt wurden.117 Im Übrigen haben nicht wenige Justices die ideologischen Erwartungen „ihrer“ Präsidenten im Sinne einer wahren, inneren richterlichen Unabhängigkeit enttäuscht.118 Demgegenüber ist das US-Wahlverfahren transparenter als das deutsche: Es schließt eine öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss und ggf. eine Debatte im Plenum des Senats ein.119 Das Wahlverfahren für die Richter des EGMR hat sich dem US-Modell angenähert. Für den Straßburger Gerichtshof muss jede Vertragspartei drei Kandidaten vorschlagen, aus denen die Parlamentarische Versammlung des Europarats dann mit einfacher Mehrheit einen auswählt,120 und zwar seit einigen Jahren nach öffentlicher Anhörung der Kandidaten. Schon mehrfach hat die Parlamentarische Versammlung derartige Listen insgesamt zurückgewiesen, wenn ihrer Ansicht nach keine der Personen die notwendigen Qualifikationen hatte.121 117 Robert H. Bork im Jahre 1987 (näher Kischel, in: Isensee / Kirchhof [Fn. 115] Rn. 42). Manche Kandidaten haben bei Schwierigkeiten im Bestätigungsverfahren den Präsidenten von sich aus um die Benennung einer anderen Person gebeten (z. B. Douglas H. Ginsburg 1987 und Harriet Miers 2005). 118 Das berühmteste Beispiel ist der überaus liberal-aktivistische Chief Justice Earl Warren, den der konservative Präsident Eisenhower nominiert hatte, was er später als „the biggest damned-fool mistake I ever made“ bezeichnete (Woodward / Armstrong [Fn. 95], S. 5). 119 Letzteres z. B. im Fall des Kandidaten Robert H. Bork. 120 Art. 22 EMRK. 121 Vgl. Gutachten des EGMR vom 12. 2. 2008 nach Art. 47 EMRK „on certain legal questions concerning the lists of candidates submitted with a view to the election of judges to the European Court of Human Rights“, ILM 2008, S. 518 – 541, wonach die Parlamentarische Versammlung eine
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Im Gegensatz dazu ist das Auswahlverfahren für die EuGH-Richter und Generalanwälte ausgesprochen exekutivlastig und intransparent. Die Regierung jedes Mitgliedstaats schlägt eine Person vor, der die anderen Regierungen dann zustimmen.122 In Deutschland wird das Vorschlagsrecht von der Bundesregierung ausgeübt, und diese bindet die Positionen des deutschen EuGH-Richters und des deutschen Generalanwalts nicht selten in koalitionspolitisch ausgehandelte Personalpakete ein. In der Praxis hat dies dazu geführt, dass die Amtsinhaber häufig schon nach nur einer Amtsperiode ausgewechselt werden, was den deutschen Einfluss auf die Rechtsprechung des EuGH schwächt. Im Zusammenhang mit der Ratifikation des Vertrages von Lissabon ist das Richterwahlgesetz dahingehend geändert worden, dass die Bundesregierung ihr Vorschlagsrecht zukünftig im Einvernehmen mit dem Richterwahlausschuss nach Art. 95 Abs. 2 GG auszuüben hat.123 Das gibt den 16 Landesjustizministern und einer gleichen Zahl von Bundestagsabgeordneten Mitspracherechte, mindert ein wenig die Exekutivlastigkeit des Auswahlverfahrens, erhöht dessen Transparenz hingegen kaum.
V. Methodenstreit und Kunst der Selbstbeschränkung: Bloße Interpretation oder Fortentwicklung der Verfassung? Das Kernproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Demokratie wird gern als counter-majoritarian difficulty bezeichnet:124 Eine kleine Gruppe elitärer und politisch nicht verantwortlicher Lebenszeitrichter zieht dem Willen der poliListe nicht allein deshalb zurückweisen darf, weil sich darauf keine Kandidatin findet. 122 Vgl. Art. 223 Abs. 1, 2. Halbsatz EGV. 123 Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (BT-Drs. 16 / 8489 vom 11. 3. 2008) – noch nicht in Kraft. 124 Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch (1962), S. 18.
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tischen Mehrheit Grenzen anhand eines „kurzen und unklaren“ Verfassungstexts. Nicht wenige gediegene Verfassungsstaaten entschärfen dieses Problem dadurch, dass sie eine richterliche Prüfung von Parlamentsgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit von vornherein ausschließen.125 Seine Dimension hängt im Übrigen von der Methode des Verfassungsgerichts ab: Unterwirft es sich bei der Interpretation dem (mutmaßlichen) Willen des historischen Verfassungsgebers, oder setzt es sich darüber hinweg? Beschränkt es sich auf die Interpretation, oder glaubt es sich zur Fortbildung der Verfassung auch über die Wortlautgrenze hinaus berufen? Im Disput zwischen den Anhängern der statischen und der dynamisch-evolutiven Interpretation bzw. Fortbildung der Verfassung spielt die Schwierigkeit der Verfassungsänderung eine doppelvalente Rolle: Je höher die von der verfassungsändernden Gewalt zu überwindenden Hürden sind, desto größer wird einerseits die Versuchung, ja im Interesse der Verfassungseffektivität geradezu die Notwendigkeit des dynamisch-evolutiven Ansatzes. Andererseits wächst damit zugleich seine Problematik und mindert sich seine Legitimität, weil die verfassungsändernde Gewalt richterrechtliche Verfassungsumdeutungen kaum mehr reparieren kann. Umgekehrt kann man einem verfassungsgerichtlichen Aktivismus die Notwendigkeit und Legitimität umso eher absprechen, je leichter der verfassungsändernde Gesetzgeber für Korrekturen dysfunktionaler Verfassungsbestimmungen sorgen kann.126 125 Z. B. Großbritannien (mit Ausnahme der sog. declaration of incompatibility nach dem Human Rights Act 1998), Niederlande, Schweiz (in Bezug auf Bundesgesetze). Während der französische Conseil Constitutionnel die Verfassungsmäßigkeit von Parlamentsgesetzen bisher nur vor ihrer Verkündung und nur auf Antrag oberster Staatsorgane prüfen konnte, gibt die Verfassungsreform vom 23. 7. 2008 nunmehr dem Conseil d’Etat und der Cour de Cassation die Möglichkeit, bei ihm eine Vorabentscheidung über die Vereinbarkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes mit den Grundrechten einzuholen, wenn eine Partei diese bestreitet (neuer Art. 61 – 1) – näher Federico Fabbrini, Kelsen in Paris: France’s Constitutional Reform and the Introduction of A Posteriori Constitutional Review of Legislation, German Law Journal Vol. 09 / No. 10, S. 1297 ff.
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Der US Supreme Court sieht sich nicht gehindert, den „kurzen und unklaren“ über 200-jährigen Verfassungstext dynamisch-evolutiv zu ergänzen. Wichtigstes neueres Beispiel ist das right to privacy mit seinen Folgen insbesondere in Bezug auf Sexualität und Schwangerschaftsabbruch.127 Eine allgemeine und verbindliche Festlegung seiner Methodik sucht man in dieser Rechtsprechung jedoch vergebens. Beim US Supreme Court herrscht der für Verfassungsgerichte typische pragmatische Methodensynkretismus, stehen sie doch alle unter dem Zwang, mit ihren weittragenden Entscheidungen „vernünftige“ Ergebnisse zu produzieren. Das fällt ohne starres methodisches Korsett leichter. Einzelne Justices haben zur Methodenfrage jedoch immer wieder dezidiert Stellung bezogen. Zwei große Denkrichtungen lassen sich unterscheiden: originalism einerseits und nonoriginalism andererseits. Die originalists verstehen die Verfassung als historisches Dokument, dessen Interpretation durch die Vorstellungen der Gründungsväter bestimmt werde. Ihre Fortentwicklung über den Verständnishorizont des späten 18. Jahrhunderts hinaus sei der verfassungsändernden Gewalt vorbehalten.128 Demgegenüber gehen die nonoriginalists von einer living constitution aus, die sich unter den heutigen Herausforderungen bewähren müsse und daher nach dem Verständnishorizont der Gegenwart auszulegen sei.129 126 In diesem Sinne etwa Hans-Peter Schneider, Herr oder Hüter des Grundgesetzes? Das Bundesverfassungsgericht als eigenständiger Akteur im Verfassungsleben, in: Andreas Fischer-Lescano u. a. (Hrsg.), Frieden in Freiheit. FS Michael Bothe (2008), S. 1019 ff. 127 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965) – Grundrecht auf Empfängnisverhütung; Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973) – Grundrecht auf Abtreibung; Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558 (2003) – Grundrecht Erwachsener auf private homosexuelle Betätigung. 128 Insbesondere die Richter Scalia (Antonin Scalia, A Matter of Interpretation: Federal Courts and the Law [1997]) und Thomas sind dezidierte originalists. Demgegenüber zählen Chief Justice Marshall (McCulloch v. Maryland, 17 U.S. [4 Wheat.] 316, 407, 415 [1819]) und Justice Robert Jackson (Sondervotum zu Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer, 343 U.S. 579, 592 [1952]) zu den nonoriginalists.
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Die originalists versuchen, sich dem Montesquieu’schen Ideal des Richters als Subsumtionsautomat ohne eigenen Wertungsinput130 anzunähern und dadurch zu verhindern, dass demokratisch nur schwach legitimierte und politisch nicht verantwortliche Richter der Mehrheit des Volkes ihre subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen aufzwingen können. Demgegenüber wenden sich die nonoriginalists dagegen, die Verfassung auf dem Niveau der Entstehungszeit einzufrieren und damit allmählich obsolet werden zu lassen. Wenn man z. B. das Verbot der grausamen und ungewöhnlichen Strafen im VIIIth Amendment immer noch nach den aus heutiger Sicht archaischen Vorstellungen des späten 18. Jahrhunderts interpretieren würde, liefe es praktisch leer. Deshalb zieht die Richtermehrheit des US Supreme Court gerade zur Interpretation dieses Verfassungszusatzartikels seit Jahrzehnten die sich entwickelnden Anstandsnormen heran, wie sie den Fortschritt einer heranreifenden Gesellschaft kennzeichnen.131 Zwar haben die nonoriginalists, die sich teilweise auch als progressivists verstehen, noch keine sichere Methode gefunden, um richterliche Beliebigkeit im Umgang mit dem Verfassungstext zu vermeiden. Dennoch verfolgen sie m. E. den ehrlicheren Ansatz, während die originalists ihre eigenen Wertungen zum Teil unbewusst in die Entstehungszeit zurückprojizieren, zumal die mehr als zweihundertjährige Geschichte vieler Verfassungsbestimmungen häufig keine eindeutige Antwort auf eine aktuelle Interpretationsfrage auswirft.132 Chemerinsky (Fn. 10), S. 15 ff. De l’Esprit des lois, livre XI, chapitre VI. 131 Trop v. Dulles, 356 U.S. 86, 101 (1958) – plurality opinion. Jüngst bestätigt in Kennedy v. Louisiana (554 U.S. – [2008] unter II.). Vgl. Thomas Giegerich, Richtermacht und Todesstrafe in den USA, EuGRZ 1995, S. 1 ff. 132 Zur Erforschung der Quellen des XIVth Amendment von 1868 bemerkte die berühmte Entscheidung Brown v. Board of Education (347 U.S. 483 [1954]): „At best, they are inconclusive“. In District of Columbia v. Heller (554 U.S. – [2008]) ziehen die Fünfermehrheit und die Viererminderheit diametral entgegengesetzte Schlüsse aus der Entstehungsgeschichte des Second Amendment von 1791. 129 130
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Das Bundesverfassungsgericht bevorzugt seit jeher die teleologische Interpretation des Grundgesetzes und führt entstehungsgeschichtliche Argumente in der Regel nur unterstützend ins Feld.133 Darüber hinaus nimmt es die Befugnis zur dynamischen Verfassungsfortbildung in Anspruch und hat auf dieser Grundlage z. B. die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung134 und Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme135 kreiert. Mit dem stillschweigenden Einverständnis der politisch Verantwortlichen hat der EuGH maßgeblich daran mitgewirkt, aus den Anlagen im EG-Vertrag den heutigen Integrationszustand zu entwickeln.136 Sosehr man über einzelne seiner Rechtsfortbildungen streiten mag:137 Im Hinblick auf die außerordentlich hohen Hürden für Vertragsänderungen138 ist und bleibt der schöpferische Beitrag des EuGH für den praktischen Erfolg der europäischen Integration unerlässlich. Deshalb sind auch Vorstöße, seine Kompetenzen zu beschneiden, politisch erfolglos geblieben.139 Der EGMR betrachtet die EMRK in ständiger Rechtsprechung als „lebendiges Instrument“, das im Lichte der gegenwärtigen Verhältnisse auszulegen ist.140 Angesichts der sich ändernden Gefährdungen und der Schwierigkeit, neue Kon133 Vgl. Peter Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: Badura / Dreier (Fn. 1), S. 333 (356 ff.). 134 BVerfGE 65, 1. 135 BVerfGE 120, 274. 136 Giegerich (Fn. 56), S. 1051 ff. 137 Vgl. z. B. den kritischen Überblick von Philipp Dobler, Legitimation und Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH, in: Günter H. Roth / Peter Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten (2008), S. 509 ff. 138 Art. 48 EUV: Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. 139 Vgl. Giegerich (Fn. 56), S. 717 ff. 140 Vgl. nur EGMR, Selmouni . / . Frankreich, ECHR 1999-V, Rn. 101 = NJW 2001, 56.
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ventionsrechte auf dem „regulären“ Weg über ein Zusatzprotokoll einzuführen, lässt sich nur auf dieser Weise verhindern, dass die Konvention an Effektivität einbüßt. Wesentlicher Argumentationstopos des EGMR ist es, dass die Konvention nicht theoretische und illusorische, sondern praktische und effektive Rechtsgarantien verbürgt.141 Im Übrigen spielt die historische Interpretation bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge ganz allgemein nur eine untergeordnete Rolle, schon weil ihre Entstehungsgeschichte häufig mit größerer Unsicherheit behaftet ist.142 VI. Jurisdiktionsbreite und Zugangskontrolle: (Selbst-)Schutz vor Überlastung 1. Kontradiktorische Streitigkeiten und Gutachten
Die verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts sind wesentlich breiter als diejenigen des US Supreme Court. Letzterer ist, wie alle anderen Bundesgerichte in den USA, auf die Entscheidung konkreter kontradiktorischer Streitigkeiten beschränkt.143 Demgegenüber erstreckt sich die Jurisdiktion des Bundesverfassungsgerichts auf die Beantwortung abstrakter Rechtsfragen, insbesondere im nur formal kontradiktorisch ausgestalteten Verfahren der abstrakten Normenkontrolle.144 Während seine ursprüngliche Zuständigkeit zur Erstattung von Rechtsgutachten im eigent141 Vgl. z. B. EGMR, Airey . / . Irland, Series A no. 32, Rn. 24 = EGMR-E 1, 414. Näher Hans-Joachim Cremer, Regeln der Konventionsinterpretation, in: Rainer Grote / Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG: Konkordanzkommentar (2006), S. 155 (Rn. 41 ff.). 142 Vgl. Art. 32 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge von 1969 (WVRK). Näher Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention (3. Aufl. 2008), S. 35 f. 143 Art. III, Section 2 US-Verfassung: „Cases . . . Controversies“. Vgl. Brugger (Fn. 3), S. 18 f. 144 Michel Rosenfeld, Constitutional adjudication in Europe and the United States: paradoxes and contrasts, in: Georg Nolte (Hrsg.), European and US Constitutionalism (2005), S. 197 ff., 233.
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lichen Sinne schon 1956 wieder gestrichen wurde, weil sie dem Gericht einen zu großen politischen Einfluss zu geben drohte,145 können sowohl der EuGH als auch der EGMR Gutachten erstatten. Die praktisch relevante gutachtliche Praxis des EuGH kann nur eine einzige Frage – diese allerdings verbindlich – beantworten, ob nämlich ein völkerrechtlicher Vertrag, den die Gemeinschaft abzuschließen plant, mit dem EG-Vertrag vereinbar wäre.146 Die Gutachtenzuständigkeit des EGMR wird durch Art. 47 Abs. 2 EMRK so stark eingegrenzt, das ihr kaum noch ein Anwendungsbereich verbleibt. Deshalb hat der Gerichtshof bisher auch nur ein einziges Gutachten erstattet.147 2. Verfassungsrechtlich garantierte Verfahrensarten und gesetzliche Zugangsbeschränkungen
In der US-Verfassung selbst abschließend festgelegt sind nur die praktisch weniger wichtigen erstinstanzlichen Zuständigkeiten des US Supreme Court in Fällen, die ausländische Botschafter, Gesandte oder Konsuln betreffen oder in denen ein Einzelstaat Partei ist.148 In allen sonstigen Streitigkeiten, einschließlich derjenigen verfassungsrechtlicher Art, fungiert der US Supreme Court als Rechtsmittelinstanz, freilich nach Maßgabe eines gesetzlichen Regelungsvorbehalts.149
§ 97 a.F. BVerfGG. Vgl. Klein, in: Benda / Klein (Fn. 34), Rn. 347. Art. 300 Abs. 6 EGV. 147 Advisory Opinion of 12 February 2008 (Fn. 121). 148 Art. III, Section 2, Subsection 2, Clause 1. Zwischenländerstreitigkeiten (z. B. über den Grenzverlauf) kommen in der Praxis des US Supreme Court bis in die jüngste Zeit immer wieder vor (vgl. z. B. New Jersey v. Delaware, 552 U.S. – [2008]). 149 Art. III, Section 2, Subsection 2, Clause 2. 145 146
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a) Negative gesetzliche Zugangsbeschränkungen
Die dem Gesetzgeber damit übertragene Zugangskontrolle kann im positiven wie im negativen Sinn ausgeübt werden. Als positiv stufe ich Zugangsregelungen ein, die den US Supreme Court entlasten und ihm die Möglichkeit geben, seine Energie auf wirklich wichtige Fälle zu konzentrieren. Negativ sind demgegenüber Zugangsregelungen, die verfassungsrechtlich zweifelhafte politische Entscheidungen der richterlichen Kontrolle entziehen oder den Gerichtshof durch Minimierung seiner Jurisdiktion sogar insgesamt entmachten sollen. Solche negativen Zugangsregelungen haben bisher nicht exakt definierte verfassungsrechtliche Grenzen.150 Ein aktuelles Beispiel findet sich im Military Commissions Act von 2006, der die Habeas-corpus-Gerichtsbarkeit über ausländische feindliche Kombattanten auszuschließen versucht.151 Der US Supreme Court hat diesen Versuch inzwischen für verfassungswidrig erklärt.152 In Deutschland legt das Grundgesetz selbst die meisten bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrensarten auch für den Gesetzgeber verbindlich fest.153 Der Bundesgesetzgeber hat kraft seiner Kompetenz, die Verfahren näher zu regeln, eine gewisse Ausgestaltungsbefugnis154 und wird überdies ermächtigt, weitere Zuständigkeiten einzuführen.155 Diese feste grundgesetzliche Verankerung der bundesverfassungsgerichtGunther (Fn. 7), S. 39 ff. Public Law 109 – 366 (120 Stat. 2600), Section 7. Die Bestimmung reagierte im Sinne eines „overruling“ auf die Entscheidung in Hamdan v. Rumsfeld (548 U.S. – [2006]), die einen ersten Versuch zur Beschränkung der Habeas-Corpus-Gerichtsbarkeit durch den Detainee Treatment Act von 2005 restriktiv interpretiert hatte (Carl-Friedrich Stuckenberg, Das zähe Ringen um die Rechtsstellung der Gefangenen von Guantánamo Bay, JZ 2006, S. 1142 ff.). 152 Boumediene v. Bush (Fn. 63): Unvereinbarkeit mit der Suspension Clause in Art. I, Section 9, Clause 2 US-Verfassung. 153 Vor allem in Art. 93 Abs. 1 und 2, Art. 100 GG. 154 Art. 94 Abs. 2 GG. 155 Art. 93 Abs. 3 GG. 150 151
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lichen Jurisdiktion schließt negative Zugangsregelungen durch den einfachen Gesetzgeber weitgehend aus. Die bundesverfassungsgerichtliche Macht könnte nur durch eine Verfassungsänderung effektiv beschnitten werden. Doch ist die Kernzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips dem Zugriff selbst des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen.156 Die Zuständigkeiten und Verfahrensarten von EuGH und EGMR sind vertraglich festgelegt und daher nur im Konsens aller Vertragsparteien einschränkbar.157 In diesem Zusammenhang hat der EuGH deutlich gemacht, dass eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit mit Art. 220 EGV und allgemeiner mit den Grundlagen der Gemeinschaft selbst unvereinbar und daher nicht einmal im Wege der Vertragsänderung zulässig wäre.158 b) Positive gesetzliche Zugangsbeschränkungen
Steigende Eingangszahlen machen Verfassungsgerichte zu Opfern ihres eigenen Erfolges und lassen den Ruf nach Schutz vor Überlastungen laut werden. Positive gesetzliche Beschränkungen des Zugangs zum US Supreme Court wurden insbesondere durch die Reformgesetzgebung von 1988 eingeführt. Diese hat die rechtsmittelinstanzliche Zuständigkeit des US Supreme Court weitestgehend auf das Certiorari-Verfahren konzentriert, das ungefähr 90 % der Eingänge ausmacht.159 Im Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG. S.o. Fn. 57. Art. 220 ff. EGV; Art. 32 ff. EMRK. 158 EuGH, Slg. 1991, I-6079 (Rn. 69 ff.) (Gutachten 1 / 91 – EWR I). Näher Giegerich (Fn. 56), S. 509 ff. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 3. 9. 2008 (Rs. C-402 / 05 P u. a. – Kadi u. a.), Rn. 303 ff., wonach die Grundrechtsschutzfunktion des EuGH auch durch von Anfang an vorhandene Bestimmungen des E(W)G-Vertrags nicht in Frage gestellt wird. Hier klingt die Vorstellung „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ im Sinne von BVerfGE 3, 225 (232 ff.) an. 159 Astrid Hauser, Der Europäische Gerichtshof und der U.S. Supreme Court (2008), S. 115 ff. 156 157
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Certiorari-Verfahren überprüfbar sind erstens Entscheidungen der Bundesberufungsgerichte und zweitens Endentscheidungen der letztinstanzlichen einzelstaatlichen Gerichte, soweit diese auf Begründungen aus dem einfachen Bundesrecht einschließlich der völkerrechtlichen Verträge des Bundes oder aus dem Bundesverfassungsrecht beruhen.160 Mehrfach hat der deutsche Gesetzgeber versucht, dem Bundesverfassungsgericht Entlastung zu verschaffen. Am wichtigsten waren die Einführung des Annahmeverfahrens und der ständige Ausbau der Kammerzuständigkeiten in Bezug auf Verfassungsbeschwerden, die den Hauptteil des Geschäftsanfalls ausmachen.161 Der Geschäftsanfall der Luxemburger EU-Gerichtsbarkeit ist immer noch vergleichsweise gering, weil Privatpersonen nur eingeschränkten Zugang haben: Sie können dort nur gegen Rechtsakte der EG klagen, die sie unmittelbar und individuell betreffen.162 Entlastungsmaßnahmen zugunsten des EuGH bestanden vor allem in der Einrichtung des Europäischen Gerichts erster Instanz und von gerichtlichen Kammern.163 Die Osterweiterung könnte jedoch Eingangszahlen und Dauer beim Vorabentscheidungsverfahren so stark erhöhen, dass zukünftig über Abhilfe nachgedacht werden muss.164 Demgegenüber steigt der Eingang von Individualbeschwerden beim EGMR ständig exponentiell an, was die vertragsändernde Gewalt veranlasst hat, ein Ausschussverfahren einzu160 U.S. Code Title 28, Sections 1254 (1), 1257. Vgl. darüber hinaus ebd. die Sections 1258 und 1259. Eingehend Kau (Fn. 31), S. 423 ff. 161 §§ 93a ff. BVerfGG. 162 Art. 230 Abs. 4 EGV. 2007 sind beim EuGH 580 Rechtssachen neu eingegangen, beim Gericht erster Instanz 522, beim Gericht für den öffentlichen Dienst 157 (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Jahresbericht 2007 [2008]). 163 Art. 225, 225a EGV. 164 Vgl. Vassilios Skouris, Stellung und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens im europäischen Rechtsschutzsystem, EuGRZ 2008, S. 343 (347 f.).
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führen, das dem Karlsruher Kammerverfahren teilweise nachgebildet ist.165 3. Zugangskontrolle durch das Gericht selbst: Annahmeermessen
Eine effektive Zugangskontrolle kann das Verfassungsgericht selbst letztlich nur ausüben, wenn es über ein Annahmeermessen in denjenigen Verfahren verfügt, die hohe Eingangszahlen aufweisen. Das sind in aller Regel die von Privatpersonen einzuleitenden Verfahren. Der US Supreme Court verfügt im praktisch wichtigsten Certiorari-Verfahren über ein freies Annahmeermessen. Der Gesetzestext selbst macht nur deutlich, dass der verfahrenseinleitende writ of certiorari auf Antrag durch das Gericht gewährt wird. Erst aus der Verfahrensordnung des Gerichts166 ergibt sich, dass die Gewährung des writ of certiorari keine Frage eines Anspruchs, sondern freien richterlichen Ermessens ist. Dieses wird nur aus zwingenden Gründen im Sinne einer Annahme der Sache zur Entscheidung ausgeübt. Die in seiner Verfahrensordnung beispielhaft aufgeführten, keineswegs bindenden Ermessenserwägungen zeigen, dass das Certiorari-Verfahren in erster Linie zur Bereinigung von Rechtsprechungsdivergenzen und in zweiter Linie zur Herbeiführung einer höchstrichterlichen Entscheidung wichtiger bundes(verfassungs)rechtlicher Fragen dient.167 Es wird also Art. 27, 28 EMRK. Rules of the Supreme Court of the United States (adopted July 17, 2007, effective October 1, 2007) (abrufbar unter www.supremecourtus. gov). 167 Rule 10 (Considerations Governing Review on Certiorari) lautet: Review on a writ of certiorari is not a matter of right, but of judicial discretion. A petition for a writ of certiorari will be granted only for compelling reasons. The following, although neither controlling nor fully measuring the Court’s discretion, indicate the character of the reasons the Court considers: (a) a United States court of appeals has entered a decision in conflict with the decision of another United States court of appeals on the same 165 166
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im öffentlichen Interesse durchgeführt; die Einzelfallgerechtigkeit ist nur eine willkommene Nebenfolge.168 Obwohl bloß vier von neun Richtern der Gewährung eines writ of certiorari zuzustimmen brauchen,169 lehnt der US Supreme Court jedes Jahr Tausende solcher Anträge ohne jede Begründung ab, ohne damit auch nur implizit inhaltlich Stellung zu nehmen.170 In den zwischen fünfzig und hundert Fällen, die er letztlich zur Entscheidung annimmt, führt der Gerichtshof dann aber eine mündliche Verhandlung durch und trifft seine Sachentscheidung innerhalb eines Jahres. Mehr als die Hälfte dieser Fälle hat ihren Schwerpunkt im Verfassungsrecht.171 In Deutschland ist immer wieder gefordert worden, dem Bundesverfassungsgericht ein Annahmeermessen in Bezug auf Verfassungsbeschwerden einzuräumen.172 Dazu ist es bisher nicht gekommen, wenngleich die BVerfGG-Novelle von important matter; has decided an important federal question in a way that conflicts with a decision by a state court of last resort; or has so far departed from the accepted and usual course of judicial proceedings, or sanctioned such a departure by a lower court as to call for an exercise of this Court’s supervisory power; (b) a state court of last resort has decided an important federal question in a way that conflicts with the decision of another state court of last resort or of a United States court of appeals; (c) a state court or a United States court of appeals has decided an important question of federal law that has not been, but should be, settled by this Court, or has decided an important federal question in a way that conflicts with relevant decisions of this Court. A petition for a writ of certiorari is rarely granted when the asserted error consists of erroneous factual findings or the misapplication of a properly stated rule of law. 168 Ticor Title Insurance Co. v. Brown, 511 U.S. 117, 122 (1994). 169 Diese rule of four hat sich in der Gerichtspraxis herausgebildet (Brugger [Fn. 3], S. 16). 170 Vgl. Maryland v. Baltimore Radio Show, 338 U.S. 912, 917 ff. (1950) – Opinion of Frankfurter, J., respecting the denial of the petition for writ of certiorari. 171 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Entlastung des Bundesverfassungsgerichts. Bericht der Kommission (1998), S. 37. 172 Vgl. nur die mit 10:1 Stimmen angenommene Empfehlung einer Expertenkommission (Fn. 171 , S. 15 f., 32 ff.).
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1993 einen gewissen, doch nach wie vor rechtlich geregelten Entscheidungsspielraum eingeführt hat. Nach § 93a Abs. 2 BVerfGG muss seither eine Verfassungsbeschwerde, die keine grundsätzliche Bedeutung hat, nur dann noch zur Entscheidung angenommen werden, wenn dies zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Gewährleistungen angezeigt ist. Dieses Angezeigtsein ist objektiv zu verstehen und zu bejahen, wenn dem Beschwerdeführer ansonsten ein besonders schwerer Nachteil entstünde. Mangels eines solchen Nachteils werden selbst begründete Verfassungsbeschwerden in Bagatellfällen nicht angenommen. Den Charakter der Verfassungsbeschwerde als grundrechtsähnliches Verfahrensrecht der Einzelnen auf Sachentscheidung wollte der Gesetzgeber jedoch beibehalten.173 Ihre grundlegende Umgestaltung zu einem primär objektiven Interessen dienenden Rechtsbehelf wäre auch von Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG nicht mehr gedeckt gewesen und hätte daher eine Grundgesetzänderung erfordert. Dieses grundsätzliche Festhalten am subjektiven Anspruch auf eine Sachentscheidung verlängert freilich die Verfassungsbeschwerdeverfahren in einem Maße, das in Zivil- und Strafsachen immer wieder zu Kollisionen mit dem Anspruch auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist aus Art. 6 Abs. 1 EMRK führt.174 Bei jährlich annähernd 6.000 neu eingehenden Verfassungsbeschwerden werden wir letztlich nicht umhin kommen, dem Bundesverfassungsgericht ein Annahmeermessen zuzubilligen. Der subjektive Anspruch von 80 Millionen Menschen auf verfassungsgerichtliche Sachentscheidung aller ihrer Alltagsprobleme droht sonst zur Lebenslüge des deutschen Verfassungsstaats zu werden. Der EGMR ist weit stärker belastet als US Supreme Court und Bundesverfassungsgericht zusammen, verfügt jedoch über kein Annahmeermessen. Seine Dreierausschüsse können nur Vgl. Fn. 171 , S. 35. Vgl. z. B. EGMR, Kirsten . / . Deutschland, Urt. v. 15. 2. 2007, Nr. 19124 / 02 = DVBl. 2007, S. 1161. 173 174
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offensichtlich unzulässige oder unbegründete Individualbeschwerden ausfiltern.175 Über alle anderen entscheiden mit sieben Richtern besetzte Kammern.176 Angesichts von 42.000 neu eingegangenen Individualbeschwerden bei einer Erledigungszahl von etwa 29.000 und einer Zahl von annähernd 80.000 anhängigen Verfahren im Jahr 2007 spitzt sich die Lage dramatisch zu.177 Die durchschnittliche Verfahrensdauer übersteigt diejenige beim Bundesverfassungsgericht erheblich. Effektive Abhilfe kann hier nur ein Annahmeermessen schaffen. Auch das noch nicht in Kraft getretene Protokoll Nr. 14 geht diesen unvermeidlichen Weg aber nicht, sondern versucht andere unzureichende Formen der Abhilfe, insbesondere durch Übertragung der Befugnis zur Unzulässigerklärung in offensichtlichen Fällen auf Einzelrichter. Eine Unzulässigerklärung soll zukünftig schon dann möglich sein, wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist und die Achtung der Konventionsrechte keine Begründetheitsprüfung erfordert, solange die Rechtssache jedenfalls von einem nationalen Gericht gebührend geprüft worden ist.178 Auf diese Weise können dann selbst begründete Individualbeschwerden in Bagatellfällen für unzulässig erklärt werden.179 Die auf Anregung des EGMR eingesetzte Group of Wise Persons hatte sich in ihrem Bericht von 2006 an das Ministerkomitee des Europarats dagegen ausgesprochen, dem EGMR ein Annahmeermessen entsprechend dem Certiorari-Verfahren einzuräumen:180 Das Individualbeschwerderecht sei eine Art. 28 i. V. m. Art. 35 Abs. 3 EMRK. Art. 29 EMRK. Zur Zuständigkeit der Großen Kammer vgl. Art. 30, 47 EMRK. 177 European Court of Human Rights, Annual Report 2007 (2008), 134 (abrufbar unter http: //www.echr.coe.int/echr). 178 Art. 7 und 12 des Protokolls Nr. 14. 179 Keller (Fn. 105), S. 362. 180 Report of the Group of Wise Persons to the Committee of Ministers, 979bis Meeting, 15 November 2006, CM(2006)203 15 November 2006, Human Rights Law Journal 2006, 279 ff. (abrufbar unter https: // 175 176
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Schlüsselkomponente des Menschenrechtsschutzsystems der Konvention, ein Annahmeermessen dagegen ihrer ganzen Philosophie fremd. Die Ausübung eines solchen Ermessens könne auch zu einer Politisierung des EGMR führen. Diese Argumente sind sicherlich gewichtig, doch scheinen mir die Autorität des Gerichtshofs und die Effektivität des Straßburger Schutzsystems viel stärker in Gefahr, wenn man nicht für einen schnellen Abbau der Überlast sorgt. Dieses Ziel ist m. E. ohne Annahmeermessen nicht zu erreichen. Ob man seine Einführung durch die Errichtung eines neuen erstinstanzlichen Gerichts in Anlehnung an das Gericht erster Instanz der EG abfedern sollte, ist weiterer Überlegung wert.181 VII. Jurisdiktionstiefe: Kontrolldichte und nicht justiziable Fragen Der Einfluß der Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen System hängt nicht nur davon ab, wie extensiv, sondern auch wie intensiv sie ihre Zuständigkeiten ausübt. Dies wirft die Frage nach der Kontrolldichte auf: Wieviel Entscheidungsspielraum räumt das Verfassungsgericht der Exekutive und Legislative bei der Anwendung von Verfassungsnormen ein? Die Kalibrierung der eigenen Kontrolldichte bedeutet für das Verfassungsgericht stets eine heikle Gratwanderung zwischen judicial activism und judicial restraint im Dickicht von checks and balances. 1. Political Question Doctrine
In der Rechtsprechung des US Supreme Court sorgt vor allem die political question doctrine für Flexibilität. Nach dieser wcd.coe.int/). Dagegen auch Christian Tomuschat, Individueller Rechtsschutz: das Herzstück des „ordre public européen“ nach der EMRK, EuGRZ 2003, S. 95 ff. 181 Vgl. Keller (Fn. 105), S. 368 f. unter Bezugnahme auf den Bericht der Weisen von 2006 (Fn. 180).
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Doktrin verweigert das Gericht nicht etwa die Entscheidung politisch relevanter Fälle, was einer Selbstaufgabe gleich käme. Vielmehr versucht es, mit Hilfe einer Fallgruppenbildung die nicht justitiablen Fragen herauszuarbeiten, deren Beantwortung die Verfassung den politischen Gewalten und nicht den Gerichten übertragen hat.182 Die political question doctrine hat vor allem im Bereich der auswärtigen Gewalt und der militärischen Kommandogewalt Bedeutung.183 Auch ohne ausdrückliche Bezugnahme auf diese Doktrin erlegt sich der US Supreme Court gegenüber der Exekutive in diesen Bereichen sowie in Bezug auf die nationale Sicherheit insgesamt besondere Zurückhaltung auf.184 In Fällen der Auslieferung oder Überstellung von In- und Ausländern an einen ausländischen Staat zwecks Strafverfolgung überlässt er es z. B. weitgehend der Exekutive, die Gefahr von Folter und unmenschlicher Behandlung einzuschätzen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen.185 Andererseits hat die Mehrheit des US Supreme Court in Bezug auf das Gefangenenlager in Guantánamo vor kurzem betont, dass die Verfassung den Präsidenten und den Kongress auch bei extraterritorialen Maßnahmen im so genannten „Krieg gegen den Terror“ nicht von allen Bindungen freistellt.186 Auch das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Gesetzgeber und der Regierung einen je nach Sachbereich unterschiedlich großen nichtjustiziablen Entscheidungsspielraum zu. Beispielsweise beschränkt es sich bei der Verhältnismäßig182 Brugger (Fn. 3), S. 21 ff. Nach der Leitentscheidung Baker v. Carr (369 U.S. 186, 217 [1962]) gehören dazu insbesondere Fragen, die eine politische Wertung voraussetzen, welche eindeutig dem nichtrichterlichen Ermessen anheimgestellt ist. 183 Thomas M. Franck, Political Questions / Judicial Answers (1992). Neues Beispiel: Corrie v. Caterpillar, 503 F.3d 974 (CA9 2007) (vgl. AJIL 102 [2008], S. 158 f.). 184 Vgl. nur Munaf v. Geren, 553 U.S. – (2008), Slip Opinion S. 11. 185 Munaf v. Geren (Fn. 184), S. 23 ff. Vgl. aber auch das zustimmende Sondervotum der Richter Souter, Ginsburg und Breyer. 186 Boumediene v. Bush (Fn. 63).
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keitskontrolle von Gesetzen darauf zu prüfen, ob der gesetzgeberische Eingriff offensichtlich ungeeignet ist und ob die durch ihn bewirkte Freiheitseinbuße völlig außer Verhältnis zum erzielten Nutzen steht.187 Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) lässt es dem Gesetzgeber bei der Unterscheidung von Sachverhalten größeren Spielraum als bei der Unterscheidung von Personengruppen.188 Die zweckgerechte Anwendung von Art. 68 GG (Bundestagsauflösung nach Scheitern der Vertrauensfrage) prüft es nur in eingeschränktem Umfang.189 Bei außenpolitischen Maßnahmen tritt es den Einschätzungen der zuständigen Träger der auswärtigen Gewalt nur entgegen, wenn diese offensichtlich unhaltbar erscheinen.190 Die Kontrolldichte des EuGH ändert sich ebenfalls je nach Sachbereich: Dem Gemeinschaftsgesetzgeber lässt er selbst bei Grundrechtseingriffen in der Regel einen großzügig bemessenen Entscheidungsspielraum, während er die Mitgliedstaaten erheblich strenger an ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen festhält.191 Selbst den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz handhabt der EuGH unterschiedlich strikt. In Bezug auf den Gemeinschaftsgesetzgeber vertraut er offenbar auf die Funktionsfähigkeit einer politischen Kontrolle durch Rat und Europäisches Parlament, während ihm eine solche Kontrolle innerhalb der Mitgliedstaaten nicht hinreichend gewährleistet erscheint. Die Gefahr, dass diese aus kurzfristigen „nationalen Interessen“ heraus das EG-Recht missachten, ist in der Tat sehr real, weil es im mitgliedstaatlichen Entscheidungsprozess 187 Hans D. Jarass, in: ders. / Bodo Pieroth, Grundgesetz (8. Aufl. 2006), Art. 20 Rn. 80 ff. 188 Ebd., Art. 3 Rn. 17 ff. 189 Vgl. z. B. BVerfGE 62, 1; 114, 121 zur Kontrolle von Entscheidungen nach Art. 68 GG. 190 Thomas Giegerich, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt im europäisch-atlantischen Verfassungsstaat, ZaöRV 57 (1997), S. 409 (459 f.). 191 Peter M. Huber, Recht der Europäischen Integration (2. Aufl. 2002), § 8 Rn. 72.
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keine Institution gibt, die das Gemeinschaftsinteresse vertritt. Umgekehrt bringt der Rat als nach wie vor wichtigstes Gemeinschaftsorgan die nationalen Interessen institutionell in den EG-Entscheidungsprozess ein. Der EGMR erkennt den Konventionsstaaten einen Einschätzungsspielraum (margin of appreciation) in Bezug auf die Notwendigkeit von Grundrechtseinschränkungen zu. Dessen Weite hängt u. a. von der Bedeutung des betroffenen Konventionsrechts sowie davon ab, ob sich diesbezüglich bereits eine relativ einheitliche europäische Auffassung herausgebildet hat.192 2. Bewahrung des föderalen Gleichgewichts als Aufgabe des Verfassungsgerichts? a) US Supreme Court und Interstate Commerce Power
Als Folge der Court-packing-Krise von 1937 erlegte sich der US Supreme Court bei der Überprüfung von wirtschaftsregulierenden Bundesgesetzen jahrzehntelang große Zurückhaltung auf. Dadurch konnte der Bundesgesetzgeber seine interstate commerce power193 beinahe nach Belieben in den nichtwirtschaftlichen Bereich ausweiten und die einzelstaatliche Regelungsmacht überlagern. Es genügte, dass der Bundesgesetzgeber rationalerweise annehmen durfte, die geregelte Aktivität wirke sich irgendwie auf den zwischengliedstaatlichen Handel aus.194 Seit 1995 hat sich aber die konservative Gegenströmung zugunsten der gliedstaatlichen Eigenständigkeit mehrfach durchgesetzt und Bundesgesetze zum Verbot von Waffen in Schulen und zum Schutz von Frauen vor Gewalt für verfassungswidrig erklärt. In beiden Fällen hielt die Richtermehrheit den Bezug der verbotenen nichtwirtschaftlichen Aktivität zum zwischengliedstaatlichen Handel für zu 192 193 194
Grabenwarter (Fn. 142), § 18 Rn. 20 ff. Art. I, Sec. 8, Clause 3 US-Verfassung. Chemerinsky (Fn. 10), S. 259 f.
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undeutlich.195 Parallel verläuft eine zweite Rechtsprechungslinie des US Supreme Court zum Schutz des gliedstaatlichen Eigenbereichs durch die Kompetenzvermutung des Xth Amendment. Dieser Zusatzartikel ist ebenfalls erst in den 90er Jahren als Schranke der Bundesgesetzgebung wiederbelebt worden.196 b) Das Bundesverfassungsgericht und Art. 72 Abs. 2 GG
Parallel dazu prüfte das Bundesverfassungsgericht die Handhabung der sog. Bedürfnisklausel in Art. 72 Abs. 2 GG a.F., deren Einführung auf Vorgaben der Westalliierten zurückgeht,197 jahrzehntelang auf bloße Willkür198 und ermöglichte dem Bund damit die nahezu unbeschränkte Ausnutzung seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen. Nachdem man 1994 zum Schutz der Länder die Bedürfnis- durch die strengere Erforderlichkeitsklausel ersetzt und gleichzeitig ein eigenständiges Durchsetzungsverfahren eingeführt hatte,199 verschärfte das Bundesverfassungsgericht seinen Prüfungsmaßstab.200 Den daraus angeblich erwachsenden Gefahren für die bundesweite Rechtseinheit versucht die erneute Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG im Zuge der Föderalismusreform von 2006 zu begegnen, indem sie die Geltung der Erforderlichkeitsklausel auf die weniger wichtigen konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes beschränkt. 195 United States v. Lopez, 514 U.S. 549 (1995); United States v. Morrison, 529 U.S. 598 (2000). Chemerinsky (Fn. 10), 264 ff. 196 Chemerinsky (Fn. 10), S. 317 ff. 197 Vgl. das Memorandum der Alliierten Militärgouverneure vom 2. 3. 1949 (in: Michael F. Feldkamp (Hrsg.), Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949 [1999], S. 147) und Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I (3. Aufl. 2003), S. 315 (341 ff.). 198 BVerfGE 1, 264 (272 ff.); 2, 213 (224 ff.). 199 Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG. 200 BVerfGE 106, 62 (136 ff.); 110, 141.
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c) Der EuGH als „Schutzengel“ der Mitgliedstaaten?
Der EuGH hat es bisher nicht als seine Hauptaufgabe betrachtet, das föderale Gleichgewicht in der EG durch restriktive Interpretation der Gemeinschaftskompetenzen zugunsten der Mitgliedstaaten auszubalancieren. Daran hat auch die Einführung des Subsidiaritätsprinzips durch den Vertrag von Maastricht nichts geändert, das unvermeidlicherweise mit sehr offenen Begriffen operiert.201 Diese häufig kritisierte gemeinschaftsfreundliche Rechtsprechung wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass der aus nationalen Ministern bestehende Rat den Gesetzgebungsprozess der EG dominiert und zudem stets nach Lösungen sucht, die von allen Mitgliedstaaten mitgetragen werden. Hier sieht der EuGH regelmäßig keinen Anlass, die Mitgliedstaaten gewissermaßen vor sich selbst zu schützen. Wenn jedoch umkämpfte Mehrheitsentscheidungen im Rat zur Regel werden und die nationalen Parlamente den Regierungsvertretern überdies das Alleinvertretungsrecht auf Gemeinschaftsebene streitig machen,202 wird der EuGH Zentralisierungstendenzen deutlicher entgegentreten müssen, wenn er seine Autorität wahren will.
VIII. Haltung zur Verfassungsvergleichung und zum Völkerrecht: Geschlossener oder offener Verfassungsstaat? 1. Der US Supreme Court zwischen „Charming Betsy“ und „Foster“
Noch der Marshall Court hat die grundlegenden Techniken für den richterlichen Umgang mit dem Völkerrecht festgelegt: Art. 5 Abs. 2 EGV. Das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in seiner Neufassung durch den Vertrag von Lissabon vom 13. 12. 2007 versucht, die nationalen Parlamente bzw. ihre einzelnen Kammern zu mobilisieren, um die Durchsetzung der beiden Prinzipien effektiver zu machen (ABl. 2008 Nr. C 115 / 206). 201 202
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die völkerrechtsfreundliche „Charming Betsy“-Technik und die völkerrechtsunfreundliche „Foster“-Technik. Nach der „Charming Betsy“-Entscheidung sind Bundesgesetze nach Möglichkeit völkerrechtskonform auszulegen.203 Die „Foster“Technik unterscheidet Völkerrechtsnormen, welche die Gerichte unmittelbar anwenden können, von anderen, die erst infolge eines nationalen Gesetzes richterlicher Anwendung zugänglich werden.204 Wird diese Technik zur Minimierung der Zahl innerstaatlich unmittelbar anwendbarer Völkerrechtsnormen genutzt, kann sie die völkerrechtlichen Verpflichtungen der USA im nationalen Rechtsweg undurchsetzbar machen und es den politischen Gewalten damit praktisch freistellen, zur Verfolgung kurzfristiger nationaler Interessen Völkerrecht zu verletzen.205 Die neueren Entscheidungen des US Supreme Court schwanken zwischen nationaler Abschließung und internationaler Offenheit. In manchen von ihnen scheint die Vorstellung einer sich zur feindlichen Umwelt hin abschottenden Weltmacht durch. Für diese souverän-nationalstaatliche „Wagenburgmentalität“ stehen Voten, die den Einfluss der Verfassungsvergleichung und des Völkerrechts auf die Auslegung des nationalen Verfassungsrechts minimieren oder ganz ausschließen. Beispielsweise folgt der US Supreme Court in der Regel den Auffassungen der Exekutive zum Inhalt von Völkerrechtssätzen.206 Sodann stellt er diese durch die „Foster“-Technik häufig intern von ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen frei.207 Eine krasse Manifestation des judiziellen 203 Murray v. Schooner Charming Betsy, 6 U.S. (2 Cranch) 64, 118 (1804). 204 Foster v. Neilson, 27 U.S. (2 Pet.) 253, 314 (1829), overruled on other grounds (U.S. v. Percheman, 32 U.S. [7 Pet.] 51 [1833]). 205 Beispiele aus jüngster Zeit: Sanchez-Llamas v. Oregon (548 U.S. 331 [2008]) und Medellín v. Texas (552 U.S. – [2008]). Vgl. auch Section 5 des Military Commissions Act of 2006 (Fn. 151). 206 Sumitomo Shoji Am., Inc. v. Avagliano, 457 U.S. 176, 184 f. (1982). 207 David Sloss, When Do Treaties Create Individually Enforceable Rights?, Columbia Journal of Transnational Law 45 (2006), S. 20 ff.
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Unilateralismus bildet eine kürzliche Entscheidung, welche die Verpflichtungen der USA aus der Konsularrechtskonvention enger definiert als der IGH.208 Solche Kunstgriffe gefährden den Ruf der USA als law-abiding nation, der schon durch die Politik der Bush-Administration arg ins Zwielicht geraten ist.209 Demgegenüber zeugt die Abschottung gegenüber verfassungsvergleichenden Interpretationsansätzen von Selbstgerechtigkeit.210 Teilweise setzt sich in der Rechtsprechung des US Supreme Court aber auch die gegenteilige Vorstellung eines der Weltgemeinschaft gegenüber offenen Verfassungsstaats durch.211 Dafür stehen Entscheidungen, die Anregungen aus der Verfassungsvergleichung in die Anwendung des nationalen Verfassungsrechts einfließen lassen und dieses nach der „Charming Betsy“-Technik möglichst völkerrechtskonform interpretieren. Die völkerrechtskonforme Interpretation bewirkt eine effektive Bindung der eigenen Verfassung an die Mindeststandards der internationalen Gemeinschaft und trägt dem Um208 Sanchez-Llamas v. Oregon, 548 U.S. 331 [2008]), wo man der Avena-Entscheidung des IGH zwar „respectful consideration“ verspricht, die Konsularrechtskonvention dann aber abweichend interpretiert. Eine förmliche Bindung nach Art. 59 IGH-Statut bestand nicht, weil die USA zwar Partei im Avena-Fall des IGH gewesen waren, dieser aber einen anderen konkreten Sachverhalt betraf. In Reaktion auf die Entscheidung Medellín v. Texas (Fn. 205) hat Mexiko am 5. 6. 2008 ein Verfahren nach Art. 60 Satz 2 IGH-Statut auf Interpretation der Avena-Entscheidung eingeleitet und am 16. 7. 2008 eine einstweilige Anordnung erwirkt, der zum Trotz Medellín inzwischen hingerichtet wurde. 209 Eindringlich Philippe Sands, Lawless World (2005). 210 Vgl. als Beispiel den Dissent von Justice Scalia in Roper v. Simmons, 543 U.S. 551, 607 (2005). Siehe auch Sec. 6 (a) (2) Clause 2 des Military Commissions Act (Fn. 151): „No foreign or international source of law shall supply a basis for a rule of decision in the courts of the United States in interpreting the prohibitions in . . . section 2441.“ In der letztgenannten Bestimmung findet sich eine abschließende Liste strafbarer „grave breaches of common Article 3“ der Genfer Konventionen von 1949. 211 Vgl. etwa Ruth Bader Ginsburg, „A Decent Respect for the Opinions of [Human]Kind“: The Value of a Comparative Perspective in Constitutional Adjudication, ASIL: Proceedings of the 99th Annual Meeting 2005, S. 351 ff.
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stand Rechnung, dass Rechtlosigkeit nach außen regelmäßig die Rechtsstaatlichkeit im Inneren in Mitleidenschaft zieht – wie die USA in ihrem sog. „Krieg gegen den Terror“ schmerzlich erfahren haben. Die argumentative Verbindung des eigenen mit ausländischem Verfassungsrecht kann hingegen dabei helfen, Fehlentwicklungen zu verhindern, kritische Selbsterkenntnis zu erzeugen und die Überzeugungskraft der eigenen Lösungen als Modelle für andere Verfassungsordnungen zu bewahren.212 2. Das Bundesverfassungsgericht zwischen Völkerrechtswahrung und „nationaler Souveränität“
Deutlicher als die US-Verfassung konstituiert das Grundgesetz einen offenen, völker- und europarechtsfreundlichen Verfassungsstaat. Dementsprechend ist das Bundesverfassungsgericht der internationalen Rechtsordnung gegenüber insgesamt aufgeschlossener als der US Supreme Court, wie insbesondere in der Behandlung der „Konsularrechtsfälle“ deutlich geworden ist.213 Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht nur die „Charming Betsy“-Technik zu Eigen gemacht und entschieden, dass auch das Grundgesetz selbst möglichst völkerrechtskonform zu interpretieren sei. Es hat darüber hinaus seine besondere Verantwortung betont, völkerrechtswidrige Entscheidungen von Fachgerichten aufzuheben, um zu verhindern, das Deutschland für einen Völkerrechtsverstoß international verantwortlich wird.214 Weiterhin hat es eine verfassungsunmittelbare Pflicht aller deutschen Gerichte statuiert, einschlägige Entscheidungen internationaler Gerichte, insbesondere des EGMR und des IGH, bei der Interpretation des Völkerrechts und des Grundgesetzes zu berücksichti212 Vgl. als Beispiele Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558, 572 f. (2003); Roper v. Simmons, 543 U.S. 551, 575 ff. (2005). 213 Carsten Hoppe, Implementation of LaGrand and Avena in Germany and the United States: Exploring the Transatlantic Divide in Search of a Uniform Interpretation of Consular Rights, EJIL 18 (2007), S. 317 ff. 214 BVerfGE 109, 13 (23 f.); 111, 307 (328).
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gen.215 Dabei billigt das Bundesverfassungsgericht solchen internationalen Entscheidungen zwar über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine normative Leitfunktion zu, lehnt andererseits aber eine strikte Bindung ab und verlangt nur, dass die deutschen Gerichte sich mit ihnen auseinandersetzen.216 Außerdem soll die verfassungsunmittelbare Pflicht der deutschen Staatsorgane zur Durchsetzung des Völkerrechts nicht „unbesehen für jede beliebige Bestimmung des Völkerrechts“ gelten, sondern nur, soweit es dem Offenheits-Konzept des Grundgesetzes entspricht.217 Auch auf die „Foster“-Technik greift das Bundesverfassungsgericht mitunter zurück.218 Schon diese Beispiele zeigen, dass auch Karlsruhe von traditionellen Vorstellungen souveräner Nationalstaatlichkeit nicht frei ist. Aber man hört noch weitere völker- und europarechtsskeptische Töne: So versteht das Bundesverfassungsgericht die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nur im Sinne einer „kontrollierten“ Völkerrechtsbindung der deutschen Rechtsordnung unter dem Vorbehalt einer Letztverantwortung der deutschen Staatsgewalt für Menschenwürde und Grundrechte.219 Unter Hinweis auf die im „letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“ gestattet es dem Bundesgesetzgeber, Völkerrecht zu verletzen, „sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“.220 Den Vorrang des EG-Rechts erkennt das Bundesverfassungsgericht zwar an, erhält aber sei215 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (315 ff.); BVerfG (Kammer), B. v. 19. 9. 2006 (2 BvR 2115 / 01 u. a.), Rn. 54 ff. (www.bverfg.de). 216 Kritisch Dagmar Richter, Does International Jurisprudence Matter in Germany?, GYIL 49 (2006), S. 51 (68 ff.); Stefanie Schmahl, Grundrechtsschutz im Dreieck von EU, EMRK und nationalem Verfassungsrecht, EuR 2008 (Beiheft 1), S. 7 (30 f.). 217 BVerfGE 112, 1 (25). 218 BVerfG (Kammer), B. v. 15. 2. 2006 (2 BvR 1476 / 03), Rn. 20 ff. (Ablehnung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 3 des IV. Haager Abkommens betr. die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs von 1907). 219 BVerfGE 112, 1 (25 f.). 220 BVerfGE 111, 307 (319).
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nen Letztvorbehalt im Grundrechtsbereich aufrecht.221 Die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH billigt es zwar grundsätzlich, droht aber damit, Luxemburger Entscheidungen zu missachten, sollten sie aus Karlsruher Sicht zu weit gehen.222 Aus Karlsruher Sicht ist Deutschland ein ungefähr dreivierteloffener Verfassungsstaat. 3. EGMR und EuGH: Organe des Völkerrechts oder einer autonomen Rechtsordnung?
EuGH und EGMR sind als supranationale bzw. internationale Gerichte per se völkerrechtsfreundlich. Der Straßburger Gerichtshof hat immer wieder deutlich gemacht, dass er die EMRK als Teil des Völkerrechts betrachtet und dementsprechend so weit wie möglich im Einklang mit den übrigen Völkerrechtsregeln interpretiert.223 Dabei hat er sogar angedeutet, er werde im Konfliktfall den von der UN-Charta in ihrem Art. 103 beanspruchten Vorrang vor der Konvention anerkennen.224 Demgegenüber stuft der EuGH das Gemeinschaftsrecht als eine dem Völkerrecht gegenüber autonome Rechtsordnung ein. Auf dieser Grundlage verneint er mit Hilfe der „Foster“Technik die unmittelbare Anwendbarkeit mancher Völkerrechtssätze, insbesondere des WTO-Rechts. Damit ermöglicht der EuGH den politischen Organen der EG die Durchsetzung BVerfGE 73, 339 (387); 102, 147 (162 ff.); 118, 79 (95 ff.). BVerfGE 89, 155 (188, 210). Siehe zu den „ausbrechenden Rechtsakten“ schon oben im Text bei Fn. 78 ff. Zum (zeitweisen) Schwanken des BVerfG zwischen Kooperation und Konfrontation mit dem EuGH Jürgen Schwarze, Das „Kooperationsverhältnis“ des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof, in: Badura / Dreier (Fn. 1), S. 223 ff. 223 EGMR, Al-Adsani . / . Vereinigtes Königreich, ECHR 2001-XI, Rn. 55 = EuGRZ 2002, S. 403; Bankovic´ . / . 17 NATO-Staaten, ECHR 2001-XII = EuGRZ 2002, S. 133. Vgl. auch Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK. 224 EGMR (GK), Behrami und Behrami . / . Frankreich, Saramati . / . Frankreich, Deutschland und Norwegen, Entsch. v. 2. 5. 2007, Nr. 71412 / 01, 78166 / 01, EuGRZ 2007, S. 522. 221 222
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kurzfristiger europäischer Interessen unter Verletzung des Völkerrechts.225 Rechtsakte der Gemeinschaft interpretiert er möglichst völkerrechtskonform, betont freilich auch, dass das Primärrecht gemeinschaftsintern Vorrang vor den völkerrechtlichen Verpflichtungen der EG und ihrer Mitgliedstaaten hat, selbst wenn sie sich aus der UN-Charta ergeben.226 Die wertende Verfassungsvergleichung gehört zu den Standardmethoden des EuGH bei der Ermittlung von EG-Recht.227
IX. Die Wahrung der Weltrechtsidee als gemeinsame Aufgabe der Verfassungsgerichte Die Herrschaft des Rechts als großes Ideal der Aufklärung findet ihre Krönung in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Da die Globalisierung nationales, supranationales und internationales Verfassungsrecht immer stärker miteinander verflicht, können die Verfassungsgerichte ihre Aufgabe als Wahrer der Rechtsherrschaft nur erfüllen, wenn sie ihre „Betriebsblindheit“ überwinden und sich einer universellen Rechtsidee anschließen, die kurzfristige nationale Interessen transzendiert und allgemein politische Macht durch das Recht zu bändigen sucht. Ob dieses Umdenken gelingt, hängt weniger von Organisation, Zuständigkeit und Verfahren der Verfassungsgerichte ab als vom Amtsethos der einzelnen Richterpersönlichkeit. Verfassungsgerichte dienen letztlich dieser Weltrechtsidee, indem sie Machtpolitiker in ihrem jeweiligen Jurisdiktionsbereich – insgesamt dann aber weltweit – in die Schranken des 225 EuGH, Slg. 1999, I-8395 Rn. 34 (Rs. C-149 / 96) – betr. WTORecht; Urt. v. 3. 6. 2008, Rn. 54 ff. (Rs. C-308 / 06) – betr. Meeresvölkerrecht. 226 EuGH, Urt. v. 3. 9. 2008 (Rs. C-402 / 05 P u. a. – Kadi), Rn. 280 ff., EuGRZ 2008, S. 480 ff. 227 Franz C. Mayer, Die Bedeutung von Rechts- und Verfassungsvergleichung im europäischen Verfassungsverbund, in: Christian Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund (2008), S. 167 (172 ff.).
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nationalen und des internationalen Rechts verweisen, ganz gleich, ob die zur Prüfung stehende politische Entscheidung (nur) nach innen oder (auch) nach außen wirkt. Sie sollten sich dieser gemeinsamen Aufgabe stärker bewusst werden, voneinander lernen und einander im „Kampf ums Recht“ unterstützen. Verfassungsrichter tragen Verantwortung nicht nur gegenüber ihrem eigenen Volk, sondern gegenüber der Menschheit insgesamt; sie sind nicht Verfechter nationaler Interessen, sondern eines universellen Interesses an der Rechtlichkeit. Als Wahrer der Weltrechtsidee bilden die Verfassungsgerichte ein bislang weitgehend unsichtbares internationales Kollegium, das größere Sichtbarkeit verdienen würde.228 Eine dezentrale Weltjudikative kann sich nur allmählich und von unten bilden.
228 Vgl. Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, Harvard International Law Journal 44 (2003), S. 191 ff.; dies., A New World Order (2004), S. 65 ff.
Verfassungsgerichtsbarkeit in Italien Von Karin Oellers-Frahm I. Einleitung Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist eines der Themen, denen sich Eckart Klein, der mit diesem Symposium zu Recht geehrt wird, intensiv gewidmet hat. Viele kritische Entscheidungsanmerkungen und allgemeine Überlegungen zur Rolle des Verfassungsgerichts sowie rechtsvergleichende Betrachtungen stammen aus seiner Feder. Dem ist nur dadurch etwas hinzuzufügen, dass man den Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Staaten wirft, denen sich Eckart Klein zumindest nicht schriftlich zugewandt hat. Dafür soll hier das Beispiel Italien ergänzend zu den Ausführungen von Thomas Giegerich herangezogen werden und das insbesondere unter dem Aspekt der „Völkerrechtsverantwortung“ des Verfassungsgerichts, einem Thema, das Eckart Klein 2001 für das Bundesverfassungsgericht behandelt hat1 und das wegen der zunehmenden Vernetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen ständig an Bedeutung gewinnt. Einleitend soll jedoch zunächst in der gebotenen Kürze ein Überblick über Entstehung, Organisation und Funktionsweise des italienischen Verfassungsgerichts gegeben werden, um dann die neuen Entwicklungen darzustellen, die für die Beachtung internationaler Verträge, mit Wirkung insbesondere für den Schutz der in internationalen Instrumenten ver1 Eckart Klein, Die Völkerrechtsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Hans-Wolfgang Arndt et al. (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht, Festschrift für Walter Rudolf zum 70. Geburtstag, 2001, S. 293 – 304.
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bürgten Menschenrechte, und das Gemeinschaftsrecht eine deutliche Aufwertung bewirkt und damit die Völkerrechtsverantwortung des italienischen Verfassungsgerichts wesentlich gestärkt haben.
II. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde in Italien erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt.2 Aus den Beratungen zur Verfassung von 1947 lässt sich nicht erkennen, dass an eine bestimmte, bereits bestehende Verfassungsgerichtsbarkeit, Deutschland, Österreich oder USA z. B., angeknüpft wurde. Auch wenn zunächst der Blick stark auf die USA gerichtet wurde,3 so ist doch im Ergebnis davon abgewichen worden, denn in Italien hat man sich für das „konzentrierte“ System, nicht das aus den USA bekannte „diffuse“ System der Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden. Das „konzentrierte“ System wird in Italien mit dem Begriff „Prinzip der Einheit der Verfassungsrechtsprechung“ (principio dell’unità della giurisprudenza costituzionale) bezeichnet, was bedeutet, dass allein das Verfassungsgericht über Fragen der Verfassungsmäßigkeit entscheiden kann. Die Einführung dieses Prinzips hatte z. B. zur Folge, dass der Hohe Gerichtshof für Sizilien (Alta Corte per la Regione siciliana), der schon vor Inkrafttreten der Verfassung bestand und durch Verfassungsgesetz beibehalten wurde, abgeschafft werden musste, weil er auch zuständig war, Fragen der Verfassungsmäßigkeit staatlicher und regionaler Gesetze zu beurteilen. Das Verfassungsgericht erklärte mit Urteil Nr. 38 / 1957 und 6 / 1970 das Gesetz über den Hohen Gerichtshof für verfassungswidrig.4
2 Zur Geschichte s. Michael Dietrich, Der italienische Verfassungsgerichtshof, Status und Funktionen, 1995, S. 35 ff. 3 Dietrich (Fn. 2), S. 52. 4 Manlio Mazziotti di Celso / Giulio M. Salerno, Manuale di Diritto Costituzionale, 4. Aufl. 2007, S. 496.
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Das italienische Verfassungsgericht ist, anders als das deutsche im Grundgesetz, nicht in dem Titel „Rechtsprechung“ geregelt, sondern in dem Titel „Verfassungsgarantien“, was darauf hindeutet, dass es zumindest kein Gericht im überlieferten Sinn sein sollte. Dennoch bezeichnet die h. L. die Funktion des Verfassungsgerichts als rechtsprechende Funktion,5 nicht, wie Mindermeinungen z. B. als „negativ-gesetzgebende“6 Funktion oder aber als völlig außerhalb des DreiGewalten-Systems7 stehend. Das Verfassungsgericht selbst hat seine Funktion als höchste Garantie der Beachtung der Verfassung durch die Organe des Staates und der Regionen bezeichnet, die nicht Teil der ordentlichen oder speziellen Gerichtsbarkeit ist.8 Zutreffend ist sicher die Charakterisierung des ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts Amadei, der das Gericht nicht als ein Rechtsprechungsorgan im eigentlichen engen Sinn des Begriffes versteht, sondern als rechtsprechendes und politisches Organ zugleich.9 Dies erinnert an die entsprechende Diskussion in Deutschland, namentlich die Auffassung von Forsthoff10 und Krüger11.
5 Vezio Crisafulli, Lezioni di diritto costituzionale, 5. Aufl. 1984, II, S. 237. 6 Piero Calamandrei, Corte costituzionale e autorità giudiziaria, Riv. dir. proc. 1956, I, S. 12; Giovanni Persico, La Corte Costituzionale, 1949, S. 78. 7 Discorso del Presidente Azzariti nella seduta inaugurale del secondo anno di attività delle Corte, Giur. cost. 1957, S. 879; Discorso pronunciato dal Presidente Azzariti all’udienza del 27 aprile 1960 in occasione dell’inizio del quinto anno di attività della Corte, Foro it. 1960, IV, S. 169; Pietro Virga, Diritto costituzionale., 3. Aufl. 1955, S. 306. 8 So z. B. Urteil 13 / 1960, Foro it. 1960, I, S. 717; Urteil 15 / 1969, Foro it. 1969, I, S. 8224; Urteil 142 / 1973, Foro it. 1973, I, S. 2650. 9 Giur. Cost. 1981, I, S. 1170. 10 Ernst Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 231. 11 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 709.
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III. Personale Struktur Das italienische Verfassungsgericht setzt sich aus 15 Richtern zusammen (Art. 135 Verf.), die aus den Reihen der Richter der höchsten ordentlichen und Verwaltungsgerichte einschließlich der im Ruhestand befindlichen Richter, der ordentlichen Universitätsprofessoren für Rechtswissenschaften und der Anwälte mit mindestens zwanzigjähriger Praxis gewählt werden. (Art. 135 Abs. 2 Verf.). Ihre Amtszeit beträgt neun Jahre; eine zweite Amtszeit ist ausgeschlossen. Ein Drittel der Richter wird vom Präsidenten der Republik bestellt, ein Drittel vom Parlament in gemeinsamer Sitzung12 und ein Drittel von den obersten ordentlichen und Verwaltungsgerichten gewählt (drei vom Kassationshof, einer vom Staatsrat und einer vom Rechnungshof). Das sieht auf den ersten Blick so aus, als ob jede der drei Gewalten fünf Richter bestellt. Da jedoch der Präsident in Italien nicht zur Exekutive gezählt wird, sondern als „potere neutro“ oder „organo supra partes“ bezeichnet wird,13 trifft das nur sehr bedingt zu. Diese Art der Bestellung, insbesondere die Einbindung der obersten Gerichte, hebt die Bestellung jedoch zumindest etwas von dem parteipolitischen Zusammenhang ab, der bei der Bestellung allein durch das Parlament wie in Deutschland immer gegeben ist. Auf der anderen Seite mag dies die angestrebte mittelbare Legitimation durch das Volk beschränken, die – zumindest theoretisch – nur bei den durch das Parlament und den Präsidenten bestellten Richtern gegeben ist, da der Präsident vom Parlament, also Abgeordnetenkammer und Senat, in gemeinsamer Sitzung gewählt wird.14
12 Bei der gemeinsamen Sitzung der beiden Kammern ist in den ersten beiden Wahlgängen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, danach eine Dreifünftelmehrheit. 13 Dietrich (Fn. 2), S. 61. 14 Art. 83 Verfassung.
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IV. Zuständigkeiten Die Kompetenzen des Verfassungsgerichts sind abschließend in der Verfassung und dem Verfassungsgerichtsgesetz (Gesetz Nr. 1, 1953) geregelt. Nach Art. 134 der Verfassung entscheidet das Verfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit von staatlichen und regionalen Gesetzen und Vorschriften mit Gesetzeskraft (Normenkontrollverfahren); außerdem entscheidet es über Zuständigkeitskonflikte zwischen den Organen der Staatsgewalt sowie zwischen dem Staat und den Regionen und zwischen den Regionen (Organstreitigkeiten / Zuständigkeitskonflikte). Zudem ist es zuständig für Anklagen gegen den Präsidenten der Republik; in diesem Fall wird allerdings die Zusammensetzung des Gerichts geändert, indem zu den 15 Richtern 16 Staatsbürger hinzukommen.15 Eine weitere Kompetenz betrifft die Prüfung der Zulässigkeit eines Referendums (Art. 75 Verfassung). Eine Verfassungsbeschwerde gibt es in Italien nicht. Die Entscheidungen werden mehrheitlich getroffen. Anders als in Deutschland und den USA sind Sondervoten nicht zulässig. 1. Normenkontrollverfahren
Wie in Deutschland gibt es auch in Italien die konkrete und abstrakte Normenkontrolle, die hier als indirekte bzw. direkte Befassung des Verfassungsgerichts bezeichnet wird.16 a) Die konkrete (indirekte oder auch inzidente) Normenkontrolle, mit Abstand die am häufigsten genutzte Verfahrensart, entspricht weitgehend dem deutschen Pendant. Das heißt, dass in dem Fall, in dem im Laufe eines vor einem Fachgericht anhängigen Verfahrens die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder Akts mit Gesetzeskraft zweifelhaft und entscheiArt. 90 und Art. 135 Abs. 6 Verfassung. Vgl. hierzu Roland Riz / Esther Happacher Brezinka, Grundzüge des italienischen Verfassungsrechts, 2. Aufl. 2004, S. 200 ff.; Mazziotti di Celso / Salerno (Fn. 4), S. 504 ff. 15 16
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dungserheblich ist, diese Frage dem Verfassungsgericht vorgelegt werden muss. Da diese Verfahrensart weitgehend der deutschen Inzidentkontrolle gleicht, sind weitere Details hier nicht erforderlich. Allerdings wirft sie in Italien insofern ein Problem auf, als es dem mit dem Verfahren befassten Richter überlassen ist, die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit, die auch von der Partei geltend gemacht werden können, vorzulegen. Hält er die Vorlage nicht für erforderlich, so hat der Einzelne kein Rechtsmittel zu Verfügung, die vermutete Verfassungswidrigkeit prüfen zu lassen, weil es die Verfassungsbeschwerde nicht gibt. b) Die abstrakte Normenkontrolle kann auch in Italien nur von bestimmten Staatsorganen eingeleitet werden, nämlich der Regierung der Republik bezüglich der regionalen Gesetzgebungsbefugnis und den Regionen und Autonomen Provinzen bezüglich der staatlichen Gesetzgebung, jedoch nur soweit ihr Zuständigkeitsbereich als verletzt angesehen wird.17 Die abstrakte Normenkontrolle oder, nach italienischer Terminologie, direkte Beschwerde zum Verfassungsgericht, hat eine sprunghafte Entwicklung zu verzeichnen, nachdem durch eine Änderung der Verfassung im Jahre 2001 die föderalen Elemente in der Verfassung ausgebaut wurden und auch in Italien die Unabhängigkeit der Regionen gestärkt wurde, insbesondere im Gesetzgebungsbereich. Nunmehr kennt auch Italien die ausschließliche staatliche und die ausschließliche regionale Zuständigkeit sowie die konkurrierende Zuständigkeit.18 Da die vorgesehenen Ausführungsgesetze zur genaueren Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen zu diesen inzwischen auch nicht mehr ganz neuen Regelungen noch weitgehend fehlen, hatte das Verfassungsgericht einzuspringen, das 17 Auf die Besonderheiten, die für die Region Trentino-Südtirol gelten, sei hier nur kurz verwiesen: Nach Art. 56 des Statuts für Trentino-Südtirol ist das Verfassungsgericht zuständig, wenn die Mehrheit der Vertreter einer Sprachgruppe im Regionalrat oder im Landtag der Region annehmen, dass ein Gesetzentwurf die Gleichberechtigung der Bürger der Sprachgruppen oder ihre ethnischen und kulturellen Merkmale verletzt. 18 S. Titel V der Verfassung.
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mit einer wahren Flut von Fällen insbesondere in Fragen der konkurrierenden Gesetzgebung befasst wird. 2. Zuständigkeitskonflikte
Das Verfassungsgericht hat ausschließliche Kompetenz zur Entscheidung über Konflikte zwischen Verfassungsorganen, in denen es um die Zuweisung von Befugnissen oder Vollmachten geht; Art. 134 Abs. 2 Verfassung. Dabei kann es sich um positive Kompetenzkonflikte handeln, wenn nämlich zwei oder mehrere Organe sich für zuständig halten, oder aber um negative Konflikte, wenn keines der in Frage kommenden Organe sich für zuständig hält, einen bestimmen Akt zu vollziehen. Die Konflikte, über die das Verfassungsgericht zu entscheiden hat, können solche zwischen den „Gewalten“ oder „verfassungsrechtlichen Organen des Staates“ sein, solche zwischen dem Staat und den Regionen bzw. dem Staat und den Autonomen Provinzen Bozen und Trient und schließlich solche zwischen den Regionen, was die Autonomen Provinzen einschließt. Zuständigkeitskonflikte betreffen nur Verwaltungsakte, Regierungsakte oder politische Akte, aber niemals Gesetze, da diese ausschließlich im Wege der direkten oder indirekten Normenkontrolle angefochten werden können.19
V. Der Entscheidungsinhalt 1. Die Verfassung und das Verfassungsgerichtsgesetz sehen nur zwei Alternativen für den Inhalt der Entscheidung in der Hauptsache vor: zum einen kann die Vorlage verworfen werden (sentenza di rigetto). Diese Art der Entscheidung enthält nicht die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Norm, sondern allein die Feststellung der Unbegründetheit der angeführten Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit. 19 Riz / Happacher Brezinka (Fn. 16), S. 210 ff.; Mazziotti di Celso / Salerno (Fn. 4), S. 529 ff.
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Diese Entscheidungen haben keine Wirkung erga omnes; dieselbe Norm kann mit anderen Gründen jederzeit erneut angegriffen werden.20 Zum anderen kann die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm festgestellt werden (Annahmeentscheidung) mit Wirkung erga omnes und Nichtigerklärung der Norm. 2. In der Praxis ist es auch in Italien aber nicht bei diesen beiden Entscheidungsinhalten geblieben. Das Verfassungsgericht hat weitere Urteilstypen entwickelt, die hier nur kurz genannt werden können.21 Zunächst sind hier die Auslegungsurteile (sentenze interpretative) zu nennen, die in der Form des auslegenden Abweisungsurteils vorkommen, mit dem durch verfassungskonforme Interpretation die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm vermieden werden kann,22 oder aber in Form des auslegenden Annahmeurteils, durch das die Bestimmung insoweit für verfassungswidrig erklärt wird, als ihr eine nicht verfassungskonforme Auslegung entnommen wird. Es wird also die falsch interpretierte, und damit verfassungswidrige Norm aufgehoben.23 Diese Urteile ähneln den teilentscheidenden Urteilen, die dann gewählt werden, wenn eine Norm mehrere Auslegungen zulässt oder mehrere Begriffe beinhaltet, so dass nur der Teil aufgehoben wird, der verfassungswidrig ist. Diese Urteilsform hat die auslegenden Annahmeurteile inzwischen weitgehend abgelöst. Mazziotti di Celso / Salerno (Fn. 4), S. 519. Vgl. hierzu Mazziotti di Celso / Salerno (Fn. 4), S. 522 ff. 22 Urteile 228 / 2003, 59 / 2004; 3335 / 2003 und 243 / 2003. Obwohl der Kassationshof, Urteil 23016 / 2004, die Erga-omnes-Wirkung von interpretativen Urteilen verneint hat, ist dies nicht überzeugend, da nach einem auslegenden Urteil die Norm nur in der vorgegebenen Auslegung verfassungsgemäß ist. S. Riz / Happacher Brezinka (Fn. 16), S. 108; Dietrich (Fn. 2), S. 96 ff. 23 Urteil 26 / 1961; 11 / 1965; 202 / 1985. S. Gustavo Zagrebelsky, Enciclopedia del diritto, Bd. XXXVI, 1987, Stichwort: Processo costituzionale, S. 389 ff.; Crisafulli (Fn. 5), S. 396 und Mazziotti di Celso / Salerno (Fn. 4), S. 524. 20 21
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Außerdem gibt es sog. Appellentscheidungen (ermahnende Urteile), mit denen das Verfassungsgericht das Parlament auffordert, verfassungswidrige Bestimmungen abzuändern oder aufzuheben, was in den Fällen sinnvoll ist, in denen die Erklärung der Verfassungswidrigkeit zu unerwünschten Folgen führen würde.24 In Appellentscheidungen beschränkt sich das Verfassungsgericht aber häufig nicht nur auf einen allgemeinen Appell, sondern gibt auch schon mal deutlich an, wie die angeforderte Gesetzgebung aussehen soll.25 Daneben gibt es sog. ergänzende Urteile, in denen die Verfassungswidrigkeit einer Norm erklärt wird, soweit sie eine bestimmte Regelung nicht trifft, z. B. in dem Fall, dass für gewisse Personen oder Kategorien vorgesehene Privilegien auf andere ausgedehnt werden müssen (Art. 3 Verf.), so dass die Ausdehnung auf weitere Gruppen anstelle der Abschaffung der Privilegien gewählt wird. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hebt damit ein Unterlassen des Gesetzgebers auf, allerdings ohne den Wortlaut des Gesetzes zu ändern, denn das bleibt allein dem Gesetzgeber vorbehalten, auch wenn die Wirkung der Entscheidung praktisch die Gesetzesänderung impliziert. Hiergegen bestehen in der Doktrin keine Bedenken, solange das Verfassungsgericht sich auf die Fälle beschränkt, in denen kein Ermessen des Gesetzgebers besteht, in der Regel Fälle, in denen die Ergänzung der Norm sich ausschließlich aus Verfassungsprinzipien ergibt.26 Zu erwähnen sind schließlich die manipulierenden Urteile, bei denen bei gleichzeitiger Erklärung der Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Norm der 24 Diese Art der Entscheidung ist sehr häufig; Dietrich (Fn. 2), S. 111 f. mit Nachweisen. 25 Dietrich (Fn. 2), S. 111. Als besonders deutliches und frühes Beispiel sei verwiesen auf das Urteil 225 / 1974, Foro it., 1974, I, 1945, 1951 ff., zum Rundfunkrecht, in dem das Verfassungsgericht seine Auffassung zu den Mindestanforderungen darlegt, die erfüllt sein müssen, um die Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Rundfunkmonopols zu begründen. Es gibt hier einen 7-Punkte-Katalog vor, den der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes zu beachten hat. 26 Mazziotti di Celso / Salerno (Fn. 4), S. 524 f.; Urteil 218 / 1995, öffentliche Leistungen; 228 / 1994, 398 / 1989.
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Richter a quo angewiesen wird, sein Urteil auf eine andere, verfassungsrechtlich unbedenkliche Norm zu gründen.27 Das Verfassungsgericht fühlt sich also relativ frei bei der Gestaltung seiner Urteile. Diese Freiheit sei aber nicht mit dem Willen des Verfassungsgerichts zu erklären, „die Grenzen seiner eigenen Funktionen zu überschreiten und den anderen Organen vorbehaltenen Raum zu besetzen, sondern nur mit der ernsten Sorge um die Konsequenzen eines schematischen Gebrauchs der getexteten Eingriffsmöglichkeiten“, so der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts Amadei.28
VI. Der Prüfungsmaßstab Prüfungsmaßstab ist die Verfassung. Diese Feststellung klingt simpel, fast banal, und doch ist nicht immer eindeutig, was im Einzelnen zum bloc de constitutionnalité gehört. Unstreitig gehören dazu die Bestimmungen der Verfassung und Verfassungsgesetze, aber auch die Verfassungsprinzipien, die sich aus mehreren Verfassungsnormen ergeben, wobei der normative Gehalt bisweilen durch Rückgriff auf einfache Gesetze erfolgen muss, die zur Ausführung der Verfassungsbestimmungen ergangen sind.29 Von besonderer Bedeutung ist heute jedoch vor allem, welche Rolle völkerrechtliche Verpflichtungen spielen. Für Völkergewohnheitsrecht trifft die italienische Verfassung in Art. 10 Abs. 1 die völkerrechtsfreundliche Lösung, dass sich die italienische Rechtsordnung den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts anpasst. Damit gehören diese Regeln zum bloc de constitutionnalité. Wie in anderen Verfassungen auch, z. B. in der deutschen, ist eine vergleichbare Regelung für Verträge und damit auch das Gemeinschaftsrecht nicht Riz / HappacherBrezinka (Fn. 16), S. 208. 25. Jubiläum des Verfassungsgerichtshofs, Giur. Cost. 1981, I, S. 1169; Übersetzung bei Dietrich (Fn. 2), S. 114. 29 Dietrich (Fn. 2), S. 118. 27 28
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getroffen worden. Da internationale Verträge den Handlungsspielraum des Staates zunehmend eingrenzen bzw. ihn ersetzen, ist die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang aber von besonderer Bedeutung. Auf diesen Aspekt sollen sich die weiteren Ausführungen beschränken, da sich in diesem Bereich im letzten Jahr in Italien sehr interessante Entwicklungen ergeben haben. 1. Völkerrechtliche Verträge vor 2001
In einem Staat wie Italien, in dem völkerrechtliche Verträge und damit auch die Verträge zum Schutz der Menschenrechte ebenso wie die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften nur den Rang des sie umsetzenden einfachen Gesetzes haben, bleibt dem Verfassungsgericht grundsätzlich die Prüfung der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit internationalen vertraglichen Verpflichtungen versperrt, so dass eine allgemeinverbindliche Letztinterpretation durch das Verfassungsgericht fehlt. Anderes gilt nur in dem Fall, in dem internationale Verträge ausdrücklich als Prüfungsmaßstab in der Verfassung vorgesehen sind, obwohl sie selbst keinen Verfassungsrang genießen. Man spricht hier von „norme interposte“, also zwischengeschalteten Normen, weil ihre Verletzung eine Verletzung der Verfassungsbestimmung nach sich zieht. Bis zur Änderung der Verfassung im Jahre 2001 traf dies nur auf die Rechtsstellung von Ausländern zu, die nach Art. 10 Abs. 2 der Verfassung „in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Regeln und Verträgen durch Gesetz geregelt wird“, sowie auf die Beziehungen zwischen dem Staat und der katholischen Kirche, Art. 7 der Verfassung, die in den Lateranverträgen geregelt sind. Wegen der Verweisung in Art. 10 Abs. 1 der Verfassung, wonach sich die italienische Rechtsordnung den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts anpasst, gehört auch das Völkerrechtlichgewohnheitsrecht unzweifelhaft zum Prüfungsmaßstab des Verfassungsgerichts. Obwohl die italienische Verfassung einen umfangreichen Katalog von Grundrechten enthält, Art. 1 – 54 der Verfassung,
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und damit der Schutz der Individualrechte durch das Verfassungsgericht gesichert ist, insbesondere, da diese Rechte weitgehend mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen,30 war doch immer wieder bemängelt worden, dass die EMRK und andere internationale Instrumente zur Verbürgung der Menschenrechte nicht der letztinstanzlichen Anwendbarkeit durch das Verfassungsgericht bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nationalen Rechts zugänglich sind. Zwar hatte das Verfassungsgericht in einer viel beachteten Entscheidung von 1993 festgestellt, dass die Normen der EMRK wegen ihres Charakters der Verbürgung unveräußerlicher Grundrechte de facto über einfachen Gesetzen stehen,31 aber das reichte auch noch nicht, um sie als Teil des bloc de constitutionnalité zur Prüfung durch das Verfassungsgericht heranzuziehen. 2. Völkerrechtliche Verträge nach 2001
Im Zuge der Föderalisierung durch die Verfassungsänderung von 200132 und die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Staat und Regionen ist der Bereich der norme interposte, die Prüfungsmaßstab des Verfassungsgerichts sind, weil in der Verfassung auf sie Bezug genommen 30 S. Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts 315 / 1990, 228 / 1997, 388 / 1999 sowie bereits 7 / 1967 und 120 / 1967, in denen betont wurde, dass die Rangfrage der EMRK unerheblich sei, da die relevanten Normen der Verfassung im wesentlichen mit den entsprechenden Bestimmungen der EMRK übereinstimmen. Das Verfassungsgericht hat zudem ständig betont, dass die EMRK als Interpretationshilfe der nationalen Rechte anzuwenden ist: s. Entscheidungen 505 / 1995, 376 / 2000, 305 / 2001, 29 / 2003, 231 / 2004, und 299 / 2005. 31 Urteil 10 / 1993. Das Verfassungsgericht hatte in diesem Urteil festgestellt, dass die in der EMRK verbürgten Rechte aus einer „atypischen Rechtsquelle“ (fonte riconducibile a una competenza atipica) stammen und daher als solche „nicht durch einfaches Gesetz geändert oder aufgehoben werden können“ (insuscettibili di abrogazione o di modificazione da parte di disposizioni di legge ordinaria). 32 Verfassungsgesetz vom 18. Oktober 2001, Nr. 3, G.U. Nr. 248,vom 24. 10. 2001.
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wird, pauschal auf völkerrechtliche Verträge und das Gemeinschaftsrecht ausgedehnt worden. Art. 117 Abs. 1 in der Fassung von 2001 bestimmt: „Die gesetzgebende Gewalt wird vom Staat und den Regionen unter Beachtung der Verfassung wie auch der sich aus dem Gemeinschaftsrecht und den internationalen Verpflichtungen ergebenden Bindungen ausgeübt.“
Das bedeutet, dass alle von Italien ratifizierten internationalen Verträge und das Gemeinschaftsrecht nunmehr (mittelbar) als Prüfungsmaßstab heranzuziehen sind, denn eine nationale oder regionale Gesetzesnorm verletzt Art. 117 Abs. 1 der Verfassung, wenn sie einen internationalen Vertrag oder Gemeinschaftsrecht verletzt. Wie diese Prüfung im Einzelnen aussieht, hat das Verfassungsgericht für internationale Verträge in zwei Entscheidungen vom Oktober 200733 und für das Gemeinschaftsrecht in zwei Entscheidungen vom April 200834 klargestellt, denn da es sich bei internationalen Verträgen und Gemeinschaftsrecht nur um „zwischengeschaltete Normen“ handelt, also Normen, die selbst keinen Verfassungsrang genießen, kann das Verfassungsgericht nach wie vor nicht direkt mit der Frage der Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Gemeinschaftsrecht oder internationalen Verträgen befasst werden, sondern nur mit der Frage der Verletzung von Art. 117 Abs. 1 der Verfassung. a) Die EMRK als Prüfungsmaßstab
In den Entscheidungen vom Oktober 2007 handelte es sich um konkrete Normenkontrollverfahren, in denen der ordentliche Richter die Zweifel des Klägers an der Vereinbarkeit eines Gesetzes über die Entschädigung bei Enteignung von 33 Entscheidung Nr. 348 und 349 vom 22.-24. Oktober 2007, G. U., 1a serie speciale, Corte Costituzionale, Nr. 42, vom 31. 10. 2007, S. 15 ff. 34 Entscheidung Nr. 102 und 103 vom 13. Februar – 15. April 2008, G.U., 1a serie speciale, Corte Costituzionale, Nr. 17, vom 16. April 2008, S. 56 ff.
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Baugrundstücken mit Art. 6 EMRK und Art. 1 des I. ZP zur EMRK und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) teilte. Die Entschädigung war in bestimmten Fällen, in denen die Enteignung als Maßnahme zur Behebung eines wirtschaftlichen Notstandes vorgenommen wurde, um 50 % geringer als üblich. Obwohl diese Regelung nur als eine vorübergehende, zeitlich befristete Maßnahme gedacht war, wurde sie in dem gerügten Gesetz dauerhaft zementiert. Der EGMR hatte Italien bereits mehrmals wegen Verletzung von Art. 1, I. ZP aufgrund ebendieses Entschädigungsgesetzes verurteilt,35 ohne dass dies zu irgendwelchen Maßnahmen Italiens geführt hätte, da das Verfassungsgericht feststellte – und auch keine andere Wahl hatte als festzustellen –, dass die Gesetze gegen keine Vorschrift der Verfassung verstießen und daher verfassungsmäßig seien.36 Nach der Änderung von Art. 117 Abs. 1 der Verfassung müssen alle nationalen Gesetze mit den internationalen Verpflichtungen Italiens in Einklang stehen. Das bedeutet, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR als Prüfungsmaßstab durch das Verfassungsgericht heranzuziehen sind. Nur am Rande ist im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall zu erwähnen, dass der Versuch der Kläger, der gesamten EMRK und der Rechtsprechung des EGMR Direktwirkung in der italienischen Rechtsordnung zuzusprechen, weil sie über Art. 6 Abs. 2 des EU-Vertrages37 „vergemeinschaftet“ worden seien, zu Recht nicht – oder vielleicht noch nicht – vom Verfassungsgericht geteilt wurde.38 35 S. die Urteile EGMR (Erste Sektion), Scordino . / . Italien (Nr. 1), Urt. v. 29. 7. 2004, Nr. 36813 / 97, sowie EGMR (GK), Scordino . / . Italien (Nr. 1), ECHR 2006-V = NJW 2007, S. 1259. 36 Urteil 223 / 1993, 414 / 1993 und 442 / 1993. 37 Art. 6 Abs. 2 lautet: „Die Union achtet die Grundsätze, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“
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Da die Fachgerichte nicht befugt sind, Gesetze, die nach ihrer Auffassung nicht mit der EMRK vereinbar sind, nicht anzuwenden, und da eine Verletzung der EMRK nicht direkt vor das Verfassungsgericht gebracht werden konnte, ist die neue Funktion des Verfassungsgerichts auf der Grundlage von Art. 117 Abs. 1 der Verfassung von großer Bedeutung, denn nunmehr kann das Verfassungsgericht erstmalig die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit einem internationalen Vertrag prüfen, um festzustellen, ob eine Verletzung von Art. 117 Abs. 1 der Verfassung vorliegt. Es handelt sich also um eine „indirekte“ Verfassungsverletzung, und daher erfolgt die Prüfung durch das Verfassungsgericht in zwei Schritten: in einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das gerügte Gesetz dem Vertrag, hier der EMRK, widerspricht. Wird dies bejaht, dann ist zweitens zu prüfen, ob der Vertrag, bzw. die konkret einschlägige Vertragsbestimmung mit der Verfassung übereinstimmt. Wird auch dies bejaht, so wird die Verfassungswidrigkeit des nationalen Gesetzes wegen Verletzung von Art. 117 Abs. 1 festgestellt. Ist hingegen die Verfassungsmäßigkeit der internationalen Bestimmung zu verneinen, so muss diese Bestimmung „nach den üblichen Methoden“ aus der italienischen Rechtsordnung entfernt werden.39 Die gerügte natio38 Das Verfassungsgericht führt hierzu im Einzelnen aus, dass Art. 11 der Verfassung auf die EMRK nicht anwendbar ist. Art. 11 sieht vor, dass Italien „Souveränitätsbeschränkungen zustimmen kann, die für eine Ordnung notwendig sind, welche den Frieden und die Gerechtigkeit der Nationen gewährleistet“. Diese Vorschrift hat es ermöglicht, bestimmten Gemeinschaftsrechtsnormen direkte Wirkung in der italienischen Rechtsordnung einzuräumen aufgrund der Souveränitätsübertragung. Eine Übertragung von Souveränität liegt bei der EMRK jedoch nicht vor. Auch die Tatsache, dass die Grundrechte und die in der EMRK verbürgten Rechte allgemeine Prinzipien des Gemeinschaftsrechts sind, bedeutet nicht, dass die EMRK „vergemeinschaftet“ worden ist und damit in den Bereich von Art. 11 der Verfassung fällt. Der Europarat und die EMRK mit ihrem Rechtsschutzsystem sind institutionell und funktional von der EU zu unterscheiden; Punkt 6.1. der Begründung in der Entscheidung 349 (Fn. 33). S. aber auch unten unter VII. 39 Urteil 348 / 2007, S. 33, Punkt 4.7 der Begründung: „Nell’ipotesi di una norma interposta che risulti in contrasto con una norma costituzionale, questa Corte ha il dovere di dichiarare l’inidoneità della stessa ad inte-
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nale Norm wird dann in der gewohnten Weise auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft.40 Auch wenn es sich im vorliegenden Verfahren um ein konkretes Normenkontrollverfahren handelte, so kann man doch feststellen, dass das Verfahren in einem abstrakten Normenkontrollverfahren genauso ablaufen würde, da, anders als im Gemeinschaftsrecht, die Interpretation des Vertragsrechts nicht einem eigenen Rechtsprechungsorgan vorbehalten ist. Zwar verfügt die EMRK über ein eigenes Rechtsprechungsorgan, – weshalb die Auslegung der EMRK durch das Gericht für die Mitgliedstaaten verbindlich ist –, aber die Auslegung ist dort nicht konzentriert bzw. monopolisiert, wie beim EuGH auf Grund der Vorlagepflicht in Art. 234 EGV. b) Das Gemeinschaftsrecht als Prüfungsmaßstab
Dies wird in den Entscheidungen vom April 2008 bestätigt, die die praktische Bedeutung von Art. 117 Abs. 1 für das Gemeinschaftsrecht verdeutlichen und den Einfluss des Auslegungsmonopols des EuGH auf die Tätigkeit des Verfassungsgerichts klären. Das Ausgangsverfahren war hier eine abstrakte Normenkontrolle, die ein Gesetz der Region Sardinien zur Besteuerung von Fluggesellschaften betraf. Darin war eine Steuer auf Touristenflüge während der Saison eingeführt worden, die aber nur Gesellschaften betraf, die ihren grare il parametro, provvedendo, nei modi rituali, ad espungerla dall’ordinamento giuridico italiano.“ 40 S. zu dieser Entscheidung aus der Vielzahl der Anmerkungen Renzo Dickmann, Corte Costituzionale e diritto internazionale, Foro Amministrativo 2007, S. 3591 – 3611; Ruggiero Cafari Panico / Laura Tomasi, Il futuro della CEDU tra giurisprudenza costituzionale e diritto dell’Unione, Diritto pubblico comparato ed europeo, 2008, S. 186 – 204; Laura Montanari, La difficile definizione dei rapporti con la CEDU alla luce del nuovo art. 117 della Costituzione, ibid., 204 – 215; Maria Teresa Stile, Il problema del giudicato di diritto interno in contrasto con l’ordinamento comunitario e con la CEDU, Diritto comunitario e degli scambi internazionali, 46 (2007), S. 237 – 266.; Diletta Tega, La CEDU nella giurisprudenza della Corte costituzionale, Quaderni costituzionali 27 (2007), S. 431 – 444.
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Sitz nicht in Sardinien hatten. Dies schien dem Präsidenten des Ministerrats, der das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle einleitete, unvereinbar mit der Gleichberechtigung im Dienstleistungsbereich, Art. 49 EGV, sowie den Vorschriften über Beihilfen, Art. 87 EGV. Nachdem das Verfassungsgericht im ersten Schritt die Verfassungsmäßigkeit dieser Steuer bejaht hatte, musste es im zweiten Schritt zur Rüge der Verletzung des Gemeinschaftsrechts Stellung nehmen, und dies führte dann zum ersten Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV durch das italienische Verfassungsgericht, da Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Norm mit Gemeinschaftsrecht in der Tat bestanden.41 Die Frage war, wie bereits erwähnt, in einem abstrakten Normenkontrollverfahren vor das Verfassungsgericht gebracht worden, d. h. dass das Verfassungsgericht erste und letzte Instanz war. Aus diesem Grund hielt es sich für verpflichtet, die Frage dem EuGH vorzulegen, da die Voraussetzungen von Art. 234 EGV erfüllt waren: Das Verfassungsgericht ist ein einzelstaatliches Gericht im Sinne von Art. 234 und im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist es das Gericht, gegen dessen Entscheidungen es keine Rechtsmittel gibt. Würde in einer solchen Konstellation die Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht dem EuGH vorgelegt, so würde dies eine schwere Beeinträchtigung der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts nach sich ziehen.42 Das Verfassungsgericht stellt aber auch klar, dass die Situation anders zu beurteilen wäre, wenn es sich um ein konkretes Normenkontrollverfahren handelte. Denn in einem solchen Verfahren ist der (letztinstanzliche) ordentliche Richter, und nur er, aufgerufen, die Frage der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Gemeinschaftsrecht zu prüfen und gegebenenfalls dem EuGH vorzulegen. Hier ist es dem Verfassungsgericht versagt, die Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zu prüfen, wenn das Verfahren dem Verfassungsgericht im Wege der konkreten Normenkontrolle vorgelegt wird. Da41 42
ABl. 2008 Nr. C 171 / 24 (Rs. C-169 / 08). Entscheidung 103 / 2008, Punkt 3 (Fn. 34), S. 107.
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mit hat das Verfassungsgericht von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen, die Nichtvorlage an den EuGH durch den ordentlichen Richter zu heilen. Da dem einfachen Richter die Entscheidung überlassen ist, Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts vorzulegen, und da der Einzelne nicht die Möglichkeit hat, die Verletzung der Vorlagepflicht in Form der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter, in Italien Art. 113 Verf., geltend zu machen, weil es in die Verfassungsbeschwerde nicht gibt, bleibt beim konkreten Normenkontrollverfahren die Prüfung der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Gemeinschaftsrecht unvollkommen, wenn der ordentliche Richter von einer Vorlage an den EuGH absieht.
VII. Schlussbetrachtung Die Aufwertung von Gemeinschaftsrecht und völkerrechtlichen Verträgen als norme interposte und damit Prüfungsmaßstab der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen des Staates und der Regionen ist ohne Frage zu begrüßen. Man könnte aber fragen, ob der neue Art. 117 Abs. 1 der Verfassung nicht zumindest mit Bezug auf das Gemeinschaftsrecht nur deklaratorischen Charakter hat, indem er eine implizit bereits gebotene Tatsache formuliert. Denn wenn in der Verfassung, in Italien Art. 11 (in Deutschland Art. 23) die Abtretung von Souveränität an eine internationale Organisation, die „den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen gewährleistet“, niedergelegt ist – und hierzu zählt die Europäische Gemeinschaft – kann eigentlich daraus nur gefolgert werden, dass der Staat, und das schließt die Regionen ein, keine Akte erlassen darf, die das Gemeinschaftsrecht, zumindest das direkt geltende Recht, also Verordnungen und Entscheidungen, verletzen. In dem Sinn könnte man das Gemeinschaftsrecht wegen der Bezugnahme in Art. 11 bereits vor der Änderung von Art. 117 Abs. 1 der Verfassung als „norma interposta“ bezeichnen und es damit auch ohne den neuen Art. 117 Abs. 1 bereits als Teil des Prüfungsmaßstabes des Verfassungs-
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gerichts bewerten.43 Diese These wird untermauert durch eine Erwägung des Verfassungsgerichts in der Entscheidung 348 vom Oktober 2007. Hier hatte das Verfassungsgericht zu den bereits bestehenden Normen, die den Prüfungsmaßstab um internationale Verträge erweitern, nicht nur Art. 10 Abs. 2 und Art. 7 der Verfassung genannt, sondern auch Art. 11, der vorsieht, dass Italien Souveränitätsbeschränkungen zustimmen kann mit der Folge, dass Gemeinschaftsnormen direkte Wirkung in der italienischen Rechtsordnung entfalten.44 Andrerseits ist aber auch festzuhalten, dass durch die Erweiterung des bloc de constitutionnalité der dualistische Aspekt der italienischen Rechtsordnung bestärkt wird: das Verfassungsgericht wacht darüber, dass „die italienische Rechtsordnung nicht durch externe Quellen geändert wird, die nicht von internationalen Organisationen erlassen werden, an die Italien Souveränität abgetreten hat“.45 Das ist aus innerstaatlicher Sicht nachvollziehbar und spiegelt die Haltung zahlreicher Staaten wider. Allerdings ist es äußerst bedenklich, dass durch die Bestimmung in Art. 117 Abs. 1 der Verfassung jederzeit die Verfassungsmäßigkeit eines internationalen Vertrages auf den Prüfstand gestellt werden kann. Bisher wurde diese Frage in Italien, ebenso wie in zahlreichen anderen Staaten, vor der Ratifikation des Vertrages geprüft.46 Dadurch, dass jederzeit die Verfassungsmäßigkeit eines Vertrages geprüft werden kann, wird Italien zu einem „unsicheren Kandidaten“ auf der völkerrechtlichen Ebene. Zwar kann die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nicht die internationale Verpflichtung Italiens berühren,47 da aber nach innerstaatlichem Recht die für verfassungswidrig erklärte Vertragsbestim43 Dies wird ausdrücklich bereits in den Entscheidungen des Verfassungsgerichts 183 / 1973 und 170 / 1984 bestätigt. 44 Oben Anm. 39 und Entscheidung 348 (Fn. 33), Punkt 3.3. der Begründung, S. 30. 45 Urteil Nr. 348, Ziffer 4.7. der Begründung. 46 S. hierzu Dickmann (Fn. 40), S. 3607. 47 S. Art. 27 Wiener Vertragsrechtskonvention.
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mung unanwendbar wird, bzw. exakter die in das italienische Recht umgesetzte internationale Norm,48 sind Völkerrechtsverletzungen und Haftungsfragen vorprogrammiert.49 Diese problematische Folge könnte insbesondere mit Bezug auf Verträge zum Schutz der Menschenrechte dadurch vermieden werden, dass diesen gewohnheitsrechtlicher Charakter zuerkannt wird, so dass sie über Art. 10 Abs. 1 der Verfassung unmittelbar in die italienische Rechtsordnung einfließen. Bisher hat das Verfassungsgericht eine derartige Qualifikation von Menschenrechten zwar immer ausdrücklich abgelehnt; dies mag aber damit zu erklären sein, dass es auch ohne diesen Schritt die Anwendbarkeit der in Frage stehenden Rechte begründen konnte und es keine Veranlassung gab, Menschenrechten über Art. 10 der Verfassung Geltung zu verschaffen. Für die in der EMRK verbürgten Rechte zeichnet sich allerdings eine andere Lösung für die Begründung ihrer direkten Anwendbarkeit ab, die das Verfassungsgericht in den vorliegenden Entscheidungen noch abgelehnt hat, nämlich die „Vergemeinschaftung“ und damit die unmittelbare Geltung und Verdrängung entgegenstehenden nationalen Rechts über Art. 11 der Verfassung. Grundlage hierfür wird der geplante Beitritt der EU zur EMRK sein, sowie das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vom 12. Dezember 2007, nach dessen 48 In Italien werden gemäß Art. 80 der Verfassung völkerrechtliche Verträge durch ein Gesetz in das innerstaatliche Recht eingeführt, das in der Regel zugleich mit dem Ratifikationsgesetz ergeht und das nur die „Umsetzungsanweisung“ (ordine di esecuzione) enthält, sofern nicht weitere Ausführungsbestimmungen erforderlich sind. 49 Das Verfassungsgericht hat zu Recht in der Entscheidung 348, – s. Punkt 4.7. der Begründung (Fn. 33), – festgestellt, dass die verfassungswidrige völkerrechtliche Norm „nach den üblichen Methoden aus der italienischen Rechtsordnung entfernt werden muss“. Bis dies geschehen ist, bleibt ein Widerspruch zwischen der nationalen Verpflichtung, nach der die völkerrechtliche Norm nicht mehr anwendbar ist, und der völkerrechtlichen Verpflichtung, die durch die Entscheidung der Verfassungswidrigkeit nicht betroffen wird, bestehen, die entweder zu einer Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtung oder zu einer Verletzung des nationalen Rechts führt.
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Art. 6 die Europäische Grundrechtecharta, die weite Teile der EMRK aufnimmt, Teil des Gemeinschaftsrechts ist. Die oben skizzierte Entwicklung der „Völkerrechtsverantwortung“ des italienischen Verfassungsgerichts ist uneingeschränkt zu begrüßen. Mit Blick auf völkerrechtliche Verträge, insbesondere die EMRK, schließt sie eine Lücke in der Bereitstellung nationaler Rechtmittel zur Abhilfe bei Verletzung der EMRK und entlastet damit zugleich den EGMR. Dies wird z. B. Auswirkungen auf die zahlreichen italienischen Fälle der überlangen Verfahrensdauer haben, da sowohl die Verfahrensdauer als auch die Parameter der Entschädigung bei Überschreitung der Dauer in der Rechtsprechung des EGMR klar geregelt sind. Die Beachtung dieser Parameter in der italienischen Rechtsordnung ist nun vom Verfassungsgericht zu gewährleisten. Das bringt die Herausforderung mit sich, dass nicht nur die Richter des Verfassungsgerichts, sondern insbesondere die Anwaltschaft, aber auch der Gesetzgeber sich mit der äußerst umfangreichen Rechtsprechung des EGMR vertraut machen müssen, eine Herausforderung, deren Erfüllung noch einige Hürden zu nehmen haben wird.
Das Staunen des Juristen Von Christoph Menke Als Kant gegen Ende des 18. Jahrhunderts über das Verhältnis von Philosophie und Jurisprudenz nachdachte, meinte er, zwischen ihnen einen unversöhnlichen Streit zu entdecken. Kant tat dies im Blick auf die soeben stattfindende Revolution. Diese Revolution sieht Kant angetrieben durch die „Idee einer mit dem natürlichen Recht der Menschen zusammenstimmenden Konstitution“1; die Revolution will das „natürliche Recht der Menschen“ zur Geltung bringen. Dieses natürliche Recht besteht darin, „daß [ . . . ] die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen“ (Streit, 364). Es ist die älteste europäische Idee des Politischen, die Kant in der jüngsten Revolution wiederbelebt, ja, vielleicht zum ersten Mal durchgesetzt sieht: die Idee der politischen Gleichheit, die darin besteht, dass die Regierten zugleich die Regierenden sind. Darin besteht das „natürliche“ Recht des Menschen. Als dessen Fürsprecherin sieht Kant die Philosophie. Darüber, so meint er, gerät sie in Streit mit der Jurisprudenz. „Der schriftgelehrte Jurist sucht die Gesetze der Sicherheit des Mein und Dein (wenn er, wie er soll, als Beamter der Regierung verfährt) nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch. Den Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit derselben, ingleichen die Verteidigung wider die dagegen gemachte Einwendung der Vernunft, kann man billigerweise von ihm nicht fordern. Denn die Verordnungen machen allererst, daß etwas 1 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten; in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Bd. XI, herausgegeben von Wilhelm Weischedel. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, 364. Im Folgenden im Text mit Streit und Seitenangabe zitiert.
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recht ist, und nun nachzufragen, ob auch die Verordnungen selbst recht sein mögen, muß von den Juristen als ungereimt gerade zu abgewiesen werden.“ (Streit, 287)
Da die Philosophie diese ,Nachfrage‘ dagegen für unabweisbar hält und sie zu ihrer eigenen macht, bricht nach Kant ein Streit zwischen der Philosophie und der Jurisprudenz aus. Die Gestalt, die dieser Streit nach Kant annimmt, ist der um die Frage, „ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ (Streit, 351 ff.). Natürlich glaubt auch Kant nicht, dass die Philosophie diese Frage direkt beantworten könne; auch der Philosoph ist kein Hellseher. Aber der Philosoph kann sich auf die Spurensuche machen und nach Hinweisen darauf suchen, dass die Menschen sich für ihr „natürliches Recht“, gesetzgebend zu sein, einsetzen. Und er findet einen Hinweis darauf in dem „Enthusiasm“, mit dem die Revolution vielerorts begrüßt wurde (Streit, 359). Denn dieser „Enthusiasm“ hat „eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt [ . . . ], dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte“ (Streit, 361). Der Grund, aus dem nach Kant Jurisprudenz und Philosophie in einen Streit geraten und aus dem sich dieser Streit um die Frage nach dem Fortschreiten zum Besseren dreht, ist also der folgende: weil die Jurisprudenz sich, auslegend und systematisierend, allein an dem „gegebenen Gesetzbuch“ orientiert, während die Philosophie das „natürliche Recht des Menschen“ vertritt und, indem sie nicht in die Gesetzbücher, sondern die Herzen der Menschen schaut, „Zeichen“ dafür findet, dass die Menschen für dieses Recht begeistert sind. Ich habe hier an dieses Bild, das Kant von dem Verhältnis von Philosophie und Jurisprudenz gezeichnet hat, nicht erinnert, um Sie davon zu überzeugen, dass es immer noch richtig ist, sondern im Gegenteil, um Ihren Unwillen zu erregen. Und zwar wollte ich Ihren Unwillen als Juristen erregen. Was ist an diesem Bild für das heutige Verständnis und Verhältnis von Philosophie und Jurisprudenz falsch? Die rascheste Antwort lautet: Es ist ein Bild allein vorrevolutionärer Verhältnisse –
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der Verhältnisse vor dem Erfolg der bürgerlichen Revolutionen. Das heißt: Es passt nicht mehr für diejenigen, die diese Revolutionen hervorgebracht haben. Der Sinn der bürgerlichen Revolution besteht ja eben darin, den Gegensatz aufzulösen, den Kant dem Verhältnis von Jurisprudenz und Philosophie zugrundelegt: den Gegensatz zwischen dem „öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch“ (Streit, 287) und dem „natürlichen Recht des Menschen, daß die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich gesetzgebend sein sollen“ (Streit, 364). Denn die neuen Gesetzbücher, die die Revolution hervorbringt, sind nicht nur in Ausübung des natürlichen Rechts des Menschen entstanden; die neuen Gesetzbücher enthalten dieses natürliche Recht vielmehr in sich – sie proklamieren es, machen es zu positivem Recht. Revolution machen heißt: das natürliche Recht des Menschen nicht nur auszuüben, sondern ins Gesetzbuch hineinzuschreiben. Nach der Revolution kann es daher nicht mehr so sein, dass die Philosophie das Recht des Menschen in seiner Vernunft und seinem Gefühl auffindet, sondern es ist vielmehr umgekehrt so geworden, dass die Jurisprudenz das Recht des Menschen in den Gesetzbüchern, die sie auslegt und systematisiert, schon vorfindet. Die Differenz, die nach Kant noch die Philosophie geltend machen sollte, die Differenz zwischen dem „gegebenen Gesetzbuch“ und dem „natürlichen Recht des Menschen“, die Differenz also zwischen dem, wie das Recht ist und wie es sein soll – diese Differenz hat die Revolution den Gesetzbüchern selbst eingeschrieben, denn die Gesetzbücher beginnen nun mit der Erklärung der Rechte des Menschen. Von jetzt an, nach der und durch die Revolution, steht der „schriftgelehrte Jurist“, wenn er die Gesetze dessen, was jedem zukommt und was nicht, allein „im öffentlich gegebenen Gesetzbuch“ aufsucht, also selbst immer schon vor der Frage nach dem „Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit“ (Streit, 287) dieser Gesetze – der Frage mithin, die Kant dem Philosophen reservieren wollte. Ich wurde an diese grundsätzliche Verschiebung im Verhältnis von Philosophie und Jurisprudenz, die durch die Revolu-
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tionen um 1800 eingetreten ist, erinnert, als ich mir noch einmal den schmalen, aber umso gewichtigeren Band von Eckart Klein zum Begriff der Menschenrechte vorgenommen habe und dabei zum ersten Mal (obwohl ich das Buch schon mehrfach gelesen und benutzt habe) auf den Untertitel aufmerksam wurde. Er lautet: „Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung“.2 Es geht Eckart Klein darum, eine Revolution zu begreifen, ja, überhaupt deutlich zu machen, dass hier und jetzt, vor unser aller Augen, aber zumeist doch unbemerkt, eine Revolution abläuft; der „schriftgelehrte Jurist“ als Denker der Revolution. Worin besteht diese „stille“ Revolution? Sie besteht darin, dass das Völkerrecht, das in seiner klassisch neuzeitlichen Gestalt den Begriff staatlicher Souveränität voraussetzte und unbedingt achtete, seit dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt so umgestaltet wurde, dass es in das innere Verhältnis zwischen Staat und Bürger regelnd eingreift. In der Konsequenz dieser Entwicklung wird der einzelne Mensch zum Subjekt des Völkerrechts: „Die auf den ersten Blick erstaunlichste Konsequenz der Menschenrechtsentwicklung ist, daß die vollständige Mediatisierung des Individuums durch den Staat auf der Völkerrechtsebene beseitigt ist. Das klassische Völkerrecht war ein Recht, das – von einigen historischen Ausnahmen abgesehen – nur die Staaten als seine Subjekte anerkannte und daher nur ihnen Rechte und Pflichten zuordnen konnte. [ . . . ] An der partiellen Völkerrechtssubjektivität des auf internationaler Ebene beschwerdefähigen Individuums kann [dagegen] heute kein Zweifel mehr bestehen – und daher auch nicht mehr an der prinzipiellen Fähigkeit der einzelnen Person, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein.“ (Menschenrechte, 26)
Eckart Klein nennt diese Entwicklung „erstaunlich“. Nun ist aber das Staunen, nach Sokrates, nichts anderes als der Beginn der Philosophie: „gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit (philosophos), die Verwunderung [oder 2 Eckart Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, 1997. Im Folgenden mit Menschenrechte und Seitenzahl im Text zitiert.
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Staunen] (thaumatein); ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen“.3 Zu staunen ist nach Sokrates die besondere Kompetenz der Philosophie. Dieses philosophische Staunen, so erläutert Aristoteles weiter, ist der „Zweifel“ an der Erscheinung einer Sache, an dem, was wir von ihr zu wissen glauben – ein Zustand des Sichnichtauskennens.4 Über etwas philosophisch zu staunen heißt zu entdecken, worin es unverständlich, nicht selbstverständlich, ein „Problem“ (wie man seit Aristoteles sagt) ist. Warum nun ist die von Eckart Klein beschriebene Entwicklung zur Völkerrechtssubjektivität des Menschen im philosophischen Sinn „erstaunlich“? Die naheliegende Antwort lautet: Diese Entwicklung macht uns staunen, weil sie einen kühnen Bruch mit der klassisch neuzeitlichen Tradition des Völkerrechts und ihrem unbedingten Primat staatlicher Souveränität bedeutet. Aber das Staunen über diese Entwicklung reicht weiter und vielleicht auch tiefer. Denn eigentlich erstaunlich an dieser Entwicklung ist doch, dass sie auch mit dem traditionellen Verständnis der Menschenrechte bricht. Dass wir hier staunen, lehrt uns, dass es sich nicht nur um eine neue Etappe in der Durchsetzung der Menschenrechte handelt, sondern um einen ganz neuen Begriff der Menschenrechte. Wir müssen uns angesichts dieser Entwicklung von der bequemen Vorstellung verabschieden, dass die Menschenrechte seit ihren ersten Formulierungen im 18. Jahrhundert immer schon so verstanden wurden wie wir dies in den letzten Jahrzehnten in ersten Ansätzen zu tun begonnen haben: dass jedes politische Gemeinwesen (das ja immer ein begrenztes ist) dazu verpflichtet ist, überhaupt jeden Menschen als Rechtssubjekt zu respektieren. Zu Anfang, im Umkreis der Amerikanischen Unabhängigkeits- oder der Französischen Revo3 Plato, Theaitetos, in: ders., Werke in acht Bänden, Bd. 6, Griechisch und Deutsch. Bearbeitet von Peter Staudacher, griechischer Text von Auguste Diès, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt: WBG 20013, 155d. 4 Aristoteles, Metaphysik, in: ders., Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 5. Übersetzt von Hermann Bonitz, 1995, 982b.
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lutionsbewegung, findet sich ein solches Verständnis der Menschenrechte nicht. Als Mirabeau vor der Französischen Nationalversammlung die von ihm redigierte Erklärung der Rechte des Menschen vorstellte, nannte er sie „die Darlegung einiger allgemeiner Prinzipien, die auf alle politischen Gesellschaften [ . . . ] anwendbar sind.“5 Die „Rechte des Menschen“ zu erklären bedeutete für Mirabeau, und nicht anders sah es Thomas Jefferson, Prinzipien zu formulieren, die innerhalb jedes Staates gelten sollten. Das sind Prinzipien der Gleichheit: Jedes Mitglied eines Staates soll in diesem Staat nicht hinsichtlich seiner Ämter, Würden, Reichtümer, Geschlecht, Tugenden, Fähigkeiten (in denen er von anderen verschieden ist), sondern in seinem bloßen Menschsein, in dem er allen anderen gleich ist, respektiert werden. Menschenrechte sind in ihrem traditionellen Verständnis politische Prinzipien der Gleichheit innerhalb gegebener politischer Einheiten, also Staaten. So haben die bürgerlichen Revolutionen die Menschenrechte durchgesetzt, und so wurden sie bis ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend verstanden. Angesichts dessen ist die von Eckart Klein auf den Punkt gebrachte Entwicklung in der Tat höchst erstaunlich. Was ist hier passiert? Worin besteht die leidvoll gewonnene Einsicht, die das traditionelle Menschenrechtsverständnis so grundlegend revolutioniert hat? Eckart Klein formuliert diese Einsicht, indem er schreibt, dass es „die von den Staaten monopolisierte Gewalt [ist], die das entscheidende Bedrohungspotential für die ihr unterworfenen Menschen darstellt.“ (Menschenrechte, 10) Es ist mithin der Zentralbegriff der politischen Neuzeit, der Begriff des Staates, der in der von Klein geschilderten Menschenrechtsentwicklung der Revision unterzogen wird. Das traditionelle Menschenrechtsverständnis der bürgerlichen Revolutionen hatte diesen Begriff unangetastet gelassen, ja vorausgesetzt. Wenn die Anerkennung 5 In: Gabriel Honoré Graf von Mirabeau, Der Redner der Revolution. Reden, Briefe, Schriften, hrsg. und übersetzt von Horst Günther, 1989, S. 205 – 212, hier S. 205.
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der Völkerrechtssubjektivität des Individuums in Kleins Worten bedeutet, dass seine „vollständige Mediatisierung“ durch den Staat beseitigt ist, dann ist damit nicht weniger als ein grundsätzlich neues Konzept des Politischen gewonnen. Staaten sind politische Gemeinwesen, die durch den strikten Unterschied von Innen und Außen definiert sind: Sie gewährleisten Sicherheit und Gerechtigkeit – nur – für ihre Mitglieder. Die von Klein beschriebene Menschenrechtsentwicklung bedeutet dagegen, dass nun jedes politische Gemeinwesen sich selbst so versteht, dass es in seiner Selbstregierung nicht nur seine eigenen Mitglieder, sondern jeden Menschen berücksichtigt. Es ist nicht nur theoretisch, sondern praktisch-politisch wichtig, das richtig zu verstehen: So bedeutet es nicht, dass politische Gemeinwesen nicht begrenzt sind, daß sie keinen Unterschied machen dürfen zwischen Mitgliedern und NichtMitgliedern. Es bedeutet also nicht den Übergang in den Weltstaat. Was soll auch an einem Weltstaat besser als an den Partikularstaaten sein? Dass, wie Eckart Klein in der soeben zitierten Formulierung festhält, „die von den Staaten monopolisierte Gewalt [ . . . ] das entscheidende Bedrohungspotential für die ihr unterworfenen Menschen darstellt“, würde auch für den Weltstaat gelten. Und es bedeutet ebenfalls nicht, dass die Verpflichtung zur Respektierung der Rechte jedes Menschen den politischen Gemeinwesen nur von außen auferlegt sind – als eine Art von Zusatzverpflichtungen, derer sich die Staaten vorübergehend entledigen könnten, wenn die Zeiten einmal wieder härter werden. Nein: Man hat das wahrhaft Erstaunliche an der von Klein geschilderten Menschenrechtsentwicklung nicht verstanden; man hat noch gar nicht darüber zu staunen gelernt, wenn man es nicht so versteht, dass die neue, völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung jedes Staates zur Respektierung der Rechte jedes Menschen eine innere Verwandlung dessen zum Ausdruck bringt, was überhaupt ein Staat ist. Das ist eine Verwandlung, die so grundlegend ist, dass durch sie vielleicht der Begriff des Staates selber in Frage gestellt wird; jedenfalls eine Verwandlung, die wir
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mit Eckart Klein eine „Revolution“ nennen können – eine stille zwar, aber vielleicht deshalb eine umso wirksamere. Ich möchte daher meiner bisherigen (ich gestehe es) Überinterpretation von Eckart Kleins Formulierung von dem „Erstaunlichen“ der jüngeren Menschenrechtsentwicklung abschließend noch eine weitere hinzufügen. Bisher habe ich diese Formulierung so gedeutet, dass sich in ihr ein wahrhaft philosophisches Staunen des Verfassers über die „stille Revolution“ im Völkerrecht der letzten Jahrzehnte bekundet. Aber vielleicht ist dieses Staunen des Juristen nicht nur die Verwunderung, mit der nach Sokrates und Aristoteles die Philosophie beginnt. Vielleicht ist ihm auch etwas von der Bewunderung beigemischt, die Kant gegenüber der Französischen Revolution bei seinen Zeitgenossen beobachtet (und selbst tief empfunden hat). Kant beschreibt dieses bewundernde Erstaunen als „Teilnehmung am Guten mit Affekt“ oder als „Enthusiasm“, und er bewundert am „wahren Enthusiasm“, dass er „nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann“, weil er „immer nur aufs Idealische [ . . . ], dergleichen der Rechtsbegriff ist, geht“ (Streit, 359). Enthusiasmus, Bewunderung ist uneigennütziger Affekt für den Rechtsbegriff als „Idealisches“. Wenn Eckart Klein von dem „Erstaunlichen“ der jüngeren Menschenrechtsentwicklung spricht, darf man das also vielleicht so verstehen: als den raren, aber umso bedeutenderen Moment, in dem der „schriftgelehrte Jurist“, wie Kant ihn nannte, bekundet, dass, so wie das Staunen nach Sokrates der Anfang der Philosophie ist, der Enthusiasmus für das „Idealische“ des Rechtsbegriffs nicht im Gegensatz zur nüchternen juristischen Erkenntnis seiner Realität steht, sondern, gerade im Gegenteil, ihre Bedingung ist. Die Lehre, die ich aus der wahrhaft erstaunlichen Stelle von Eckarts Kleins Abhandlung über die Menschenrechte ziehe, lautet: Ohne Staunen im zweifachen Sinn, ohne uns zu verwundern und ohne zu bewundern, gibt es kein Erkennen.
Autorenverzeichnis Marten Breuer, Dr., Universität Potsdam Astrid Epiney, Prof. Dr., LL.M. (Europäisches Hochschulinstitut Florenz), Universität Freiburg i.Ue. Thomas Giegerich, Prof. Dr., LL. M. (University of Virginia), ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel Andreas Haratsch, Prof. Dr., FernUniversität Hagen Christoph Menke, Prof. Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Martin Nettesheim, Prof. Dr., Eberhard-Karls-Universität Tübingen Georg Nolte, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin Karin Oellers-Frahm, Dr., Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Heidelberg Matthias Ruffert, Prof. Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena Stefanie Schmahl, Prof. Dr., LL.M. (Universidad Autónoma de Barcelona), Julius-Maximilians-Universität Würzburg Rudolf Streinz, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München Christian Tomuschat, Prof. Dr. Dr. h. c. (em.), Humboldt-Universität zu Berlin Norman Weiß, PD Dr., Universität Potsdam