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German Pages 328 Year 2018
Anne Thietz Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
Kultur und soziale Praxis
Anne Thietz, geb. 1985, arbeitet als Lehrerin in Berlin. Sie hat in Leipzig und Lyon den Integrierten Studiengang der Université franco-allemande (DFHUFA) absolviert und 2017 an der Universität Leipzig im Fach Germanistik promoviert.
Anne Thietz
Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren Eine identitätstheoretische und gesprächsanalytische Untersuchung
Die vorliegene Untersuchung wurde im Frühjahr 2016 an der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation eingereicht.
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Inhaltsverzeichnis
I
EINLEITUNG
II THEORETISCHE ANNÄHERUNGEN 1 Die Flucht der Hugenotten | 15 1.1 Hugenottenansiedlung und Akkulturationsprozesse in BrandenburgPreußen | 17 1.2 Hugenottenansiedlung und Akkulturationsprozesse in Kursachsen | 22 1.3 Die französische Sprache | 24 1.4 Hugenottische Erinnerungskultur und Geschichtsbild | 29 2
Theorien der Identität | 37
2.1 Identitätstheorien im Spiegel der Zeit | 38 2.2 Die narrative Konstruktion von Identität | 60 2.3 Identität in der Linguistik | 81
III EMPIRIE 3
Methodologische Überlegungen | 99
3.1 3.2 3.3 3.4
Untersuchungsgruppe und Korpus | 100 Der erzähltheoretische Zugang zu Identitätskonstruktionen | 102 Darstellung der Erhebungsmethode und -situation | 109 Analyse und Auswertung der Interviews | 117
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Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 137
4.1 „Und dass es eigentlich egal ist, in welcher Sprache.“ | 139 4.2 „Also ich hab jetz nich das Gefühl, dass ich irgendwas aufholen müsste, um da näher ranzukommen oder so.“ | 150 4.3 „Ja, das is mir ganz peinlich, zumal unsere Vorfahren ja aus Frankreich stammen.“ | 165 4.4 „Herzenssache einfach, weil ich halt aus ’ner äh Familie mit französischen Wurzeln komme.“ | 176 4.5 „Also, ick muss ehrlich sagen, äh für mich isset praktisch ’ne Verjangenheitsbewältigung.“ | 196 4.6 „Nee, mit Sprachen hatte ich’s nich so.“ | 216 4.7 „Das hier weil mit Sprachen, das is nich so mein Ding.“ | 228
4.8 „Wir sind ja nich mehr mit der französischen Sprache groß jeworden, gar nich mehr.“ | 241 4.9 „Aber um den Glauben zu praktizieren oder als Hugenottennachkomme äh hier zurechtzukommen, braucht man Französisch nich.“ | 253
IV DISKUSSION DER ERGEBNISSE 5
Zusammenführung theoretischer und empirischer Befunde | 269
5.1 Vergleichende und fallübergreifende Reflexionen | 270 5.2 Ressourcen und Grenzen der Rekonstruktion | 281
V ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Transkriptionskonventionen | 293 Abbildungsverzeichnis | 295 Literaturverzeichnis | 297
I Einleitung Gesetzt nämlich, wir würden auf den Kopf zu gefragt: In welchem Verhältnis lebt ihr denn zu der Sprache, die ihr sprecht? – Wir wären um keine Antwort verlegen ... Martin Heidegger (GA 12 1985: 149)
In einem Vortrag des Sammelbandes „Unterwegs zur Sprache“ (1985 [1959]) sucht Martin Heidegger mehr als eine erneute Annäherung an „Das Wesen der Sprache“. Seine sprachphilosophischen Überlegungen dienen eher der Neubestimmung alles Seienden, eines jeden Dings, der Sprache selbst und des Menschen. Als Kritik an der tradierten Auffassung des immer schon Vorhandenseins aller Dinge und an der „Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens“ (Gadamer GW 1: 422) bemühen Heidegger und andere sich um ihre Überwindung und begeben sich auf Spurensuche nach einer sprachlichen Verfasstheit alles Seienden, das erst durch das Wort sein Sein erhält. Neben den Einflüssen von Heideggers Phänomenologie auf die Sprachbetrachtung interessiert hier die oben zitierte Aussage, die auf den qualitativ-empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung verweist und zunächst erstaunt. Sie stammt aus Heideggers Vortrag, der die Lesenden eine Erfahrung mit der Sprache machen lassen soll. Der Erfahrung mit Sprache geht laut Heidegger allerdings die Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Sprache voraus. Dies sei einfach, die Antwort liege jeder Person auf der Zunge. Ist aber von einem Verhältnis zu etwas die Rede, muss auch eine Seinsbestimmung beider Seiten erfolgen, um im Nachgang das Dazwischen definieren zu können. Eine Seinsbestimmung der Sprache, eine des Menschen und eine der Verbindung müssten dafür erfolgen. Seit mehreren Jahrhunderten beschäftigen sich verschiedenste Disziplinen mit der Erkundung des Seins, des Menschseins und der Rolle von Sprache, im besten Fall wird eine Verbindung offenkundig. So erscheint es mehr als schwierig, zu dieser umfassenden Diskussion etwas beizutragen, das nicht schon erdacht, verworfen, noch einmal gewendet und ad acta gelegt wurde. In Lehren der Philosophie, Psychologie, Soziologie und ihren Schnittstellen, in Disziplinen der Linguistik und der Literaturwis-
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senschaft werden Konzepte erarbeitet, die eine sprachtheoretische Annäherung an die Seinsbedingungen des Menschen anstreben. Hier entstehen Antworten beispielsweise zu organischen Voraussetzungen für das Sprechen, zu den affektiven und kognitiven Bedingungen des (Zweit-)Spracherwerbs, zur Funktion von Sprache in Bereichen des gesellschaftlichen Miteinanders oder der Macht von Sprache für Kunst oder Politik. Für die vorliegende Arbeit gilt, in dem Diskurs zu Sprache und Menschsein bestimmte Aspekte zu fokussieren, um sie für eine soziolinguistische Untersuchung fruchtbar zu machen. Abseits der Begriffsbestimmung in ontologischer Tradition kann das Sein des Menschen, reduziert auf das Ich bin ... des Einzelnen, im allgemeinen Verständnis als Gesamtheit seines Erlebens, seines Verhaltens und seiner Erfahrungen beschrieben werden. Unter dieser Gesamtheit kann auch das verstanden werden, was vielfach als Identität eines Menschen bezeichnet wird. Angesichts eines Zeitalters, das von Globalisierung, Mobilität der Menschen, digitaler Vernetzung und raschem Fortschritt auf den Gebieten der Medien- und Informationstechnologie geprägt ist, scheint es mehr denn je für jedes Individuum schwierig, in dieser Vielfalt von Möglichkeiten eine Richtung zu finden, sich zu positionieren und einen Platz im Gefüge einzunehmen. Diese mannigfach zitierte Identitätssuche regt in der Wissenschaft immer wieder neue Forschungen an, die sich interdisziplinär zwischen Bereichen der Philosophie, Psychologie, Anthropologie oder der Soziologie verorten lassen. Exemplarisch für den Stellenwert der Sprache in diesen Diskursen steht die Sicht des Soziologen Anselm Strauss, für den es unumgänglich scheint, einer jeden Untersuchung zum Identitätsbegriff auch eine Sprachbetrachtung zur Seite zu stellen (vgl. Strauss 1959/1997: 17). Der Bedeutung von Sprache in identitätstheoretischen Untersuchungen ist sich auch der von Heidegger inspirierte Philosoph Charles Taylor (2006 [1989]) bewusst, wenn er die Analyse von Identitätsbildung über den Weg der Sprachbetrachtung sucht: „To study persons is to study beings who only exist, or are partly constituted by, a certain language.“ (Taylor 2006: 34/35) Wenn Sprache in dem Konzept von Identität eine so wesentliche Rolle spielt, dass sie diese konstruieren kann, muss ihre Untersuchung in der Identitätstheorie einen Platz finden. Umgekehrt halten die Untersuchung des Identitätsbegriffs sowie seine Implikationen für sprachwissenschaftliche Besonderheiten seit einigen Dekaden berechtigten Einzug in das Forschungsfeld der Linguistik. Zur genauen Funktion von Sprache in Identitätsbildungsprozessen herrscht in der Literatur zum Komplex von Sprache und Identität kaum Konsens. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts erfährt die Linguistik, insbesondere die Soziolinguistik, unter dem Schlagwort des individual oder subjective turn eine Hinwendung zum sprechenden Individuum. Hier stehen sich grundsätzlich verschiedene Strömungen gegenüber, angefangen bei der Auffassung von Sprache als Werkzeug über jene, die Sprache als Ausdrucksmedium bereits existierender Identitäten verstehen, hin zum identitätsschaffenden Konstruktionscharakter der Sprache, den auch Taylor beschreibt. Diese konstruktivistische Sicht auf die
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Wirklichkeit, in der Identität keine vorsprachliche Existenz haben kann, gilt als Prämisse für die vorliegende Untersuchung. Auch empirische Studien zum Komplex von Sprache und Identität, Sprecher- oder Sprachidentität prägen erst seit einigen Jahren verstärkt das Forschungsfeld. In diesem Zusammenhang werden vor allem Aspekte hybrider Identitäten untersucht, die durch Migration und dem daraus folgenden Zweitsprachenerwerb sowie Aufgabe oder Verlust der Muttersprache entstehen. Auf die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich des Identitätsbegriffs bedienen, neueste Arbeiten zur identity-in-interaction, zur sprachlichen Identität sowie Sprachidentität soll im Verlauf der vorliegenden Studie eingegangen werden. Weiterhin stellen die Teildisziplinen der anthropologischen Linguistik, Gesprächslinguistik, Diskursiven Psychologie und Interaktionalen Linguistik zunehmend den Faktor der Identität in den Vordergrund und sollen unter anderem als Basis des Forschungsvorhabens dienen. Das Ziel der vorliegenden Studie ist die Bestimmung der Sprachidentität der Hugenottennachfahren1 in Deutschland durch die Analyse von Gesprächsdaten. Als besonderes Beispiel von Migration und daraus folgender Mehrsprachigkeit in der europäischen Geschichte vom 17. bis 19. Jahrhundert entfacht die sprachliche Situation der Glaubensflüchtlinge aus Frankreich noch heute immer wieder neues Interesse insbesondere in der sprachhistorischen Forschung. Der geschichtliche Verlauf der Sprachsituation der Hugenotten ist dynamischen Charakters und stellt sich in den einzelnen Aufnahmeregionen als unterschiedlich langer Assimilations- und Akkulturationsprozess dar. Auf die Besonderheiten der verschiedenen Refuges wird im Einzelnen eingegangen. Aus der Perspektive der historischen Wissenschaften wurde die Sprachensituation der eingewanderten Hugenotten und ihrer Nachfahren bereits aufgearbeitet. Es existiert jedoch noch keine umfassende Untersuchung zur gegenwärtigen Sprachensituation und Identitätskonstruktion durch Interviews mit Hugenottennachfahren.
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Die Pluralbildungen Hugenotten und Hugenottennachfahren schließen in diesem Buch, soweit nicht anders gekennzeichnet, alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten mit ein. Gleiches gilt für die Pluralbildungen von religiösen, ethnischen oder regionalen Gemeinschaften.
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Wenn Sprache nun eng an das Konzept der Identität eines Menschen geknüpft ist, gilt es zu untersuchen, inwieweit die französische Sprache als Einwanderersprache noch eine Rolle in der Identitätskonstruktion der Hugenottennachfahren spielt. Daraus ergibt sich die diese Untersuchung leitende Forschungsfrage: Wirkt die französische Sprache derart identitätskonstitutiv, dass sie über mehrere Jahrhunderte hinweg noch heute die Identität der Hugenottennachfahren konstruiert? Anhand der detaillierten komparatistischen Ausarbeitungen zu den historischen Sprachwechselszenarien in den Ansiedlungsterritorien, die den Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Kolonien herausstellen, soll auch die Frage nach hugenottischen Identitätsentwürfen in verschiedenen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt beleuchtet werden. Sind Unterschiede zwischen den die hugenottische Identität konstituierenden Elementen, die sich auf territoriale, ländliche oder städtische Bedingungen zurückführen lassen, auszumachen? Gibt es signifikant andere Merkmale für die Identitätskonstruktion der Hugenottennachfahren, die nicht in einer kirchlichen Gemeinde eingebunden sind? Es sollen zudem Einblicke in die Sprachbeurteilung des Französischen gewonnen werden, die möglicherweise Einfluss auf die Identitätsentwürfe der Hugenottennachfahren haben und ihre Sprachidentität bedingen. Da die Beschreibung vom Komplex Sprache und Identität in der gegenwärtigen Forschung vielfach auf aktuelle, politisch und gesellschaftlich brisante Mehrsprachigkeit abzielt – an dieser Stelle sei beispielhaft auf die 48. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache (IDS Mannheim) „Das Deutsch der Migranten“ im März 2012 verwiesen – soll hier ein vermeintlich weniger konfliktreicher Fall diskutiert werden. Gerade die sprachliche Unauffälligkeit, in der Hugenottennachfahren ihre Lebenswirklichkeit gestalten, kann abseits von der politischen und gesellschaftlichen Brisanz eines Migrationsdiskurses die generelle Funktion von Sprache in Identitätsbildungsprozessen beleuchten. Über den konkreten Fall der Hugenottennachfahren hinaus wird die Beweisführung des Postulats von Sprache als identitätskonstitutivem Element in dieser Arbeit angetreten. Zudem soll der bisher in der Literatur sehr unterschiedlich definierte Begriff der Sprachidentität konzipiert und zu seiner noch ausstehenden Etablierung in der soziolinguistischen Theoriebildung mithilfe von empirischer Fundierung beigetragen werden. Bevor die der Arbeit zugrundeliegenden Sprachdaten ausgewertet werden können, erfolgt im theoretischen Abschnitt eine Beschreibung des Forschungsstandes für die zur Beantwortung der Fragestellung nötigen Untersuchungen. Wenn die vorliegende Studie durch die Analyse der Sprachidentität der Hugenottennachfahren einen Beitrag zur Beziehung von Sprache und Identität leisten soll, so muss der besondere Werdegang dieser Menschen bekannt sein. Folglich wird in Kapitel 1 die Geschichte der Hugenotten und ihrer Nachfahren unter Einbeziehung der für diese Studie relevanten sprachlichen Veränderungen eingehend beleuchtet. Dafür stehen aus der historischen Forschung Ausarbeitungen bereit, die die Besonderheiten der
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Ansiedlungsgebiete fokussieren. Das Augenmerk wird insbesondere auf Gebiete in Berlin und Brandenburg sowie Sachsen gerichtet, aus denen die Interviewten stammen. Um Gespräche mit den Nachfahren über die Familiengeschichten verstehen zu können, sollen Gründe für die Auswanderung aus Frankreich, die Umstände der Ansiedlung und Akkulturation im Aufnahmeland dargelegt werden. Die Darlegung des Sprachenproblems, dem die Hugenotten sich ausgesetzt sahen, wird im Kapitel 1.3 im Mittelpunkt stehen. Dieses erste Kapitel soll die Grundlage zum Verständnis des langwierigen Prozesses der verschiedenen Sprachsituationen – immer auch unter Beachtung der sprachpolitischen Einflüsse im Refuge – bilden und so den Blick für die anschließende Diskussion um die Elemente des hugenottischen Selbstverständnisses in 1.4 schärfen. In Kapitel 2 wird der Begriff der Identität als zentrale Größe der Studie aus sozialpsychologischer, philosophischer und soziologischer Sicht beleuchtet. Die Komplexität des Themas erlaubt im gegebenen Rahmen lediglich die Fokussierung auf einige ausgewählte Theorien, die als Grundlage für eine Begriffsbestimmung und den weiteren Untersuchungsverlauf dienen sollen. Die Darstellung der Theorien in Kapitel 2.1 wird unter den für die Linguistik relevanten Gesichtspunkten erfolgen. Um die Verschränkung von identitätstheoretischen Überlegungen und gesellschaftlichen Entwicklungen aufzuzeigen, wird zudem chronologisch vorgegangen. Dabei werden beispielsweise die unterschiedlichen Modelle von Erik H. Erikson, George H. Mead, Erving Goffman, Heiner Keupp und Jürgen Straub auf sprachwissenschaftlich bedeutsame Implikationen untersucht. Das relativ junge Konzept der narrativen Identität soll in 2.2 mithilfe der Ausarbeitungen von Jerome Bruner, Paul Ricœur, Donald Polkinghorne und anderen Wegbereitern erläutert werden und die Theorie einer sprachlichen Konstruktion von Identität stützen. Daraufhin widmet sich das Kapitel 2.3 dem Zusammenhang von Identität und Sprache in der Linguistik. Aufgrund der Fülle von Untersuchungen kann auch hier nur ein orientierender Überblick über die oben angedeuteten Forschungsrichtungen und ihre Arbeiten gegeben werden. Dabei handelt es sich vorrangig um die empirischen Studien in der Migrations- und Mehrsprachigkeitsforschung, die den Zusammenhang von Sprache und Identität unter linguistischer Perspektive postulieren, aber von unterschiedlichen Prämissen ausgehen. Besonderes Augenmerk wird in diesem Abschnitt auf die neuesten Arbeiten zur Kategorie oder dem Begriff Sprachidentität unter der Annahme sprachlich-diskursiver Selbstkonstruktion gelegt. Auch Untersuchungen, die auf rein sprach- und erkenntnistheoretischer Ebene eine Annäherung an den Begriff suchen, sollen hier beleuchtet werden. Den Abschluss des Abschnitts zum Forschungsstand bildet das Angebot einer Definition des Sprachidentitätsbegriffs. Im zweiten Abschnitt der Studie geht es um die Arbeit an den Gesprächsdaten. Das Kapitel 3 widmet sich methodologischen Überlegungen zur Erkenntnisgewinnung. Dabei sollen Einblicke in den prozesshaften Charakter der Studie gegeben werden. Es folgen in 3.1 Ausführungen über die Kontaktaufnahme, die Herkunft der
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Gesprächspartnerinnen und -partner sowie ihre heutigen Lebensverhältnisse. Die Operationalisierungsmöglichkeiten der theoretischen Annahmen des ersten Abschnitts werden in 3.2 im Zusammenhang mit dem erzähltheoretischen Zugang zur Identität erläutert. Eine Darstellung forschungsrelevanter Entscheidungen im Hinblick auf die Art der Datenerhebung, die Kombination von Interviewverfahren und ihre Durchführbarkeit wird in 3.3 besprochen. Auch hier wird Bezug auf vorhandene Studien zur Sprachidentität genommen, wobei die Ausarbeitungen zur sprachbiographischen Forschung einen Kernpunkt bilden. Überlegungen zu Analysemethoden und Auswertungsverfahren schließen den Abschnitt zum Forschungsdesign. Das Kapitel 4 widmet sich der Analyse und Auswertung der Gesprächsdaten. Als Darstellungsbasis dienen Ausschnitte der Interviews, die in transkribierter Form vorliegen. Basierend auf den theoretischen Erkenntnissen der vorangegangenen Kapitel und der Auswertung der Interviewdaten erfolgt die Beantwortung der zentralen Fragestellung in der Diskussion im Abschnitt IV. Hier finden fallübergreifende Aussagen im Sinne der Theoriebildung und eine kritische Reflexion in der Zusammenführung der theoretischen und empirischen Befunde ihren Platz. Eine Zusammenschau der Untersuchung und ein Ausblick auf die Forschungsperspektiven bilden den Abschluss der Studie. Das Ziel der Arbeit ist mindestens ein Zweifaches: Es besteht zum einen in dem Beitrag zur Forschungslage von Sprache und Identität. So soll über den sprach- und identitätstheoretischen Zugang und die Unterstützung empirischer Arbeit mit den Hugenottennachfahren letztlich ein Modell vorgelegt werden, das die Implementierung des Begriffs Sprachidentität in die soziolinguistische Theoriebildung begünstigt. Das zweite Ziel hat eine wesentlich persönlichere Note. Viele Hugenottennachfahren in Deutschland sind sich ihrer besonderen Situation, eine über dreihundertjährige Migrationsgeschichte vorweisen zu können, kaum bewusst. Diejenigen, die für diese Arbeit interviewt wurden, die sich Zeit genommen haben, einen intimen Einblick gewährt und sich an Vergessenes erinnert haben, sollen hier zu Wort kommen.
II Theoretische Annäherungen
In diesem Teil der Arbeit wird der aktuelle Stand in den Bereichen der Hugenottenforschung und Identitätsforschung dargestellt, die als theoretische Grundlage der vorliegenden Untersuchung dienen soll. In Kapitel 1.3 werden nach den Ausführungen zur hugenottischen Einwanderungsgeschichte, ihrer Ansiedlung und Etablierung in den verschiedenen Aufnahmegebieten die sprachliche Situation der Hugenotten, das Sprachenproblem und der Sprachwechsel beschrieben. Die Untersuchung der sprachlichen Situation wird im Zusammenhang mit der Darstellung der in der Literatur häufig zitierten hugenottischen Identität erfolgen. Zudem werden die spezifische Erinnerungskultur und damit einhergehend die Entfaltung von Selbst- und Fremdbildern dargestellt, die sich über 300 Jahre entwickeln konnten. Es ist besonders wichtig, neueste Forschungen der Hugenottenhistoriographie zum Ausgangspunkt der Darstellungen zu machen, weil die andauernde Auswertung von Gemeinde- und Kirchenbüchern sowie anderen Archivalien immer wieder neue Zahlen und Fakten ergibt, die der Einschätzung von Prozessen der Migration und Ansiedlung dienen. In Kapitel 2 folgt eine Ausführung zur Forschungslage des Identitätsbegriffs auf der Grundlage ausgewählter Identitätstheorien, die bedeutsame Implikationen für die Linguistik aufweisen. Als ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Untersuchung dient eine sprachwissenschaftlich relevante Abfolge, die die Entwicklung von traditionellen einheitlichen Konzepten der Identität zu postmodernen multiplen Identitätskonstruktionen aufzeigt. Der Komplex von Sprache und Identität in der Linguistik soll im letzten Abschnitt des theoretischen Teils untersucht werden. Die Kategorienbildung der bisher weniger untersuchten Sprachidentität bildet den Abschluss der Darstellung.
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Die Flucht der Hugenotten
Für die Bezeichnung der französischen Protestanten als Hugenotten hat sich die Herleitung von der Sage des Roi Hugo, der nachts als Gespenst durch die Straßen ging, in weiten Teilen der Forschung durchgesetzt. Die angefeindeten Protestanten versammelten sich im Schutz der Dunkelheit, sodass der Begriff huguenots zunächst abwertend das „lichtscheue Gesindel“ (Gresch 2005: 29) bezeichnete und ab 1560 allgemein für die reformierten Franzosen verwendet wurde (vgl. Dölemeyer 2006: 11, Niggemann 2008: 9). Für andere Forscherinnen2 trifft wiederum die „Ableitung vom deutschen Wort „Eidgenossen“, [...] dem auch „eiguenos“, eine früh-kalvinistische politische Partei, zu Grunde liegt“ (Böhm 2010: 53) am ehesten zu. Im Folgenden bezeichnen die Begriffe „Glaubensflüchtlinge“, „Kalvinisten“, „Réfugiés“, wie die emigrierten Hugenotten der ersten Generation sich selbst nannten, oder „Hugenotten“ die französischen Protestanten, die im Zuge der religiös motivierten Anfeindungen in Frankreich ihre Heimat verlassen haben. Eine dezidierte Unterscheidung der Termini verweist laut Niggemann auf Wertungen und Selbstzuschreibungen der Nachkommen und kann aus der gegebenen Forschungsposition nicht vorgenommen werden (vgl. Niggemann 2008: 25/50). Schon bevor die Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes im Jahr 1685 eine massive Verfolgung der Hugenotten auslöst, ist ihre Geschichte von Migrationen geprägt (Gresch 2005: 71). Lachenicht stellt fest, dass gerade für die Migrationen vor 1685 „in vielen, wenn nicht in allen Fällen“ (Lachenicht 2010: 27) vorrangig wirtschaftliche Motive anzusetzen sind, die aber als Folge der eingeschränkten Glaubensfreiheit zu sehen sind. Ihren Höhepunkt finden diese Konflikte in der Bartholomäusnacht im Jahr 1572, als zwischen 4000 und 8000 Hugenotten den Massenverfolgungen zum Opfer fallen (vgl. Niggemann 2011: 17). Für die Gesamtheit der Zufluchtsorte außerhalb Frankreichs wird in der Forschung der Begriff des Refuge auf-
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Mit Nennung des Femininums sind in diesem Buch, soweit nicht anders gekennzeichnet, immer alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten mitgemeint.
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gegriffen, geprägt durch die Hugenotten und von ihnen zunächst als Provisorium angesehen (vgl. Niggemann 2011: 42). Als Ludwig XIV. im Jahre 1685 das Edikt von Nantes aufhebt, beginnt für die französischen Protestanten in weit stärkerem Ausmaß ein Kapitel, das von blutigen Kämpfen, Migrationswellen und Neuanfang geprägt ist. Das Toleranzedikt, das zur Beilegung religiöser Unruhen von Heinrich IV. erlassen wird, dient ursprünglich der Gewährung der Glaubensfreiheit für die Protestanten und soll ihnen unter dem Schutz des Königs ein gleichberechtigtes Leben neben den Katholiken in Frankreich ermöglichen (vgl. Fuhrich-Grubert 1994: 9). Unter Ludwig XIV. soll Frankreich jedoch wieder rekatholisiert werden, er sieht sich als „Gottes Bote auf Erden“ (Meyer 2009: 14), befürchtet den religiösen Zusammenhalt einer Minderheitengruppe und geht durch die Revokation des Edikts am 17. Oktober 1685 einen weiteren Schritt in seinen absolutistischen Hegemonialbestrebungen. Die berüchtigten Dragonaden zu Beginn der 1680er Jahre, jene Einquartierungen königlicher Dragoner in die Haushalte der Hugenotten mit dem Ziel, Konvertierungen zu erzwingen, markieren das grausame Vorgehen der Krone gegen die religiöse Minderheit. Das 1685 erlassene Edikt von Fontainebleau ist nun die offizielle Bestätigung und verbietet die protestantische Glaubensausübung in allen Lebensbereichen, verfügt den Abriss von protestantischen Einrichtungen, die Konvertierung des Klerus zum Katholizismus und verbietet unter Androhung von Galeeren- oder Galgenstrafen jedwede Widersetzung oder Flucht. Die Maßnahmen der Krone zeigen eine enorme Wirkung. Niggemann führt an, dass von den Hugenotten, die sich gegen eine Auswanderung entscheiden, ungefähr 700.000 Menschen unter dem Druck der Dragonaden und dem Revokationsedikt zum Katholizismus konvertieren. Darunter finden sich auch jene, die nur augenscheinlich dem Protestantismus abschwören und ihre Versammlungen fortan im Geheimen abhalten (vgl. Niggemann 2008: 49, 2011: 31). So formiert sich nach dem Edikt die Untergrundkirche église du désert, die knapp einhundert Jahre später wieder eine Mitgliederzahl von 500.000 Kalvinisten verzeichnen kann (vgl. Lachenicht 2010: 42). Für viele Hugenotten scheinen Flucht und Exil aus verschiedenen Gründen der einzige Ausweg, sodass sich ab 1685 etwa 160.000 bis 200.000 Protestanten den dramatischen Bedingungen der Auswanderung stellen und in die europäischen Nachbarländer emigrieren (vgl. Gresch 2005: 54, Niggemann 2008: 49). Besonders die Flexibilität von Handwerkern, Kaufleuten oder Manufakturisten und die ökonomischen Aussichten in den einzelnen Refuges bedingen die Entscheidung zur Flucht und ferner die Festlegung des Zielortes. Entgegen der Ansätze in der älteren Forschung ist daher auch nach 1685 nicht von einer rein religiös motivierten Auswanderung zu sprechen. Ebenso die Annahme, dass es sich um die besonders glaubenstreuen und standfesten Hugenotten handelt, die ihre Heimat verlassen (vgl. Flick 2008: 8), wird von Teilen der jüngeren Historiographie revidiert. Vielmehr sind es jene, die mobil genug sind und sich eine Auswanderung finanziell leisten können (vgl. Niggemann 2008: 50).
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Im Zusammenhang mit dem Forschungsziel der Arbeit interessiert das von der Hugenottenforschung vermittelte Bild vom moralisch standfesten und glaubensstarken Hugenotten. Dieses Bild, erarbeitet von der älteren Forschung wie auch den Nachkommen selbst, hat zu einem Mythos beigetragen, der die Selbstzuschreibung durch die Nachfahren auch heute maßgeblich beeinflusst. In jüngeren Forschungsbeiträgen heißt es, dass die Deutung, nach der die Integration von Hugenotten im Aufnahmegebiet vielfach als „erfolgreiches Modell“ (Lachenicht 2010: 19) bezeichnet wird, mittlerweile überkommen ist. Von einer freundlichen Aufnahme der Réfugiés und einer friedlichen Koexistenz zwischen Einwanderern und Einheimischen kann kaum gesprochen werden. Die Probleme der aufeinandertreffenden Gesellschaften sind nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die meisten Territorien den Hugenotten mithilfe von Aufnahmeedikten eine besondere Privilegienpolitik gewähren. Die Zahlen der Ankömmlinge in den europäischen Refuges variieren in der Literatur, es wird von etwa 30.000 bis 40.000 Flüchtlingen gesprochen, die in deutschen Territorien zwischen 1670 und 1720 ein Refugium suchen (vgl. z.B. Gresch 2005: 83, Lachenicht 2005: 39, Eschmann 2006: 1893). Gemeinsam mit den Niederlanden und England, die jeweils etwa 50.000 Hugenotten aufnehmen, liegen die über 300 Herzogtümer, Kurfürstentümer und Grafschaften des Heiligen Römischen Reichs unter den meisterwählten Einwanderungsgebieten (vgl. Flick 2008: 7). Für die vorliegende Arbeit ist die Darstellung der deutschen Refuges in den Gebieten Brandenburg-Preußen vom Niederrhein bis nach Pommern und im Gebiet Kursachsens, gemessen an der Herkunft der interviewten Personen, von besonderer Bedeutung. Im Folgenden werden die Bedingungen für den Neubeginn und die Akkulturationsprozesse der Hugenotten in den Einwanderungsgebieten Brandenburg-Preußen und Kursachsen aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit zunächst gesondert betrachtet. In einem weiteren Schritt folgt eine übergreifende Darstellung der Sprachwechselphänomene.
1.1 HUGENOTTENANSIEDLUNG UND AKKULTURATIONSPROZESSE IN BRANDENBURG-PREUേEN Der weitaus größte Teil der Flüchtlinge siedelt in den Gebieten BrandenburgPreußens. Hier entstehen ungefähr 50 sogenannte Kolonien, die einer zentralen Verwaltung in Berlin unterstehen. Zwischen 16.000 und 20.000 Hugenotten lassen sich in Brandenburg-Preußen nieder, unter anderem siedeln davon etwa 6.000 Hugenotten in den fünf Städten Berlin, Cölln, Friedrichstadt, Friedrichswerder und Dorotheenstadt, und bilden dort die Berliner Kolonie. Schätzungsweise 5.500 Hugenotten bleiben im Herzogtum Magdeburg und etwa 2.000 Hugenotten gehen in die Uckermark
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(vgl. Gresch 2005: 87–93). Der Grund für die massive Einwanderungswelle in dieses Territorium liegt in der Haltung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Der Große Kurfürst tritt den französischen Flüchtlingen mit Offenheit entgegen, die durch den Erlass des Edikts von Potsdam wenige Tage nach der Revokation des Toleranzedikts am 29.10.1685/8.11.1685 kodifiziert wird. In den 14 Artikeln des Edikts spricht der Große Kurfürst den Ankömmlingen umfangreiche rechtliche Privilegien zu. Das Kernstück des Potsdamer Edikts besteht in der Gewährung von Kultus- und Glaubensfreiheit, wobei Punkte wie Abgaben- und Zunftfreiheit den Hugenotten eine erhebliche Sonderstellung zugestehen (vgl. Lachenicht 2005: 42). Für den Großen Kurfürsten kommen die Hugenotten im richtigen Moment. Seinem Expansionsdrang steht sein vom Dreißigjährigen Krieg gebeuteltes Land, insbesondere die verwüstete Uckermark, gegenüber. Ethisch-religiöse und insbesondere ökonomische Beweggründe gesellen sich zu den demographischen Motiven des Großen Kurfürsten (Birnstiel 2007: 143, Scheiger 1990: 167). Eine Stärkung der Konfession der Regierung wird für die Anreize verantwortlich gewesen sein, ist Brandenburg doch in eine lutherische Bevölkerung und eine reformierte Landesherrschaft gespalten (vgl. Böhm 2010: 50). Infolge des Potsdamer Edikts dürfen die Hugenotten innerhalb der Kolonien Kirchen, Schulen und andere Institutionen errichten, sodass ein Neubeginn in der brandenburgischen Landschaft zunächst reizvoll erscheint (vgl. Klingebiel 1990: 77). In jeder gebildeten Kolonie ist die Kirchgemeinde das Zentrum der Gemeinschaft, hier finden die Réfugiés den konfessionellen und ethnischen Zusammenhalt, und sie erhalten in Fällen der Not auch materielle Unterstützung. Die französische Kolonie prägt nicht nur ein eigener Kirchenapparat, sondern gleichsam eine eigene Verwaltung und Rechtssprechung innerhalb des bürgerlichen Gemeinwesens (vgl. Wilke 1988a: 58/59). Daher bezeichnet der Begriff der Kolonie im deutschen Refuge eher den gemeinsamen Rechts- und Verwaltungsraum als einen bestimmten geographischen Ort (vgl. Böhm 2010: 54/55, Niggemann 2011: 55). Trotz der regionalen Gegensätze durch verschiedene Herkunftsregionen eint die Hugenotten die Flucht in ein fremdes Land, ihr reformierter Glaube und eine gemeinsame Sprache (vgl. Wilke 1988b: 393). So erfahren die Hugenotten der ersten Generation zunehmend ein Gefühl der Geschlossenheit, das ihnen durch die Privilegien des Potsdamer Edikts ermöglicht wird. Was auf den ersten Blick wie das idyllische Ende einer dramatischen Flucht durch die Befriedigung der Interessen auf beiden Seiten aussieht, wird jedoch von Protesten der ansässigen Bevölkerung begleitet. In vielen Aufnahmeorten verzeichnet die Quellenlage den Unmut über die französischen Einwanderer (vgl. Reinke 1997: 40, Dölemeyer 2006: 161), Streitigkeiten um Bodenzuteilung oder Konkurrenzen im gewerblichen Sektor. Die ältere Historiographie – zumeist sind es Berichte hugenottischer Geschichtsschreiber – hat die Ausschreitungen gegenüber den Hugenotten „bisweilen übertrieben dargestellt“ (Niggemann 2008: 360). Flick weist darauf hin, dass die Tendenzen der älteren His-
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toriographie, die die Aufnahmepolitik mit religiösen Motiven begründet, mittlerweile einen Umschwung erfahren hat, der der Ansiedlungsgeschichte ebenfalls nicht gerecht wird: „Wurde früher bei der Betrachtung der Aufnahme von Hugenotten oft einseitig die religiöse Motivation der einladenden Fürsten gegenüber den wirtschaftlichen Motiven überbetont, so ist das Pendel in der Hugenottenforschung des 20. Jahrhunderts zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen. Nun wurden vielfach ebenso einseitig primär die wirtschaftlichen Motive auf Kosten der religiösen Motive herausgestellt.“ (Flick 2008: 7)
Die Besserstellung der Hugenotten in Brandenburg-Preußen ist auch das Ergebnis einer minutiösen Aushandlung von Privilegien durch das Einreichen von Petitionen und Pamphleten seitens der Réfugiés (vgl. Lachenicht 2005: 97). Das Selbstbewusstsein, mit dem Flüchtlingsvertreter vor allem Manufakturisten und Kaufleute anpreisen, zeigt sich in den Forderungskatalogen, die an die Landesherren gerichtet werden. Sie sehen sich ebenfalls in der Lage, auf die Regierung erheblichen Druck auszuüben, indem sie gar mit dem Weggang aus dem jeweiligen Territorium drohen (vgl. Niggemann 2008: 535). Für die erste Flüchtlingsgeneration kann kaum eine gelungene Integration angenommen werden, die neben aller Kritik an der problematischen Begriffsklärung unter anderem für Lachenicht die „Beibehaltung wichtiger Elemente der ursprünglichen Kultur bei gleichzeitigem Kontakt mit den Einheimischen“ (Lachenicht 2010: 12) bedeutet. Wird unter Integration die „Statuserreichung im Mehrheitssystem“ (Zick 2010: 547) in einem Kontinuum verstanden, so befindet sich die erste Generation der Hugenotten sicher nicht am äußeren Pol. Vielmehr sind es Prozesse der Abgrenzung von der einheimischen Gesellschaft, die durch die Privilegien gestützt werden. Dass also im Zuge der Integrationsdarstellung der Hugenotten von einer beispiellosen Erfolgsgeschichte gesprochen werden kann, revidiert die jüngere Forschung oft als „Kehrseite der Privilegierung“ (Reinke 1997: 39). Außerhalb der Berliner Kolonie werden in den Territorien des Großen Kurfürsten entweder Kolonien mit einer eigenen Kirche oder an zentrale Kolonien angegliederte Satellitengemeinden gegründet. Während die Berliner und die Magdeburger Kolonien als die bedeutendsten bürgerlichen Gewerbekolonien fungieren, sind die ländlichen Kolonien dem Ackerbau vorbehalten (vgl. Lachenicht 2005: 177– 179). Die ländlich-bäuerliche Kolonisation ist einerseits die Folge mangelnder Unterbringungsmöglichkeiten der Hugenotten in den Städten. Andererseits werden Flüchtlinge beauftragt, auf den Wüstungen wie in der Uckermark neue Dörfer zu errichten, Höfe aufzubauen und Ackerflächen urbar zu machen. Durch Streitigkeiten um Boden und Besitz im „Konfliktfeld“ (Niggemann 2008: 227) der bäuerlichländlichen Kolonisation kommt es zu Abwanderungen nach Pommern oder Ostpreußen, sodass es eher kleine Gemeinden sind, die sich zudem die Dorfkirchen mit
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den Lutheranern teilen (vgl. Gresch 2005: 99). Der erhoffte sozio-ökonomische Aufschwung bleibt in den ersten Jahren nach der Einwanderungswelle aber vor allem aufgrund von religiösen, sozialen und kulturellen Differenzen eher gering. Erst 1720 wird im Zuge der Konfliktbeilegung und der Neupositionierung gegenüber den Hugenotten eine größere Kolonie in Stettin gegründet, die im Laufe des 18. Jahrhunderts mittels erweiterter Rechte für die Zuwanderer in Pommern eine wichtige Position in der gesellschaftlichen Entwicklung erreichen soll. Französische Manufakturen werden aufgebaut, die Textilindustrie mit den Strumpfwirkereien und die Gerbereien stellen ein konkurrenzfähiges Standbein der pommerschen Wirtschaft dar. Die hugenottischen Kaufleute und Unternehmer etablieren sich, haben auch über die Grenzen Pommerns hinaus ökonomischen Einfluss, beispielsweise im Seehandel, und liefern so einen Beitrag zum Aufbau der bourgeoisen Schicht (vgl. Szlutka 1990: 136–138). Um die Akkulturationsprozesse der Hugenotten in den verschiedenen Territorien zu beleuchten, richtet die Forschung ihr Augenmerk auf bestimmte Indikatoren. So werden berufliche Werdegänge, Heiratsverhalten, bildungs-, gemeinde- oder außenpolitische Positionen und Sprachwechselprozesse untersucht. In den Ausführungen zur Lebenswirklichkeit der Hugenotten in den ersten Generationen wird häufig mit dem Identitätsbegriff gearbeitet. Er wird an dieser Stelle aus Gründen der Wiedergabe von Forschungsergebnissen übernommen und im folgenden Kapitel einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Dass die Hugenotten sich in Brandenburg-Preußen, insbesondere in der Berliner Kolonie, auf politischer, kirchlicher und gesellschaftlicher Ebene autark organisieren können, ist in dieser Zeit Voraussetzung einer hugenottischen Identitätsbildung. Neben der Einrichtung französischer Gottesdienste gehört der Ausbau des Schulwesens zu den elementaren Bestandteilen der Gemeinschaft. Die Notwendigkeit des eigenen Schulwesens ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die erste Generation der Einwanderer einerseits der deutschen Sprache nicht mächtig ist und andererseits die Bildungseinrichtungen Berlins lutherischer Prägung sind. Heusch untersucht den Zusammenhang zwischen dem Bildungswesen der Berliner Kolonie und der Akkulturation der Hugenotten. In ihrem Fall besteht dieser Prozess aus einer „Überlappung von Integration und Separation“ (ebd.: 118). Die Bewahrung ihrer distinktiven Gruppenmerkmale, die sich von der gemeinsamen Migrationsgeschichte über den reformierten Glauben, die französische Sprache bis zu einer eigenen Kultur erstrecken, steht lange im Zentrum der Bemühungen. Schon 1692 beginnt die erste ordentliche Gemeindeschule in Berlin, den Anforderungen gerecht zu werden, indem die Grundfächer Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion in französischer Sprache unterrichtet werden (ebd.: 123–125). Neben einer Vielzahl von Privatschulen stellen das Waisenhaus, die Ecole de Charité und das Collège Français die bedeutendsten bildungspolitischen Stützen des Refuge dar. Die ländlichen Kolonien können den dezidierten Bestimmungen zum Unterricht in französischer Sprache und dem auf
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das eigene Bekenntnis ausgerichteten Katechismusunterricht meist aufgrund des Lehrermangels nicht lange folgen und müssen den speziell ausgerichteten Schulbetrieb einstellen (vgl. ebd.: 131). Ein wichtiger Grund für den Aufbau eines eigenen Schulnetzes ist die Bewahrung der französischen Sprache auch im Hinblick auf eine mögliche Heimkehr nach Frankreich (vgl. Wilke 1988b: 393). Dagegen argumentiert Gravier, dass die Hugenotten erst nach der Erkenntnis, in Deutschland bleiben zu müssen, verstärkt Wert auf den Französischunterricht legen. Damit soll dem Nachwuchs das Verständnis für die calvinistischen Texte gesichert werden (vgl. Gravier 2005: 169). Die erste Generation betrachtet das Refuge zunächst noch als Provisorium, sie rechnet mit der baldigen Rückkehr nach Frankreich (vgl. ebd.: 168). Schon in der zweiten Einwanderergeneration sind diese Tendenzen nicht mehr belegt, der Anteil der Mischehen nimmt im Verlauf des 18. Jahrhunderts rapide zu. Bis zum Ende des Jahrhunderts sind über 70 Prozent aller Eheschließungen in der Berliner Kolonie Mischehen (vgl. Lachenicht 2005: 52). Dieses Heiratsverhalten kann als Faktor für zunehmende Integration gedeutet werden. Für die ländlichen Kolonien in Brandenburg-Preußen liegen andere Zahlen vor. Obwohl die Auswahl an potentiellen Heiratswilligen in einer kleineren Gemeinde schneller erschöpft sein kann, wird in den brandenburgischen Dörfern aus Sorge um die Kolonie seitens der Konsistorien die Forderung nach endogamen Eheschließungen laut und so wird die Suche auf die größeren Kolonien in der Uckermark erweitert (vgl. Asche 2006: 565). Dass sich in den Dokumenten des Konsistoriums kein entscheidender Hinweis auf die Umwälzung in der alten Heimat Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution finden lässt, wird von der Forschung als Anzeichen für die Entwurzelung der Hugenotten und ihre Integration in die neue kulturelle Umgebung gedeutet (vgl. Wilke 1988a: 83–85). Zudem stürzen die ankommenden Revolutionsemigranten die Hugenotten in eine Identitätskrise, als diese erkennen müssen, dass sie mit den Neuankömmlingen nicht mehr als ein französischer Nachname verbindet. Insbesondere gegenüber der Aufnahmegesellschaft sehen sich die Hugenotten in der Pflicht, ihre Loyalität zu bekunden (vgl. François 1985: 198/199). Das bestätigt die Annahme, dass spätestens die dritte Generation der Réfugiés sich zwar als elitäre Trägerinnen französischen Kulturguts, aber eben auch als preußische Patrioten begreifen. Das politische Bekenntnis zum preußischen Staat ist in mehreren Kontexten nachweisbar, beispielhaft steht hier die loyale Haltung gegenüber dem preußischen Staat beim Einmarsch der napoleonischen Armee. In diesem Zusammenhang ist bei von Thadden von „preußischen citoyens“ (von Thadden 1985: 194) oder bei Krum von „Preußens Adoptivkindern“ (Krum 1985: Titel) die Rede. Jersch-Wenzel hingegen spricht von einem „importierte[n] Ersatzbürgertum“ (Jersch-Wenzel 1985: 160).
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1.2 HUGENOTTENANSIEDLUNG UND AKKULTURATIONSPROZESSE IN KURSACHSEN Auf den ersten Blick scheint eine tiefgehende Analyse der Hugenottenansiedlung in Kursachsen im Vergleich zum vielbevölkerten Brandenburg-Preußen wenig fruchtbar. Gerade 500 Réfugiés verzeichnet das Gebiet unter der Herrschaft von Friedrich August I. nach dem Revokationsedikt. In vielen deutschen Territorien werden die protestantischen Flüchtlinge zwar aufgenommen und dürfen sich ansiedeln, sie erhalten allerdings nicht in jedem Fall die umfangreichen rechtlichen Privilegien. Gründe für die Aufnahme von Hugenotten in den kursächsischen Gebieten können allenfalls in wirtschaftspolitischen Maßnahmen gesehen werden. Middell benennt in ihrer Arbeit als bedeutendsten Faktor für den Unwillen zur Aufnahme in Kursachsen die „Erhaltung und Reinhaltung der Landesreligion“ (ebd.: 61). Die gezielte Ansiedlung von Hugenotten in weiteren Städten wie Torgau, Meißen oder Eilenburg scheitert nicht zuletzt durch den Widerstand der Bürger und städtischen Vertreter, die vor allem wirtschaftliche Konkurrenz fürchten (vgl. ebd.: 53). Kursachsen teilt sich hinsichtlich der Aufnahmebereitschaft in zwei Lager. Es werden auch Stimmen laut, die mit Blick auf die die Wirtschaft befruchtende Ansiedlungspolitik in Brandenburg-Preußen auf die gewinnbringende Seite der hugenottischen Ansiedlung verweisen. Schunka beruft sich in seiner Betrachtung auf eine anonyme Schrift und fasst sie zusammen: „Hugenotten würden nun das Land Brandenburg urbar machen, [...], während das Potential Sachsens ungenutzt bleibe und dasjenige der Hugenotten für Sachsen verloren sei.“ (Schunka 2006: 68). Das kursächsische Land wird für die Réfugiés durch die Verhinderungspolitik eher unattraktiv, sodass sich zunächst nur wenige Glaubensflüchtlinge im lutherischen Kursachsen niederlassen. Die Stadt Leipzig gilt allerdings seit jeher als wirtschaftlich günstiger Standort durch die Messe. Hier siedeln bereits vor 1685 französische Kaufleute, von denen die reichsten Réfugiés im Jahr 1700 an der kostenintensiven Gründung der Leipziger Gemeinde beteiligt sind. Die Gemeinde zählt im Jahr ihrer Gründung nur 150 Mitglieder (vgl. Dölemeyer 2006: 154). Aufgrund ihrer Konfession können die Hugenotten das Bürgerrecht nicht erwerben und haben somit auch kein Recht auf die Berufsausübung in öffentlichen Ämtern, auf den Aufbau eines eigenen Wirtschaftszweigs oder auf den Erwerb von Grundbesitz. Sie müssen höhere Steuern abgeben als die Einheimischen und leisten durch den Status als geduldete Minderheit keinen nennenswerten Beitrag zum gesellschaftlichen Leben in der Messestadt. Den Leipziger Hugenotten bleiben viele Bereiche wie der Kleinhandel, das Handwerk und das Gewerbe verschlossen, nur die Großkaufleute dürfen Handel betreiben. So entsteht in Leipzig eine „besondere soziale Homogenität“ (Middell 2007: 63), die in anderen deutschen Ansiedlungsterritorien, in denen beispielsweise die Rolle der Handwerker oder die der Intellektuellen gleichermaßen die Regionalgeschichte beschreiben, sel-
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tener zu finden ist. Auch die öffentliche Religionsausübung bleibt den Hugenotten hier zunächst verwehrt. Friedrich August spricht im Jahr 1701 lediglich das Recht auf private Religionsausübung aus (vgl. ebd.: 62). Niggemann vermerkt hierzu, dass auch die Ausführungen zum Verhalten lutherischer Landesherren ein Produkt hugenottischer Geschichtsschreibung sind und „säkulare Konflikte vielfach als konfessionelle Ablehnung“ (Niggemann 2011: 88) interpretiert werden. In Ermangelung anderer archivalischer Quellen ist dadurch ein Bild entstanden, dass die Situation der Religionsausübung in ein dramatisches Licht rücken musste (vgl. ebd.: 88). Die einheimische Gesellschaft dort duldet die Hugenotten, die, um ihr Bleiberecht zu sichern, ein Schutzgeld an die Stadtkasse zahlen und aufgrund der wirtschaftlichen Lage in der Gegend der Messestadt Leipzig bleiben. Ihre bürgerliche, politische und religiöse Gleichberechtigung erhalten die Hugenotten in Kursachsen erst 1811 durch einen Schachzug der Reformierten, die die Gleichstellung mit den Katholiken anstreben. Auf den bedeutsamen Einfluss der reformierten Kaufleute auf die Leipziger Messe im 18. Jahrhundert kann hier im Zusammenhang mit dem Aufbau stabiler Handelsbeziehungen zwischen Lyon und Leipzig verwiesen werden. Eine Aufschlüsselung der Verteilung französischer und Leipziger Handelshäuser in der Messestadt zeigt, dass die reformierten Kaufleute der Stadt Leipzig einen beträchtlichen ökonomischen Impetus geben, der über das 18. Jahrhundert anhalten soll (vgl. Middell 1999: 65). Als Indikatoren für das Akkulturationsverhalten der Hugenotten in den Gemeinden Kursachsens können ebenso das Heiratsverhalten, kirchenpolitische Maßnahmen oder die Haltung der Hugenotten in Revolutionszeiten herangezogen werden. In der ersten Einwanderergeneration dominiert wie auch in anderen Gebieten ein endogames Heiratsverhalten. Ab der zweiten Generation der Leipziger Hugenotten ist eine Zunahme der Eheschließung über die Gemeindegrenzen hinweg zu verzeichnen (vgl. ebd.: 68). Als bedeutendes Indiz für die Akkulturation kann die zwiespältige Haltung der Hugenotten in Krisenzeiten gelten. Der steten Verteidigung ihres anwachsenden Patriotismus, ihres Einstehens für die sächsische Bevölkerung im Siebenjährigen Krieg und dem Wunsch nach Zugehörigkeit steht die formulierte Drohung des Weggangs dauerhaft gegenüber. Die Hugenotten wissen um ihre wirtschaftliche Kraft und können so Forderungen nach Gleichstellungsmaßnahmen an das kursächsische Land stellen, da sie sich als „so gute Sächsische Unterthanen als andere“ (zit. nach Middell 1997: 65) begreifen. In der Zeit der napoleonischen Rheinbundpolitik fungieren etablierte Hugenotten als Vermittler zwischen den Parteien, eine Aufgabe, die einen bedeutenden Beitrag zum Zugehörigkeitsgefühl zur sächsischen Gesellschaft leistet. Es ist daher folgerichtig, wenn sie nicht nur im übertragenen Sinn als Wanderer zwischen zwei Welten bezeichnet werden. Die Hugenotten befinden sich nach und nach in einem „hybride[n] Zustand“ (ebd.: 74), da sie einerseits mit pathetischen Worten politische Loyalität zeigen und gesellschaftliche Zugehörigkeit anstreben, andererseits ihren Duldungs- und Fremdlingsstatus in
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Sachsen bemängeln und die Verbindung zu Frankreich nie abreißen lassen. 1758 fällt in Leipzig die Wahl neben einem französischen erstmals auf einen deutschen Prediger, Georg Joachim Zollikofer, der über die Grenzen der Gemeinde durch seine Gottesdienste erhebliches Ansehen gewinnen soll. Für Middell zeigt sich in dieser Entscheidung ein klares Zugeständnis an die Veränderungsprozesse, denn viele Gemeindeglieder können den Gottesdiensten in französischer Sprache nicht mehr folgen. Auch die Bedingung für eine französische Sprachkompetenz bei der Neuwahl eines deutschen Predigers wird von der Gemeinde zum Ende des 18. Jahrhunderts ausgesetzt. Wie in anderen Kolonien Deutschlands setzt auch in Kursachsen eine Transformation des kirchlichen und religiösen Lebens im Laufe des 19. Jahrhunderts ein. Forschungen über die fortschreitende Säkularisierung und ihre Auswirkung auf das Leben der Hugenotten fokussieren vielfach die preußische Gesellschaft, weniger Studien gibt es zu diesen Prozessen für das kursächsische Land. Die Bindung an die Kirche nimmt auch hier ab, messbar an wenigen statistischen Daten, die vom Rückgang der Abendmahlsbeteiligung oder der Teilnahme an Gottesdiensten zeugen. Es findet eine Verschiebung der Bezugspunkte für das tägliche Miteinander statt. Das soziale Leben der sächsischen Hugenotten erfährt durch die Mitgliedschaft in Sozietäten, das Engagement in Vereinen und ehrenamtlichen Tätigkeiten eine Veränderung, die die gesellschaftliche Verbindung mit den Einheimischen fördert und die Kluft verringert. Zudem nimmt der Deutsche Hugenotten-Verein (DHV), der 1890 als Hugenottenbund im Zuge der einsetzenden Rückbesinnung während der Jubiläumsfeiern gegründet wird, bis heute eine zentrale Rolle in der Pflege hugenottischen Erbes ein (vgl. DHG 2013).
1.3 DIE FRANZÖSISCHE SPRACHE Fragen zu Merkmalen hugenottischen Daseins werden oft mit dem einheitlichen reformierten Bekenntnis und der gemeinsamen Fluchtgeschichte beantwortet. Die sprachliche Situation der Hugenotten und ihr bewusster Umgang mit der französischen Sprache sind besonders bewährte Indikatoren in der Analyse von Akkulturationsprozessen. Hier werden unter anderem die Dichotomien Stadt und Land sowie öffentlicher und privater Raum mit den betroffenen Bereichen der Sprech- und Schriftsprache in Schule, Kirche, Gemeinde, Kolonie und Berufsfeld zu Ausgangspunkten der Analyse gemacht. Die Ergebnisse für die Gebiete Brandenburg-Preußen und Kursachsen sollen hier zusammengefasst werden. Dank der Bestände von Kirchenbüchern und anderen Unterlagen der Gemeinden sind die Verwendung des Französischen und seine Veränderungen im Refuge bis heute nachweisbar. Verschiedene Korrespondenzen außerhalb des Kirchenalltags werden in der Forschung unter vielen Gesichtpunkten mit großem Interesse analy-
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siert (vgl. Lachenicht 2010, Niggemann 2011). Für die Darstellung der Sprachensituation sind diese Materialien deshalb so wichtig, weil sie ein reales Abbild auch des privaten Lebens mit der französischen Sprache abgeben. Die Einwanderersprache dient als Kult- und Amtssprache und wird in der ersten Generation in besonderem Maße gepflegt (vgl. Wilke 1988b: 393). Die Hugenotten der ersten Generation sprechen bis an ihr Lebensende ein Französisch, das sich jedoch dialektal noch unterscheidet. Dass die in Deutschland eingewanderten Hugenotten keine homogene Gruppe sind, trifft nicht nur auf ihre Sprache aus verschiedenen Teilen Frankreichs, sondern auch auf ihre soziale Schichtung und Profession zu. Somit divergieren die Substandards und reichen von regional gefärbter Umgangssprache über Stadtsprache bis hin zu einem stark ausgeprägten Dialekt und decken ein breites Varietätenspektrum ab (vgl. Böhm 2004: 26). Die aktive Beherrschung der französischen Hochsprache durch einheitliche Bibelübersetzungen ist jedoch Basis für die Verständigung untereinander (vgl. Birnstiel 1990: 111). Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang von einem sich herausbildenden Hugenotten- oder Exilfranzösisch, das möglicherweise auch noch für die zweite Generation der Hugenotten gilt (vgl. Eschmann 2006: 1894). Diese Sprache, von Voltaire als style réfugié bezeichnet, zeichnet sich dadurch aus, dass die Glaubensflüchtlinge in den Hugenottenorten zu einer homogenen Sprachfamilie zusammenwachsen, die alle sozialen Schichten umfasst und so in Frankreich nicht existieren kann, fehlen der Sprache im Laufe der Zeit doch zwangsläufig einige Register (vgl. Birnstiel/Reinke 1990: 130). Typisch für den style réfugié sind Ausdrücke und Eigennamen, die aus dem Deutschen aufgenommen und französiert werden. Der Direktor des Französischen Gymnasiums, Erman, betrachtet diesen Umstand entgegen der Abwertung Voltaires als Bereicherung für die französische Sprache (vgl. Wilke 1988b: 399). Für den kursächsischen Raum kann angenommen werden, dass die Handelsbeziehungen insbesondere der Leipziger Kaufleute dazu führen, dass ein reger Austausch mit den Händlern in Frankreich das Fortbestehen französischer Sprachkompetenz sichert. Für diejenigen, die sich in der sächsischen Wirtschaft um Kontakte nach Frankreich verdient machen, muss die französische Sprache ein unerlässliches Mittel bleiben und automatisch auch bei den Réfugiés in eine gemeinsame Richtung weiterentwickelt werden. Middell weist anhand weniger Quellen nach, dass sogar bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wahl für das Deutsche für den öffentlichen und das Französische für den privaten Raum ein Indikator für die Identifikation mit der neuen Heimat ist (vgl. Middell 2007: 67). In der Forschung herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass als Beginn des Sprachwechselprozesses der einsetzende Rückgang der Französischkompetenz zur Mitte des 18. Jahrhunderts angesetzt werden kann. Hartweg hält eine passive oder fehlende Französischkompetenz bereits ab der zweiten Generation für plausibel. Es folgt eine Phase asymmetrischer Zweisprachigkeit (vgl. Hartweg 1990: 31). Wilke geht von vorhandenen Deutschkenntnissen ab der zweiten Generation der Hugenot-
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ten aus. Dabei unterscheidet er grundsätzlich zwischen den zur Gemeinde gehörenden Kindern, die in den hugenottischen Schulen Französisch lernen, und jenen aus ärmlichen Verhältnissen stammenden, die zwar Französischunterricht erhalten, sich aber schneller sprachlich anpassen müssen (vgl. Wilke 1988b: 395/396). In den hugenottischen Schulen ist das Französische zunächst für die alltägliche Kommunikation nötig und muss daher als aktive Sprachkompetenz vorliegen. Im Gegensatz zum Französischen Gymnasium wird in vielen Schulen Brandenburg-Preußens und Kursachsens das Französische als Fremdsprachenfach eingeführt, damit der Katechismusunterricht nicht gefährdet wird. Am Französischen Gymnasium wird durch die Führung so lange wie möglich an der französischen Sprache festgehalten, erst 1802 wird das Fach Deutsch als Fremdsprache eingeführt. Bis heute wird dort aber das Französische als Unterrichtssprache bewahrt (vgl. Gravier 2005: 174/175). Andere Einrichtungen wie die Ecole de Charité, das Waisenhaus und das Kinderhospital bieten schon ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Deutsch als Unterrichtsfach an. In der Phase der „Eindeutschung“ (Hartweg 2005: 155) bestimmt das sogenannte Sprachenproblem, auch als Sprachdebatte oder querelle de langue (vgl. Böhm 2010: 83) bezeichnet, die Auseinandersetzungen um den Erhalt des hugenottischen Sonderstatus. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beansprucht die Frage zum Umgang mit dem sich andeutenden Verlust des Französischen einen Großteil der Besprechungen in der kirchlichen Führung. Hartweg konstatiert, dass der Gebrauch des Französischen in den Kirchen, beispielsweise beim Singen der Psalmen in französischer Sprache, „symbolischen Wert [hatte], dessen Verlust die geistliche Identität gefährdete.“ (Hartweg 2005: 155). In den Führungsgremien wird das Sprachenproblem als bedrohlich wahrgenommen. Immer weniger Gemeindemitglieder verstehen weder den in französischer Sprache gehaltenen Gottesdienst, noch können sie bestimmten Amtshandlungen folgen. Sie wollen verstärkt in deutsch-reformierte Gemeinden wechseln, aber die Anträge werden vom Konsistorium überwiegend abgelehnt (vgl. Böhm 2005a: 145). Die Kirche sieht nun ihre Existenzlegitimation bedroht und ist ab 1765 gezwungen, Maßnahmen wie etwa die Option deutschsprachiger Gottesdienste gegen die Abwanderung der Gemeindemitglieder in die Wege zu leiten. Hartweg beschreibt diese Auseinandersetzungen folgendermaßen: „Der nur mehr symbolische Wert des Französischen, der in seiner gruppenausweisenden Funktion bestand, verdeutlicht das Dilemma der Gruppe, die sich zwar durch ihre religiös bestimmte Zusammengehörigkeit definierte, aber ein wesentliches Element ihrer geistigen Aufgabe, nämlich das der Verkündigung und Seelsorge, in dem Moment verkümmern ließ, in dem sie ihren Bestand durch mögliche Eingriffe der politischen Macht als gefährdet empfand und infolgedessen das Französische als Existenz legitimierendes Moment verteidigte, obwohl ein großer Teil der Gemeindeglieder dieser Sprache nicht mehr mächtig war.“ (Hartweg 2005: 156)
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Das Konsistorium muss also den sprachlichen Tendenzen Rechnung tragen, identifiziert sich aber stark mit dem Französischen als Distinktionsmerkmal nach außen (vgl. Böhm 2004: 27). Die fortschreitende Anpassung der Hugenottennachkommen ist demnach nie nur eine Frage des Verlusts der Muttersprachkompetenz, sondern vielmehr steht die „bislang unangekränkelte kulturelle Identität der Réfugiés zur Disposition“ (Böhm 2005b: 118). Die Tendenzen werden dennoch nicht einheitlich als bedrohend wahrgenommen, denn selbst innerhalb der Kirche bestehen unterschiedliche Meinungen zum Sprachenproblem. Der Streit von 1813/1814 zwischen den zwei Pastoren Théremin und Henry verdeutlicht die Brisanz des Sprachenproblems in den religiösen und schulischen Bereichen (vgl. Bergerfurth 1993: 92–118). Théremin, Pastor aus Gramzow, unterstützt den Ruf der hugenottischen Bevölkerung nach einem deutschsprachigen Gottesdienst. Gramzow gehört zu jenen Gebieten Brandenburgs, in denen der früheste Sprachwechsel verzeichnet ist. Während Théremin sich eindeutig zum deutschen Vaterland und zur deutschen Sprache positioniert, fordert der Berliner Pastor Henry die Pflege der Traditionen und somit der französischen Sprache. Théremin sieht in der Ausbildung der Kinder die Gefahr, dass diese in beiden Sprachen unzureichend kompetent sind, wenn am Bilingualismus festgehalten würde. Er meint: „Ohne Zweifel ist es unsere Pflicht, unsere Kinder nicht zu französischen, sondern zu deutschen oder preußischen Bürgern zu bilden; und dies kann nur durch die deutsche Sprache geschehen.“ (Théremin nach Bergerfurth 1993: 100) Henry reagiert mit dem Verweis auf die gemeinsame Geschichte der Hugenotten und bekundet, dass sein Volk in ewiger Dankbarkeit gegenüber dem preußischen Herrscherhaus stünde. Dieser Faktor ist maßgeblich dafür, dass die Kinder „zu den eifrigsten Christen und feurigsten Patrioten“ (Henry nach Hartweg 2005: 160) gemacht werden. Die Aufgabe der französischen Sprache sei jedoch ein Verrat an den Grundsätzen ihrer Väter und würde zum religiösen Untergang führen. Laut Böhm, die in ihrer Arbeit die enge Verbindung französischer Sprache und hugenottischer Identität herausstellt, zeigt sich unter anderem in dieser Debatte, „dass die Wahl der französischen Sprache während der Phase der Mehrsprachigkeit einem identitären Akt gleichkam“ (Böhm 2010: 530). Es folgt in den meisten Gemeinden eine unterschiedlich lange Phase, in der alternierend französische und deutsche Gottesdienste angeboten werden. Ab 1832 beginnt die Durchsetzung des reinen deutschsprachigen Gottesdienstes in nahezu allen Kirchen Berlins – die Kolonie ist mittlerweile aufgelöst. Nur die Friedrichstadtkirche (Französischer Dom) behält bis zum Ersten Weltkrieg die Predigt in französischer Sprache bei (vgl. Wilke 1988b: 403). Heute gibt es in Berlin einen zweisprachigen Gottesdienst im Französischen Dom, der parallel zum deutschen Gottesdienst stattfindet. Den Sonderstatus Berlins zeigt ein Vergleich mit der ländlichen Kolonie Strasburg/Uckermark, in der der Akkulturationsdruck stärker ist und zu einer früheren Aufgabe des Französischen führt. Dafür spricht, dass sich ab 1790 als Predigtsprache das Deutsche durchsetzt (vgl. Böhm
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2005a: 153). Ähnlich ergeht es den Gemeinden, in denen keine französischsprachigen Prediger oder Lehrer eingesetzt werden. In Sachsen wird nach dem Tod des letzten französischen Predigers Jean Louis Alexandre Dumas kein weiterer französischer Prediger im Amt besetzt. Das Deutsche ist ab 1821 offizielle Kirchensprache (vgl. Middell 2007: 67). Während sich die Kirche als ein Ort des Erhalts der französischen Sprache darstellt, muss festgehalten werden, dass eine passive Sprachkompetenz hier lange ausreicht. Der Verlauf der Berliner Sprachensituation stellt sich im Vergleich zu anderen Kolonien in nahezu jedem Bereich als abweichend dar und beschreibt auch im Zusammenhang mit der hugenottischen Identität eine besondere Geschichte. Böhm (2010) rekonstruiert verschiedene Sprachwechselszenarien auch nach lokaler, sozialer und sprachlicher Umgebung. Auch für sie steht fest, dass sich das Französische in religiösen Domänen am längsten hält, sie nennt die Kirche „die letzte Bastion des Sprachwechsels“ (Böhm 2010: 531). Böhm konstatiert, dass die lang bewahrte Frankophonie der Einwanderergeneration durch eine stabile, lang anhaltende Zweisprachigkeit der Nachkommen, zumindest in sozial gehobenen Schichten und der geistigen sowie kulturellen Elite der Kolonie, ersetzt wird. Die Untersuchung archivalischer Quellen ergibt, dass der Gebrauch der französischen Sprache in bestimmten Schichten nicht nur die Funktion der Identitätssicherung hat, sondern auch der allgemeinen Sozialdistinktion dient, denn „die Elite der Kolonie [...] profitierte dabei ganz entscheidend von der Frankophonie ihrer sozialen Umgebung, die im Falle des Adels und der Beamtenschaft aus der Nähe zum Hof und zur höheren französischen Verwaltung resultierte [...]“ (ebd.: 138). Die einheimischen Gesellschaften haben demnach regen Anteil am Auf- und Ausbau einer gemeinsamen französischen Sprache, die nicht mehr aus einzelnen Heimatdialekten bestehen soll. Als „Repräsentanten der französischen Hochkultur“ (Birnstiel 2007: 141) angesehen, folgen die Hugenotten auch einem Bild, das durch andere gezeichnet wird. Dadurch wird ihre Binnenintegration, die „Verfestigung nationaler Identität“ (Lachenicht 2010: 466), in besonderem Maße gefördert. Hier zeigt sich beispielhaft jene Wechselwirkung zwischen Migrations- und Aufnahmegesellschaft, die für Akkulturationsprozesse typisch ist. Die funktionale Mehrsprachigkeit kennzeichnet die Berliner Kolonie besonders, da durch die gemeinsame Fluchtgeschichte zwar das Zusammengehörigkeitsgefühl der Hugenotten stark ausgeprägt ist, aber die „tiefe soziale Schichtung und damit die hohe soziale und professionelle Differenzierung“ (Böhm 2010: 137) bewirkt, dass das sprachliche Verhalten in der Berliner Kolonie durch das längere Festhalten an der französischen Sprache bestimmt ist. Die Größe der Berliner Kolonie, die starke Differenzierung der Institutionen und ein fehlender Akkulturationsdruck von Seiten des preußischen Staates sind laut Böhm dafür verantwortlich, dass sich soziale und kulturelle Eliten herausbilden können, die als Bewahrer hugenottischer Identität und französischer Sprache fungieren und der Kolonie zu einem Sonderstatus verhelfen (ebd.: 137/138). Obwohl
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die Ausarbeitungen zeigen, dass das Verhalten der Hugenotten für eine stärkere Auswirkung der „gruppenidentitätsbezogene[n] Rolle von Sprache“ (ebd.: 530) nach Migrationen spricht, schränkt Böhm den Einfluss des Französischen auf die Bildung einer hugenottischen Identität an anderer Stelle ein. Zwar ist der Zusammenhang von französischer Sprache und hugenottischer Identität evident, dennoch muss die Identitätskonstruktion im Rahmen eines kollektiven Gedächtnisses unterschiedlich betrachtet werden. „Die französische Sprache war höchstens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unverzichtbare Komponente der hugenottischen Identität.“ (Ebd.: 531, Hervorhebung i.O.) Böhm konstatiert, dass andere Komponenten wie Borussophilie oder kulturelle Elitenbildung erst nach dem Sprachwechsel identitätsbildend werden. Die Aufgabe des Französischen dekonstruiert keineswegs das hugenottische Bewusstsein, da insbesondere die französisch reformierte Konfession ein stabiles Element hugenottischen Bewusstseins ist (vgl. ebd.: 531). Inwieweit Böhm mit dieser Aussage recht behält, soll die vorliegende Untersuchung zeigen.
1.4 HUGENOTTISCHE ERINNERUNGSKULTUR UND GESCHICHTSBILD Die Frage nach hugenottischer Identität kann mithilfe eines weiteren bedeutenden Merkmals hugenottischer Geschichte, der Mythologisierung, beleuchtet werden. Erst in aktuelleren Darstellungen wird auf den Impetus der „Geschichtsmythologie“ (François 1985: 201) hingewiesen, der erheblich zur Verzerrung der Flucht- und Ansiedlungsgeschichte beigetragen hat. Nach wie vor haben die Legenden um die rasche Integration der Hugenotten, um ihren Tatendrang und ihre Staatstreue Bestand sowohl in der Forschung als auch in der privaten Erinnerungskultur. Interessant ist hier keinesfalls die Korrektur dieses Bildes, sondern der Einbezug desselben in alle angestellten Überlegungen. Die Formen der Erinnerung und ihre Ausgestaltung, das sich über Jahrhunderte formierende Selbst- und Fremdbild der Hugenotten müssen Gegenstand einer mit Vorsicht zu behandelnden Historiographie sein. Wenn im Folgenden der Begriff des hugenottischen Bewusstseins verwendet wird, so ist einerseits eine gemeine Form der Wahrnehmung des gegenwärtigen Soseins gemeint. Andererseits wird darunter insbesondere unter konstruktivistischer Perspektive der Zeiterfahrung das Geschichtsbewusstsein verstanden, das nach Rüsen den „Inbegriff der mentalen (emotionalen und kognitiven, unbewusstsen und bewussten) Operationen, durch die die Erfahrung von Zeit im Medium der Erinnerungen zu Orientierungen der Lebenspraxis verarbeitet wird“ (Rüsen 1994: 6) bezeichnet. Die Geschichtsdarstellung speist sich aus der Rekonstruktion von Geschichtsschreibung, die immer auch in ihren jeweiligen sozialen und politischen Umständen zu interpretieren ist. Im Fall der Hugenotten werden so Topoi entwickelt, die typisch für neu-
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zeitliche Migrationsbewegungen sind (vgl. Weiand 2010: Tagungsbericht HT). Ein Topos, die narrative Konstruktion des leeren Raumes, der durch Einwanderergesellschaften kultiviert wird, trifft vielleicht nicht in Gänze auf den Berliner Raum, in jedem Fall aber auf die Dörfer Brandenburg-Preußens zu und „lieferte einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung eines gruppenspezifischen Selbstbildes“ (Weiand 2010: Tagungsbericht HT). Das Selbstbild formiert sich auch durch die bereits erwähnte Annahme, dass es sich um die besonders frommen und fleißigen Menschen handelt, die die Strapazen der Flucht auf sich nehmen, politische Loyalität im Gastland leben und als Kulturbringer im Nachhinein glorifiziert werden können. Diese Glorifizierung trifft weniger auf die Hugenotten in Kursachsen zu, dazu sind die Bedingungen des Miteinanders in dem lutherisch geprägten Umfeld nicht geeignet und die hugenottische Beteiligung am Aufbau eines Nationalstaats nicht von demselben Patriotismus geprägt. Allerdings bedürfen die Fragen nach gesellschaftlicher, politischer und sozialer Rolle der sächsischen Hugenotten insbesondere im 20. Jahrhundert noch einer eingehenden Untersuchung, die bislang nicht vorliegt. Der Fokus liegt hier eher auf der Rekonstruktion der Erinnerungskultur in BrandenburgPreußen. Die wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der Migration finden in der umfangreichen Geschichtsdarstellung Mémoires pour servir à l’Histoire des Réfugiés Français dans les États du Roi von den Pastoren Reclam und Erman anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Potsdamer Edikts ihren fixierten Höhepunkt. Diese „monumentale Version hugenottischer Geschichtsdeutung, die als Ausformung einer ‚master narrative‘ gelten kann“ (Niggemann 2011: 105), soll nicht die letzte ihrer Art bleiben. Insbesondere in Krisenzeiten, in denen beispielsweise die Auflösung der hugenottischen Gemeinden droht, dienen ähnliche Darstellungen, die sowohl auf die propagierte Erfolgsgeschichte als auch auf die künftige Verantwortung der Hugenotten rekurrieren, als Identifikationsmedium. An der Glorifizierung ihrer Vergangenheit haben zwar hugenottische Geschichtsschreiber wie Tollin, Reclam und Erman einen erheblichen Anteil, allerdings dürfen die Einflüsse ihrer Instrumentalisierung für nationalstaatliche Interessen nicht ungeachtet bleiben. Die Forschung nennt als Grund für die erfolgreiche Legendenbildung beispielhaft den allgemeinen Enthusiasmus, mit dem sich die deutsche Bevölkerung und insbesondere die Eliten zum Ende des 19. Jahrhunderts an die Erfolge Preußens erinnert und den Aufbau der siegreichen Vergangenheit auch auf die Leistungen der Hugenotten bezieht (vgl. François 1985: 202), zumal ihre Ankunft sich mit dem generellen Aufschwung im Land überschneidet. In hugenottischen und deutschen Darstellungen ist auch der Mythos eines unbesiegbaren preußischen Corpsgeistes zu finden, demzufolge hugenottische Offiziere für seine Etablierung seit ihrer Ankunft verantwortlich seien. Die deutsche Historiographie auf ihrer Suche nach Nationalhelden profitiert also deutlich von dem Bild der „besten Deutschen“, so ein häufig zitierter Ausspruch von Bismarck (vgl. ebd.: 205). Niggemann sieht in dieser Glorifizierung den Grund für
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ein nahezu unbehelligtes Leben der Hugenottennachfahren im Dritten Reich, sofern sie sich nicht in deutliche Opposition zum Regime begeben (vgl. Niggemann 2008: 17–19). Eine nationalsozialistische Umdeutung des hugenottischen Geschichtsbildes entfernt zuvor angestellte Überlegungen zur Völkerverständigung, zu der die Hugenotten beitragen würden, und konzentriert sich auf Tugenden und Werte der Traditionspflege und Staatstreue, die sich dann auch in der aktiven Beteiligung der Hugenotten am Kriegsgeschehen zeigt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestimmt wiederum der Charakter des Internationalismus und der Völkerverbindung die Konstruktion des hugenottischen und kollektiven Gedächtnisses. Es kann als Verdienst der neueren Geschichtsforschung betrachtet werden, dass die komplex entstandenen Selbst- und Fremddarstellungen eingedenk ihrer Fakten und Mythen hinterfragt werden. Fuhrich-Grubert deutet die wechselhafte Betonung einzelner Elemente „je nach ‚politischer Großwetterlage‘“ (Fuhrich-Grubert 2005: 172) als naheliegende Folge von Deutungsprozessen, da jede Generation ihr eigenes Geschichtsbild zeichnet und den Argumentationsbedürfnissen ihrer Zeit Folge leistet. Was bleibt nach über 300 Jahren der Legendenbildung, Umdeutung, Fehl- und Neuinterpretation nun übrig von dem, was als hugenottische Identität bezeichnet wird? Die Deutung, dass Migrationen erst dazu einladen, die Identität einer Gruppe über gemeinsame Identifikationsprozesse mit der erlebten Flucht- und Ansiedlungsgeschichte zu stärken, beschreibt keine neue Erkenntnis. Die Bewertungen der Forschung zeugen davon, dass auch für die Hugenotten jener Ansatz der durch ein gemeinsames Schicksal in der Fremde erarbeiteten Gruppenidentität zutrifft. An dieser Stelle wird der bidirektionale Charakter von Akkulturationsprozessen einmal mehr deutlich, da sich die Aufnahmegesellschaft in logischer Folge mit einem „neuartige[n] kulturelle[n] Milieu, in dem gerade auch die ‚Heimat‘ bzw. der ‚Herkunftsort der Immigranten‘ in spezifischer Form als Erinnerungsraum im kulturellen Gedächtnis konstruiert und gepflegt wird“ (Zwierlein 2010: 98), konfrontiert sieht. Zur Ausgestaltung der Erinnerungskultur und der Pflege des hugenottischen Erbes gibt es in der Forschung unterschiedliche Ansätze. Gerade im Zusammenhang mit der Hugenottenrenaissance im 19. Jahrhundert zieht Böhm eine mögliche Folklorisierung der hugenottischen Identität, „die sich in der zunehmenden Reduktion der Vielfalt der hugenottischen Traditionen auf das Erarbeiten eines eigenen Stammbaums verengte“ (Böhm 2010: 531) in Betracht. Mit Blick auf Mittel und Perspektive der Forschenden sucht auch Fuhrich-Grubert nach der Charakteristik hugenottischer Identität: „War die ‚refugirte‘ Identität, die vor allem anhand von Selbstzeugnissen der Oberschicht erforscht worden ist, gar nicht so einheitlich wie sie in der Literatur erscheint? Oder war sie nur ein bewusst eingesetztes Mittel der Außendarstellung [...]?“ (Fuhrich-Grubert 1997: 118) In ähnlichem Ton fragt Welge, die Gründe für den Fortbestand der Französischen Kirche zu Berlin sucht, ob es die Kirche noch gibt, „nur weil einige unentwegte Nachkommen der Réfugiés noch an ihr festhalten und noch nicht ausgestorben sind, oder weil es einen wertvollen histo-
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rischen Nachlass zu betreuen gibt?“ (Welge 1988: 132). Die Antwort sieht sie in der Verpflichtung, ein Erbe anzutreten und es „lebendig [zu] erhalten“ (ebd.: 132). Vom hugenottischen Erbe sprechen viele, es ist ein narratives Muster, das in seinem Inhalt allerdings facettenreicher ist als Böhm es mit der Stammbaumanfertigung im 19. Jahrhundert beschreibt. Zum hugenottischen Erbe gehört, die eigene Geschichte kontinuierlich zu deuten, und dies ist nicht nur der Forschung vorbehalten. Für den nicht wissenschaftlichen Raum gelten unter anderem die Mitgliedschaft und das Engagement im DHV, die Pflege des Hugenottenmuseums in Bad Karlshafen, die Teilnahme an Gottesdiensten der reformierten Gemeinden, das Verfassen von Schriften zur Dorf- oder Familiengeschichte und das Bewahren von Familienschätzen als aktive Gestaltung hugenottischer Tradition. Zum Erbe gehört auch, dass die letzten 300 Jahre einen Beitrag zum Vergessen geleistet haben und manche Hugenottennachkommen in der mittlerweile elften und zwölften Generation keine Verbindung zur Vergangenheit mehr haben. Die andauernde Dekonstruktion von Deutungsmustern kann die Geschichte auch verwässern, sodass die Zweifel eher größer werden: „Wissen wir am Ende weniger denn je über die Hugenotten?“ (Niggemann 2011: 109) Die Frage wird überflüssig, wenn von der Suche nach Realität und einziger Wahrheit Abstand genommen wird. Die aktuelle Geschichtsforschung hat es sich gemäß einem allgemeinen Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften zur schwierigen Aufgabe gemacht, „die Sinn- und Kohärenzstiftungsprozesse, die Konstruktionen von Gruppenidentitäten über Geschichtsnarrative“ (ebd.: 109) zu analysieren und sie so fruchtbar für weitere Untersuchungen zu machen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Geschichte der Hugenotten ab dem Zeitpunkt ihrer Flucht aus Frankreich von besonderen Umständen geprägt ist. Das Refuge in Brandenburg-Preußen, das den ankommenden Flüchtlingen die Etablierung in der neuen Heimat durch zahlreiche Privilegien des Potsdamer Edikts erleichtert, verzeichnet eine besondere Aufnahmegeschichte. Die Gestaltung eines umfassenden administrativen Netzwerks, der Bau eigener Schulen, Krankenhäuser und Kirchen sowie die Aushandlung von Privilegien durch die geistliche und kulturelle Elite der Hugenotten bewirken zumindest in der Berliner Kolonie den längeren Erhalt ihrer Distinktionsmerkmale. Durch die Möglichkeit der autarken Organisation hugenottischen Lebens in den großen Kolonien vollziehen sich Akkulturationsprozesse langsamer als in Gebieten, in denen die Menschen auf den engen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung angewiesen sind. In den ländlichen Kolonien ist der Akkulturationsdruck aufgrund mangelnder infrastruktureller Gegebenheiten stärker. Die Hugenotten müssen sich die Dorfkirchen vielfach mit den Lutheranern teilen und die Bildungseinrichtungen können nicht ausreichend mit französischsprachigem Lehrpersonal versorgt werden. Der früher einsetzende Sprachwechsel ist dafür ein beispielhafter Ausdruck. Für die Dauer dieser Prozesse
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ist nicht allein die Größe der Kolonie von Bedeutung, auch die Umgebungsbedingungen fallen ins Gewicht, sodass beispielsweise das stark lutherisch geprägte Umfeld in Kursachsen die Integration der Hugenotten erschwert. Hier gelingt es insbesondere den hugenottischen Kaufleuten, für den sächsischen Handel unerlässlich zu werden. Auch ihre geschätzte Rolle als Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland in Krisenzeiten bedingt ihr Ansehen am Hof und in der Bevölkerung. Im Zusammenhang mit den Handelsbeziehungen sächsischer Hugenotten sind Ausbau und Erhalt einer aktiven Französischkompetenz von enormer Bedeutung. Dies gilt allerdings nur für die überschaubare Gruppe von Kaufleuten, die in regem Austausch mit Frankreich stehen. Die Sprachensituation der Hugenotten in Brandenburg-Preußen ist von besonderen Umständen geprägt, die sich in der dargestellten Sprachdebatte von 1813/1814 manifestieren. Die Hugenotten der Berliner Kolonie wachsen durch die Möglichkeit, das Französische in allen Lebensbereichen zu verwenden, zu einer homogenen Sprachfamilie zusammen. Aber auch für die Hugenotten in Sachsen und den ländlichen Gebieten Brandenburg-Preußens kann gelten, dass neben anderen Faktoren wie der calvinistischen Konfession eine gemeinsame französische Umgangssprache den Glaubensflüchtlingen zu einer „homogenen Gruppenidentität“ (Birnstiel 1990: 112) verhilft. Das ausdifferenzierte kirchliche und säkulare Netzwerk in größeren Kolonien dient der Etablierung einer Sprache und Kultur bewahrenden Gemeinde, die sich durch das beharrliche Festhalten an der französischen Sprache kennzeichnet. Dieses Festhalten an der Muttersprache wird oft als Paradoxon gesehen. Einerseits führt es zur sozialen Abgrenzung, andererseits kann es in beruflicher Hinsicht dank der Frankophilie des preußischen Hofes von Nutzen sein. Auf die Phase der funktionalen Mehrsprachigkeit wurde verwiesen. Im Zuge des hochkomplex verlaufenden Sprachwechsels dient das Französische als Kultsprache und hat nurmehr symbolischen Wert. Das allgemeine Identitätskonstrukt der Hugenotten als Gruppenidentität muss in der Folge aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, wird es doch von mehreren Faktoren gespeist: Die gemeinsame Fluchtgeschichte im kollektiven Gedächtnis, die Verbindung über eine gemeinsame Konfession, eine gemeinsame französische Hochkultur, für eine bestimmte Zeit die einheitliche französische Sprache, der Minderheitenstatus, preußischer Patriotismus, also Borussophilie und in Teilen auch Royalismus – diese Elemente prägen hugenottisches Bewusstsein. Sie sind allerdings auch Teil deutscher Erinnerungskultur. Als Beispiel kann die angesprochene Mythologisierung, die sowohl von hugenottischer als auch deutscher Seite gefördert wird, herhalten. Selbst- und Fremdbild der Hugenotten sind über die Jahrhunderte durch Stilisierung, Überhöhung und Glorifizierung generiert und je nach gesellschaftlichem Bedürfnis angepasst worden. Bei aller Vielfalt an historischen Quellen, an Konzepten der Migrationsforschung gleich welcher wissenschaftlichen Provenienz oder an linguistischen Theorien des 20. Jahrhunderts ist jedoch Vorsicht geboten. Die Übertragung moderner
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Konzeptionen auf einen historischen Gegenstand oder die Zuhilfenahme historischer Begebenheiten für gegenwärtige Argumentationen – gerne werden Akkulturationsprozesse der Hugenotten mit aktuellen Migrationen verglichen – können leicht zu Fehlschlüssen führen (vgl. Niggemann 2011, Klingebiel 2010). Die vorliegende Untersuchung macht sich die Ergebnisse der Hugenottenforschung zwar zunutze, der Fokus liegt indes auf den individuellen Ausführungen der Hugenottennachfahren. Welche Faktoren die heutige Erinnerungskultur prägen, soll unter anderem Bestandteil der Interviewauswertung sein. Dass am Ende des langwierigen Akkulturationsprozesses auch das Aufgeben der identitätsstiftenden französischen Sprache steht, scheint durch die Forschungsliteratur belegt. In welcher Ausformung das Französische allerdings heutzutage hugenottisches Bewusstsein konstituiert, wird mangels aktueller empirischer Untersuchungen an keiner Stelle erwähnt. Auf Grundlage dieser historiographischen Erkenntnisse ist als These eine mögliche Abstufung in Betracht zu ziehen, die sich auf den bedeutungsstiftenden Erhalt der Einwanderersprache in den verschiedenen Regionen bezieht. Eine gegenwärtige Folge der intensiven sprachpolitischen Bemühungen in größeren Kolonien Brandenburg-Preußens könnte eine über zwölf Generationen bis heute anhaltende Verbindung zur französischen Sprache sein, die sich auf unterschiedliche Weise in den Gesprächen mit Berliner Hugenottennachfahren manifestiert. Es ist weiterhin anzunehmen, dass Nachfahren aus ländlichen Gegenden Brandenburgs und Mecklenburgs sowie Leipzig durch den früheren Sprachverlust weniger Wert auf das Französische als Komponente in der Pflege des hugenottischen Erbes legen und die Sprache der Vorfahren weniger bis gar nicht als identitätskonstitutives Element fungiert. Dem steht in der Diskussion um Stadt-Land-Unterschiede aus raumbezogener Forschungssicht der möglicherweise stärker kulturkonservierende Charakter eines Dorfes gegenüber (vgl. Spellerberg 2013: 204–209), das im Gegensatz zu urbanen Lebensräumen in der Lebenswirklichkeit der Personen eine intensivere Pflege von Traditionen, Bräuchen und „Wir-Bewusstsein“ (Kühne/Spellerberg 2010: 31) aufweisen kann. Es ist möglich, dass allein das lebensraumbezogene Ausmaß der Tradierungen in Form privater Familiengeschichten oder umfassenderen kulturellen Narrativen die Identitätskonstruktion der Hugenottennachfahren beeinflusst. Anhand der Ausarbeitungen ergibt sich ein erster Fragenkomplex, der für den weiteren Untersuchungsverlauf, die Auswahl der Literatur und ihre Bearbeitung handlungsleitend sein soll. Er wird an späterer Stelle erweitert oder reformuliert und dient schließlich als Grundlage der Auswertung. 1. 2.
Gibt es heutzutage eine spezifische Erinnerungskultur bei den Hugenottennachfahren? Aus welchen Faktoren speisen sich Selbstbilder der Hugenottennachfahren in den Gesprächen?
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3. 4. 5. 6. 7.
Haben geographische Merkmale einen Einfluss auf hugenottische Lebenswirklichkeit? Wie beurteilen die Hugenottennachfahren die Rolle der französischen Sprache in ihrem Leben? Welchen Einfluss haben diese Beurteilungen auf den individuellen Identitätsentwurf? Gibt es Tendenzen zur Pflege der französischen Sprachkompetenz? Was sagen diese Tendenzen über Sprache in Identitätskonstruktionen aus?
2
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Wenn es bei Kresic heißt: „Zahlreichen sprachwissenschaftlichen Arbeiten fehlt es an einer soliden Definition des Identitätsbegriffs auf dem aktuellen sozialpsychologischen Stand“ (Kresic 2006: 10), spielt sie damit aus der Perspektive einer Linguistin auf eine Fülle von Arbeiten zum Thema von Sprache und Identität an, die sich auch mehr als zehn Jahre nach dieser Aussage noch entweder eines Lexikoneintrags als Grundlage der Untersuchungen bedienen, gängige Identitätskonzepte als Randbemerkungen in die Studie einfließen lassen oder neueste Forschungen nahezu unbeachtet lassen. Woher die mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Identitätstheorien rührt, kann nur erahnt werden. Wer in der Beschäftigung mit soziologischen Klassikern auf Herbert Blumers Rede zur Wissenschaft ohne Begriffe (2013 [1930]) trifft, in der es heißt: „Generell könnte man sagen, dass wissenschaftliche Arbeiten steril werden, sobald sie sich begrifflichen Sorgen zuwenden“ (Blumer 2013: 43), dem kann an späterer Stelle versichert werden, dass es nichts Nötigeres gibt, als wissenschaftliche Begriffe infrage zu stellen und nach Möglichkeiten der Definition zu suchen (vgl. ebd.: 61). Auch wenn es sich hier um eine Rede von 1930 handelt, lässt sich die Aktualität der Kritik beweisen. Es gibt nicht die eine gängige und allen bekannte Identitätstheorie, die das Fundament der Arbeiten darstellt, die sich des Begriffs bedienen. Um dem Problem entgegenzuwirken, dass „häufig bedeutende Identitätsmodelle implizit vorausgesetzt, dabei aber zumeist kaum erläutert und diskutiert“ (Jörissen/Zirfas 2010: Vorwort) werden oder etliche Monographien die Diskussionen um den Identitätsbegriff in den engen Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin führen, entstehen gegenwärtig immer mehr Überblickswerke und Sammelbände (vgl. Abels 2006, Keupp/Höfer 2009, Jörissen/Zirfas 2010, Schwartz et al. 2011, Petzold 2012, Röttgers 2016), die einen interdisziplinären Zugang erleichtern sollen. Obwohl die Debatten in philosophischen, psychologischen, sozialwissenschaftlichen und soziologischen Forschungsbereichen darauf hinweisen, wie schwer es fällt, den Identitätsbegriff zu fassen und mit Erklärungen zu unterfüttern,
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soll hier der Versuch unternommen werden, zumindest einen für die vorliegende Arbeit relevanten Überblick über die gängigen Theorien anzubieten. Dabei verfolgt die Darstellung weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch will sie eine einzige gültige Erklärung dieses schillernden Begriffs abgeben. Es kann nur eine Annährung an ein Konzept sein, das „einigermaßen ungeklärt erscheint, wenn nicht ganz und gar unerklärlich ist“ (Zirfas/Jörissen 2007: 8).
2.1 IDENTITÄTSTHEORIEN IM SPIEGEL DER ZEIT Im Rahmen der vorliegenden Studie konnte auch beobachtet werden, dass sich Arbeiten zur sprachlichen Identität oder Sprachidentität beispielsweise in der Mehrsprachigkeitsforschung oft keiner ausreichenden Begriffsdefinition im Vorab widmen, sondern diesen schwer fassbaren Begriff als bekannte Größe voraussetzen und den beiden Elementen des Kompositums weniger Beachtung schenken. Dabei werden angehende Forscherinnen fast zwangsläufig über diesen Mangel informiert, wenn sie sich einen ersten Überblick über den Identitätsbegriff im International Handbook of the Science of Language and Society verschaffen. Dort heißt es von Krappmann: „[dass der Identitätsbegriff] mit einer Selbstverständlichkeit benutzt wird, die in gar keiner Weise widerspiegelt, wie schwer es in der sozialwissenschaftlichen Forschung fällt, diesen Begriff klar zu fassen, mit empirisch untersuchbaren Prozessen zu verbinden und ihn dennoch davor zu bewahren, in ein starres Konzept verwandelt zu werden, das die Mannigfaltigkeit menschlicher Interaktion im Ablauf von Biographien und angesichts sozialen Wandels nicht in sich aufnehmen kann.“ (Krappmann 2004: 405)
Diese Aussage ist nicht nur Kritik, sie reizt auch, sich eingehend mit der Identitätsforschung zu befassen, um mögliche Definitionen als Grundlage der vorliegenden Studie zu finden – sie reizt, selbst auf Identitätssuche zu gehen. Zwar fällt die unreflektierte Benutzung des Begriffs leicht, ist er doch zu einem Schlagwort in dieser Zeit geworden, denn „jeder glaubt zu wissen, was gemeint ist, wenn von der Identität einer Person, einer Gruppe, einer Firma oder einer Nation die Rede ist“ (Keupp et al. 2008: 7). Wenn unscharf definierte Begriffe oder Kategorien schon im Titel vieler Arbeiten zu finden sind und als Grundlage von Untersuchungen dienen, werden Nachvollziehbarkeit in der Lektüre und letztlich der Erkenntnisgewinn erschwert. Diesem Desiderat soll hier entgegengewirkt werden. Es ist daher im Rahmen der vorliegenden Studie unumgänglich, einen beträchtlichen Teil der Arbeit den theoretischen Ausführungen zum Identitäts- und Sprachidentitätsbegriff zu widmen.
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Der Begriff der Identität leitet sich vom lateinischen identitas aus idem = „derselbe/dasselbe“ ab, er „bezeichnet die Relation, in der jede Entität zu sich selber steht“ (Teichert 2000: 1). Synonymisch werden unter anderem die Termini „Ich“, „Selbst“ und „Selbstkonzept“ für den Identitätsbegriff verwendet. In der Identitätsforschung dominiert die Suche nach einer möglichen Antwort auf die klassische Fragen „Wer bin ich?“ und ferner „Wer bist du?“ (vgl. Keupp/Höfer 2009: 7). Dabei müssen die wissenschaftlichen Bereiche, die diesen Fragen auf den Grund gehen wollen, hier zunächst grob unterschieden werden. Während die Psychologie sich unter anderem auf die Klärung von Selbstbild, Selbstkonzept und Selbstbewusstsein konzentriert, gehen philosophische Forschungen beispielsweise auf den Dualismus von Eigenheit und Fremdheit ein. Die sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektive beleuchtet soziale Voraussetzungen für Identitätsbildung und ihre symbolische Wirkungskraft. Die Sozialpsychologie „sucht ihre Themenstellungen an der Nahtstelle von Subjekt und Gesellschaft“ (Keupp et al. 2008: 9). Im Folgenden wird auf diese unterschiedlichen Blickwinkel eingegangen, da klassische bis postmoderne Identitätsmodelle jene Bereiche abdecken, Schnittstellen aufzeigen oder einander ausschließen. Bei der Bearbeitung des Identitätsbegriffs ist zu beachten, dass Identitätstheorien immer im Spiegel ihrer Zeit entstehen und so gewisse Bedürfnisse in jeweiligen sozialen, politischen oder kulturellen Situationen zu befriedigen suchen. Einheitlichkeit des Selbst Das in Identität und Lebenszyklus (1995, Identity and the Life Cycle, 1959) beschriebene Phasenmodell des Psychoanalytikers Erik H. Erikson gilt als Klassiker der Identitätsforschung und löst in ihren Kreisen von Beginn an einige Debatten aus. Die Psychoanalyse verdankt Erikson eine Etablierung des Identitätsbegriffs, den er konsequent verwendet und in die Theoriebildung einbettet. Der an persönlichen Vorlieben festgemachten Frage: „Wer ist für, und wer ist gegen Erikson?“ (Erikson 1995: 25) muss eine differenzierte Beschreibung seiner Identitätstheorie vorangehen. An keiner Stelle definiert Erikson den Identitätsbegriff genau, er stützt seine Theorie auf die Annahme, dass ein Individuum seine Identität zeit seines Lebens entwirft, „indem es auf Erwartungen der anderen, der Menschen in engeren und weiteren Bezugskreisen antwortet“ (Krappmann 2009: 67). Die zentrale Größe bei Erikson ist die Ich-Identität, die eine Weiterentwicklung des psychosexuellen Phasenmodells Freuds durchläuft. Die Ich-Identität ist nach Erikson ein Gefühl, eine subjektive Erfahrung, die auf zwei Beobachtungen basiert: „der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ (Erikson 1995: 18). Damit beinhaltet sein Modell zwei Seiten, die innerpsychische und die äußere soziale Seite, wobei der sozialen Komponente mehr Bedeutung beigemessen wird. In dem Spannungsverhältnis zwischen innerem Selbstgefühl und äußerer gesellschaftlicher
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Wirklichkeit siedelt Erikson die acht Phasen des menschlichen Lebenszyklus an, die den körperlichen Zustand des Menschen in Verbindung mit Beziehungspersonen, Elementen der Sozialordnung und psychosozialen Phasen darstellen. Den Ausgangspunkt des Phasenmodells bildet Eriksons Annahme, dass jede Phase eine psychosoziale Krise beinhaltet (vgl. ebd.: 214). Wenn diese Krisen überwunden werden, kann die Entwicklung der Identität ungestört voranschreiten. Die grundlegende Frage seiner Überlegungen formuliert Erikson folgendermaßen: „In welcher Weise wächst die gesunde Persönlichkeit, bzw. wie wächst ihr aus den aufeinanderfolgenden Stadien die Fähigkeit zu, die äußeren und inneren Gefahren des Lebens zu meistern […]?“ (Ebd.: 57) Die Ich-Identität ist die Entwicklungsstufe, die mit dem Abschluss der Adoleszenz einhergeht (vgl. Erikson 1995: 107). Die Jugendlichen sehen sich vor die Aufgabe gestellt, aus den sich ihnen bietenden Möglichkeiten eine Wahl für die Zukunft zu treffen. Gelingt die Auswahl nicht, kommt es zur Identitätsdiffusion und somit zu keiner gelungenen Identitätsbildung (vgl. ebd.: 109). Die Entwicklung des Menschen und die Herausbildung seiner Identität verlaufen für Erikson zwar dynamisch, aber dennoch aufeinander bauend und linear. „Deshalb lässt sie [= die Entwicklungstheorie, A.T.] sich auch wie ein Fahrplan lesen, wo man nachschlagen kann, wann man wo bei normaler Fahrt angekommen sein sollte.“ (Abels 2010: 275/276) Obwohl das Modell von Erikson in der Identitätsforschung als wegweisend wahrgenommen wird (vgl. Keupp et al. 2008: 25), ist es Gegenstand heftiger Kritik geworden. Die Beschreibung von Identität als Wahrnehmung von Kontinuität wird beispielsweise von Haußer zurückgewiesen, der „die Wahrnehmung eigener Diskontinuität und vor allem die Verarbeitung selbst wahrgenommener und sozial gespiegelter Kontinuität und Diskontinuität“ (Haußer 2009: 120, kursiv i.O.) nach neueren Erkenntnisständen für identitätsrelevant hält. Er stößt sich vor allem an der Irreversibilität der Identitätsentwicklung durch die einmal erreichte Krisenlösung, die der heutigen entwicklungspsychologischen Forschung als Modell nicht gereicht (vgl. ebd.: 120). Andere kritisieren Eriksons Theorie dahingehend, dass diese dem Menschen keine Fähigkeit unterstellt, mit Diskrepanzen umzugehen, um sich individuell entfalten zu können – es ginge mehr um die Anpassung und um das Hinnehmen von Konfliktsituationen, weniger darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse mitzubestimmen. Krappmann fasst es so zusammen: „Es läuft letztlich auf die Unterwerfung unter herrschende Verhältnisse hinaus“ (Krappmann 2005: 92) und in Anlehnung an Haußers Vorwurf der Irreversibilität heißt es: „Er [= Erikson, A.T] bietet nichts an, was den Individuen helfen könnte, in einer sich ständig wandelnden Welt mit stets divergierenden Normen Identität zu wahren, weil er nicht die Notwendigkeit sieht, Identität je neu zu entwerfen“ (ebd.: 92). Auf das Credo „Abschied von Erikson“ (Keupp 1988a: 431 zit. nach Keupp 2009: 14) baut Heiner Keupp seine Identitätstheorie auf, auf die an späterer Stelle eingegangen werden soll. Den „Abschied“ begründet er mit neuen gesellschaftlichen Umständen der postmodernen Welt, die das Modell Eriksons nicht mehr tragfähig
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machen (vgl. Keupp et al. 2008: 25), denn es „unterstellt eine gesellschaftliche Kontinuität und Berechenbarkeit, in die sich die subjektive Selbstfindung verlässlich einbinden kann“ (ebd.: 30). Die Soziologie beschreibt die Welt heute anders: „Auflösung traditioneller Rollen, Entnormativierung, Wertewandel, Unübersichtlichkeit, Pluralisierung, Individualisierung“ (Krappmann 2009: 80). Der dargestellten Kritik an Eriksons Phasenmodell kann allerdings mit seiner Theorie aus der JeffersonVorlesung teilweise widersprochen werden. Hier geht er am Beispiel Thomas Jeffersons auf die Dimensions of a new identity (1973) ein, die den bestimmten Typus amerikanischer Identität ausmachen. Mit Verweis auf die verschiedenen nationalen Identitäten der amerikanischen Einwanderer und das Gelingen der Vereinigung mehrerer Identitäten in einer Person trägt er seiner Annahme Rechnung, dass es angesichts des steten gesellschaftlichen Wandels ein flexibles Selbst geben muss. Er entwirft in diesem Zusammenhang das Bild der proteischen Persönlichkeit, basierend auf der mythologischen Figur des Gottes Proteus, der jede beliebige Gestalt annehmen konnte. Nichtsdestotrotz ist dieses veränderliche Selbst „centered in a true identity“ (Erikson 1974: 51). In Eriksons Identitätstheorie kommt der Sprache keine entscheidende, identitätsbildende Rolle zu. Nur in der Beschreibung der Sprachentwicklung des Kindes geht er etwas ausführlicher auf ihre Bedeutung ein. Nach Erikson definiert die Sprachfähigkeit ein Kind als Wesen, das andere Erwartungen als zuvor bei seiner Umwelt generiert. Es kann jetzt „sagen, was es will“ (Erikson 1995: 142), und erweitert dementsprechend seinen Handlungsspielraum zur Ausbildung individueller Autonomie. Das Kind erhält durch die Sprachfähigkeit gleichsam eine neue Form von Verantwortung, wenn Erikson das gesprochene Wort als einen Pakt definiert: „was man gesagt hat, wird von anderen erinnert und erwirbt damit einen Aspekt des Unwiderruflichen“ (ebd.: 143). Mit dem Spracherwerb erweitert sich demnach die Handlung, die vorher durch Gesten und Signale bestimmt war. In Anlehnung an die Sprechakttheorie kann nun von einer Sprachhandlung verbunden mit Konsequenzen und „Verpflichtung durch das Wort“ (ebd.: 143) ausgegangen werden. Kresic sucht die Sprache als identitätsbildendes Kommunikationsmittel in Eriksons Schema einzubauen, indem sie eine weitere Spalte in seinem Phasenmodell anbietet. In jede psychosoziale Phase könnte die Fähigkeit zur Sprachhandlung sowie die Sprachentwicklung in Verbindung zum Prozess der Identitätsbildung eingepasst werden (vgl. Kresic 2006: 74/75). Zusätzlich sieht sie das Modell Eriksons weniger kritisch als andere, zumindest was seinen regelhaften Charakter angeht. Sie liest es unter dem Anspruch der postmodernen Gültigkeit, wenn sie darauf verweist, dass „in ihm dennoch eine gewisse Multiplizität angelegt“ (ebd.: 75) ist. Da jede Phase im Modell eine Krise aufzeigt, die in anderen Phasen zwar weniger ausgeprägt, aber vorhanden ist, deutet die Theorie in die Richtung neuerer vielschichtiger Identitätskonzepte (vgl. ebd.: 75). Gerade mit Blick auf die 1973 gehaltene Vorlesung, in der er die Dimensionen neuer Identität mit dem Bild des „Protean man“ (Erikson 1974: 106) be-
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schreibt, können Berührungspunkte Eriksons mit postmodernen Konzepten der Multiplizität und Flexibilität unterstellt werden. Inwieweit Eriksons Modell dennoch als Grundlage für die Definition von Sprachidentität dienen kann, soll die Untersuchung weiterer Identitätstheorien zeigen. Symbolischer Interaktionismus Unter dem Titel Geist, Identität und Gesellschaft (1991, Mind, Self and Society. From the standpoint of a social behaviorist, 1934/1967) erscheinen die studentischen Mitschriften aus den Vorlesungen George Herbert Meads, in denen seine Identitätstheorie entwickelt wird. Sie entsteht im Chicago der 1930er Jahre, in denen die Zahl der Einwanderer in Amerika zunimmt und so veränderte gesellschaftliche Bedingungen nach sich zieht. In dieser neuen Ordnung sucht Mead nach den Grundzügen des Selbst und nach Mechanismen des Aufbaus von Identität. Seine Theorie wird dem Symbolischen Interaktionismus zugeordnet, den Meads Schüler Herbert Blumer begrifflich in Symbolischer Interaktionismus (2013, Begriff aus der Rede Man and Society, 1937) geprägt hat. Für Blumer existiert kein Objekt, dem losgelöst vom interaktionalen Kontext und von der das Objekt interpretierenden Person eine Bedeutung zugeschrieben werden kann (vgl. Bude/Dellwing 2013: 10). Entgegen der Tendenzen zur Ab-straktion in den Wissenschaften richtet sich die Aufforderung Blumers an eine interpretierende Wissenschaft, die „erfassen muss, welche Bedeutungen in welchen Kontexten wie zustande kommen“ (ebd.: 12, kursiv i.O.). Diesem Appell soll auch in der vorliegenden Arbeit Folge geleistet werden. Als Grundsätze des Symbolischen Interaktionismus gelten die drei Prämissen, die hier näher ausgeführt werden, da sie neben identitätstheoretischen Überlegungen auch auf die Darstellung der Interviewsituation im empirischen Teil angewendet werden können. In Anlehnung an Mead geht Blumer erstens davon aus, „dass Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen“ (Blumer 2013: 64). Zweitens gilt, dass „die Bedeutung solcher Dinge von der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, ausgeht oder aus ihr erwächst“ (Blumer 2013: 64). Letztlich werden diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, „den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt oder abgeändert“ (ebd.: 64). Insbesondere der Interaktionsprozess, das Handeln gegenüber einem Objekt, gibt der einen Person Aufschluss über die Bedeutung, die ein Objekt für eine andere Person haben kann. Die Bedeutung wird so zum sozialen Produkt einer Handlung, die gemäß dem dritten Grundsatz immer auch einen Interpretationsprozess umfasst. Innerhalb dieses Prozesses erfolgt die Interaktion einer Person zunächst mit sich selbst, um sich auf den Gegenstand aufmerksam zu machen, an dem das Handeln ausgerichtet wird. In einem zweiten Schritt wird die Bedeutung gehandhabt, vielleicht neu ausgerichtet, verformt oder zurückgestellt. Eine Interpretation ist als Prozess zu sehen, „in dessen
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Verlauf Bedeutungen als Mittel für die Steuerung und den Aufbau von Handlungen gebraucht und abgeändert werden“ (ebd.: 68). Die Bedeutungen, die als Grundlage von Handlungen fungieren, sind den Dingen nicht innewohnend, sondern vom Menschen geschaffen und veränderbar. Diese Annahmen gelten für das handelnde Individuum wie für eine handelnde Gruppe oder eine handelnde Gesellschaft. Gruppen oder Gesellschaften bestehen für Blumer „nur in der Handlung“ (ebd.: 70). Sie können ihm zufolge nicht abstrakt oder konzeptuell beschrieben werden, da sie nur das Produkt von Interaktions- und Interpretationsprozessen, von fortwährender und an Situationen gebundener Aushandlung sein können. Die Handlungen der Individuen einer Gruppe bedürfen der Antizipation, Prüfung und Ausrichtung an anderen Handlungen, Absichten oder Bedürfnissen innerhalb der situativen Rahmen. Für Blumer bedeuten diese Schritte, dass eigene mit fremden Handlungsabsichten „in Einklang“ (ebd.: 72, kursiv i.O.) gebracht werden. Soziale Interaktion unterscheidet Blumer im Anschluss an Mead in die Ebene der symbolischen und der nicht symbolischen Interaktion. Die symbolische Interaktion basiert auf einem Verstehensprozess, in dem Bedeutungen zunächst interpretiert werden, während nicht symbolische Interaktion die Reaktion ohne vorherige Interpretation der Handlung des anderen bedeutet. Mead benennt die Interaktion, in der der Handlung eine Interpretation vorangeht, als den „Gebrauch signifikanter Symbole“ (ebd.: 72). Die nicht symbolische Interaktion bezeichnet er als „Konversation von Gesten“ (ebd.: 72). Da in der Literatur wiederholt Debatten um die deutsche Übersetzung der Vorlesungsmitschriften von Mead laut werden, wird im Folgenden lediglich die originale Ausgabe besprochen. Allein der Titel zeugt vom Problem, den deutschen Identitätsbegriff mit dem Mead’schen self gleichzusetzen. Unter der naheliegenden Übersetzung von Identität mit dem englischen Begriff identity versteht Mead allerdings eher die Identifikation oder die Gleichheit mit anderen. So ist self eher als Einheit des Selbst zu verstehen, allerdings soll hier der Begriff des self beibehalten werden, um einen „Vorgriff auf den heutigen Sprachgebrauch“ (Mead 2013: 442) zu vermeiden (vgl. zur Ungenauigkeit der Übersetzung Abels 2004: 32, Jörissen 2010: 91/92). Meads Identitätstheorie gründet auf der Annahme, dass sich das self hauptsächlich durch soziale Interaktion konstituiert (vgl. Mead 1967: xiv). Nur innerhalb gesellschaftlicher Prozesse kann „the transformation of the biological individual to the minded organism or self “ (Mead 1967: xx) stattfinden. Als Mittel oder Werkzeug dieser Prozesse setzt er die Sprache an. Für Mead ist Sprache ein Teil des gesellschaftlichen Verhaltens, dessen Prozess die Geste als Mechanismus des Antriebs zugrunde liegt. Laut Blumer und Mead ist die Bedeutung einer Geste triadischen Charakters, denn „sie zeigt an, was die Person, an die sie gerichtet ist, tun soll; sie zeigt an, was die Person, die sie setzt, zu tun beabsichtigt; und sie zeigt die gemeinsamen Handlungen, die aus der Verbindung der Handlungen beider hervorgehen soll“ (Blumer 2013: 73). Eine Geste, die ideenbehaftet ist und beim Adressaten dieselbe
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Idee wie bei dem die Geste setzenden Individuum auslöst, ist ein signifikantes Symbol (vgl. Mead 1967: 45). Wenn ein signifikantes Symbol, das als Weiterführung der bestimmte Reize auslösenden Geste – Mead veranschaulicht dies über die Beschreibung der Tierwelt (bellende Hunde, fauchende Katzen) – entsteht, kann von Sprache die Rede sein (vgl. ebd.: 46). Eines der signifikanten Symbole ist die vokale Geste, also das gesprochene Wort, das für Mead die wichtigste aller Gesten darstellt. Die bewusste Vermittlung durch Gesten innerhalb der Kommunikation, somit die symbolvermittelte Kommunikation ist entscheidend für die Bildung des self, denn: „Only in terms of gestures as significant symbols is the existence of mind or intelligence possible; for only in terms of gestures which are significant symbols can thinking – which is simply an internalized or implicit conversation of the individual with himself by means of such gestures – take place.“ (Ebd.: 47)
Mead geht davon aus, dass das Individuum sich seiner vokalen Geste bewusst ist, implizit so reagiert, wie der Adressat es explizit tun würde und so seine Handlung vor allen Dingen der Selbstkontrolle unterliegt. Die vokale Geste wird „selfconscious“ (ebd.: 81) eingesetzt, da das Individuum sich in die Haltungen anderer versetzt. Das Hineinversetzen und die Übernahme der Haltung des Anderen stellt eine Rollenübernahme, das role-taking, dar, die laut Mead der Ausgangspunkt für Identitätsbildung beim Menschen ist. Die erste Stufe der „genesis of the self “ (ebd.: 144) beschreibt er mit dem nachahmenden Spiel des Kindes, bei dem es sich in verschiedene Rollen hineinversetzt (vgl. ebd.: 150). Als weitere Stufe existiert der spielerische Wettkampf, der voraussetzt, dass alle Mitglieder die Haltungen der Gruppe, der sie angehören, internalisieren. Verhalten und Denken des Individuums werden dem generalisierten Anderen angepasst, da die Erwartungen der Gruppe vom Individuum antizipiert werden können und das Handeln danach ausgerichtet wird: „The organized community or social group which gives to the individual his unity of self may be called ‚the generalized other‘. The attitude of the generalized other is the attitude of the whole community.“ (Ebd.: 154) Der generalisierte Andere bedingt also das gesellschaftliche Handeln und folglich wird die Bildung des self für ein Individuum möglich (vgl. ebd.: 164). Die Rollenübernahme ist jedoch nur mittels signifikanter Symbole wie die der Sprache möglich. Dem wechselseitigen Bedingungsgefüge unterliegt auch eine besondere Struktur des self. Das self gliedert sich für Mead in das „Me“ und das „I“. Das „Me“ beinhaltet alle übernommenen Haltungen des generalisierten Anderen sowie die Erwartungen der Gesellschaft an ein Individuum. Es bestimmt das self, dessen ein Individuum sich in der Interaktion bewusst wird (vgl. ebd.: 175). Die eher unbewusste Reaktion darauf erfolgt vom „I“, das die dem Individuum eigene Persönlichkeit darstellt. Einmal mehr wird deutlich, dass das self sich nur in Verbindung mit Interaktionen konstituiert und auch dem Individuum selbst sich als Spiegelung seines Verhaltens
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darstellt, denn „wer man ist, kann immer nur mit Hilfe sozial anerkannter Symbole dargestellt werden und verlangt stets nach der Ratifizierung durch andere“ (Krappmann 2005: 40). Es ist demnach eine Grundidee des Symbolischen Interaktionismus, dass der Mensch nur in Interaktion treten kann, wenn er sein Selbst definiert, sich selbst gegenüber Interpretationsleistungen und Handlungen erbringen kann, die weitere Handlungen zur Konsequenz haben. Die Frage, ob ein Mensch nach dieser Theorie nicht im ständigen Zwiespalt zwischen den an ihn herangetragenen Erwartungen, die ihm durch das „Me“ bewusst werden, und der kreativen Entfaltung des darauf reagierenden „I“ steht, wird in der Literatur umstritten wahrgenommen. So findet Kresic beispielsweise: „Dennoch haftet seinem Identitätsmodell die beängstigende Note gesellschaftlicher Kontrolle und Konformität an.“ (Kresic 2006: 80) Sicher verleitet der wiederholte Verweis auf gruppenkonforme Handlungen (vgl. Mead 1967: 260/261) zu diesem Eindruck, dennoch will Mead die Struktur des self nicht so verstanden wissen. Er verweist auf die Notwendigkeit individueller, flexibler und vielfältiger Handlungen durch das „I“ (vgl. ebd.: 261). Die Einführung des individuellen „I“, die Kresic als „Kunstgriff “ (Kresic 2006: 80) bezeichnet, ist für Mead Voraussetzung gesellschaftlichen Handelns. Laut Mead bietet das „Me“ erst die Möglichkeiten, sich als „I“ auszudrücken (vgl. Mead 1967: 210/211). Es kann somit festgehalten werden, dass Mead der Entwicklung des self einen Spielraum lässt, der weniger linear oder prädeterminiert ist als die Identitätsbildung nach dem Phasenmodell Eriksons. Mead geht auch von der Möglichkeit multipler selves aus, die der spätere Erikson nur in Ansätzen berücksichtigt oder als eine nicht gelungene Identitätsbildung bezeichnen würde. Von Kresic wird dieser Ansatz als „erstaunlich postmodern“ (Kresic 2006: 81) bezeichnet. Das postmoderne Element erhält Meads Theorie laut Kresic durch ihre direkte Anschlussfähigkeit postmoderner Konzepte der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit, auf die noch eingegangen werden soll. An einer Stelle möchte sie allerdings gerne lesen: „Sprache [sic] schafft bislang noch nicht geschaffene Objekte [...]“ (Mead zit. nach Kresic 2006: 82), wobei es im Original lautet: „Symbolization constitutes objects not constituted before, objects which would not exist except for the context of social relationships wherein symbolization occurs.“ (Mead 1967: 78) Ihr Urteil stützt sich auf den nächsten Satz, in dem es heißt: „Language does not simply symbolize a situation or object which is already there in advance; it makes possible the existence or appearance of that situation or object [...].“ (Ebd.: 78) In diesem Zusammenhang entsteht auch die Uneinigkeit der Forschung, Mead einer bestimmten Strömung zuzurechnen. Er wird wahlweise als Vertreter des Symbolischen Interaktionismus oder in der Nähe konstruktivistischer Positionen angesiedelt. Mead trägt in jedem Fall der Vielfältigkeit gesellschaftlicher Interaktionen insofern Rechnung, als er anerkennt, dass für jede Form gesellschaftlichen Handelns eine andere Form von self von Nöten ist. Dies zeigt sich im Folgenden: „We divide ourselves up in all sorts of different selves with reference to our acquaintances [...]. There are all sorts of different selves an-
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swering to all sorts of different social reactions.“ (Ebd.: 142) Ferner heißt es: „A multiple personality is in a certain sense normal.“ (Ebd.: 142) Wie vielschichtig die Interaktion sein kann, verdeutlicht vor allem der Verweis Meads auf den Fremdsprachenerwerb. Mit dem Erlernen einer neuen Sprache geht die Aneignung einer neuen Haltung, nämlich der der betreffenden Sprachgemeinschaft, einher. Mead beschreibt diesen Prozess so: „You cannot convey a language as a pure abstraction, you inevitably in some degree convey also the life that lies behind it.“ (Ebd.: 283) Das sprachenlernende Individuum wird so zu einem anderen Menschen und nimmt folglich auch ein anderes self an. Im Gefolge Meads entsteht eine Reihe weiterer Ausarbeitungen zum Thema Identität, die von den Grundsätzen des Symbolischen Interaktionismus ausgehen. Wichtige Vertreter des interaktionistischen Ansatzes sind unter anderem Anselm Strauss und Erving Goffman, die fast gleichzeitig Mechanismen sozialer Interaktion und Identitätsbildungsprozesse untersuchen. Erving Goffman analysiert unter anderem in Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (1959, The presentation of self in everyday life) und Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (1975/1963, Notes on the Management of a spoiled identity) die Strategien der Selbstinszenierungen im Alltagsleben, um Aufschluss über die Struktur der dabei entstehenden Identität zu geben. Seine Arbeit basiert zwar auf den Theorien interaktionistisch orientierter Forschung, er strebt allerdings in Anbetracht einiger Mängel die Überwindung des Symbolischen Interaktionismus an. So entwickelt er in Abgrenzung zu seinen Vorgängern „eine eigenständige Soziologie der Interaktion und Identität im Alltagsleben“ (v. Engelhardt 2010: 124). Sein dramaturgischer Ansatz (2011 [1959]) dient der Enthüllung von Selbstdarstellungen und verweist so auf die Konstruktionsleistung, in der das Selbst entsteht. Auf den für die Darstellung von Alltagsinszenierungen der Individuen unzulänglichen Charakter der Theatermetapher weist Goffman im Vorwort selbst hin. Er hebt den Unterschied der beiden Bühnen hervor, denn für die Theaterbühne gelten Illusion und Vortäuschung, während auf der Weltbühne „Dinge dargestellt [werden], die echt, dabei aber nur unzureichend geprobt sind“ (Goffman 2011: 3). Für die vorliegende Untersuchung scheint sein dramaturgischer Ansatz auf den ersten Blick weniger interessant, da der Sprache hier kein zentraler Stellenwert zukommt. Allerdings dienen seine Ausarbeitungen zu den verschiedenen Beteiligungsrollen im Gespräch, speziell zum footing, der Analyse von Interviewinteraktionen, die in dieser Arbeit noch zum Tragen kommen. Eine detaillierte Betrachtung des Stigma-Konzepts (1963/1975) ist für die Frage nach dem Identitätsbegriff und seiner Verbindung zu menschlicher Sprache fruchtbarer. In seiner Abhandlung zum Stigma nähert sich Goffman über die Erscheinungen des Normalen und des Abweichenden an eine Identitätstheorie an, auch wenn es hier insbesondere um die „Regelgeleitetheit der Reproduktion mikrosozialer Ordnung in der face-to-face Interaktion“ (v. Kardorff 2009: 137) geht.
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Stigmata dienen interagierenden Personen zur Klassifizierung ihres Gegenübers, zur raschen Informationssammlung und können so handlungsleitend im Interaktionsprozess sein. Sie sind jedoch abhängig von der Interpretation der jeweils handelnden Personen. Goffman beschreibt diesen Umstand mit dem Begriff der Relation. So kann für verschiedene Personen eine Eigenschaft wahlweise kreditierend oder diskreditierend sein (vgl. Goffman 1975: 11). Zur Erläuterung seiner Identitätstypologie zieht Goffman die Begriffe der sozialen, der persönlichen und der IchIdentität heran. Die soziale Identität beschreibt sowohl Charaktereigenschaften wie auch Statusmerkmale beispielsweise einer beruflichen Orientierung (vgl. ebd.: 10). Sie umfasst einerseits die sogenannte virtuale soziale Identität, die ein Produkt aller an das Individuum herangetragenen normativen Erwartungen darstellt. Soziale Identität besteht weiterhin aus der aktualen sozialen Identität, die dargebotene Attribute im tatsächlichen Verhalten der Person repräsentiert. Die Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität bewirkt den Ursprung des Stigmas und bedarf besonderer Techniken der Informationskontrolle, die meist aus Verhüllung oder Täuschung besteht (vgl. ebd.: 56/57). Dieses sogenannte Stigma-Management der stigmatisierten Person und der Umgang mit ihr sind neben der Bewertung einer Relation, beispielweise der Antizipation von sozialer Identität eines Individuums, abhängig vom persönlichen Verhältnis der Interaktionsbeteiligten. Die persönliche Identität umfasst die einzigartigen Merkmale, die Goffman als „Identitätsaufhänger“ (ebd.: 73) bezeichnet. Dazu gehören beispielweise Namen oder der genetische Fingerabdruck. Goffmans Identitätstheorie beinhaltet mit Verweis auf Eriksons Ausarbeitungen eine dritte Komponente, die Ich-Identität, an der sich soziale und persönliche Identität kontrastieren lassen (vgl. ebd.: 132). Während die zuerst genannten Identitätsformen äußere Zuschreibungen umfassen, zielt die Ich-Identität eines Individuums auf das „subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart“ (ebd.: 132) ab. Als Grundlage von Ich-Identität steht ihr subjektiver und reflexiver Charakter, der Aufschluss über innerlich ablaufende Prozesse im Zusammenhang mit dem Stigma und seiner Handhabung geben kann. Das Individuum zeichnet aus den Elementen seiner äußerlich zugeschriebenen sozialen Merkmale und den persönlichen Attributen ein Bild von sich, das unter anderem die Differenz zwischen sozialer und persönlicher Identität preisgibt. Diese Einteilung erinnert unweigerlich an das self-Konzept von Mead, das durch das „Me“, vergleichbar mit Goffmans sozialer und persönlicher Identität, und durch das „I“, hier als Ich-Identität bezeichnet, konstituiert wird und nur in wechselseitiger Bedingung existieren kann. Die Ausbildung der Ich-Identität, des Selbstbilds einer Person, ist auch ausschlaggebend für die Interaktion mit anderen Personen und wird innerhalb der Interaktion gestaltet. Damit geht Goffman auf die konstruktive Ausrichtung seiner Theorie ein, in der das Individuum seine Ich-Identität stets in einem kreativen Prozess entwirft, sie ist „das Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen“
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(ebd.: 132). Den kreativ gestalterischen Charakter dieses Prozesses untermalt Goffman mit seiner Wahl aus dem passenden Begriffsfeld. So gehören die Wörter „constructing“ und „fashioning“ (vgl. ebd.: 133) untrennbar zur Beschreibung dessen, was er Ich-Identität nennt. Unter der kreativen Konstruktion ist jedoch keine unendlich freie Entfaltung der Ich-Identität zu verstehen. Dass diesem Prozess eine Form von Kontrolle zugrunde liegt, da alle Personen anhand der an sie gerichteten Erwartungen ein Selbstbild entwerfen, ist ganz im Sinne Goffmans genereller Auffassung von sozialer Determination des Menschen. Er enthüllt schließlich, dass Stigma-Management nicht nur eine Leistung ist, die von Stigmatisierten vorgenommen wird, sondern „ein Prozeß, der auftritt, wo immer es Identitätsnormen gibt“ (ebd.: 161). Diese Normen sind Antizipationen, die beim Individuum wahlweise zur Abweichung oder zur Konformität führen. Daher betrifft es ebenso die als normal bezeichneten Personen, die notwendigerweise von irgendeiner Norm abweichen. Hier wird deutlich, dass es sich um einen „Balanceakt“ (Krappmann 2005: 72) handelt, dem jedes Individuum unterliegt, um die erwartete mit der tatsächlichen Identität auszutarieren und eine Ich-Identität zu entwickeln. An dieser Stelle muss auf die sprachbezogene Implikation seiner Theorie verwiesen werden, obwohl Goffman auf die Rolle der Sprache nicht wesentlich eingeht. Es scheint allerdings evident, dass im „Zwei-Rollen-Prozess“ (Goffman 1975: 170) kommunikatives Handeln stattfindet, mit dem der Balanceakt vollzogen wird. Es sind dies neben nonverbalen Stigmatisierungen, die beispielsweise im Kleinen mit dem Naserümpfen, dem Lachen, einer Hin- oder Abwendung des Körpers auf der Seite des Diskreditierenden auftreten können, insbesondere sprachliche Handlungen, die das Verhältnis von Normalität und Abweichung markieren. Auf die Funktion von Sprache für die Konstruktionsprozesse von Identität geht auch der in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus stehende Soziologe Anselm Strauss ein, der in Mirrors and Masks – The Search for Identity (1997 [1959]) auf die Ausführungen Meads insbesondere Strategien der Rollenübernahme fokussiert. Zudem berücksichtigt er stärker als andere Interaktionisten die biographische Perspektive, die auf eine konkrete Interaktionssituation Einfluss nimmt. Ist, angesichts des Titels, die erste Enttäuschung über die fehlende Definition des Identitätsbegriffs überwunden, konfrontiert Strauss seine Leserinnen mit den sozialen Prozessen, in denen Identität hervorgebracht wird und versucht die „symbolic and cultural foundations of its structure“ (Strauss 1997: 15) zu beleuchten. Im Anschluss an Mead formuliert er so eine Identitätstheorie, deren grundlegende Bedingung ebenfalls die soziale Interaktion darstellt. Diese konstituiert sich als Maskerade, an der per se kein negativer Beigeschmack haftet. Strauss geht davon aus, dass das Gegenüber als Spiegel benutzt wird, in dem das eigene Auftreten reflektiert und ausgerichtet wird. Die Spiegelung entsteht durch das antizipierte Urteil der anderen Person. Je nachdem, wie eine Person sich selbst sehen möchte und auch von anderen Personen gesehen werden will – hier geht es um die von Mead ausformulierte Rollenüber-
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nahme –, benutzt sie Masken, die ihr als Symbole der Interaktion dienen. Dieser Prozess läuft wechselseitig ab und betrifft jede Person, die an der Interaktion teilnimmt: „Everyone presents himself to the others and to himself, and sees himself in the mirrors of their judgements.“ (Ebd.: 11) Allerdings müssen Identitäten auch immer wieder neu angepasst werden, da die Offenheit einer jeden Interaktionssituation dazu führen kann, dass einmal entworfene Identitäten der Situation nicht mehr angemessen sind. Neue Erwartungen der Interaktionsteilnehmerinnen bedürfen neuer Identitätsentwürfe, die den Erfolg der Interaktion garantieren können. Daher kommt es im Laufe des Lebens zu „transformations of identity“ (ebd.: 91), Veränderungen, die Strauss mit einer Metapher umschreibt. So kann ein Ei, ungeachtet welcher Behandlung es ausgesetzt wird, mit welcher Temperatur es wie zubereitet wird, am Ende nie etwas anderes sein als ein Ei, „it is still ‚essentially‘ an egg“ (ebd.: 93). Jeder Mensch hat laut Strauss einen essentiellen Persönlichkeitskern, der mit der Zeit lediglich Variationen unterliegt, während die Person jedoch dieselbe bleibt. Identitätstransformationen vollziehen sich anhand konkreter Situationen, in denen stets Varianten des Selbst entworfen werden, die eine Interaktion möglich machen. In den Ausführungen können Parallelen zur Identitätstheorie von Mead ausgemacht werden. Mead geht allerdings im Unterschied zu Strauss davon aus, dass die unterschiedlichen Me’s zu einem einheitlichen Selbst konstruiert werden müssen und dadurch konsistentes Handeln ermöglicht wird. Strauss bezieht die Existenz mehrerer und auch widersprüchlicher Me’s in seine Überlegungen ein, wenn er den situativen Kontext und die biographische Vorbelastung in einer Interaktion hervorhebt (vgl. ebd.: 36). Die biographische Perspektive dieses Ansatzes ergibt sich aus der Tatsache, dass frühere Identitätspräsentationen nicht mit der neuen Interaktionssituation aufgelöst werden, sondern in neue Darstellungsformen bei der Rollenübernahme integriert werden. Die unbekannten Interaktionszusammenhänge werden nicht von Grund auf neu interpretiert, eher neu klassifiziert (vgl. ebd.: 94). Auf die Bedeutung von Sprache verweist Strauss zu Beginn seiner Ausarbeitung, wenn er die Integration der Linguistik in identitätstheoretische Überlegungen fordert: „Central to any discussion of identity is language. [...] [A] proper theoretical account of men’s identities and action must put men’s linguistics into the heart of the discussion.“ (Ebd.: 17) In dem Kapitel Language and Identity (ebd.: 17) verweist er zunächst in onomastischer Perspektive auf den Prozess der Namensgebung, den er als wertende Klassifikation ansieht. Der Name, den ein Mensch erhält, ist das Produkt von Kategorisierungen und Qualifizierungen durch eine andere Person und gibt so Aufschluss über die von außen zugeschriebene Identität (vgl. ebd.: 18). Für den vorliegenden Zusammenhang ist allerdings seine Auffassung vom Potential der Sprache für die oben angesprochenen Identitätstransformationen von größerer Bedeutung. Im Zuge der Konstruktion und Veränderung von Identität ist der Mensch auf die Wandlungsfähigkeit der Sprache im besonderen Maße angewiesen, da sie in
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Form von Klassifikationen die terminologische Grundlage für neue Situationen schafft (vgl. Krappmann 2005: 45). Der Ansatz von Strauss wird von jenen kritisiert, die die Erfassung der gesamten Wirklichkeit durch sprachliche Klassifikationen als mangelhaft betrachten. Die völlig normale Widersprüchlichkeit von Interpretationen durch interagierende Personen beweist, dass eine Deckungsgleichheit nicht erzielt werden kann, weil die Wirklichkeit sich nie „vollständig einer sprachlichen Klassifikation unterwirft“ (ebd.: 46). Strauss berücksichtigt laut seiner Kritiker nur die Schwierigkeit, in bestimmten Übergangsphasen des Lebens, „adäquate Terminologien“ (ebd.: 46) zu entwickeln, die kommunikatives Handeln wegen der gegenseitigen Verständigung erst möglich machen. Dass Strauss allerdings den „open-ended, tentative, exploratory, hypothetical, problematical, devious, changeable, and only partly-unified character of human courses of action“ (Strauss 1997: 93) anerkennt, ist Ausdruck seines Verständnisses für Widersprüchlichkeiten. Diese resultieren aus den unterschiedlichen Interpretationen in Ermangelung der sprachlichen Erfassung der kompletten Wirklichkeit und bedingen die Offenheit von Interaktion und auch von Identität. Daher muss Sprache über dieselbe Offenheit verfügen und kann aufgrund der Unterschiedlichkeit von Interaktionen nicht in einem starren System verharren. Interaktionistische Rollentheorie Auf die Bedeutung der flexiblen Umgangssprache für die Mechanismen der Identitätstransformationen nach Strauss und den Balanceakt Goffmans geht auch der Soziologe Lothar Krappmann ein. Für Krappmann steht Identität ebenfalls in enger Verbindung mit gesellschaftlichen Prozessen und kann nicht losgelöst von Interaktionen betrachtet werden. In Soziologische Dimensionen der Identität (2005 [1969]), dessen Untertitel Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen auf dieses Bedingungsgefüge verweist, definiert Krappmann sein soziologisches Konzept von Identität. Er geht auf die Vielschichtigkeit der Interaktionssituationen und das daraus folgende Dilemma des Individuums ein, wenn er in der seiner Analyse zugrundeliegenden Frage formuliert: „Wie soll es sich den anderen präsentieren, wenn es einerseits auf seine verschiedenartigen Partner ein gehen muß, um mit ihnen kommunizieren und handeln zu können, andererseits sich in seiner Besonderheit darzustellen hat, um als dasselbe auch in verschiedenen Situationen erkennbar zu sein?“ (Krappmann 2005: 7)
Hier klingt jenes Problem des Kampfes zwischen „Me“ und „I“ an, das bei Mead Gegenstand von Kritik wurde. Identität wird von Krappmann also zunächst als Problem des Individuums wahrgenommen. Sie ist ferner die Leistung, die das Individuum erbringt, um an Kommunikation und gemeinsamer Handlung teilnehmen zu
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können (vgl. ebd.: 8). Dieser interaktionistische Zugang Krappmanns besteht im Wesentlichen aus der Annahme, dass Identität notwendig für die Teilnahme an Interaktionsprozessen und die Interaktion gleichsam unabdingbar für ihre Entwicklung ist. Identität ist hier kein Wesensmerkmal einer Person, sondern ein dynamisches Konzept, das sich den verschiedenen aktuellen Situationen immer wieder anpasst. Gerade die Verschiedenheit der einzelnen Interaktionssituationen und die unterschiedlichen Identitäten der Interagierenden verlangen nach einem „kreative[n] Akt“ (ebd.: 11), in dem das Individuum seine Identität entwirft und präsentiert. Somit darf das Konzept nicht mit einem vorgefertigten, starren Selbstbild eines Individuums verwechselt werden (vgl. ebd.: 9). Die Identität mit der Fähigkeit, Handlungen nach der sozialen Rolle des Menschen und seiner individuellen Einzigartigkeit auszutarieren, nennt Krappmann „balancierende Identität“ (ebd.: 70). Aber „gemeint ist nicht eine wohlbalancierte, fest etablierte Identität, sondern eine Identität, die aus ständiger Anstrengung um neue Vermittlung entsteht“ (Krappmann 2009: 81). Für diese Vermittlung ist Sprache grundlegendes Medium, denn die Ausbildung von Ich-Identität gelingt nur den Menschen, die innerhalb eines Symbolsystems sowohl individuell handeln als auch sozial anerkannt werden. Identität oder zumindest gelungene Ich-Identität ist also immer mit Anerkennung durch andere verbunden, dieser „Umweg“ erinnert an Meads Identitätstheorie (vgl. Krappmann 2005: 9, 79). „Die Identität, die ein Individuum aufrechtzuerhalten versucht, ist in besonderer Weise auf sprachliche Darstellung angewiesen, denn vor allem im Medium verbaler Kommunikation [...] findet die Diskussion der Situationsinterpretation und die Auseinandersetzung über gegenseitige Erwartungen zwischen Interaktionspartnern statt, in der sich diese Identität zu behaupten versucht.“ (Ebd.: 12)
Krappmann legt vier identitätsfördernde Fähigkeiten fest, die jedoch keine festen, in der psychischen Struktur eines Menschen verankerten Persönlichkeitsmerkmale sind. Die Fähigkeit, bestimmte gesellschaftliche Erwartungen an die eigene Rolle in Frage zu stellen, ist die Fähigkeit zur Rollendistanz (vgl. ebd.: 133). Als Empathie oder role-taking wird die Fähigkeit, sich in die Situation der Interaktionspartnerin hineinzuversetzen, bezeichnet (vgl. ebd.: 142). Da Rollen zweideutig sein können und daher nicht mit jeder Handlung alle Bedürfnisse befriedigt werden können, bedarf es der Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz, die ermöglicht, Ambivalenzen in der Interaktion, also Rollen zu ertragen (vgl. ebd.: 150). Die vierte identitätsfördernde Fähigkeit ist die der Identitätsdarstellung; ein Individuum zeigt sein persönliches Profil (vgl. ebd.: 168). Diese Fähigkeiten werden durch ein spezifisches Sprachvermögen getragen. Krappmann sieht in der Umgangssprache eine Form, die allen Anforderungen im Balanceprozess der Identität gerecht wird. Umgangssprache kann zuvörderst die gegenseitigen Erwartungen der Interagierenden in einer bestimmten
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Interaktionssituation ausdrücken. Zudem ist sie für die Problemlösung geeignet, da sie über einen differenzierten begrifflichen Apparat verfügt. Die dritte Funktion der Umgangssprache besteht darin, dass sie den Charakter der sozialen Beziehung der Interagierenden im Sinne Watzlawicks durch überschüssige Informationen implizit übermitteln kann (vgl. ebd.: 12/13). Fraglich scheint in diesem Zusammenhang die Aussage eines identitätstheoretischen Überblicksartikels von Krappmann, die den wirksamen Austausch über die Anerkennung von Identität von einer gemeinsamen Sprache abhängig macht (vgl. Krappmann 2004: 407). Er erkennt zwar die Schwierigkeiten der Identitätsbewahrung im Kontext einer sich immer schneller wandelnden Gesellschaftsstruktur in der heutigen Zeit an, geht jedoch nicht hinreichend auf den kulturellen Austausch, der auch mit fremden Sprachen einhergeht, ein. Dies könnte bedeuten, dass Interagierende, die aus verschiedenen Sprachfamilien kommen und einander nicht über ein Sprachsystem verstehen, auch keine Möglichkeit haben, ihre Identität zu entwickeln, geschweige denn zu präsentieren. Zumindest negiert Krappmann die Möglichkeit einer strukturierten Identität, wenn diese nur durch „selbst-konstruktive Anstrengungen“ (ebd.: 408) gebildet wurde und ihr die Anerkennung durch Dritte fehlt. Nur wer in den Dialog tritt, hat dieser Theorie zufolge die Chance auf die Ausbildung einer kohärenten Identität. Kresic kritisiert den Fokus Krappmanns auf die Außenperspektive von Identität, der die Bedingungen für ein inneres Identitätsgefühl vernachlässigt (vgl. Kresic 2006: 96). Krappmann stellt sich dem Vorwurf der ständig formbaren „Plastik-Identität“ (Krappmann 2009: 82), die als Identität, „die sich allen Gegebenheiten anpasst, immer einen Mittelweg sucht, sich auf keine Kriterien von wahr und falsch, von gut und böse festlegen lässt, sondern immer nur schaut, was die jeweilige Aushandlung bringt“ (ebd.: 82), indem er auf die Möglichkeiten der balancierenden Identität hinweist. Der Mensch entwirft eine Identität, die das Potential birgt, sich angesichts der „Veränderungen im Handlungs-, Sprach-, und Beziehungsumfeld“ (Krappmann 2004: 405) durch die Balance zu bewähren. Krappmanns häufige Anspielungen auf Einheit und Kontinuität erinnert an das traditionelle Identitätskonzept Eriksons. Dennoch kann festgehalten werden, dass Identität hier nicht mit Determination durch soziale Normen gekoppelt ist, sondern innerhalb eines Orientierungsrahmens einem persönlichen Entwurf unterliegt und in Eigenregie konstruiert wird. Der sozial-konstruktivistische Charakter der Theorie lässt zumindest die Möglichkeit für multiple Identitätsentwürfe offen und „fügt sich gut in die interaktionistische Identitätsvorstellung, insofern sie die Vielzahl der Rollen und Interaktionszusammenhänge [...] berücksichtigt“ (Kresic 2006: 97). Trotz seines Postulats vom für die Balancierung der Identität notwendigen Rückgriff auf die Umgangssprache sieht Krappmann die empirische Untersuchung nicht in einer Darstellung sprachlicher Bedingungen begründet. Er verweist auf die Analyse von Biographien, Interpretationsschemata oder Rollenmustern der Individuen, die Aufschluss über die Interaktionsleistung geben, die er mit der Kategorie Identität be-
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schreibt (vgl. Krappmann 2005: 200/201). Wie ähnlich Krappmanns Theorie den klassischen Ausarbeitungen von Erikson ist, zeigt sich insbesondere in den Überlegungen zur nicht gelungenen Identität. Während Erikson bei zu schwer erfüllbaren Rollenerwartungen die Entstehung von Identitätsdiffusion annimmt, hält Krappmann den Balanceakt für einen steten Kampf gegen die drohende Nicht-Identität (vgl. ebd.: 79). Nicht-Identität entsteht entweder durch das totale Aufgehen in den Erwartungen anderer oder in der Zurückweisung der Erwartung und Isolation (vgl. ebd.: 84). Es bleibt jedoch kritisch zu fragen, inwiefern einem Individuum nachgewiesen werden kann, dass die beiden Extreme keine freiwillig gewählten und dadurch am Aufbau seiner Identität beteiligten Zustände sind. Es scheint doch eher eindimensional, nur dem frei auf den Interaktionsbalken balancierenden Selbst die Fähigkeit zuzuschreiben, eine wie auch immer geartete stabile Identität aufzubauen. Für die vorliegende Studie bleib Krappmanns Theorie insofern relevant, als Sprache für ihn im Identitätsbildungsprozess unabdingbar ist. Allerdings scheint Identität hier eine vorsprachliche Existenz zu haben, da ihre Darstellung durch das Medium der Sprache geschieht (vgl. ebd.: 12). Identität ist demzufolge schon entworfen und behauptet und wird erst in einem zweiten Schritt über sprachliche Mittel präsentiert. Jede Identitätstheorie ist als Spiegel der sozialen Verhältnisse und Weltanschauung einer bestimmten Zeit anzusehen. Das bedeutet nicht, dass Identität eine rein epochale Struktur ist, die einer chronologischen Ordnung folgt. Sie ist aber in ihrer Erscheinung an bestimmte Problemlagen des Individuums und der Gesellschaft gekoppelt. In diesem Zusammenhang dienen die Ausarbeitungen zu Identität weniger nur einer begrifflichen Klärung des Konzepts. Oft werden die Besonderheiten einer historischen Epoche, gesellschaftlichen Phase oder eines sozialen Phänomens untersucht, an denen sich die Suche nach dem Selbst exemplarisch darstellen lässt. Diese Perspektive konnte beispielsweise mit der Theorie Meads, der auf die Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft reagiert, und den Ausarbeitungen Goffmans, der sich des sozialen Stigmaphänomens annimmt, gezeigt werden. Die Gründe für die seit den 1970er Jahren steigende Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Identitätsbegriff auseinandersetzen, sind insbesondere in gesellschaftlichen Umbruchsituationen zu suchen. Die soziostrukturellen Veränderungen beziehen sich vornehmlich auf die Möglichkeiten, fernab von dem bisher gelebten vorstrukturierenden Rollenverständnis mehr oder minder eine eigene Wahl bezüglich des Berufs, des Lebensstils oder der politischen Orientierung treffen zu können. Unter Wahlfreiheit eine echte Freiheit, ein bedingungsloses Sich-fallen-lassenKönnen zu begreifen, wäre allerdings ein Trugschluss. Angesichts von Entscheidungen, die problemlos revidiert werden können, rückt das Individuum sich unabdingbar selbst in den Fokus und fragt zunehmend nach dem Ich, das den Konsequenzen einer getroffenen Wahl, der Einbeziehung in gesellschaftliche Verantwortung und verschiedene Systeme mit divergierenden Erwartungen standhalten muss.
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Traditionell geforderte Lebensläufe werden abgelöst von einer Vielzahl an ausdifferenzierten Entwurfsmöglichkeiten. Identität wird folglich immer dann zum beliebten Untersuchungsgegenstand, wenn strukturelle Veränderungen, neue Bedingungsgefüge von Lebenswirklichkeiten oder schlicht generelle Differenzen zu einem Vorher auftreten, die die Frage nach dem Verbleib und Erhalt des Selbst in der ungewohnten Situation aufwerfen. Vereinfacht kann also angenommen werden, dass moderne Identitätstheorien noch auf Prämissen der Einheitlichkeit des Selbst beruhen und darauf abheben, Interaktionsleistungen und Erfüllung von sozialen Rollenerwartungen durch das Individuum zu beschreiben. Fehlt das Erfüllen von Kriterien wie Konsistenz und Kontinuität, wird vielfach von einem missratenen Identitätsaufbau ausgegangen. Dies würde in Zeiten der angesprochenen Wahlfreiheit allerdings bedeuten, dass jede Orientierungskrise und jeder Zweifel, jedes Zögern und jede Fehlentscheidung zur Auflösung des Selbst führen und Erikson schlussendlich mit der Annahme von gefährlichen Identitätsdiffusionen recht behalten sollte. Postmoderne Identitätstheorien müssten den Gedanken an die Einheitlichkeit angesichts des rapiden Wandels aufgeben. Es wäre leicht, den Identitätsbegriff nun aus den Wissenschaften zu verbannen, insbesondere da mit der Vielzahl an Definitionsangeboten auch die Unübersichtlichkeit Einzug hält und den Identitätsbegriff zunehmend verwässert. Die interdisziplinären Zugänge versperren durch die jeweilige Fokussierung des für die wissenschaftliche Fragestellung relevanten Aspekts der Identitätsdiskussionen oftmals die Erkenntnis (vgl. Jörissen 2000: 10). Allein auf die terminologischen Schwierigkeiten bei der Begriffsbehandlung wurde bereits im Zusammenhang mit den Übersetzungen aus dem Englischen verwiesen. Zudem scheint es fast löblich, mit dem Identitätskonzept auch jenes vom durch Zwang und Unterwerfung geprägten Individuum aufzugeben. Immerhin handelt es sich bei den meisten Ausarbeitungen zur Identität um Darstellungen eher negativ besetzter Aspekte wie Rollenerwartungen, Pflichterfüllung, schlicht sozialen Bedingungsgefügen, in denen es zu bestehen und dem Verlust der eigenen Einheitlichkeit zu entkommen gilt. Laut Jürgen Straub ist die Aufgabe des Identitätskonzepts nur ein trügerischer Befreiungsschlag. Da sich immer mehr Forschende für das Festhalten am Identitätsbegriff einsetzen (vgl. z.B. Jörissen 2000, Straub 2000, Nunner-Winkler 2002, Wohlrab-Sahr 2006, Jörissen/Zirfas 2010), scheint eine Auseinandersetzung durchaus lohnenswert. Dennoch ist auch aus den Kreisen der Verfechter des Identitätsbegriffs Kritik vernehmbar. Sie zielt auf die zahlreichen Versuche, alte Konzepte zu sehr zu vereinfachen oder auf das Problem jüngerer Konzepte, „neben empirischen Defiziten auch theoretisch konzeptionelle Schwächen“ (Nunner-Winkler 2002: 59) aufzuweisen. Im Folgenden sollen diese Konzepte und ihre kritischen Punkte erläutert werden, auch wenn das Gefühl vom unsicheren Umgang mit dem Identitätsbegriff dadurch noch genährt werden kann. Daher wird hier motivational nach den Worten Jörissens und Zirfas’ verfahren: „Das Reden über Identität verliert dort seinen Sinn, wo es keinen Zweifel, kei-
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nen Irrtum, keine Vermutungen und keine Ratlosigkeiten gibt.“ (Zirfas/Jörissen 2007: 10) Das Selbst als Vielheit Ein beispielhafter Vertreter der post- oder spätmodernen Identitätsforschung ist Heiner Keupp, der die angesprochene Pluralität zum Zentrum seiner Arbeit macht, wenn er die klassische Frage stellt: „Wer bin ich in einer sozialen Welt, deren Grundriß sich unter Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung verändert?“ (Keupp et al. 2008: 7) In Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne (2008 [1999]) versuchen Keupp et al. anhand eines empirischen Forschungsprojektes „eine zeitgerechte Antwort“ (Keupp et al. 2008: 7) auf jene Frage zu geben. Keupp schlägt in einer früheren Arbeit den Begriff der Patchworkidentität vor, deren Flickenteppichmetapher er am besten selbst erläutert: „Eine ‚Patchworkidentität‘, wie ich sie nennen möchte, kann ja wohl nur dann als ‚proteisches Chamäleon‘ missverstanden werden, wenn man nie die schöpferische Energie bei dem Entwurf und der Verwirklichung eines Patchworkproduktes erlebt hat. Hier bedarf es der Idee und der Realisierung einer ganzheitlichen Gestalt, der Abstimmung von Farben und Mustern, der Verwendung von geeigneten Stoffen. [...] Die klassischen Patchworkmuster entsprechen dem klassischen Identitätsbegriff. Da sind geometrische Muster in einer sich wiederholenden Gleichförmigkeit geschaffen worden. Sie gewinnen eine Geschlossenheit in diesem Moment der durchstrukturierten Harmonie, in einem Gleichgewichtszustand von Form- und Farbelementen. Der ‚Crazy Quilt‘ hingegen lebt von seiner überraschenden, oft wilden Verknüpfung von Formen und Farben, zielt selten auf bekannte Symbole und Gegenstände. Gerade in dem Entwurf und der Durchführung eines solchen ‚Fleckerlteppichs‘ kann sich eine beeindruckende schöpferische Potenz ausdrücken.“ (Keupp 1989: 63ff zit. nach Keupp 2009: 17/18)
Im Zentrum der Keupp’schen Identitätstheorie steht die Annahme, dass Identität sich aus vielen Teilidentitäten zusammensetzt und einen lebenslangen Arbeitsprozess durchläuft. Dabei geht es ähnlich wie in früheren Identitätsmodellen um das Zusammenspiel zwischen einer inneren und einer äußeren Welt. Identitätsarbeit wird als aktive Passungsleistung des Individuums begriffen, das unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen seine Identität stets neu entwirft (vgl. Keupp et al. 2008: 60). Dabei wird angenommen, dass „zunehmende Mobilität, Pluralität, Ambiguität, Offenheit und Fragmentierung gesellschaftlicher Organisation“ (ebd.: 60/61) sich zwangsläufig auf die Konstruktion der Identitäten auswirken. Bei diesem Passungsprozess werden vor allen Dingen vergangene, gegenwärtige und zukunftsbezogene Erfahrungen des Subjekts reflektiert und zu Teilidentitäten zusammengefasst (vgl. ebd.: 207). Was nach der balancierenden Identität Krappmanns klingt, hat
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jedoch noch einen anderen Anspruch: „Identität als Passungsarbeit bedeutet nicht, diese Differenzen zu harmonisieren“ – das Austarieren bei Krappmann kann als Harmonisierung verstanden werden – „sondern sie in ein für das Subjekt lebbares Beziehungsverhältnis zu bringen.“ (Ebd.: 207) Abbildung 1: Konstruktionen der Identitätsarbeit
Quelle: Keupp et al. 2002: 218
Die über die Reflexion situationaler Selbsterfahrungen entstehenden Teilidentitäten sind keine stabile Konstruktion. Sie können sich ständig verändern oder auflösen. Als Beispiel für die arbeitsbezogene Teilidentität seien hier die berufliche Neuorientierung oder die Pensionierung angebracht (vgl. ebd.: 217/218). Keupp et al. gehen von fünf Erfahrungsmodi aus (kognitive, soziale, emotionale, körperorientierte, produktorientierte Standards), durch die eine Teilidentität in Selbstreflexion konstruiert werden kann. Dabei geht es bei der Bildung der Teilidentität nicht um das Zusammenfügen der Standards zu einem kohärenten Gesamtbild, beispielsweise können Selbst- und Fremdwahrnehmung ambivalent sein (vgl. ebd.: 219). Als Mittel der Verknüpfungsarbeit dient die Selbsterzählung oder -narration, die Identitätsarbeit auch zur Narrationsarbeit werden lässt. Durch die Erzählung kann das Individuum seine verschiedensten Erfahrungen in einen Sinnzusammenhang bringen und gemäß der Psychologie des Narrativen seine Wirklichkeit sozial konstruieren (vgl. ebd.: 207/208). Die Selbsterzählungen sind nach Ansicht verschiedenster Autorinnen der Hauptmodus der Identitätskonstitution (vgl. Kraus 1996, Brockmeier/Car-
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baugh 2001, Bamberg 2006, 2012, Kresic 2006, Keupp et al. 2008, Straub 2010). Für die Forschungsgruppe um Keupp ist es „der erzählerische Prozess, in dem Subjekte sich selbst verstehen, sich anderen mitteilen und so ihren narrativen Faden in das Gesamtgewebe einer Kultur, die auch eine Erzählung ist, einweben“ (Keupp et al. 2008: 270). Dass Identitätsarbeit auch in dieser Theorie mit der Anerkennung durch Dritte im Zusammenhang steht, zeigt der Umstand, dass Identität aus verschiedenen Teilen besteht, die sich gesellschaftlich manifestieren. Identität bildet sich durch den interaktionistischen und vor allen Dingen sprachlichen Austausch, der die Anerkennung durch eine andere Person ermöglicht (Keupp 2009: 13). In Anlehnung an die Theorie Charles Taylors zur Entstehung neuzeitlicher Identität (2006 [1992]) geht Keupp auf die Bedeutung der Sprache für die Identitätsbildung ein. Demnach kann das Individuum handlungsfähig werden, wenn es sich und somit seine Identität bestimmt – dafür bedarf es jedoch der Aneignung einer Vielfalt von Sprachen (vgl. Taylor 2006: 27). Ohne Taylors Theorie der modernen Identität näher zu beleuchten, soll dennoch ein Ansatz hier Erwähnung finden: „To study persons is to study beings who only exist in, or are partly constituted by, a certain language“ (ebd.: 34/35). Der letztgenannte Aspekt ist ein bedeutsamer Ansatz, der so explizit in den Identitätstheorien nicht gefunden werden konnte. Der dialogische Charakter von Identitätsbildungsprozessen und die Abhängigkeit von anderen wird auch von Taylor hervorgehoben, wenn er sagt: „One is a self only among the other selves.“ (Ebd.: 35) Vielfach geht es in den Identitätsmodellen um Sprache als Werkzeug und Mittel auf dem Weg zur Identitätsbildung. Dass Sprache Identität konstruieren kann und Identitäten keine vorsprachliche Existenz haben, ist ein entscheidend neuer Ansatz. Aus feministischer Perspektive beleuchtet Helga Bilden den Identitätsbegriff der Postmoderne. Bekannt ist sie für ihre sozialpsychologischen Arbeiten zur geschlechterspezifischen Sozialisation. In Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste (2009 [1997]) evoziert sie eine Theorie, die den Identitätsbegriff gegen den des dynamischen Systems vielfältiger Selbste ersetzt und auf „die Vielzahl von Individualitäten und zweitens Vielfalt und Beweglichkeit innerhalb des Individuums“ (Bilden 2009: 227, kursiv i.O.) abzielt. Dass die verschiedenen Identitätsmodelle in der Forschung nicht immer optimistisch den neuen Umständen der Spätmoderne angepasst werden, zeigt die These vom „Tod des Subjekts“ (vgl. Keupp et al. 2008: 24, Kresic 2006: 124–128). Identität scheint in der neuen Ära für viele ein gefährdetes Konstrukt, das keiner äußeren Einheit unterliegt und folglich im Inneren nicht zusammengehalten werden kann. Wenn Identität als eine sozialkulturelle Konstruktion be-griffen wird, liegt es nahe, unter dem Umstand der gesellschaftlichen Dekonstruktion auch ihre Kohärenz und vor allem ihre Legitimation infrage zu stellen. Für Bilden geht es in der postmodernen Philosophie jedoch nicht darum, das Ende des Individuums zu beschwören, sondern Individuum, Individualität, Selbst und Subjektivität neu zu begreifen und zu definieren (vgl. Bilden 2009: 227). Einen
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Kernpunkt ihrer Theorie stellt die Absage an androzentrisch geprägte Identitätsvorstellungen sowie an Einheit und Identitätszwang dar. Die Zusage erfolgt für die Anerkennung der Vielfältigkeit einer Person (vgl. ebd.: 228). Bilden sieht in der inneren Vielfalt die einzige Möglichkeit, der äußeren Vielfalt, die im Vorangegangenen schon mehrfach mit dem postmodernen Schlagwort der Pluralität beschrieben wurde, gerecht zu werden und in ihr leben zu können (ebd.: 228). Der Identitätsbegriff ist für Bilden ein traditionelles, von Geschlechterhierarchie geprägtes Konstrukt, das durch die rigide geführten Definitionsversuche einen Status erlangt hat, den sie mit „Zumutung“ oder „ordentlicher Ordnung“ umschreibt (vgl. ebd.: 229). Sie hält es für attraktiver und demokratischer zu sagen: „Ich bin eine Viele.“ (Ebd.: 229) In das Konzept der Teil-Selbste schließt Bilden auch noch nicht realisierte oder Wunsch-Selbste ein (vgl. ebd.: 229). Die Theorie der Person als ein dynamisches System vielfältiger Selbste besteht aus fünf Grundcharakteristika, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. In Überlegungen zu „Autonomie und Austausch/Verbindung: dynamische Autonomie des Selbst“ (ebd.: 234, kursiv i.O.) beschreibt Bilden ihre Auffassung von der Person als System, die nicht abgeschottet in einem kleinen Universum lebt, sondern sich stets im Austausch befindet und sich erst in Verbindung zur Umwelt entwickeln kann. So unterliegen Individuen einem regen Wechselspiel zwischen Autonomie und Verbundenheit (vgl. ebd.: 234). Dieses Bedingungsgefüge ist schon in anderen vorgestellten Identitätstheorien zum Kern der Identitätsproblematik ernannt worden. Es geht einmal mehr um die Passungsarbeit zwischen innerer und äußerer Welt. Dennoch begreift Bilden den Austausch und die Verbindung nicht wie andere (vgl. Mead, Erikson) als äußeren Zwang, der mit der Festlegung und Erfüllung bestimmter Rollen einhergeht. Das Argument besteht eher darin, dass das Individuum sich in einer sozialen Welt immer wieder neu hervorbringt, es könnte ansonsten nicht existieren (vgl. ebd.: 236). Zweitens wird die Person von Bilden als „offener Prozess, als Werden“ (ebd.: 236, kursiv i.O.) beschrieben. Darunter ist die stete Veränderung des Selbstverständnisses und des Lebensentwurfs der Person unter sich verändernden Bedingungen zu verstehen. Unter dem dritten Punkt der Vielfalt der Selbste (ebd.: 238) versteht Bilden die Vielzahl der Selbste im biographischen Verlauf eines Individuums, die aus unterschiedlichen Beziehungen hervorgehenden verschiedenen Rollen-Selbste, die möglichen, noch nicht entfalteten Selbste und die abgelegten oder Schatten-Selbste (vgl. ebd.: 238). Wie im Keupp’schen Modell hält Bilden die Verknüpfung der Teil-Selbste als flexibel-variable Verbindung für die Grundlage einer stabilen Identitätsentwicklung (vgl. ebd.: 243). Widersprüche, Enttäuschungen oder Erschütterungen können durch ein elastisches Konstrukt ausgeglichen werden und „Bewältigungsfähigkeiten“ (ebd.: 244) im Lebensalltag erweitern. Als letztes Charakteristikum des Systems beschreibt Bilden das Konzept der „Kohärenz der Vielfalt und Kontinuität im Prozeß“ (Bilden ebd.: 245, kursiv i.O.). Das Zusammenspiel der verschiedenen Selbste kann vom Individuum nur in Eigen-
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regie erarbeitet werden, wenn es seine „sinnlich-körperlich-emotionale Erfahrung“ (ebd.: 245, kursiv i.O.) selbstreflexiv und sinnhaft in Beziehung zur Umwelt interpretiert und in Denkstrukturen integriert. Die sprachbezogenen Grundzüge des Modells von Bilden sind nicht auf den ersten Blick eindeutig. Dennoch kann dieses Konzept erstens als aktualisierte Antwort auf den umstrittenen Identitätsbegriff gewertet werden, indem der Multiplizität des Subjekts in einer pluralen Gesellschaft Rechnung getragen wird. Zweitens sind vermutlich die vorgestellten Teil-Selbste auch an ein bestimmtes sprachliches Repertoire innerhalb des Selbst geknüpft und für jedes Teil-Selbst gibt es eine eigene Sprache, die sich dafür eignet, die Verbindungsarbeit zu einem flexiblen und variablen Ganzen zu ermöglichen. Die prozessuale Herstellung von Kohärenz und Kontinuität zwischen den einzelnen Teil-Selbsten findet laut Bilden selbstreflexiv statt – dies kann nur über Sprache, zumindest Sprache im Denken, erfolgen. Wenn diese Verknüpfungsarbeit für Bilden das dynamische System der vielfältigen Person ermöglicht, ist sie gleichsam identitätskonstitutiv. Die letzten beiden Identitätstheorien stoßen allerdings auf harsche Kritik aus sozialpsychologischen Reihen. Den vorgestellten Modellen liegen nach Auffassung Straubs mangelhafte Vorstellungen von der Definitionsgeschichte von Identitätsbildungsprozessen zugrunde, es bleibt „von Anbeginn diffus und unterbestimmt […], was kritisiert und überwunden werden soll“ (Straub 1991: 63). So bleibt offen, inwiefern alte Konzeptionen überwunden werden, wenn beispielweise die Möglichkeit der nachbarschaftlichen Existenz von mehreren Identitätszuständen als neues Modell verkauft wird, während diese schon bei Erikson als „Ensemble widerstreitender Identitätselemente“ (Erikson 1974 zit. nach Mey 1999: 72) angelegt war. Natürlich grenzen sich gerade neue Konzepte immer schärfer von ihren Vorgängern ab, um einen klaren Standpunkt beziehen zu können. Manchmal sind es aber auch unterschiedliche Interpretationen einer Theorie, die als Basis des neuen Vorschlags dessen Gestalt erheblich verändern müssen. Wer in Eriksons Theorie Identität als „starre, rigide oder geschlossene Struktur“ (Straub 1991: 65) versteht und eine postmoderne Antwort geben möchte, entwickelt automatisch konzeptuelle Widersacher, die jedoch theoretische Schwächen aufweisen können. Der Hang zum Extremen und teilweise vorschnellen Urteil wird von Kritikern aber auch als spezifische Eigenschaft der postmodernen Theoriebildung bezeichnet (vgl. Mey 1999: 74). Nichtsdestotrotz liefert beispielsweise die Forschungsgruppe um Keupp ein viel bemühtes Modell, das insbesondere durch seine Konzentration auf die erzählerisch gestaltete Identitätsbildung auffällt und operationalisiert werden kann. Die Bedeutung der sprachlichen Gestaltungsmittel wird zwar in der Theoriebildung nicht detailliert ausgeführt, kann aber in der Auseinandersetzung implizit mitgedacht werden.
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2.2 DIE NARRATIVE KONSTRUKTION VON IDENTITÄT Die vorangegangene Darstellung der Theorien von Helga Bilden sowie der Forschungsgruppe um Heiner Keupp dient nicht nur einer Vertiefung in die aktuellere Identitätsforschung. Sie bietet auch eine Orientierung für die Kritik an sogenannten postmodernen Identitätsvorstellungen, die im Folgenden näher thematisiert wird. Im Zuge dieser kritischen Bearbeitung der Ansätze, die neben der Absage an einheitliche Selbstkonzeptionen „durch die Hintertür das Postulat von Einheit“ (NunnerWinkler 2002: 59) sicherheitshalber wieder einführen – hier spielt Nunner-Winkler auf die in Identitätsarbeit hergestellte Einheit des Subjekts in der Theorie Keupps an –, entsteht erneut eine Reihe von zeit- und diskursgemäßen Identitätskonzeptionen, an denen sich die vorliegende Untersuchung maßgeblich orientiert. Im deutschen Sprachraum setzt sich beispielsweise der Sozialpsychologe Jürgen Straub mit den Ausarbeitungen der aktuellen Identitätsforschung auseinander und entwickelt auf dieser Grundlage unter anderem in dem gemeinsam mit Joachim Renn herausgegebenen Sammelband Transitorische Identität (2002) zwar keine neue Theorie, aber eine „Revision des Begriffs“ (Renn/Straub 2002: 13). Er gilt damit als einer der Verfechter des Identitätsbegriffs, dessen Abschied in den postmodernen Subjektdiskursen er zu verhindern sucht. Die Annäherung an den Begriff weniger auf ontologischer Ebene als in einem „prozeduralisierten [...] Sinne“ (ebd.: 12) ist eine Reaktion auf die immer größer werdende Anzahl der Arbeiten in der Debatte um den Identitätsbegriff im Hinblick auf die kaum zu realisierende Selbstgleichheit des Menschen in einer von Dekonstruktion und Fragmentarisierung geprägten Zeit. Straub bemüht zunächst die klassischen Identitätstheorien Eriksons und Meads, um der Frage nachzukommen, wie Individuen in einer radikal veränderten Umwelt und innerhalb biographischer und subjektiver Transformationen noch eine einheitliche Identität aufbauen können. Den beliebten Umweg über die Deklaration des Subjekts als Vielheit, „die in keine einheitliche Form oder Struktur mehr zu bringen sei“ (Straub 2000: 169), erkennt er weniger als Antwort denn als Zirkelschluss an, der in Identitätsdiskussionen zu oft als Lösung präsentiert wird. Ebenso wenig gilt in seinen Augen die mittlerweile verbreitete Negation der Möglichkeiten, die das Individuum zur Konstruktion seiner Identität hat. Dabei richtet sich seine Kritik auch gegen systemtheoretische Auffassungen beispielsweise Niklas Luhmanns, aus dessen Sicht der Aufbau personaler Identität unter den soziokulturellen Bedingungen der postmodernen Gesellschaft überflüssig geworden ist (vgl. ebd.: 87). Zynisch merkt Straub in verschiedenen Beiträgen immer wieder an, dass bei aller Euphorie um den Abschied der Identität dennoch der Begriff verwendet, an alten Konzepten festgehalten und sich in der Folge in Widersprüchlichkeiten verstrickt wird (vgl. z.B. Straubs Kritik an Keupp und Kraus in Straub 2002: 102 und Straub 2000: 184 sowie Wohlrab-Sahr 2002: 91). Für Straub bildet die einheitliche Struktur einer sozial agie-
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renden Person keinen Gegenentwurf zur kontingenten, also von Zufall und Offenheit geprägten Erfahrungswelt postmoderner Gesellschaften. Es bedarf lediglich bestimmter Mechanismen, die auftretenden Widersprüchlichkeiten zu verarbeiten. Straubs Vorstellungen basieren auf der Annahme, dass Identität durchweg ein sozial konstituiertes Phänomen ist. Daher ist auch personale Identität kein Antagonist der sozialen Identität (vgl. Straub 2000: 170). Gerade die Untersuchungen zu Verhältnis und Wechselwirkung von Individuum und sozialer Interaktionswelt gehören Straub zufolge nicht in Identitätsdiskussionen, sondern in individualitätstheoretische Überlegungen. Diese Unterscheidung ist wichtig und markiert ein Novum im Identitätsdiskurs, sind doch nahezu alle Konzepte darauf ausgerichtet, das Spannungsfeld von Individuum und sozialem Gefüge zu beschreiben. Straub macht eine andere Typologie auf, indem er den Begriff der qualitativen Identität von dem struktur- oder formaltheoretischen Identitätsbegriff löst. Qualitative Identität bezieht sich auf Merkmale verschiedener Identitätspraktiken, in Vorlieben für Musik oder Freizeitgestaltung, politischer Orientierung oder Lebensstil. Straub räumt diesen Praktiken durchaus einen interessanten Stellenwert für die empirische Forschung ein, hält sie aber in der Auseinandersetzung mit dem theoretischen Konzept der Identität und für die Darstellung des „kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person“ (ebd.: 171) für irrelevant. So sieht er unter anderem in der Untersuchung von Lebensstilentscheidungen kein erhellendes Moment für die Identitätskonstitution eines Individuums. Möglicherweise spielt er damit kritisch auf die Arbeiten an, die über einen empirisch überprüfbaren Identitätsaspekt auf die strukturelle Verfasstheit von Identität Aussagen zu treffen wagen, denn eigentlich räumt er diesem Forschungszweig ein, „sich [nicht] allzu sehr mit dem theoretischen Identitätsbegriff auseinandersetzen zu müssen“ (ebd.: 171), eine Annahme, die auch einige empirisch arbeitende Forscherinnen teilen (vgl. Lucius-Hoene 2010a: 149). Um den strukturoder formaltheoretischen Begriff der Identität näher bestimmen zu können, müssen zunächst die drei die personale Identität umfassenden Aspekte Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz begrifflich eindeutig definiert werden. Kontinuität bezeichnet die Einheit einer Person „als Zeitzusammenhang“ (Straub 2000: 174), die nicht darauf abzielt, Differentes, widersprüchliche Erfahrungen und Veränderungen im Leben abzulehnen, sondern Kontingenzerleben zu synthetisieren und zu bearbeiten. Straub bezieht sich auf die Ausarbeitungen Paul Ricœurs zur Synthese heterogener Erfahrungen, die er zur Bedingung menschlicher Erfahrungsorganisation erklärt: „Die konkordant-diskordante Synthesis bewirkt, daß die Kontingenz eines Ereignisses zur gewissermaßen nachträglichen Notwendigkeit einer Lebensgeschichte beiträgt, mit der die Identität der Figur gleichzusetzen ist.“ (Ricœur 1996: 182) Konsistenz und Kohärenz bilden die weiteren strukturgebenden Elemente der personalen Identität. Unter Konsistenz versteht Straub die „logische Verträglichkeit von Sätzen und Satzsystemen“ in der Darlegung von Aspekten qualitativer Identität (Straub 2000: 175), während Kohärenz die „psychische
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Einheit des Subjekts“ (ebd.: 175) bezeichnet, wenn es beispielsweise um die Auseinandersetzung mit divergierenden Rollenerwartungen geht. Von der These ausgehend, dass personale Identität grundsätzlich die synthetisierte Einheit einer Person umfasst, befindet Straub eine Analyse der Syntheseleistungen als einzige Möglichkeit zur Definition der Struktur von Identität. Diese Syntheseleistungen sind – wie auch andere Ansätze schon gezeigt haben – sprachlich verfasst. Das Individuum ist auf die Mittel der Kommunikation angewiesen, um seine Identität zu entwerfen und insbesondere Kontinuität zu schaffen (vgl. ebd.: 172). Kontinuität hat in diesem Zusammenhang allerdings einen weitgehend ephemeren Charakter und kann angesichts eines situativ gebundenen Sprachaktes nur als vorläufige Struktur gedacht werden. Daher sprechen Renn und Straub von der „transitorischen Identität“ (Renn/Straub 2002: 13), die sich durch ihren vorübergehenden Charakter auszeichnet. Sie begründen ihre Wortwahl mit dem die Begriffsanalyse leitenden Fokus auf „Momente der Beweglichkeit, der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung jener notorisch vorläufigen, immer noch ausstehenden, aufgegebenen Identität“ (ebd.: 13). Die Bewegtheit findet sich vor allem in den kontextgebundenen Interpretationsleistungen, die ein Individuum in der Interaktion zur Darstellung seines Selbst abgibt. So ist die Bildung personaler Identität „als praktisches Selbstverhältnis“ (ebd.: 14) auf Beschreibungen des Selbst durch das Individuum angewiesen. Der Konstruktionsprozess personaler Identität wird gleichsam von anderen Personen mitgetragen, da sie „die zur Sprache gebrachten Identitätszuschreibungen und -aspirationen einer Person mit artikulieren“ (ebd.: 14). Diese Wechselwirkung im erzählerischen Identitätsbildungsprozess wird gemeinhin als Ko-Konstruktion beschrieben (vgl. Mey 2000; Lucius-Hoene/Deppermann 2004a, Wodak 2009, DausendschönGay et al. 2015). Der transitorische Charakter bestimmt die Identität eines Individuums also durch das wechselseitige Gefüge und die ständige Prozesshaftigkeit ihrer Bildung in jeder beliebigen Situation. Was Renn und Straub als „sich selbst im Existieren werden lassen“ (Renn/Straub 2002: 17) bezeichnen, wurde hier schon an anderer Stelle mit den Worten von der Person als „offener Prozess, als Werden“ (Bilden 2009: 236, kursiv i.O.) angesprochen. In Anlehnung an Ricœurs Ausarbeitungen zu narrativen Identität, auf die noch genauer eingegangen wird, und aus erzähltheoretischer Perspektive definiert Straub die „Selbst-Erzählungen“ (Straub 2000: 172) als Motor der Identitätsbildung. In der kontingenten Erfahrungswelt kann das Individuum über die narrativen Selbstthematisierungen die Kontinuität gewinnen, die einen Aspekt der notwendigen Elemente in der Einheit der Person bildet. Kontinuität wird vorwiegend als temporale Struktur begriffen, sie bezieht sich gleichsam auf Retrospektiven wie Antizipationen oder Wünsche des Individuums. Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, dass die Person Distanz zu sich einnimmt, aus einer anderen Perspektive auf ihre eigene Geschichte und Zukunft schaut und aus dem Vorhandenen eine Erzählung generiert. Die Person macht sich nicht selbst zum Objekt einer Geschichte, sondern sie verfer-
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tigt ihr Sein erst im Moment des Erzählens (vgl. ebd.: 172), wenngleich Objektivierungen durch die Fähigkeit zur Reflexion stattfinden. Selbstthematisierungen sind damit keine Repräsentationen von schon Vorhandenem, sie haben keine deskriptive Bedeutung. Die Einheit einer Person und personale Identität werden gemäß der auch von Straub vertretenen These von sprachlich konstruierter Wirklichkeit, historischer und biographischer Zeit über die Selbst-Erzählung narrativ geschaffen. Dabei dienen diese Selbstthematisierungen insbesondere der Bewusstmachung äußerst heterogener Lebenserfahrungen: „Eine Person erhält sich im Wandel der Zeit als ein und dieselbe (unter anderem) dadurch, daß sie Geschichten bzw. eine Selbst-Geschichte erzählt, die temporale Differenzen (und die damit verwobenen Selbst-Veränderungen) ‚relationiert‘, synthetisiert und die präsentierte Lebensgeschichte dadurch als einheitlichen Zeitzusammenhang, als autobiographische Gestalt, erscheinen läßt.“ (Ebd.: 172)
Von der prozessualen und prinzipiell offenen Beschaffenheit der Identität und den Verknüpfungsleistungen des Individuums war bereits in der Darstellung der Theorien von Keupp sowie Bilden die Rede. Was auf den ersten Blick verblüffende Ähnlichkeiten aufzeigt – auch in Straubs Erläuterung von Identität als „Art der Selbstkonstitution […], ein ‚Sich-selbst-Werden‘, in welchem das ‚Identischbleiben-mitsich‘ nicht nur Voraussetzung, sondern auch Resultat ist“ (Straub 1991: 60) –, erweist sich bei näherer Betrachtung dennoch als ein anderer Ansatz. So meint beispielsweise Bilden eine Verknüpfungsarbeit, die die unterschiedlichen Teil-Selbste in eine übergeordnete Einheit zu bringen versucht. Straub aber kritisiert die Deklaration des Individuums als Vielheit und versteht die Verknüpfung als Syntheseleistung der verschiedenen Erfahrungen, die Individuen im Laufe ihres Lebens machen. Nicht das Subjekt ist eine Vielheit, die Erfahrungswelt ist notgedrungen vielfältig. Er passt dafür den Kontinuitätsbegriff dem aktuelleren Verständnis von Veränderungen an. Kontinuität kann heute keine gegebene diachrone oder synchrone Einheit mehr sein, sie ist vielmehr, „so paradox es klingen mag, ein Denken und symbolisches Bearbeiten von Kontingenz und Veränderung“ (Straub 2000: 174). Unter dieser Maßgabe ist Kontinuität ein Prozess, den das Individuum selbst steuert, sie ist „die mit praktischen, kommunikativen und symbolischen Mitteln operierende, aktive Selbstkontinuierung eines Subjekts“ (ebd.: 174). In diesem Zusammenhang muss die Person angesichts des steten Wandels und der Bewegung auch nicht als Vielheit gedacht werden, da Identität als „Motiv für die [...] Synthese oder Integration [...] von Heterogenem“ (Renn/Straub 2002: 19) verstanden wird. So widerlegen Renn und Straub die Fragmentisierungsthese postmodernen Denkens, nach der Individuen unter gesellschaftlichem Zwang ihre heterogene Erfahrungswelt zusammenführen wollen, so ihre individuelle Freiheit einbüßen und zudem an dieser Aufgabe zerreißen müssen (vgl. ebd.: 28). Mit der Fragmentisierungsthese gehen
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eben auch jene Auffassungen einher, die die identitäre Binnenstruktur des Individuums als zu plural ansehen, um mit dem Identitätsbegriff aus moderner Psychologie noch arbeiten zu können. Aber selbst aktuelle Verfechter des Identitätsbegriffs bedienen sich nur unzureichender empirischer Mittel, um ihre Thesen zum pluralen Subjekt zu stützen. Straub bezieht sich hier unter anderem auf die Ausarbeitungen des Psychologen Wolfgang Kraus, der anhand einer durch Fragebögen gestützten Untersuchung Aussagen zu Identitätskonstruktionen in der postmodernen Gesellschaft macht. In Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne (1996) unternimmt Kraus ebenfalls den Versuch, sowohl Identität als auch Kohärenz begrifflich zu rekonzeptualisieren. Er geht mit der Auffassung von Identität als prozesshafte und lebensweltbezogene Konstruktionsarbeit (vgl. Kraus 1996: 23) auf die subjektive Kohärenzempfindung ein, die er allerdings als „Selbsttäuschung“ (ebd.: 25) entlarven möchte. Das Modell narrativ konstruierter Identitäten leitet Kraus’ Studie im empirischen Teil, in dem er darzustellen versucht, wie Individuen über ihr Identitätsprojekt erzählen. Während Straub aufgrund der erzähltechnisch verfassten Lebenswirklichkeit der Individuen „narrative Verfahren zur Datenerhebung [für] unverzichtbar“ (Straub 2000: 172) erachtet, sieht Kraus in subjektiv hervorgebrachten Erzählungen keine geeigneten Mittel in der Identitätsforschung. Laut Kraus ist die „Selbstauskunft [...] nicht per se geeignet zur Mitteilung von Erfahrungen innerer Zerrissenheit“ (Kraus 2000: Abs. 11). Insbesondere Kohärenzempfindungen können ihm zufolge nicht auf eine objektive Beschreibung zurückgeführt werden, da „Selbsterzählungen ein Kohärenzzwang innewohnt“ (ebd.: Abs. 11), der die Ergebnisse so verfälschen kann. Dass diese Annahme allerdings die biographische und ausschließlich dem Individuum immanente Perspektive ausschließt, stürzt auch Kraus in einen Zustand des Dilemmas (vgl. ebd.: Abs. 11). Die Analyse bezieht sich nach allen Überlegungen dennoch nicht auf narrative Texte, auf in Erzählung strukturierte Lebensdarstellungen, sondern auf „relativ kürzelhafte Texte“ (Kraus 1996: 191), die anderen zufolge eher „dünn“ (Mey 2001: Abs. 15) und nicht als ausreichend empirisches Material zu deuten sind (vgl. Straub 2000: 184). Ähnliche Kritik äußert Straub an Wolfgang Welschs umfangreicher Theorie „pluraler Identitäten“ (Welsch 1995: 179) in der Spätmoderne, die bei aller gegebenen Zustimmung zum Pluralitätsbewusstsein postmoderner Gesellschaften auf einer äußerst wackeligen empirischen Basis erarbeitet wurde (vgl. Kraus 2000: 183). Hinzu kommt die Unschärfe der Verwendung von Begriffen der Identität, des Subjekts oder der Person bei Welsch. Die Lektüre wird umso mehr erschwert, da es an eindeutigen Definitionen und Bezugnahmen auf andere Theorien fehlt, „es kommt zu einer relativen Entkoppelung von Theorie und Empirie“ (Alheit 2010: 222). Die Probleme der empirischen Überprüfbarkeit von Identitätskonstruktionen und Unzulänglichkeiten einiger methodischer Ansätze werden an geeigneten Stellen noch genau beleuchtet.
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Als Fazit seiner Auseinandersetzung mit der Auffassung vom pluralen Subjekt bietet Straub eine Möglichkeit identitätstheoretischen Denkens, die das kommunikative Selbstverhältnis der Person, den prozessualen Charakter von Identitäten umfasst und das Problem der strukturell-theoretischen Defizite beseitigen soll. So ist „Identität als eine von Personen aspirierte Synthese ‚innerer‘, diachroner und synchroner Differenz und Heterogenität“ (Liebsch/Straub 2003: 11) zu verstehen. Sie ist weniger das Produkt als der Prozess, immer im Übergang und Wandel begriffen. Die Möglichkeit mehrerer Identitäten oder Selbste, die in einer Person vereint sind, kann unter den genannten Gesichtspunkten von Straub nur abgelehnt werden. Gerade wenn unter Identität der Aufbau einer alle Differenzen synthetisierenden und somit einheitlichen Struktur begriffen wird, kann von Identität im Plural nicht die Rede sein, da es sich sonst um Identitätsspaltungen im pathologischen Sinne handeln würde (vgl. Straub 1994: 14). Die sprachbezogenen Implikationen in Straubs Ansatz liegen hier auf der Hand. Wenn Identität sich im Medium der Sprachhandlung erst konstituiert, ist diese Entwicklung untrennbar mit den symbolischen Mitteln der Sprache verbunden. Identität scheint hier mehr als in den bisher besprochenen Theorien keine vorhandene Struktur zu sein, die ein Individuum besitzt und über Sprache präsentieren kann. Eher ist die Sprachhandlung selbst ein identitätskonstitutiver Akt. Identitätskonstruktion ist deshalb auf das Sprachvermögen angewiesen, weil sie als „Resultat einer reflexiven Distanzierungs- und hermeneutischen Beschreibungsleistung“ (ebd.: 15) erscheint. Sie ist im Zusammenhang mit den aktiven Selbstthematisierungen ein „kommunikatives Konstrukt“ (ebd.: 15). In ähnlicher Form spricht Kraus von narrativ konstruierten Identitäten, wobei der Sprache ebenfalls eine konstitutive Funktion zukommt: „Sprache transportiert nicht das Innenleben des Menschen nach außen, sondern sie produziert es.“ (Kraus 2002: 160) Noch wichtiger scheint sein Hinweis auf die generelle soziostrukturelle Einbindung der Individuen, die es unmöglich macht, „Nachdenken und -empfinden über uns selbst außerhalb von Sprache“ (ebd.: 160) anzusiedeln. Erzählen als Identitätsbildung Allen modernen und postmodernen Theorien zur Identität ist gemein, eine Antwort auf die Frage nach der realen Verfasstheit von Individuen oder Subjekten zu suchen. Gerade interdisziplinäre Zugänge, die erst seit ein paar Jahrzehnten den engen Rahmen wissenschaftlicher Beschäftigung mit einem Phänomen überschreiten, vervielfältigen die Definitionsangebote. Subjekt- sowie Identitätsdiskurse unterliegen insbesondere dem angesprochenen gesellschaftlichen Wandel und werden auch je nach Mode mit Konzepten unterfüttert, die es vormals nicht in identitätstheoretische Überlegungen geschafft hatten. So konnte die Erzählung als Gattung lange kei-
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nen Einzug in die Diskurse um Subjekt und Identitätskonstruktionen halten, sie war schlicht zu unwissenschaftlich – und bei aller Unschärfe in Identitätsdebatten war ein weiteres, zu künstlerisch wirkendes Phänomen gesellschaftlichen Lebens unwillkommen. Während die Geschichtswissenschaft Erzählungen und Erzählen schon seit geraumer Zeit eine erkenntnisbildende Funktion zuschreibt und durch Narrationen organisierte Erfahrung als Deutungsquelle nutzt, bleiben andere Disziplinen, selbst die Literaturwissenschaft, zumindest in der Anerkennung narrativ strukturierter Wirklichkeit lange im Hinterfeld (vgl. Straub 2010: 137). Die Auffassung, dass „jedes Verstehen als Konstruktion unseres Geistes aufzufassen“ (Polkinghorne 1998: 15) sei, ist erst im Zuge postmoderner Theoriebildung zu verzeichnen. Die in modernistischer Tradition leitende Frage nach der einzigen und gültigen Wahrheit, nach der objektiven Realität menschlichen Daseins, sei es in diachroner oder synchroner Perspektive, kann also nur als unzeitgemäßes Ansinnen bezeichnet werden. Es soll hier nicht detailliert um die einzelnen Positionen gehen, die diese Debatte hervorgebracht hat. Auf die Genese der Erzählung und des Erzählens als wissenschaftstaugliche Untersuchungsformen muss aber in Anbetracht des hier besprochenen Untersuchungsgegenstandes eingegangen werden. Nur über die wegweisenden Arbeiten zur Narration und zur Narrativität in der Geschichtswissenschaft, der Anthropologie, der Psychologie und der Linguistik kann auch das Verständnis für die Verteidigung von Erzählungen und Erzählen als konstitutive Elemente in Identitätsbildungsprozessen geschaffen werden. Erzählungen gelten lange als unzuverlässige Quellen, als lückenhafte und individuell geprägte Wiedergabemodi tatsächlicher Geschehnisse. Das Misstrauen gegenüber Erzählungen wird genährt durch die Auffassung, dass es eine vorsprachliche Wirklichkeit gibt und das Gedächtnis einen Sachgehalt oder eine Erfahrung mittels narrativer Äußerungen nur repräsentiert. Die Repräsentationen können laut dieser Theorie aber nur „störanfällig und unzureichend“ (Straub 2010: 140) sein und müssen dem Streben nach exakten Ergebnissen in wissenschaftlichen Untersuchungen weichen. Aber die sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen werden sich der Tatsache immer mehr bewusst, dass Menschen Geschichtenerzählerinnen sind und auch ihre Lebenswirklichkeit über Erzählungen strukturieren. Sie integrieren diese Einsichten in ihre Arbeit, zehren von den Erkenntnissen anderer Forschungsbereiche und machen erzähltheoretische Konzepte für die verschiedensten Untersuchungsgegenstände fruchtbar. So wird für die wissenschaftliche Anerkennung von Erzählung und Erzählen etwa ab den 1980er Jahren von einem narrative turn gesprochen. Die als turns bezeichneten „Aufmerksamkeitsverlagerungen und neue[n] Akzentsetzungen“ (ebd.: 141), die in den Augen einiger Forscherinnen allzu überschwänglich als grandiose Paradigmenwechsel verkündet werden, verdienen ihre Aufmerksamkeit durch das Öffnen viel zu enger Grenzen. So werden Erzählung und Erzählen im Zuge der Verlagerungen von ihrem überwiegend artifiziellen Charakter befreit und erhalten einen für die wissenschaftliche Theoriebildung bedeutenden
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Status. Wenn in einem Untersuchungsfeld individuelle Lebenswirklichkeiten oder auch komplexe gesellschaftliche Phänomen zum Gegenstand gemacht werden, so sind daran notwendigerweise Narrationen geknüpft, denn „Menschen sind immer in Geschichten verstrickt“ (Schapp 1958/2004: 1). Neben der Annahme, dass Menschen ihre Erfahrungswelt in Geschichten organisieren, bieten Narrationen auch auf methodischer Ebene einen bedeutenden Modus des Verstehens und Erklärens von historischen Phänomenen zumindest abseits nomologischer Wissenschaftstraditionen. Der Vorlauf der Geschichtswissenschaft im Zusammenhang mit erzähltheoretischen Grundlagen lässt sich kurz am Beispiel des Ansatzes von Arthur C. Danto beschreiben. Der Geschichtsphilosoph und Kulturkritiker untersucht unter anderem in Narrative Sentences (1962) den Verstehensprozess historischer Handlungszusammenhänge, die erst durch die narrativ präsentierte Form eine Gestalt und somit eine Bedeutung erhalten. Dies gilt für temporal strukturierte Ereignisse, indem beispielsweise zwei Ereignisse durch eine Narration miteinander verbunden werden und die Form einer Geschichte erhalten (vgl. Danto 1962: 146). Die reine Aufzählung von Einzelereignissen würde keine Erfahrungsorganisation oder Kausalitätserklärung dieser Handlungen bedeuten, erst die Erzählung, die Narration, synthetisiert die Wahrnehmung und organisiert Ereignisse in einem Sinnzusammenhang. Innerhalb einer Erzählung werden so gleichsam die Funktionen von Beschreibung und Erklärung historischer Handlungen erfüllt. Dadurch entsteht ein Modell, das die Historikerin zur Geschichtenerzählerin macht. Sie unterlegt disparate Handlungen durch die narrative Verknüpfung mit einem Deutungsangebot. Durch narrativistische Ansätze in der Geschichtswissenschaft erkennt auch die Psychologie in den letzten drei Jahrzehnten für ihre Zwecke zunehmend das Potential des Narrativen sowohl für die Klärung historischer Sinnbildungsprozesse als auch damit einhergehend Untersuchungen identitätstheoretischer Fragestellungen. Die Auseinandersetzung mit den wegweisenden Arbeiten zeigt allerdings, dass „umstritten bleibt [...], ob denn ein narrativ strukturiertes Zeit- und Geschichtsbewusstsein Orientierungsfunktionen erfüllt, die für [...] Identitätsbildungsprozesse unabdingbar, zumindest jedoch wünschenswert sind“ (Straub 1998b: 8). Die Bewegung, die in den 1980er Jahren mit einigen Ausarbeitungen (vgl. z.B. Bruner 1990, 1991, 1999, Polkinghorne 1991, 1996, Sarbin 1986, Wiedemann 1986) beginnt, wird heute als narrative Psychologie bezeichnet. Dieser Begriff ist jedoch mit Vorsicht zu gebrauchen, immerhin handelt es sich nicht um eine narrativ strukturierte Psychologie, die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse durch Erzählungen präsentiert. Vielmehr kann darunter verstanden werden, dass diese Richtung psychologischer Forschung sich mit der narrativen Struktur des zu erklärenden Phänomens – der Gesellschaft oder des Individuums – auseinandersetzt. Daher wird im Folgenden auf die von Straub vorgeschlagene Bezeichnung der „Psychologie des Narrativen, der Narration und der Narrativität“ (Straub 2010: 142) zurückgegriffen. Der narrative
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turn in der Psychologie führt zur intensiven Auseinandersetzung mit diversen menschlichen Phänomenen, angefangen von Wahrnehmungs- und Denkleistungen über Emotionen und Handlungsteuerungen im Zusammenhang mit Erzählungen und dem Erzählakt. Die Bearbeitung soll vor allem erklären, wie Realität konstruiert und verstanden wird. In seinem Werk Acts of Meaning (1990) plädiert der Psychologe Jerome S. Bruner entgegen der Auffassung von Bedeutung und damit Realität als etwas Gegebenes für ihren Status als rein soziale Konstruktion. Bedeutung als kulturelles Phänomen kann nur durch die Interaktion von Individuen entstehen, die ihre Wirklichkeit stets aushandeln. In der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in narrativer Form und durch die Aushandlung von Bedeutungen über Interpretationsleistungen sieht Bruner die einzige Form kultureller Teilhabe, die notwendigerweise auf sprachliche Mittel angewiesen ist. Bedeutungszuschreibungen und Interpretationen sind durch Kinder erlernte Techniken und gehen mit dem Erlernen des Systems der Sprache einher (vgl. Bruner 1990: 68). In Abgrenzung zu Noam Chomskys nativistischem Ansatz des Language Acquisition Device Models, das von einer angeborenen grammatischen Tiefenstruktur ausgeht (vgl. Chomsky 1959), sieht Bruner die Möglichkeit eines interaktionistisch fundierten Spracherwerbs, der eng an die narrative Aushandlung von Bedeutungen geknüpft ist. Daher rührt die Auffassung, dass der Spracherwerb des Kindes an den Anforderungen der narrativ gestalteten Interpretation von Handlungen ausgerichtet ist: „a ‚protolinguistic‘ readiness for narrative organization and discourse sets the priority for the order of grammatical acquisition“ (Bruner 1990: 80). Obwohl er an keiner Stelle den Identitätsbegriff verwendet, können seine Ansätze zur Beschreibung der narrativen Konstruktion der Person herhalten und auch identitätstheoretisch gelesen werden. Bruner spricht in seinen Studien vielfach vom self, wenn er auf die innerpsychische und sozial konstruierte Struktur von Individuen eingeht. In den deutschen Übersetzungen ist vom Selbst die Rede. Selves sieht Bruner als „outcomes of this process of meaning-construction“ (ebd.: 138), die immer in narrativer Form interaktional hergestellt und ausgehandelt werden. Da die Herstellung des Selbst keineswegs als isolierter, eher als kulturell geteilter Prozess verstanden werden kann, der angewiesen ist auf die Interpretationsleistungen und Bedeutungskonstruktionen anderer Individuen, ergibt sich ein Prozess, den Bruner in Anlehnung an Goodman als „world-making“ (Bruner 1999: 20) bezeichnet. So wird gelebte Wirklichkeit und das Wissen über die Wirklichkeit erst in narrativer Form durch Individuen konstruiert. Objektive Wirklichkeit kann es durch die kulturelle und soziale Einbindung des Individuums und den Prozess der narrativ gestalteten Konstruktion von Wirklichkeit nicht geben, denn „a life is not ‚how it was‘ but how it is interpreted and reinterpreted, told and retold“ (Bruner 2004: 708). In Life as Narrative (2004 [1987]) entwickelt Bruner noch die radikale These, dass jede Realität, das gelebte Leben, menschliche Erfahrungen und Handlungen sowie Identität nichts anderes als Erzählungen
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sind. Die Ansätze finden heftige Kritik aufgrund der „narrative totalization“ (Hyvärinen 2008: 269), die der frühe Bruner proklamiert. Wenn world-making und selfmaking, auch Realität oder Autobiographie nicht einfach passieren, sondern nur Konstruktionen in den Köpfen der Menschen sind, wird es schwer, hier Operationalisierungsmöglichkeiten für empirische Untersuchungen zu finden, weil keine Art von Abgleich mehr stattfinden kann. Wenn die Wirklichkeit narrativ durch die Menschen konstruiert wird und Narrationen lediglich Wahrscheinlichkeiten oder „versions of reality“ (Bruner 1991: 4) sind, bleibt die Frage offen, ob es überhaupt eine empirisch überprüfbare, objektive Wirklichkeit gibt. Es ist ein auch von Bruner erkanntes (vgl. Bruner 2004: 691) phänomenologisches Dilemma, auf das er in späteren Arbeiten relativierend eingeht. Auch wenn es an dieser Stelle so wirken mag, als weiche die Darstellung mehr und mehr von der eigentlichen Frage nach einer möglichen Definition von Identität ab, so führt die interdisziplinäre Öffnung der Forschung zu Individuum, Subjekt, Selbst und Identität der letzten Jahrzehnte nun einmal zu einer Verbindung verschiedenster Theoriebildungen. Sie offenbaren mitunter erst auf den zweiten Blick ihre identitätstheoretische, auf einen dritten Blick ihre sprachbezogene Implikation. Einige Punkte der wahlweise als poststrukturalistisch (vgl. Schüpbach 2008: 40) oder konstruktivistisch bezeichneten Auffassung, dass es keine Repräsentationen einer objektiven Realität geben kann, finden also hier Erwähnung, weil sie den aktuellen Identitätsdiskurs maßgeblich steuern. Donald E. Polkinghorne geht als einer der Wegbereiter der Psychologie des Narrativen auf die Erzählung als grundlegenden Modus des Welt- und Selbstverständnisses ein, um unter anderem die Frage nach der Konstruktion personaler und narrativer Identität zu klären (vgl. Polkinghorne 1991, 1996, 1998). Generell vertritt Polkinghorne nicht die radikale These der nur durch Erzählungen konstruierten Wirklichkeit, für ihn bleibt zu untersuchen, „ob Menschen ihre Erfahrung narrativ konstruieren, während sie sie gerade machen, oder ob die narrative Konstruktion ein reflexiver Vorgang ist, der sich vollzieht, nachdem eine Reihe von Handlungen ausgeführt wurde“ (Polkinghorne 1998: 21, kursiv i.O.). Im ersten Fall würde es bedeuten, dass narrative Strukturen jeder Erfahrung oder Handlung immanent zugrunde liegen und nicht erst mit der Erzählung ihre Form erhalten. Polkinghorne lehnt die Vorstellung einer rein narrativ strukturierten Erfahrungswelt oder der narrativen Form aller Wissensbestände eher ab. Gleichwohl erkennt er die vorsprachliche narrative Qualität von Erfahrungen an, die mithilfe der Verfertigung einer Erzählung ihre Bedeutungsstruktur erhalten: „Narratives Wissen ist demnach eine reflexive Explikation der pränarrativen Qualität unreflektierter Erfahrung, es ist ein Ausbuchstabieren der Geschichte, welche die Erfahrung verkörpert.“ (Ebd.: 23) Das wissenschaftliche Potential einer narrativen Struktur, genauer der Annahme des self als Narration oder Geschichte, liegt für Polkinghorne insbesondere in der Beleuchtung zeitlicher und entwicklungslogischer Dimensionen des Daseins (vgl. Polking-
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horne 1991: 135). Menschen existieren in einem bedeutungsvollen Zeitzusammenhang, der sich auch in der Struktur einer Erzählung finden lässt, da Erzählungen als erzählte Zeit verstanden werden können. So definiert Polkinghorne: „Allgemein betrachtet ist die Erzählung eine Art der kognitiven Strukturierung, welche das Gestaltungsvermögen, die ‚konfigurierende‘ Kraft der Fabelbildung nutzt, um Handlungen und Geschehnisse zu temporalen Ganzheiten zu formen. Dieser Prozess verleiht Ereignissen Bedeutung, indem ihre Rolle in einer Geschichte und ihr Beitrag für den Ausgang dieser Geschichte bestimmt wird.“ (Polkinghorne 1998: 16/17)
Die Merkmale einer Erzählung sind laut Polkinghorne notwendige Bedingungen, um von der reinen Repräsentation einer gelebten Wirklichkeit durch das Individuum Abstand nehmen zu können. So arbeitet die Erinnerung als Rekonstruktion sowohl mit der Fähigkeit des Gedächtnisses als auch mit den Mitteln der Fabelkomposition, während die narrative Strukturierung dazu beiträgt, mithilfe von kulturell verfügbaren Plots und Maßnahmen der „Glättung“ (ebd.: 25) kohärente Zusammenhänge des Lebens oder auch nur einer Episode zu schaffen (vgl. ebd.: 24–26). Der Prozess des „emplotments“ (Polkinghorne 1991: 141), des Zusammenfügens einzelner Ereignisse durch die Erzählung, den Ricœur als „Synthesis des Heterogenen“ (Ricœur 1988: 106) bezeichnet, stellt den unabdingbaren Modus zur Vereinigung von disparaten oder widersprüchlichen Ereignissen dar (vgl. ebd.: 106). Auch hier wird der konstruktive, interpretative und retrospektive Charakter narrativer Prozesse deutlich. Dasselbe gilt für den Identitätsbegriff, wenn Polkinghorne konstatiert, „daß Identität eine geschichtenförmige Konstruktion ist und als SelbstErzählung einer Person präsentiert wird“ (Polkinghorne 1998: 33). An dieser Stelle wird kaum deutlich, ob Identität dennoch eine Form vorsprachlicher Existenz hat, da sie als Konglomerat disparater Ereignisse, die erst durch die Narration synthetisiert werden, beschrieben wird. Interessant erscheint sein vorgestelltes Paradigma, dem zufolge das self als übergeordnete Kategorie von Identität erscheint (vgl. Polkinghorne 1991: 143). Das narrativ strukturierte self, also das Leben als ein Ganzes, erbringt erst durch seine Form die personale Identität, die sich in die Aufzählung von individueller Existenz und Charakter einreihen muss. Mit William James geht Polkinghorne davon aus, dass das self keine präfigurierte Existenz besitzt, die unter einer Oberfläche schwelt und entdeckt werden will (Polkinghorne 1988: 149). Das self wird in der Interaktion mit anderen Personen und durch die Spiegelung der eigenen Person konstruiert: „The concept of self is not the discovery or release of some innate ‚I‘, it is a construction built on other people’s responses and attitudes toward a person and is subject to change as these responses, inherently variable and inconsistent, change in their character.“ (Ebd.: 150)
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Auf den angestrebten stringenten und einheitlichen Charakter des self und der personalen Identität geht Polkinghorne an mehreren Stellen ein: „In order to come to a unified and concordant self concept and personal identity, then, the person needs to synthesize and integrate the diverse social responses he or she experiences.“ (Ebd.: 150) Die Konstruktion der personalen Identität ist auf Selbst-Erzählungen angewiesen, wobei diese nicht nur vergangenheitsbezogen sind: „Identity consists not simply of a self-narrative that integrates one’s past events into a coherent story, however. It also includes the construction of a future story that continues the ,I‘ of a person.“ (Ebd.: 107) Personen loten über die Selbst-Erzählungen auch Möglichkeiten ihrer zukünftigen Version aus, sie antizipieren oder teilen sich und anderen Wünsche mit. Die Produktion jener „Was-wäre-wenn-Szenarios“ (Polkinghorne 1998: 37; kursiv i.O.) hat im Hinblick auf handlungsleitende Konsequenzen eine wichtige psychologische Funktion in der menschlichen Erfahrungsorganisation. Die gemäßigte Position Polkinghornes in der Frage, ob alle Erfahrungen vorstrukturiert sind oder erst im Nachhinein durch die narrative Präsentation ihre Struktur erhalten, kann durch die Annahme zumindest einer pränarrativen Qualität von Erfahrungen beschrieben werden. Dass Identitätsbildung in Polkinghornes Theorie auf die Sprache angewiesen ist, liegt in der Natur des erzählerisch gestalteten Konstruktionsprozesses. Die sprachlichen Mittel werden sowohl in der vergangenheitsbezogenen als auch der zukunftsorientierten Selbst-Erzählung bemüht und in ihrer Vielfältigkeit genutzt. Identität und self kann es vor dem eigentlichen Sprachakt nicht geben, sondern sie werden erst im Moment der Erzählung konstruiert. Raum-Zeit-Beziehung des Seins Polkinghorne rekurriert maßgeblich auf die Ansätze des Philosophen Paul Ricœur, der sich in dem äußerst verdichteten, dreibändigen Werk Temps et récit (1983–1985) aus phänomenologisch-hermeneutischer Perspektive mit Prozessen der Erfahrungsorganisation, Zeit, Narrativität und Identität auseinandersetzt. Dass Identitätsdiskussionen zwangläufig auch um das Thema der Zeit, des Zeitdenkens und der Zeiterfahrung kreisen, ist der Anerkennung des Seins in einer Raum-Zeit-Beziehung geschuldet. Der Mensch existiert als synchrones und diachrones Wesen grundsätzlich unter den Bedingungen zeitlicher Veränderungsprozesse, die sowohl seine Person als auch die Umgebung charakterisieren. Zudem lässt sich ein zeitliches Verhältnis bestimmen zwischen der erlebten oder antizipierten Erfahrung und der Erinnerung, die als Erzählung Gestalt annimmt. Erzählungen stehen automatisch in zweifacher Beziehung zur Zeit, denn sie beziehen sich auf Vergangenes oder Zukünftiges und gleichzeitig vergegenwärtigen sie Vergangenes oder Zukünftiges. Zeitdifferenz wird vorausgesetzt und ist Motor der Erzählung, sie wird aber auch in actu überwunden. Die transtemporale Perspektive erschwert die Suche nach einer Begriffbestimmung
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insofern, als sie einen den Veränderungen trotzenden invarianten Identitätskern eigentlich negieren muss. Die philosophische Auseinandersetzung Ricœurs mit der Zeit kann hier nicht im Einzelnen besprochen werden, allerdings muss das Konzept der narrativen Identität (2005 [1987]) aufgrund der Anschlussfähigkeit an die Untersuchung Erwähnung finden. Die Überlegungen zu einer narrativ verfassten Identität sollen in Temps et récit insbesondere eine Antwort auf die dreifache „Aporetik der Zeitlichkeit“ (Ricœur 2007: 15) bieten. Die erste scheinbar ausweglose Problematik der Zeit zeigt sich in der Koexistenz von subjektiver und objektiver Perspektive auf die Zeit, die nicht vereint werden können. Eine private und eine öffentliche, eine erlebte und eine chronologische Zeit stehen einander unvereinbar gegenüber (vgl. Römer 2010: 254). Die zweite Aporie bezieht sich auf die Annahme, dass es eine einzige und einheitliche Zeit gibt, während die dritte und bedeutendste Aporie in der Uneinholbarkeit der Zeit durch das Denken besteht. Zeit kann Ricœur zufolge nicht gedacht und daher auch kaum erforscht werden. In die Untersuchungen zur Überwindung der Zeitaporien ist immer auch eine Bestimmung des Identitätsbegriffs eingeschrieben. Identität, Zeit und Erzählung hängen, wie gezeigt werden soll, untrennbar zusammen und sie stehen in wechselseitigem Bedingungsgefüge. Der Anspruch Ricœurs liegt in der Auflösung der Zeitproblematiken. Er entwickelt das Konzept der narrativen Identität als Moment personaler Identität und als Lösung der ersten Aporie, indem er die erzählte Zeit einem Brückenschlag über die „Bruchstelle“ (Ricœur 2007: 392) zwischen phänomenologischer und kosmologischer Zeit gleichsetzt. In Soi-même comme un autre (1990, Das Selbst als ein Anderer 1996) wird der Gedanke von narrativer Identität zur „zentralen Achse“ (Römer 2010: 12), da die narrative Perspektive auf die Konstruktion der Person in Temps et récit nach eigenen Worten unausgereift auftritt (vgl. Ricœur 1996: 142). Hier führt er seine Ideen zu den einzelnen Bedeutungsebenen des Identitätsbegriffs weiter aus und erarbeitet ein Plädoyer für die zeitliche Dimension in identitätstheoretischen Überlegungen als Bearbeitung der „bedeutendste[n] Lücke“ (ebd.: 141) vorangegangener Arbeiten. Die Bestimmung personaler Identität ist einzig unter der Prämisse der Zeitperspektive des menschlichen Daseins zu vollziehen. Aus dem Zusammenhang mit dem Prinzip der „Beständigkeit in der Zeit“ (ebd.: 146, kursiv i.O.) bezieht sie aber auch ihr größtes Problem. Ricœur geht zunächst auf die Bedeutungsebenen des Identitätsbegriffs ein, denn „die wahre Natur der narrativen Identität offenbart sich [s]einer Auffassung nach nur in der Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit“ (ebd.: 173). Identität umfasst hier die Kategorien der Selbigkeit (idem) und der Selbstheit (ipse). Unter Selbigkeit ist zu verstehen, dass Dinge sich gleichen, sie sind beständig und in der Zeit unveränderlich. Selbigkeit kann demzufolge numerisch qualifiziert werden, ein Ding kann identifiziert und reidentifiziert werden. Diese idem-Identität bezeichnet das sich seiner bewusst seiende Ich. Sie kann ebenso eine qualitative Konstante darstellen, die „größtmögliche Ähnlichkeit“ (ebd.: 145) bezeichnet, ein im Hinblick auf Zeitge-
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schehen ziemlich schwaches Kriterium. Idem-Identität bezieht sich vor allem auf den in der Veränderlichkeit der Zeit stets gleichbleibenden Kern einer Person. Doch die Zeit ist auch die stärkste Bedrohung für die Selbigkeit, da sie die Kontinuität, auf die der gleichbleibende Kern angewiesen ist, gefährden kann. Ricœur verdeutlicht das Dilemma: „Wie aber könnte das Selbst höchst ähnlich bleiben, wenn nicht irgendein unveränderlicher Kern in ihm sich der zeitlichen Veränderung entzöge? […] Nichts in der inneren Erfahrung entgeht der Veränderung. Die Antinomie scheint zugleich unausweichlich und unlösbar. Insofern unausweichlich, als die Verwendung desselben Namens zur Bezeichnung einer Person, von ihrer Geburt bis zu ihrem Tode, die Existenz eines solchen unwandelbaren Kerns zu implizieren scheint. Die Erfahrung der körperlichen und geistigen Veränderung jedoch widerspricht einer solchen Selbigkeit.“ (Ricœur 2005: 210)
Ricœur bietet mit der Selbstheit ein weiteres strukturelles Identitätsverständnis an, um dieser Gefahr auszuweichen. Selbstheit oder die ipse-Identität meint eine qualitative Größe, die „keinerlei Festlegung in Bezug auf die Permanenz, die Beständigkeit, die Beharrlichkeit in der Zeit“ (ebd.: 209, kursiv i.O.) beschreibt. Dieser Begriff impliziert Veränderung und Bewegtheit in der Zeit. Mit der Auffassung von Identität als Selbstheit, der insbesondere das Merkmal der Zeitlichkeit im strukturellen Aufbau schon inhärent ist, kann genereller Zeitlichkeit Rechnung getragen werden. Es beschreibt das „Sich-zu-sich-Verhalten“ (Kofler 2012: 37, kursiv i.O.), einen reflexiven Prozess innerhalb und mit der Zeit, der die idem-Identität, also das „Mit-sichselbst-identisch-Bleiben“ (ebd.: 38, kursiv i.O.) bedingt. Hier spielt die Erzählung als erzählte Zeit für die Konstruktion des Selbst die entscheidende Rolle. Das Erzählen bewirkt nach Ricœur die Verschränkung von kosmologischer Weltzeit und phänomenologischer, menschlicher Zeiterfahrung. Zwischen idem und ipse findet eine narrative Vermittlung statt. In jeder Erzählung desselben Ereignisses, auch eines gesamten Lebens, wird Vergangenheit neu bewertet und geordnet. Die erzählte Zeit kann kreativ und innovativ umgedeutet werden, sie ist in keinem Fall die Kopie der vormaligen Erzählung oder etwa das Abbild des tatsächlichen Geschehens (vgl. Ricœur 2007: 7). So hat die Erzählung eine ordnungsstiftende Funktion in ihrem praktischen Vollzug – Ereignisse werden je nach aktuellem Status interpretiert, verknüpft, angeordnet und präsentiert, ähnlich wie bei der Komposition einer Fabel, mit der Ricœur den Akt der Herstellung narrativer Identität umschreibt (vgl. ebd.: 7). Das Besondere an der Fabelkomposition ist ihre Fähigkeit, scheinbar Unvereinbares zu vereinen und in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Dies wird deutlich, wenn Elemente einer Erzählung so angeordnet werden können, dass Figuren in Geschichten durchaus mörderische Gestalten sein können, aber aufgrund ihrer sozialen Determination einen Opferstatus innehaben und in der Rezeption Mitleid erregen können (vgl. Römer 2010: 296). Der Vorteil der Erzählung besteht für den Men-
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schen nun in der Sinnstiftung, die er selbst durch die Anordnung der Elemente bestimmt. Durch jenen Akt der Konfiguration, also der „Kompositionskunst […], die zwischen Konkordanz und Diskordanz vermittelt“ (Ricœur 1996: 174), schafft die Fabel jene bereits angesprochene Synthese des Heterogenen, die es auch durch das Individuum zu meistern gilt. Ricœur geht von der narrativen Identität einer Fabelkomposition zur Identität der Figur über, die er als narrativ qualifiziert. Das Selbst wird die quasi-fiktive Figur in der Narration, denn „der entscheidende Schritt in Richtung einer narrativen Auffassung personaler Identität ist mit dem Übergang von der Handlung zur Figur getan“ (ebd.: 176). Ricœur vertritt die These, dass die Figur jene kompositorischen Merkmale ihrer Geschichte auf sich selbst anwendet und so „zum Gegenstand einer Fabelkomposition wird“ (ebd.: 176). Sie ist der steten Interpretation unter den Bedingungen zeitlicher Veränderungen unterworfen. Eine Person kann sich in diesem Zusammenhang immer auch selbst interpretieren, einen Identitätswandel aufdecken, sich der Entwicklungsgeschichte ihrer eigenen Handlungen und Deutungen bewusst sein und so über die Zeit hinweg Kontinuität beanspruchen. Da Zeit durch diese Möglichkeit erzählbar wird, ist menschliche Zeiterfahrung nur als konfigurierte Zeit in der narrativen Gestalt zugänglich. Die Identität, die sich aus der narrativen Praxis ergibt, kann mit Ricœur als narrative Identität bezeichnet werden. Sie entsteht durch die narrative Konfiguration und gleicht der Form der Erzählung. So definiert Ricœur: „Eine Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.“ (Ebd.: 182)
Narrative Identität verbindet so auch die zwei grundlegende Aspekte des Identitätsbegriffs, die Selbstheit und die Selbigkeit, da sie auf den Momenten der Veränderung und Permanenz gründet. Die Selbstheit in ihrer zeitlichen Dynamik entspricht kraft ihrer Temporalstruktur der poetischen Komposition eines narrativen Textes (vgl. Ricœur 2007: 396) und kann stets neu gedacht und geschrieben werden. Sie ist die temporal-reflexive Struktur einer Person, während die Selbigkeit als Gleichheit des Kerns der Zeit trotzt. Eine Geschichte kann lediglich in dieser Dialektik bestehen und trägt damit auch der Dynamik des Lebens einer Person Rechnung. Es bedeutet aber auch, dass narrative Identität „keine stabile und bruchlose Identität ist“ (ebd.: 399), denn durch jede Neufassung oder Rekomposition ergibt sich eine andere Erzählung mit einer anderen Identität, die wiederum eine andere Identität der Person als zuvor erschafft – „genauso wie man verschiedene Fabeln bilden kann, die sich alle auf dieselben Vorkommnisse beziehen, […] genauso kann man auch für sein eigenes Leben stets unterschiedliche, ja gegensätzliche Fabeln ersinnen“ (ebd.: 399). Der transitorische Charakter, den auch Straub und Renn für den Identitätsbegriff
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annehmen, findet bei Ricœur die Formulierung: „So gesehen ist die narrative Identität in ständiger Bildung und Auflösung begriffen.“ (Ebd.: 399) Daher kann als wesentliches Merkmal narrativer Identität gelten, dass sie prinzipiell unabgeschlossen, dynamisch, situiert, perspektivisch, kontext- und zeitgebunden vorkommt. Neurobiologische Ansätze Neueste Erkenntnisse des Schiller Laboratory of Affective Science in New York etablieren die bisher in der Fachwelt eher ignorierte Annahme der ständigen Veränderung gedächtnisbezogener Prozesse aus biologischer Perspektive. Forschungen der Neurowissenschaftlerin Daniela Schiller belegen, dass Erinnerungen keine starren, neuronalen Spuren im Gehirn sind, die stets als „timeless narrative of an earlier event“ (Hall 2013: MIT TR) zum Ausdruck kommen. Erinnerungen werden jedes Mal durch die Aktivierung der Speicherprozesse umgeschrieben, sie stellen formbare Konstruktionen dar, die je nach Beteiligung beispielsweise von Angstarealen anders gestaltet sind und auch manipuliert werden können. Die Hervorbringung einer Erinnerung ist demnach keine Arbeit am ursprünglichen Geschehen, sondern das Bearbeiten der gespeicherten Inhalte. Es sind Geschichten, die Menschen bezüglich eines Ereignisses entwerfen, also individuelle Konstruktionsleistungen: „Every memoir is fabricated, and the past is nothing more than our last retelling of it. Archival memory data is mixed with whatever new information helps shape the way we think – and feel – about it.“ (Ebd.: MIT TR) Schiller geht davon aus, dass das Gedächtnis durch die Neukomposition einen flüchtigen und situativen Charakter hat: „My conclusion […] is that memory is what you are now. Not in pictures, not in recordings. Your memory is who you are now.“ (Schiller zit. nach Hall 2013: MIT RT) Ferner sieht sie in der narrativ verfassten Erinnerung eine Möglichkeit, sie von ihrem ephemeren Status zu befreien und in einen dauerhaften Bestand zu überführen, denn „memory is best preserved in the form of a story that collects, distills, and fixes both the physical and the emotional details of an event. “ (Hall 2013: MIT TR) Hier sollte allerdings beachtet werden, dass Narrative ebenfalls durch jede Rekomposition eine neue Gestalt erhalten und nicht ausreichend geeignet sind, Erinnerungen ein für alle Mal verlässlich zu fixieren. Eine Forschungsgruppe der Universität Birmingham und der MRC Cognition and Brain Sciences Unit in Cambridge hat zudem durch Beobachtung von Hirnaktivitäten herausgefunden, dass der Prozess des Erinnerns mit dem des Vergessens eng gekoppelt ist: „Pattern suppression was related to engagement of prefrontal regions that have been implicated in resolving retrieval competition and, critically, predicted later forgetting.“ (Wimber et al. 2015: 582) Indem bestimmte Aspekte beim Erinnerungsprozess unterdrückt werden können, werden sie aktiv vergessen und sind fortan nicht mehr zugänglich. Das so beschriebene selektive Gedächtnis überschreibt vorzugsweise konkurrierende Erinnerungen, die anderen Erinnerungen dann Platz
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machen können (vgl. ebd.: 588). Es handelt sich bei der Gedächtnisarbeit also um ein dynamisch alternierendes Zugänglichkeitssystem, das beeinflussbar und instabil ist. Die sich in den Neurowissenschaften allmählich durchsetzende Auffassung der Instabilität des Gedächtnisses sowie die Beweisführung über Gehirnforschungen können eine Theorie des momentanen Entwurfs einer Person durchaus stützen. In einer Theorie des narrativen Selbst, das sich erst im Erzählen und durch Erzählungen konstruiert, scheint ihr flüchtiger Charakter die Bestimmung der Identität einer Person besonders zu erschweren. Die zeitliche Dimension des Lebens macht Identität zu einer diachronen Identität, die durch ihre narrative Struktur von Erzählungen und dem Akt des Erzählens abhängt. Stimmen gegen die Annahme einer narrativ verfassten Identität werden insbesondere aufgrund des kreativen Charakters der Selbstkontinuierung laut, die das tatsächliche Selbstverhältnis einer Person verhüllen würde. Der Kritik kann entgegengehalten werden, dass ein realistisches Abbild der Person, also auch die tatsächliche Identität, allenfalls ein Produkt ist, das als Summe von interpretationsgebunden Konstruktionsleistungen gesehen werden muss, und zudem innerhalb einer Erzählung lediglich Ausschnitte präsentiert werden können. Der philosophische Ansatz Ricœurs zur narrativen Konstruktion von Identität unterscheidet sich in einem für diese Arbeit grundlegenden Merkmal nicht von sozialwissenschaftlichen oder psychologischen Theoriebildungen zur narrativ verfassten Identität: Der Erzählakt ist unumgänglich an menschliche Sprache gebunden. Narrative Identität ist als praktisches Selbstverhältnis zu begreifen, sie ist eine aktive, sprachlich geäußerte und situationsgebundene Konstruktionsleistung des Individuums, das sich kraft seiner Fähigkeit zur Reflexion zugleich zu Subjekt und Objekt machen kann. In ihrer Bindung an sprachliche Äußerungen, auf die jede Theorie von Narrativität fußt, kann die Ausarbeitung Ricœurs für die vorliegende Untersuchung als Basis dienen. Die Möglichkeiten der Operationalisierung narrativer Ansätze im identitätstheoretischen Diskurs für empirisch gestützte Studien sollen in den folgenden Kapiteln näher untersucht werden. Dem vorgegebenen Rahmen und der fachwissenschaftlichen Ausrichtung dieses Bandes ist es geschuldet, dass hier nur ein Überblick über die Tendenzen der Identitätsforschung gegeben werden konnte. Es ist kaum möglich, den Identitätsbegriff disziplinübergreifend zu definieren oder auf bestimmte Strömungen zu fixieren. Daher dient dieses Kapitel einer Orientierung, die mindestens jene Aspekte philosophischer, psychologischer, sozialwissenschaftlicher und soziologischer Identitätsauffassungen beleuchtet, die für eine soziolinguistische Untersuchung Anschlussfähigkeit aufweisen. Dabei sollte nicht unterschlagen werden, dass jede Identitätstheorie und jede Identitätsdebatte sich in gesellschaftlich-epochal gebundene und fachspezifische Diskurse einschreiben und so als Repräsentanten von Zeit und Zunft gelesen werden können. In der Betrachtung verschiedenster Identitätsauffassungen zeigt sich, wie gesellschaftliche Bedingungen und die soziale sowie soziokulturelle Ein-
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bindung des Individuums die Entwicklung seiner Identität beeinflussen. Zu keiner Zeit fand eine Identitätstheorie, die den Menschen als soziales Wesen vollkommen negiert, Eingang in die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Dass sich Identität innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens bildet, ist in der sozialpsychologischen Theorie Eriksons durch die Einbettung von psychosozialen Modalitäten und Elementen der Sozialordnung in das Phasenmodell erkennbar. Die Integration psychologischer und soziologischer Erkenntnisse verhilft Erikson zu der Anerkennung, für die bei aller Kritik die andauernde Beschäftigung mit seiner Theorie Ausdruck ist. Die einzelnen Entwicklungsstufen und Phasenüberlappungen sowie das Bild der proteischen Persönlichkeit können zumindest in Ansätzen für die Möglichkeit flexibler Identität sprechen, sodass eine Verabschiedung von seiner Theorie als verfrüht erscheint. Der Rückgriff auf Blumers Ausarbeitungen zum Prozess von Bedeutungszuschreibungen, die als Grundlage jeder Handlung anzusehen sind, sollte die theoretische Verortung des Identitätsmodells seines Lehrers Mead verdeutlichen. Mit der Einführung der binären self-Struktur verweist Mead auf intrapsychische Bedingungen und sozial angetragene Erwartungen, die die Identitätsbildung gleichermaßen steuern. Er betrachtet Identität als Resultat symbolvermittelter Interaktion und begreift den Einfluss der menschlichen Sprache auf den Prozess der Identitätsbildung als wesentlichen Faktor. Zudem vertritt er stellenweise die sehr aktuelle Auffassung der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Die konstruktivistische Perspektive nimmt auch Goffman in seinen Überlegungen zum Stigma ein, in denen er auf empirischer Grundlage die Pole menschlicher Normalität und Abweichung untersucht. Die Bildung der Ich-Identität findet hier im kreativen Prozess des Austarierens von antizipierter und tatsächlicher Identität statt, in dem es wahlweise zur Angleichung an Normen und Konformität oder Abweichungsverhalten kommt. Ähnlich beschreibt Strauss, dass das antizipierte Urteil der gesellschaftlichen Umgebung als Motor der Identitätsausbildung gilt. Er geht von einem Persönlichkeitskern aus, der situationsspezifischen Variationen unterliegt und durch biographisch bedingte Veränderungen zu interaktivem Handeln in der Lage ist. Goffman, Strauss sowie Krappmann mit seinem sozial-konstruktivistischen Modell der balancierenden Ich-Identität erkennen die Bedeutung der Sprache für die Prozesse der konstruktiven Ausgestaltung von Identität. Insbesondere die flexible Umgangssprache entspricht der Wandlungsfähigkeit in transformatorischen Prozessen der Identitätsbildung und kann auch den widersprüchlich auftretenden Identitätsdarstellungen Rechnung tragen. Letztlich scheint Identität hier jedoch eine vorsprachliche Existenz zu haben. Das Keupp’sche Identitätsmodell bezieht gesellschaftliche Veränderungen in weit stärkerem Ausmaß ein, um angesichts der Bedrohung von Konsistenz und Kontinuität durch sogenannte postmoderne Lebensentwürfe eine adäquate Alternative zu bieten. Der bildreiche Ansatz vom pluralen Selbst, das in alltäglicher Passungsarbeit eine multiple Identität entwickeln kann, wird mithilfe der Patchworkmetapher be-
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schrieben. Die Identitäten einer Person sind laut Keupp das Resultat von alltäglichen und kreativen Konstruktionsleistungen. Sprache nimmt einen besonders hohen Stellenwert ein, basiert doch die Verknüpfung der Teilidentitäten auf einer sprachlichen Konstruktion. Ein ähnliches plurales Identitätsmodell wird von Bilden vorgeschlagen. Da für die Sozialpsychologin Personen als Systeme aus vielfältigen Teil-Selbsten erscheinen, bedarf es der Verknüpfungsarbeit, die im Austausch mit der sozialen und kulturellen Umwelt stattfindet. Zwar benennt es Bilden nicht so explizit, aber der Austausch, die Interpretation und Integration von Erfahrungen in das Subjekt geschehen unter anderem selbstreflexiv über das Medium Sprache. Ob Bilden allerdings vorsieht, dass ein Teil-Selbst nur über Sprache konstruiert wird, ist anhand ihrer Ausführungen nicht erkennbar. Kritisiert werden die pluralen Modelle aufgrund ihrer Ankündigung, Konzeptionen der auf Einheitlichkeit basierenden Identität überwinden zu wollen. Letztlich sollen Kontinuität und Konsistenz, demnach zeitübergreifende Einheitlichkeit des Subjekts aber innerhalb der Identitätsarbeit wieder hergestellt werden. Der komplizierten Perspektive von Zeitlichkeit und Veränderung im Hinblick auf die über die Lebensdauer zu erhaltende Einheit des Individuums weichen verschiedene Autorinnen unter Zuhilfenahme von balancierenden oder pluralen Modellen von Identität eher aus. Diesem Missverständnis begegnen Vertreter sprachbezogener Ansätze wie Straub, Bruner, Polkinghorne und Ricœur durch die Annahme einer friedlichen Koexistenz von einheitlicher Struktur des Selbst und kontingenter Wirklichkeit, die in der formaltheoretischen Definition von dauerhaft im Prozess befindlicher, narrativer oder transitorischer Identität ihren Ausdruck findet und auf das kommunikative Selbstverhältnis einer Person abhebt. Ihrer Position wird in dieser Studie gefolgt. Die Unterscheidung von einem qualitativen und einem formaloder strukturtheoretischen Identitätsbegriff erscheint hier als wichtiges Merkmal in identitätsbezogenen Überlegungen. Qualitative Identitätsaspekte zielen auf Zuschreibungen, Rollen, Zugehörigkeiten oder Bewertungen, während der strukturoder formaltheoretische Begriff nach der persistenten Einheit der Person fragt. Allerdings sollten in einer datengestützen Untersuchung zur Identität diese Aspekte keinesfalls ausgeklammert werden, da sie die Lebenswirklichkeit des Individuums maßgeblich dominieren, jedewede Interpretationsleistung und so auch den Konstruktionsprozess steuern. Insofern sind die qualitativen Identitätsaspekte mit den Annahmen eines struktur- oder formaltheoretischen Begriffs unbedingt analytisch in ein Verhältnis zu setzen. Identität wird in Analogie zum Dasein des Menschen unter zeitlichen Bedingungen als temporalisierte und diachrone Struktur aufgefasst, die allein durch sprachliche Handlungen konstruiert wird. Es lassen sich zwar Unterschiede in den besprochenen Theorien finden, dennoch zeigen sie durch die Konzentration auf Erzählungen ein konsensfähiges Merkmal. Die Autorinnen erheben den Akt des Erzählens zum interpretations- und bedeutungsgebundenen Modus des Weltverstehens und der aktiven Selbstkontinuierung, durch den Zeitdifferenz
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artikuliert und heterogene Erfahrungszustände bearbeitet werden können, es entsteht biographische Kontinuität. Das Genre der Erzählung hält als wissenschaftliches Untersuchungsgebiet zunehmend Einzug in die psychologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Identitätsforschung und konkurriert hier mit der Auffassung vorsprachlich existenter Identität. So erscheinen Sprache und Sprechen als identitätskonstitutive Elemente in jenen Theorien, die Narration als ordnungs- und sinnstiftendes Handeln begreifen. Es versteht sich von selbst, dass Ansätze zur erzählerisch konstruierten Identität auf früheren Erkenntnissen und Modellen interaktionistischer Identitätsvorstellungen basieren, in denen Identitätsbildung innerhalb interaktiver Handlung immer an Bedeutungszuschreibungen geknüpft ist. Auch in Überlegungen zur Narrativität, zum sprachlich verfassten Selbst und dialogisch ausgehandelter Identität geht es beispielsweise im Mead’schen Sinne des interaktionistischen Paradigmas um einen Anderen, der Erwartungen hegt und in der Erzählerin Handlungsorientierungen auslöst. Der ko-konstruktive Charakter von kommunikativ gestalteter Identitätskonstruktion wird später noch genauer besprochen. Obwohl Ricœurs Ansatz der narrativen Identität in der Rezeption eher wenig Beachtung gefunden hat, darf er in einer Darstellung aktuell gängiger Identitätstheorien aufgrund der Verschränkung von Identität, Zeit und Erzählung nicht fehlen. Identität muss in Anerkennung des Menschen als diachrones Wesen vor allem unter der Perspektive von Zeitlichkeit betrachtet werden, da die wenigen der Zeit trotzenden Identitätsmarker zur Identifizierung einer Person den Identitätsbegriff einschränken. Identität ist kein unveränderlicher Besitzstand, keine starre Datenlage, sondern vielmehr das Produkt einer Verknüpfungsleistung, die maßgeblich auf das Sprachvermögen angewiesen ist. Die narrative Identität ergibt sich aus der ständigen Refiguration einer Lebensgeschichte und ist als stets nur vorläufiges Resultat des Erzählzusammenhangs zu sehen. Wenn eine Person sich selbst erzählt, muss sie sich auch auf die verschiedenen Zeitbezüge einlassen, von Vergangenem oder Zukünftigem erzählen, erinnern und antizipieren, sich zur Handlungsträgerin und Erzählerin machen und in zeitlicher Dimension eine Entwicklungsgeschichte kognitiv strukturieren. Sie ist einerseits die Figur der Erzählung, andererseits im Hier und Jetzt des Erzählaktes präsent. Identitätskonstruktion So schwer es auch sein mag, eine Definition zu formulieren, können einige Merkmale von Identität in Anlehnung an einen konstruktivistischen und interaktionalen Zugang zunächst fixiert werden und als Grundlage weiterer Überlegungen dienen:
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Identität ist eine temporale, dynamische und kontextualisierte Struktur. Sie beschreibt die durch eine Person synthetisierte Einheit von Heterogenität, basierend auf Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz. Sie ist situativ im steten Auf- und Abbau begriffen. Identität hat keinen vorsprachlichen ontologischen Status oder wird lediglich repräsentiert. Identität als Selbstkontinuierung wird innerhalb von sprachlich-kommunikativen Akten konstruiert, die Erfahrungsorganisation und Handlungsorientierung bewirken. Sie ist als reflexives und kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis einer Person per definitionem sprachabhängig. Abbildung 2: Modell der Identitätskonstruktion
Quelle: Eigene Darstellung
Das vorgestellte Modell der Identitätskonstruktion bildet dieses reflexive und kommunikative Selbst- und Weltverhältnis unter Berücksichtigung der verschiedenen Konstruktionselemente ab. Es fokussiert dabei die momentane Leistung des praktischen Vollzugs. Es soll also nicht rigide von links nach rechts gelesen, sondern auf einen Blick interpretiert werden, da alles gleichzeitig und in ständiger Wechselwirkung geschieht. Alle hier aufgeführten Faktoren unterliegen immer dem zeitlichen Moment, einem Augenblick, in dem der konstruktive Prozess stattfindet. Die in der Lebenswirklichkeit und Erfahrungswelt einer Person vorhandenen Aspekte, beispielsweise Interessen, Alter, vergangenheitsbezogenes und antizipiertes Erleben oder berufliche Tätigkeit, sind einerseits als vielfältige Einflussfaktoren auf einen sprachlich-kommunikativen Konstruktionsprozess von Identität zu verstehen, andererseits basierend auf einem solchen in Synthetisierungsleistungen ausgehandelt worden. Das im Modell in der Mitte angesiedelte Setting des Konstruktionsprozes-
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ses ist von diesen Aspekten beeinflusst, ergibt sich in Wechselwirkung aber auch aus ihnen. Beteiligte Interagierende, die Zeit im Sinne von der Dauer des kommunikativen Aktes, aber auch im Sinne von Tageszeit, die thematische Ausrichtung des Kommunkationsprozesses oder die Form der Kommunikation – ob es sich um einen inneren Monolog oder ein Gespräch oder eine längere Narration handelt –, bestimmen neben allen anderen denkbaren Faktoren den Prozess. Als formbare Konstruktion ensteht Identität zu diesem einen bestimmten Zeitpunkt, ist als dynamische und hier organisch anmutende Struktur wieder Voraussetzung für die Lebenswirklichkeit und Erfahrungswelt der Person. Die vorangegangene Darstellung verschiedener Identitätstheorien, -modelle und -debatten wirft unter Einbeziehung des ersten Fragenkomplexes und im Hinblick auf weitere Überlegungen folgende Fragen auf: 8. 9.
10. 11.
12. 13. 14.
Welche Operationalisierungsmöglichkeiten für eine datengestützte Studie ergeben sich aus den vorgestellten Ansätzen zur Identität? Wie kann der struktur- oder formaltheoretische Identitätsbegriff empirisch überprüft werden, wenn Aussagen zu einem qualitativen Identitätsaspekt keinen Hinweis auf die strukturelle Verfasstheit von Identität bieten? Gibt es eine Möglichkeit, Generalisierungen, also subjektübergreifende Beschreibungsangebote einer flüchtigen und vorläufigen Konstruktion zu liefern? Wie kann bewiesen werden, dass Sprache in der Identitätsbildung eine konstitutive Funktion aufweist und Identität keinen vorsprachlichen Status einnimmt? Welche Art von Erzählung ist in narrativistischen Identitätsvorstellungen gemeint? Was ist Sprachidentität und kann ihre Konzeption einen Platz in diesem theoretischen Gefüge einnehmen? Wie wird Identität von den Hugenottennachfahren konstruiert, welche Rolle spielt die französische Sprache?
2.3 IDENTITÄT IN DER LINGUISTIK Terminologische Verwirrspiele sind in keiner Wissenschaft unüblich und vielleicht muss das auch so sein, damit nachfolgende Generationen sich überhaupt erst erzürnen und innovativ werden können. Kein Begriff ist hier wirklich geschützt und wird hinter verschlossenen Türen aufbewahrt, niemand hat die Deutungshoheit über eine Definition. Daher fällt es umso schwerer, eine verlässliche Aussage auch über den Begriff der Sprachidentität zu treffen. Sicher ist auch die Definition eines sich schon im Umlauf befindenden Begriffs umstritten, das Verfahren wird zumeist als metho-
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dische Falle der Kategorienbildung angesehen und abgelehnt. Allerdings konnte gezeigt werden, dass allein für den Identitätsbegriff die definitorischen Kriterien nicht mehr gelten können, die der Bildung des Begriffs Sprachidentität seinerzeit zugrunde lagen. So ist es nur folgerichtig, dass er derselben Prüfung unterzogen und seine Definition neu geschrieben werden muss. Der Zusammenhang von Sprache und Identität wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Etablierung soziolinguistischer Forschung unter variierenden Prämissen verstärkt untersucht. Spätestens seitdem unter anderem Dell Hymes (1962) die schwergängige Sprachsoziologie unter heftiger Kritik aufklärte, dass Sprache von sozialem Handeln nicht zu trennen ist, da eine außersprachliche Wirklichkeit nicht existiert, bleiben auf diesem Grundsatz basierende Untersuchungen in der Linguistik nicht mehr unbeachtet. Einschränkend muss betont werden, dass oft erst eine sprachliche Problemlage wissenschaftliches Interesse erzeugt, während unmarkierte Normalfälle aufgrund ihrer Unauffälligkeit durch die Untersuchungsraster fallen und theoretische Modellbildung seltener stattfindet. Forschungen zum Komplex von Sprache und Identität, Begriffen wie sprachlicher Identität oder Sprachidentität werden daher überwiegend mit der Frage nach der Existenz hybrider Identitäten in Migrationskontexten verbunden. Hier zeigt sich in Analogie zur Identitätsforschung derselbe Impuls, den konfliktträchtige Situationen in den Wissenschaften auslösen und das Spektrum von studienrelevanten Themen hochgradig erweitern. Allerdings widmen sich im Vorfeld nur wenige Arbeiten einer detaillierten Darstellung der verwendeten Begriffe oder Kategorien (z.B. Scharioth 2015: 36). So wird auch der Identitätsbegriff oft bewusst ungeklärt in die Untersuchungen eingegeben, ohne auf das Bedürfnis der Lesenden nach Erleuchtung zumindest hinsichtlich theoretischer Prämissen einzugehen. In der Gesamtschau wird deutlich, dass die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Sprache und Identität oftmals im Hinblick auf einen ganz bestimmten Aspekt verläuft. So entstehen Arbeiten zur ethnischen oder Gruppenidentität im Zusammenhang mit der Sprache der Herkunfts- oder Gastgesellschaft oder zur sozialen Identität im Zusammenhang mit sprachlicher Variation (vgl. z.B. Ammon 1989, Barbour/Stevenson 1998, Androutsopoulos 2001, Erfurt 2003, Coupland 2007, Keim 2007, Wiese 2012). Den Grundstein für die Beschäftigung mit dem Verhältnis von sozialer Identität oder Gruppenzugehörigkeit und Sprache legen insbesondere Arbeiten aus der amerikanischen Forschung. Neben wertneutralen, deskriptiven Beschreibungen von sprachlichen Varietäten in Abhängigkeit von sozialen Einflussfaktoren ist die Debatte um die Kode-Theorie von Bernstein (1973) Ausgangspunkt vieler identitätsbezogener Forschungen. Ausgehend von Kolonialisierungs- und Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts widmet sich die Linguistik dem identitätsstiftenden Merkmal der Sprache in der Annahme, „a shared language [is] the identifying mark of a nation“ (Heller 2005: 1582). Die Arbeit von Le Page und Tabouret-Keller gilt im Bereich von Spra-
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che, Sprachgebrauch und Ethnizität als wichtiger Beitrag zur Identitätsfrage und bietet auch terminologische Differenzierungen an. Dass Sprache nicht nur an Identität gebunden ist, sondern jede Sprachhandlung einem identitären Akt gleichkommt, wird in Acts of identity: Creole-based approaches to language and ethnicity (1985) mittels einer Untersuchung von kreolsprachigen Gruppen westindischer und karibischer Herkunft gezeigt. Den Kernpunkt der Untersuchung bildet die Annahme, dass Sprache nicht nur Beiwerk einer bestimmten ethnischen oder sozialen Gruppe ist, sondern dass Individuen ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wählen und diese Zugehörigkeit durch Sprache ausdrücken (vgl. Le Page/Tabouret-Keller 1985: 5). Im Zuge der pragmatischen Wende in der Linguistik wird somit der Fokus auf die Sprecherin gelegt, das Sprechen wird als soziale Handlung begriffen, die Sprachhandlung und ihre kommunikativen Absichten sind Gegenstand der Untersuchungen zum Sprachgebrauch. Auer sieht im Werk Le Pages und Tabouret-Kellers weniger eine Studie zur Identität „in the traditional sense of the word“ (Auer 2007: 5), eher liegt das Augenmerk auf dem eigentlichen Sprachakt, mit dem scheinbar verlässliche Charakteristika der gewünschten Identifikationsgruppe wie etwa der sozialen Klasse, des Geschlechts oder ethnischer Herkunft verbunden werden (vgl. ebd.: 5). Untersuchungen, die das identitätsbildende Moment in der Sprachhandlung begründet sehen, orientieren sich methodisch oft an der Konversationsanalyse. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit Identitätsbildung im Kommunikationsprozess bildet die ethnomethodologische und konversationsanalytisch angelegte Arbeit von Antaki und Widdicombe in Identities in Talk (1998). Hier wird das identitätsbildende Moment der Sprache in den Augenblick der kommunikativen Interaktion verlegt. Kategoriale Einschätzungen zu sozialem Status, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit sind Antaki und Widdicombe zufolge Identitätszuschreibungen und bestimmen maßgeblich den Verlauf der Konversation (vgl. Antaki/Widdicombe 1998: 3–5). Dass dieser letztgenannte Ansatz keineswegs neu ist, belegt die folgende Aussage von Cook-Gumperz/Gumperz: „Therefore to understand issues of identity and how they affect and are affected by social, political, and ethnic divisions we need to gain insights into the communicative processes by which they arise.“ (CookGumperz/Gumperz 1982: 1) Die Untersuchung zur interaktionalen Kommunikation basiert auf dem Ansatz, dass soziale Prozesse symbolischer Natur sind und diese Symbole nur durch den Sprachgebrauch in der Kommunikation ihre Bedeutung erhalten (vgl. ebd.). Die Prämisse der vorsprachlichen Existenz von Identität stützt die Auffassung von Sprache als reines Transportmedium einer bereits gegebenen Identität – eine Auffassung, an der so krampfhaft festgehalten wird, dass aktuelle Beispiele leicht zu finden sind (Kallmeyer 1994, Keim/Schütte 2002, Keim 2007, Dittmar/Bahlo 2010). Es kann nur gewarnt werden vor der „Auffassung, es gäbe eine 1:1-Entsprechung zwischen feststehenden Identitäten und Sprechstilen oder sprachlichen Varianten“
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(Kresic 2006: 49), denn im Hinblick auf aktuellere identitätstheoretische Annahmen müssen sprachtheoretische Überlegungen neuen Erkenntnissen angepasst werden. Dieser Anpassungsforderung kommen immer mehr Forschende nach (vgl. z.B. Schüpbach 2008, Goebel 2010, Ciepiela 2011, Sdroulia 2012, König 2014). Sie zeigt sich unter anderem in den Ergebnissen, die auf der 48. Jahrestagung des IDS unter dem Titel Das Deutsch der Migranten (2012) präsentiert wurden. Der zugehörige Tagungsband (2013) bündelt Untersuchungserkenntnisse zu migrationsbedingten Sprechweisen und dem Kommunikationsverhalten der aufeinandertreffenden Gruppen (vgl. Deppermann 2013a: 2) im Sinne einer wiederholten Absage an den monolingualen Habitus (vgl. Gogolin 1994). Auf dieser Tagung wird einmal mehr dem aktuellen Diskurs über Migration, Integration, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität Rechnung getragen, greift sie doch ein Thema auf, das nicht nur für die Soziolinguistik, sondern auch politisch brisant und hochaktuell ist. In der Podiumsdiskussion wird der Identitätsbegriff in aktualisierter Form von Ehlich bemüht, wenn es um das Problem der gesellschaftlichen Regulierung von sprachlicher Diversität geht: „Individuell und gesellschaftlich stehen wir vor der Herausforderung einer multiplen Identitätsbildung und das ist kein leichtes Ding. Machen wir uns da keine Illusionen. Diese multiple Identitätsbildung setzt eine Art von praktizierter Alltags-Multikulturalität um, Umgang mit dem Fremden, ohne dass ich mich in meiner Identität gefährdet sehe, durch den Umstand dieser differenzierten Realität, die unsere sprachliche Wirklichkeit heute anstellt und hat.“ (Ehlich 2013: 400)
Die Funktion von Sprache in Identitätsbildungsprozessen sowie jene von Identität in mehrsprachigen Kontexten bleiben in dieser Aussage doch weitestgehend undeutlich – da ist nicht nur die gesellschaftliche Herausforderung, sondern auch Ehlichs Verständnis der Kategorien „kein leichtes Ding“ (ebd.: 400). Unter dem verheißungsvollen Titel Sprachidentität – Identität durch Sprache (2003) erscheinen die Beiträge eines Regensburger Symposiums aus dem Jahr 2002. Sie behandeln sprachpolitische Phänomene angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen von EU-Erweiterung, Sprachkultur, Leitkulturdebatte oder zunehmende Anglizismen in der deutschen Sprache. Der Begriff der Sprachidentität wird in mehreren Dimensionen definiert. So kann Sprachidentität die Identität einer Einzelsprache in Abgrenzung zu einer anderen Sprache darstellen oder die Identität einer Person bezeichnen, die diese in Bezug auf ihre Sprache besitzt (vgl. Thim-Mabrey 2003: 1/2). Das erklärt allerdings noch nicht, ob Sprachidentität als konstitutiver Bestandteil der Identität eines Individuums fungiert oder „nur als begleitender Faktor, der in bestimmten Zusammenhängen lediglich besonders fokussiert wird“ (ebd.: 2). Die Struktur „Identität durch Sprache“ bezeichnet die Identität von Personen, die von der Sprachverwendung konstituiert wird. In diesem Zusammenhang wird Sprache als Instrument angesehen (vgl. ebd.: 2). Der sprach- und kulturpolitischen Ausrich-
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tung des Symposiums ist es geschuldet, dass weniger formaltheoretische Aussagen über den Begriff Sprachidentität auf empirisch gestützter Grundlage getroffen werden. Aus dem Bereich der Sprachlernforschung mit dem Fokus auf Untersuchungen zum Zweitspracherwerb in Verbindung mit psychosozialen Ausgangslagen und Veränderungen des betreffenden Individuums stammen viele Arbeiten, die die Herausbildung multipler, bikultureller oder hybrider Identitäten im Akkulturationsprozess proklamieren. Da die enge Verbindung von biographischer Lebenswirklichkeit und Spracherleben insbesondere durch Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung mittlerweile unumstritten ist, häufen sich Angebote zur Beschreibung individueller Spracherfahrung durch die sprachbiographische Forschung (vgl. z.B. Biegel 1996, Oppenrieder/Thurmair 2003, Franceschini/Miecznikowski 2004, Treichel 2004, De Florio-Hansen/Hu 2007, Sarov 2008, Vavti 2009, Franceschini et al. 2010, Tofan 2011, Busch 2011, König 2011, Thüne/Betten 2011, Stevenson 2013). Auf Methoden der Sprachbiographie und die Auswertungstechniken, die in einigen neueren Erscheinungen den Untersuchungen zur Mehrsprachigkeit und Identität zugrunde liegen, soll im Kapitel zur Vorstellung der Methode dieser Studie genau eingegangen werden. Identität als sprachlich-diskursive Selbstkonstruktion Die erkenntnistheoretisch und konstruktivistisch ausgerichtete Arbeit von Marijana Kresic (2004, 2006) wird an dieser Stelle näher betrachtet, da die Autorin sich der Herausforderung einer theoretischen Modellbildung zum Konzept Sprachidentität unter interdisziplinärer Perspektive annimmt. Sie integriert die im Zuge von Globalisierung auftretende Multiplizität von Sprachen in ein dynamisches und multiples Identitätsmodell. Das Ziel ihrer Studie soll die Herstellung der Beziehung zwischen „Multilingualität einerseits und multiplen, inter- und multikulturellen Identitäten andererseits“ (Kresic 2004: 502) sein. Aus den verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit ergeben sich auch verschiedene Identitätsformen, wenn davon ausgegangen wird, dass allein mit dem Erstspracherwerb schon die Identitätsentwicklung des Kindes, somit die Ausbildung einer personalen, sozialen und kulturellen Identität verknüpft ist (vgl. ebd.: 507). Die Frage nach der Konsequenz des Erwerbs mehrerer Sprachen auf die Identität eines Individuums sucht Kresic unter Zuhilfenahme des Keupp’schen Patchworkmodells der Identität mit einem multiplen Modell von an Sprache gebundenen Teilidentitäten zu beantworten. Diese komplexen Teilidentitäten und Sprache sind je nach Kontext unterschiedlich bedeutsam, stellen kein fixes Gebilde dar und „idealerweise stehen die einzelnen Sprachen und Selbstaspekte nicht miteinander in Konflikt, sondern werden [...] zu einer ausbalancierten multikulturellen und multilingualen Identität integriert“ (ebd.: 510, kursiv i.O.). Diesen Ansatz baut Kresic in Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlich-
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medialen Konstruktion des Selbst (2006) noch weiter aus. Die einzelnen in Verbindung mit dem Sprachgebrauch untersuchten Identitätsaspekte erscheinen immer in Verbindung mit anderen, sie überlagern sich (vgl. Kresic 2006: 58). So sind beispielsweise im Kontext von Mehrsprachigkeit sprachliche Konstruktionen sozialer Identität oftmals mit ethnischer oder kultureller Identität verbunden. Laut Kresic fußt ein Großteil der Untersuchungen zum Themenkomplex Sprache und Identität auf diskursanalytischen oder soziolinguistischen Methoden (vgl. ebd.: 58/59). Die Autorin macht es sich zur Aufgabe, „auf theoretischer Ebene ein konstruktivistisches Identitätskonzept [...] und einen entsprechenden Sprachbegriff zu erarbeiten“ (ebd.: 58). Aus der Zusammenschau verschiedener Identitätstheorien definiert sie als Basis ihrer Arbeit: „Identität wird verstanden als plurales, multiples Gebilde, das sich ausdifferenziert in verschiedene, kontextspezifisch konstruierte (Teil-)Identitäten. Wesentliches Kennzeichen postmoderner Identität sind zum einen ihre Dynamik und Flexibilität und zum anderen ihre (kommunikative) Konstruiertheit. Identitäten sind patchworkartig zusammengesetzte, zu einem wesentlichen Teil medial-sprachlich und dialogisch-kommunikativ erzeugte Konstrukte, die aus dem grundsätzlichen Sein-in-der-Sprache eines jeden Individuums ihre Kohärenz schöpfen.“ (Ebd.: 224)
Das kohärenzstiftende „Sein-in-der-Sprache“ erscheint hier als übergeordnete Kategorie menschlicher Existenz, die „alle disparaten Teil-Identitäten zusammenhält“ (ebd.: 233). Sie plädiert für eine „konstruktivistisch orientierte Linguistik“ (ebd.: 220), die dem Anspruch gerecht werden kann, das sprechende Individuum in den Mittelpunkt zu rücken und die konkrete Sprachhandlung zum Ausgangspunkt einer jeden soziolinguistischen Untersuchung zu machen. Identitätskonstruktion geschieht grundsätzlich unter sozialen Bedingungen im Prozess des Sprechens und ist hier mithilfe konversationsanalytischer Methoden beobachtbar. „Das identitätskonstitutive Moment der menschlichen Sprache wird in den verschiedenen Ausprägungen des Sprechens offenbar. Es äußert sich in den verschiedenen Varietäten und Sprechstilen, die in einer Sprechergemeinschaft existieren […].“ (Ebd.: 163) Das Verhältnis von Identität und Sprache sieht Kresic als „reziprok-bedingendes“ (ebd.: 223). Auf der Grundlage des Keupp’schen Identitätsmodells erstellt die Autorin unter den postmodernen Prämissen der Flexibilität und Pluralität ein aus Teilidentitäten bestehendes multiples Identitätsmodell. Sie geht davon aus, dass das Beherrschen mehrerer Einzelsprachen oder Varietäten der Konstruktion verschiedener Teilidentitäten bedarf, die dynamisch fließend einen übergangslosen Wechsel untereinander in den verschiedenen sprachlichen Situationen vollführen (vgl. ebd.: 154). Zur Definition des bereits oben genannten Begriffs der Sprachidentität bedient sich Kresic der von Coseriu getroffenen Unterscheidung zwischen System und Norm (vgl. ebd.: 164–170), sodass Sprachidentität für die Autorin aus „der Fixierung von Normen
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innerhalb der Möglichkeiten eines Sprachsystems“ (ebd.: 225) resultiert. Kresic schreibt weiterhin: „Die Sprachidentität eines Individuums konstituiert sich dadurch, dass es spezifische, in einer bestimmten Sprache bzw. Sprachvarietät geläufige Normen einhält und diese auf individuelle Weise realisiert.“ (Ebd.: 225) Jede Sprecherin besitzt laut Kresic die Fähigkeit, sich eines multiplen sprachlichen Repertoires zu bedienen, sodass jede Person ein „individuelles Set von Sprachidentitäten“ (ebd.: 225) kennzeichnet. Diese Mischungen zwischen Varietäten, Stilen oder auch Einzelsprachen korrespondiert wiederum mit den einzelnen Identitäten eines komplexen und multiplen Modells (vgl. ebd.: 226). Mehrsprachigkeit wird in Analogie zur grundsätzlichen Sprachlichkeit des Menschen in der folgenden Modellbildung als Normalfall verstanden. Abbildung 3: Modell der multiplen Sprachidentität
Quelle: Kresic 2007: 15
Das von Kresic vorgestellte Modell der multiplen Sprachidentität bezieht die dynamische Mehrsprachigkeit und multiple Identität eines Individuums aufeinander, im Mittelpunkt steht die Sprach-Teil-Identität: „Eine Teilidentität und die sie konstituierende Sprache bzw. Varietät werden als ‚Sprach-Teil-Identität‘ bezeichnet.“ (Ebd.: 227) Gründe für die Multiplizität sind die vielfältigen Lebenswirklichkeiten, Rollen, Interagierenden und Situationen, die eine bestimmte Sprach-Teil-Identität aktivieren. Besonders wichtig ist Kresic die Unterscheidung zwischen beispielsweise religiösen oder geschlechtsbezogenen Identitätsaspekten und sprachlichen Kodes oder
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Varietäten, die diese Teilidentitäten erst konstruieren. Im vorgestellten Fall hat die Sprecherin sechs Sprach-Teil-Identitäten, die ihre Lebenswirklichkeiten abdecken und ihr multiples Sprachrepertoire erscheint als „Patchwork“ (ebd.: 231). Kresic räumt auch die Möglichkeit ein, dass eine Person eine „homogene Sprachidentität hat, wenn die z.B. ihr Leben lang an einem Ort lebt und nur einen Dialekt spricht“ (ebd.: 231). Um der sprachlich-diskursiven Seite der Identitätsbildung gerecht zu werden, entwirft Kresic zudem das „Modell der dialogischen Identitätskonstruktion“ (ebd.: 235). Die Modellbildung geschieht hier leider auf rein theoretischer Ebene ohne empirische Grundlage, sodass kontextspezifische Besonderheiten mündlicher Kommunikation nicht berücksichtigt werden. So wird vor allem der abstrakte Charakter der vorgestellten Arbeit kritisch rezipiert (vgl. Sdroulia 2007: 48). Kresic erkennt diese Lücke und fordert angesichts ihres theoretischen Angebots die empirisch fundierte Überprüfung der von ihr entwickelten Modelle (vgl. Kresic 2006: 255/256). Die datengestützte Unterfütterung theoretischer Konzepte bietet nicht nur die Möglichkeit, den Gehalt abstrakter Modelle zu überprüfen, zu beweisen oder bisweilen ihrer Überarbeitungsnotwendigkeit zu überführen. Die empirische Fundierung ist auch Garant für das intersubjektive Verständnis der Theoriebildung. Die Arbeit des Forschungsprojekts Sprache und Identität in Situationen der Mehrsprachigkeit. Sprachliche Individuation in multiethnischen Regionen Osteuropas (Forschungsgruppe Europa am Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig 2003–2006) beleuchtet aus interdisziplinärer Perspektive insbesondere sprachlich manifestierte Identitätskonstruktionen im postsowjetischen Osteuropa anhand von autobiographisch-narrativen Interviews, Sprachbiographien und literarischen Studien. Im Zusammenhang mit der Untersuchung des politisch sowie gesellschaftlich brisanten Mehrsprachigkeitserlebens ist das Projekt auch der Beschäftigung mit teilweise umstrittenen Begriffen wie „Identität, Sprachpolitik und Sprachkonflikt, […] Sprachbiographie, soziolinguistische[r] Individuation und Sprachverhältnisse[n]“ (Bochmann 2007a: 9, kursiv i.O.) gewidmet. In diesem Forschungskontext meint sprachliche Identität zunächst „die Gesamtheit des Wissens und Könnens, der Urteile, Attituden und Verhaltens- und Handlungsdispositionen einer Person (oder eines Kollektivums) in Bezug auf Sprache und Varietäten, deren Träger und sozialen Gebrauch. Sie entsteht und verändert sich in der lebenslangen sprachlich-kommunikativen Praxis, aus Selbstzuschreibungen und Fremdzuschreibungen.“ (Bochmann 2007b: 19)
Dem Definitionsangebot geht eine Zusammenschau gängiger Identitätstheorien verschiedener Disziplinen der Sozialpsychologie, Soziologie und Kulturwissenschaften voraus, von denen einige auch in der vorliegenden Studie angesprochen wurden (vgl. Bochmann 2007b: 17–19). So beziehen sich alle Beiträge des Projekts auf die
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Annahme, dass Identitätskonstruktionen im ständigen Auf- und Abbau begriffen sind, lediglich in einer „Momentaufnahme“ (ebd.: 20) bestehen und nur in empirischer Arbeit an Sprachdaten von außen zugänglich und erfahrbar werden. Als Erweiterung in der Diskussion um den Identitätsbegriff wird aufgrund des festgestellten prozessualen Charakters von Identitätskonstruktionen der Individuationsbegriff verwendet, der den im sozialen Kontext stattfindenden, vor allem sprachlichkommunikativen Prozess der Bewusstwerdung des Eigenen im Hinblick auf das Andere bezeichnet. Der auf Marcellesis Untersuchung des Korsischen zurückgehende Begriff der „soziolinguistischen Individuation“ bezeichnet „le processus par lequel une communauté ou un groupe social tend à systématiser ces différences, à les sacraliser, à les considérer comme déterminantes, à en faire un élément de réconnaissance“ (Marcellesi 2003: 169). In diesem wechselseitigen Zuschreibungs- und Aushandlungsprozess ist „Identität das (immer vorläufige) Ergebnis der Individuationen […], die tagtäglich stattfinden (können) und in denen sich das Individuum seiner Stellung und Funktionen in den Kommunikationsverhältnissen bewusst wird“ (Bochmann 2007b: 23). Der stets vorläufige und narrativ-diskursive Charakter sprachlicher Identitätsbildung wird von der Forschungsgruppe sowohl theoretisch hervorgehoben als auch auf die praktische Umsetzung durch die Analyse von Erzählungen innerhalb von Sprach(auto)biographien umgelegt. Zur Studie des individuellen Erlebens von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in der Domäne des Handels geht Tofan von einem interaktionistisch-konstruktivistischen Ansatz des sprachlichen Erlebens aus und untersucht unter dieser theoretischen Prämisse die sprachkonfliktäre Situation in Dienstleistungsbereichen. Sie fasst autobiographisches Erzählen als „diskursive Identitätsarbeit“ (Tofan 2007: 214) auf und untersucht ihre Daten narrativer Interviews mittels rekonstruktiver Methoden, die der Unabgeschlossenheit des komplexen Selbstwerdungsprozesses in Form sprachlich-kommunikativen Erfahrens Rechnung tragen können (vgl. Tofan 2007: 215, vgl. auch Sarov 2008 zur Mehrsprachigkeit im ländlichen Raum). Die Ausrichtung der Forschungsarbeiten auf erlebte Mehrsprachigkeit bedingt durch die konfliktreiche, individuelle und kollektive Situation der Sprecherinnen verschiedener Sprachen oder Varietäten eine starke Fokussierung auch der theoretischen Prämissen auf das dichotome Verhältnis des Eigenen und des Anderen, auf das veräußerte Alteritätsempfinden. Identitätskonstruktion wird in diesem Kontext verstärkt mit Phänomenen der Abgrenzung des Ich vom Du, der „eigenen und der fremden Sprache(n)“ (Bochmann 2007b: 22) und gruppenbezogenen Identifikationsprozessen verbunden. Die Implementierung des Begriffs sprachlicher Individuation „als Reflex sprachinduzierter Alteritätserfahrung“ (ebd.: 13) wird daher als Möglichkeit angeboten, die abgrenzungsbezogenen, interaktionalen und prozessualen Besonderheiten von sprachlicher Identitätsbildung im Diskurs nicht zu vernachlässigen. In den verschiedenen Arbeiten der Forschungsgruppe wird der immer lauter werdenden Forderung nach einer Verbindung klarer theoretischer Prämissen
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und empirischem Gegenstand (vgl. Mey 1999: 101, Alheit 2010: 222) Rechnung getragen. Ein Beitrag der verschiedenen Untersuchungen des Sammelbandes besteht neben dem ausführlichen Einblick in die Identitätsproblematik der Republik Moldau vor allem in dem Plädoyer für die interdisziplinäre Öffnung der theoretischen und analytischen Zugänge zu Forschungsvorhaben, die sich mit komplexen Kategorien und Begrifflichkeiten auf eine empirische Basis begeben. Identity-in-interaction Die Linguistinnen Bucholtz und Hall (2003, 2005, 2008a, 2008b, 2010) sehen ebenfalls sowohl fehlende Identitätsdefinitionen als auch fehlende Empirie in der Auseinandersetzung mit Sprache und Identität als Mangel an (vgl. Bucholtz/Hall 2003: 369) und liefern ihre Antworten aus anthropologischer und soziokultureller Perspektive. Die Autorinnen gehen mit Bezug auf Goffmans Ausarbeitungen davon aus, dass Identitäten ausnahmslos intersubjektiv und in der konkreten Interaktion konstruiert werden. Daher wird dieser Ansatz unter diskurspsychologischer und gesprächsanalytischer Perspektive vor allem als identity-in-interaction bezeichnet (vgl. z.B. Bucholtz/Hall 2005, Deppermann 2010). Ein Prinzip ihrer Arbeit ist die Annahme, dass Identität mehr das diskursive Produkt als die Quelle sprachlicher Handlungen und somit mehr ein soziokulturelles als ein psychologisches Phänomen darstellt (vgl. Bucholtz/Hall 2005: 585). Identität wird in den Augen der Autorinnen in erster Linie nicht individuell, sondern intersubjektiv als „the social positioning of self and other“ (ebd.: 586) konstruiert. Das Konzept der identity-in-interaction beschreibt unter anderem eine Sequenz aus drei Phasen, wobei Teilnehmerinnen eines Gesprächs Identitätsangebote unterbreiten, sie durch das Gegenüber spiegeln lassen und im letzten Schritt modifizierend auf das eigene Identitätsangebot einwirken (vgl. Sacher 2012: 53). Der Schwierigkeit, das Bedingungsgefüge von Sprache und Identität mithilfe von Daten zu belegen und in eine allgemeingültige Theorie zu überführen, nehmen sich Bucholtz und Hall unter dem Titel Finding identity: Theory and data (2008) an. Anhand der von anderen Forscherinnen durchgeführten Untersuchungen von bilingualen Kommunikationssituationen, die in sich interaktionale, ethnographische, ideologische oder politische Phänomene vereinen und bilinguale Sprecherinnen zur Aushandlung ihrer und fremder Identität zwingen, weisen die Autorinnen nach, dass nur die sprachliche Interaktion ein reliables Analysefeld für linguistische Identitätsforschungen bietet (vgl. Bucholtz/Hall 2008a: 161/162). Hier stößt vor allem Kresics Modell an seine Grenzen, da konkret auftretende Identitätsherstellung im Kommunikationsprozess in ihrer Theoriebildung nicht empirisch gesichert abgebildet werden kann und Aushandlungspraktiken unerwähnt bleiben. Zur Aushandlung von Identität kommt es, wenn Individuen sich Unterschieden in ihrer von ihnen vorgenommenen Selbstdarstellung und den auf sie bezogenen Fremddarstellungen bewusst werden (vgl. Blackledge/Pavlenko 2004: 20).
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Welt/Sein in der Sprache Dem Anspruch, Identitätskonstruktionen über Zuschreibungs- oder Aushandlungsprozesse innerhalb kommunikativer Akte mithilfe gesprächs- und konversationsanalytischer Methoden zu ermitteln, verpflichten sich nur einige Forschende (vgl. Davies/Harré 1990, Ochs/Capps 1996, Schiffrin 1996, Hausendorf 2000, Lucius-Hoene/ Deppermann 2004a, Bamberg 2011a, 2011b, da Silva 2011). Sie erkennen an, dass die Erfahrung von Welt und Selbst erst durch die Sprache ihre Gestalt erhält, vor allem dass das Wort durch die Möglichkeit der Bedeutung und des Deutens dem Sein erst zum Sein verhilft. Auch in der traditionellen Sprachphilosophie, in der lange die Auffassung von Sprache als Ausdrucksmittel vorherrscht (vgl. Flatscher 2005: 168), ist unter anderem seit Gadamers und Heideggers Annäherungen an die Sprache im Zuge der ontologischen Wende der Hermeneutik ein Paradigmenwechsel eingetreten, der den instrumentellen Charakter der Sprache zusehends negiert und mit dem klassischen Zeichenbegriff hadert. Trotz einiger Unterschiede in ihren Theorien unternehmen beide Philosophen den Versuch, beispielsweise die „Unterwerfung der Sprache unter die ,Aussage‘“ (Gadamer GW 1: 472) aus der traditionellen Vorstellung zu lösen und als grundsätzliches Gegenteil der „Sprachlichkeit des menschlichen Weltverstehens“ (ebd.: 472) zu bewerten. Eine Untersuchung der Wesensfrage von Sprache ist eng an die Frage nach dem Menschsein geknüpft, da Sprache nur sein kann, wo auch der Mensch ist. Es würde zu weit führen, die Ausführungen Heideggers über das Wesen des Menschen hier aufzunehmen. Wichtig erscheint jedoch die Ausrichtung der umfassenden Analyse auf die Zeitlichkeit als grundlegende Seinsform des Menschen. Die Zeitlichkeit ist auch der menschlichen Sprache und dem Sprechen inhärent. Der Annahme von vorsprachlicher Existenz des Seins wird entgegengehalten, dass ein jedwedes Sein und so auch das Selbst erst im sprachlichen Vollzug ein Seiendes wird: „Indem die Sprache erstmals das Seiende nennt, bringt solches Nennen das Seiende erst zum Wort und zum Erscheinen.“ (Heidegger, GA 5: 61) Das Wesen der Sprache liegt in ihrem Ausdruck, der jedoch nichts mit dem in der vorliegenden Darstellung oft angeprangerten Ausdruck eines bereits bestehenden inneren Besitztums oder mentalen Zustandes zu tun hat. Sprache ist „kein Ausdruck der sich aussprechenden Individualitäten, sondern ein Ausdruck des Seins selbst, ein modus experimendi“ (Gadamer 1967: 32). Sie ist also kein Medium, das ein Weltverstehen zur Äußerung bringen kann. Sie ist allenfalls ein Medium hermeneutischer Erfahrung, eines des sich vollziehenden Verstehens. Sie kann aber im Moment des abgeschlossenen und vermittelten Verstehens nicht nicht existieren, da alles von Sprache umgeben ist. Einen „sprachlose[n] Zustand, [in dem] nach dem Werkzeug der Verständigung“ (ebd.: 95/96) gegriffen wird, gibt es laut Gadamer nicht. Folglich ist es unumgänglich, den Zugang zur Sprache über den Ort zu suchen, an dem sie konkret auftritt. So ist das zwischenmenschliche Gespräch als Sprachgeschehen dem Wörterbuch, „wenn auch der ganze Bestand dort verzeichnet
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ist“ (Heidegger, GA 38: 24), in jeder Betrachtung vorzuziehen. Sprache ist nur, wenn sie geschieht. Erst im konkreten Vollzug ist sie erfahrbar, im Sprechen und Hören, das wiederum Sprache impliziert. Gadamer verweist in diesem Zusammenhang auf das Spiel, das erst Spiel sein kann, wenn es gespielt wird und nur in dieser Abhängigkeit seiner Spielerinnen sein kann (vgl. Gadamer GW 1: 111). Das Gespräch entwirft hinsichtlich eines Themas eine Wirklichkeit, an der alle sprechenden Personen konstruktiv beteiligt sind. So entwerfen sie auch ihr Sein im Moment des Gesprächs, ohne auf ein Dahinterliegendes zu verweisen. Daher ist Sprache „nicht nur eine Ausstattung, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben“ (ebd.: 446, kursiv i.O.). Jedes Seiende ist also nur sprachlich erschlossen und in dieser sprachlichen Verfasstheit dem Menschen zugänglich. In erweiterter Dimension zur individuumsbezogenen Auffassung von Sprache als identitätskonstitutivem Element kann mit Gadamer angenommen werden, dass Sprache weltbildend ist: „Nicht nur ist die Welt nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt – die Sprache hat ihr eigentliches Dasein nur darin, daß sich in ihr die Welt darstellt.“ (Ebd.: 447) Diese Auffassung der sprachlichen Verfasstheit alles Seienden offenbart die Verbindung von Sprache und Sein, Sprache und Selbst und Sprache und Identität. Identität als reflexives und kommunikatives Selbstverhältnis zu definieren und ihr den vorsprachlichen ontologischen Status abzusprechen, scheint in dieser Theoriebildung nur logisch. Ihre dynamische und temporale Struktur erhält Identität durch den flüchtigen und situativen Charakter des wie auch immer gearteten Gesprächs, in dem die neuere Sprachphilosophie den einzigen Ort ihres Seins vermutet. Da immer mehr Forschende anerkennen, dass die Besonderheiten des Erzählens und des Gesprächs, also der aktiven Sprachhandlung einzig und allein einen Zugang zur Identität eines Individuums verschaffen, wird in diesem Band der Anspruch vertreten, nur die diskursive Praktik als Basis jeglicher identitätsbezogener Forschung zu bestimmen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Beschäftigung der Linguistik mit dem Themenkomplex Sprache und Identität vor allen Dingen eine sprecherinnenzentrierte Forschung ist. Der gesellschaftlichen Entwicklung in allen bereits genannten Bereichen, verschiedensten Lebensumständen und biographischen Verläufen wird damit Tribut gezollt. Dafür wurde auf Arbeiten aus der Variationslinguistik, der Migrations- und Mehrsprachigkeitsforschung, auf ethnographische und ethnomethodologische Untersuchungen und sprach- und kulturpolitisch orientierte Studien verwiesen. Zwar wird der Sprache in vielen Arbeiten eine Schlüsselrolle für die Identitätsbildung zugesprochen, dennoch verfechten diese oftmals die Auffassung, dass Sprache nur der Symbolisierung von kultureller, sozialer, ethnischer, personaler oder Gruppenidentität dient. Die Begriffe Sprachidentität oder sprachliche
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Identität werden in der Forschung zu häufig nur mit Identifikationsprozessen und Zugehörigkeits- sowie Abgrenzungsphänomenen verbunden, die ein Individuum oder eine Gruppe in Bezug auf eine Sprache oder Varietät durchleben, und bezeichnen dadurch keine formal- oder strukturtheoretische Annahme (mit Ausnahme der Definition von Bochmann 2007b: 19). Im Gegensatz dazu negieren Untersuchungen aus konstruktivistischer Perspektive, beispielweise soziokulturell und anthropologisch ausgerichtete Studien, individuumsbezogene Sprachlernforschung sowie die genannten sprachphilosophischen Überlegungen, den rein instrumentellen Charakter von Sprache. Methodisch orientieren sich Studien vielfach an rekonstruktiven Verfahren wie der Konversationsanalyse, insbesondere wenn davon ausgegangen wird, dass Identität erst im Moment der sprachlichen Interaktion ausgehandelt wird. Dass Sprache Identität konstruieren kann, wird im Zusammenhang mit multiplen Identitätsmodellen als Möglichkeit gesehen, von einem starren Gefüge von Sprache und Identität Abschied zu nehmen. So schlägt Kresic auf der Basis der Keupp’schen Identitätsauffassung das Modell der multiplen Sprachidentität vor, das aus mehreren Sprach-Teil-Identitäten besteht und nicht nur die Einzelsprachen eines mehrsprachigen Individuums, sondern gleichsam verschiedene kontextgebundene Varietäten umfasst. Es gilt nun, die genannten Auffassungen des Begriffs Sprachidentität zu erfassen und möglicherweise umzudeuten. Sprachidentität wird unter anderem beschrieben als Einzigartigkeit einer Sprache, als (Re)Identifizierbarkeit im Sinne einer Abgrenzung zu anderen Sprachen oder Varietäten. Diese Definition ist sicher für sprachsystembezogene Forschung von größerem Interesse. Sprachidentität kann auch die Identität einer Person meinen, die diese in Bezug auf eine Sprache haben kann. Sie ist so verstanden ein individueller Besitzstand. In diesem Zusammenhang lassen eine Sprache oder der konkrete Sprachakt auf die Sprecherin schließen, sie verweisen wie durch ein Fenster auf etwas Dahinterliegendes. Derlei Überlegungen wurden in der vorliegenden Arbeit wiederholt kritisiert. Sprachidentität wird weiterhin unter konstruktivistischer Perspektive bestimmt als Resultat der Einhaltung und individuell realisierten Bewegung innerhalb von Normen eines Sprachsystems. Durch verschiedene Lebenswirklichkeiten ist eine Sprachidentität unter der Kresic’schen Perspektive grundsätzlich eher multipel, sie besteht aus auf Sprachnormen basierenden Teilidentitäten. Damit konzentriert sich Kresic allerdings auf die von der Person und ihrer empfundenen Lebenswirklichkeit abhängige Verwendung bestimmter Elemente aus ihrem sprachlichen Repertoire. Die Auffassung einer multiplen Sprachidentität entspricht dem Keupp’schen Modell des pluralen Selbst, ein Selbst, das aus vielen Identitäten besteht. Die Annahme vom Subjekt als Vielheit wurde bereits als äußerst kritikwürdig beschrieben, sodass auch die Nutzung des dazu passenden Sprachidentitätsmodells hier nicht infrage kommen kann. Die Nutzung des Individuationsbegriffs in sprach- und identitätstheoretischen Debatten kann sinnvoll sein, wenn der prozessuale Charakter von Identitätsbildung fokussiert werden soll. Allerdings wur-
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de hier bereits festgestellt, dass der Identitätsbegriff aus struktur- und formaltheoretischer Sicht vorrangig auf den prozessualen Charakter der Synthetisierungsarbeit abhebt und in der Theoriebildung letztlich keinen weiteren Terminus benötigt. Sprachidentitätskonstruktion Eine Definition des Begriffs Sprachidentität muss den Teilen des Kompositums Rechnung tragen. Mindestens für den Identitätsbegriff kann hier eine umfassende Aussage getroffen werden. Sprachidentität beschreibt weder nur die Einzigartigkeit einer Sprache in Abgrenzung zu anderen noch einen individuellen Besitzstand von Personen, sie kann keine repräsentative oder deskriptive Funktion haben. Ausgehend von der in dieser Studie vertretenen Position, der zufolge Identität als synthetisierte Einheit von Heterogenität, als temporale und dynamische Struktur und reflexives sowie kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis definiert wird, die nur im Moment eines sprachlichen Aktes konstruiert wird, kann Sprachidentität nur ein ebenso prozessuales, situatives und kontextgebundenes Phänomen sein, das im Akt des Sprechens entworfen wird. Eine Identitätskonstruktion hat mindestens die zwei Seiten des Wie und des Was, die sich auf alle denkbaren Konstruktionsprozesse und alle denkbaren inhaltlichen Bezüge beziehen. Sprachidentität entsteht, wenn im sprachlich-kommunikativen Akt eine Identität konstruiert wird, die sich inhaltlich auf das Phänomen der Sprache bezieht. Spricht ein Mensch über Sprache, verfertigt er im Moment des Sprechens nicht nur seine Identität, sondern gleichsam seine Sprachidentität. Sie gleicht in ihrer Struktur als Subkategorie von Identität auch ihren Merkmalen. Sprachidentität ist nicht nur kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis, sondern auch ein kommunikatives Sprachverhältnis. Zwar weist die vorgeschlagene Definition Parallelen zu anderen in der Linguistik etablierten Begriffen wie zum Beispiel der Spracheinstellung auf. Entgegen der Annahme, dass Einstellungen psychologische, vorsprachlich existente und stabile Konzepte sind, widmen sich auch hier Untersuchungen zunehmend ihrem Konstruktionscharakter innerhalb der sprachlichen Interaktion (vgl. Tophinke/Ziegler 2006, Liebscher/Dailey-O’Cain 2009, König 2014). So werden in der Spracheinstellungsforschung jene Spracheinstellungsäußerungen vermehrt auch mit interaktionalgesprächsanalytischen Methoden untersucht, um diskursive Muster und Regelhaftigkeiten unter Interaktionsbedingungen festzustellen, in denen soziale Welt konstruiert wird (vgl. König 2014: 32). Die Untersuchungen werden jedoch von einer starken Engführung auf die Spracheinstellungsäußerung als evaluative Praktik getragen. So können Einstellungen als Identitätsaspekte deklariert werden, die in der strukturellen Beschreibung eines formal-theoretischen Identitätsmodells nicht abgebildet werden (vgl. Straub 2000: 171) und sind für die Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person weniger relevant. Die strukturtheoretische Auf-
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fassung von Sprachidentität meint mehr als die Veräußerung von Spracheinstellungen im Sinne eines Metasprachdiskurses. Der Begriff hebt insbesondere darauf ab, wie im kommunikativen Prozess und unter welchen kontextuellen Bedingungen und mit welchen linguistisch fassbaren Maßnahmen die Äußerungen dazu beitragen, Sprachidentität im Moment des sprachlich-kommunikativen Aktes zu entwerfen. Abbildung 4: Modell der Sprachidentitätskonstruktion
Quelle: Eigene Darstellung
Das vorgeschlagene Modell der Sprachidentitätskonstruktion zeigt eine thematisch fokussierte Variante des Modells der Identitätskonstruktion. Auch hier liegt der Fokus auf dem temporalen Charakter des Konstruktionsprozesses. Die kontextuellen und situativen Bedingungen, unter denen durch eine thematische Engführung Sprachidentität entsteht und sogleich wieder vergeht, sind ebenso vielfältig wie die Voraussetzungen und eben auch Resultate der Lebenswirklichkeit und Erfahrungswelt der Person. Diachrone und synchrone Heterogenität, lebensgeschichtliche Kontingenzen und disparat erscheinende Ereignisse werden bezüglich sprachlichen Erlebens in der Kommunikation synthetisiert und in eine Gesamtgestalt überführt. Die Person konstruiert ihre dynamische Sprachidentität in jedem Moment des sprachlich-kommunikativen Aktes, in dem es inhaltlich um das Phänomen der Sprache, das Sprechen oder die Konfrontation mit Fremdsprachen geht. Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Tisch oder unter veränderten Gesprächsbedingungen nimmt die Sprachidentität eine andere Form an, das Selbst der Person bleibt jedoch gerade in der kommunikativen Aushandlung durch das Schaffen eines Zeitzusammenhangs einheitlich. Das kommunikative Selbst- und Weltverhältnis
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erweitert sich dann um ein kommunikatives Sprachverhältnis, das es hier zu untersuchen gilt. Das von außen beobachtbare Moment des sprachlich-kommunikativen Aktes als Syntheseleistung bietet einen möglichen Zugriff auf Sprachidentität. Es ergeben sich auch hier Fragen für die folgende Darstellung, die durchaus Wiederholungen zu bereits gestellten Fragen aufweisen können: 15. Welche Operationalisierungsmöglichkeiten für eine datengestützte Studie erge-
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ben sich aus den vorgestellten Ansätzen zum Komplex von Sprache und Identität? Wie kann der so verstandene Begriff der Sprachidentität mithilfe empirischer Erkenntnisse modellhaft beschrieben werden? Können die Konzepte Sprachidentität und narrative Identität in ein fruchtbares Verhältnis gesetzt werden? Wie wird Identität von den Hugenottennachfahren interaktiv konstruiert? Wie wird Sprachidentität von den Hugenottennachfahren interaktiv konstruiert?
III Empirie
Die Untersuchung widmet sich neben identitäts- und sprachtheoretischen Erkenntnissen vor allem dem sprachlichen Subjekt. Über den erkenntnistheoretischen Rahmen hinaus wird zum konkreten Fall der Sprachidentität von Hugenottennachfahren übergegangen, um in der Rückbindung anhand der empirisch gewonnenen Ergebnisse gegenstandsbezogene Aussagen im Rahmen des Forschungskontexts treffen zu können. Im folgenden Praxisteil sollen nach der Vorstellung des Forschungsdesigns die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel sowohl am Datenmaterial durch detaillierte Analysen geprüft werden als auch dazu beitragen, die Sprachidentität der Hugenottennachfahren nach den erarbeiteten Maßstäben zu beschreiben. Es ist wohl der Prozesshaftigkeit dieser Untersuchung, den sich verändernden äußeren Bedingungen im Laufe der Zeit und der Unberechenbarkeit einer empirischen Studie geschuldet, dass sowohl Thematik als auch Forschungsdesign sich nicht linear gestaltet haben. Dem soll jedoch Rechnung getragen werden, indem die wichtigsten Einzelschritte – von leicht veränderten Fragestellungen bis hin zu methodischen Umwälzungen – an dieser Stelle Erwähnung finden. Die Prozesshaftigkeit, die sowohl das empirische Arbeiten als auch die vorliegende Darstellung auszeichnet und immer wieder zu Veränderungen des Forschungsverlaufs oder Fragestellungen führt, wird im Folgenden näher beleuchtet. Im Anschluss sollen Informationen über die Auswahl der Gesprächspartnerinnen und -partner, das Korpus, methodologische Überlegungen und eine Analyse und Auswertung der Daten erfolgen. Auf der Grundlage der in den vorangegangenen Kapiteln dargelegten theoretischen Erkenntnisse in den Bereichen der Identitätstheorie und der sprachtheoretischen Integration des Identitätsbegriffs wird versucht, auf die zentralen Fragen dieser Studie eine Antwort zu finden, diese in einem letzten Schritt zusammenzufassen und offen gebliebene Fragen zu diskutieren.
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3
Methodologische Überlegungen
Wenn im Fokus der Aufmerksamkeit der spezielle Einzelfall der Hugenottennachfahrin steht, die eine ihr eigene Geschichte, einen einzigartigen Lebensentwurf und folglich eine einmalige Sprachidentität in der Interaktion entwirft, so kann diese von der Außenperspektive nur schwer erschlossen werden. Bestimmte Fragen, die den Beginn des Forschungsinteresses leiteten, zielen durchaus auf von außen beobachtbare Phänomene. So bestimmten beispielsweise folgende Fragen den Einstieg in die Beschäftigung: Wie zeigt sich das Sprachwahlverhalten in verschiedenen Sprechkontexten, sind diese auch heute noch domänenspezifisch? und ferner: Welche Register werden in welcher Sprache aktiviert? Beide Fragen sollten im methodischen Kontext der teilnehmenden Beobachtung beantwortet werden. Schon nach der ersten Kontaktaufnahme erwies sich das Vorhaben durch die komplizierte Realisierbarkeit als gescheitert. Das domänenspezifische Sprachverhalten oder die Registerwahl konnten im Interview erfragt, aber nicht mithilfe von Beobachtungen konkretisiert werden. Auch Ausgangsfragen wie Was veranlasst die vollständig assimilierte Gemeinschaft, das Französische zu pflegen? entstanden durch fehlerhafte Vorstellungen, die schon nach der ersten Durchsicht der wissenschaftlichen Lektüre revidiert werden mussten. So kam es teilweise zu falschen Prämissen für die Forschungsarbeit, die eine Reformulierung der Fragestellungen, ein Umdenken unter völlig neuen Voraussetzungen nötig machten. Es entstanden neue Fragen wie die in Kapitel 1 vorgestellte Frage: 5. Gibt es Tendenzen zur Pflege der französischen Sprachkompetenz? Die Überlegungen zum sprachwissenschaftlichen Forschungsfeld, in das diese Studie eingeordnet werden sollte, nahmen nach und nach einen anderen Charakter an. So wurde beispielsweise schnell deutlich, dass Arbeiten der Kontaktlinguistik zwar theoretische Grundlagen liefern können, aber von einem kontaktlinguistischen Phänomen bei den Hugenotten nur zu Zeiten ihrer Ankunft in den genannten Gebieten und dem Sprachwechsel gesprochen werden kann. Die Genese der zentralen Fragestellungen verlangt also ein gewisses Maß an Einsicht, die Bereitschaft zu revidieren und Veränderungen nicht als Einschnitt oder gar Niederlage wahrzunehmen, son-
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dern als fruchtbare Erkenntnis, die das Beschreiten neuer, inspirierender Wege bedarf.
3.1 UNTERSUCHUNGSGRUPPE UND KORPUS Im ersten Teil der Arbeit wurde gezeigt, dass unterschiedliche Bedingungen der Hugenottenansiedlung in den Gebieten Brandenburg-Preußens und Kursachsens nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens geprägt haben. Die verschieden stark ausgebauten säkularen und kirchlichen Netzwerke der Hugenotten in den großen Kolonien wie Berlin oder ihre Unerwünschtheit durch die kursächsische Politik sowie die schwachen infrastrukturellen Gegebenheiten in ländlichen Regionen bedingen maßgeblich die Gestalt von Akkulturationsprozessen. Es wurde weiterhin ausgeführt, wie Selbst- und Fremdbilder der Hugenotten und ihrer Nachkommen durch eine spezifische Erinnerungskultur nicht nur von der früheren Historiographie getragen, sondern regelrecht provoziert wurden. Laut der jüngeren Forschung, die sich weniger auf die Suche nach Wahrheiten als nach Sinnkonstruktionen macht, bestimmen Traditionen und Stilisierung, aber auch Vergessen und Verblassen bis heute die Lebenswirklichkeit der Hugenotten. An dieser Stelle interessiert die Frage nach der gegenwärtigen Konstruktion hugenottischer Identität und Sprachidentität, auch bezogen auf ländliche und städtische, religiöse und kirchliche Besonderheiten in ihrer Lebenswirklichkeit. Um die Identitäten vergleichend analysieren zu können, gilt es, in unterschiedlichen, historisch verbürgten Siedlungsräumen Deutschlands geeignete Gesprächspartnerinnen und -partner zu finden. Die zeitliche Spanne von etwa 300 Jahren zwischen der Ansiedlung der ersten Hugenotten in Deutschland und diesem Projekt erfordert auch durch den Verlust der französischen Nachnamen eine Suche in ausgewählten Bereichen, wie sie beispielsweise französisch-reformierte oder deutsch-reformierte Kirchen bieten. In den Gemeinden, die auf Gründungsväter aus hugenottischen Kreisen zurückzuführen sind, ist die Herstellung des Kontakts mit Hugenottennachfahren noch leicht möglich. In den französisch- und deutsch-reformierten Kirchen wird im Allgemeinen auch der Zugang zu Kirchenbüchern gewährt, die Aufschluss über Ansiedlung und Verbleib der hugenottischen Familien geben. So beherbergt beispielsweise der Französische Dom zu Berlin ein Hugenottenmuseum, ein Archiv sowie eine Bibliothek. In Bad Karlshafen/Hessen steht der Forschung sowohl ein Hugenottenmuseum als auch die Deutsche Hugenotten-Gesellschaft e.V. (DHG) zur Verfügung, die mit hugenottischen Einrichtungen und Gemeinden im In- und Ausland kooperiert. Auch Stadtarchive wie in Schwerin für die reformierte Kirche Mecklenburg-Vorpommerns können Einblicke in den Siedlungsverlauf der hugenottischen Gemeinden der Region bieten und somit Rückschlüsse auf gegenwärtige Lebensumstände erlauben.
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Im Vorfeld der Arbeit konnte festgestellt werden, dass sich eine Kontaktaufnahme mit Hugenottennachfahren mithilfe der Pastorinnen und Pastoren der Gemeinden anbietet. Die Suche nach Hugenottennachfahren, die keine Mitglieder einer reformierten Gemeinde sind, stellt sich schwieriger dar, musste aber für die Beantwortung der Frage nach den Unterschieden der Identitätskonstruktionen erfolgen. In ländlichen Gebieten, beispielsweise in den Dörfern der Uckermark, konnten Hugenottennachfahren anhand ihres Nachnamens über das Telefonbuch ausgemacht und kontaktiert werden. Außerdem verhalfen persönliche Kontakte und Empfehlungen zu weiteren Interviews. Um Antworten auf die Frage nach den unterschiedlichen Lebensbedingungen und ihren Einfluss auf aktuelle Sprachidentitätskonstruktionen zu finden, wurde versucht, Hugenottennachfahren verschiedenen Alters aus den Gebieten des ehemaligen Brandenburg-Preußens und Kursachsens für die Untersuchung zu gewinnen. Ferner sollten ihre Familien sowohl aus ländlichen Regionen als auch größeren Städten wie Berlin und Leipzig kommen. Der älteste Gesprächsteilnehmer wurde 1923, die jüngste Gesprächsteilnehmerin 1998 geboren. Ihre Familien kommen aus den Regionen Ostpreußen, Vorpommern, Uckermark, Schwedt/Oder, Berlin, Potsdam, Schlesien, Magdeburg, Nordhausen, Bitterfeld und Leipzig. Zudem wurden im Laufe des Gesprächs durch die Betrachtung zurückliegender Generationen noch weitere mögliche Herkunfts- beziehungsweise Einwanderungsorte genannt. Das aus dieser Suche gewonnene Datenmaterial besteht aus 24 Interviews mit 27 Hugenottennachfahren, von denen hier neun Interviews zur Analyse und Auswertung herangezogen wurden. Die Gespräche fanden ausschließlich bei den Interviewten zuhause statt, um jedweden Aufwand für sie zu vermeiden und eine möglichst vertraute Situation für das Interview zu schaffen. Die Interviews wurden mithilfe eines digitalen Aufnahmegerätes aufgezeichnet. Drei der aufgezeichneten Interviews wurden mit jeweils zwei Gesprächspartnerinnen und -partnern durchgeführt. Ein Interview existiert in papierner Form, da die Gesprächspartnerin die Aufnahme auf das Gerät ablehnte. Es ist anhand von Mitschriften rekonstruierbar. Die Gespräche haben unterschiedliche Längen von etwa einer halben Stunde bis zu knapp zwei Stunden. Die Interviewten wurden in das Forschungsvorhaben nur insoweit eingeweiht, als sie zum Zeitpunkt des Gesprächs wussten, dass es um Sprachen und ihre hugenottische Herkunft geht. Dabei wurden Begrifflichkeiten wie Identität, Sprachidentität, Sprachbiographie, hugenottisches Erbe oder kollektives Bewusstsein von Forscherinnenseite aus vermieden, um die Inhalte nicht von vornherein zu begrenzen. Auf die einzelnen Interviews wird detailliert im Analysekapitel eingegangen. Zur Auswertung wurden die aufgezeichneten Gespräche nach den Transkriptionsregeln linguistischer Gesprächsforschung zur Gänze mithilfe des Transkriptionseditors FOLKER vom IDS Mannheim transkribiert. Als Grundlage diente GAT 2, die aktualisierte Version des Gesprächsanalytischen Transkriptions-
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systems (Selting et al. 2009). Im Allgemeinen zeigten die Interviewten bei den Aufzeichnungen auf das Aufnahmegerät kaum Unbehagen. Da im Vorfeld bei der telefonischen Terminabsprache das Einverständnis zur Aufnahme eingeholt wurde, waren die Befragten darauf vorbereitet, als das Gerät und ein Mikrophon aufgestellt wurden. Teilweise entstand, angeregt durch das Abschalten des Tonbandgerätes, ein weiterführendes Gespräch, wobei die erneute Aufnahme kaum ein Problem darstellte.
3.2 DER ERZÄHLTHEORETISCHE ZUGANG ZU IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN Aus erzähltheoretischer Perspektive muss zunächst erläutert werden, welche Grundannahmen zur Erzählung und dem Erzählen in dieser Arbeit vertreten werden, wenn von der Identitätskonstruktion im narrativen Prozess die Rede ist. Es wird zudem gezeigt, wie gerade das autobiographische Erzählen als Kontinuität fördernde Orientierungsleistung der kontingenten Erfahrungswelt trotzen kann, unter der Identität und mithin Sprachidentität immer wieder konstruiert werden. Es bleibt festzuhalten, dass die vorliegende Studie zwar von den Ergebnissen der Erzählforschung zehrt, ihren Schwerpunkt allerdings woanders sieht. Zugunsten des empirischen Teils dieser Arbeit, in dem erzähltheoretische Konzepte am Datenmaterial vorgestellt werden, muss auf eine detaillierte Ausführung zum Themenkomplex von Erzählung, Erzählen, Erinnern und Biographie in den verschiedenen Disziplinen verzichtet werden. Auch die unterschiedlichen Textsorten, die durch eine lebensgeschichtliche Narration bemüht werden, werden im praktischen Teil näher erläutert. Dennoch sollen die die Analyse leitenden Prämissen des Erzählens und der Erzählung kurz im Vorab besprochen werden. Die Bedeutung der Erzählung für den Menschen wurde in der Charakterisierung des Erzählens als „anthropologische Universalie“ (Scheffel 2004: 121) bereits in den obigen Darstellungen deutlich. Einerseits können unter den Begriff der Erzählung Formen wie das literarische Erzählen in schriftlicher Ausprägung oder das konversationelle Erzählen der Alltagskommunikation fallen (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004a: 19). In Anbetracht des Untersuchungsziels wird aber andererseits das auf die biographischen Ereignisse einer Person bezogene Erzählen von Bedeutung sein. Dieses lebensgeschichtliche Erzählen kann durch die Positionierung der eigenen Person als handlungsrelevante Figur der Geschichte stärker als die kurzweiligen Alltagserzählungen auf das Selbst-, Welt- und Sprachverhältnis einer Person verweisen. „Eine Erzählung stellt eine Form der Rede dar, dank derer jemand jemandem ein Geschehen vergegenwärtigt.“ (Martinez/Scheffel 2003: 17) Diese Definition ent-
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hält schon die wesentlichen Komponenten der interaktionalen, referentiellen und zeitlichen Dimension des Erzählens. Mit der Erzählung ist generell die Darstellung von „Ereignis- und Handlungsverläufe[n]“ (Straub 2010: 143, kursiv i.O.) gemeint, zu denen die Erzählerin in irgendeiner Form in Bezug steht. Sie entwickelt eine Geschichte, die auf vergangenen Erfahrungen basiert oder diese antizipiert. Es sind die erzähltechnischen „Grundoperationen der Segmentierung des Ereignisflusses, der Selektion von Elementen, ihrer Linearisierung in aufeinanderfolgenden Sätzen und der Bedeutungszuweisung“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 21, kursiv i.O.), die der Erzählung ihre Struktur verleihen. Die Verknüpfung der verschiedenen Ereignisse in eine Geschichte mit der Beteiligung untereinander agierender Rollenträgerinnen gleicht einer dramatischen Inszenierung, die im Moment des Erzählens geschaffen wird. Einerseits wird innerhalb der Erzählung ein zeitlicher Zusammenhang geschaffen, der in unterschiedlicher Weise die Ereignisse strukturiert, ihnen Bedeutungsgehalt verleiht und so eine gefühlte Ordnung bewirkt. Andererseits wird vergangene oder zukünftige Zeit in die Gegenwart überführt. So muss noch einmal auf Ricœur verwiesen werden, der die menschliche Erfahrung vor allem als eine zeitliche Erfahrung beschreibt: „Die Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.“ (Ricœur 2007: 13) Der Zusammenhang von Identität als temporale Struktur und erzählbare Zeit liegt auf der Hand und „in diesem Sinne ist jede unverkürzte Bestimmung von Identität im Grunde genommen auf biographische und historische Vergegenwärtigungen vergangener Wirklichkeiten angewiesen“ (Straub 1994: 24). Eine Erzählung folgt in ihrer Eigenschaft als kulturtechnisch erworbene Tätigkeit einer bestimmten dramaturgischen Organisation – sie besitzt einen Anfang, eine Mitte und ein Ende –, die sich von Erzählung zu Erzählung vergleichen lässt. Obwohl sie immer als individuelle Produktion im Rahmen kontextspezifischer Merkmale entsteht, existieren genrespezifische Traditionen des Erzählens beispielsweise in der Einführung der Rollenträgerinnen, der Verwendung von Metaphern und Vergleichen oder im Aufbau eines Spannungsbogens. Als prototypische Struktur einer mündlichen Alltagserzählung, die die erzähltheoretische Forschung als Basis zur weiteren Entwicklung von Erzählschemata nutzt, kann die Phaseneinteilung Labovs und Waletzkys (1967) genutzt werden: 1.
Orientierung (Einleitung und Information zum Setting, bestehend aus Angaben zu Person, Ort, Zeit und Situation)
2.
Komplikation (Problem, Barriere zur Zielerreichung, Handlungsmotivation)
3.
Evaluation (Bedeutungsstiftung durch Perspektiveinnahme oder Betroffenheit)
4.
Auflösung (Ergebnis der Handlungen, Rückwirkung auf Problemstellung) und
5.
Coda (abschließende Bemerkungen, Perspektivwechsel von der Ereignisfolge hin zur Gegenwart) (Straub 2010: 144 nach Labov/Waletzky 1973: 112)
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Von psychologischer Bedeutung ist in diesem Phasenmodell insbesondere die Komplikation, das krisenhafte Ereignis, das die Erzählerin ereilt und nach einer Lösung verlangt. Abgesehen von der Auffassung der Komplikation als Höhepunkt einer Geschichte (vgl. Quasthoff 1980: 43) werden der Hörerin in der Schilderung der Komplikation vor allem Bewertungen über Sachverhalte, Haltungen zur eigenen Beteiligung am Ereignis und Kapazitäten zur Problembewältigung durch die Erzählerin offenkundig. Das Erzählen hat weit mehr als eine rein informative Funktion. Es kann durch die Mittel der Ereignisanordnung Wahrnehmungsprozesse der Erzählerin und der Hörerin beeinflussen und so auf die kognitive Speicherung von Erlebtem Einfluss nehmen. In diesem Zusammenhang können auch die bereits angesprochenen Kontingenzbearbeitungen stattfinden, wenn erst im Erzählvorgang bedeutungsvolle Zusammenhänge und Sinn gestiftet werden (vgl. Straub 2010: 145), denn „jede Erzählung handelt […] in der einen oder anderen Weise von Kontingenz, von Kontingenzerfahrungen und Kontingenzerwartungen sowie Versuchen der Kontingenzbewältigung“ (Straub 2001: 24, kursiv i.O.). Die geleistete Synthetisierung disparater Ereignisse oder Einstellungen kann im Erzählvorgang beispielsweise den „Zufall in ein Geschick“ (Ricœur 1996: 182) verwandeln und so Interpretationen offenbaren. Gleichwohl gibt es natürlich auch Grenzen des Erzählens und der Erzählung gibt und die Herstellung von Kontinuität schöpft ihre Kraft nicht allein aus der mitunter schwierigen Aufgabe der lebensgeschichtlichen Erzählung. Diese Grenzen können in der Erzählbarkeit von Antizipationen oder Vergangenem, etwa von traumatischen Erlebnissen liegen, die sich „der kontinuitätsstiftenden Integration in einen narrativ konstituierten biographischen Sinnzusammenhang gleichsam widersetzen“ (Straub 1991: 61). Im Erzählmoment sind emotionale Funktionen der Verarbeitung von Ereignissen für Erzählerin und Hörerin gleichermaßen wichtig. Gerade in der Psychotherapie wird diese sozial-interaktive Funktion des Erzählens von Selbsterlebtem genutzt, um Entlastungen, Aufarbeitung, Erleichterungszustände oder Vertrauensbildung zu erwirken (vgl. Wiedemann 1986: 61, Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 34, Lucius-Hoene 2009, Straub 2010: 145). Die identitätskonstruktive Funktion kann hier als Oberkategorie der genannten Funktionen herhalten, da die sprachliche Praxis des Erzählens als kommunikatives und reflektives Selbstverhältnis aufzufassen ist, als das Identität bereits beschrieben wurde. Durch die Synthese zeitlicher und ereignisspezifischer Differenzen, also die sprachliche Darstellung von Zeit und Veränderung in der Zeit, die der erzählerischen Entfaltung einer Geschichte zugrunde liegt, wird die temporale Struktur von Identität – und damit ist Sprachidentität gleichermaßen gemeint – gestützt. Die Erzählung ist als „offene und flexible Struktur“ (Brockmeier/Harré 2005: 48) zu verstehen, die das „Offene, Fließende und prinzipielle Unabschließbare menschlicher Erfahrung“ (ebd.: 48) tragen kann. Natürlich sind Erzählungen irgendwann für den Moment abgeschlossen. Es geht hier nicht um ein offenes Ende, das jeder Erzählung innewohnen soll, sondern um die generelle Dynamik einer Erzählung, vornehmlich
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um die Möglichkeit, Ereignisse und Figuren flexibel anzuordnen, Handlungsstränge aufzubauen und Relevanzen zu bestimmen. Zur Erklärung reicht die simple Vorstellung, dass dasselbe Ereignis betreffende Erzählungen gegenüber fremden Personen im Zug, Freunden beim Theaterbesuch und Verwandten am Abendbrotstisch jeweils anders ausfallen werden. Dieses anything goes, das allerdings nicht mit dem freien Erfinden einer Geschichte verwechselt werden sollte, ist der Schlüssel sowohl zur Identitätskonstruktion der Person wie zur Rekonstruktion von Identität durch Dritte. Die Vielfalt der Möglichkeiten des Erzählens beschert der Forschung überhaupt erst spannende Analysefelder. Das ist insofern plausibel, als von mehr denn nur den genannten Autorinnen die These vertreten wird, dass Erzählungen keine in Sprache übersetzte Wirklichkeit abbilden (vgl. bspw. Wygotski 1969, Wittgenstein 1984), die doch ähnlich ausfallen würden. So ist auch die Konstruktion von Sprachidentität im Erzählakt eine rein momentane Leistung, die sich vielleicht auf Vergangenes und nicht mehr zu beeinflussendes Geschehen bezieht, jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt variabel gestaltet wird. Jedes Erzählen von Vergangenheit entsteht einhergehend mit Interpretationen aus einer aktuellen Perspektive, die zur Ver- und Aushandlung des Standpunktes und der zugeschriebenen Bedeutungen einlädt (vgl. Straub 2010: 140/141). Für die Analyse bedeutet das vor allem, dass ein gelebtes Leben „nicht als solches zugänglich [ist], sondern nur als sprachabhängige Erinnerung, die immer schon als rekonstruktive Interpretation verstanden werden muss“ (Straub/Sichler 1989: 224). Dasselbe gilt für Antizipationen, die unter dem Einfluss des gegenwärtigen Moments stehen und ihre Ausgestaltung lediglich aus dieser Perspektive schöpfen können. Generell beziehen sich die Ausführungen immer auch auf zukunftsrelevante Überlegungen beim lebensgeschichtlichen Erzählen, die Mechanismen der Konstruktion von Zukünftigem ähneln denen der Vergegenwärtigung von Vergangenem. Konstruktivität des Erzählens Die zwei Ebenen einer Erzählung, das Erzählte und das Erzählen, müssen daher immer gemeinsam betrachtet werden. Diese doppelte Zeitperspektive stellt ein wesentliches Merkmal des Erzählens dar und führt gleichsam zur Verdoppelung der Person (vgl. Engelhardt 2011: 44). So ist die Erzählerin einerseits Erlebnisträgerin, sie ist das erzählte Ich, das in der Geschichte präsentiert wird. Andererseits ist sie mittels der Vergegenwärtigung in der Erzählsituation das erzählende Ich, das aus der zeitlichen und räumlichen Distanz zum Geschehen eben jenes reflektiert und evaluativ die eigene Geschichte bestimmt (vgl. ebd.: 44/45). Hier entstehen ein Vergangenheits-Ich und ein Gegenwarts-Ich, die durch das Erzählen in Vermittlung stehen. Das Erzählen kann dann verstanden werden als vermittelndes Selbstverhältnis (vgl. ebd.: 45), das das bereits angesprochene Kontinuitätsbedürfnis befriedigen kann. Analog zum erzählten Ich wird ein Ereignisraum präsentiert, der als erzählte Zeit
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bestimmt werden kann. Ihre Darstellung ist auf ein vergangenes „Orientierungszentrum“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 25) zurückzuführen. Zudem befindet sich das erzählende Ich zum Zeitpunkt des Erzählens in der Erzählzeit, die vom „aktuellen Orientierungszentrum“ (ebd.: 25) gespeist wird. In der Perspektive der erzählten Zeit erinnert die Erzählerin ein Geschehen, das das erzählte Ich erlebt, und entwickelt „Motive und Ziele in der Erzählung so, als ob der Weitergang des Geschehens noch ungewiss wäre“ (ebd.: 25). Die Perspektive der Erzählsituation muss das Erinnern durch die mittlerweile gewonnene Lebenserfahrung und schlicht das Wissen um den Ausgang der Geschichte erheblich beeinflussen, sodass die Erinnerung unter der Maßgabe der retrospektiven Teleologie (vgl. Brockmeier 1999: 36) als Konstruktion zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesehen werden kann. Straub bezeichnet diese Doppelung der Perspektiven als „eigentümliche Dialektik zwischen der Identifikation mit der lebensgeschichtlichen Vergangenheit (‘Betroffenheit’) und der Distanzierung von dieser Vergangenheit“ (Straub 1989: 189). Bei der Betrachtung lebensgeschichtlichen Erzählens werden die verschiedenen Ebenen berücksichtigt, die diesem Umstand Rechnung tragen. Dem Anspruch verschreibt sich insbesondere die Biographieforschung, indem sie „die Homologie zwischen Erleben und Erzählung“ (Rosenthal 2010: 197) konsequent ablehnt (vgl. z.B. Breckner 2005, Engelhardt 2011: 49). Hier ist für die Konstruktivität des Erinnerns zu unterscheiden zwischen • „den Ereignissen, die stattgefunden haben; • der Art und Weise, wie wir sie damals erlebt haben; • der Art und Weise, wie wir uns heute daran und an unser erlebendes Selbst erinnern • und der Art und Weise, wie wir davon erzählen.“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 29, kursiv i.O.)
Erzählen ist allerdings nicht nur eine konstruktive Leistung, die ihre Bausteine aus dem aktuellen Erfahrungsschatz der Erzählerin bezieht. Kontextuelle Merkmale, Erzählsituation und Kommunikationsziel, Erzählkonventionen sowie Interagierende bestimmen zusätzlich die Konstruktivität des Erzählens. Den situativen Bedingungen wurde in der Erzählforschung lange Zeit weniger Beachtung geschenkt (vgl. Bamberg 1999: 48). Dabei ist der Anspruch, das Erzählen auch als Kommunikationsprozess mit mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Teilnehmerinnen wahrzunehmen, nun nicht verblüffend abwegig. Gerade die Struktur einer Erzählung, ihre Möglichkeit auf eine bestimmte Art und Weise durch die Erzählerin entfaltet zu werden, wird von interaktiven und sozialen Faktoren bestimmt. Jede der Beteiligten hat ein spezifisches Interesse an der Erzählung, das nicht zwingend kongruent sein muss. Die „doppelte Kontingenz des Interaktionsprozesses“ (Schütze 1976: 8) entsteht durch die unterschiedlichsten Bedingungen und Einschränkungen, die beim Erzählen zwischen mehreren Personen eintreten. Die sozial erworbene Kenntnis
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über das Geschichtenerzählen und Geschichtenmiterleben erleichtert zwar den interaktiven Verstehensprozess, ist aber auch stark von den Aktivitäten der Gesprächsteilnehmerinnen abhängig. Zu den diesen Interaktionsprozess beeinflussenden Faktoren gehören beispielsweise eine gemeinsame oder unterschiedliche Weltsicht, thematische Abweichungen oder Tabus, Hemmungen der Erzählerin, bestimmte Sachverhalte detailliert darzulegen, mangelndes Interesse auf einer oder beiden Seiten oder die Bereitschaft der Hörerin, sich auf längere Erzählpassagen einzulassen (vgl. ebd.: 8/9). Die erzähltechnisch zur Verfügung stehenden Mittel der Erzählerin, der Hörerin eine noch unbekannte Erfahrungswelt zu eröffnen, wollen so gewählt sein, dass Nachvollziehbarkeit auch gewährleistet ist. Dazu müsste die Erzählerin ihre Geschichte auf das Vorwissen der Hörerin abstimmen und ihr die Möglichkeit einräumen, um Wiederholungen zu bitten und Unklarheiten zu erfragen. Die Hörerin kann verschiedene Funktionen in diesem Gefüge einnehmen. Sie kann beispielsweise zur „Verbündeten [der] Wirklichkeitskonstruktion“ (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004a: 34) der Erzählerin werden, indem sie sie aus ihrer Perspektive in ein Erlebnis einführt und versetzt. Ihre Motive und Handlungen sollen nachvollziehbar und akzeptiert werden, ist doch jede Erzählung auf Verständigung hin orientiert (vgl. ebd.: 34). Die Konsequenzen dieses Verständigungsbestrebens werden im Zusammenhang mit der Analyse narrativer Interviews, auf die im methodologischen Kapitel eingegangen werden soll, als „kognitive Figuren des Stegreiferzählens“ (Schütze 1984: 80) und „Zugzwänge des Erzählens“ (Kallmeyer/Schütze 1977: 166) beschrieben. Im Rahmen der Grundoperationen des Erzählens ist die Erzählerin zur Kondensierung, Detaillierung und Gestalterschließung (vgl. ebd.: 182) gezwungen, die die Verständigung durch das Schaffen einer in den meist engen Grenzen der Kommunikationssituation entstehenden, dennoch plausiblen Gesamterzählung bewirken soll. In der Analyse des Datenmaterials soll später gezeigt werden, in welcher Form Erzählerinnen ihre Erzählung kondensieren, indem sie relevante Ereignisse zur Darstellung auswählen, wie sie, immer auf Verständigung bedacht, bestimmte Detaillierungen vornehmen und durch die Erfahrungs- und Ereignisanordnung der Erzählung Gestalt und Bedeutung verleihen. Jedes reflexive und kommunikative Selbstverhältnis ist zudem in irgendeiner Form biographisch, denn niemand kann – sofern keine pathologischen Besonderheiten vorliegen – alles vergessen, verdrängen oder ignorieren, was er oder sie je erlebt hat und die Refiguration einer jeden Geschichte trägt. Erzählen bedeutet so verstanden lebensgeschichtliches Erzählen als sinnstiftende Konstruktionsleistung, in der Bedeutungen hergestellt, diachrone und synchrone Verweisungszusammenhänge geschaffen, Relevanzen des eigenen Lebens pointiert und die Komplexität eines Gewordenseins beschrieben werden. Aus gesprächsanalytischer Sicht wird die Erzählung vielfach als reinszenierende Gattung der Alltagskommunikation betrachtet, die bereits Dagewesenes noch einmal zum Gegenstand eines Gesprächs machen
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kann und die Hervorbringung narrativer Identität bewirkt (vgl. Sacher 2012: 72). Abseits philosophisch orientierter Bestimmungen bezeichnet narrative Identität aus dieser Perspektive „die Art und Weise, wie ein Mensch in konkreten Interaktionen Identitätsarbeit als narrative Darstellung und Herstellung von jeweils situativ relevanten Aspekten seiner Identität leistet. [Sie ist] eine lokale und pragmatisch situierte Identität, die durch eine autobiographische Erzählung hergestellt und in ihr dargestellt wird. Dies ist eine Identität, die für die jeweilige Situation und ihren Handlungsbedarf aus den bestehenden Ressourcen der Person geschaffen wird und deren Gültigkeit auch von den spezifischen Gegebenheiten ihrer Entstehungssituation abhängt.“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 55)
Lucius-Hoene und Deppermann fokussieren in ihrer Auffassung von narrativer Identität die einzigartige Situation, in der Erzählungen hervorgebracht werden und in ihrer Dynamik empirisch erfasst werden können. Auch an anderer Stelle bezeichnet narrative Identität unter den Prämissen dieses Ansatzes einen „grundlegende[n] Modus, die Welt und sich selbst in der Auseinandersetzung mit ihr zu konstruieren“ (Lucius-Hoene 2010a: 152). Würde lebensgeschichtliches Erzählen eher als Fenster oder Tor (vgl. ebd.: 153) zu einer dahinterliegenden Identität verstanden, wären die interaktive Basis von Identitätskonstruktion und die Komplexität des Geschehens aus der Betrachtung ausgeschlossen. Die thematische Engführung auf den Begriff der narrativen Identität stellt laut Lucius-Hoene eine Möglichkeit dar, „von manchen sozial- oder persönlichkeitspsychologischen und philosophischen Identitätskonzeptionen“ (ebd.: 149) im Sinne einer rein pragmatischen Orientierung durch die Konzentration auf das Erzählmoment Abstand zu nehmen. Dieser Annahme kann hier insofern zugestimmt werden, als bereits festgestellt wurde, dass Identitätskonstruktion maßgeblich auf den in erster Linie sprachlichen und erzählerischen Prozessen der Selbstthematisierung beruht. Allerdings bezieht sich die Auffassung von narrativer Identität stets auf eine „autobiographische Erzählung“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 55) von Selbsterlebtem. Im Hinblick auf die Vielzahl an sozial-interaktiven Phänomenen in den Gesprächen mit Hugenottennachfahren müssen Abstriche in der Anschlussfähigkeit dieser Annahmen für die vorliegende Untersuchung gemacht werden. Jedwede Äußerung in den Interviews, von metakommunikativen Kommentaren bis hin zu längeren autobiographischen Narrationen, wird in der Analyse und Auswertung relevant gesetzt. Gleichwohl können konzeptionelle und insbesondere methodische Ansätze aus der Arbeit von Lucius-Hoene und Deppermann diese Untersuchung leiten. Dies gilt für die erzählerischen Prozesse, in denen Geschichten hervorgebracht werden, die die Konstruktion von Sprachidentität bedingen. Diese konstruktive Leistung des Entfaltens, Formens und Pointierens einer Geschichte ist temporal und dynamisch, weil Wandel in und im Laufe von Zeit erzählt
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wird, und sie ist situativ und kontextuell bestimmt, weil sie den momentan gültigen sozial-interaktiven Bedingungen unterliegt. Insofern kann die These gestützt werden, dass das lebensgeschichtliche Erzählen als aktive Selbstkontinuierung (vgl. Straub 2000: 172) durch die an der Sinnbildung beteiligten Operationen auch im Dienst der Konstruktion von Sprachidentität steht. Sie ist dann eine narrativ konstruierte Sprachidentität. Die narrativ konstruierte Sprachidentität betrifft nur die Wie-Ebene und ist als Subkategorie der oben gegebenen Beschreibung maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass sie ausschließlich mit den Mitteln einer prototypischen Erzählung geschaffen wird und ihren Merkmalen entspricht. Sie unterliegt entgegen unidirektionaler Auffassungen dem vielfältigen Bedingungsgefüge des sprachlich-kommunikativen Aktes, insbesondere dem interaktionistischen Paradigma, das bereits beschrieben wurde. Sie ist ein sozial konstituiertes und flüchtiges Phänomen, das sowohl den Prozess ihrer Herstellung als auch das beobachtbare, aber immer nur vorläufige Produkt einer erzählerischen Auseinandersetzung darstellt und damit Teil der erzählten Geschichte ist. Daher ist es angebracht, die durch Erzählungen gestiftete Selbstkontinuierung als biographische Darstellung von Sprachidentität in Verbindung mit der sich im Gespräch vollziehenden Herstellung von Sprachidentität zu untersuchen. Natürlich erfüllt nicht jede Äußerung in einem Gespräch die Merkmale einer Erzählung, sodass Sprachidentität sowie narrativ konstruierte Sprachidentität gleichsam im Fokus der Betrachtungen stehen müssen.
3.3 DARSTELLUNG DER ERHEBUNGSMETHODE UND -SITUATION „Wo keine konsequente Verbindung zwischen Theorie und empirischem Gegenstand besteht, macht auch die Forderung einer „gegenstandsangemessenen“ Methodologie und Methodik wenig Sinn.“ (Alheit 2010: 222) Wird davon ausgegangen, dass Identität sowie Sprachidentität durch und im Moment der Sprachaktivität konstruiert werden, müssen ihre Rekonstruktionen als „Leistung[en], die mit dem Prozess wissenschaftlich-methodischer Interpretation erbracht“ (Strübing 2013: 3) werden, zwangsläufig in der sprachlichen Handlung gesucht werden. Damit sind die Operationalisierung der theoretischen Erkenntnisse und ihre Überführung in eine datengestützte Untersuchung gewährleistet. Die Verbindung von narrativistischen, biographischen und interaktionalen Ansätzen erscheint hier notwendig, geht es doch um das lebensgeschichtliche Erzählen und Hören, das auf eine bestimmte Art und Weise geschieht. Die Kritik an empirischer Identitätsforschung bezieht sich einerseits auf die Vernachlässigung der „lebensgeschichtlichen Perspektive“ (Mey 1999: 101) und insbesondere auf das Fehlen jener Erzählungen, die in transkribierter Form als Texte mit narrations- und gesprächsanalytischen Ansätzen untersucht
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werden können (vgl. Mey 1999: 101, Straub 2000: 184, Sdroulia 2007: 48). Die Forderung besteht weiterhin in der Anwendung „offene[r], qualitative[r] und interpretative[r] Verfahren der Erkenntnisbildung“ (Straub 2000: 184). Die Perspektive der kommunikativen Identitätskonstruktion macht ein Gespräch im Interview als interaktives Verfahren zur Datengewinnung unverzichtbar. Im Rahmen der sozialwissenschaftlichen, psychologischen, aber auch linguistischen Identitätsforschung können der Forscherin verschiedene, vor allem in der qualitativen Sozialforschung erarbeitete Interviewmethoden zur Erkenntnis verhelfen, die sich auch für die Rekonstruktion von Sprachidentität eignen. Es sollen hier sicher nicht alle in der qualitativen Forschung gängigen Interviewformen diskutiert werden. Diejenigen, die das Kriterium der „Gegenstandsangemessenheit […], die Passung von Forschungsgegenstand und methodischem Vorgehen“ (Helfferich 2009: 26, kursiv i.O.) im Zuge der Wahl aus dem reichen Methodenrepertoire erfüllen und in Betracht gezogen wurden, werden hier kurz vorgestellt. Gemäß den theoretischen Prämissen bedarf es eines Gesprächs, in dem Erzählungen generiert werden, die nicht nur als Forschungszugang zur Konstruktion von Sprachidentität, sondern erst als Ermöglichung des Konstruierens fungieren. Innerhalb des Gesprächs kommt es zwischen den Teilnehmerinnen zur interaktiven Aushandlung des Gemeinten, der Konstruktion von Sinnstrukturen und angestrebten Synthese diachroner und synchroner Heterogenität mithilfe symbolischer Mittel (vgl. Straub 2000: 172). Methodisch eignen sich aus diesen Gründen erzählgenerierende Interviews, die Sprache und Lebensgeschichte der Erzählerin betreffen. Zu den infrage kommenden qualitativen Verfahren der Datenerhebung zählen unter anderem die Formen des biographisch-narrativen Interviews (z.B. Schütze 1976, 1983, 1987) und des episodischen Interviews (Flick 2011 [1995]). Narratives Interview Die Technik des narrativen Interviews geht für den deutschen Sprachraum vornehmlich auf die Arbeit von Fritz Schütze zurück, der im Zuge der Erforschung kommunaler Machtstrukturen (1976) im Interview erzeugte autobiographische Erzählungen als Forschungszugang in den Sozialwissenschaften etabliert. Ziel des narrativen Interviews ist das Hervorlocken einer lebensgeschichtlichen Erzählung, die in ihrer Eigenschaft als subjektiv strukturierte Geschichte Hinweise auf Erfahrungswahrnehmung und Deutungsmuster bietet. Schütze macht sich die allgemeine anthropologische Leistung des Erzählens zunutze und schöpft aus der alltäglich auftretenden Kompetenz das Potential der Erhebungsmethode. Das Interesse an „Prozeßstrukturen des individuellen Lebenslaufs“ (Schütze 1983: 284) ist eng an die Interpretationen der gelebten Lebensgeschichte geknüpft und ergibt nur in Verbindung mit der im Interview rekonstruierten Lebensgeschichte ein beschreibbares Gesamtbild. Das Verfahren orientiert sich forschungstheoretisch am interaktionistischen Paradigma Meads und Goffmans, da hier jedwede Kommunikation als symbolver-
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mittelte Interaktion aufgefasst wird, die zur Konstitution von Gesellschaft stets Interpretations- und Verständigungsleistungen erfordert. Nur durch diesen Prozess, durch das Gespräch, entstehen die Bedeutungen, die für die Verfechterinnen des narrativen Interviews von grundlegendem Interesse sind. Das Interview gliedert sich in drei getrennte Phasen, deren Einhaltung durch die Interviewerin dieser Erhebungsmethode bei der klassischen Anwendung zur Unverwechselbarkeit verhelfen und so „wie ein Gütesiegel“ (Küsters 2009: 180) für die Wissenschaftlichkeit der erhobenen Daten wirken können. Auf einen gegebenen Erzählstimulus folgt in der ersten Phase des Interviews „die autobiographische Anfangserzählung, die […] vom interviewenden Forscher nicht unterbrochen wird“ (Schütze 1983: 285). Das narrative Interview zieht seine Vorteile aus der freien Entfaltung der unvorbereiteten Stegreiferzählungen seitens der interviewten Person, die das Gespräch maßgeblich dominiert. Nachdem die biographische Haupterzählung mit einer Erzählkoda endet, setzt die Interviewerin mit einem Nachfrageteil fort, der sich rückblickend auf die „Abschneidung weiterer, thematisch querliegender Erzählfäden, […] Raffung des Erzählduktus wegen vermeintlicher Unwichtigkeit, […] mangelnder Plausibilisierung und abstrahierender Vagheit“ (ebd.: 284) bezieht. Der Rückgriff erfolgt an dieser Stelle ausschließlich auf die im Hauptteil angesprochenen Ereignisse. In der letzten Phase kommt es zu abstrahierenden und evaluativen Beschreibungen durch Nachfragen der Interviewerin, die sich auch spezifischer auf das Forschungsinteresse beziehen können. Der Fokus des narrativen Interviews für die Analyse sozialer Wirklichkeit liegt auf der durch einen einzigen Erzählstimulus angeregten „Stegreiferzählung des selbst erfahrenen Lebenslaufs“ (Schütze 1984: 78), die Orientierung- und Handlungsstrukturen der Biographieträgerin aufdeckt und nur entstehen kann, wenn die Erzählerin „akzeptiert, sich dem narrativen Strom des Nacherlebens [ihrer] Erfahrungen zu überlassen“ (ebd.: 78). Während einer freien Stegreiferzählung kommen unterschiedliche Dynamiken zum Tragen, die als Merkmale von Erzählungen bereits angesprochen wurden. Es handelt sich um die drei Zugzwänge des Erzählens (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977, Schütze 1984), denen die Beteiligten unterliegen. Zwänge zur Gestalterschließung, Kondensierung und Detaillierung ergeben nach Meinung der Autoren bestimmte wiederkehrende Darstellungsmuster, die von Erzählung zu Erzählung vergleichbar sind. So wird die Erzählerin intuitiv versuchen, eine kohärente Erzählung mit plausiblen Gelenkstellen und schlüssigem Ende zu gestalten und dafür insbesondere Reparaturen erbringen. So verleiht sie der Erzählung eine Gestalt. Da eine Geschichte angesichts der Zeitnot aber wesentlich kürzer als der tatsächliche Ereignisverlauf erzählt werden muss, tritt der Zwang zur Kondensierung ein, indem die Geschichte durch die Erzählerin gerafft und pointiert wird. Letztlich muss die Erzählerin auch Detaillierungen vornehmen, um die Verständigung bei der Interviewerin unbekannten Sachverhalten zu gewährleisten (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977: 162). Dabei kommt es oft zur detailgenauen „szenischen Darstellung von Situationshöhepunk-
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ten“ (Schütze 1984: 90). In den Augen Schützes und Kallmeyers führen diese Zugzwänge durch Spontaneität und Inanspruchnahme der gesamten Aufmerksamkeit besonders verlässlich zur ungeschönten Darstellung, die den Zugang zur tatsächlichen subjektiven Wirklichkeit zulässt (vgl. Schütze 1987: 254). Es entstehen „Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren“ (Schütze 1983: 285), dass der zeitlichen Abfolge des Erlebens mithilfe der zeitlichen Darstellung im Gespräch Rechnung getragen werden kann. Schütze geht davon aus, dass „in der narrativ-retrospektiven Erfahrungsaufbereitung […] prinzipiell so berichtet [wird], wie die lebensgeschichtlichen Ereignisse […] vom Erzähler als Handelndem erfahren worden sind“ (Schütze 1976: 197). Daher ist auch für die nachfolgende Analyse die Beachtung der sequentiellen Struktur der Erzählung von erheblicher Bedeutung, weil sie in Analogie zur temporalen Erfahrungsaufschichtung des Lebenslaufs steht (vgl. Schütze 1983: 285). An dieser Stelle erntet die Auffassung Schützes neben aller Würdigung dieses intensiven Verfahrens immer wieder grundlagentheoretische Kritik angesichts der angenommenen „Homologie von Erzählkonstitution und Erfahrungskonstitution“ (Bude 1985a: 329) als „erkenntnistheoretische Naivität“ (Nassehi/Saake 2002: 72). Auch methodisch werden Unzulänglichkeiten des Verfahrens hinsichtlich der strikten Interviewführung und der daraus folgenden künstlichen Situation bemängelt (vgl. Witzel 1982). Die kritische Auseinandersetzung mit Schützes Auffassung befruchtet allerdings auch die theoretische und methodische Weiterentwicklung des narrativen Interviews, indem verstärkt auf die Diskrepanz von biographischer Erfahrung und retrospektiver Erfahrungsaufbereitung eingegangen wird (vgl. Rosenthal 2010: 201). Das autobiographische Erzählen bezieht sich per definitionem nur auf prozessuale Darstellungen. Zustände, Einstellungen oder Theorien können nicht erzählt werden und so ist das narrative Interview als Erhebungsmethode „dort nicht geeignet, wo man Dinge beschreiben oder über sie abstrakt oder hypothetisch reflektieren, sie z.B. beurteilen oder einschätzen soll“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 82, Herv. i.O.). Die formale Textanalyse verlangt explizit nach der Eliminierung der „nicht-narrativen Textpassagen“ (Schütze 1983: 286). Diese Einschränkung erfordert für die vorliegende Studie mindestens eine Kombination mit anderen Verfahren. Dennoch können hier Anleihen des Konzepts beispielsweise für die einzelnen Erzählpassagen gemacht werden. Gerade auch die angeratene „sequenzierende Analyseeinstellung“ (ebd.: 284) kann nicht nur auf die Temporalstruktur der tatsächlichen Lebensgeschichte, sondern vor allem auf die das Interview strukturierende Anordnung der geschilderten, dargestellten und beschriebenen Haltungen, Ansichten oder Ereignisse angewendet werden.
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Kombination verschiedener Interviewverfahren Je nach Forschungsinteresse bietet sich eine Kombination aus verschiedenen Interviewformen an. Ein biographisches Interview unterscheidet sich vom narrativen Interview insbesondere durch die Berücksichtigung aller Textformen. Nicht nur die narrativen Passagen, die dem Labov’schen Normalschema einer Erzählung entsprechen, sondern auch Zustands- und Einstellungsbeschreibungen, argumentative Passagen und Bewertungen werden in gleicher Gewichtung in die Analyse und Auswertung einbezogen. Weiterhin kann ein Leitfaden herangezogen werden, um forschungsrelevante Themenbereiche anzusprechen. Dabei handelt es sich nicht zwangsläufig um ein standardisiertes Verfahren, wenn ein Leitfaden verwendet wird. Das methodologische Kriterium der Flexibilität in der qualitativen Sozialforschung sollte durch den Verzicht auf standardisierte Erhebungsinstrumente in Form von Fragebögen gewährleistet werden (vgl. Lamnek 1995: 63). Eine Orientierungshilfe verwirkt jedoch nicht sofort den Status offener Forschung, zu viele Faktoren bedingen die Unvorhersehbarkeit der Interviewsituation (vgl. Flick 2009: 221). Der Interviewverlauf hängt in hohem Maß von den Befragten ab und bietet der Forscherin den höchstmöglichen Erkenntnisgewinn durch die Möglichkeit der Informationsvertiefung, wenn diese die Flexibilität trotz des Leitfadens konsequent beibehält (vgl. Lamnek 1995: 63, Schart 2001: 54). Wie schwer es fällt, nicht in „starres Insistieren“ (Lamnek 1995: 63) auf die vorab formulierten Leitfragen zu verfallen und dennoch immer wieder den Rückbezug zum Forschungsthema zu ermöglichen, sollte sich im Verlauf der Interviews noch herausstellen und die unerfahrene Interviewerin vor eine schwere Aufgabe stellen. Denn jedes Interview stellt einen neue zwischenmenschliche Begegnung dar, die sich unter veränderten und unvorhersehbaren Prämissen konstruiert und dennoch demselben Ziel dienen soll (vgl. Schart 2001: 53). Dass in qualitativen Interviews kein standardisierter Fragenkatalog abgearbeitet werden soll, dient nicht nur der Informationsvertiefung, sondern kann bei der Befragten das „lebensnähere Antworten“ (Lamnek 1995: 56) ermöglichen. Die Überlegungen, die vor der Durchführung der Interviews angestellt wurden, bezogen sich natürlich auf Erhebungs-, Analyse- und Auswertungsmethode, doch in einem ersten Schritt auf die Herstellung einer angenehmen Interviewatmosphäre und die damit in Verbindung stehende erste Frage. Die stimulierende Eingangsfrage sollte sowohl die befremdliche Situation – immerhin treffen sich Unbekannte für ein relativ intimes Gespräch – als auch einen Erzählvorgang bei der Befragten generieren. Im vorliegenden Fall wurden die interviewten Personen zwar gemäß des narrativen Interviews gebeten, anhand eines durch die Interviewerin gegebenen Stimulus frei zu erzählen, aber ein Leitfaden diente der Fokussierung und letztlich der Vergleichbarkeit der Interviews. Immerhin sollten nicht völlig unterschiedliche Fragestellungen die Untersuchung beeinflussen und somit eine gewisse Repräsentativität gefährden, denn „der Leitfaden kann auch dazu dienen, Ergebnisse verschiedener
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Einzelinterviews vergleichen zu können“ (Friebertshäuser/Langer 2010: 439). Im episodischen Interview (Flick 2011 [1995]) werden die Vorteile des biographischen, narrativen und leitfadengestützten Interviews verbunden, es entspricht einer „Kombination von offener Befragung und Erzählung“ (Flick 2011: 273). In dieser Mischform werden in Frage-Antwort-Sequenzen semantisches Wissen und, über Erzählanstöße, episodisches Wissen in Form von Situationsschilderungen, komplettiert durch einen Leitfragen, im Gespräch erhoben (vgl. ebd.: 239). Der Vorteil des episodischen Interviews liegt auch in der Nähe zu einem Alltagsgespräch durch die Kombination von Erzählungen sowie einzelner zielgerichteter Fragen (vgl. Lamnek 2005: 363). Die methodeninterne Triangulation als „Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand“ (Flick 2008: 12) bewirkt vor allem den Ausgleich von angesprochenen Mängeln in der Anwendung einer einzigen Interviewform. Regelmäßige Erzählaufforderungen ermöglichen stets neue Anlässe zur Konstruktion seitens der interviewten Person. Die wechselseitige Ausrichtung der Erhebung ergibt zudem Daten, die weit mehr als die im narrativen Interview hervorgebrachte Stegreiferzählung für ein Interview als Interaktionsprozess sprechen. Ein Zustandekommen der unterschiedlichen Datensorten, also argumentativen Aussagen, subjektiven Definitionen, Beispielschilderungen, Repisoden und Situationserzählungen (vgl. Flick 2011: 279), verdankt das episodische Interview der Berücksichtigung des Interviews als soziales Handeln, als Konstruktionsprozess, in dem adressatengerecht Verständigung erzeugt werden soll. So finden Konstruktionen von Sprachidentität durch das „Aufeinander-Bezugnehmen […], den Zuschnitt der Äußerungen auf das konkrete Gegenüber, […] [und] die gemeinsame Herstellung von Sinn“ (Deppermann 2013b: Abs. 18, kursiv i.O.) statt. Die vorliegende Untersuchung folgt dieser Ansicht unter der Maßgabe der Gegenstandsangemessenheit und fasst Interviews als situierte Interaktionsereignisse auf (vgl. Deppermann 2013b: Abs. 60), in denen die Konstruktion von Sprachidentität am ehesten gelingen kann. Die in dieser Studie angewandte Erhebungsmethode eines biographisch-narrativen Leitfadeninterviews stellt eine Kombination dar, die ihre Vorteile im Hervorlocken von Stegreiferzählungen des narrativen Interviews, in den offenen FrageAntwort-Sequenzen und der Fokussierung auf Themenbereiche des episodischen Interviews findet. Diese Fokussierung macht sich auch ein nicht mehr ganz junges Konzept zunutze, das in der Erforschung von Sprachidentität ebenfalls beachtet werden muss und hier zurate gezogen wird. In der Sprachbiographieforschung wird mit sprachbiographisch-narrativen Interviews zur Datengewinnung gearbeitet (vgl. Fix/Barth 2000: 31, Franceschini/Miecznikowski 2004: x, Treichel 2004: 47), teilweise werden auch hier Leitfäden zur Orientierung eingesetzt. Der Einzug der Sprachbiographien in soziolinguistische Untersuchungen ist mit einer Reihe von möglichen Begriffsbestimmungen und Darstellungen von Anwendungsgebieten verbunden. Tophinke (2002) unterscheidet drei Konzepte der Sprachbiographie, die unter-
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schiedliche soziale und individuelle Aspekte beleuchten. Die Sprachbiographie kann die gelebte Geschichte als solche sein, wobei die individuelle sprachliche Erfahrung immer in Verbindung mit „sozialen Situationen und den darin stattfindenden Prozessen der Selbstdarstellung, der Beziehungsherstellung und -ausgestaltung“ (Tophinke 2002: 2) steht. Ferner kann Sprachbiographie die Geschichte darstellen, die vom Individuum rein kognitiv als Rekonstruktion sprachrelevanter Ereignisse erinnert wird. Diese Erinnerung ist Tophinke zufolge beeinflusst von sozialen Sinnschemata (vgl. ebd.: 2). Die dritte Form der Sprachbiographie wird als „sprachliche Rekonstruktion der Geschichte“ (Tophinke 2002: 2) bezeichnet. Dabei wird lediglich die Sprachbiographie unter funktionaler Einbindung in sozial-kommunikatives Geschehen erinnert (vgl. ebd.: 2.). Die sozial-kommunikative Funktion besteht in der Verfertigung von sozialen Sinnschemata und Wirklichkeitsmodellen, die dem sprachlichen Subjekt dazu dient, seine Erlebniswelt zu strukturieren: „So ist Sprache wichtiges Medium der Beziehungsherstellung und -ausgestaltung sowie der Vermittlung sozialer Sinnschemata und Ordnungsstrukturen.“ (Ebd.: 4) Der konstruktive Charakter einer sprachbiographischen Schilderung ergibt sich aus der Verknüpfung einzelner Erinnerungsfragmente zu einem kohärenten Gesamtbild (vgl. ebd.: 9–11). Die Methode der Sprachbiographie ist eine „spezielle Form eines biographischen Vorgehens“ (Franceschini 2002: 20), das bereits aus anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen bekannt ist und bei dem nun „thematisch das Erleben von Sprachlichem im Vordergrund“ (ebd.: 20) steht. Dabei wird weniger der eigentlichen Lebensgeschichte Beachtung geschenkt, vielmehr ist der rekonstruktive Charakter von Erinnerung Zentrum biographischer und auch sprachbiographischer Forschung, denn „das Erzählen beinhaltet implizit eine retrospektive Interpretation des erzählten Handelns“ (Lamnek 1995: 71, kursiv i.O.). Sprachbiographien bieten sich insbesondere für die Erforschung des Spracherlebens mehrsprachiger Sprecherinnen an und werden zunehmend als methodisches Werkzeug auch in Bereichen dialektaler oder jugendsprachlicher Studien (vgl. Lamnek 1995: 24) verwendet. Die sprachbiographische Forschung entwickelt zudem den Ansatz auf Basis bewusstseinstheoretischer Erkenntnisse weiter und nutzt die „kreative Visualisierung mithilfe so genannter Sprachenportraits“ (Busch 2011: 1) als Möglichkeit des Sprechens über Sprache. Für Sprachenportraits werden die Befragten gebeten, in eine leere, menschliche Silhouette die Sprachen, mit denen sie in ihrem Leben konfrontiert sind oder die noch eine Rolle spielen sollen, farblich im Körper zu verorten (vgl. Krumm 2002: 197). Die leere Silhouette soll von der Forscherin vorgelegt und mit der entsprechenden Aufgabenstellung verknüpft werden. Die Befragte kann dann entscheiden, ob sie ihr Sprachenportrait ausfüllen will. Diese Aufgabe beruht auf absolut freiwilliger Basis und sollte nicht erzwungen, sondern erbeten werden. Durch eine Legende werden die einzelnen Farbgebungen entschlüsselt. Krumm geht davon aus, dass Sprachenportraits individuelle Sprachbiographien enthüllen können und die körperliche Verortung der Sprachen Einblicke in das Sprachbe-
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wusstsein sowie auch in das emotionale Gewicht von Sprachen geben kann (vgl. ebd.: 200). Wird die Sprachidentität eines Individuums untersucht, bezieht sie doch immer lebensgeschichtliche sozial-kulturelle Umstände ein. Daher eignet sich das Sprachenportrait zumindest als Einstieg, über die Sprachen eines Menschen zu sprechen; es ist nahezu spielerisch und kann ein „Stück Lebens- und Sprachgeschichte spiegeln“ (ebd: 201). Basierend auf Erkenntnissen insbesondere der psychologischen und soziologischen Auseinandersetzung mit Bildern (vgl. Breckner 2008, 2010, 2013) nennt Busch folgende Vorteile des Zeichnens von Sprachenportraits: 1) „Das Zeichnen öffnet einen Raum des Innehaltens, der selbstreflexiven Verzögerung und Distanznahme, der sich den Zugzwängen des Erzählens und vorschnellen Rationalisierungen ein Stück weit entzieht. […]. 2) Das Denken und Darstellen in Bildern fungiert als eigenständiger Modus, in dem Bedeutung geschaffen wird. Anders als die Erzählung, die linear und sequentiell strukturiert ist, lenkt der visuelle Modus den Blick auf das Ganze (die Gestalt) und die Relationalität der Teile zueinander. […]. 3) Das Bild dient als Ausgangspunkt und als Referenzpunkt für die nachfolgende interpretierende Erzählung, es elizitiert und strukturiert sie.“ (Busch 2011: 6) Um Identitätskonstruktionen und lebensgeschichtliche Kontextualisierungen bei den Interviewten hervorzurufen, muss der Grundreiz von Anbeginn Rückschlüsse auf die aktuellen inneren Prozesse und Ermöglichung sprachidentitärer Konstruktionen gewähren (vgl. Lamnek 1995: 65). Da sich unter den befragten Hugenottennachfahren auch zwei Kinder von 12 und 14 Jahren für ein Interview bereit erklärten, fiel die Wahl für den Erzählstimulus auf die vorgestellten Sprachenportraits. Nach einer gemeinsamen Reflexion über das ausgefüllte Sprachenportrait schloss sich das Gespräch an, das thematisch einerseits von der Interviewten selbst geleitet, andererseits durch den Leitfaden in bestimmte Richtungen gelenkt werden konnte. Dabei ergaben sich Aussagen zur aktuellen Sprachsituation, Sprach- und Schrifterwerb des Französischen, familiale Sprachensituation und zu weiteren Themenkomplexen, die noch näher erläutert werden sollen. Interpretationsschwierigkeiten, Unklarheiten oder mögliche Anknüpfungspunkte wurden notiert, um sie an geeigneter Stelle aufzugreifen und gegebenenfalls zu vertiefen. Der sprachbiographische Ansatz kann also durch die Fokussierung auf das Spracherleben im Gespräch dazu beitragen, Sprachidentität durch die Erzählerin zu konstruieren und für die Forscherin erfahrbar zu machen. Das Erstellen eines Postskriptums soll dazu dienen, Zusatzinformationen, die durch die Forscherin beim Interview gewonnen werden konnten, festzuhalten. Darin finden sich Informationen zur Befragungssituation, Reaktionen und Dispositio-
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nen des Interviewten, Besonderheiten beim Verlauf des Gesprächs sowie Äußerungen nach dem Aufnahmestopp, die der weiterführenden Reflektion dienen können und den „authentischen Nachvollzug des Falles und seiner Interpretation“ (ebd.: 98/99) erleichtern. Es ist sinnvoll, ein Forschungstagebuch zu erstellen, das die Arbeit, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken kann, dokumentiert und all ihre Einzelschritte, Veränderungen und (Miss)Erfolge detaillierter als die vorliegende Studie beschreibt, denn „die Linearität der Textsorte [macht] es schwierig, all die Brüche darzustellen, die den Verlauf eines Forschungsprozesses prägen“ (Schart 2001: 41).
3.4 ANALYSE UND AUSWERTUNG DER INTERVIEWS Einen für die Untersuchung passenden Analyserahmen zu finden, der im Hinblick auf die Forschungsfragen zu verlässlichen Antworten führt, erweist sich für die Forscherin als diffiziles Unterfangen. Interdisziplinäre Verschränkung der theoretischen Prämissen sowie die Verbindung von Interviewformen machen es im Hinblick auf unterstützende Literatur zur Auswertung qualitativer Interviews noch schwieriger. Da ein Großteil der kanonisierten Auswertungsverfahren darauf abzielt, die Vergleichbarkeit von Fällen zu ermöglichen, sollte hier aufgrund der Fragestellung nach individuellen Identitätskonstruktionen und der Verortung einmaliger Sprachidentitäten ein Analyseverfahren gefunden werden, das die Charakteristika jedes Gesprächs einzigartig abbildet, auch wenn in einem letzten Schritt über den Einzelfall hinausgegangen werden soll. Der Gefahr der vorschnellen Verallgemeinerung von sprachidentitären Entwürfen darf die vorliegende Studie nicht ausgesetzt werden, zumal die Generalisierbarkeit kontextuell bedingter, situierter und stets vorläufiger Identitätskonstruktionen bereits angezweifelt wurde. Dennoch sollen die Ergebnisse in einem letzten Schritt als empirischer Beweis für die Modellbildung des Begriffs Sprachidentität beitragen. Die folgende Darstellung möglicher Analyseinhalte ist exemplarisch und wird schließlich am Datenmaterial konkretisiert. Die Kombination von Interviewverfahren und die Art der daraus entstandenen Daten erfordert eine Verschränkung von Analyse- und Auswertungsschritten, die der qualitativen Sozialforschung entnommen sind. Die textanalytische Methode Schützes wurde von Fischer-Rosenthal und Rosenthal (1997) im Hinblick auf eine rekonstruktive und sequentielle Analyse der Daten um Verfahren der Objektiven Hermeneutik von Oevermann et al. (2002) weiterentwickelt und kann auch in der vorliegenden Studie neben weiteren Verfahren herangezogen werden. Die Weiterentwicklung fokussiert dabei den Unterschied zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte. Gerade die Gegenüberstellung von Erleben und daraus resultierender Erzählung kann die Besonderheiten temporaler Verknüpfungsleistungen für den
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Beobachter erfahrbar machen (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 148, Rosenthal 2010: 201). Von den sechs Schritten der Analyse – 1. Analyse der biographischen Ereignisdaten, 2. Text- und thematische Feldanalyse, 3. Rekonstruktion der Fallgeschichte, 4. Feinanalyse einzelner Textstellen, 5. Vergleich und Kontrastierung der erzählten und der erlebten Lebensgeschichte, 6. Bildung der Typologien (vgl. Rosenthal 2014: 184ff) – können hier auch aufgrund des Fehlens gesamtbiographischer Erzählungen nur Anleihen bezogen werden. In der Methode gilt vor allem, die Differenzen zwischen Erleben und Erzählen in den vorliegenden Daten zu entdecken. Daher werden „die beiden Ebenen […] in getrennten Auswertungsschritten“ (Rosenthal 2010: 201) untersucht. Da beispielsweise biographische Ereignisdaten der Interviewten nicht immer bekannt sind, kann hier nur grundsätzlich dem angeratenen Prinzip, das Augenmerk auf die „dialektische Beziehung zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen“ (ebd.: 216) und die jeweiligen Verweisungszusammenhänge zu richten, Folge geleistet werden. Die Interpretation dieser Unterschiede ermöglicht durch die methodisch kontrollierte Rekonstruktion nach der textnahen Gegenstandsanalyse auch theoretische Aussagen über interaktive Besonderheiten, typische Muster oder Regelhaftigkeiten einer Selbstthematisierung. Für die Untersuchung der Konstruktion von Sprachidentität ist ein rein rekonstruktionslogisches Vorgehen entscheidend, das mit dem „Prinzip der Offenheit“ (Hoffmann-Riem 1980: 343) ohne vorgefertigte Kategorien oder Hypothesen an das Material herangeht. Als Gegenteil kann ein subsumptionslogisches Verfahren bezeichnet werden (vgl. Oevermann 2002: 20), bei dem hypothesenstützende Textteile auch zur Darlegung von Regelmäßigkeiten explizit gesucht, zusammengefasst und unter eine bestimmte Kategorie subsumiert werden, wie es beispielsweise in der qualitativen Inhaltsanalyse geschieht (vgl. Mayring 2000 [1983]). Hier bietet sich ein solches Verfahren nicht an, es würde die sequentielle Struktur des Textes auseinanderreißen, den spezifischen Konstruktionsablauf nicht würdigen und das Verstehen behindern. Wichtig ist jedoch, dass die schrittweise Konstruktion im Interview durch die Gesprächsteilnehmerinnen in eine ebenso prozessual strukturierte Analysehaltung der Forscherin durch die Beibehaltung der textuellen Form überführt wird. Die Abfolge der angesprochenen Themen und Erzählinhalte hat eine ganz eigene Konstruktionsdynamik, die Aufschluss über die Struktur lebensgeschichtlicher Relevanzen durch die Erzählerin gibt. Die aufmerksame Fallrekonstruktion kann den Besonderheiten der Interaktion Rechnung tragen und das Typische im Individuellen darstellen (vgl. Bude 1985b: 86). Jeder Text wird daher ohne Bezug etwa auf einen bereits analysierten wie ein erster Text behandelt und untersucht. Ein rein datengetriebener Ansatz, der den Konstruktionsprozess in seiner Sequentialität des Gesprächs berücksichtigt, kann am ehesten Erkenntnisse hinsichtlich der in der Interaktion stattfindenden Sprachidentitätskonstruktion liefern, wenn die temporale Abfolge – warum etwas gerade jetzt und in dieser Art und Weise angesprochen wird – konstruktionsrelevant ist.
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Das Kriterium der Gegenstandsangemessenheit (vgl. Flick 1991: 148) wird hier dadurch gewährleistet, dass sich „die Prozesse der Konstruktion durch die Interviewerin und Erzähler im Interview und der Rekonstruktion von Sinn bei der Auswertung […] spiegelbildlich zu einander verhalten“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 95, kursiv i.O.). Gerade wenn Identität und mithin Sprachidentität auch als sinnbildende Leistung im Kommunikationsakt definiert werden, ist ein Analyse- und Auswertungsverfahren, das Sinnbildungsstrukturen und Bedeutungsstiftung zu erfassen vermag, eine forschungslogische Unabwendbarkeit. Ein Vorteil rekonstruktiver Analyseverfahren besteht weiterhin in der Maßgabe, dass es für die Verteidigung eines Einzelfalls keinerlei Beweisführung durch weitere Texte bedarf (vgl. Lewin zit. nach Rosenthal 2015: 80). Die Wiederkehr von Regeln oder Konzepten, die durch einen Text für die interviewte Person bestimmt werden können, ist für die Haltbarkeit der Regel irrelevant (vgl. ebd.: 80). Die Genese von Verallgemeinerung, Regelhaftigkeit oder Typenbildung wird in der Diskussion um Generalisierungsmöglichkeiten von Einzelbefunden detaillierter besprochen. Eine generell sinnvolle Analysehaltung lässt sich schlicht mit der Annahme zusammenfassen, dass alles im Gespräch eine Bedeutung hat, nichts per Zufall passiert und selbst unwichtig erscheinende Details in die Analyse und Auswertung einbezogen werden müssen (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 99, Deppermann 2010: 646). Das Datenmaterial darf von „scheinbar irrelevanten Bestandteilen“ (Bergmann 2010: 266) wie Pausen oder Brüchen nicht gelöst werden, denn „there is order at all points“ (Sacks 1984: 22). Diese Arbeit folgt daher in der Textbearbeitung unter anderem den von Lucius-Hoene und Deppermann angeratenen Prinzipien der Datenzentrierung, Rekonstruktionshaltung, Sinnhaftigkeitsunterstellung, Mehrebenenbetrachtung, Sequenzanalyse und Kontextualität, Zirkularität und Kohärenzbildung sowie Explikativität und Argumentativität (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 97) und versucht so auch aktuellen Forderungen für die Erforschung der interaktiven Konstitutionsweise von Interviews gerecht zu werden (vgl. Deppermann 2013b: Abs. 61). Die Arbeit insbesondere im zweiten Schritt der Feinanalyse basiert auf den heuristischen Ausgangsfragen der Texterschließung. Es sind detaillierte Fragen, die den hermeneutischen Verstehensprozess der Interaktion unterstützen sollen. Sie können nicht im Einzelnen in der Analyse beantwortet werden, dienen aber als Gerüst der Überlegungen bei der Betrachtung des Textes. • • • • • •
„Was wird dargestellt? Wie wird es dargestellt? Wozu wird das jetzt so dargestellt? Wozu wird das jetzt dargestellt – und nicht etwas anderes? Wozu wird es so dargestellt – und nicht in einer anderen Art und Weise? Wozu wird es jetzt dargestellt – und nicht an einer anderen Stelle?“ (LuciusHoene/Deppermann 2004a: 179–184, kursiv i.O.)
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Jedem Interview wird mit erzählanalytischen, gesprächsanalytischen und hermeneutischen Verfahren begegnet, um Inhalt und Struktur sowie Interaktion und Performanz als Ressourcen der Identitäts- und Sprachkonstruktion beschreiben zu können. In einem ersten Schritt wird der Datentext auf seine Besonderheiten hinsichtlich der verwendeten Textsorten, der einzelnen Erzählsegmente und der angesprochenen Themen untersucht. Diese makrostrukturelle Untersuchung dient der Identifizierung geeigneter Passagen für eine Feinanalyse (vgl. Lucius-Hoene 2010b: 593). Thema, Segmentierung und die Verwendung von Textsorten bedingen einander insofern, als die Präsentation eines biographischen Abschnitts beispielsweise narrativ, beschreibend oder argumentativ geschehen kann und an eine zeitliche und inhaltliche Eingrenzung geknüpft ist (vgl. Flick 2011: 279). Handelt es sich im vorliegenden Fall zwar nicht um klassische narrative Interviews, die zwingend eine biographische Gesamtgestalt elizitieren, sind einzelne Passagen dennoch für die Darstellung lebensgeschichtlicher Zusammenhänge zu erkennen und müssen einer adäquaten Analyse unterzogen werden. Die „Teilphasen lebensgeschichtlicher Prozeßabläufe“ (Schütze 1984: 89) dienen der Erzählerin als einzelne Segmente zur Strukturierung eines Gesamtzusammenhangs. Das Erkennen von „supra-segmentalen Darstellungszusammenhänge[n], die sich auf übergreifende lebensgeschichtliche Prozeßabläufe beziehen“ (ebd.: 91), kann dazu beitragen, die Komplexität einer Lebensgeschichte aufzudecken (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 112). Auch wenn die einzelnen Segmente zum Teil nur in knappen Frage-Antwort-Sequenzen erscheinen oder noch so kurz und elliptisch wirken, werden sie in der Analyse im Rahmen der Einhaltung der Sequentialität beachtet und auf ihre Eigenschaften geprüft. So können auch kleinere, in der Dynamik des Gesprächs entstehende Erzählungen ausfindig gemacht werden. Als hochgradig kontextabhängige und konversationelle Erzählungen, die nicht allen Merkmalen von Erzählungen, beispielsweise dem starren Labov’schen Erzählschema, entsprechen, gelten die sogenannten small stories (Bamberg 2006, Georgakopoulou 2007), die in soziolinguistischer und interaktionaler Perspektive als Modus der Identitätskonstruktion untersucht werden. Im Gegensatz zur biographischen Gesamterzählung sind small stories stärker an den spezifischen Gesprächsverlauf gekoppelt und unterliegen als soziale Praxis ständiger Aushandlung (vgl. Georgakopoulou 2007: 4). Durch die offene Gestaltung des Interviews kann es leicht zu solchen kleinen interaktionalen Erzählungen kommen, „stories that do not necessarily thematize the speaker, definitely not a whole life, but possibly not even events that the speaker has lived through, […] often even not particularly interesting or tellable…“ (Bamberg 2006: 71). Die vermeintlich irrelevanten Textpassagen werden mit derselben Sorgfalt untersucht, um den Konstruktionsprozess nachzeichnen zu können. Durch sprachlich realisierte Rahmenschaltelemente („und dann“, Schütze 1984: 79) oder parasprachliche Besonderheiten wie Pausen oder absinkende Intonation, insgesamt „Signale, mit denen ein Sprecher eine intendierte Fokusänderung anzeigt“
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(Müller 1984: 78), Zusammenfassungen eines biographischen Abschnitts durch die Koda („it was the funniest thing I’ve ever seen“, Thornborrow/Coates 2005: 5) oder meta-narrative Ankündigungen („Ich muss noch einmal darauf zurückkommen“) können die einzelnen Segmente im Analyseprozess voneinander getrennt werden (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 110). In jedem Analyseschritt werden Hypothesen gebildet, die darauf abzielen, die Motive und Handlungsoptionen der Erzählerin im erlebten Kontext zu rekonstruieren, um daraufhin das Darüber-Erzählen mit der hypothetischen Überlegung zu vergleichen und Unterschiede zu filtern. Dieses Vorgehen erfordert allein aufgrund von knappen Gesprächsphänomenen (vgl. Deppermann 2000a: 101) den Einbezug von gespächsexternen Wissensressourcen und entspricht nicht nur einem heuristischen Verständnis der Interpretation von transkribierten Gesprächsdaten. Die Interaktion der Beteiligten erwirkt im Entstehungsmoment immer schon interpretative Leistungen bei der Hörerin und Prognosen über den Fortgang dessen, was ihr erzählt wird. Eine thematische Analyse gibt in diesem Zusammenhang Hinweise auf die Strukturierung der biographischen Gesamtgestalt, auf die Verwendung narrativer oder kultureller Muster, auf Pointierungen und auf die durch die Erzählerin empfundene oder gemeinsam ausgehandelte „Erzählwürdigkeit“ (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004a: 127) biographischer Aspekte. Die Erzählwürdigkeit oder tellability kann als „extent to which [personal events] convey a sequence of reportable events and make a point in a rhetorically effective manner“ (Ochs/Capps 2001: 33) bezeichnet werden. Ob ein lebensgeschichtliches Ereignis das Kriterium der tellability erfüllt, wird sowohl von der Erzählerin als auch der Hörerin durch eine Zusicherung entschieden (vgl. Lucius-Hoene 2010a: 158, Ochs/Capps 2001: 34), insbesondere um ein „So what?“ (Labov 1972: 362) als unangenehme Antwort auf eine Erzählung zu vermeiden. Die Analyse der thematisch-sequentiellen Struktur offenbart auch durch die verschiedenen Operationen des zeitraffenden, zeitdehnenden und zeitdeckenden Erzählens sowie Zeitsprüngen und Pausen (vgl. Martinez/Scheffel 2003: 40) den Umgang mit der doppelten Zeitperspektive und in einem weiteren Schritt die Relevanzsetzungen. Ziel der hier selektiv besprochenen Möglichkeiten in der makrostrukturellen Analyse des Transkripts ist einerseits „die Aufdeckung seiner Konstruktionsdynamik“ (Lucius-Hoene 2010b: 593), andererseits die Vorbereitung der feinanalytischen Arbeit. Sie beruht im Wesentlichen auf dem sequentiellen Herausarbeiten der interaktiv-kommunikativen, insbesondere der sprachlichen Phänomene, die die Konstruktion der Sprachidentität bewirken.
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Konversationsanalyse, Gesprächsanalyse, Diskursive Psychologie, Interaktionale Linguistik Ein so verstandener Ansatz bedarf in der Mikroanalyse unter anderem konversationsanalytischer Methoden, die basierend auf Konzepten der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) unter anderem aus Studien zur sozialen Interaktion entwickelt wurden (vgl. Sacks et al. 1974, Kallmeyer/Schütze 1977, Goodwin/Heritage 1990). Die Konversationsanalyse sucht ihre Erkenntnisse nicht über vorgefertigte Kategorien, sondern will mittels Sequenzanalysen „soziale Formen und Prozesse in ihrer inneren Logik und Dynamik […] begreifen und bestimmen“ (Bergmann 2012: 529). Sie limitiert ihre Analyse rein auf das Beobachtbare und zieht ihre Schlüsse streng „from the data themselves“ (Schegloff/Sacks 1973: 291). Außerhalb des Kontexts soll nichts in die Analyse einbezogen werden. Auch hier hat das strikt sequentielle Vorgehen seinen Ursprung in der Annahme, dass jede Äußerung neue Kontexte schafft, die wiederum den weiteren Verlauf des Gesprächs beeinflussen: „Conceptualizing action as simultaneously context shaped and context renewing has a number of consequences.“ (Goodwin/Heritage 1990: 289) Als eine Konsequenz gilt die schwierige Aufgabe, beispielsweise nachfolgende Passagen nicht in die Deutung eines Textteils einzubeziehen. Allerdings verlangt die Konversationsanalyse auch, dass Kontextwissen wie gesprächsexternes Wissen als nicht Beobachtbares zur Interpretation der Sinnkonstruktionen nicht herangezogen werden dürfen. Es gilt das displayKonzept (vgl. z.B. Schegloff/Sacks 1973), dem zufolge durch die Gesprächsteilnehmerinnen „Sinn und Ordnung als solche erkennbar hergestellt werden und […] auch ihr Erkennen signalisiert wird“ (Deppermann 2000a: 100). Das sind jedoch Annahmen, die dem Verständnis hermeneutischer Prozesse, die jeder Interpretation zugrunde liegen, weitestgehend widersprechen. Da die nicht ausschließlich in den Daten abgebildeten Hintergrundinformationen, ethnographisches Wissen oder Kenntnisse um den Fort- und Ausgang des Gesprächs bei der Analyse kaum ausgeblendet werden können, müssen Erweiterungen der Konversationsanalyse um Analyse- und Auswertungshaltungen der Gesprächsanalyse, der discursive psychology (Edwards/Potter 2005, Deppermann 2010), der Interaktionalen Linguistik (Selting/Couper-Kuhlen 2000), der Interaktionssoziologie (Goffman 1981), der Erzählanalyse (Labov/Waletzky 1973, Quasthoff 1980) und ethnographische Methoden (Hymes 1962, Heritage 1984, Auer 1995) stattfinden. Eine Gesprächsforschung, die hier Anleihen bezieht, geht über strukturelle Eigenschaften der Interaktion hinaus und kann der Kritik entgegentreten, dass die Konversationsanalyse „über keine adäquate Interpretationstheorie [verfügt] und ignoriert […], wie grundlegend die Wissensvoraussetzungen des Analytikers und ihr Einsatz für Prozess und Resultate konversationsanalytischer Untersuchungen sind“ (Deppermann 2000a: 96, vgl. auch Deppermann 2000b und Bergmann 2012 zu den Einsatzstellen ethnographischen Wissens für die Konversationsanalyse). Der Einbezug ge-
Methodologische Überlegungen | 123
sprächsexternen Wissens ist deshalb so nötig, weil inhaltliche Erkenntnisse und kommunikative sowie performative Absichten im Gespräch und in der Analyse nur über die Interpretation des Gesagten gewonnen werden können (vgl. Gumperz 1982: 207). So werden von den Gesprächsteilnehmerinnen beispielsweise Kontextualisierungshinweise (vgl. Gumperz/Cook-Gumperz 1976) verwendet, die als kulturspezifisch erlernte sprachliche oder nicht sprachliche Zeichen dazu beitragen, Hintergrundwissen der Beteiligten für die Interpretation im Verlauf des Gesprächs zu aktivieren (vgl. ebd.: 131). Die gesprächsanalytische Rekonstruktion besteht folglich in der Aufgabe, mit maximaler Offenheit herauszuarbeiten, wie die Beteiligten zum Verständnis und Fortgang des Gesprächs „auf der Grundlage von stillschweigend geteilten Praktiken“ (Deppermann 2007: 51) Sinn und Bedeutung herstellen. Die Selbstthematisierungen sind stets auf einen Rezipienten, eine „hörende Instanz“ (Lucius-Hoene 2010a: 154), bezogen und unterliegen dadurch einer bestimmten performativen Absicht, die auch an die temporale Aufschichtung im Interview geknüpft ist. Das recipient design, das „Prinzip des rezipientenspezifischen Zuschnitts von Äußerungen“ (Bergmann 1988: 40), kommt hier wie in jeder anderen Interaktion zum Tragen und führt zur adressatenabhängigen Auswahl der Inhalte sowie der Art und Weise des Gesagten und zur Ko-Konstruktion der Erzählung in der Interaktion (vgl. Günthner 2013, Dausendschön-Gay et al. 2015). In diesem Zusammenhang gestalten die Zuhörerinnen Inhalte und Art und Weise des Gesagten stets mit und beeinflusst dementsprechend auch monologische Passagen (Duranti 1986: 244). In der Analyse der Interviewdaten wird aufgrund des interaktionalen Zugangs auch mit verschiedenen holistischen Ansätzen der construction grammar gearbeitet, da sie als Grammatik der gesprochenen Sprache den dialogischen Charakter, Dimensionen der Zeitlichkeit und Handlungsbezogenheit, letztlich die evidente Verschränkung von Grammatik und Interaktion im Sprachgebrauch nicht ausklammert (vgl. Günthner 2007b zur Notwendigkeit einer Grammatiktheorie der gesprochenen Sprache). Construction grammar begreift gesprochene Sprache entgegen streng systemlinguistischer Perspektiven nicht als modulares, autonomes System der regelbasierten Veräußerung und Aneinanderreihung von kleinsten morphologischen Einheiten, sondern als kognitives und soziales Phänomen, das mit „syntaktischen Ganzheiten“ (Deppermann 2006: 49) operiert. Diese mehr oder weniger komplexen, gespeicherten Konstruktionen, kleinere lexikalische Einheiten sowie umfangreichere syntaktische Strukturen mit ihren unterschiedlichen Konstituenten, werden als form-meaning units unter Berücksichtigung der „Syntax, Semantik, Prosodie, Pragmatik, Multimodalität und sequenziellkontextuellen Aspekte grammtischer Strukturen im Gespräch“ (vgl. ebd.: 59) rekonstruiert. Lexikalische Einheiten tragen demzufolge nur in Kollokation mit anderen ihre Bedeutung, als Konstruktion symbolischer Einheiten, die in der kommunikativen Aktivität routiniert erzeugt werden (vgl. z.B. „so“-Konstruktionen in Auer 2006; Konstruktionen mit „sehen“ in Imo 2007 oder
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„die Sache ist“-Konstruktionen in Günthner 2008) und so ihre spezifische Semantik und Pragmatik tragen. Der Vorteil der Anwendung konstruktionsgrammatischer Ansätze besteht in der Verbindung von einer hochgradig kontextsensitiven, empirisch basierten Arbeit der „eher theoriescheue[n]“ (Imo 2012a: 4) Interaktionalen Linguistik und einer generalisierbaren theoretischen Verankerung grammatischer Zusammenhänge (vgl. ebd.: 5). So können beispielsweise gesprochensprachliche Phänomene wie Ellipsen oder Fragmente, die als idiosynkratische und idiomatische Konstruktionen in Grammatiktheorien oft vernachlässigt werden, von der rein interaktionalen, teilweise auch auf ad-hoc-Produktion reduzierten Betrachtung auf eine grammatische Beschreibungsebene gebracht werden, die nicht restriktiv von einem „‚normalen‘ Äußerungsaufbau“ (Imo 2012b: 24) ausgeht. Im Zusammenhang mit der Erforschung von Identitätskonstruktion werden in einer Fülle von Arbeiten gesprächsanalytische Konzepte wie die Membership Categorization Analysis (MCA, Sacks 1972), das recipient design und die positioning theory (Davies/Harré 1990) bemüht. Durch die MCA soll herausgefunden werden, welche sozialen Kategorien die Gesprächsteilnehmerinnen beispielsweise über einfache Dichotomien (alt/jung, Mann/Frau) oder etwa Ethnien- oder Berufsbezeichnungen verwenden, um sich und einander als Mitglieder bestimmter Gruppen zu klassifizieren (vgl. Hausendorf 2002: 27). Dabei werden diese Zugehörigkeitsbezeichnungen als Möglichkeiten der Verständigung im Gesprächsprozess gesehen, die durch das Alltagswissen der Teilnehmerinnen kaum weiterer Erläuterung bedürfen und auf gruppenspezifische Aktivitäten und Eigenschaften hinweisen (vgl. Sacks 1992: 259). Durch die implizit oder explizit geäußerte Kategorisierung findet Identitätszuschreibung in der Form von Ein- und Abgrenzung statt (vgl. Antaki/Widdicombe 1998: 3, de Fina et al. 2003: 139). Laut jüngster Forschung reicht das konversationsanalytische Konzept der MCA allerdings für die Untersuchung von Identitätskonstruktionen nicht aus, da die komplexe Frage nach dem Ich mehr verlangt als die Zugehörigkeitsdarstellung zu einzelnen Gruppen, sozialen Klassen und Kategorien (vgl. Deppermann 2013c: 67). Als Nachteil der MCA kann weiterhin gesehen werden, dass sie den sprachlichen Manifestationen der Zugehörigkeitsdarstellung bisher wenig Beachtung schenkt, indem sie den Fokus auf Kategorien und die kategoriebedingten Aktivitäten legt und so den linguistischen Zugang erschwert (vgl. Hausendorf 2002: 28/29). Kommunikativ-interaktive Praktiken, sprachliche Darstellungsverfahren der Selbstthematisierungen und insbesondere die biographische Dimension von Identitätskonstruktionen werden in der MCA weitestgehend vernachlässigt (vgl. Deppermann 2013c: 83).
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Positionierungstheorie Als Erweiterung ist die aus der discursive psychology stammende positioning theory (Davies/Harré 1990, Langenhove/Harré 1999) als gesprächsrelevante Darstellungspraktik von Bedeutung. Der Ansatz beruht maßgeblich auf der Analyse sprachlicher Verfahren, denn Positionierung ist in erster Linie auf Sprache angewiesen, sie ist „the discursive process whereby selves are located in conversations as observably and subjectively coherent participants in jointly produced story lines“ (Davies/Harré 1990: 46). Davies und Harré bestimmen Positionierungen vor allem als Gesprächsphänomene, die unter konstruktivistischer Perspektive dazu dienen, Identitäten zu entwerfen und in einem zweiten Schritt durch Außenstehende erfahrbar zu machen. Der Vorteil der Positionierungsanalyse liegt in der Offenheit der relevanten Sprachhandlungen. Es spielt keine Rolle, ob Kategorien- oder Klassenbezeichnungen durch die Erzählerin explizit verwendet werden, denn „jede interaktive sprachliche Handlung kann mehr oder weniger positionierungsrelevant sein“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 171). Dabei können sich Positionierungsakte einerseits auf die interaktiv stattfindenden Zuschreibungen oder andererseits auf die reflexive Aushandlung eines Individuums mit sich selbst beziehen (vgl. Davies/Harré 1990: 46). Die Positionierungstheorie, die ursprünglich für dialogisches Handeln entwickelt wurde, kann auch in Bezug auf das monologische Handeln beispielsweise in der Selbst-Erzählung gelten (vgl. Bamberg 1997, 1999, Wortham 2000, Lucius-Hoene/Deppermann 2000, 2002, 2004). Sie ist insofern auch dialogisch, da es ein Gegenüber gibt, an dem die Erzählung ausgerichtet ist. Der Erzählakt ist als Handlung zu verstehen, in der Individuen sich in einer bestimmten Weise verstanden wissen wollen und ihre sprachlichen Aktivitäten an diesem Ziel ausrichten. Die sprachliche Handlung zeigt die individuelle Position über die Verwendung von Attributen oder Kategorien und Darstellung von Problemlagen oder Motiven an, sodass ein Gegenüber darüber informiert wird, wie die Sprecherin sich wahrnimmt und von anderen gesehen werden will. Diese Form der Selbstpositionierung geht im interaktionalen Kontext immer auch mit Fremdpositionierungen einher. Beide Akte bestimmen maßgeblich den Verlauf eines Gesprächs. So kann sich beispielsweise eine Gesprächsteilnehmerin durch die sich sprachlich vollziehende Selbstdarstellung positionieren, im selben Moment wird eine andere Gesprächsteilnehmerin positioniert, die möglicherweise die Fremdpositionierung durch ihr Gegenüber revidiert und ihrerseits ein Korrektiv einleitet. Im Fokus insbesondere der Selbstpositionierungsakte steht das Wechselspiel von Identität und Alterität, da die Gestaltung dessen, was eine andere Person (nicht) ist, (nicht) hat oder (nicht) macht, durch die Gestaltung von otherness evidente Rückschlüsse auf die Identitätskonstruktion der erzählenden Person zulässt. Es ist daher wichtig, die Strategien zu entlarven „in which speakers […] construct their own identities by (explicitly and implicitly) positioning themselves in opposition to characters animated in their narratives“ (Günthner 2007a: 419).
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Im Zusammenhang mit der Ausrichtung des Erzählten am Publikum ist die KoAutorschaft der Hörerin von entscheidender Bedeutung. Alle am Gespräch beteiligten Personen, so auch die Zuhörerin, beeinflussen in der Aushandlung von Sinn und Bedeutung im Gespräch die Erzählungen (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2000: 202), sie sind „shaped by the questions and responses of the person to whom they are told“ (Polkinghorne 1996: 366). Durch die bereits angesprochenen unterschiedlichen Zeit- und Raumbezüge eines Gesprächs finden mannigfaltige Positionierungen statt. Sie sind ebenfalls als räumlich zu betrachten, da ein Positionierungsakt als relationale Verortung beispielsweise den sozialen Raum meinen kann. Bamberg definiert über folgende Fragen die drei Ebenen der Positionierungsaktivitäten: „1. How are the characters positioned in relation to one another within the reported events? At this level, we attempt to analyze how characters within the story world are constructed in terms of, for example, protagonists and antagonists or as perpetrators and victims. More concretely, this type of analysis aims at the linguistic means that do the job of marking one person […]. 2. How does the speaker position him- or herself to the audience? At this level, we seek to analyze the linguistic means that are characteristic for the particular discourse mode that is being employed […]. 3. How do narrators position themselves to themselves? How is language employed to make claims that the narrator holds to be true and relevant above and beyond the local conversational situation? […]“ (Bamberg 1997: 337, kursiv i.O.)
Die Beschreibung legt nahe, dass die Analyse sich maßgeblich auf die sprachlichen Mittel bezieht, z.B. die Wahl bestimmter Wörter und Ausdrücke zur Charakterisierung einer Person oder einer Situation. Das beruht auf der Annahme, dass interaktive Sprachpraktiken nicht nur Gesprächsinhalte produzieren, sondern gleichsam Darstellungsabsichten verfolgen: „In constructing the content and one's audience in terms of role participants, the narrator transcends the question of: ‚How do I want to be understood by you, the audience?‘ and constructs a (local) answer to the question: ‚Who am I?‘“ (Ebd.: 337) Lucius-Hoene und Deppermann (2004a) schlagen ein erweitertes Modell der Positionierung vor, das die verschiedenen Ebenen darstellt und neben anderen Verfahren im Folgenden für die Feinanalyse der Interviewdaten genutzt wird.
Methodologische Überlegungen | 127
Abbildung 5: Positionierung
Quelle: Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 209
Dieses Schema verdeutlicht folgende Positionierungsaktivitäten, die vielfältig ineinander verwoben sind und teilweise fließende Übergänge aufweisen: • Das erzählte Ich und die Interagierenden einer Geschichte werden durch die verschiedenen Mittel der Re-Inszenierung, z.B. Redewiedergabe (vgl. Wortham 2000, 2001; Günthner 2000) oder replayings (vgl. Goffman 1974: 504), innerhalb des erzählten Ereignisses selbst- (SP) und fremdpositioniert (FP). In der erzählten Zeit werden also erzähltes Ich und Interagierende direkt oder indirekt mit Attributen, Ansichten, Motiven und Handlungen dargestellt. Teilweise geschieht dies in der Annahme, es handle sich lediglich um eine Reproduktion vergangener Ereignisse, „indexing to render only [sic!] what others have said“ (Deppermann 2013d: 7). • Im Rahmen der narrativen Darstellung, die einzig das erzählende Ich bestimmt, finden Selbstpositionierungen und Fremdpositionierungen zwar für die vergangene Ebene des Ereignisses statt, allerdings ist diese Konstruktion automatisch von gegenwärtigen Faktoren bestimmt. Das narrative Design unterliegt einer Strategie der Erzählerin, die sich in einer bestimmten Weise verstanden wissen will (vgl. Deppermann 2013d: 7), sodass die Positionierung des erzählten Ich als Selbstpositionierungsaktivität des erzählenden Ich im Hier und Jetzt gesehen
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werden kann. Gleichsam finden Fremdpositionierungen gegenüber der Hörerin durch die Ausgestaltung der Erzählung statt, beispielsweise „durch die Einnahme einer Expertenrolle oder eines hohen Autoritätsanspruches, durch die Art der Modalisierung […], wie z.B. durch Ironie […] oder durch das Werben um Zustimmung“ (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 177). • Durch meta-narrative Äußerungen des erzählenden Ich und die kommunikativen Aktivitäten der Hörerin finden Selbst- und Fremdpositionierungen im interaktiven Setting des Interviews statt. Außerhalb der erzählten Geschichte nehmen die beteiligten Personen durch die offene Gestaltung des Interviews regelmäßig Bezug aufeinander, Erzählerinnen vergewissern sich unter anderem der Erzählwürdigkeit, die Hörerin wird zur „Verbündeten, Komplizin, Gegenspielerin oder zur Kontrollinstanz gemacht“ (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 210). Die Komplexität des Schemas zeigt, dass die Positionierungsanalyse entscheidende Vorteile gegenüber anderen Verfahren hinsichtlich der Aufdeckung der doppelten Zeitperspektive (vgl. Bamberg 1997: 336), der Verbindung von situativen und kontextuellen Aspekten der Selbstthematisierungen sowie der prozessorientierten Identitätskonstruktion (vgl. Deppermann 2013d: 9) birgt. Dennoch bezieht sie natürlich Anleihen aus anderen konversationsanalytischen Konzepten wie der MCA, da Gruppenzuweisungen und Kategorisierungen als Positionierungsaktivitäten vorkommen und dahingehend untersucht werden (vgl. Deppermann 2013d: 10; Deppermann 2013c: 83). Im Rahmen der narrativen Ausgestaltung durch die Erzählerin greifen auch die genannten Prinzipien des recipient designs. Die Ausrichtung des Gesagten auf die Hörerin als Bedürfnis nach Verständigung steht im wechselseitigen Austausch mit Positionierungsakten, denn „speakers design their speech according to the on-going evaluation of their recipient as a member of a particular group or class“ (Duranti 1997: 299, kursiv i.O.). Die Annahme über das Wissen, den Status oder die Befindlichkeit der Interviewten, die „Partnerhypothese“ (Schmitt/Deppermann 2009: 82), wird von Fremdpositionierungen gefolgt. Hier wird „in Auseinandersetzung mit den Reaktionen des Rezipienten ein Beteiligter im Prozess gemeinsamer Hervorbringung als ein Rezipient mit spezifischen Eigenschaften konstituiert“ (ebd.: 82). In der Folge führt dies zu einer im Interaktionsverlauf stets neu ausgerichteten narrativen Performance, die auch als Prinzip der Verständnissicherung fungiert. So kann die Positionierungsanalyse, die diskursive Praktiken als Prozesse aufzudecken sucht, sowohl interaktionale Besonderheiten, pragmatische Aspekte im Sinne performativer Absichten der Gesprächsteilnehmerinnen als auch linguistische Fragestellungen als zentrale Anliegen an das Datenmaterial herantragen.
Methodologische Überlegungen | 129
Gesprächsphänomene In der mikroskopischen Feinanalyse werden die sprachlichen Phänomene, die von den interviewten Personen zur Gestaltung einzelner Äußerungen eingesetzt werden, ausgemacht, ihre Funktionen einerseits im Prozess der Positionierung (vgl. Günthner/Bücker 2009) und andererseits im Konstruktionsprozess von Identität und Sprachidentität bestimmt. Der von Lucius-Hoene und Deppermann vorgeschlagene „Werkzeugkasten“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 213) verschiedener sprachlicher Verfahren, der von der Autorin im Hinblick auf das Datenmaterial noch erweitert wurde, soll hier die Blickrichtung erleichtern. Als zu untersuchende Gesprächsphänomene werden folgende Aspekte bestimmt: 1. •
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deskriptive Verfahren Kategorisierungen von Handlungen/Ereignissen, Listenbildungen, Kontrastierungen, um z.B. otherness zu generieren (vgl. Günthner 2007a), insbesondere agency als „Dimension der kognitiven und sprachlichen Konzeptualisierung von Ereignissen“ (Deppermann 2015a: 64, vgl. Schwabe 2006), als Darlegung semantischer Rollen („who did what to whom?“ vgl. Bamberg 1997), Zeitdarstellungsverfahren (vgl. Brockmeier 2000) Formulierungsarbeit (vgl. Gülich 1994, Auer 2006), Reformulierungen (vgl. Gülich/Kotschi 1987), vorläufige Formulierungen (vgl. Imo 2007 zu Konstruktionen mit „sagen“), Reparaturen („ich will jetzt nicht sagen X, aber…“, Stoltenburg 2012: 1) oder Selbstkorrekturen (vgl. Schegloff et al. 1977) Projektorkonstruktionen (vgl. Günthner 2008) oder Cleft- und PseudocleftKonstruktionen zur (Doppel)fokusmarkierung (vgl. Günthner 2006a), Expansionen als Projektions- und Thematisierungsprozesse (vgl. Auer 1991), „dichte“ Konstruktionen als Mittel der pointierten Portraitierung (vgl. Günthner 2006b) Tropen, z.B. Einsatz von Metaphern, Hyperbel, Litotes zur rhetorischen Gestaltung, hier z.B. Somatismen (vgl. Heringer 2004, Thüne 2013) Pronomina (vgl. Malone 1997), z.B. Kontrastierung von „man“ und „ich“ zur entlastenden Entindividualisierung oder Allgemeingültigkeitsbehauptung (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 223), Deiktika als Hinweise auf raumzeitliche Position der Sprecherin (vgl. Lyons 1983) oder ohne referentielle Funktion (vgl. Rehbock 2009 für „jetzt“) Vagheitsmarkierer, Funktion von Andeutungen, Wendungen (vgl. König/Stoltenburg 2013) Negation als Verfahren des recipient designs (vgl. Deppermann/Blühdorn 2013), Konjunktionen
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Stimmen und Perspektiven Re-Inszenierungen durch szenisches, historisches Präsens, hoher Auflösungsgrad – atomization (vgl. Gülich/Quasthoff 1986: 224), rekonstruierende/generalisierende Redewiedergabe als Veranschaulichungsverfahren (vgl. König 2013, Günthner 2002), Stilisierungsverfahren in der Redewiedergabe, Fremdäußerungsmodifikationen (vgl. Günthner 2000, 2002) Rahmungen und Bewertungen, z.B. durch meta-narrative Kommentare, Präambeln Prosodie, z.B. Lautstärke, Tempo, Paraverbalität, z.B. Abbrüche (vgl. Schwitalla 2012), Paraverbalität wie Lachen (vgl. Kotthoff 2006a) Modalisierungen/stilistische Ausgestaltung zur Anzeige der kommunikativen Geltung einer Aussage (vgl. Ehmer 2011), z.B. ironisches Sprechen (vgl. Hartung 1998), Lachen (vgl. Müller 1983: 302, Jefferson 1985, Kotthoff 2006b), Interaktionsmodalität (vgl. Kallmeyer 1979) als „Art des Wirklichkeitsbezugs (z.B. fiktional, subjektiv gewiss) und Gestus der Sprecherinnen (z.B. empathisch, pathetisch, scherzhaft)“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 245), äußerungskommentierende Formeln, z.B. „ehrlich gesagt“ (vgl. Stoltenburg 2009), Satzmodus und Modalpartikeln „ja“, „eben“, „doch“, „schon“, „bloß“ etc. (vgl. Kwon 2005), Funktionen der Partikel „ja“ (vgl. Imo 2013) argumentative Verfahren Indikatoren wie Konjunktionen, z.B. „wobei“-Konstruktionen (vgl. Zifonun et al. 1997, Günthner 2000), Adverbien und Partikeln (vgl. z.B. Spreckels 2009 für „einfach“, Thurmair 1989 für „halt“) für Argumente, Schlussfolgerungen, „wenndann“-Konstruktionen als Beispiel für kategorische Formulierungen (vgl. Ayaß 1996) Relativierungen, z.B. durch „zwar-aber“-Konstruktionen (vgl. Günthner 2015) enthymematische, verkürzte, lückenhafte Argumentation (vgl. Deppermann 2005) Topoi, häufig angewendete Argumentationsmuster, z.B. Widerspruchs-, Konsequenz-, Autoritätstopos (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 250 f) Deutungsmuster, z.B. in Form von master narratives, counter-narratives (vgl. Mey 2011) restriktive, thema-, einwandsteuernde, intensivierende Funktionen von „aber“ (vgl. Schlobinski 1992) Interaktionssteuerungsverfahren
• Adressierungen, z.B. Zuschreibung gemeinsamer Wissensbestände, Verständi-
gungsprozesse, z.B. durch Anzeige von Verstehensinferenzen (vgl. Deppermann/Helmer 2013), common-ground-Herstellungsprozesse (vgl. Deppermann 2009), hier speziell grounding (vgl. Deppermann 2015b) • Rückversicherungsaktivitäten, z.B. über Partikeln wie „ne?“, „oder?“, „nicht?“
Methodologische Überlegungen | 131
• fragmentarische, elliptische Strukturen der Vollständigkeit als Interaktions-
steuerung (vgl. Imo 2012b) • Organisationsmechanismen des Rederechts: Gesprächsschritte (Turns), Spreche-
rinnenwechsel (turn-taking), Beitragskonstruktionseinheiten (turn-constructional units, TCU) als kleinste Einheiten, nach denen ein Sprecherinnenwechsel eintreten könnte (z.B. Selting 1998), tag questions oder Reaktionsaufforderungen (vgl. Kehrein/Rabanus 2001: 36), Äußerungswiederholungen zur Beendigung eines Redebeitrags (vgl. Schegloff/Sacks 1973) • nonverbales Kommunikationsverhalten wie Gestik, Mimik, Blickkontakt, z.B. deiktische Handlungen (vgl. Stukenbrock 2015) 5.
Reaktionen auf Interviewerinnenaktivitäten
• Verständnis des Fragehorizonts, z.B. dispräferierte oder non-responsive Antwor-
ten, Rückfragen durch die interviewte Person (vgl. Schwitalla 1979a) • Dialogsteuerung (vgl. Schwitalla 1979b) • Schweigen oder Nichterzählen (vgl. Engelhardt 2011) • und Versuchsleitereffekte/Rosenthal-Effekte: Beeinflussung des Ergebnisses durch
forscherinnenseitige Erwartungshaltung Zu diesen Gesprächsphänomenen, die allesamt auch im Dienste von Positionierungsverfahren stehen, gesellen sich im Interview weitere narrative Phänomene. Die Hervorbringung von Schlüsselgeschichten oder mehrfach bemühte Anekdoten erfüllen die kommunikative Aufgabe einer Selbstthematisierung. Sie beginnt im vorliegenden Fall immer mit der Erläuterung des Sprachenportraits, das im Gegensatz zum Gespräch und zu lebensgeschichtlichen Inhalten eine zeitunabhängige und nicht lineare Möglichkeit der Reflexion über teils unbewusste sprachliche Praktiken darstellt. Die gemeinsame Interpretation der Zeichnung zu Beginn eines Interviews kann als Modus der Bewusstwerdung sprachlicher Besonderheiten verstanden werden. Es ist eine eigenständige Symbolisierungsaktivität, die mithin soziale Wirklichkeit konstituieren kann. Die exemplarische Darstellung der sprachlichen Verfahren sollte an dieser Stelle zeigen, auf welche Phänomene sich die Feinanalyse der Interviewtranskripte beziehen und wie viele Möglichkeiten der Interpretation das Datenmaterial bereithalten kann. Dennoch ist Vorsicht geboten. Die methodischen Prämissen der strengen Sequenzanalyse, die jedem Detail einen Bedeutungsgehalt zuschreibt, führen leicht in die Versuchung einer schier endlosen Bearbeitung der Daten. So gelangen Forschende leicht in den „Strudel der Detaillierung“ (Bergmann 1985: 315), der ganz sicher nicht Ziel der Textbearbeitung sein soll. Der stete Abgleich mit der Relevanz des Untersuchten für die Forschungsfrage muss hier erfolgen, auch um weder Mut noch Ausdauer einbüßen zu müssen.
132 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
Fallrekonstruktion – Fallstruktur – Generalisierung Auf die Feinanalyse, die im Zusammenhang mit Kontextinformationen die Fallrekonstruktion generiert, folgt eine Darstellung der Fallstruktur. Diese Fallstruktur als „Interpretation der Äußerungen des Erzählers in Hinblick auf eine bestimmte identitätsrelevante Fragestellung“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 272) ist letztlich das Produkt der Arbeit am Text, sie zeigt die konstitutiven Regeln, das eigenlogische Muster eines Falls bzw. einer Fallrekonstruktion, dem „erschließende[n] Nachzeichnen der fallspezifischen Strukturgestalt“ (Oevermann 1981: 4). Erst durch die Erarbeitung einer Fallstruktur ist es möglich, Vergleiche zu anderen Fallstrukturen aufzumachen. Dabei muss vorher anhand einer spezifischen Fragestellung entschieden werden, welcher Fall der zu rekonstruierende ist, mehren sich im Text doch die Fälle hinsichtlich der Interviewerin, der Gesprächspartnerin, der stattfindenen Interaktion an sich, dem „Interview als pragmatisch spezifischen Gesprächstyp, den Milieus bzw. Lebenswelten, denen die beiden Beteiligten je angehören und noch viel mehr“ (Oevermann 2000: 106). Die Ausrichtung der Sequenzanalyse und Fallrekonstruktion auf die Frage nach Aspekten der Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren und die sie konstituierenden Elemente bewirkt hier eine Zusammenfassung im Hinblick auf bestimmte im Interview erarbeitete Dimensionen der Lebenswirklichkeit und eine Reduktion auch auf wesentliche Konstruktionsmittel, die den Überblick erleichtern soll. Die Dimensionen, die auch im Interview thematisch gesprächsleitend waren, umfassen im Wesentlichen Bereiche der biographischen Erinnerung an • • • • •
Schulzeit und Verhältnis zu den vermittelten Fremdsprachen Vermittlung/Umgang im Elternhaus mit Sprachen/französischer Sprache Vermittlung/Umgang im Elternhaus mit der hugenottischen Herkunft Verhältnis zur französisch-reformierte Kirche in Kindheit/Erwachsenenalter Vermittlung hugenottischen Bewusstseins beispielsweise an eigene Kinder
Dem Analyse- und Auswertungsverfahren, das am Ende der Einzelfallanalyse eine Fallstruktur erzeugt, muss sich in einem letzten Schritt ein Prozess der Generalisierung anschließen. Ein Blick auf die Methodendiskussionen im Bereich der qualitativen Forschung erzeugt zunächst Verwirrung, dann Unbehagen, sich hinsichtlich eines die Ergebnisse generalisierenden Verfahrens zu entscheiden. Immerhin wird von vielen Seiten ein mehr oder weniger rigides Vorgehen gefordert, das die Ergebnisse der Auswertung gegenstandsangemessen verallgemeinert und so erst die Wissenschaftlichkeit der Arbeit auch durch die Einhaltung von Gütekriterien verteidigt (vgl. Oswald 1997: 73, Oevermann 2002: 13, Kelle/Kluge 2010: 11, Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 361, Rosenthal 2015: 79). Wenn eine Beschreibung des Generalisierungsziels allerdings lautet: „Bei der Generalisierung geht es um die Frage, ob von
Methodologische Überlegungen | 133
dem, was an einem Fall oder einigen Fällen festgestellt wurde, auf andere Fälle oder allgemeine Regelmäßigkeiten geschlossen werden kann.“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 363), wird einem Prozess, bei dem keine Generalisierungsmöglichkeit festgestellt werden kann, wohl die Wissenschaftlichkeit nicht abgesprochen. Über die Generalisierung von Forschungsergebnissen ist insbesondere in der qualitativen Sozialforschung viel diskutiert worden (vgl. Kluge 2013), sie gilt als „klassisches Problem von Sozialforschung und Wissenschaftstheorie“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 359). Sicher wäre eine Studie, die mehrere Einzelfälle detailliert vorstellt, analysiert, auswertet, vielleicht noch eine jeweilige Fallstruktur erzeugt und dann der Leserin die Integration der Erkenntnis in ihre Vorwissensstrukturen überlässt, unvollständig. An jener Stelle soll diese Arbeit selbst dann nicht stehenbleiben, wenn den Begriffen der Verallgemeinerung oder der Typenbildung zunächst auch etwas Negatives, mindestens Normierendes, anhaftet. Regeln und Normen, Typologien, Strukturhypothesen, Merkmalsausprägungen, Gesetzmäßigkeiten – diese im Dienste der „validen und methodisch kontrollierten Beschreibung und Erklärung sozialer Strukturen“ (Kelle/Kluge 2010: 11) stehenden Begriffe scheinen auf den ersten Blick die Spezifik des Einzelfalls und die Besonderheit dieser einen Interaktion mit dieser einen Hugenottennachfahrin aufzulösen. Eine Generalisierung durch regelgeleitete Typenbildungverfahren unterliegt auch dem Informationsverlust, da verallgemeinernde Aussagen naturgemäß reduktionistisch sein müssen. Die Nutzung von Schablonen, die sich auf die Fälle legen lassen oder das Pressen der Fälle in an der Einzelfallrekonstruktion entwickelte Matrizen erscheint hier als Verfahren der Theoriebildung nicht gegenstandsangemessen, zumal die Argumentationskraft sich vielleicht gerade am Einzelfall durch seine detaillierte Betrachtung vollends entfalten kann. Als explorative Studie beansprucht die Arbeit grundsätzlich keine Repräsentativität, sie will keine Populationen erschließen. Sie ist in ihrer hermeneutischen Gestalt vor allem dazu gedacht, unter dialektischem Verständnis das Allgemeine am Einzelfall aufzudecken (vgl. Rosenthal 2015: 79, Wernet 2009: 19). Dabei werden in der Forschungslandschaft immer Stimmen laut, die die Genese einer Gesetzmäßigkeit über den erhobenen Durchschnitt möglichst vieler Analyseergebnisse erwarten und mit Ergebnissen einer geringen Fallanzahl die Aussagekraft der Theoriebildung gefährdet sehen, aber „das Typische ist nicht das Häufige“ (Bude 1985b: 86). Die Möglichkeit der Verallgemeinerung von Studienergebnissen aus wenigen Fallrekonstruktionen ergibt sich durch die Annahme, dass „das Allgemeine nicht im numerischen Sinne“ (Rosenthal 2015: 79) besteht und dass Häufigkeit von auftretenden Phänomenen nicht über die Relevanz des Phänomens für das Allgemeine Aufschluss gibt. Sie ergibt sich über die Erkenntnis der „prinzipiellen Auffindbarkeit des Allgemeinen im Besonderen“ (ebd.: 79), also das Typische für diesen Fall und damit alle gleichartigen Fälle. Der Typus, jenes „Sosein“ (Lewin 1927/1976: 18 zit. nach Rosenthal 2015: 80) charakterisiert sich dann durch die ihn erzeugenden Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die die Fallrekonstruktion ergeben haben (vgl. Lewin 1927/1967
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zit. nach Rosenthal 2015: 80; Bude 1985b: 86). Dieses Produkt ist die Fallstruktur, sie ist der Typus, er ist die Generalisierung. Der möglichen Kritik also, dass es sich hier um wenige Einzelfälle handelt, deren Aussagen sich nicht verallgemeinern lassen, kann u.a. mit Lewin, Bude und Oevermann entgegengehalten werden, dass jede Fallrekonstruktion durch die Erarbeitung einer inneren Gesetzmäßigkeit schon eine Strukturgeneralisierung an sich darstellt (vgl. Oevermann 2002: 13). Ein einzelner Fall wird stets theoretisch verallgemeinert, indem seine ihm zugrunde liegenden Strukturgesetzmäßigkeiten, seine „allgemeinen Prozessmerkmale“ (Schütze 2005: 223) rekonstruiert und beschrieben werden, wobei die numerische Verallgemeinerung irrelevant bleibt: „Jede konkrete Fallrekonstruktion führt also zu einer Strukturgeneralisierung bzw. der Bestimmung eines allgemeinen Typus. Dessen Allgemeinheit ist in gar keiner Weise von der Häufigkeit seines Vorkommens bzw. von der Frequenz seiner ‚token‘ abhängig. Selbst wenn er in einer ‚Grundgesamtheit‘ tatsächlich nur einmal vorkäme, hätte er diese Allgemeinheit eines Typus, die die Fallrekonstruktion in der logischen Form einer Strukturgeneralisierung bestimmt.“ (Oevermann 2002: 14)
Daher zielt die Auswertung und Integration der Ergebnisse nicht auf die reine Darstellung von Einzelfällen, sondern beschreibt gerade durch diese intensive Betrachtung übergreifende Aspekte der Konstruktion von Identität und Sprachidentität bei den Hugenottennachfahren. Der geforderte Allgemeinheitsanspruch ergibt sich zudem aus einem einfachen konstitutionstheoretischen Grundsatz, der im identitätstheoretischen Teil dieser Arbeit hinlänglich diskutiert wurde. Da Identität und Sprachidentität Konstruktionen sind, die als kommunikatives Selbst-, Welt- und Sprachverhältnis in ihrer Dynamik temporal und kontextuell an einen momentanen Sprachakt gebunden sind, ist der Einzelfall zugleich einzigartig wie auch durch die Einbettung in soziale Wirklichkeit in seiner Regelhaftigkeit allgemein. So offen der jeweilige Konstruktionsprozess auch wirken mag, er besitzt eine allgemeine strukturelle Systematik. Auf eine strenge Typenbildung, die meist mithilfe von Einwortklassifikationen einhergeht (vgl. „partnerschaftlicher Typ“ in Gerhardt 1986; „Passionstyp“ in Brose 1990; „Pragmatiker“ in Honer 1993) muss hier entsprechend den Vorannahmen verzichtet werden. Allein der Typusbegriff wird nur in wenigen Fällen klar definiert, selten werden die seiner Bildung zugrunde liegenden Kriterien deutlich, sodass der „Erkenntniswert von Typenbegriffen umstritten“ (Kluge 2013: 23) bleibt und das Ziel durch Realitätsferne der gebildeten Typen völlig verfehlt werden kann (vgl. ebd.: 23). Es sind in der vorliegenden Studie dennoch ähnliche, sicher nicht kongruente Muster der Konstruktionen von Identität und mithin Sprachidentität, die den Weg zur Erkenntnis erleichtern und Eingang in die Darstellung finden müssen.
Methodologische Überlegungen | 135
Die hier geübte Kritik an typenbildenden Verfahren über die Suche nach Merkmalsausprägungen (vgl. Kelle/Kluge 2010: 51) soll an einem Beispiel verdeutlich werden. Es können beispielsweise die beiden Merkmale Gemeindezugehörigkeit und Verbundenheitsgefühl zur französischen Sprache in ihren jeweiligen Ausprägungen betrachtet werden. Die Gemeindezughörigkeit kann in den drei Ausprägungen aktiv gemeindezugehörig, passiv gemeindezugehörig, nicht gemeindezugehörig exisitieren, während das Verbundenheitsgefühl zur französischen Sprache zum Beispiel in den Ausprägungen nicht verbunden, leicht verbunden, stark verbunden definiert werden könnte. So kommt eine Merkmalsausprägungstabelle zustande, die mehrere Kombinationen zulässt. Mit der Klassifikation nicht, leicht und stark stehen für die Ausprägung des Verbundenheitsgefühls jedoch Begriffe zur Auswahl, die – und das werden die Feinanalysen zeigen – die Komplexität und das Bedingungsgefüge eines Gefühls nicht im Ansatz erfassen. Nicht nur werden konstruktionsspezifische Besonderheiten der kommunikativen Vermittlung eines Gefühls mit der Klassifikation vernachlässigt, auch die stark differenzierte biographische Genese dieses Gefühls findet in einer solchen Reduktion nur unzureichende Beachtung. Eine starre Typologie, in der Typen anhand desselben Merkmalsraums systematisch zusammengefasst werden, wird aber auch deshalb nicht angestrebt, weil sich die Studie trotz einer methodisch kontrollierten Fallrekonstruktion gegenüber heterogenen Lesarten nicht verschließen soll. Daher werden Empfehlungen aus Generalisierungsverfahren der Rekonstruktion von narrativer Identität (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004a), der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack et al. 2013), der objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann 2002) und typologischen Analyse nach Kelle/Kluge (2010) und Rosenthal (2015) genutzt, um Typisches über den Einzelfall aufzudecken. Es gilt in einem ersten Schritt, das „generelle Regelsystem“ (Rosenthal 2014: 82) durch die Fallstruktur zu zeigen, bei dem beispielsweise nach dem Motto immer dann, wenn… Prinzipien des Verhaltens beschrieben werden. Im nächsten Schritt, der sich zirkulär mit dem dritten abwechselt, erfolgt die an den Forschungsfragen ausgerichtete Mustererkennung nach strukturalistischem Verständnis (vgl. ebd.: 83). Das Erkenntnisinteresse besteht in der Auslotung von sinnstiftenden Deutungsmustern und Handlungsorientierungen, die den wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen dem Hugenottesein und der französischen Sprache betreffen. Die übergreifenden Aspekte sind in einem dritten Schritt über Fallkonstrastierungen hinsichtlich des tertium comparationis, des gemeinsamen Themas (vgl. Bohnsack 2003: 204) zu untersuchen. Der konstrastive Vergleich ist auch als Möglichkeit wahrzunehmen, jeden Einzelfall noch genauer zu beleuchten und zu verstehen und so die Struktur detaillierter zu erarbeiten. Erst in der Kontrastierung wird die „analytische Ausschöpfung aller grundsätzlichen Alternativgestaltungen“ (Schütze 2005: 225) offenkundig. Das heißt, dass erst durch Kontrastierungsvorgänge erfahrbar wird, welche Spannweite von Merkmalen die jeweilige Interaktion hatte, was alles
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möglich gewesen wäre, was faktisch möglich war und realisiert wurde. Die Fallkontrastierung ist an verschiedene empfohlene Prinzipien der minimalen und maximalen Kontrastierung (vgl. Oevermann 1981, Schütze 1983, Glaser/Strauss 1998: 62) angelehnt. Hierzu werden nach Erarbeitung der Fallrekonstruktionen im Prozess der Fallstrukturierung zunächst Fälle mit minimalem Kontrast herangezogen, die auf der Oberfläche hinsichtlich des zu untersuchenden Phänomens Ähnlichkeiten aufweisen (vgl. Schütze 1983: 287), durch den Vergleich in ihrer Struktur deutlicher werden und sich in dieser möglicherweise stark unterscheiden (vgl. Rosenthal 2014: 102). Der maximal kontrastive Vergleich spricht Fälle an, die sich auf den ersten Blick voneinander maximal unterscheiden (vgl. Schütze 1983: 288). Das Wechselspiel der Erarbeitung von Fallstruktur und Generalisierung sowie die Kontrastierung der Fälle sichert durch den steten Rückbezug auf die Daten eine gegenstandsbezogene Theoriebildung, die schließlich das Ziel der Auswertung sein soll. Das vorgestellte, zirkulär angelegte Analyse- und Auswertungsverfahren, das sich an verschiedenen Empfehlungen der qualitativen Forschung orientiert, verhilft der Untersuchung im Hinblick auf die Qualitätssicherung zu ihrer Güte insbesondere durch die immer wieder hergestellte Nähe zum empirischen Material. Im qualitativen Forschungsbereich kann nicht von der Einhaltung der klassischen Gütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität gesprochen werden. Zu einer ausführlichen Besprechung der Problematik von angelegten Gütekriterien im qualitativen Forschungsparadigma sei auf die Diskussionen in der Literatur verwiesen (vgl. z.B. Steinke 2000, Deppermann 2001 für die Gesprächsanalyse, Mruck/Mey 2000, Flick 2010). Für die Gesprächsanalyse muss vor allem das „Natürlichkeitsprinzip“ (Deppermann 2011: 106, kursiv i.O.) gelten, das sicherstellt, jenen Untersuchungsbereich zu analysieren, an den die Forschungsfrage gerichtet ist. Weiterhin beziehen sich die Kriterien auf die „prozedurale Verlässlichkeit“ (Flick 1996: 252) einer Untersuchung. Während das Kriterium der Objektivität zugunsten von Subjektivität als Ressource „für den Verständigungs- und Verstehensprozeß“ (Mruck/Mey 2000: Abs. 26) weichen muss, ist auch der Anspruch auf Reliabilität für die qualitative Forschung ungeeignet, da Erhebungssituationen sich immer unterscheiden und eine Stabilität der Ergebnisse bei sich wiederholenden Befragungen nicht gewährleistet werden kann (vgl. Mruck/Mey 2000: Abs. 26, Flick 2010: 396). Das als „konsensuelle Validierung“ (Mruck/Mey 2000: Abs. 26) konzipierte Gütekriterium der Validität kann wiederum dadurch gewährleistet werden, dass intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit der Ergebnisse durch gegenstandsangemessene Methoden, die Nähe zu den Daten, die genaue Dokumentation des Forschungsprozesses und die Anwendung kodifizierter und regelgeleiteter Verfahren angestrebt wird (vgl. Mruck/Mey 2000: Abs. 26, Steinke 2000: 324/325). Diesen Anforderungen verpflichtet sich auch diese Untersuchung, um die Wissenschaftlichkeit der Aussagen und Theoriebildung im Gegensatz zu alltagsweltlichen Interpretationen über Maßnahmen der Qualitätssicherung zu gewährleisten.
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4
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren
Der folgende Teil der Arbeit widmet sich der Analyse und Auswertung der Interviews mithilfe der besprochenen Methoden. Hier soll noch einmal auf die die Untersuchung leitende Forschungsfrage verwiesen werden: Wirkt die französische Sprache derart identitätskonstitutiv, dass sie über mehrere Jahrhunderte hinweg noch heute die Identität der Hugenottennachfahren konstruiert? Zur Annäherung sind unter anderem Fragen aus den vorangegangenen Kapiteln bisher unbeantwortet: Gibt es heutzutage eine spezifische Erinnerungskultur bei den Hugenottennachfahren? 2. Aus welchen Faktoren speisen sich Selbstbilder der Hugenottennachfahren in den Gesprächen? 3. Haben geographische Merkmale einen Einfluss auf hugenottische Lebenswirklichkeit? 4. Wie beurteilen die Hugenottennachfahren die Rolle der französischen Sprache in ihrem Leben? 5. Welchen Einfluss haben diese Beurteilungen auf den individuellen Identitätsentwurf? 6. Gibt es Tendenzen zur Pflege der französischen Sprachkompetenz? 7. Was sagen diese Tendenzen über Sprache in Identitätskonstruktionen aus? 18. Wie wird Identität von den Hugenotten interaktiv konstruiert? 19. Wie wird Sprachidentität von den Hugenotten interaktiv konstruiert? 1.
Für die Darstellung der Analyse und Auswertung wurden neun der 27 vollständig transkribierten Interviews ausgewählt. Die Fallauswahl erfolgte gemäß den methodologischen Prämissen nicht zufallsbezogen nach Maßstäben der Repräsentativität oder statistischen Verteilungskriterien, sondern nach dem Antwortpotential auf die Fragestellungen. So ist die Entscheidung für neun Einzelfälle nach Kriterien der „theoretischen Relevanz“ (Kelle/Kluge 2010: 48), nach soziodemographischen
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Merkmalen gefallen und orientiert sich an den Vorüberlegungen zum Untersuchungsziel, denen zufolge Hugenottennachfahren aus verschiedenen regionalen Räumen in verschiedenen Altersklassen und mit unterschiedlichem kirchlichreligiösen Hintergrund für die Manifestation von sprachidentitären Entwürfen unterschiedliche Spezifika aufweisen müssten. Für die Stichprobenziehung gilt der Grundsatz, dass die heterogene Ausformung der relevanten Merkmale im Untersuchungsfeld vermutlich aussagekräftigere Ergebnisse zutage fördern kann (vgl. Kelle/Kluge 2010: 48). Letztlich könnte die Analyse und Auswertung weiterer oder gar aller Interviews auch das Ziel der Verpflichtung zur ausführlichen Arbeit am Einzelfall aus zeit- und ressourcenökonomischen Gründen verfehlen. Die in dieser Arbeit eingenommene Perspektive gegenüber identitätstheoretischen Vorannahmen einerseits und der aufmerksamen Detailfokussierung auf die Interviews andererseits bedingt diese Auswahl von nur wenigen Fällen. Die theoretische Verallgemeinerung und schließlich die Expansion und Integration der Ergebnisse durch eine Theoriebildung ist nur möglich, wenn durch Detaillierung, Präzision und sensible Aufmerksamkeit die kleinen, aber feinen Unterschiede aufgedeckt werden konnten. Die Art der Präsentation eines jeden Interviews als geschlossene Einheit wird als Gegensatz zur beispielsweise thematischen Aufbereitung mehrerer Interviews (vgl. Schüpbach 2008) einerseits aus Gründen der Lesbarkeit gewählt. Andererseits soll der Grad des Nachvollzugs, des Eindenkens und Nachempfindens der Identitätskonstruktion einer Person dadurch erhöht werden. Zunächst erfolgen die Einführung der interviewten Person und eine kurze Erläuterung der Interviewsituation. Daraufhin werden das Sprachenportrait und ausgewählte Textpassagen zur Darstellung der Analysearbeit vorgestellt, wobei aus Platzgründen nicht jedes Gesprächsphänomen Eingang in die Darstellung finden kann, sondern fallspezifisch relevante Phänomene betrachtet werden. Es bleibt festzuhalten, dass es sich stets um Angebote der Interpretation handelt. Zum Ende der Fallrekonstruktion durch eine strikt sequentielle Analysearbeit wird die Identitätskonstruktion der Person in ihrer Fallstruktur beschrieben. Die besonders detaillierte Darstellung der Fallanalysen soll den qualitätssichernden Kriterien genügen. Auch wenn es an einigen Stellen wirken mag, als sei die Präsentationsform zu umfangreich gewählt, so muss unterstrichen werden, dass gerade für eine qualitative Forschungsarbeit das Offenlegen des Vorverständnisses, der einzelnen Vorgehensweisen und der Analyse- und Auswertungsschritte eine gute Möglichkeit des Nachvollzugs bietet. Zu häufig ist eine Leserin mit Ergebnissen qualitativer Studien konfrontiert, deren Provenienz ihr aufgrund von ökonomischen Maßnahmen nicht einleuchten kann. Letztlich ist die explikationsintensive Darstellung der Textarbeit auch als Manual für Nachfolgende zu verstehen. Bei der vorliegenden Ergebnisdarstellung der Fallrekonstruktionen wurde weitestgehend versucht, den Fließtext so zu gestalten, dass er auch ohne die feinanalytische Rekonstruktion des Interviewtexts gelesen werden kann und die ausschließliche Konzent-
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 139
ration auf die Fallstruktur am Ende eines bearbeiteten Falls dem Verständnis nicht abträglich wird. Es scheint ein bekanntes Dilemma in der Präsentation von qualitativer Forschungsarbeit und ihren Ergebnissen, dass der wissenschaftliche Anspruch eigentlich eine komplette Darstellung eines jeden zielführenden Schrittes verlangt. Es kann sich hier zugunsten des Leseumfangs nur um einen Kompromiss zwischen Detaillierung und Ökonomie handeln, der von der Autorin so gestaltet wird, dass intersubjektive Nachvollziehbarkeit möglich wird.
4.1 „UND DASS ES EIGENTLICH EGAL IST, IN WELCHER SPRACHE.“3 Abbildung 6: Sprachenportrait Frau P.
Frau P. ist in den Vierzigern, lebt mit ihrer Familie in Ost-Berlin und ist ein aktives Mitglied der Französisch-reformierten Gemeinde zu Berlin. Das Interview mit Frau
3
Transkript 1; Frau P.; 66 Minuten
140 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
P. findet in ihrem Haus im Wohnzimmer statt, es wird 66 Minuten dauern. Das Gespräch verläuft ruhig, sie wirkt sehr interessiert und antwortet durchgehend sehr bedacht. Es wird deutlich, dass Frau P. auf die Fragen der Interviewerin angewiesen ist und von sich aus keine größeren Erzählungen elizitiert. Bereits am Telefon versichert Frau P., dass die Aufnahme des Gesprächs kein Problem darstellen würde, wobei sie gemäß forschungsethischer Prämissen wie alle anderen die Versicherung erhält, dass sie anonym bleibt. Bevor das Aufnahmegerät und das Mikrophon aufgebaut werden, erhält Frau P. die Aufgabe, ihr Sprachenportrait zu zeichnen. Dafür kann sie frei wählen, wie sie die Silhouette vervollständigt und welche Farben sie verwendet. Diese Sequenz gibt der Interviewerin Zeit, das Aufnahmegerät bereitzustellen, während Frau P. in Ruhe – ohne den auf der zeichnenden Hand liegenden Blick der Interviewerin – das Sprachenportrait ausfüllt. Im Anschluss daran beginnt die Aufzeichnung des Gesprächs mit der Beschreibung des Portraits. Frau P. benutzt dieselbe Farbe für alle Sprachen. Dabei zeichnet sie Englisch und Deutsch in Umrahmungen in Kopfnähe. Übergeordnet findet sich ein Rahmen, der das Französische mit den Begriffen Herkunft und Schule kennzeichnet. Latein wurde von Frau P. im Nachgang beigefügt. (1) 10-02-2010_FrauP [00:00:00-00:02:06] 0001
I gut; und äh (.) können sie mir sagen waRUM sie das so gezeichnet haben, 0002 [dieser kreis hier Oben–] 0003 P [ja;=zwei sprachen die ] 0004 ich äh also wie SPRECHblasen, die ich SPREche, 0005 I HM_hm, also die kommen aus_m MUND; 0006 P ja– (.) und das andere is halt ja äh (.) in geDANken:– 0007 (1.8) schule geLERNT, französisch noch dazu HERkunft, 0008 aber an: sich äh halt SCHULwissen. 0009 I französisch haben sie in der SCHUle gelernt– 0010 P ja– 0011 I und laTEIN auch; 0012 P ja– 0013 I und wieviel (-) SPREchen sie davon noch, 0014 P (2.2) also latein hab ich mit beiden kindern wieder (-) entsprechend auch vokabeln gelernt und äh TEXte sich zugeführt– 0015 [latein ] 0016 I [HM_hm, ] 0017 P erlebt man auch ja ständig in der DEUTschen sprache, 0018 ° h äh so dass ich das IMmer noch (1.0) ja; 0019 (-) ne HERkunft und auch_ne deutsche übersetzung mir dazu einfällt– 0020 franZÖsisch, ähm zeitungssüberschriften mal LEsen– man weiß wo drum_s GEHT, 0021 (---) 0022 P ähm (1.1) beim kirchdienst inner französischen kirche sehr wohl mal jemanden begrüßen und ((…)) zum französischen GOTtesdienst runterschicken– da sucht man aber schon SEHR nach worten;
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 141 0024
also man hat dann so_n PAAR sachen die man einfach (.) weiß, die man ANwendet– und ansonsten versuch ich_s mit ENGlisch immer weiter;
0025 ((…)) 0047 ich lese sehr viel englisch literaTUR, 0048 I hm_HM, 0049 P und äh– 0050 (-) ja–=FACHtexte;=ne, also das is (--) ein (-) mir SEHR vertraute sprache auch;
Die erste Sequenz besteht folglich in der Beschreibung des Portraits und der Auseinandersetzung mit der Verortung der Sprachen. Für die deutsche und die englische Sprache besteht eine aktive Sprachkompetenz („die ich spreche“, 0004). Das Verständnis sichert Frau P. mithilfe eines Vergleichs zur comicartigen Verwendung von Sprechblasen, eingeleitet durch eine selbstinitiierte Reparatur („also“, 0004). Aktive und passive Sprachkompetenz gliedert Frau P. in die Dichotomie von Sprechen und Denken, wobei sie das Gefühl der Gegensätzlichkeit durch die Verwendung der Partikelstruktur „halt ja“ (0004) als gemeingültig modalisiert oder zumindest als geteiltes Wissen voraussetzt. Ohne weitere Nachfrage folgt nach einer längeren Sprechpause (0007) eine fragmentarische Struktur („Schule gelernt, Französisch noch dazu Herkunft“, 0007) zur Provenienz der Sprachkompetenzen, die verrät, dass sie sowohl Latein als auch Französisch in der Schule gelernt hat. Die auffällige Kategorisierung der französischen Sprache mit verstärkender Wirkung durch die adverbiale Konstruktion „noch dazu Herkunft“ (0007) wird zwar von Frau P. selbst hervorgehoben, jedoch in einem zweiten Schritt argumentativ durch die Partikelstruktur „an sich halt“ (0008) abgeschwächt und dem gemeinsamen Erwartungshorizont „Schulwissen“ (0008) zugewiesen. Die Positionierungsaktivitäten erfolgen hier über das geteilte Wissen zur Herkunft – sie positioniert sich als erzählendes Ich mit einer speziellen Herkunftsgeschichte, die Rückschlüsse auf ein besonderes Verhältnis zu französischen Sprache zulässt, und sie positioniert die Interviewerin, die diesen Kontextualisierungshinweis verstehen müsste. Auf die Frage nach der Sprachkompetenz bemüht Frau P. Beispielschilderungen (0014-0025), die durch einen steten Pronomenwechsel von „ich“ und „man“ geprägt sind. Einerseits verwendet sie das Pronomen „man“ (0017) in der thesenartigen Generalisierung zur Allgegenwärtigkeit („ständig“, 0017) der lateinischen Sprache im Deutschen. Nach der Linksherausstellung, der schlagwortartigen, syntaktisch losgelösten Einleitung des Themas („französisch“, 0020) distanziert sie sich durch das Pronomen „man“ („man weiß, wo drum’s geht“, 0020; „da sucht man aber schon sehr nach Worten“, 0022) von einer umfassenden Französischkompetenz. Dies kann eine entlastende Funktion erfüllen, da Frau P. schon angedeutet hat, dass sie mit der französischen Sprache durch ihre Herkunft mehr verbinden müsste. Das Adverb „ansonsten“ (0025) verweist auf den zuvor nicht benannten Umstand, dass der Anwendung der „paar Sachen“ (0024) in der französischen Sprache Grenzen gesetzt sind. Die gegensätzliche Handlung, die
142 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
mit dem Temporaladverb „immer“ (0025) generalisiert wird, besteht in der Zuhilfenahme der englischen Sprache, in der Frau P. sich eine höhere Kompetenz zuschreibt und diese Zurechnung mit dem Personalpronomen „ich“ (0025) ausdrückt. Sie kategorisiert Englisch als eine ihr „sehr vertraute“ (0050) Sprache. Frau P. verweist hier mithilfe der Rückversicherungspartikel „ne“ (0050) auf ein zwischen Interviewerin und ihr geteiltes Wissen bezüglich der Fähigkeit, englische Fachtexte zu verstehen, und will dies als erhöhte Kompetenz verstanden wissen. Positionierungsaktivitäten finden in der Interaktion mit Frau P. vor allem im Zusammenhang mit Erwartungshaltungen statt. So antwortet sie auf die Frage nach der Anwendung der Sprache beispielsweise bei einer Fahrt nach Frankreich, dass sie noch nicht dort war. (2) 10-02-2010_FrauP [00:02:34-00:02:44] 0060 0061 0062 0063 0064 0065
P das HAB ich bisher noch nicht [gemacht; muss ich ge!STEHN!; ] I [ach ham sie noch gar nicht geMACHT; ] GUT okay; P aus dem GRUNde dass es immer heißt– dass die franzosen gerade gegen deutschen gegenüber SEHR reserviert sind; und äh häufig einem doch proBLEme machen;
Der positionierungsrelevante Nebensatz, markiert durch das verbum declarandi „gestehen“ (0061), wird in seiner expressiven Funktion von der starken Akzentuierung gestützt. Die Betonung liegt auf dem Geständnis, zu dem Frau P. sich an dieser Stelle genötigt sieht. Sie wird von der Interviewerin fremdpositioniert, indem diese es für selbstverständlich hält, dass Frau P. als Hugenottennachfahrin schon in Frankreich gewesen ist. Darauf reagiert Frau P. mit emotionaler Beteiligung und gerät fugenlos (0063 zu 0064) in eine Rechtfertigungshaltung. Zwar benutzt sie zur Argumentation einen generalisierenden Diskurs („dass es immer heißt“, 0064), aber es ist eine konfliktträchtige persönliche Erfahrung („Probleme“, 0065), die sie im Anschluss zur Verständnissicherung und Untermauerung der subjektiven Theorie schildert. Nach der Erlebnisschilderung wird Frau P. mit der Frage nach den ersten Erfahrungen mit ihren hugenottischen Wurzeln konfrontiert. Sie versucht sich an die Vermittlung zu erinnern. (3) 10-02-2010_FrauP [00:04:39-00:05:15] 0108 0109 0110 0111 0112
P (1.0) ja;=is immer gewesen dass äh: (1.1) dass man zu der KIRche gehört? I (-) HM_hm, P (.) das is inSOfern ja schon einem spätestens ab schulzeit (-) äh präsent– (--) wenn man religion angibt und man gibt französisch reforMIERT an;(-) und alle fragen NACH; das is äh immer was beSONderes gewesen–
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 143 0113 0114 0115 0116 0117
I das heißt sie mussten viel erKLÄren– P VIEL erklären, (-) äh (.) n gewissen STOLZ hab ich immer damit verbunden; obwohl ich nichts dafür KANN, und man eigentlich sagt das is dann blödsinnig STOLZ drauf zu sein, aber schon diese beSONderheit; das hab ich schon als was ähm (.) POsitives immer erlebt;
Markiert von mehreren Verzögerungssignalen („äh“ 0108, 0110, 0114) und ungefüllten Pausen findet in dieser Sequenz der Erinnerungsprozess statt. Frau P. generalisiert ihre Zugehörigkeit zur Kirche durch Ausdrücke der Beständigkeit („immer“, 0108), die Verwendung indefiniter Personenbezeichnungen („man“, 0108, 0111; „einem“, 0110), wodurch möglicherweise auch ein Gefühl von Normalität dieses Zustands vermittelt werden soll. Die Ungerührtheit kippt in der nachgeschobenen TCU („(-) und alle fragen nach“, 0111). Hier wird durch die mittel fallende Tonhöhenbewegung am Ende der ersten Einheit („an;“, 0111) deutlich, dass ein turn-taking möglich gewesen wäre. Als würde Frau P. in diesem Moment einfallen, was die Nennung der Religion zu Schulzeiten zur Folge hatte, erweitert sie ihr Rederecht auf eine hyperbolische Ausführung („alle“, 0111) der Außenwirkung ihres Glaubens. Mithilfe des substantivierten Adjektivs „Besonderes“ (0112) evaluiert und kategorisiert Frau P. als erzählendes Ich die Lebenswirklichkeit des erzählten Ich („gewesen“, 0112) in Bezug auf die Religionszugehörigkeit als Andersartigkeit, die sie in Kontrast zu ihren Mitschülern setzte. Der Zwang zur Erklärung gegenüber anderen (0114) steht hier als agency für die Auseinandersetzung mit der hugenottischen Herkunft, ist doch die Gemeindezugehörigkeit von Frau P. noch als Normalität wahrgenommen worden. In den folgenden Ausführungen zur positiven emotionalen Beteiligung („Stolz“, 0114; „etwas Positives“, 0117), die Frau P. durch die Verwendung des Personalpronomens „ich“ (0114, 117) subjektiviert, findet aufgrund eines autoepistemischen Prozesses ein Tempuswechsel vom Perfekt zum Präsens statt. Zugzwänge und die Dynamik des Erzählens führen zur situierten Selbstvergewisserung, dass Frau P. als erzählendes Ich im Hier und Jetzt „nichts dafür kann“ (0115), dass sie hugenottische Wurzeln hat. Um in der Interaktion soziale Akzeptabilität herzustellen, soll der Konzessivsatz (0115) eine Abschwächung der vorherigen Aussage darstellen, die mithilfe einer allgemein formulierten Regel („und man eigentlich sagt“, 0115) gestützt wird. Die Kategorisierung der Andersartigkeit als „Besonderheit“ (0116) und „etwas Positives“ (0117) beendet den Abschwächungsprozess des erzählenden Ich und wird von Erzählungen zur familiären Einbindung in die Gemeinde gefolgt. Die folgende Sequenz behandelt das Spracherleben ihrer Kinder und Frau P.s Engagement für die lateinische und die englische Sprache. Die Frage nach den Inhalten mündlicher Tradierung der Familiengeschichte und dem Umgang mit der französischen Sprache im Elternhaus beantwortet Frau P. weniger bestimmt.
144 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
(4) 10-02-2010_FrauP [00:06:22-00:07:37] 0142 0143 0144
P (-) ja–=mein opa war in frankreich in verDUN in den schlachten, ähm SOLche sachen dann– (2.6) ja;=und das entscheidende ist einfach geMEINde gewesen; (1.4) vater is auf_m französischen gymNAsium gewesen;
0145 ((…)) 0160 I wurde zuhause bei ihnen ähm franZÖsisch gesprochen– wenn ihr vater auf_m französischen gymNAsium war, 0161 P (3.3) geLEGentlich mal 0162 dass er– (-) klar was ziTIERte; oder 0163 [so; ] 0164 I [HM_hm, ] 0165 P das SCHON;=ja, 0166 (1.8) also dis WAren auch auch äh– (---) so: ich sag mal frere jacques in franZÖsisch singt, das war einfach äh nor MAL, 0167 I HM_hm, 0168 P und so gab_s auch so_n paar ANdere sachen natürlich;=ja–
Für die Angabe der familiengeschichtlichen Tradierung scheint Frau P. nicht genau zu wissen, welche Informationen sie preisgeben soll. Sie eröffnet einen gemeinsamen Wissensrahmen mithilfe eher vager Konstruktionen (0143) und mehrerer semantisch leerer Kompletivformeln (0143, 0163). Damit positioniert sie die Interviewerin, indem sie ihr die Kenntnis weiterer „Sachen“ (0143) unterstellt, die sie nun nicht ausführen muss. Über die Kategorisierung der Gemeinde als „das Entscheidende“ (0144) offenbart Frau P. ihr Relevanzsystem, obwohl unklar bleibt, ob die Gemeinde für den Erhalt des hugenottischen Erbes oder für andere Bereiche der Lebenswirklichkeit des erzählten Ich entscheidend war. Diese Sequenz ist von vielen längeren Pausen bestimmt, was einerseits für die Schwierigkeit der Beantwortung oder andererseits den in Gang gesetzten Erinnerungsprozess sprechen kann. Da der Vater von Frau P. auf dem französischen Gymnasium war, ist sie mit der französischen Sprache konfrontiert worden. Frau P. bewertet als erzählendes Ich diese Konfrontation ihres erzählten Ich mit der französischen Sprache im Elternhaus als „einfach äh normal“ (0166). Da sie nicht anzeigt, dass ihre Einstellung zur Normalität sich verändert hat, kann diese Evaluation sowohl für das vergangene als auch das gegenwärtige Ich gelten. Es lässt sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht beweisen, dass hier eine aktuelle Einstellung in die damalige Geschichte projiziert wird, da bisher keine stark abweichenden Perspektiven offengelegt wurden. Schulische Erfahrungen mit der französischen Sprache befindet Frau P. als äußerst unangenehm, da anstrengende Lernprozesse und schlechte Zensuren sie demotiviert haben.
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(5) 10-02-2010_FrauP [00:08:09-00:08:22] 0180 0181 0182 0183
P ob nun accent aigu oder accent e GRAVE, also dis sind so SAchen; (--) das macht einem schüler dann keinen SPASS– (-) wenn man das nich (-) von anfang AN: (--) und viel kleiner– viel intenSIveren umgang mit hat;
Hier entsteht eine Reaktualisierung der Erlebnisperspektive, die beispielhaft eine Problemlage des Lernprozesses des erzählten Ich wiedergibt (0180). Frau P. distanziert sich über die Benennung „einem Schüler“ (0181) von ihrer Lerngeschichte und modalisiert die Aussage als gemeingültige Schlussregel. Interessant scheint an dieser Stelle die Annahme, dass stärkere Beschäftigungen mit der Sprache „von Anfang an“ (0183) im Umkehrschluss zu mehr Freude am Lernprozess geführt hätte. In Segment 4 hat Frau P. gerade diese frühzeitige Konfrontation angesprochen und als Normalität bewertet. Daraufhin erzählt sie aus der Vergangenheit, von den schwierigen Lernbedingungen ihrer Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg und von Familienurlauben in England und intensiven Erfahrungen mit englischer Literatur, die ihr Verhältnis zur englischen Sprache bestimmt haben. (6) 10-02-2010_FrauP [00:13:26] 0312 P und das war so das PRÄgende eigentlich für_ne sprache für mich;
Aus der Generalisierung „für ’ne Sprache“ (0312) kann geschlossen werden, dass Frau P. das aktive Spracherleben als Voraussetzung für die kognitive sowie emotionale Verbindung zu einer Fremdsprache wahrnimmt. Die Gültigkeit der sie betreffenden Aussage verstärkt sie über die Subjektivierung „für mich“ (0312). Auf die Frage, warum ihr Bruder Französisch leichter gelernt hat, macht Frau P. einen besseren Lehrer für den Unterschied der Geschwister verantwortlich. (7) 10-02-2010_FrauP [00:14:50-00:15:45] 0339 0340 0341 0342
((…)) 0355 0356 0357 0358
I (---) hm und er hatte offensichtlich mehr affiniTÄT als sie, P BESseren lehrer– I n besseren LEhrer; P naTÜRlich; also äh wenn ich_n anderen LEhrer in franZÖsisch gehabt hätte– hätt ich mich da wahrscheinlich auch DURCHgebissen; I (1.0) is das heute SCHAde,=oder– P ja; I (---) ja; (1.91)
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P und dass ich_s französisch aktiVIEren will– das geht schon (.) so: hm (-) n paar JAHre, aber (-) es kommen dann immer ANdere sachen die ich für wichtiger halte;
Frau P. antwortet hier mit einer elliptischen Konstruktion („besseren Lehrer“, 0340), deren Konjugation die fehlenden Elemente „er hatte“ verrät. Die Wiederholung durch die Interviewerin leitet als interaktive Konsequenz Frau P.s Auseinandersetzung mit der Vorstellung ein, dass sie einen besseren Lehrer benötigt hätte. So entsteht eine argumentative Beweisführung für ihre mangelnde Sprachkompetenz. Die selbstpositionierende Beschreibung der Handlungsfähigkeit des erzählten Ich wird sprachlich mittels einer in der Fiktion verankerten, konditionalen „wenn-dann“Konstruktion und der Verwendung des Konjunktivs („gehabt hätte, hätt“, 0342) realisiert, wobei das Adverb „dann“ nur mitgedacht werden kann. Die Wendung „durchgebissen“ (0342) zeigt den Willen zur Hartnäckigkeit und die Opferbereitschaft von Frau P. in Bezug auf das Sprachenlernen. So führt sie eine Schlussregel ein, die ihre Sprachkompetenz retrospektiv legitimieren soll. Von der Interviewerin zur expliziten Bewertung gezwungen (0355), offenbart Frau P. ihr andauerndes Interesse („’n paar Jahre“, 0359) an der Aktivierung der französischen Sprache. Bezüglich der vorangegangenen TCU leitet Frau P. die rechtfertigende Argumentation mit einer konzessiv-adversativen Konjunktion ein („aber“, 0360), die ihr Relevanzsystem aufzeigt – es gibt wichtigere „andere Sachen“ (0359) als die französische Sprache. Im weiteren Verlauf stellt sich heraus, dass Frau P. vorrangig zweckgerichtete Absichten mit dem erneuten Erlernen verfolgen würde. Der vereinfachte Austausch mit dem frankophonen Gemeindeteil, dessen Geschichte sie fortan erzählt, gilt hier als Auslöser für den bekundeten Willen und bietet die Motivation zum Sprachenlernen. Dass ein wiederholtes Scheitern wie im schulischen Unterricht drohen könnte, nimmt Frau P. auf Nachfrage nicht zum Anlass, es nicht zu versuchen. (8) 10-02-2010_FrauP [00:27:43-00:27:49] 0620 0621 0622 0623 0624 0625 0626 0627 0628
P also wenn ich jetzt wieder mein franZÖsisch aktiviere, ich werd da heftig drum KÄMPfen müssen; [aber ] I [HM_hm, ] P (-) GUT– IS dann halt– I (-) ham sie angst davor dass sie doch den (.) den schritt mal WAgen; und dass es dann vielleicht zu SCHWER wird? P nö; (-) weil ich nichts nichts erWARte; ich MUSS ja nirgendwo hinkommen; es is (1.5) so wie ich_ne zeitlang klaVIER gespielt habe. I HM_hm– P man MACHT das dann einfach mal_ne weile;
Das erzählende Ich vergegenwärtigt hier zukünftige Umstände („wird’“, 0620) und kategorisiert die Aktivierung des Französischen als Anstrengung. Frau P. nutzt die
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Ausdrücke aus dem semantischen Feld des Kraftakts („durchgebissen“, 0342; „kämpfen“, 0620) sowie Modalverben und -adverben („müssen“, „heftig“, 0620) als Ressource der Modalisierung bezüglich der Intensivierung ihrer Aussagen. Die Aussicht auf die schwierige Aufgabe quittiert Frau P. zunächst mit dem einstellungsausdrückenden Vorschaltelement „gut“ (05623) und mit einem fragmentarischen Einverständnis der nicht abzuwendenden Folge (0623). Obwohl Frau P. bereits mehrfach auf die Anstrengung des Sprachenlernens verwiesen hat, weist sie ein mögliches Gefühl der Niederlage kurz mit der Negationspartikel „nö“ (0625) zurück. Sie leitet nach kurzer Pause eine argumentative Position ein, mit der sie ein generelles Deutungsmuster offenbart: die geringe Erwartungshaltung und die plötzlich fehlende Definition eines Zielzustandes – immerhin spricht sie zuvor vom erleichterten Austausch mit dem frankophonen Gemeindeteil – nehmen ihr die Sorge, die sie bis dato gegenüber dem Französischlernen vermittelt hat. Die abschwächende Argumentation geschieht über einen Vergleich mit dem Klavierspielen (0626) und die Formulierung einer allgemeinen Regel (0628). In der folgenden Sequenz geht Frau P. abermals auf den französischsprachigen Teil der Gemeindearbeit ein, der sie zum Sprachenlernen veranlassen könnte. Für die religiöse Praxis, hier das Singen der Kirchenlieder, hat die französische Sprache jedoch kaum Bedeutung. (9) 10-02-2010_FrauP [00:29:45-00:29:49] 0658 0659 0660
P (--) und (.) ich find schon wichtiger dass man überHAUPT in der kirche singt; I HM_hm– P und dass es eigentlich eGAL is in welcher sprache;
Frau P. erhebt in dieser Aussage trotz der Generalisierungsindikatoren „man“ und „überhaupt“ (0658) keinen Allgemeingültigkeitsanspruch auf ihre Auffassung zur Gesangspraxis in der Kirche. Sie bezieht durch die Subjektivierung „ich finde“ (0658) Stellung, die sie auf die Irrelevanz der Singsprache erweitert. Das epistemische Adverb „eigentlich“ (0660) hat hier eine metakommunikative Funktion, die das Vorangegangene bestätigt, da es in der Variationsanalyse auch mit „im Grunde genommen“ oder „in Wirklichkeit“ paraphrasiert werden kann“. Die prosodische Gestaltung der TCU hinsichtlich Akzentuierung („eGAL“, 0660) und Tonhöhenbewegung am Einheitenende zeigt, worauf Frau P. mit Bestimmtheit verweist. In den folgenden Sequenzen geht es um die Veränderungen des Gemeindelebens im Laufe der Zeit, Freunde der Familie, die Studienzeit von Frau P. und ihren Kindern, Einstellungen zum schulischen Fremdsprachenunterricht und ihre deutsche Muttersprache. Hier bietet es sich an, auf den anfänglichen Gebrauch des Wortes „Herkunft“ (0007) zurückzukommen. Auf die Frage, wie Frau P. sich gegenüber Wissbegierigen bezeichnen würde, antwortet sie:
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(10) 10-02-2010_FrauP [00:45:40-00:46:43] 0978 0979 0980 0981 0982 0983 0984
P (1.0) hm (-) je nachdem wo dann die unterhaltung HINgeht; (2.39) P stehe schon und sag auch relativ OFT dann– ja;=ich bin nachfahrin von hugeNOTten, (1.5) un:d (--) auch immer noch (.) AKtiv in der kirche, sodass das WURzeln sind;=ja; I (--) die aber eben NICHT zwingend– P das franZÖsische beein' beinhalten;=nein.
Das Abwägen und die fiktive Situierung („je nachdem, wo“, 0978) kann anhand des indirekten Interrogativsatzes als Rückversicherungsaktivität bezüglich des Fragehorizonts bestimmt werden. Damit eröffnet Frau P. eigenständig den situativen Rahmen, den sie dann aber nicht näher erläutert, sondern eine Passage (0979) anschließt, der den Gesprächspartnerinnen Gelegenheit zur Vorstellung von Situationsalternativen gibt. Daraufhin kategorisiert Frau P. sich mittels dem Veranschaulichungsverfahren der Redewiedergabe, die einem generalisierten Anderen als Fragesteller gilt („ja, ich bin“, 0980), explizit als „Nachfahrin von Hugenotten“ (0980). Der Argumentation zur Verwurzelung über die Gemeindezughörigkeit (0981/0982) folgt eine besondere Form der interaktiven Aushandlung von Positionen. Die wechselseitigen Selbst- und Fremdpositionierungen von erzählendem Ich und Zuhörerin entstehen hier durch die Herstellung gemeinsamer Erwartungen, die sich in der Satzvollendung durch Frau P. ausdrücken (0984). Die nachgeschobene Negationspartikel („nein“, 0984) bekräftigt ihre Auffassung, dass ihre hugenottische Herkunft in keiner engen Verbindung zur französischen Sprache stehen muss. Das Gespräch endet mit einer Vorstellung des Familienstammbaums, den Frau P. der Interviewerin präsentiert. Identitätskonstruktion von Frau P. Die kommunikative Selbstkontinuierung von Frau P. im Hinblick auf ihre Identität und Sprachidentität kann nun auf einer abstrahierten, strukturübergreifenden Ebene rekonstruiert werden. Die Identitätsbildung als aktuelle und dynamische Syntheseleistung wird einerseits in ihrer Darstellung des erzählten Ich, andererseits in der Herstellung des erzählenden Ich getragen. Frau P. identifiziert sich zeit ihres Lebens mit der Gemeinde und dem reformierten Bekenntnis. Sie markiert das Zugehörigkeitsgefühl beispielsweise mittels expliziter Kategorisierungen als Hugenottennachfahrin. Mit ihrer hugenottischen Herkunft verbindet sie den reformierten Glauben, die aktive Gemeindearbeit und eine besondere Familiengeschichte, die durch einen Stammbaum der Familie dauerhaft fixiert ist. Hier stehen vergangenes und gegenwärtiges Ich weitestgehend im Einklang, wiederkehrende Bekräftigungen zur Bindung an die Gemeinde und das Ausbleiben von aktuellen Distanzierungen zum ver-
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gangenen Ich verstärken diese Annahme. Die Konstruktion religiöser Aspekte der Identität wird über die intensivere Beschäftigung mit ihrem Glauben aufgrund der Nachfragen von Mitschülern gestützt. Eine Analyse von agency hat gezeigt, dass Frau P. den Zwang zur Angabe der Konfession in der Schule für die Auseinandersetzung mit ihren religiösen Wurzeln verantwortlich macht. Erst diese Nennung führte zur Kontrastierung gegenüber anderen und kann daher als Schlüsselerzählung herhalten. Die Zugehörigkeit zur französisch-reformierten Kirche birgt also ein distinktives Merkmal, das die Herausbildung eines Gefühls von Besonderheit und Stolz fördert. Hier dient eine interaktive Aushandlungsstrategie sowohl ihrer Selbstvergewisserung als auch der Wirkung auf die Interviewerin, da Frau P. den Rahmen der Erzählung verlässt, um ihrem allgemeinen Deutungsmuster zur Unbegründbarkeit dieses Gefühls Ausdruck zu verleihen. Auch in der Betrachtung des Sprachenportraits wird deutlich, dass die Interaktivität vor allem Positionierungen hinsichtlich der Verbindung von hugenottischen Wurzeln und französischer Sprache verlangt. Für die englische Sprache gibt es durch Aufenthalte in England und eine intensive Auseinandersetzung mit englischer Literatur noch klare Kausalitätsketten, die Frau P. mit dem interaktiven Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Wissenshorizonts präsentiert. Hier erlebt und präsentiert Frau P. sich selbstpositionierend als handlungsmächtiges Agens ihrer Sprachbiographie. Bezüglich der französischen Sprache stellt sie sich vielmehr als Patiens mit weit weniger Handlungskontrolle dar. So erzeugt Frau P. angesichts der im Gespräch entstehenden Identitätsaspirationen aber auch Kontinuität, indem sie der kontingenten Erfahrung von mangelnder Französischkompetenz trotz hugenottischer Herkunft einen externen Grund zuweist. In der retrospektiven Bearbeitung sind die Kompetenz der Lehrkraft und die resultierende Lernbereitschaft von Frau P. die ausschlaggebenden Faktoren für ihre schwierige Lerngeschichte und ihr Gewordensein. Ähnliches gilt für die Bearbeitung der Rollenerwartung, dass sie als Hugenottennachfahrin schon in Frankreich gewesen ist, wenn sie ein kulturell vorgeprägtes Muster in den Dienst ihrer Argumentation und die Konstruktion von Welt stellt. Für die kirchliche Praxis und damit verbunden das hugenottische Bewusstsein ist die französische Sprache nur von Belang, wenn sie dem Austausch mit dem frankophonen Gemeindeteil dient. Der Gesprächsverlauf zeigt, dass der französischen Sprache für die affektive Beziehung zur Herkunft trotz der ihrer Anwendung im Elternhaus wenig Bedeutung beigemessen wird. Das Interesse am Erlernen der französischen Sprache wird mehrfach von Frau P. bekundet. Kann die Sprache jedoch keine lebensweltliche Einbindung erfahren, bleibt es eine zweitrangige Aufgabe, die Kompetenzen zu aktivieren. Dass die Konstruktion von Sprachidentität einen stets vorläufigen Charakter hat und stark kontextgebunden ist, wird in der Betrachtung des Sprachlernwunsches von Frau P. deutlich. Die Möglichkeit zur sprachlichen Teilhabe im Austausch mit dem frankophonen Gemeindeteil stärkt zunächst den Willen zur Aktivierung des Französischen. Wird Frau P. aber auf das mögliche Scheitern angesprochen, relati-
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viert sie den angestrebten Zielzustand. Trotz dieser Inkonsistenzen auf der Textebene ist erkennbar, dass Frau P. sich im Zuge ihrer Handlungsorientierung auf die relativ problemlose Bewältigung ihrer Lebenswirklichkeit ohne die französische Sprache verlassen kann. Die Hervorbringung der eigentheoretischen Aussagen zur Gewichtung der französischen Sprache in verschiedenen Bereichen, insbesondere als unnötige Komponente in der religiösen Praxis, konstruiert im Rahmen der Selbstthematisierungen ihre Sprachidentität als Hugenottennachfahrin.
4.2 „ALSO ICH HAB JETZ NICH DAS GEFÜHL, DASS ICH IRGENDWAS AUFHOLEN MÜSSTE, UM DA NÄHER RANZUKOMMEN ODER SO.“4 Abbildung 7: Sprachenportrait Frau A.
Frau A. ist in den Dreißigern, sie ist in Berlin aufgewachsen, lebt und arbeitet aktuell im Westen Deutschlands. Im Vorfeld ist der Interviewerin bekannt, dass Frau A. auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft tätig ist. Folglich ist die Erwartungshaltung der 4
Transkript 2; Frau A.; 37:14 Minuten
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Interviewerin an das Gespräch relativ hoch. Das Interview mit Frau A. wird im Esszimmer ihres Elternhauses in Berlin aufgenommen. Der Anwendung des Tonbandgerätes stimmt Frau A. ohne Bedenken zu. Da sie berufsbedingt Umgang mit der digitalen Aufzeichnung von Gesprächen hat, entsteht keinerlei Zögern oder Spannung im Moment des Einschaltens. Auch der unsägliche Zwischenfall nach etwa 20 Minuten, bei dem ein Batteriewechsel im Aufnahmegerät das Gespräch jäh unterbricht, bringt Frau A. weniger aus der Fassung als die Interviewerin. Der Bitte, ihr Sprachenportrait zu zeichnen, kommt Frau A. gerne nach und scheint während des gesamten Interviews an Fragen und Thema interessiert. (1) 04-10-2011_FrauA [00:00:14-00:03:37] 0005 0006 0007 0008 0009 0010 0011 0012 0013 0014
A (-) ja;=also deutsch ähm bestimmt so am tiefsten DRIN (.) in mir, (-) ja in meinem HERzen würd ich sagen; (-) ähm: I DAS sind die farben für deutsch– A geNAU; I HM_hm, A (---) ähm: ja;=woBEI, ja also ich bin ja angLIStin, und DESwegen ähm– (--) alle BRItischen varietäten, die hab ich wahrscheinlich so (.)äh im KOPF drumrum– (-) ne IRlandfahne hätte jetz noch gefehlt; (irgendwie) die anderen ähm ja waLIsisch und so weiter;
((…)) 0053 I hm_HM, und die ham sie jetz aber (.) die keltische fahne nicht mit REINgemalt– 0054 weil das etwas is was ganz weit WEG is, oder 0055 [schon so lange HER, ] 0056 A [ja:; ] 0057 ja;=was auch gar nicht jetz (mir/mehr) so WICHtig is; 0058 ähm also die ähm der union jack so im im KOPFbereich rum; 0059 ((lacht)) DAS is wichtig; 0060 I HM_hm, (--) weil sie damit äh ARbeiten, oder 0061 [warum ham sie ] 0062 A [geNAU; ] 0063 I das in den KOPF gemalt– 0064 A geNAU; hm_HM, 0065 I (-) und die zwei (.) FAHnen, 0066 A äh ja–=das sind ähm äh SCHOTtische; diese saint ANdrews fahnen; 0067 weil die also das war so das erste mal dass ich irgendwo WEG war; und DESwegen– 0068 ähm: (.) tja als ich mich dann so mit SECHzehn auf die socken gemacht hab– 0069 ähm richtung SCHOTTland, ähm das is so an den BEInen eben dran; 0070 ähm (-) ja weil dis so (.) dann eben mal der kontakt nach AUßen war; 0071 I (-) HM_hm, weil sie da (.) das erste mal LOSgelaufen sind und– 0072 A geNAU;
152 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren 0073 0074 0075 0076 0077 0078 0079 0080 0081 0082 0083
I (-) HM_hm, und drumherum die (.) punkte bedeuten die varieTÄten? A ja–=das is so das sind so alle ANderen sprachen; mit denen ich auch so INSgesamt ähm in kontakt gekommen bin; die AUCH interessant sind aber (-) ähm– ja;=die mich vielleicht so_n bissl inspiRIERT haben auch– a:ber ähm mit denen ich NIE irgendwas gemacht hab; aber die ich auf jeden fall interesSANT finde; I was kann das SEIN, A ach alles MÖGliche; also ähm (.) SPAnisch; ähm was NOCH, (-) franZÖsisch; ähm früher war ich ab und zu mal in FRANKreich– äh:m (-) ja:; äh (--) also dis alles MÖGliche; russisch ähm POLnisch– I warum RUSsisch, wie sind sie darau' DAzu gekommen, (.) gab_s das in der SCHUle oder– A nö;=aber das GIBT_S ja hier so drumrum;
Die Erläuterung ihres Sprachenportraits beginnt Frau A. mit der Verortung der deutschen Sprache, die sie symbolisiert durch die deutsche Fahne in die Körpermitte der Silhouette gezeichnet hat. Als Eröffnungssignal des Turns dient die Partikelstruktur „ja, also“ (0005), die ihr das Rederecht zusichert. Es folgt eine unvollendete TCU, die darauf abzielt, der deutschen Sprache personifizierend eine Funktion zuzuschreiben. Die Beschreibung der affektiven Bindung scheint zunächst schwierig, sodass Frau A. die Suche nach dem Akkusativobjekt zu „bestimmt“ (0005) aufgibt und nach einer kurzen Pause den Sitz der deutschen Sprache in ihrem Körper auf der Grundlage der superlativischen Verstärkung „am tiefsten“ (0005) präzisiert („in meinem Herzen“, 0005). Das nachgeschobene verbum dicendi „würd ich sagen“ (0005) kann als typischer Vagheitsindikator bei Formulierungsproblemen gesehen werden. Frau A. eröffnet nach mehreren Verzögerungssignalen, die diese Schwierigkeiten zeigen, eine reformulierende Konstruktion, die als Korrektur einem Veranschaulichungsverfahren gegenüber der Interviewerin gleichkommt und die Gültigkeit der vorherigen Aussage einschränkt. In der „wobei“-Konstruktion („ja, wobei, ja also ich bin ja Anglistin“, 0011) markiert die Betonung zusätzlich die hervorgehobene, von nun an gültige Information, die in der expliziten Selbstkategorisierung als Anglistin besteht. Die Konstruktion mit Verbzweitstellung erlaubt Frau A., einen typischen Hauptsatz zu formulieren, der das Geschilderte zur geltenden, nicht nur begleitenden Information macht. Frau A. kontextualisiert durch diese Maßnahme die folgenden Äußerungen und positioniert hier auch die Interviewerin durch die Annahme, dass diese den Kontextualisierungshinweis verarbeiten kann. Dazu trägt das Pronominaladverb „deswegen“ (0012) im Vor-Vorfeld als gesprächsorganisierendes Fortsetzungssignal bei, das zudem die Argumentation projiziert, dass Frau A. als Anglistin „alle britischen Varietäten“ (0013) in logischer Folge in die Kopfgegend zeichnet und der Vollständigkeit halber noch auf die fehlende „Irlandfahne“ (0013) verweist. Auf die Frage, warum sie die keltische Fahne nicht in das Portrait gezeichnet hat, obwohl sie sich nach eigener Aussage für Keltologie sehr interessiert, be-
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müht Frau A. eine Konstrastierungsstruktur (0057-0059), die ihre lebensgeschichtlichen Relevanzen offenbart. So kategorisiert sie die keltische Fahne als „nicht so wichtig“ (0058), den Union Jack als Symbol für ihre Verbundenheit zu Großbritannien und Nordirland jedoch als „wichtig“ (0059), wobei ihr kurzes Auflachen (0059) die eigene Aussage zur Gewichtung des Union Jack als Komik modalisiert. Die schottischen Flaggen symbolisieren ihre langjährige Beziehung zu Schottland, die sie im Folgenden als Erzählung mit der ersten Phase der Orientierung beginnen, aber nicht fortsetzen möchte (0068). Die Verortung in Beinnähe steht in enger Verbindung zur Wendung „auf die Socken gemacht ähm Richtung Schottland“ (0068), wobei sie sich in die Perspektive des erzählten, sechzehnjährigen Ich zu begeben und den entsprechenden Sprechstil zu übernehmen scheint. Frau A. reproduziert daraufhin die Formulierung der ersten, das Interview eröffnenden Frage nach den Sprachen, mit denen sie in Kontakt gekommen ist (0074). Sie wird von der Interviewerin durch die Nachfrage (0074) gezwungen, abermals die Punkte im Sprachenportrait zu erklären und re-interpretiert ihr eigenes Sprachenportrait auf der Grundlage der schon im Gespräch abgehandelten Erstbeschreibung. Obwohl sie der Vermutung der Interviewerin zustimmt, dass es sich bei den Punkten um Varietäten handelt („ja“, 0074), korrigiert sie ihre vorherige Aussage „alle britischen Varietäten“ (0013) nun mit der Erweiterung „alle anderen Sprachen“ (0074). Diese Sprachen kategorisiert sie in Form einer Listenbildung – „in Kontakt gekommen“, „auch interessant“, „bissl inspiriert haben“, „nie irgendwas gemacht habe“, „auf jeden Fall interessant“ (0074-0076) –, die das erzählte Ich vorwiegend als handlungsmächtiges Agens in der Konfrontation mit den Sprachen wie Spanisch, Französisch, Russisch und Polnisch (0078-0082) darstellt. Die Nennung der französischen Sprache kontextualisiert Frau A. räumlich und zeitlich mithilfe der Plausibilisierung, dass sie „früher ab und zu mal in Frankreich“ (0079) war und schafft so den kausalen Zusammenhang. Es bleibt allerdings unklar, welche Zeitabstände die Struktur „ab und zu mal“ (0079) in diesem Zusammenhang bezeichnet. Zum Ursprung der Konfrontation mit der russischen Sprache antwortet Frau A., die Vermutung der Interviewerin negierend, mit dem deiktischen Verweis, dass es Russisch „hier so drumrum“ (0082) „gibt“ (0082), womit sie vermutlich die Umgebung ihres Aufwachsens in Berlin meint. Die Abtönungspartikel „ja“ (0082) soll die Offensichtlichkeit des gesagten Inhalts für die Interviewerin nachvollziehbar machen – immerhin müsste allgemein bekannt sein, dass in der betreffenden Gegend viele russischsprachige Menschen leben. Die Nennung der französischen Sprache bietet nun Gelegenheit für die Interviewerin, näher auf den lebensgeschichtlichen Beziehungsaufbau zur Sprache einzugehen. Wie es zu den Aufenthalten in Frankreich („ab und zu mal“, 0079) kam, steht im Fokus der folgenden Sequenz.
154 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
(2) 04-10-2011_FrauA [00:03:50-00:05:41] 0090 0091 0092
((…)) 0096 0097 0098 0099 0100 0101 0102 0103 0104 0105 0106 0107 0108 0109 0110 0111 0112 0113
0114 0115 0116 0117 0118 0119
0120 0121 0122 0123 0124 0125
A ähm ich hatte französisch in der SCHUle? (--) u:nd (--) ja irgendwie (--) war dann so: die idee meiner ELtern, n bisschen also dass ich französisch (.) mehr lernen sollte im authentischen KONtext; m:ein bruder und ich wurden dann immer (.) ab und zu mal da HINgeschickt in den sommerferien; I ah JA; (.) warum glauben sie WOLLten ihre eltern das– dass äh sie das französische intensiVIEren; weil das in der schule ANgeboten wurde und sie (-) ähm nicht nur über die schule (.) an die sprachen herangeführt werden sollten, oder äh gibt_s_n GRUND; A also ich GLAUB ähm– ja:–=dass ich also MÖGlichst f' also in– also in möglichst jungem alter viel französisch daZUlerne– abgesehen von dem was es in der SCHUle (.) gibt, daMIT ich dis dann gut kann, (-) A [((lacht)) ] I [HM_hm, ] A und also mein vater hat aber schon (.) n faible dafür also auf aufgrund dieser hugeNOTtenvorfahren; [ähm ] I [hm_HM, ] A ja; I daran LIEGT das;=ja, A also dis denk ich hat dis schon beEINflusst; ja;=dis GLAUB ich hm_hm; I HM_hm, (--) er hat das auch so: ähm: (--) SO zu ihnen gesagt, also dass es (--) aufgrund dieser: die dieser faMIliengeschichte (.) das französische intensiviert werden sollte in der familie?= [oder– ] A [also ] sagen_wa mal SO, französisch war ja unsere ZWEIte sprache– die zweite fremdprache in der SCHUle– [und also ] I [hm– ] A ich glaub dass ähm (-) wahrscheinlich meine eltern BEIde (.) mehr hinterher waren dass äh mein bruder und ich nach frankreich fahren– als nach ENGland, was ja eigentlich ab der fünften KLASse schon gelehrt wurde; I HM_hm, A weil WEISS ich nich (-) eigentlich; [((lacht)) ] I [aber sie ham das nich hinterFRAGT; ] A [nee; ]
Hatte Frau A. in der ersten Sequenz noch ihre Verbindung zur französischen Sprache mit den Aufenthalten in Frankreich plausibilisiert, führt sie nun den schulischen Kontext des Sprachenlernens an (0090). Es scheint in Folge dieser Ersterzählung
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(0090), als wäre der direkte Kontakt für sie prägender als der Unterricht gewesen. Vagheitsmarkierer („irgendwie“, 0091, „so“, 0092), die Anhäufung von Pausen, Dehnungs- und Verzögerungssignalen zeigen hier einerseits die Schwierigkeit, den Verlauf zu erinnern, andererseits bewirkt es Beiläufigkeit und Distanzierung zum Geschehen. Frau A. positioniert im Folgenden die Beteiligten innerhalb der Erzählung, indem das erzählte Ich passiv der schwer zu zitierenden („’n bisschen also dass ich“, 0092) Idee der Eltern gegenübersteht, einen Auslandsaufenthalt zum Sprachenlernen zu nutzen. Auch die Passivkonstruktion zum Geschicktwerden intensiviert die Darstellung als Patiens der eigenen Geschichte. Trotz fehlender Tempusänderung scheint Frau A. sich in die damalige Erlebnis- und Wahrnehmungsperspektive zu versetzen, dass sie als Jugendliche das Gefühl hatte, „immer“ (0096) nach Frankreich geschickt zu werden. Die hyperbolische, iterative Darstellung mithilfe des Temporaladverbs „immer“ (0096) wird durch eine lexikalische Selbstkorrektur („ab und zu mal“, 0096) schließlich abgeschwächt. Die folgenden Fragen der Interviewerin, die auch schon mögliche Antworten vorgibt, führen zur erneuten Auseinandersetzung mit dem vermuteten Wunsch der Eltern („also ich glaub ähm ja“, 0100), dass Frau A. über den schulischen Kontext hinaus die französische Sprache erlernt (01000102). Die in der Erzählwelt verankerte Begründung „damit ich dis dann gut kann“ (0102) konstruiert Frau A. wie eine Form der Dialogwiedergabe aus der Figurenwelt und zeigt so fremdpositionierend die Haltung der Eltern, über die sie sich, wie die äußerungsfinale Tonhöhenbewegung und das Lachen zeigen, aber nicht ganz sicher ist. Die Frage der Interviewerin nach einem anderen Grund (0099) generiert eine interaktive und inhaltliche Folgeerwartung, sodass die thematische Engführung auf die hugenottische Herkunft (0106) nicht gerade unvermittelt wirkt. Frau A. schreibt ihrem Vater „’n Faible“ (0106) für seine Abstammung von den Hugenotten zu. Es ist auffällig, dass sie weder „unserer“ oder noch neutraler „der“ verwendet, sondern durch das distanzierende Demonstrativpronomen „dieser“ (0106) in deiktischer Verweisung ein geringeres Ausmaß an Zugehörigkeitsgefühl offenbart. Ihre Argumentation zur Annahme, dass die hugenottische Herkunft das Handeln des Vaters „beeinflusst“ (0111) hat, beginnt Frau A. mit einer metakommunikativen Konstruktion („sagen wa mal so“, 0116), die eine Präzisierung der vermuteten Zusammenhänge ankündigt. Frau A. entfaltet nun das Argument für ihre These zum Faible des Vaters, indem sie darauf verweist, dass Französisch als zweite schulische Fremdsprache mehr Zuwendung im Elternhaus erfahren hat als die englische Sprache. Sie verzichtet weitestgehend auf die Verwendung von Argumentationsindikatoren wie „weil“, „daher“, „dagegen spricht“, die Funktion ist aber allein durch die Modalpartikeln „ja“ (0116, 0120) zweifelsfrei zu identifizieren, weil sie einen Nachvollzug der Aussage durch das Gegenüber verlangen. In dieser enthymematischen Argumentation ist es Aufgabe der Zuhörerin, die Lücken zu füllen. Die retrospektive Bearbeitung der widersprüchlichen Ereignisse führt Frau A. zu der unausgesprochenen Schlussfolgerung, dass die hugenottische Herkunft für beide Eltern (0119) mehr Gewicht
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haben musste und sie deswegen mehr „hinterher“ (0119) waren, ihre Kinder nach Frankreich zu schicken und dort die französische Sprache intensivieren zu lassen. Frau A. modalisiert die Argumentation allerdings als ungewisse Annahme durch die metakommunikative Coda „weil weiß ich nich eigentlich“, 0122). Auch die Antwort auf eine mögliche Klärung bei den Eltern („nee“, 125) spricht dafür, dass es sich bei der entfalteten Argumentation eher um eine Rekonstruktion der Deutungsmuster in der Familie handelt, die in der sequentiellen Einbettung durch die Dynamik des Erzählens und den Wunsch zur Plausibilisierung der eigenen Geschichte in situ entstanden ist. Die Sequenz endet mit Erläuterungen zur Wahl der englischen Sprache als Studienfach. Die folgende Sequenz wird von der Interviewerin thematisch auf die Vermittlung der hugenottischen Herkunft im Elternhaus geführt. Die Frage nach dem ersten Kontakt, den ersten Erlebnissen, an die Frau A. sich bezüglich ihrer Wurzeln erinnern kann, verlangt ihr nun Erinnerungsarbeit ab. (3) 04-10-2011_FrauA [00:08:46-00:10:20] 0193 0194 0195 0196 0197 0198 0199 0200 0201 0202 0203 0204 0205 0206 0207 ((…)) 0224 0225 0226 0227 0228 0229
I wann sind sie denn das erste mal mit ihren (--) hugenottischen wurzeln in konTAKT gekommen; (1.2) können sie sich an das erste erlebnis erinnern (1.2) wo sie das erFAHren haben; (--) woher sie KOMmen; A ähm also ich glaub dis (.) mein VAter hat dis immer so: (-) ähm: uns erzählt; als wir KLEIN waren; I ja, A ja; I (--) WAS hat er erzählt, A ähm: (-) ja;=dass wir (.) hugenottische WURzeln haben, und dass dis aber schon ziemlich lange HER is– und ähm dass wir deshalb so_n etwas komisch klingenden NAmen haben also; ° h ja; ((lacht)) also wenn man_s origiNAL ausspricht– [klingt_s ] I [HM_hm, ] A (1.2) also er hat schon äh immer wieder (.) uns: in in der STADT gezeigt wo irgendwelche bauten sind oder waren– [die irgendwas mit hugenotten zu TUN haben– ] I [hm_HM, (.) HM_hm, ] A weiß ich jetz AUCH nich mehr genau– also dis war im westen natürlich also NICH der gendarmenmarkt; (-) ne,
Das mit der hugenottischen Herkunft in Verbindung stehende „erste Erlebnis“ (0194) wandelt Frau A. mithilfe des Temporaladverbs „immer“ (0195) in eine häufig vorkommende Vermittlung um. Verzögerungssignale, verbum putandi (0195) und
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die Partikel „so“ (0195) zeigen, dass die Erinnerung daran eher vage ist, es scheint kein markantes erstes Erlebnis zu geben, von dem Frau A. nun erzählen könnte. Worum es sich bei den Erzählungen des Vaters gehandelt hat, präzisiert sie auf Nachfrage mithilfe der in der Erzählwelt verankerten indirekten Rede und nutzt als redeeinleitendes Verb noch die Frage der Interviewerin („Was hat er erzählt“, 0199). Daraufhin rekonstruiert sie die Rede des Vaters und stellt durch die Wiederholung „ja, dass wir hugenottische Wurzeln haben“ (0200 (0193)) eine verständnissichernde Hörerinnenbestätigung her. Um zu erklären, was sie bzw. ihr Vater mit „so’n etwas komisch klingenden Namen“ (0202) meint, verlässt sie den Rahmen ihrer Erinnerung und rechtfertigt die Kategorisierung des Nachnamens als „komisch“ (0207) mithilfe eines „wenn-dann“-Szenarios (0204-0207). Das erzählende Ich positioniert sich implizit als Außenstehende einerseits durch die Verwendung des Adverbs „original“ (0204) bezüglich der französischen Aussprache im Kontrast zur familieninternen Aussprache des Nachnamens, andererseits durch das amüsierte Lachen, das Distanz zur hugenottischen Herkunft herstellt. Die iterative Darstellung der Vermittlungsarbeit des Vaters („immer wieder“, 0224), die im Aufzeigen des baugeschichtlichen Erbes der Hugenotten in Berlin bestand (0224), wird von ungenauen Formulierungen durch den Gebrauch von Indefinitpronomina wie „irgendwelche Bauten“ (0225) und „irgendwas mit Hugenotten“ (0226) in Vagheit gehalten, sodass davon ausgegangen werden kann, dass das erzählte Ich zum Zeitpunkt der Vermittlung keine intensive Bindung zum Gezeigten aufgebaut hat oder die Kindheitserinnerung des erzählenden Ich mittlerweile Lücken aufweist. Die Erwartungen der Interviewerin antizipierend möchte Frau A. nun der Ungenauigkeit Abhilfe schaffen und rahmt mithilfe des metanarrativen Kommentars „weiß ich jetz auch nich mehr genau“ (0228) ihre Aussagen zur Abschwächung des Präzisionsanspruchs, sie kann an dieser Stelle keine genaue Antwort geben. Frau A. definiert daher den Ort ihres Aufwachsens, den Westen Berlins (0228), und gibt so noch einmal orientierenden Aufschluss über den Deutungsrahmen, der Kontextwissen der Interviewerin verlangt. In Ermangelung eines Beispiels nutzt sie die Negation „also nich der Gendarmenmarkt“ (0228) und signalisiert über die Rückversicherungspartikel „ne“ (0228) den Wunsch nach Zustimmung. In der folgenden Sequenz spricht Frau A. von der Wahrnehmung ihrer Herkunft, als sie noch jünger war. (4) 04-10-2011_FrauA [00:10:48-00:11:23] 0245 0246 0247 0248
A (--) also ich fand_s schon irgendwie interessant ähm zu hören: wo wir HERkommen, (--) äh_m: a:ber dis WAR so_n bisschen– (--) ich glaub daalso mir hat NIEmand so richtig die zusammenhänge erklärt; also dis hab ich mir SPÄter erst äh angeeignet– (-) ähm:: während der abituriENtenzeit,
158 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren 0249 0250 0251 0252 0253 0254 0255
damals meine beste freundin war auch also hatte AUCH hugenottische wurzeln; (--) ähm wir waren dann äh irgendwo in_nem hugenottenmuseum irgendwo in WESTdeutschland; I in bad karlsHAfen; A ähm ja;=dis ka ݫja– ((lacht)) [und ] I [ja; ] A geNAU; (-) ja;=und ham dann da so_n bisschen äh uns was erKLÄren lassen;
Die zeitliche Distanz zum Erlebten ermöglicht die wertende Aussage von Frau A. zu den Mängeln in der Art und Weise, wie sie an ihre hugenottische Herkunft herangeführt wurde. Die kurze Erzählung (0247-0269) über die Initiative, die sie ergriffen hat, um „die Zusammenhänge“ (0247) zu verstehen, weist eine charakteristische Binnenstruktur auf. Sie beginnt mit dem abstract „dis hab ich mir später erst äh angeeignet“ (0247), der Ankündigung der verändernden Maßnahme, die eine Schwelle in der erinnerten Vermittlung markiert. Darauf folgt die Orientierung, in der Frau A. Aufschluss über die Eckdaten der Episode gibt. Was in der Ankündigung als „später“ (0247) galt, wird nun mit der zeitlichen Grenzziehung „während der Abiturientenzeit“ (0248) präzisiert. Als beteiligte Person führt Frau A. ihre „beste Freundin“ (0249) ein, die ebenfalls hugenottischer Herkunft ist. Die auffällige Selbstkorrektur „war auch also hatte auch hugenottische Wurzeln“ (0249) zeigt ein Gefühl von Unsicherheit von Frau A. in der Bezeichnung hugenottischer Nachfahren und so auch ihrer selbst, sodass sie die vorangegangenen Formulierungen sicherheitshalber übernimmt. Die Kategorisierung der Freundin kann hier schon als Phase der Komplikation gelten, wenn vorausgesetzt wird, dass beide Frauen ihre Herkunft für das Interesse an den Zusammenhängen als handlungsmotivierende Gemeinsamkeit erleben. Die Erinnerung an den Ausflug in das Hugenottenmuseum ist eher vage („irgendwo“, 0250) und auch hier stellt Frau A. sich trotz der ergriffenen Initiative mittels der Passivkonstruktion als Patiens in der Konfrontation mit ihren Wurzeln dar („ham dann da äh so’n bisschen uns was erklären lassen“, 0255). (5) 04-10-2011_FrauA [00:12:13-00:12:54] 0270 0271 0272 0273 0274 0275 0276 0277 0278
I sie hatte das beDAUert; [dass SIE ] A [ja; ] I ähm– (--) weil das irgendwie daZUgehörte für sie oder wie:– A ja; (-) HM_hm, (-) ja; I für sie NICH, oder ham_se ham sie den DIrekten zusammenhang gesehen zwischen (-) ähm ihren eltern– die (--) das franZÖsische für sie wollten– und der hugenottischen (-) verGANgenheit oder ((räuspert sich)) der hugenottischen wurzeln, wurde dieser zusammenhang richtig (--) DARgelegt?
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 159 0279 0280 0281 0282
A ja;=also eigentlich SCHON; ja und ich dachte mir na ich KANN ja_n bisschen französisch– I HM_hm, A ähm also hab ich mir darüber jetz gar nicht mehr SO viele gedanken gemacht; (-) also ich hab jetz nich das gefühl dass ich irgendwas AUFholen müsste; (.) um da näher RANzukommen oder so;
Die thematische Fokussierung auf die beste Freundin aus der Schulzeit von Frau A. erlaubt eine vergleichende Betrachtung, die die Interviewerin unterstützt, um Aussagen zur Selbstwahrnehmung des erzählenden Ich zu generieren. Frau A. berichtet von dem Bedauern ihrer aus Ostdeutschland stammenden Freundin über das Fehlen des Französischunterrichts. Die Zustimmung (0275), dass ihre Freundin eine Verbindung zwischen der französischen Sprache und ihrer hugenottischen Herkunft sieht, animiert Frau A. nicht zur Übertragung auf ihre Person. Erst nach der schwerfälligen Nachfrage der Interviewerin zur eigentlich schon besprochenen Zusammenhangslosigkeit, die das erzählte Ich hinsichtlich der Vermittlung fühlte, bejaht Frau A. zögerlich (0279). Eingeleitet durch verbum sentiendi (0279) re-inszeniert Frau A. ihre früheren Gedanken gegenüber einem unbekannten Dritten („na, ich kann ja ’n bisschen Französisch“, 0279) und gibt sie mit dem Wunsch nach Originaltreue im szenischen Präsens wieder. So reaktualisiert sie ihre frühere Wahrnehmung zur eigenen Sprachkompetenz, die sie dem Adressaten der direkten Rede mit der Betonung auf „kann“ (0279) deutlich vermitteln will. Das erzählende Ich positioniert hier das erzählte Ich und die Beteiligten in der Auseinandersetzung mit der angestrebten Fähigkeit, die französische Sprache zu beherrschen. Die szenische Illustration verhilft auch zur Plausibilisierung der Tatsache, dass sie sich „darüber jetz gar nicht mehr so viele Gedanken gemacht“ (0281) hat. An dieser Stelle bleibt allerdings unklar, was genau mit dem Adverb „darüber“ (0281) gemeint ist und auf welchen Zeitpunkt sich die deiktische Angabe „jetz“ (0281) bezieht. In temporaler Perspektive geschieht nun ein Wechsel von der Darstellung früherer Haltungen hin zur JetztWelt. Die folgende Äußerung ist zweifelsfrei in der Erzählwelt angesiedelt und bezieht sich auf die aktuelle Lebenswirklichkeit. Die selbstbezügliche Aussage „ich hab jetz nich das Gefühl, dass ich irgendwas aufholen müsste, um da näher ranzukommen oder so“ (0282) hält auffällige Strukturen bereit. Das erzählte Ich wird zuvor von Frau A. durch den Vergleich mit der Freundin, die sich um das Aufholen der Sprachkompetenz bemüht hatte, als weniger engagiert fremdpositioniert. Damit konstruiert Frau A. ein Ich, das damals, aber auch zum Zeitpunkt des Interviews keinen Aufholbedarf (0282) verspürt. Ungenauigkeit und Vagheit zum konkreten Inhalt des Aufzuholenden markiert Frau A. über Heckenausdrücke wie „irgendwas“ und „oder so“ (0282). Die Struktur „um da näher ranzukommen“ (0282) wird von Frau A. nach der eigentlich abgeschlossenen TCU („müsste;“, 0282) nachgeschoben und gibt Aufschluss über die Position, in der Frau A. sich wahrnimmt. Es gibt ein „da“ (0282), das allerdings offen lässt, ob das Hugenottesein, das Nachfahresein, die
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hugenottischen Wurzeln oder das Erbe gemeint ist. Und es gibt eine überwindbare Distanz („näher“, 0282), in der das erzählende Ich zum „da“ (0282) steht. Daraufhin berichtet Frau A., was sie im Hugenottenmuseum in Erfahrung gebracht hat, wie sie im Laufe der Jahre auf andere Hugenottennachfahren zugegangen ist und Gemeinsamkeit über ihre Herkunft herstellen konnte. Von der Interviewerin wird sie daraufhin um folgende Beschreibung gebeten: (6) 04-10-2011_FrauA [00:14:43-00:15:09] 0327 0328 0329 0330 0331 0332 0333
I was verbinden sie denn heute mit dem begriff (--) hugeNOTten; (.) oder: ähm hugenottische WURzeln; A (1.4) also ähm: ne andersartigkeit als die ANderen deutschen, ((lacht)) I hm_HM, A ähm::: (---) irgendwie: (.) n bisschen (--) ja was was mediterRAneres; (--) als die: (.) richtigen deutschen mit den GANZ deutschen wurzeln; ((lacht))
Nach einer längeren Pause und Verzögerungssignalen („(1.4) also ähm“, 0328) assoziiert Frau A. den Begriff „Hugenotten“ oder „hugenottische Wurzeln“ (0327) mit dem Gefühl der „Andersartigkeit“ (0328), die sie in Kontrast zu den „anderen Deutschen“ (0328) setzt. Damit kategorisiert Frau A. sich implizit als anders als andere und markiert ihre Zugehörigkeit zu den Hugenotten. Gefolgt von weiteren Pausen und Vagheitsmarkierern (0331) präzisiert sie die Andersartigkeit durch eine lokale Angabe („was Mediterraneres“, 0331), die sie in direkten Vergleich mit den „richtigen Deutschen mit den ganz deutschen Wurzeln“ (0332) stellt. Ihr Lachen (0329, 0333) modalisiert die Sequenz nicht nur als komisch, sondern zeigt auch die Unsicherheit im Ausdruck ihrer verspürten Einstellung. Die Sprache kommt zurück auf das Familienleben und den Umgang mit der hugenottischen Herkunft. Sie berichtet von ihrem Bruder, der eher wenig Interesse an den hugenottischen Wurzeln hat, dennoch mit Fremden über außergewöhnliche Nachnamen in Kontakt kommt. (7) 04-10-2011_FrauA [00:21:15-00:22:21] 0478 0479 0480 0481 0482 0483 0484 0485
I [und ham sie sich ] A [((lacht)) ] I früher darüber unterHALten, dass es was beSONderes is– =oder– A (--) na_JA;=also hm: schon wenn dann auch so WITzig; irgendwie freunde oder beKANNte von meinen eltern sagten– ach na IHR hugenotten; äh irgendwie SO– ihr macht alles ANders; also irgendwas [machen wir ] I [HM_hm, ]
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 161 0486 A ANders und dann hieß es na_ja; ((lacht)) ((…)) 0496 A (--) äh: ja; ähm (-) also JA,=also meine MUTter hat polnische vorfahren– 0497 [und ähm ] 0498 I [HM_hm, ] 0499 A da hieß es dann im konTRAST immer– ähm (.) ihr (.) POlen; 0500 also 0501 I ach SO; 0502 A ((lacht)) also ja;=kann SEIN; stimmt dis stimmt SCHON; also 0503 (-) dass es dann IRgendwie– ja;=es kann vielleicht sein dass WIR so bestimmte traditionen haben; oder nich traditiOnen– 0504 aber irgendwelche EIgenarten; die wir irgendwie ANders machen, 0505 und dann wird das immer so pauschal dann so in einen TOPF getan– 0506 ANdersartigkeit– ach na=das das muss irgendwie da dran liegen an den hugenottischen WURzeln;
In dieser Sequenz dominiert die Inszenierung der Vergangenheit durch indirekte und direkte Redewiedergabe (0482, 0483, 0486, 0499). Auf die Frage, ob die besondere Herkunft innerhalb der Familie Gesprächsgegenstand war, antwortet Frau A. mit einer Beispielerzählung zur Wahrnehmung durch Dritte, die „Freunde oder Bekannte“ (0481) der Eltern als Beteiligte der Situation einführt. Zuvor kündigt die Erzählerin den Konfrontationsdialog durch die bewertende Rahmung „wenn dann auch so witzig“ (0481) an, wie die folgende Aussage sowohl in der Figurenwelt als auch in der Erzählwelt zu verstehen ist, und markiert so auch die Beziehung zwischen sich und der Interviewerin. Es folgt nun ein steter Wechsel zwischen gegenwärtiger und vergangener Perspektive. Frau A. nutzt die direkte Rede der Freunde oder Bekannten „ach, na ihr Hugenotten“ (0482), und lässt mit der rekapitulierten Kategorisierung sich und die Familie innerhalb des erzählten Ereignisses fremdpositioniert als Hugenotten erscheinen. Mit der Vagheitsmarkierung „äh irgendwie so“ (0482) zeigt Frau A., dass sie sich an die Originaläußerung nur annähern kann. Sie wechselt ohne metakommunikative Ankündigung wieder in die Redewiedergabe, der Stimmenwechsel ist durch die Verwendung des Pronomens „ihr“ (0483) identifizierbar. Die hyperbolische Aussage „ihr macht alles anders“ (0483) der Freunde oder Bekannten wird von einem selbstreflexiven autoepistemischen Prozess gefolgt, der das erzählende Ich in die Jetzt-Zeit zurückholt und vage („irgendwas“, 0483) schließen lässt, dass sie als Hugenotten distinktive Merkmale gegenüber anderen aufweisen. Andere sind in diesem Fall nicht nur Freunde oder Bekannte der Eltern, sondern auch innerhalb der Familie gibt es durch die unterschiedliche Herkunft von Mutter („meine Mutter hat polnische Vorfahren“, 0496) und Vater Grund zur Gegenüberstellung, die Frau A. auch explizit benennt („im Kontrast“, 0499). Zur Darstellung der fremden Stimmen nutzt sie eine Kontrastierungsstruktur, die sie syntaktisch parallel konstruiert („ihr Hugenotten“, 0482, „ihr Polen“, 0499). Die anschlie-
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ßende Reflexion zum Wahrheitsgehalt der damaligen Kategorisierung bezüglich der Gewissheit und Gültigkeit der Aussagen modalisiert Frau A. in Vagheit durch abschwächende Modalverben und -adverbien („kann sein“, 0502, 0503, „vielleicht“, 0503), durch Verzögerungen („also“, 0502, „ja“, 0503), Heckenausdrücke („irgendwie“, 0503, 0504, 0506, „irgendwelche“, 0504) und eine turninterne Selbstreparatur mit wörtlicher Wiederholung („oder nich Traditionen“, 0503) und anschließender Ersatzform („Eigenarten“, 0504) nach dem Reparaturschema „not x, but y“. Hier zeigen sich Formulierungsprobleme hinsichtlich der zugeschriebenen „Andersartigkeit“ (0506) durch die „hugenottischen Wurzeln“ (0506). Wem die letzte Aussage dieser Sequenz zuzuschreiben ist, bleibt aufgrund fehlender Markierungen (keine Stimmfärbung, keine metakommunikativen Ankündigungen) offen. Es könnte sich ebenfalls um eine re-inszenierte Darstellung einer geflügelten Wendung im Familienleben handeln. Nachdem Frau A. versucht, sich an den Umgang ihrer Großeltern mit der hugenottischen Herkunft zu erinnern, aktiviert die Interviewerin nochmals das thematische Feld der französischen Sprache in der Lebenswirklichkeit der Erzählerin. Auf die Frage, ob Frau A. den Wunsch hegt, ihre Sprachkompetenz perspektivisch zu erweitern, formuliert sie ihr Interesse. (8) 04-10-2011_FrauA [00:27:24-00:27:47] 0631
0632
0633 0634
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A (-) ähm: also ich glaub schon dass dis äh_n bisschen in verbindung steht mit der hugenottischen verGANgenheit; also dis glaub ich SCHON; (--) ja; (.) also sagen_wa mal so wenn ich jetz die WAHL hätte, also ich hatte auch mal so_n so_ne kurze zeit auch SPAnisch in der schule– I HM_hm, A also wenn ich jetz die wahl hätte ähm französisch äh_n bisschen MEHR zu aktivieren oder spanisch– würde ich auf jeden fall franZÖsisch aktivieren; wahrscheinlich mit diesem HINtergrund; (--) doch das glaub ich SCHON;
Der Wunsch, das Französische zu reaktivieren, wird vom erzählenden Ich mit „der hugenottischen Vergangenheit“ (0631) begründet. Die Formulierung ist von Vagheitsmarkieren und Verzögerungssignalen („n bisschen“, „ähm“, „äh“, 0631) und Abschwächungen durch subjektivierende verba putandi („ich glaub schon“, „glaub ich schon“, 0631) geprägt. Frau A. versucht nun, der vagen Vermutung ein fiktives Szenario zu unterlegen, das durch die Kontrastierung mit der spanischen Sprache für die Wahl des Französischen wirken soll. Eingeleitet durch die argumentstrukturierende Ankündigung „sagen wa mal so“ (0632) versetzt Frau A. sich und die Interviewerin in die Vorstellungswelt, wobei sie zunächst eine Rückblende anbietet, die als Hintergrundkonstruktion der Verständnissicherung der Interviewerin dient („ich hatte auch mal so n so ne kurze Zeit Spanisch in der Schule“, 0632). Dann plä-
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diert sie mit der kategorischen Formulierung „würde ich auf jeden Fall“ (0634) für ihr Interesse an der französischen Sprache. Eine Analyse von agency, beispielsweise anhand pronominaler Gestaltung der „wenn-dann“-Konstruktion mit „ich“ (06310634), ergibt hier, dass Frau A. sich durchweg autonom in ihrer Entscheidungsgewalt hinsichtlich des Sprachenlernens wahrnimmt. Sie räumt der den letzten Sequenzen aber ein, dass die englische Sprache allein durch die berufliche Orientierung einen wesentlich höheren Stellenwert im Leben von Frau A. einnimmt. Dasselbe gilt für die hugenottische Geschichte, die sie zwar interessant findet, aber nicht regelmäßig neue historiographische Erkenntnisse verfolgt. Und obwohl, wie sie letztlich noch erzählt, gerade der beruflich bedingte Kontakt zu anderen Hugenottennachfahren ihr immer auffällt und sich bisweilen intensiver gestaltet, ist es vor allem auch ein zeitökonomisches Problem in der Beschäftigung mit der besonderen Herkunft. Identitätskonstruktion von Frau A. Frau A. ist kein Mitglied einer reformierten Gemeinde, die sich per se auf die Pflege des hugenottischen Erbes konzentriert und als Feld der im Gespräch kommunizierten Identitätsbildung fungieren kann. Frau A. bezieht die Eckpunkte ihrer Verbindung zur hugenottischen Herkunft vorwiegend aus dem ungewöhnlichen Nachnamen und den Handlungen ihres Vaters, der die Vermittlung in der Familie übernommen hat. Es fällt Frau A. eher schwer, sich in einer beliebigen Form zu bezeichnen, was die vagen und unsicheren Formulierungen zu den hugenottischen Wurzeln immer wieder zeigen. Die Analyse von agency im Gespräch hat ergeben, dass Frau A. sich früher und zum Zeitpunkt des Interviews als passiv aufnehmende Adressatin der Vermittlungsbemühungen wahrgenommen hat. Die Handlungsmacht liegt, wie die Fremdpositionierungen durch Frau A. beweisen, bei ihrem Vater. Die Initiative, sich mit der eigenen Herkunft zu beschäftigen, wird ebenfalls stärker durch Dritte ausgelöst. Obwohl Frau A. ihr aktives Verhalten in der Erzählung über sich und die Freundin markiert, bleibt es eine Spurensuche, die im Jugendalter überwiegend fremdinitiiert war. Ähnliches gilt für den Ausbau der französischen Sprachkompetenz in ihrer Jugend. Die Erläuterung des Sprachenportraits zielt zunächst auf die Verortung der deutschen Sprache in der Körpermitte der Silhouette, wobei sie somatisch ihr Herz als Sitz der emotionalen Verbindung thematisiert. Positionierungsaktivitäten finden durch explizite Selbstkategorisierungen beispielsweise als Anglistin statt, die als Kontextualisierung die Berücksichtigung der englischen Sprache sowie der britischen Varietäten rechtfertigen. Das Verhältnis zu den Varietäten ist nicht erst durch berufsbedingte Beschäftigung, sondern schon durch Auslandsaufenthalte im Jugendalter von Frau A. aufgebaut worden. Gerade die erste eigenständige Reise nach Schottland bewirkt eine intensive Beziehung zum Land und zur Sprache. Bedeuten die Punkte im Sprachenportrait zunächst die britischen Varietäten, erweitert
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Frau A. im Laufe des Gesprächs ihre Bedeutung auf andere Sprachen wie Spanisch, Russisch, Polnisch und Französisch. Frau A. schafft im Hinblick auf das Interviewthema Kontinuität durch die Nennung der französischen Sprache, mit der sie über die Schulbildung und durch die von den Eltern veranlassten Auslandaufenthalte in Kontakt gekommen ist. Die Selbstkontinuierung als Patiens in der ersten Hälfte des Interviews ist auf die mehrfache Darstellung des Elternwunsches zurückzuführen. Frau A. konstruiert ihr Ich überwiegend als handlungsohnmächtiges Patiens in einer sprachbiographischen Konfrontation mit der französischen Sprache, da die Entscheidungsgewalt von der höheren Instanz, insbesondere ihrem Vater, ausgeht. So versetzt Frau A. sich in die Perspektive ihres jugendlichen Ich, das sich, gemessen an der aktuellen Interpretation des erzählenden Ich, dem Wunsch des Vaters zum Erlernen der französischen Sprache ausgesetzt sah. Dies zeigt sich auch an den im Gespräch generierten autoreflexiven Prozessen zur Konkurrenz des Englischen und des Französischen in Schule und Familienleben. In den Beschreibungen ihrer Sprachkompetenz ist Frau A. wesentlich präziser, der hohe Auflösungsgrad und Sequenzen der Redewiedergabe für konkrete Situationsschilderungen bieten den Gesprächsteilnehmerinnen Gelegenheit, der Reaktualisierung ihrer Auseinandersetzung zu folgen und Nachvollzug zu erwirken. So schafft Frau A. in sozialer Dimension den Rahmen einer möglichen Rechtfertigung oder Plausibilisierung ihrer mangelnden französischen Sprachkompetenz, die ganz im Sinne der Kohärenzherstellung die psychische Einheit ihres erzählten Ich stärkt. Die Parallele von vergangener Einstellung und ihrer Haltung im Hier und Jetzt wird durch zeitübergreifende, aber auch zeitlich unbestimmbare Aussagen getragen. Diese temporalen Wechsel stehen im Dienste der Schaffung von Kontinuität, dem Zeitzusammenhang ihres Seins. Frau A. sah und sieht für sich keine Notwendigkeit, die Kompetenzen im Französischen auszubauen. Im Verlauf des Gesprächs markieren Inkonsistenzen dennoch den Konstruktionsprozess ihrer Sprachidentität. Einerseits positioniert sich Frau A. selbst als Außenstehende, wenn es um die von ihr nicht praktizierte originale Aussprache ihres Familiennamens geht oder um die Distanz, die es zur französischen Sprache zu überwinden gilt. Andererseits bekräftigt sie durch die Gegenüberstellung von Deutschen und Hugenotten sowie die fremdpositionierenden Aussagen der Freunde und Bekannten der Eltern ihr Sein als Hugenottin, die innerhalb dieses Kreises einen Platz neben ihren Familienmitgliedern hat. Hier schließt sich in der Dynamik des Gesprächs nicht nur eine Reflexion bezüglich der Andersartigkeit ihrer Familie, sondern plötzlich auch eine Hinwendung zur französischen Sprache an. Verspürte Frau A. bisher keinen Aufholbedarf, bekräftigt sie zum Ende des Gesprächs in Form einer fiktiven Wahlsituation durch die Kontrastierung mit der spanischen Sprache ihr Interesse am Ausbau der Französischkenntnisse. Es bleibt zu beachten, dass es sich nicht um eine Entwicklung im Leben von Frau A. handeln muss, die sie mittels der Positionierung des erzählenden Ich durch die Darstellung des erzählten Ich zeigt. Allein die thematische Fokussierung des Interviews kann im
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 165
Gespräch ad hoc einen Wunsch generiert haben, der die aktuelle Konstruktion von Sprachidentität allerdings prägt.
4.3 „JA, DAS IS MIR GANZ PEINLICH, ZUMAL UNSERE VORFAHREN JA AUS FRANKREICH STAMMEN.“5 Abbildung 8: Sprachenportrait Herr Y.
Herr Y. ist der Vater von Frau A., deren Interview oben besprochen wurde. Das Gespräch wird zwei Wochen nach dem Interview mit seiner Tochter aufgezeichnet. Herr Y. ist in seinen Siebzigern, in Berlin aufgewachsen und lebt bis heute im Westteil der Stadt. Herr Y. hat längere Zeit im Zeitungswesen gearbeitet. Er war nie und ist auch heute kein Mitglied einer kirchlichen Gemeinde. Das Gespräch findet im Esszimmer seines Hauses statt. Herr Y. ist während der Aufzeichnung sehr aufmerksam und interessiert. Es scheint ihm Freude zu bereiten, Geschichten aus seinem Leben zu erzählen. Nachdem er gebeten wird, sein Sprachenportrait zu zeichnen, greift Herr Y. nicht gleich zu den Stiften, sondern verweist auf die Schwierigkeit der 5
Transkript 3; Herr Y., 55 Minuten
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Aufgabe. Das Sprachenportrait wird im Laufe des Gesprächs gemeinsam bearbeitet. Noch bevor das Aufnahmegerät läuft, murmelt Herr Y. etwas über die englische und die französische Sprache, sodass die Interviewerin ihn zu Beginn der Aufzeichnung um eine Wiederholung bittet. (1) 18-10-2011_HerrY [00:00:17-00:00:49] 0009 0010 0011 0012 0013 0014 0015 0016 0017 0018 0019 0020 0021 0022 0023
Y [ja;=] das_s mir GANZ peinlich, zumal unsere vorfahren ja aus frankreich STAMmen; I HM_hm, Y und da isses eine SCHANde, dass ich äh mich gar nich um die französische sprache äh beMÜHT habe; (-) weil wir uns die wir äh hier in berlin IMmer in berlin gelebt haben, und die amerikaner waren hier in berlin sehr PRÄgend; [ja, ] I [ja; ] Y haben wir uns äh mehr mit dem ENGlischen auseinandergesetzt; (-) also in der in der musik (-) der RIas zum beispiel– ich kann ihnen heute noch aus dem rias (-) noch äh zi ݫäh äh äh ziTAte bringen, [die ich von ] I [HM_hm, ] Y von damals WEISS; und was ich dass ich immer den riasSCHULfunk als kind gehört habe;
Nach der Bitte um Wiederholung beginnt Herr Y. mit einer Selbstthematisierung, indem er einen noch nicht definierten Umstand als „ganz peinlich“ (0010) kategorisiert. Diese Präambel dient der Verdeutlichung des Bewertungsgehalts der folgenden Aussagen. Die Konjunktion „zumal“ (0011) leitet daraufhin die Begründung der Peinlichkeit ein und kontextualisiert seine Aussage durch die Selbstpositionierung des erzählenden Ich als Zugehöriger einer Gruppe („unsere Vorfahren“, 0011), die ursprünglich aus Frankreich stammt. Herr Y. zieht auf Basis dieses Wissens („und da“, 0013) die bewertende Schlussfolgerung, dass seine fehlenden Bemühungen um die französische Sprache für ihn „eine Schande“ (0013) darstellen. Auffällig ist, dass Herr Y. in diesen ersten Aussagen seine eigene Person vollständig zur handlungsmächtigen Instanz im Sprachlernprozess macht. Ein Blick auf die Deiktika, in diesem Fall die pronominale Gestaltung mit „mir“ (0010), „ich“, „mich“ (0013), zeigt, wie das erzählende Ich die fehlende Kohärenz zwar für sich beansprucht. Ein allgemeingültiges Deutungsmuster für alle Hugenottennachfahren und ihre Bemühungen um die französische Sprache könnte sich dennoch davon ableiten lassen. Nach einer kurzen Pause baut Herr Y. eine rechtfertigende Argumentation zum Fehlen der französischen Sprache in der Figurenwelt auf, indem er sein Aufwachsen in Berlin (0014) als räumliche Referenz angibt. Als Mittel der Hörerinnenorientierung gibt Herr Y. die Hintergrundinformation, dass die Amerikaner in Berlin „sehr prägend“
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(0018) waren, die er mit der eine Antwort generierenden Rückversicherungspartikel „ja“ (0016) bei der Interviewerin absichert. Hier verschiebt sich im Hinblick auf agency die alleinige Verantwortung für das Erlernen der französischen Sprache, die das erzählende Ich zu Beginn des Gesprächs für sich beansprucht hat. Ort, Zeit und situative Umstände bedingen, dass Herr Y. als Teil eines nicht näher beschriebenen Kollektivs („wir“, 0014, 0018) sich „mehr mit dem Englischen auseinandergesetzt“ (0018) hat. Als „Beispiel“ (0019) führt Herr Y. die Konfrontation mit der englischen Musik durch die Rundfunkanstalt RIAS an. Im Folgenden kategorisiert sich das erzählende Ich implizit als merkfähig und will sich auch so verstanden wissen, indem es aus der Erzählung aussteigt und der Hörerin in der Erzählwelt eine Präsentation der „Zitate“ (0020) aus dem „Riasschulfunk“ (0023) anbietet. Die Hörerinnenorientierung („ich kann Ihnen“, 0020) bewirkt eine interaktive Beziehungsherstellung, die sich auf die Kompetenzdarstellung Herrn Y.s stützt. In einem gemeinsamen Prozess wird die englische Sprache im Sprachenportrait in Ohrnähe verortet. Diese erste Sequenz ist vorwiegend durch die Darstellung und Beweisführung der Kompetenzen von Herrn Y. geprägt. (2) 18-10-2011_HerrY [00:02:40-00:03:10] 0097 0098 0099 0100 0101 0102 0103 0104 0105 0106 0107 0108 0109 0110
0111
Y also ich ich wenn sie wenn sie mich nach den preußischen KÖnigen fragen– hab ich mir einmal auf dem flug von shanghai (-) nach frankfurt ne riesen LISte, (---) bin ins flugzeug EINgestiegen, als ich in frankfurt wieder rauskam konnt ich äh hintereinander– FUFFzehn preußische könige; genau WANN sie jelebt haben– WANN sie ( )– ka ݫhab ich HEUT noch im kopf; kann ich kann ich ihnen AUFsagen; I HM_hm, Y weil weil mich das natürlich interesSIERT; I (.) sprachen [interesSIEren sie nich; ] Y [und sprachen ham mich ] ham mich eben NICH besonders interssiert; und deshalb SCHÄM ich mich auch dass ich hugenottischer abstammung bin, dass ich mich NIE für die französische sprache interessiert habe; das tut mir LEID;
Erneut bietet Herr Y. der Interviewerin eine Möglichkeit an, sich von seiner Merkfähigkeit zu überzeugen. Die direkte Adressierung („also wenn Sie mich“, 0097; „kann ich Ihnen aufsagen“, 0103) führt auch dazu, dass der Hörerin fremdpositionierend das Wissen um die Besonderheit dieser Fähigkeiten von Herrn Y. zugeschrieben wird. Da es wiederholt nicht zur Annahme des Angebots kommt, belegt Herr Y. seine eigentheoretische Aussage im Hier und Jetzt mithilfe einer in der Figurenwelt angesiedelten Erzählung (0098-0102). Hier re-inszeniert er ein aus heutiger Perspekti-
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ve komisches (0100) Erlebnis, bei dem er sich „fuffzehn preußische Könige“ (0100) während eines Fluges von Shanghai nach Frankfurt eingeprägt hat. Herr Y. kontrastiert daraufhin sein ausgeprägtes geschichtliches Interesse, das er zudem für selbstverständlich erachtet („natürlich“, 0105), mit seinem geringeren Interesse für Sprachen (0109). Die Kontrastierung offenbart sein Relevanzsystem. So ist das Interesse für eine Sache eine weit höhere Motivation für die Beschäftigung als seine naturgegebene Abstammung. Mit der performativen Struktur „deshalb schäm ich mich“ (0110) zeigt Herr Y. an, dass er als handlungsfähiges Subjekt seiner Sprachbiographie gegen sein eigenes Ideal verstoßen hat. Er bekräftigt schließlich das Schamgefühl gegenüber der Interviewerin mithilfe der Koda „das tut mir leid“ (0111). In der folgenden Sequenz thematisiert Herr Y. erneut die Schande, die er sich gegenüber aufgrund des Versäumnisses empfindet. Während sein Großvater die französische Sprache ganz gut beherrschte, konnte er zumindest diesem sprachlichen Erbe nichts abgewinnen. Die Bewertungen sind auch an dieser Stelle als generalisierende Aussagen zu lesen, die sich an alle Nachfahren richten. Die Selbstthematisierung führt nun dazu, dass er spezifische Eigenschaften auf seine hugenottischen Wurzeln zurückführt. (3) 18-10-2011_HerrY [00:04:11-00:04:45] 0144
0145 0146 0147 0148 0149 0150 0151 0152 0153 0154 0155 0156 0157 0158
Y obwohl ich mir selber bei mir selber MERke; (.) dass ich viele hugenottische in mir immer wieder entdecke; I ach; kö ݫverRAten sie– [( ) ] Y [kann ich ma_n ] BEIspiel sagen, I HM_hm, GERne; Y ALso; ich habe mal gehört dass äh zum beispiel in frankreich die regierung sehr SCHWER is, weil es SEHR viele– der idivi ݫindividuaLISmus der franzosen; der is besonders AUSgeprägt– und bei uns ° h (-) isser WEniger ausgeprägt; I ja_a, Y und und und und ich merk immer wieder dass ich äh (--) äh sag mal dieses das deutsche UNtertanendenken; [(.) und ] I [(.) ja– ] Y diese dieser ko ݫdeutsche KORPSgeist; (.) das IS nich meine welt;
Mit der konzessiven Konjunktion „obwohl“ (0144), die sich auf seine mangelnde Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bezieht, will Herr Y. dem geschilderten Desinteresse am Französischen Abhilfe schaffen und verweist so auf die reflektierte Auseinandersetzung mit seiner Person. Er beschreibt eine häufig auftretende („immer“, 0144) Entdeckung „hugenottische[r] Eigenarten“ (0144), die er als Komik
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modalisiert (0144). Die direkte Adressierung („kann ich ma n Beispiel sagen“, 0147/0148) sichert ihm in der Interaktion nun das Rederecht zu und wirkt als Präambel auf die Hörerin spannungserzeugend. Die folgende Ausführung zum von ihm verfochtenen „Individualismus der Franzosen“ (0151), den er mit dem „deutsche[n] Untertanendenken“ (0155) kontrastiert, zeigt insbesondere durch die abschließende, selbstpositionierende Struktur „das is nich meine Welt“ (0158) sein Verständnis einer ihm zugänglichen Welt. Herr Y. spricht dann über seine berufsbiographische Entwicklung, Bekanntschaften, die er gemacht und Erkenntnisse, die er gewonnen hat. Er spricht über Urlaube in Frankreich, die ihn trotzdem nicht animiert haben, sich dem Erlernen der französischen Sprache zu widmen. Herr Y. spricht auch über sein geschichtliches Interesse, das er mit der Angabe von Jahreszahlen beispielsweise der Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich belegt. Erneut bekräftigt Herr Y. die empfundene Schande und gemeinsam wird der französischen Sprache im Sprachenportrait ein Platz außerhalb des Körpers zugewiesen. Auf die Frage nach der Vermittlung und den ersten Erlebnissen, die er mit seinen hugenottischen Wurzeln hatte, antwortet Herr Y.: (4) 18-10-2011_HerrY [00:12:09-00:12:46] 0367 0368 0369
Y na si ݫsi ݫmit sicher SIcher durch meinen vater; weil mein vater sich äh natürlich dafür sehr interesSIERT hat– und darüber gut beSCHEID wusste; ° h und und und und der wusste wieder von SEInem vater viel noch viel mehr; ja=WANN, ach in meiner KINDheit;
Die Abbrüche und Wiederholungen (0367) sind zwar auf den ersten Blick Indizien für die Unsicherheit in der Beantwortung. Die Gewissheit über die Vermittlungsinstanz bezüglich der hugenottischen Wurzeln markiert Herr Y. aber sofort mit einer Begründung („weil“, 0368). Die Verwendung der Pronominaladverbien „darüber“ und „dazu“ (0268) entbindet Herrn Y. von der inhaltlichen Präzisierung von Interesse und Wissen des Vaters, das zudem als Selbstverständlichkeit des erzählenden Ich angenommen wird („natürlich“, 0368). Die Kategorisierung seines Vaters, der „gut Bescheid wusste“ (0368), wird auf die umfassendere Vermittlung des Großvaters zurückgeführt („noch viel mehr“, 0369), sodass eine Abstufung im Umfang des Wissens durch die Generationen erkennbar wird. Herr Y. greift dann als Hörerinnenbestätigung und Merkmal der Denkpause in der Erzählwelt die Eingangsfrage der Interviewerin auf, indem er das Fragepronomen („wann“, 0369) wiederholt und sogleich die Antwort liefert. Sowohl die Interjektion „ach“ als auch die vage zeitliche Grenzziehung („in meiner Kindheit“, 0369) zeugen hier von der Schwierigkeit, sich zu erinnern. Dass sein Großvater auch sehr gut Französisch sprach, obwohl er die Sprache im Alltag nicht benötigte, weiß Herr Y. durch Erzählungen seiner Großmut-
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ter. Über seine früheren Gedanken zur Erkenntnis über die hugenottische Herkunft sagt Herr Y.: (5) 18-10-2011_HerrY [00:15:28-00:15:34] 0451 0452 0453
Y na_JA;=ich habe gedacht wie die wie die hugenotten in berlin unsere kulTUR geprägt haben; das war für mich WICHtig; ° h und eines als die MAUer fiel, war eines der WICHtigsten dinge für mich– dass ich den französischen DOM mir anschaute;
Das erzählte Ich wird in der Antwort von Herrn Y. als kulturinteressiert kategorisiert, wobei die verschiedenen Zeitebenen eine große Rolle spielen. So wird ein aktuelles Deutungsmuster mithilfe des Tempus auf die Vergangenheit übertragen („das war für mich wichtig“, 0452). Als zeitliche Referenz für die Gedanken um die kulturelle Prägung Berlins ist hier die Kindheit gemeint, als Herr Y. erfahren hat, dass er hugenottischen Ursprungs ist. Die Bewertung aus 0452 entspringt aber vermutlich späteren Empfindungen sowohl zu Zeiten des Mauerfalls, den er als zusätzliche Hintergrundinformation einschiebt („und eines als die Mauer fiel“, 0453), als auch des Interviews. Es ist möglich, dass die Kindheitserinnerungen an dieser Stelle schwer abrufbar sind und präzisere Erinnerungen – dazu gehört der gesellschaftliche und politische Umbruch des Mauerfalls – die Darstellung überlagern. Auf die in Bezug zum Hugenottesein stehenden Ereignisse und die Beziehung seiner Kinder zu ihrer Herkunft angesprochen, reagiert Herr Y. mit einer Beispielerzählung. (6) 18-10-2011_HerrY [00:16:49-00:17:45] 0495 0496 0497 0498 0499 0500 0501 0502 0503 0504 0505 0506 0507 0508 0509 0510 0511
Y also ich ich kann mich zum beispiel mal mal erINnern; (-) da da waren wir auf einer REIse in frankreich, (--) und äh da war irgendwie in frankreich mal so ein MISSverständnis– ein missverständnis mit einem MANN; (--) und und er war so_n bisschen KNURrig zu mir; (1.0) und dann hab ich ihm erklärt mit meiner äh mit einem schlechten mit meiner schlechten FREMDsprache– dass ich ja hugenottische VORfahren habe; (1.4) Y da war dieser mann wie umgeWANdelt; I hm_HM, Y er nahm mich in den ARM– HERZte mich und sachte; MENSCH du bist ja einer von uns; (---) Y also DIT is so richtig so äh– I verRÜCKT– Y ja;=wenn nehm nehm SAgen sie is verrückt– aber
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aber dieses die HERzenswärme; die da so RÜberspringt;=ja, (.) DAS hat mich begeistert;
Diese Beispielerzählung weist eine prototypische Struktur auf. Sie beginnt mit einer metakommunikativen Ankündigung (0495), die zunächst die Faktizität des Inhalts unterstreichen soll. In der Phase der Orientierung gibt das erzählende Ich Aufschluss über das Setting mit der Angabe von Personen („wir“, 0495), Situation („Reise“, 0495) und Ort („Frankreich“, 0495), die der Hörerin Gelegenheit zum Nachvollzug gibt. Die Phase der Komplikation wird durch das Verhalten eines Mannes bestimmt, der dem erzählten Ich gegenüber „knurrig“ (0498) war. An dieser Stelle bewertet Herr Y. als erzählendes Ich bereits die Situation, indem er sie wiederholt als „Missverständnis“ (0496/0497) kategorisiert und so erwartbare Nachfragen zu einem eventuellen Konflikt im Vorfeld vermeidet. Dass der Mann Franzose war, lässt sich nur anhand der thematisierten schlechten Fremdsprachkenntnisse ablesen (0499). Das erzählte Ich versucht nun das Problem zu lösen, indem es seinen letzten Trumpf ausspielt. Der erzählerische Höhepunkt besteht hier auch in der Erwartungshaltung, die die Aussage „dass ich ja hugenottische Vorfahren habe“ (0500) nach sich zieht. Darauf folgt eine lange Pause (0501). Sie dient hier der dramatischen Gestaltung der Szene, die hinsichtlich der Zielerreichung in der Geschichte bei der Hörerin Spannung erzeugen soll und zum Ergebnis, zur Auflösung der Konfliktsituation leitet („da war dieser Mann wie umgewandelt“, 0502). Die Wiedergabe der wörtlichen Rede des Mannes „Mensch, du bist ja einer von uns“ (0506) generiert bei der Hörerin ein Gefühl von Teilhabe an der damaligen Situation. Zudem ist der Einsatz von Stimmen Dritter eine Möglichkeit für Herrn Y., sein empfundenes Zugehörigkeitsgefühl darzulegen. Die abschließende Evaluation der Erfahrung im Hier und Jetzt ist geprägt von einer Wortsuche („also dit is so richtig so äh“, 0508/0509), sodass der Vorschlag der Interviewerin („verrückt“, 0510) Herrn Y. die Möglichkeit gibt, sich noch tiefer in seine Empfindung zu versetzen und mittels korrekturbedürftiger Wiederholungen (0511) und Rückversicherungssignalen (0513) seine Begeisterung auszudrücken (0514). Herr Y. bietet mit der Beispielerzählung zwar keine allgemeingültige Lehre an, seine emotionale Betroffenheit, die die Coda der Erzählung bildet (0514), ist dennoch Ausdruck einer übergreifenden Wertschätzung der Zugehörigkeit. Die folgenden Sequenzen thematisieren erneut die berufliche Laufbahn von Herrn Y., in der er sein geschichtliches Interesse während der Pressearbeit ausbauen konnte. Er erzählt von den kulturellen Aktivitäten der Familie, insbesondere seiner Frau und schildert ihr offenes Ohr für seine Geschichten rund um die Berliner Historie. Wiederholt geht Herr Y. auf die Ausrichtung seines Interesses ein, das die französische Sprache ausgeklammert hat.
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(7) 18-10-2011_HerrY [00:28:36-00:28:46] 0892 0893 0894 0895 0896 0897
I (.) hm: (--) wa ݫnun is man da vielleicht auch nich in so_ner (-) BRINGpflicht; also [wo ] Y [hm– ] I besteht die notWENdigkeit heute für sie französisch zu können; Y ja_JA; (-) ja_JA;=kann man wenn man_s so ganz pragMAtisch sieht, kann ka ݫka ݫkann man_s (.) kann man sich äh diese gedanken MAchen;
Angesichts des aufkeimenden schlechten Gewissens der Interviewerin gegenüber Herrn Y., der seinem Bedauern stets Ausdruck verleiht, erfolgt nun ein Perspektivwechsel. Die Interviewerin fragt nun schon selbst nach der „Notwendigkeit“ (0896) für Herrn Y., die französische Sprache zu gebrauchen. Sie modalisiert die Aussage durch die Verwendung des Adverbs „vielleicht“ (0892) und das generalisierende Pronomen „man“ (0892), sodass der Anspruch auf absolute Gültigkeit abgeschwächt wird. Herr Y. stimmt dieser Überlegung zur mangelnden „Bringpflicht“ (0892) zu („Ja ja (-) ja ja“, 0897), wobei die „wenn-dann“-Konstruktion mit den Indefinitpronomina „man“ (0897) zur Distanzierung Herrn Ys. von dieser Aussage beitragen. Hier zeigt sich, dass er das Besprochene nicht so „pragmatisch“ (0897) sehen kann, wie die Hörerin es vorschlägt. Die Sprachausbildung der Kinder und Enkelkinder von Herrn Y. steht im Fokus der nächsten Sequenz. Er berichtet von den Bemühungen seiner Frau, die sich um schulische Belange aus Zeitgründen immer mehr gekümmert hat als ihr Mann. Er spricht von seinem Wunsch, den Enkelkindern in Zukunft ihre Wurzeln anhand von historischen Stadtspaziergängen zu erklären. Die Sprache kommt auch auf das Vorhaben von Herrn Y., noch einmal an einer Universität Geschichte zu studieren, sich intensiver mit der Vergangenheit seiner Vorfahren zu beschäftigen und die Weitergabe an seine Nachfahren zu organisieren. Der ungewöhnliche Plan, sich für ein Geschichtsstudium einzuschreiben, bietet Gelegenheit zur Frage nach der Handlungsmotivation. (8) 18-10-2011_HerrY [00:38:51-00:38:53] 1206 1207 1208
Y [ich glaube das hängt ] mit den hugenotten zuSAMmen; ich GLAUbe, ich glaube gerade auch DURCH die hugenotten; dass ich so_n bisschen anders bin als ANdere;
Eingeleitet mit verbum putandi (1206) vermutet Herr Y., dass seine Motivation für den Ausbau seines geschichtlichen Wissens in den Wurzeln liegt. Natürlich beeinflusst das bisherige Gespräch von 38 Minuten, in denen es sich ausnahmslos um die Herkunft von Herrn Y. drehte, auch diese Antwort. Wiederum baut Herr Y. im Sinne
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 173
einer dramatischen Gestaltung der Interaktivität Spannung auf, indem er die folgende Vermutung durch wiederholte verba putandi (1208) einleitet. Die Kategorisierung seiner Person als ein „bisschen anders“ (1208), die in Kontrast zu anderen Menschen aufbaut, steht als Selbstpositionierungsaktivität jedoch nicht in unbedingter Folge des Vorangegangenen. Das Anderssein bezeichnet vermutlich den geschilderten Aktionismus, der insbesondere durch das Interview genährt wurde. Weiterhin drückt Herr Y. sein Bedauern über das Fehlen eines Familienstammbaums, einer Chronik oder sonstigem Material aus, das ihm Zugang zur Vergangenheit seiner Familie gewähren könnte. So ist der gewünschte Schritt in die Gefilde der historiographischen Forschung auch durch Vernachlässigungen, wie er sie nennt, motiviert. Herr Y. geht auf die einzige Quelle, die Übermittlungen seiner Großeltern ein, denen zufolge die Familie von Lyon in Frankreich nach Deutschland flüchtete und sich in Berlin niederließ. Er berichtet von der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der die Familie heimlich jüdischen Nachbarn half und sich für ihr Wohlergehen einsetzte. Herr Y. bezieht jedwede Handlung oder Eigenschaft, die er schildert, auf die hugenottische Herkunft der Familie. Zum Ende nimmt das Gespräch noch eine interessante Wendung, als die wichtigen Punkte von der Interviewerin zusammengefasst werden, um Herrn Y. die Möglichkeit für Ergänzungen zu geben. Da die Sprache auf den nicht allzu brennenden Wunsch nach dem Erlernen der französischen Sprache kommt, wirft Herr Y. ein: (9) 18-10-2011_HerrY [00:48:58-00:49:13] 1557 1558 1559 1560 1561 1562 1563 1564 1565
Y wissen sie weil ich einfach die ZEIT nich hatte; GLAUben [sie mir das; ( ) ] I [ja– ja;=ich GLAUB ihnen das; ] Y der ZEIT; I also ne sprache (.) nebenBEI zu lernen– äh dis MACHT man ja nich; das oder macht man nich so EINfach; Y ° h also wissen sie sie sie bringen mich jetz auf die iDEE– man sollte DOCH noch mal zur volkshochschule gehen; und solte franZÖsischkurse machen;
Die rhetorische, aber direkte Adressierung „wissen Sie“ (1557) dient Herrn Y. als Versicherung des Nachvollzugs seiner Aussage durch die Hörerin. Hatte zu Gesprächsbeginn allerdings das Argument dominiert, dass Herr Y. wenig Muße und mangelnde Fähigkeiten im Fremdsprachenlernen hatte, so wird nun der Faktor „Zeit“ (1557) als Rechtfertigung angeführt. Dem Wunsch nach Akzeptabilität und Zustimmung durch die Hörerin entspricht die direkte Adressierung „glauben Sie mir das“ (1557/1558), die, durch die Bitte emotional involviert, der Argumentation beipflichtet und die generelle Schwierigkeit des Fremdsprachlernens thematisiert („macht man nich so einfach“, 1562). Herr Y. versprachlicht daraufhin einen autoepistemischen Prozess, der durch das Gespräch ausgelöst wurde („Idee“, 1563). Fast
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als Lehre des Interviews präsentiert er die mögliche Verwirklichung, wobei jedoch das Indefinitpronomen und der Konjunktiv (1564/1565) zur Distanzierung der gefühlten Verpflichtung („sollte“, 1564/1565) beitragen. Identitätskonstruktion von Herrn Y. Herr Y. ist kein Mitglied einer reformierten Kirchengemeinde oder einer anderen Gruppierung, die mit seinen hugenottischen Wurzeln in Verbindung stehen könnte. Hier macht Herr Y. mehrfach deutlich, dass er von der Mitgliedschaft in Vereinen oder Gemeinden in seiner Lebenswirklichkeit nicht profitieren könnte. Eine Analyse der Positionierungsaktivitäten hat jedoch ergeben, dass Herr Y. sich durchaus als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnimmt. Die Versprachlichung dieses Zugehörigkeitsgefühls geschieht im Gespräch beispielsweise durch die Verwendung kollektivbezogener Pronomina oder durch die Schilderung von Beispielepisoden, die eine Fremdpositionierung Herrn Ys. durch Dritte erlauben. Die Selbstbeschreibung mithilfe hugenottischer Eigenschaften, die Herr Y. als stete Entdeckung bezeichnet, steht im Dienst seiner Darstellung von Welt. So beansprucht er zwar seine Zugehörigkeit zu den Hugenotten, meint jedoch in der starken Ausprägung seines Individualismus etwas spezifisch Französisches zu erkennen. Dieses Deutungsmuster, sein kommuniziertes Weltverständnis, steht im Einklang mit der vorherigen Ablehnung von Vereins- oder Gemeindearbeit. Daher kann angenommen werden, dass Herr Y. die Entwicklung individualistischer Eigenschaften als Nachlass seiner besonderen Herkunft betrachtet. Hier wird deutlich, dass die geschilderten Zusammenhänge auch Widersprüche zu historiographischen Erkenntnissen aufweisen. Gerade die Hugenotten waren durch ihre Dankbarkeit und das daraus resultierende Untertanendenken die besten Preußen und stellen so das exakte Gegenteil der selbstpositionierenden Aussagen von Herrn Y. dar. Als vermittelnde Instanzen in der Weitergabe des hugenottischen Erbes nennt Herr Y. seine Großeltern und Eltern, wobei er eine Reduktion des Wissens durch die Generationen annimmt und so auch den Umfang seiner Kenntnisse rechtfertigen kann. Hier finden in der Darlegung früherer Emotionen Verschiebungen auf der Zeitebene statt, die möglicherweise auf die Fähigkeit zur Erinnerung zurückzuführen sind. Es zeigt sich, dass gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse in ihrer Eigenschaft als kollektiv Erlebtes imstande sind, eine Transzendierung von Zeit und Raum leichter zuzulassen. Sie und die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Erlebnisse sind leichter erzählbar. Im Zuge der Selbstthematisierungen kategorisiert Herr Y. sich als merkfähig, kultur- und geschichtsinteressiert, auch die Interaktionssteuerung ist durch metakommunikative Äußerungen, Erzählausstiege und Rückversicherungsaktivitäten auf die Präsentation insbesondere seiner Merkfähigkeiten ausgerichtet. Seine Handlungsmotivation, historische Zusammenhänge und Jahreszahlen laufend zu aktualisieren, besteht Herrn Y. zufolge aus-
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schließlich im dafür vorhandenen Interesse. Umso schwerer fällt es Herrn Y., das mangelnde Interesse für die französische Sprache zu begründen. Ein Blick auf agency zeigt, dass Herr Y. überwiegend seine Person als handlungsfähigen Motor seiner sprachbiographischen Entwicklung konstruiert und mit dem Verstoß gegen ein auferlegtes Ideal der Sprachbeherrschung bei hugenottischer Abstammung Einbußen in der psychischen Einheit seines Subjekts hinnehmen muss. Das Versäumnis bezieht er durch die wiederholten Beteuerungen der Scham und den Hinweis auf mangelnde Fähigkeiten gänzlich auf seine Person. Als von ihm nicht zu beeinflussenden Faktor macht er aber auch die Präsenz der englischen Sprache in seiner Kindheit und Jugend für die Verschiebung seines Interesses und die Vernachlässigung der französischen Sprache verantwortlich. So nutzt er argumentativ den Raum als Merkmal seines Gewordenseins, das seine Eigentheorie vom Ursprung eines Interesses stützt. Außerdem wendet er deskriptive Verfahren wie Kontrastierungen an, um die Gewichtung der beiden Sprachen in seiner Lebenswirklichkeit zu verdeutlichen. Das Gespräch generiert dann zunehmend ein Begründungsbedürfnis, das er letztlich mit der Angabe zeitlicher Engpässe für das Erlernen der französischen Sprache realisiert. In diesem Moment konstruiert sich das erzählende Ich als Patiens, als ein der Zeit und der Vergänglichkeit ausgeliefertes Ich. Als Konsequenz der Gesprächsdynamik kann die Erkenntnis Herrn Ys. gelten, sich der französischen Sprache über Volkshochschulkurse noch einmal eigeninitiativ zu nähern. Die Versprachlichung dieses Wunsches ist ausschließlich eine temporal und situativ bedingte Konstruktion, die seine Sprachidentität komplettiert. Das Gefühl von Exklusivität als Hugenottennachfahre, das die Auswahl als Gesprächspartner bedingt und gleichzeitig nach sich zieht, und das Kohärenzbestreben sind vorwiegend auf die situativen Umstände des Interviews zurückzuführen. Hier konstruiert Herr Y. über 55 Minuten in intensiver Auseinandersetzung mit der Hörerin ein Ich, das eigene sowie fremde Erwartungen zu erfüllen versucht, auch Widersprüchlichkeiten erkennen muss und immer stärker in die Verlegenheit kommt, sich zu rechtfertigen.
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4.4 „HERZENSSACHE EINFACH, WEIL ICH HALT AUS ʼNER ÄH FAMILIE MIT FRANZÖSISCHEN WURZELN KOMME.“6 Abbildung 9: Sprachenportrait Herr J.
Herr J. ist vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin geboren und dort aufgewachsen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Herr J. Mitte Siebzig und lebt mit seiner Frau im Westen Berlins. Der Kontakt zu Herrn J. entsteht über die reformierte Gemeinde der Französischen Kirche. Er wird in das Forschungsvorhaben in derselben Form wie andere Befragte eingeweiht. Das Gespräch findet in seinem Wohnzimmer statt und wird mit seinem Einverständnis mit dem Aufnahmegerät aufgezeichnet. Es ist eines der längsten Interviews, die Dauer beträgt 102 Minuten. Herr J. wird gebeten, das Sprachportrait zu zeichnen und es im Anschluss zu erklären. Während des gesamten Interviews ist Herr J. entspannt, mitteilsam und scheint Freude am Erzählen zu haben. Es bereitet ihm berufsbedingt keine Probleme, vor Publikum zu sprechen.
6
Transkript 4; Herr J., 102 Minuten
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(1) 11-02-2010_HerrJ [00:00:10-00:00:54] 0007 0008 0009 0010 0011 0012 0013 0014 0015 0016 0017 0018 0019 0020
J (1.2) latein ist eine meiner LIEBlingssprachen; obwohl ich nicht mehr viel latein praktiZIEre. ° h ähm ich hab das große glück gehabt dass ich durch den frühen wechsel nach WESTdeutschland– ° h ähm die CHANCE gehabt habe– äh große laTInum zu machen; I HM_hm, J und das hat mir UNglaublichen spaß gemacht. ich hab lateinisch NACHhilfeunterricht gegeben da ich war ja nun quasi alleingestellt–=nich WAHR, meine familie war noch weg und musste sehen wo ich BLEIbe, und äh hab ich VIEL nachhilfeunterricht gegeben– und ((räuspert sich)) latein hat mir am meisten SPASS gemacht; und !DURCH! den nachhilfeunterricht äh in äh latein, hat sich bei mir auch alles das sehr beFEStigt– was ich meinte von der sprache äh verstanden zu haben und zu WISsen;
Im ersten Segment ist der thematische Schwerpunkt durch die Bitte um Erläuterung des Sprachenportraits bedingt. Es beinhaltet zudem eine lebensgeschichtliche Episode des erzählenden Ich, die in ihrer Ermöglichung des interaktiven Nachvollzugs allerdings Schwächen aufweist. So geht Herr J. mithilfe einer expliziten Kategorisierung zunächst auf die lateinische Sprache als eine seiner „Lieblingssprachen“ (0007) und verweist neben der Vorlage des Sprachenportraits durch die Verwendung des Genitivus partitivus („eine meiner“, 0007) auf seinen Vorrat an zu besprechenden Lieblingssprachen. Der nachgeschobene Konzessivsatz zeigt, dass die affektive Bewertung der Sprache für Herrn J. potentiell inkompatibel zum Stand seiner Sprachpraxis ist. Das entlarvt zugleich sein Deutungsmuster, dem zufolge eine Sprache eher als Lieblingssprache bewertet werden kann, wenn aktive Sprachpraxis besteht. Herr J. schließt nun eine Begründung für die Vorliebe an, die seinem Willen zur Gestalterschließung entspricht, allerdings im Rahmen der Erzählung derart kondensiert auftritt, dass die adressatengerechte Auswahl der Erzählinhalte darunter leidet (0009-0016). Die weniger prototypische Gestaltung der folgenden Belegerzählung – Orientierung, Komplikation, Evaluation und Auflösung wechseln einander hier stets ab – erschwert den aktuellen Nachvollzug für die Hörerin. Zur Herstellung von Kohärenz verweist Herr J. in der Orientierungsphase zunächst auf den „frühen Wechsel nach Westdeutschland“ (0009), der es ihm ermöglicht hat, die lateinische Sprache überhaupt zu erlernen und das Latinum zu erwerben. Aus welchen Gründen, zu welcher Zeit und wie genau dieser Wechsel vonstatten ging, bleibt an dieser Stelle gänzlich unklar. Als Folge dieser Möglichkeit entwickelte das erzählte Ich eine positive affektive Bindung zur Sprache (0013), die sich in der Bewertung des Lernprozesses als „unglaublichen Spaß“ (0013) niederschlägt. Zur Plausibilisierung der Nachhilfestunden, die das erzählte Ich gegeben hat (0014), wechselt Herr J. nun in
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eine argumentative Darstellung der Komplikation, die durch die Konjunktion „da“ (0014) als solche erkennbar wird. Hier berichtet er von einer vermutlich zwangsläufigen Autonomie („da ich war ja nun quasi alleingestellt“, 0014), die er als einen der Hörerin bekannten Umstand kennzeichnet. Der unterstellte gemeinsame Wissensbestand ist insbesondere als Fremdpositionierungsaktivität zu deuten, die weitere Erläuterungen angesichts des engen Interviewrahmens überflüssig machen sollen. Die Rückversicherungspartikel „nich wahr“ (0014) erfordert hier beispielsweise die Zustimmung der Hörerin, ohne dass sie bis zu diesem Zeitpunkt weiß, warum das erzählte Ich „alleingestellt“ (0014) war. Der Aufbau dieser Hintergrundkonstruktion und die interaktionssteuernden Verfahren („nich wahr“, 0014) sichern so auch das nochmalige Aufgreifen dieses biographischen Aspekts. Das erzählende Ich präzisiert dann über das Adverb „noch“ (0015) eine zeitliche Grenzziehung des Alleinseins, sodass seine lebensgeschichtlichen Umstände gleich dem Schälen einer Zwiebel mehr und mehr zutage treten. Während Herr J. ohne seine Familie lebte, hatte er aus finanziellen Gründen („musste sehen, wo ich bleibe“, 0015) Nachhilfeunterricht in lateinischer Sprache gegeben. Als Coda der Erzählung kann hier die abschließende Evaluation gelten, nach der das erzählte Ich den Lateinunterricht und die Nachhilfestunden für sein Verhältnis zur Sprache und seine Kenntnis von der Sprache verantwortlich macht. Gerade die Betonung der Präposition „durch“ (0018) zeigt den Begründungszusammenhang in der Genese dieser intensiven Bindung. Nach weiteren Ausführungen zum Sprachlernprozess in Latein kommt Herr J. auf die englische Sprache zu sprechen. Es zeigt sich an schon dieser Stelle, dass er das Sprachenportrait sorgfältig von oben nach unten abarbeitet. (2) 11-02-2010_HerrJ [00:02:16-00:02:51] 0049
J so dann war die zweite f' sprache die man also äh GUT beherrschen musste, 0050 äh nun zumal in der britischen besatzungszone war ENGlisch, ((hintergrundgeräusche)) 0055 J hat mir AUCH spaß gemacht äh und ähm äh– 0056 (1.0) ich SPREche auch ganz passabel englisch– 0057 allerdings mangels übung und mangels STÄNdigen sprechens, 0058 is man dann DOCH n bisschen äh– 0059 I AUS der übung; 0060 J ja;=man is auch man is auch RAUS; 0061 man hat auch sozusagen den aktuellen äh umgangswortschatz und die ganzen UMgangsphrasen nicht mehr drauf;=
„So dann“ (0049) fungiert in dieser Sequenz als Rahmenschaltelement, das einen Fokuswechsel, in diesem Fall zur nächsten Sprache, einleitet. Das erzählende Ich entscheidet sich für eine spannungserzeugende Projektorkonstruktion, indem mittels der syntaktischen Gestaltung einen Doppelfokus erzeugt wird. Der erste Teilsatz (0049) ist prosodisch markiert und informiert über eine Sprache, „die man also äh gut beherrschen musste“ (0049). Das projiziert die Erwartung, dass der Sprecher
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präzisiert, um welche Sprache es sich handelt. Die Teilsätze werden dann von einer eingeschobenen Nebensequenz, die kontextualisierend Aufschluss über den Ort des Aufwachsens gibt (0050), voneinander getrennt. Die noch ausstehende Objektergänzung „Englisch“ (0050) wird am Ende geliefert und ebenfalls prosodisch markiert. Die Wahl sowohl des Indefinitpronomens „man“ (0049) als auch des Modalverbs „musste“ (0049) deutet übergreifend auf die zeit- und gesellschaftsgebundenen Umstände hin, in denen die englische Sprache notgedrungen Teil der Lebenswirklichkeit des erzählten Ich gewesen ist. Die Kategorisierung „hat mir auch Spaß gemacht“ (0055) bezieht sich angesichts der Vergleichsfunktion des Adverbs „auch“ (0055) vermutlich auf den Lernprozess. Das erzählende Ich wechselt über die Tempuswahl („ich spreche“, 0056) in die aktuelle Lebenssituation und kategorisiert selbstpositionierend seine Fähigkeit im Englischen als „ganz passabel“ (0056), die jedoch sofort wieder eingeschränkt wird. Herr J. scheint seine Aussage zur Fähigkeit für nicht ganz berechtigt zu halten und setzt zu einer Korrektursequenz mit dem adversativen Konnektor „allerdings“ (0057) an. Der folgende Sprung in der pronominalen Gestaltung von „ich“ (0056) zu „man“ (0058-0061) zeigt ein typisches Muster in der Darstellung eingeschränkter Fähigkeiten. Einerseits wird dadurch der selbstund fremdpositionierende Allgemeingültigkeitsanspruch vertreten, dass es „Übung und ständigen Sprechens“ (0057) bedarf, um in der Fremdsprache kommunizieren zu können. Mithilfe der Generalisierung kann das erzählende Ich auch ein gesellschaftlich anerkanntes Muster („man is auch raus“, 0060) zurate ziehen, das es entlastet. Es entfaltet mit der Argumentation zum Verlust der Fähigkeiten somit ein grundlegendes Deutungsmuster zur Fremdsprachenkenntnis. Es handelt sich hier um keine rein deskriptive Passage, sondern um die implizite Bewertung, dass umfassende Fremdsprachenkenntnis im Beherrschen von „aktuelle[m] Umgangswortschatz“ (0061) und „Umgangsphrasen“ (0061) besteht. Nach der Schilderung von Episoden aus dem Arbeitsleben, die seine Englischkenntnisse verlangten, geht Herr J. ohne weitere Nachfrage auf die französische Sprache ein, die im Sprachenportrait in die Herzgegend verortet wurde. (3) 11-02-2010_HerrJ [00:03:38-00:10:30] 0079 0080 0081 0082 0083 0084 0085 0086 0087 0088
J ja;=französisch ist HERzenssache das hab ich auf der schule nicht gehabt, äh und äh habe dann während meines STUdiums angefangen n bisschen französisch zu lernen– ich hab ja noch äh studiert VOR der äh studentenrevolte– und VOR den studienreformen. und äh in berLIN hatten die äh äh briten, in ihrem SEKtor äh lag die technische universität verfügt– die te: u: wird nur also in charLOTtenburg;=ne, I HM_hm, J wird nur ZUgelassen, wird nur darf den lehrbetrieb erst wieder aufnehmen wenn es ein humanistisches PFLICHTstudium gibt.
180 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren 0089 0090 0091 0092 0093 0094 0095 0096 0097 0098 0099 0100 0101 0102 0103 0104 0105 0106 0107 0108 0109 0110 0111 0112 0113 0114 ((…)) 0235
I hm; J und zwar geleitet sozusagen reeduCAtion–=nich wahr, der DEUTschen; ähm von der idee: es hat derartig her!VOR!ragende äh wissenschaftler und techniker gegeben; derartig TOLle erfindungen; deutschland– WEISS heute keiner mehr; war ja FÜHrend auf ganz vielen gebieten in der welt,=ja? I ja; J wissenschaften der WELT; ° hhh und äh TROTZdem haben sich diese leute auch äh diesem äh verbrecherregime zur verfügung gestellt– und so WEIter und äh äh– um also von vornherein humaNIStische werte äh in der jugend zu befestigen– wird ein humanistisches äh äh STUdium äh zur pflicht gemacht, für jedes des TECHnische fach; [und ] I [hm_HM, ] J wir konnten dann WÄHlen, wir mussten eine sprache lernen die wir äh in der schule NICH gehabt hatten; I ja, J und da hab ich franZÖsisch gewählt natürlich; I WEIL das für sie herzenssache is– [was MEInen sie ] J [ja; ] I genau mit herzenssache– J äh wenn man einen französischen NAmen trägt; und andauernd auf seine französische äh ° h äh VORfahren angesprochen wird, und selber kein französisch kann is das PEINlich. HERzenssache einfach weil ich halt aus_ner äh f:amilie mit französischen wurzeln komme;
In der Sequenz zur französischen Sprache sticht zunächst die explizite Kategorisierung der Sprache als „Herzenssache“ (0079) hervor, die auch als Kontrastierung zu Latein als eine seiner „Lieblingssprachen“ (0007) und das gut zu beherrschende „Englisch“ (0049) wirkt. Die folgende Erzählung (0079-0105) kann als Begründung gelten, die diese Kategorisierung stützen soll. Sie bleibt als solche zunächst enthymematisch, weil sie einerseits das implizite Wissen der Hörerin um die Besonderheit eines freiwilligen Fremdsprachenlernens voraussetzt. Andererseits erklärt sie noch nicht die Kategorisierung des Französischen als „Herzenssache“ (0079). Herr J. erzählt von den Umständen seiner Studienzeit, wobei er mithilfe von Modalpartikeln („ja“, 0081), Rückversicherungssignalen wie „ne“ (0085), „nich wahr“ (0090), „ja“ (0093) und Kompletivformeln („und so weiter und“, 0098) einen gemeinsamen Wissensbestand mit der Hörerin abzustecken sucht. Die angesprochenen Aspekte, also die räumliche Verortung der Universität im Westen Berlins (0085), das „humanistische[ ] Pflichtstudium“ (0088), der wissenschaftliche Betrieb (0090-0095) und die
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Motive des Reeducation-Programms (0097-0101) können als Informationen in der Orientierungs- und Komplikationsphase seiner Erzählung gelten, da das erzählende Ich hier Aufschluss über seine Handlungsmotivation zur Wahl eines weiteren Fremdsprachenunterrichts gibt. Dass diese Wahl sich für Herrn J. als eine Art Schlussregel erweist, markiert er mit dem nachgeschobenen Adverb „natürlich“ (0107). Dieser die vorherige Aussage bekräftigende Indikator steht in seiner Argumentation für den Normalitäts- und Selbstverständlichkeitsanspruch, der natürlich das Kontextwissen der Hörerin verlangt. Da es jedoch noch keine explizite Begründung auf die Auswahl gibt, kommt es im Zuge der Hörerinnenbestätigung zur Wiederholung der Äußerungseinheit durch die Hörerin („weil das für Sie Herzenssache is“, 0108) und in einem zweiten Schritt zur konkreten Nachfrage (0109-0111). Erstmals im Gespräch geht Herr J. auf seine hugenottische Abstammung ein, indem er eine „wenn-dann“-Konstruktion (0112-0114) zur Argumentation ansetzt. Für die dreiteilige Protasis – 1. „wenn man einen französischen Namen trägt“ (0112), 2. „und andauernd auf seine französischen Vorfahren angesprochen wird“ (0113), 3. „und selber kein Französisch kann“ (0114) – wechselt das erzählende Ich in einen generalisierenden Modus mithilfe des Indefinitpronomens „man“ (0112). Die Apodosis „is das peinlich“ (0114) vervollständigt die Konstruktion, die trotz der kategorischen Formulierung auf den Sprecher referiert und als subjektive Theorie interpretiert werden kann. Gerade die Verwendung des Indefinitpronomens zeigt eine Normformulierung, die die Perspektive des Sprechers in eine Allgemeingültigkeit überführt. Es ist auffällig, dass Herr J. die Bezeichnungen „hugenottisch“ oder „Hugenotte“ bis zu diesem Zeitpunkt konsequent umgeht. Ein Blick auf agency dieser Selbstthematisierung zeigt, dass das Erlernen der französischen Sprache zunächst als selbstinitiiert wahrgenommen wurde („habe dann während meines Studiums angefangen ’n bisschen Französisch zu lernen“, 0080). Im Zuge der Erzählung zu den Motiven und Bedingungen des Lernens wird eine andere Wahrnehmung konstruiert, die die Handlungsmotivation eher über die Anerkennung Dritter (0112-0114), also fremdinitiiert, begründet. Das durch Dritte erweckte Gefühl von Peinlichkeit (0114) ist dann Auslöser der vorangegangenen Konklusion „und da hab ich Französisch gewählt natürlich“ (0107). Die fehlende Gesamtheit, das unvollständige Zusammenspiel von Name, Abstammung und sprachlicher Teilhabe, führt zur Erfüllung des Kohärenzbestrebens. Im Folgenden beschreibt das erzählende Ich sein Verhältnis zur französischen Gesellschaft, zu Kunst und Malerei und zum Wesen der Menschen auf Basis seiner Erfahrungen und gibt Anekdoten aus der Vergangenheit preis (0115-0234). Als abschließende Bemerkung, eine Art letzte Beweisführung, greift Herr J. den Begriff „Herzenssache“ (0235) noch einmal auf und führt ein weiteres Mal seine Abstammung an („Herzenssache einfach, weil ich halt aus ner Familie mit französischen Wurzeln komme“, 0235). Die Abtönungspartikel „einfach“ (0235) ist hier in der Erklärinteraktion positionierungsrelevant, da sie im Zuge der langwierigen, weil schwierigen, kommunikativen Aufgabe der Begriffserklärung
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Selbstverständlichkeit und Logik suggeriert, die die Hörerin mittlerweile verstanden haben müsste. Das erzählende Ich übergibt die Verantwortung für das Verständnis an die Hörerin und bezieht so Stellung. Ähnliches gilt für die Partikel „halt“ (0235), die einerseits die für die Hörerin nachzuvollziehende Evidenz der Kategorisierung als auch deren Unabänderlichkeit markieren soll. In der folgenden Sequenz geht es um die ersten Erinnerungen, die Herr J. im Zusammenhang mit seinen hugenottischen Wurzeln hat. Er elizitiert eine lange, keiner Chronik folgenden Erzählung mit verschiedenen Haupt- und Nebensträngen. Der wechselseitig konstitutive Charakter von Kontext und Äußerung verlangt die Wiedergabe der Erzählung zumindest in Ansätzen, um den Nachvollzug für weitere Passagen zu erleichtern. Herr J. erzählt nacheinander von seiner Kindheit in Berlin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, von den Auswirkungen der Evakuierung der Mutter und seiner Brüder in die Heimatstadt seines Großvaters Magdeburg, in die er bald folgen sollte. Er spricht von der Neubesiedlung des versehrten Landes durch die Hugenotten zu Zeiten der Ansiedlung, von den verschiedenen Gemeinden in Magdeburg, von der Geschichte der französisch-reformierten Gemeinde. Er erzählt vom Tod des Vaters in einem russischen Gefangenenlager und dem Werdegang der alleinstehenden Mutter, von dem geschichtenträchtigen Wohnhaus in Magdeburg, von den Familiengeschichten zum Ersten Weltkrieg und dem Verhältnis zum französischen Erbfeind. Über die Ausbeutung Preußens durch Napoleon kommt Herr J. auf die Ausbeutung deutscher Wälder durch die Russen zu sprechen, mit denen er in Magdeburg in der russischen Besatzungszone in Kontakt gekommen war. So kann er auf die im Sprachenportrait am Bein verortete russische Sprache eingehen, die zu seiner Lebenswirklichkeit in Magdeburg gehörte. Anekdoten aus jener Zeit runden sein Bild der russischen Kultur ab. Die russische Sprache würde er gerne besser sprechen können, nicht weil sie ein Relikt aus seiner Kindheit darstellt, sondern weil ihm die russische Kultur sympathisch ist (0592-0613). Diese ausschweifende Erzählung ist vielleicht eine Folge des unklar umrissenen Fragehorizonts durch die Interviewerin. Nach der Bitte um die Preisgabe der ersten „hugenottischen“ Erinnerungen kommt es in der Dynamik der Erinnerungsarbeit zum assoziativen Erzählen, das auch als Selbstpositionierung gegenüber der jüngeren Hörerin zu verstehen ist. Während des Erzählprozesses geht Herr J. in der Interaktionssteuerung mit direkten und indirekten Adressierungen an die Hörerin auf seine Erzählinhalte ein („muss man sich mal vorstellen“, 0300, „und äh können Sie sich jetzt bildhaft vorstellen?“, 0544) und versichert sich mittels metakommunikativer Äußerungen auch ihrer Erzählwürdigkeit, beispielsweise durch den Redebeitrag „das hängt damit zusammen – soll ich Ihnen das erzählen oder is das äh schweift das jetzt sehr ab?“ (0290). Diese Äußerung ist deshalb markant, weil Herr J. die erwartete Antwort durch den ersten Teil „das hängt damit zusammen“ (0290) nahezu vorwegnimmt. Hängen seine Ausführungen nach eigenem Ermessen mit dem Forschungsinteresse zusammen, stellt sich die Frage nach dem Ausschweifen für beide
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Parteien im Grunde gar nicht. Die Rückversicherung zeigt zudem, dass das Verständnis der Erzählaufgabe durchaus vorhanden, der Wunsch, komplexe Kontextinformationen zu geben, aber sehr groß ist. Durch die knapp 27 Minuten anhaltende Erzählung mit Haupt- und Nebensträngen wird dann deutlich, dass Herr J. eine umfassende historische Kenntnis besitzt, die er mit der eigenen Familiengeschichte stets in Zusammenhang zu bringen weiß. Eine längere Sprechpause gibt der Interviewerin Gelegenheit, den thematischen Schwerpunkt zu erneuern. (4) 11-02-2010_HerrJ [00:29:16-00:30:04] 0617 0618 0619 0620 0621 0622 0623 0624 0625 0626 0627 0628 0629 0630
I (1.1) nochmal zurück zu ihrer faMIlie, ihre: (-) eltern haben die denn zuhause französisch geSPROchen; J nein;=aber in der generation meines URgroßvaters; IS noch französisch äh zuhause gesprochen worden, also mein urgroßvater ist zweisprachig AUFgewachsen, I HM_hm, J er sprach deutsch fließend natürlich aber er sprach eben auch franZÖsisch fließend; und äh sein sohn sein einziger sohn mein äh großvater (.) äh (-) VÄterlicherseits– der äh ähm:: sprach also AUCH sehr gut französisch; I und das haben sie MITbekommen auch; J das hab ich nicht mehr MITbekommen weil weil ich die beiden auch nicht mehr erlebt habe; I ach SO; J sondern was ICH mitge' bekommen habe und auch meine äh geschwister, ° h war dieser merkwürdige äh hass auf den erbfeind FRANKreich.
Die metanarrative Äußerung der Hörerin (0617) wird trotz der finalen Tonhöhenbewegung nicht als Frage, sondern mit Bestimmtheit für die thematische Relevanzmarkierung formuliert. Die Vermutung, dass die Eltern die französische Sprache gesprochen haben, weist Herr J. mit der Negationspartikel „nein“ (0619) zurück und bietet sogleich eine Alternative an („aber in der Generation meines Urgroßvaters“, 0619). Mithilfe der redeeinleitenden Partikel „also“ (0621) eröffnet das erzählende Ich nun den Turn, der zur Präzisierung und Erweiterung der zeitlichen Kontextualisierung „in der Generation meines Urgroßvaters“ (0619) dient und geht darauf ein, dass sowohl Urgroßvater als auch Großvater „sehr gut französisch“ (0625) sprachen. Das erzählende Ich leitet nun auf Basis der Äußerung „und das haben Sie mitbekommen auch“ (0626) eine Art inhaltlicher Reparatur ein. Durch die fast wortgetreue Wiederholung „das hab ich nich mehr mitbekommen“ (0627) kann das erzählende Ich erneut eine Alternative anbieten, vom Thema Sprache abweichen und auf die Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland eingehen. Als Teil der Reparatursequenz, die die thematische und auch kommunikative Gewichtung lenkt, bietet sich die folgende Projektorkonstruktion (0629-0639) an. Es handelt sich um
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eine Pseudocleft-Konstruktion, wobei der W-Teilsatz („sondern was ich mitge’ bekommen habe und auch äh meine Geschwister“, 0629) eine Folgeerwartung generiert, den Matrixsatz projiziert („war dieser äh merkwürdige Hass auf den Erbfeind Frankreich“, 0639) und so den Fokus freisetzt. Die Gestaltung der Informationsstruktur dient hier ausschließlich der Relevanzsetzung und Fokusmarkierung. Durch die bewertende Kategorisierung des Verhältnisses („dieser merkwürdige Hass“, 0630) modalisiert das erzählende Ich die Aussage dahingehend, dass jene extremformulierte, negative Bewertung des deutsch-französischen Verhältnisses nicht seiner Deutung entspricht. Das zeigt die Verwendung eines Adjektivs („merkwürdig“, 0630), das Erstaunen und erschwerten Nachvollzug der damaligen Deutungsmuster vermitteln soll. Kontextualisierend muss darauf hingewiesen werden, dass die Erbfeindschaft und der daraus resultierte Hass zu jener Zeit durchaus nachvollziehbar gewesen sind, zumal es sich um eine Einstellung des Zeitgeistes handelte, dem zu folgen durchaus en vogue war. Die Äußerung ist also als ein Selbst- und Fremdpositionierungsverfahren des Erzählers zu verstehen, das insbesondere sein deutliches Abgrenzungsbedürfnis markiert. Nach weiteren Ausführungen zum Frankreichbild in jenen Tagen geht Herr J. auf die Geschichten einzelner Persönlichkeiten seiner Familie ein. Er erzählt von seinem Urgroßvater, der in Zeiten der frühen Industrialisierung über europäische Grenzen hinweg Geschäfte machen konnte und dafür auch der französischen Sprache mächtig sein musste. Er erzählt von einem Onkel, der als Reserveoffizier beim Frankreichfeldzug der Wehrmacht teilgenommen hatte. Eine Anekdote über einen der häufigen Besuche bei seinem Onkel, zu dem er per Anhalter gelangte, gibt Aufschluss über die Empfindungen hinsichtlich seiner Französischkompetenzen. (5) 11-02-2010_HerrJ [00:42:57-00:43:12] 0885 0886 0887 0888 0889
J gab_s dann eben auch mal (-) n franZOsen der mich mitgenommen hat der aus dänemark kam;=nich, und ähm äh stellten wir f' ganz schnell fest (--) ich konnte zwar meinen namen sagen und guten TAG, und äh äh bitte danke und dann war_s auch schon AUS; I HM_hm, J PEINlich unangenehm;=nich, mussten wir ENGlisch miteinander reden oder irgend so was;
Herr J. entfaltet hier eine Anekdote, die hinsichtlich der Argumentation für das Erlernen der französischen Sprache auch eine Belegfunktion aufweist. Es handelt sich um eine Szene, die stattgefunden hat, bevor der Erzähler die französische Sprache an der Universität gelernt hat. Orientierend gibt er Informationen zu den handelnden Personen (0885), sich und dem Franzosen, der ihn in seinem Auto mitgenommen hat. Der Erzähler wechselt von nun an zwischen Reaktualisierung der Situation, Selbstthematisierung und Distanz. Er begreift in der beschriebenen Problemlage
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sich und den Fahrer zunächst als Gruppe, die „ganz schnell“ (0866) eine gemeinsame Erkenntnis produziert. Diese Erkenntnis wird allerdings nicht als einzige Proposition, beispielsweise in der Form von „Wir stellten ganz schnell fest, dass wir uns nicht weiter auf Französisch unterhalten konnten.“, fortgeführt. Herr J. verzichtet auf den erwartbaren Anschluss der Objektergänzung und führt als Beschreibung seiner Kompetenz die konkreten Aspekte „Namen sagen und guten Tag und äh äh bitte danke“, 0886-0887) an. So wird auch der emotionale Nachvollzug der Situation auf Seiten des Erzählers, insbesondere aber der Hörerin, erleichtert. Die Beschränkung der Sprachfähigkeit wird in der Komplikationsdarstellung mit „dann war’s auch schon aus“ (0887) prosodisch final markiert. Die Reaktualisierung der deiktischen Erlebnisperspektive hat dann eine Geschichtenevaluation zur Folge, die die emotionale Betroffenheit des erzählten Ich wiedergeben soll. Herr J. re-inszeniert den Affekt der Scham (0889), der die explizite Bewertung der Episode stützen soll. Das dadurch entstehende involvement, die emotionale Beteiligung des erzählenden Ich, zeigt sich nicht nur auf syntaktischer Ebene über die fragmentarische Struktur („peinlich unangenehm, nich?“, 0889), sondern auch durch die Rückversicherungspartikel „nich“ (0889), die den intersubjektiven Nachvollzug des Gefühls durch die Hörerin verlangt. Die Konsequenz der beschränkten Sprachfähigkeit im Französischen ist notgedrungen („müssen“, 0889) das Ausweichen auf eine andere Sprache, in diesem Fall „Englisch“ (0889). Auffällig erscheint an dieser Stelle die eher abwertende Etcetera-Formulierung („oder irgend so was“, 0889), die zwischen „Englisch“ (0889) sowie weiteren Sprachen und der französischen Sprache einen Kontrast herstellt und ihre Gewichtung, wenngleich auch nur innerhalb der geschilderten Episode, offenbart. Weitere Anekdoten geben im Folgenden Aufschluss über die empfundene Notwendigkeit des erzählten Ich, die französische Sprache zu erlernen. Herr J. erzählt nacheinander von einem Besuch bei entfernten Verwandten in Frankreich, mit denen er sich kaum verständigen konnte, er erzählt von einer Spanienreise, auf der er mehr Latein als Spanisch gesprochen hat, und vom französischen Frauentypus, der ihm damals so gut gefallen hat. Er fuhr dann zu Studienzeiten oft nach Frankreich, auch um seine Französischkompetenzen aus dem universitären Sprachkurs zu erweitern. (6) 11-02-2010_HerrJ [00:56:12-00:58:37] 1152 1153 1154 1155 1156 1157
I ich würd gern nochmal zur (-) zu dem franZÖsischen zurückkommen– (--) als sie gemerkt haben dass es in der uni (-) das angebot nich (-)wirklich BRINGT, J na_JA;=es brachte nich die notwendige SPRACHfertigkeit; [also ] I [HM_hm, ] J äh ° h man ich konnte französische TEXte lesen ich konnte zeitung lesen–
186 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren 1158 ich konnte mich sozusagen in frankreich beWEgen ohne äh– 1159 äh::: 1160 und alles sagen was mir WICHtig war aber– 1161 I ja; 1162 J ähm darüber hinaus GING_S halt nich; 1163 [und ] 1164 I [HM_hm, ] 1165 J ähm das hab ich dann NACH dem studium äh– 1166 hab ich äh: ne referenDARSausbildung gemacht, ((Passage, die Rückschlüsse auf die Person zulässt)) 1186 J aber äh ich hatte NACHmittags und abends frei natürlich.=nich, 1187 und äh da hab ich mich beim institut français EINgeschrieben; 1188 und hab da ein richtig straffes äh äh proGRAMM gemacht– 1189 und hab MEHrere kurse parallel belegt– 1190 exercice de STYLE und so was alles; 1191 I ja; 1192 J und das hat äh VIEL gebracht.
Ein weiteres Mal versucht die Interviewerin die Themensetzung metanarrativ zu beeinflussen (1152). Wie im vorangegangenen Textauszug ist auch diese Relevanzmarkierung als impliziter Positionierungsakt zu verstehen, in dem die Interviewerin die thematische Ausrichtung des Gesprächs für sich zu beanspruchen sucht und fremdpositionierend auf die Kooperation des Erzählers hofft. Prosodisch markiert sie ihren Anspruch mithilfe der finalen Tonhöhenbewegung „zurückkommen“ 1152), die den Turn als noch nicht beendet darstellt und Gelegenheit zur weiterführenden Frage lässt. Die Frage bleibt allerdings offen, der geteilte Gesprächshorizont verschafft dem Erzähler ausreichend Wissensbestand, um sie auch ohne Fortführung zu beantworten. Die folgende TCU fungiert als Fremdreparatur der vorangegangenen Hörerinnenäußerung, indem die vage Formulierung „es nich wirklich bringt“ (1153) präzisiert wird. Herr J. evaluiert den universitären Sprachunterricht, der ihm „nich die notwendige Sprachfertigkeit“ (1154) brachte. Listenbildend zählt Herr J. nun auf, welche Bereiche der Sprachunterricht schon abdeckte – er konnte „französische Texte lesen“, „Zeitung lesen“ (1158), sich „sozusagen in Frankreich bewegen“ (1158) und „alles sagen was [ihm] wichtig war“ (1160). Hier bleibt fraglich, an welcher Stelle die damalige Lebenswirklichkeit ein bestimmtes Maß an Sprachfertigkeit verlangte, immerhin müsste der als problematisch empfundene Zustand aus der voruniversitären Zeit (0886-0887) mit der Kompetenzerlangung des Sprachkurses eigentlich überwunden sein. Was hier wie eine umfassende fremdsprachliche Ausbildung klingt, scheint dem erzählten Ich nicht gereicht zu haben („darüber hinaus gings halt nich“, 1162). Der Erzähler zeigt nun über die Darstellung der daraus folgenden Schritte seine Problemlösefähigkeit und positioniert das erzählte Ich mittels pronominaler Gestaltung als handlungsinitiative Instanz der eigenen Geschichte („da hab ich mich beim Institut Français eingeschrieben“, 1187). Ein variationsanalytischer Versuch hinsichtlich der linguistischen Gestaltung, beispielsweise die Umformulie-
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rung in „und da mussten wir ein richtig straffes Programm machen“, offenbart hier die Wahrnehmung des Erzählers als autonome Figur sowohl der erzählten Welt, durch die erzählstrategische Auswahl aber auch der Erzählwelt. Die Positionierung als wissbegieriger Lerner, der die unzureichende Sprachkompetenz überwinden will, wird durch die Betonung der mehreren parallel belegten Kurse (1189) intensiviert. Ein geteilter Wissensbestand zwischen den Interagierenden erlaubt dem Erzähler, die beispielhafte Aufzählung „exercice de style“ (1190) mit dem Fortführungsausdruck „und so was alles“ (1190) zu schließen. Die Bewertung seiner Handlung („und das hat äh viel gebracht“, 1191) kommt an dieser Stelle durch die annähernde Wiederholung der sequenzeinleitenden Äußerung „dass es in der Uni das Angebot nich wirklich bringt“ (1153) einer resümierenden Abschlussmarkierung gleich. Der Abschluss des Sprachkurses beinhaltete ein Reisestipendium, das der Erzähler für eine Reise nach La Rochelle, einem historisch bedeutsamen Ort der Hugenotten, nutzte. Nach der Schilderung über die Bekanntschaft mit dem Bürgermeister von La Rochelle kommt die Sprache auf den französischen Nachnamen des Erzählers. Auf die Frage, wie er damit umgeht, wenn er darauf in Deutschland angesprochen wird, antwortet Herr J.: (7) 11-02-2010_HerrJ [00:59:44-01:00:01] 1238 1239 1240 1241 1242
J ich erzähle dass ich aus ner hugeNOTtenfamilie komme. in äh berLIN ist das bekannt in hamburg ist das bekannt; überall wo äh größere STÄDte sind– wo es auch äh ° h äh hugenottische äh ANsiedlungen gegeben hat in dem im siebzehnten jahrhundert; da ist das äh (---) mehr oder weniger beKANNT;
Der Turn beginnt mit einer expliziten Selbstkategorisierung des erzählenden Ich als Zugehöriger einer „Hugenottenfamilie“ (1238). Die Zugehörigkeitsbezeichnung steht hier in Verbindung mit der engeren genealogischen Abstammung, weniger mit der Gruppe aller Hugenotten. Ohne die Hilfe von Iterationsmarkern oder konditionaler Konnektoren wird dennoch eine für die jeweiligen Situationen generelle Handlungsweise im Sinne einer kategorischen Formulierung nach dem Muster wenn X, dann Y bezeichnet. Die folgende Ausführung zum Bekanntheitsgrad der Hugenotten in deutschen Städten – hier bleibt fraglich, ob mit dem anaphorischen Pronomen „das“ (1239, 1242) wirklich die hugenottische Gruppe gemeint ist – ist insofern auffällig, als die umfassende historische Kenntnis des Erzählers im Widerspruch zur aktuellen Äußerung (1239-1242) steht. In vorangegangenen Sequenzen hat der Erzähler beweisen können, dass er um das Ausmaß der hugenottischen Ansiedlungsgeschichte auch in ländlichen Gegenden weiß, sodass die Beschränkung auf die Menschen der „größere[n] Städte“ (1240), die mit der Nennung seiner Abstammung etwas verbinden können, hier inkohärent wirkt.
188 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
Auf die Frage nach der innerfamiliären Vermittlung der hugenottischen Vergangenheit geht es um die Erziehung seiner Kinder, um ihre Schulbildung und den Austausch mit den schon genannten Franzosen, die seine Familie hin und wieder besuchten. Ein junger Mann war Auslöser für das plötzliche Interesse der Tochter an der französischen Sprache. (8) 11-02-2010_HerrJ [01:02:55-01:03:14] 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311
J ja;=durch äh ihre verLIEBTtheit und dann hat sie gesagt– pa: ich WEISS jetzt was ich äh– war dann in die übergang in die OBERstufe, äh ich weiß was ich als LEIStungsfach nehme; ich nehme französisch als neu hinzukommende fremdsprache UND gleich als leistungsfach; äh ( ) find ich ja TOLL; hätt ich dir ja gar nich äh hätt ich dich ja gar nicht überREden müssen;
In dieser Passage dominiert die Re-Inszenierung eines Dialogs zwischen Vater und Tochter. Eingeleitet durch verbum dicendi markiert der Erzähler die Reaktualisierung der deiktischen Erlebnisperspektive, die durch direkte Redewiedergabe gestaltet wird. Die Anrede „Pa“ (1306) und die animierte Stimme des Erzählers wirken durch die stilistische Gestaltung als Kontextualisierungshinweise auch für den Einbezug der Hörerin in die damalige Situation. Daraufhin springt das erzählende Ich noch einmal aus der Dialogwiedergabe und wechselt in die aktuelle Erzählsituation, um Aufschluss über den situativen Kontext der Äußerung zu geben („war dann in die, Übergang in die Oberstufe“, 1307). Das erzählende Ich erzeugt dann in der Wiedergabe durch atomization und die fallende Tonhöhenbewegung (1308) eine Erwartungshaltung sowohl in der Figuren- als auch in der Erzählwelt, die beispielsweise die gespannte Frage „was denn?“ auf beiden Erzählebenen zur Folge haben könnte. Der Erzähler löst mit der Rede der Tochter die Spannung des erzählten Ich und der Hörerin zugleich auf („ich nehme Französisch als neu hinzukommende Fremdsprache und gleich als Leistungsfach“, 1309). Diese Aussage projiziert in der Erzählsituation die Erwartung der Hörerin, dass das erzählte Ich darauf reagiert. Daher kommt die Reaktion ohne eine metapragmatische Ankündigung des Sprecherwechsels aus, zumal Stimmenwechsel, Nennung des Namens und Inhalt von „äh ( ) find ich ja toll“ (1310) die Perspektive von Herrn J. bereits indizieren. Diese positive Bewertung der Fremdsprachenwahl scheint auch in der Erzählsituation zu gelten, es zeigen sich keine Distanzierungsstrategien von der damaligen Einstellung. Die folgende an die Tochter gerichtete Aussage „hätt ich dir ja gar nich äh hätt ich dich ja gar nich überreden müssen“ (1311) offenbart ein weiteres Mal die Gewichtung der französischen Sprache in der Lebenswirklichkeit von Herrn J., der seine Tochter offensichtlich schon überredet hatte.
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 189
Herr J. erzählt dann von Reisen nach Frankreich mit der Familie, auf denen seine Kinder ihre Sprachfähigkeit unter Beweis stellen konnten, von Anekdoten über Streiche, die die Kinder mithilfe der französischen Sprache spielen konnten. Er erzählt von Dienstreisen nach Paris, streut Passagen über seinen professionellen Werdegang ein, erzählt vom guten und auch vom schlechten Deutschlandbild der Franzosen, das er bei zahlreichen Gelegenheiten durch den beruflichen Austausch mit Frankreich erfahren konnte. Auf die Frage der Interviewerin, ob Herr J. seine Beziehung zu Frankreich aufgrund seiner hugenottischen Herkunft derart intensiviert hat, bejaht er und schreibt seiner Herkunft so ein handlungsmotivierendes Moment zu. Dazu fällt ihm eine Episode mit seiner Tochter ein. (9) 11-02-2010_HerrJ [01:22:23-01:23:26] 1672 1673 1674 1675 1676 1677 1678 1679 1680 1681 1682 1683 1684 1685 1686 1687 1688 1689 1690 1691 1692
J man fragt ja schon als junger mensch wer is man und wo kommt man HER und so weiter; und äh da war das natürlich äh eine ähm eine wichtige informatiON; und das war auch für unsere KINder so. also ( ) die äh die ist dann mal ANgesprochen worden; ( ) du warst ja immer so FRÖHlich und so_n so_n temperament; sagt_se na WIR mit unserem französischen blu:t; und da sag ich ( ) bioLOgin die du bist– rechne doch mal wie viel französisches blut noch in deinen ADERN fließt; und äh ° h dann äh sag ich ihr wir du bist hier in der elften generatiON, ja,=und äh die leute sind hier seit ZEHN generationen– und in den ersten drei generationen haben nur franzosen untereinander geheiratet auch hier in der FREMde. also auch hier äh außerhalb FRANKreichs– und äh von da AN hat sich das vermischt. (1.0) na dann kam sie ganz kleinlaut zuRÜCK– und HAT dann gesagt– also es ist nicht mal ein GRAMM, sagt sie aber es is_ne frage des be!WUSST!seins. [so und DANN, ] I [DAS hat sie gesagt; ] J das JA.=nich, und da hat sie RECHT.
Herr J. greift im Erzählbeginn mit der Affirmation der unbestrittenen Neugier des jungen Menschen auf ein gesellschaftlich begründetes Erklärungssystem zurück, das auch der Rahmung der Episode dient. Die Verwendung des Indefinitpronomens „man“, des Diskursmarkers „ja“ und der Modalpartikel „schon“ (1672) stützt die die Aussage im Hinblick auf ihre beanspruchte Allgemeingültigkeit, sie drücken die Bekanntheit und Selbstverständlichkeit des genannten Umstands aus. Die Fragen, die sich der „junge[ ] Mensch“ (1672) stellt, werden hier listenbildend aufgezählt, wobei die Etcetera-Formulierung „und so weiter“ (1672) den Interagierenden geteiltes Wissen unterstellt. Die Selbstverständlichkeit, dass das Wissen um die Herkunft be-
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deutend ist, zeigt der Erzähler dann auch über das Modalwort „natürlich“ (1674) an. Nach der allgemeingültigen Behauptung bezieht sich Herr J. explizit auf die Frage und beansprucht jene Bedeutung auch für seine Kinder (1675). Als Beleg für die Kategorisierung seiner Kinder liefert er daraufhin eine Erzählung, die durch die direkte Redewiedergabe sowohl den Nachvollzug für die Hörerin gewährleisten als auch einen Authentizitätsanspruch vertreten soll. In einem Dialog mit nicht näher erläuterten Personen („die ist dann mal angesprochen worden“, 1676) zieht die Tochter des Erzählers ihre genealogische Besonderheit heran, um ihr unterstellte Charaktereigenschaften (1677) zu begründen („na wir mit unserem französischen Blut“, 1678). In dieser fremdpositionierenden Wiedergabe des Erzählers erscheint die Tochter als Hugenottennachfahrin, die ihr Zugehörigkeitsgefühl über das biologische Abstammungsprinzip sucht. Obwohl sie lediglich auf ihre Person angesprochen wurde („du warst“, 1677), markiert sie in ihrer vom Erzähler re-inszenierten Antwort durch das zudem betonte Personalpronomen „wir“ (1678) ihre Auffassung, als Teil einer bestimmten Gruppe zu existieren. Der Appell des Vaters an ihre naturwissenschaftlich fundierte Kenntnis, markiert durch die explizite Kategorisierung „Biologin, die du bist“ (1679), soll durch die selbstpositionierende Verortung im raumzeitlichen Gefüge der Hugenottengeschichte („in der elften Generation“, 1681) belehren und sie zur Überprüfung animieren („rechne doch mal, wie viel französisches Blut noch in deinen Adern fließt“, 1680). Die lange Sprechpause, die auf eine nahezu vorweggenommene Antwort durch die präzise Argumentation des erzählten Ich folgt (1686), ist nicht für den Turn gedacht, sie soll im interaktionalen Geschehen Spannung erzeugen und die Dauer des Überprüfens innerhalb der Figurenwelt darstellen. Die Erkenntnis der Tochter („also es ist nicht mal ein Gramm“, 1688) erzeugt eine Argumentation, die vom erzählenden Ich prosodisch hervorgehoben wird („aber es is ’ne Frage des Be!wusst!seins“, 1689) und so einerseits Eindringlichkeit der Aussage anzeigt, andererseits die neue Position in den Vordergrund rückt. Die starke Akzentuierung von „Bewusstsein“ kann in dieser rekontextualisierten, weil im Kontext des Interviews aus einem bestimmten Grund wiedergegebenen Äußerung der Tochter, auch eine Äußerungsmodifikation des erzählenden Ich sein, das an dieser Stelle seine eigene Position untermauern möchte. Die Coda „und da hat sie recht“ (1692) ist die explizit geäußerte Bewertung der portraitierten Haltung der Tochter. Der Erzähler kann mithilfe dieser Episode vorrangig seine Person positionieren und einen neuen Standpunkt in das Gespräch einbringen, da von einem spezifischen Bewusstsein bisher keine Rede war. Was sich bisher im Gespräch durch die verschiedenen Anekdoten hinsichtlich der familiären und auch namentlichen Verbundenheit des Erzählers mit seiner hugenottischen Herkunft angekündigt hat, wird im Folgenden noch einmal aufgegriffen und als Topos präsentiert.
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(10) 11-02-2010_HerrJ [01:22:23-01:23:26] 1700 1701 1702 1703 1704 1705 1706 1707 1708 1709 1710 1711 1712 1713 1714 1715 1716 1717
J gewissermaßen WENN man also so_n äh– mitgekriegt hat äh dass man hm wo man HERkommt– und äh dass man äh äh in diese faMIlie gehört– und in den hugenottischen familien is äh im ALLgemeinen– äh sag ich mal diese familiengeschichte auch IMmer präsent gewesen. is auch immer gePFLEGT worden. und äh (---) also ich hm das is IMmer irgendetwas was ich mit ähm wo wir– äh wenn ich also irgendjemanden treffe mit nem französischen NAmen, stellt sich heraus kommt aus_ner hugenottischen faMIlie; dann äh ähm brauch ich das nur ANzutippen; dann erzählt der mir geNAU so_ne geschichten wie ich von meiner familie erzählen könnte;=ne, [( ) ] I [also ] es gibt schon n n [ne geMEINsamkeit– ] J [so_ne ART– ] ja;=diese gemeinsamkeit ist gewissermaßen die gemeinsame faMIliengeschichte, und das is_n typisches FLÜCHTlingsschicksal,=ne,
In dieser Sequenz dominiert eine komplexe „wenn-dann“-Konstruktion, die das Bedingungsgefüge von Herkunft und danach ausgerichtetem Verhalten und Einstellung darstellen soll. Zunächst macht der Erzähler eine zweiteilige Protasis auf („wenn man also so ’n äh mitgekriegt hat äh dass man hm wo man herkommt und äh dass man äh äh in diese Familie gehört“, 1700-1702), die nicht durch eine Apodosis eingelöst wird. Stattdessen fügt Herr J. einen Nebenstrang ein, in dem er die Handhabung der Herkunft in hugenottischen Familien präzisiert (1703-1705), um dann eine Beispielerzählung in seiner Argumentation wirken zu lassen (1706-1710). Trotz der generalisierenden Geste ist die pronominale Referenz des Indefinitpronomens „man“ (1700-1702) in der Argumentation nicht unbestimmt, eher ist seine Verwendung autoreferentiell zu verstehen. So ist auch die deiktische Gestaltung durch die Verbindung des unbestimmten „man“ (1700-1702) mit dem anadeiktischen Ausdruck „diese“ (1702), der sich auf die eigene, zuvor benannte „Familie“ (1702) bezieht, ein Beleg für inkludierende Positionierung. Herr J. betreibt an dieser Stelle die Analyse eines Gruppenverhaltens, zu der er sich zugehörig fühlt. Für die zuvor aufgestellte, latente These des hugenottischen Bewusstseins, das stärker gewichtet wird als der biologische Aspekt, wird nun unter Zuhilfenahme von Generalisierungsindikatoren („im Allgemeinen“, 1703, „auch immer“, 1704, „immer“, 1705, 1706) argumentiert. Die Formulierungsschwierigkeiten, die im Zusammenhang mit dem Verhalten und der Einstellung hugenottischer Familien zu ihrer Herkunft stehen, werden durch Vagheitsindikatoren („so ’n“, 1700), Häsitationsmarkierungen „äh“/„hm“/„ähm“, 1700-1706), metakommunikative Formeln wie „sag ich mal“
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(1704), die Suche nach relevanten Anschlüssen indizierenden Konjunktionen wie „und“ (1702, 1703, 1706) und Satzabbrüchen (1706) offenbar. Aus diesem Problem der ergibt sich der Einsatz eines Veranschaulichungsverfahrens. Herr J. beschreibt mittels einer Belegerzählung, wie er bei Zusammentreffen mit anderen Hugenottennachfahren reagiert, wie ein kurzer Impuls reicht (1709), um sich auf Basis des geteilten Wissens zu unterhalten. Die Vagheit in der Kategorisierung der Inhalte mit „so ’ne Geschichten“ (1710) zeigt einmal mehr die Formulierungsschwierigkeit der gruppenspezifischen Handhabung an. Für den Erzähler bildet dennoch die Ähnlichkeit der gepflegten und elizitierten Familiengeschichten das Argument für die höhere Gewichtung des hugenottischen Bewusstseins. Das von der Hörerin angebotene Ein-Wort-Résumé seiner Ausführungen („Gemeinsamkeit“ (1714), nimmt der Erzähler an (1716) und formuliert eine mit Bestimmtheit modalisierte Definition, dass die Gemeinsamkeit der Hugenotten sich in ihrer gemeinsamen Familiengeschichte findet. Die Definition bleibt letztlich durch die Unschärfemarkierung „gewissermaßen“ (1716) anfechtbar und entbindet so das erzählende Ich vom Wahrheitsanspruch. Der Topos „Flüchtlingsschicksal“ (1717) wird schließlich vom Erzähler wie eine Zusammenfassung seiner Lebenswirklichkeit und der der anderen Hugenottennachfahren angeboten. Er dient der Offenlegung seines Deutungsmusters, dem zufolge die Beschäftigung mit der Historie in Hugenottenfamilien unumgänglich und ihre Auswirkung auf soziale Interaktionen evident ist. Der Typik des Schicksals und somit der Kohärenz geschilderter Handlungen soll im Sinne der Verständigungsorientierung auch durch die Hörerin zugestimmt werden („ne?“, 1717). So wird durch den Erzähler fremdpositionierend angenommen, dass die Hörerin unter dem Begriff des Flüchtlingsschicksals und seiner Anwendung auf den aktuellen Kontext dieselben Aspekte subsumiert. Herr J. kommt in den letzten Minuten des Gesprächs auf andere Flüchtlingsgruppen zu sprechen, erzählt von einem von ihm verfassten Aufsatz zur hugenottischen Geschichte, von dem hugenottischen Leben in deutschen Großstädten zu Zeiten Napoleons. Er erzählt weitere Familienanekdoten, vom Beruf seiner Frau, der beide auch auf Reisen nach Frankreich führte, er erzählt von seiner Liebe zur italienischen Sprache, die durch die Liebe zur Kunst, speziell zur italienischen Oper gewachsen ist. Eines der wenigen Male kommt Herr J., ausgelöst durch die Frage nach den Assoziationen mit dem Begriff Muttersprache, auf die deutsche Sprache zu sprechen. (11) 11-02-2010_HerrJ [01:40:57-01:41:27] 2096 2097 2098
J also äh (1.5) so äh so GERne ich äh italienisch und französisch spreche und höre und äh kommuniziere und so weiter– aber ° h äh die intensiTÄT,
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 193 2099 2100 2101
mit der man äh (--) äh (-) etwas AUFnimmt oder äh ausdrücken kann– das äh geht eigentlich nur in der MUTtersprache.
Die Bewertung der deutschen Sprache wird in dieser Sequenz von einer Kontrastierung mit der italienischen und der französischen Sprache getragen. Die Einleitung des Turns „so äh so gerne ich äh“ (2096) projiziert in ihrer Struktur die folgende Einschränkung, die der Erzähler mit der konzessiv-adversativen Konjunktion „aber“ (2098) fortführt. Herr J. beansprucht für die deutsche Sprache in ihrer Funktion als Muttersprache eine „Intensität“ (2098) der Handhabung, der die Liebe zu anderen Sprachen in jedem Fall nachsteht. Die Handhabung einer Sprache besteht laut Herrn J. in den zwei Spielarten des Aufnehmens und Ausdrückens (2100), die er zuvor auch schon in Form einer Listenbildung (2097) angesprochen hat. Der Erzähler modalisiert seine Aussage durch das epistemische Adverb „eigentlich“ (2101), sodass ihre nahezu unabänderliche Grundsätzlichkeit gestützt wird. Der Wechsel der Personalpronomina von „ich“ (2096-2097) zu „man“ (2098-2101) markiert hier die Allgemeingültigkeit der Behauptung, die in der kategorischen Formulierung „das äh geht eigentlich nur in der Muttersprache“ (2101) ihren Abschluss findet. Identitätskonstruktion von Herrn J. In der konsequenten Abarbeitung des Sprachenportraits werden vom Erzähler nacheinander die verschiedenen Formen der Einbindung der Sprachen in seine Lebenswirklichkeit und die Genese einer spezifischen Haltung zur Sprache aufgeschlüsselt. Die Bewertung der lateinischen Sprache als Lieblingssprache, die der Erzähler aber nicht mehr so gut beherrscht, öffnet zu Beginn des Gesprächs das generelle Deutungsmuster, dass aktive Sprachkompetenz als Voraussetzung für diese Kategorisierung gesehen wird. Auch die Ausführungen zur englischen Sprache belegen, dass aktive sprachliche Teilhabe im Sinne des Beherrschens vom Umgangswortschatz nötig ist, ihr Erlernen zudem fremdinitiiert war und ihr Schwinden aus praktischen Anwendungsgebieten zu ihrem Vergessen beigetragen hat. Auch die russische Sprache war einst notgedrungen Teil seiner Wirklichkeit, ist jedoch trotz des geäußerten Wunsches vom Erzähler nicht reaktiviert worden. Das Italienische erfährt durch die aktiv gepflegten Liebe zum Land und zur Oper Einbindung in die aktuelle Lebenswirklichkeit von Herrn J., hier liegt auch aktive Sprachkompetenz vor. Zur spanischen Sprache, die Herr J. in das Portrait gezeichnet hat, gibt er wenig Auskunft. Sie wird beiläufig als Kontrastierung zum besser beherrschten Latein genannt und ist in der aktuellen Interaktion kaum von Belang. Dem Deutschen misst Herr J. zwar eine einzigartige Bedeutung bei, allerdings kommt es hier nicht zu affektiv-emotionalen Bekundungen. Es sind dennoch stets umfassende Kompetenz, Sprachfertigkeit und Fähigkeit zur Präzision, mit der Herr J. die Bedeutung einer Sprache für sein Empfinden von Kohärenz und Konsistenz verknüpft.
194 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
Als Nachfahre von Hugenotten und Mitglied der französisch-reformierten Gemeinde hat Herr J. ein eindeutiges Bewusstsein über die Besonderheit seiner Geschichte. Dennoch manifestiert sich die Konstruktion hugenottischer Identität im Gespräch nicht über glaubens- oder gemeindebezogene Aussagen, vielmehr sind Zugehörigkeitsbeschreibungen und Kategorisierungen hinsichtlich der familiären Herkunft Motor der aktiven Selbstkontinuierung. An keiner Stelle wird beispielsweise die Selbstverständlichkeit konfessionell bedingter Motive zu Einstellungen oder Handlungen ausdrücklich thematisiert. Das kommunizierte Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe der Hugenotten definiert sich einerseits über genealogische Aspekte, die Herr J. in expliziten Selbstkategorisierungen anspricht. Andererseits werden konkrete soziale Interaktionen als Beleg der unumgänglichen Gemeinsamkeit herangezogen. Seine Abstammung wird insbesondere als distinktives Merkmal gegenüber Nicht-Hugenotten und Nicht-Flüchtlingen kommuniziert. Die Darstellung des erzählten Ich und Herstellung des erzählenden Ich sind als kongruent zu betrachten, es kommt zu keinen widersprüchlichen Distanzierungsmaßnahmen, sodass eine Identifizierung des gegenwärtigen Ich mit dem vergangenen Ich offensichtlich wird. Herr J. ist im Zuge der kommunikativen Syntheseleistung bestrebt, der Hörerin die Kohärenzen seiner Lebensgeschichte explizit aufzuzeigen, stets auch Beziehungen von Ursache und Wirkung darzulegen und Begründungszusammenhänge aufzudecken. Die assoziativ wirkende Darstellung komplexer historischer Zusammenhänge steht nicht nur im Dienst der Informationsvermittlung, sie ist auch als Demonstration epistemischer Autorität des Erzählers zu verstehen. Die umfassenden familiengeschichtlichen Ausführungen können als Selbstpositionierungsaktivität betrachtet werden, die aus der Forscherin zudem eine Projektionsfläche im Sinne des generalisierten Anderen macht. Aktuelle Identitätskonstruktion geschieht hier einerseits in der erzählten Welt beispielsweise über Abgrenzungsaussagen, andererseits in der Erzählwelt über den vertretenen Kohärenzanspruch. Was nicht entwicklungstheoretisch folgerichtig präsentiert werden kann, bleibt im Gespräch eher unbeleuchtet. Dafür öffnet Herr J. im Gegenzug andere, kenntnisreichere Inhalte. Das Plausibilisierungsbedürfnis zeigt sich insbesondere in den zahlreichen Konstruktionen argumentativer Beweisführung, die Bedingungen seines Gewordenseins für alle Lebensbereiche thematisieren, oder in Hintergrundkonstruktionen, die vorrangig mithilfe von Kontextualisierungshinweisen den Nachvollzug lebensgeschichtlicher Entscheidungen und Widerfahrnisse im interaktiven Geschehen erleichtern sollen. So sind Angaben von Raum und Zeit, von West- und Ostdeutschland, verschiedenen Städten und sozialen sowie politischen Umständen beispielsweise des Alleinseins oder der Einbindung in das Reeducation-Programm als orientierungsrelevante Aspekte der wiedergegebenen Erfahrung nötig, um Stringenz in den Handlungsdarlegungen zu erzeugen. Es ist auch die gefühlt fehlende Einheit von französischem Nachnamen, hugenottischer Herkunft und Sprachfähigkeit, die ihn zum Erlernen der französischen Sprache bringt.
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Die Gestaltung von agency im Hinblick auf das Fremdsprachenlernen offenbart verschiedene Perspektiven und Bewertungsmaßstäbe des erzählenden Ich. So ist die Wahl eines weiteren Fremdsprachenunterrichts unter anderem durch die Universitätspolitik fremdinitiiert, wird im Erzählprozess allerdings mit Modalisierungen zur Selbstverständlichkeit, mithilfe der pronominalen Gestaltung und geäußerten Normformulierungen so verbunden, dass der Eindruck eines handlungs- und entscheidungsmächtigen Agens erweckt wird. Es zeigt sich aber auch, dass die Erfahrungsbildung hinsichtlich der französischen Geschichte, Kultur und Sprache von Stimmen Dritter getragen wird, die das erzählende Ich als gesellschaftlich anerkannte Topoi gespeichert hat. Die expliziten Selbstaussagen, nach denen Herr J. von mangelnder Sprachkenntnis peinlich berührt ist, werden als Schlussregeln präsentiert, die keine andere als die getroffene Wahl zulassen. Auch Anekdoten mit Schlüsselcharakter, in denen beispielsweise die Sprachlosigkeit im Kontakt mit Franzosen thematisiert wird, stehen unter dem Einfluss retrospektiver Teleologie. Das Ende der Geschichte, das Sprachenlernen, ist bekannt und so kann eben jenes leicht als Resultat des im Gespräch re-inszenierten Affekts der Peinlichkeit gewertet werden. Die Kohärenz der hugenottischen Identität scheint dennoch sowohl für das Gegenwartsals auch das Vergangenheits-Ich bedroht, wenn das Französische keinen Platz darin findet. Diese Bedrohung wird von Herrn J. konsequent bearbeitet. In der Darstellung der Erziehung seiner Kinder offenbart Herr J. ein weiteres Mal die Gewichtung der Sprache seiner Vorfahren, wobei die lebensweltliche Einbindung des Französischen zweitrangig ist. In der Auseinandersetzung mit seinen Kindern kommt zudem die Frage nach dem hugenottischen Bewusstsein zum Tragen. Dem biologischen Abstammungsaspekt wird das Bewusstsein eines Menschen hinsichtlich seiner Herkunft gegenübergestellt. Bleibt der schwer zu fassende Begriff des Bewusstseins im Gespräch noch so unscharf, ist an dieser Stelle vermutlich die bewusste Reflexion des Menschen über sich und diejenigen Aspekte des Lebens, denen er Relevanz beimisst, gemeint. Die Gegenüberstellung eines sich langsam über die Generationen hinweg verflüchtigenden physiologischen Beweises der Herkunft mit dem Erhalt eines beeinflussbaren mentalen Zustandes geht mit den Ausführungen zum Flüchtlingsschicksal noch einen Schritt weiter. So sind Bewusstmachung, Pflege, das Geschichtenerzählen und die diesen Prozessen zugrundeliegende oder eben daraus resultierende Gemeinsamkeit mit anderen Hugenottennachfahren einer absoluten Unausweichlichkeit ausgesetzt. Ohne fatalistisch zu wirken, betrachtet der Erzähler lebensgeschichtliche Entscheidungen und Handlungen als ebenso unausweichlich, als Folge und gleichsam Generator des hugenottischen Bewusstseins, das so als Konstruktionsfeld hugenottischer Sprachidentität dient.
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4.5 „ALSO, ICK MUSS EHRLICH SAGEN, ÄH FÜR MICH ISSET PRAKTISCH ʼNE VERJANGENHEITSBEWÄLTIGUNG.“7 Abbildung 10: Sprachenportrait Herr W.
Herr W. ist zu Beginn der 1920er Jahre geboren und zum Zeitpunkt des Interviews etwa 90 Jahre alt. Er ist mit seinen Geschwistern in Brandenburg aufgewachsen, hat im Zweiten Weltkrieg gedient, ist in Kriegsgefangenschaft geraten und hat später in verschiedenen Berufen gearbeitet. Herr W. ist seit mehreren Jahren verwitwet und lebt seither allein in Potsdam. Er ist seit seiner Kindheit Mitglied der reformierten Gemeinde und versucht trotz Alter und Krankheit, regelmäßig an den Gottesdiensten und Veranstaltungen teilzunehmen. Der Kontakt zu Herrn W. kann über die Gemeinde hergestellt werden. Er willigt in das Interview ein, obwohl er schon am Telefon nicht von seiner Auskunftsfähigkeit überzeugt ist. Trotzdem teilt er im Vorfeld mit, dass er zur russischen Sprache eine besondere Beziehung pflegt. Das Gespräch mit Herrn W. wird in seinem Esszimmer aufgenommen und 48,51 Minuten dauern. Herr W. hat Spaß an dem Gespräch und scheint keine Nervosität zu empfinden. Satzabbrüche oder stockendes Sprechen haben besonders in diesem Inter7
Transkript 5, Herr W., 49 Minuten
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view nicht immer eine pragmatische Bedeutung, sondern sind eher seinem hohen Alter geschuldet. Mit der Aufgabe das Sprachenportrait zu zeichnen, scheint Herr W. zunächst überfordert und bittet um Mithilfe, sodass die miteinander Sprechenden sich auf ein gemeinsames Zeichnen einigen. (1) 07-12-2011_HerrW [00:00:02-00:00:27] 0002 0003 0004 0005 0006 0007 0008 0009 0010 0011 0012 0013 0014
I gut; (.) ähm (2.3) also ham sie sich schon irgendwas überLEGT, zu dem äh W also ick WEESS ja nich wat ick– [((hustet)) ] I [porTRAIT, ] W gut; (2.4) W [ach SO; ] I [also ] W erst mal war ick vom ersten tag (---) bis zum letzten tag (--) in in russland im russlandFELDzug; I HM_hm, W also von ein einmarsch (.) bis zum SCHLUSS bis zum ende (-) war ick– und denn hatte ick glück dass ick über oben an travemünde (-) dann in englische jeFANgenschaft kam;
Die Eröffnungssequenz des Interviews ist der Erläuterung des Sprachenportraits gewidmet. Herr W. macht metakommunikativ („ick weeß ja nicht, wat ick“, 0004) deutlich, dass er mit der Aufgabe des Zeichnens Schwierigkeiten hat. Nach einer längeren Pause zeigt der Erzähler mit dem Erkenntnisprozessmarker „ach so“ (0009) an, dass er entweder das Ziel des Gesprächs einem plötzlichen Einfall gleich verstanden hat oder ein Ausweichmanöver entdecken konnte. Der Erzähler eröffnet mit einem nonresponsiven Antwortverhalten seinen Turn, eine Erzählung, die Orientierungshinweise für das Gespräch liefert. Als Gliederungsmarkierer für das Segment dient die zeitliche Angabe „erst mal“ (0011), die auf folgende Rahmenschaltelemente verweist und den Beginn einer lebensgeschichtlichen Erzählung, hier der Teilnahme am „Russlandfeldzug“ (0011), markiert. Als würde das erzählende Ich die deiktische Erlebnisperspektive reaktualisieren und verstärken, wiederholt es die Dauer des Kriegseinsatzes mehrfach („vom ersten bis zum letzten Tag“, „von ein Einmarsch bis zum Schluss, bis zum Ende“, 0011-0013), bricht die Schilderung ab, um mit dem Rahmenschaltelement „und denn“ (0014) den nächsten Zeitschritt einzuleiten. Hier bewertet der Erzähler explizit die englische Kriegsgefangenschaft („hatte ich Glück“, 0014), in die er geraten ist. Was das erzählende Ich hier als „Glück“ (0014) begreift, muss nicht unbedingt für das erzählte Ich gelten. Allerdings liefert die kurze Bewertung keine Hinweise auf Deckungsgleichheit der Erzählebenen. Da die thematische Engführung auf die Kriegserfahrungen des Erzählers ohne passende Erzählaufforderung entsteht, als Ausgangspunkt nur die Frage nach dem Sprachenportrait dient,
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scheint es einerseits ein zentrales Darstellungsanliegen zu geben. Der Erzähler legt andererseits, nachdem die Aufgabenerfüllung des Sprachenportraits nicht gelungen ist, die inhaltliche Ausrichtung der folgenden Minuten fest. Außerdem fixiert er für die Hörerin fremdpositionierend den Deutungsrahmen, indem alle folgenden Gesprächsinhalte nun unter der Maßgabe seiner Kriegserfahrungen zu verstehen sind. (2) 07-12-2011_HerrW [00:00:37-00:01:09] 0019 0020 0021 0022 0023 0024 0025 0026 0027 0028 0029 0030 0031 0032 0033
I (-) erinnern sie sich an an die russische SPRAche? (-) W na_JA;=die russische sprache insofern (-) dat NÖtigste wat man so brauch; mit hände und FÜße und denn so_n (.) ( ) nach na_ja; I (-) mit händen und FÜßen; (2.0) I dann mach ich mal einen VORschlag, (2.0) I [für die ] W [so; ] I russische SPRAche; W und und denn äh wie der krieg zu ENde war (1.1) bin ick ja denn nach– wir waren ja AUSjebombt hier (-) in ( ) und äh– (1.8) W dann bin ick im äh äh kurz vor weihnachten bin ick nach HAUse jekommen;
Die Hörerin ist nun ihrerseits ob der plötzlichen Konfrontation mit dem schwierigen Thema überfordert, bricht die Suche nach einer adäquaten Frage oder Antwort auf seine Erzählung ab und geht den Hinweisen im Vorfeld folgend auf die Erinnerungen an die „russische Sprache“ (0019). Mithilfe der Abtönungspartikel „na ja“ (0021) rahmt Herr W. seine Erinnerung und bewertet seine Kompetenz durch die generalisierende Formulierung einer allgemeinen Regel („wat man so brauch“, 0021) und die formelhafte Wendung „mit Hände und Füße“ (0022). Hier positioniert sich der Erzähler in Distanz zu seinen Erinnerungen. An der satzfinalen Partikel „na ja“, der mittel fallenden Tonhöhenbewegung (0022) und dem nach zwei langen Pausen und der TCU der Interviewerin geäußerten „so“ (0028) wird deutlich, dass das erzählende Ich den thematischen Fokus zur russischen Sprache abschließen möchte. Das zeigt sich auch an der thematischen Wiederaufnahme der Kriegs- und Nachkriegserfahrung, die mit Orientierungshinweisen wie „wie der Krieg zu Ende war“ (0030) und der eingeschobenen Hintergrundinformation „wir waren ja ausjebombt hier in (-)“ (0031) kohärent fortgeführt wird. Herr W. erzählt dann in chronologischer Form, wie er seine Heimat nach dem Krieg vorgefunden hat, er nach seinen Eltern gesucht hat, er spricht von ihrem schlechten Zustand und ihrem Hunger. Er erzählt, dass er in Westdeutschland im Brückenbau gearbeitet und abends auf einem Bauernhof ausgeholfen hat, erzählt
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Anekdoten, wie er mit Mühe Lebensmittel über die Grenze schmuggeln konnte. Herr W. wollte dann bei seinen kranken Eltern bleiben, hat Arbeit in der Produktion einer Zeitung gefunden. Später wurde er in eine russische Armeedruckerei in Brandenburg versetzt. Herr W. erzählt, dass er für einen kranken Kollegen in Russland einspringen musste. Dieser Einsatz war für vierzehn Tage anberaumt, Herr W. blieb dann zwölf Jahre in Russland. (3) 07-12-2011_HerrW [00:04:56-00:05:33] 0132 0133 0134 0135 0136 0137 0138 0139 0140 0141 0142 0143 0144 0145
W und (.) und denn nach zwölf jahren bin ick denn (-) endlich LOSjekommen und– (---) W denn da fing bei de (---) äh (-) na (.) hier bei de es e: DE: zeitung anjefangen; (1.3) W und äh (2.2) dadurch hatte ick die zwölf jahre (-) für den hausjebrauch RUSsisch jelernt;=ja, I HM_hm, W aber hab das für_n HAUSjebrauch; und sonst hatte ick (.) parTOUT keen interesse dran– I sie ham_s SELBST gelernt, W (-) na_JA;=so viel wenn man wie man sich so verSTÄNdigt, erst mit hände und FÜße– und später denn (---) lernt man die vokabeln so_n BISSchen; und LEsen konnt ick ooch, ° h weil ick dit hatte ick jemacht da ick auch (.) LEsen musste zum teil–
Dieser Ausschnitt aus dem Segment zum berufsbedingten Aufenthalt in Russland zeigt ein weiteres Mal, dass der Erzähler seinen Werdegang vorwiegend chronologisch abarbeitet. Dennoch ist es ein berichtendes Darstellungsverfahren der einzelnen lebensgeschichtlichen Etappen. Die implizite Bewertung der zwölf Jahre in Russland erfolgt über das Adverb „endlich“ (0132), weniger mit temporaler als mit evaluativer Bedeutung, die das Herbeisehnen eines Zustandes markiert. Die nächste Station seiner Biographie, die Arbeit bei der SED-Zeitung (0134), bleibt unkommentiert. Nach einer längeren Pause geht der Erzähler selbstinitiiert noch einmal auf die russische Sprache ein (0136-0141) und identifiziert nachträglich die vorangegangene Erzählung als argumentative Passage („dadurch“, 0136) für sein Verhältnis zur russischen Sprache. Die Erzählung über die Kriegserfahrung dient in diesem Fall als Hintergrundkonstruktion. Herr W. gibt mit der adverbialen Konstruktion „für den Hausjebrauch“ (0136) das Anwendungsgebiet an, wobei die Verortung nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern mit dem Lernen für den eigenen Bedarf synonymisiert werden kann. Der Erzähler verstärkt die implizite Kategorisierung seiner Kompetenz durch die Wiederholung der adverbialen Konstruktion (0138) und positioniert zudem das erzählte Ich („hatte ick partout keen Interesse dran“, 0139), was ihm als erzählendes Ich im Hier und Jetzt eine kohärente Darstellung seines Desinteresses an
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der russischen Sprache erlaubt. Es bleibt zu vermuten, ob der Erzähler sich mithilfe der Indefinitpronomina („man“, 0141/0143) von seiner Kompetenzausprägung oder der als wenig positiv bewerteten Zeit in Russland und den damit verbundenen Konsequenzen distanzieren möchte. Da die Kategorisierung der erworbenen Lesefähigkeit des erzählten Ich deiktisch anders, hier mit dem Personalpronomen „ick“ (0144/0145) realisiert wird, wird eine höhere Agentivität („hatte ick jemacht“, 0145) und Nähe zur ausgebauten Lesekompetenz manifest. Die Begründung für den Ausbau wird jedoch durch die Wahl des Modalverbs „musste“ (0145) im Hinblick auf agency als Alternativlosigkeit dargestellt. Herr W. erzählt dann Anekdoten von der Arbeit in der Produktion in Russland, er erinnert an sein Gedächtnis, das die weit zurückliegenden Ereignisse wesentlich besser speichert als kurzfristige Geschehnisse. Auf die Frage der Interviewerin, ob die russische Sprache noch im Gedächtnis des Erzählers gespeichert ist, antwortet Herr W.: (4) 07-12-2011_HerrW [00:07:21-00:07:34] 0199 0200 0201 0202 0203 0204 0205 0206 0207 0208
W na;=WEnig wenig; [ick hab ] I [HM_hm, ] W (-) keene beZIEhung dazu; [ick hab ] I [HM_hm, ] W mich nich dafür interesSIERT die zeit, mir war russland russland WAR mir nich so waren alles jute menschen; h° die waren so UNschuldig wie ick; ° hh wir ham ja den krieg nich jeWOLLT;
Der graduierenden Kategorisierung der gespeicherten Inhalte im Gedächtnis des Erzählers („wenig, wenig“, 0199) folgt im direkten Anschluss, allerdings ohne Kohäsionsmarkierung, die rechtfertigende Begründung auf zwei Erzählebenen, die stiftend wirkt. Das erzählende Ich hat im Hier und Jetzt „keene Beziehung dazu“ (0202), in der erzählten Welt, hier mit temporaler Angabe identifizierbar (0205), hatte das erzählte Ich auch kein Interesse (0205). Die Pronominaladverbien „dazu“ (0202) und „dafür“ (0205) verweisen im Erzählzusammenhang zunächst auf die russische Sprache. Erst in der Fortführung wird deutlich, dass die Grundlage der Kategorisierung auf emotionaler Beteiligung gegenüber Russland und der Kriegserfahrungen basiert. Der Erzähler positioniert durch die folgende Argumentation zugleich erzählendes und erzähltes Ich. Die Äußerung steht insbesondere unter dem Zeichen der Formulierungsschwierigkeiten, die der Erzähler zur Rechtfertigung seines Desinteresses empfindet. So zeigt der Beginn mit der turninternen Selbstreparatur mit gespiegelter syntaktischer Form „mir war Russland, Russland war mir nich so“ (0206), dass der Weg zur Beschreibung des Gefühls über die entschuldigende
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Kategorisierung der Menschen in Russland und der Beteiligung am Krieg erfolgen muss. Der Erzähler bezieht sich über einen Vergleich („so unschuldig wie ick“, 0207) in die Bewertung ein, in einem letzten Schritt positioniert er sich als Teil einer Gruppe („wir“, 0208) und macht durch die prosodische Gestaltung („gewollt“, 0208) die Alternativlosigkeit in Kriegszeiten deutlich. Was hier als Hintergrundkonstruktion erscheint, die auf das Plausibilisierungsbedürfnis des Erzählers verweist, ist im Zuge der Erinnerungsarbeit als wesentlicher Bestandteil seines Gewordenseins zu verstehen. (5) 07-12-2011_HerrW [00:07:59-00:08:52] 0218 0219 0220 0221 0222 0223 0224 0225 0226 0227 0228 0229 0230 0231 0232 0233 0234 0235 0236 0237 0238 0239 0240 0241 0242
W (--) weil nu krieg war und ick hab so viel SCHLECHtet erlebt– darum hab ick so_n antipathie (-) jegen RUSsisch jehabt– und dit hat sich ooch nie jeKOMmen; und mit andere sprachen bin ick nich groß zuSAMmenjekommen; I GAR nich; [ANdere gar nich; ] W [nee;=ick NEE; ] ick hätte jetz da durch die hugenotten mal sagen können du kannst ja franZÖsisch– aber (--) dit WAR so nich; (.) sehen_se (.) dit is ja (-) wo die hugenotten KAmen hier; (2.0) W in berlin war jeder vierte war_n hugeNOTte; I ja; W und dit waren alles fleißige LEUte, (-) und da is ja_ne menge HÄNgenjeblieben; friseur boulette alles so AUSdrücke die man so kennt; die sind ja keene DEUTschen so; und heute ham_wa_t ANders, heut is alles ENGlisch–=wa; (-) heut jehen sie in SHOP;=ja, [jehen in ] I [HM_hm, ] W in in ( ) und WIE dit alles heißt; äh an jedem computer is da steht alles in ENGlisch; da verSTEH ick keen wort–=
Der Erzähler fasst die argumentative Passage („weil“, 0218) zu seinem Verhältnis zur russischen Sprache noch einmal zusammen. „Krieg“ (0218) und das Erleben von „so viel“ (0218) Schlechtem haben aus Erzählerperspektive zur „Antipathie jegen Russisch“ (0219) geführt. Ein weiteres Mal zeigen die syntaktischen Normabweichungen in Form von Anakoluthen (0218, 0220), dass der Erinnerungsprozess mit Mühe formuliert werden kann, dass Zusammenhänge in der Dynamik des Erzählvorgangs in actu entworfen werden. Inwiefern die Aussage nicht nur als Bewertung des erzählten Ich gegenüber der Sprache, sondern auch des erzählenden Ich in der Interaktionssituation gelten kann, bleibt zunächst offen. Erst die kodaähnliche Formulie-
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rung mit mittel fallender Tonhöhenbewegung, nach der das Verhältnis zur russischen Sprache sich nie geändert hat (0220), zeigt den Geltungsbereich auch für das erzählende Ich in der aktuellen Interviewsituation. Die Sequenz wird vom Erzähler noch einmal auf den fehlenden Kontakt zu „andere[n] Sprachen“ (0221) erweitert, das soll in der Interaktionssteuerung als Erzählbeendigung für die thematische Ausrichtung auf Sprachen gelten. Die umgangssprachliche Konstruktion „nich groß zusammenjekommen“ (0221) bezeichnet jedoch durch die graduierende Angabe „nich groß“ (0221), gemessen an einem variationsanalytischen Ersatz wie „gar nicht“ oder „nie“, einen im Folgenden zu erörternden Spielraum („andere gar nich“, 0223). Der Erzähler bekräftigt in der Antwort seine Aussage (0224) und entwirft dann ein Szenario, das auf seine hugenottischen Wurzeln verweist. Der Zusammenhang zur eigenen Herkunft wird nur durch die hörerinnenseitige Präsupposition zur Konstruktion „durch die Hugenotten“ (0225) als implizite Kontextvoraussetzung deutlich. Herr W. re-inszeniert, eingeleitet mit verbum dicendi im Konjunktiv „hätte […] sagen können“ (0225), einen fiktiven Monolog in direkter Rede in der Figurenwelt (0225), der ihm als inszeniertes Ich Fremdsprachenkompetenz zuschreiben soll. Der Indikativ der fingierten direkten Rede („kannst“, 0225) lässt das kurze Szenario wirklichkeitsnäher erscheinen. Der Erzähler tritt dann aus dem gestalterschließenden Darstellungsmodus wieder heraus und negiert die Fiktion mit Verweis auf die Realität in Indikativform „aber dit war so nich“ (0226). Zudem setzt der Erzähler die Realität, das Verb im Indikativ, prosodisch relevant. In dieser kurzen Sequenz handelt es sich vorrangig um ein Selbstpositionierungsverfahren, das ein grundlegendes Deutungsmuster des Erzählers entlarvt. Zumindest in seiner Vorstellung existiert ein Zusammenhang von hugenottischer Herkunft und französischer Sprache. Nicht zu vergessen ist natürlich, dass Gesprächsziel und Interviewerinnenaktivität als kokonstruierende Aspekte wirken und die Schaffung von Zusammenhängen maßgeblich steuern. Die direkte Adressierung „sehen Se“ (0227) und die abgebrochene Struktur „dit is ja“ (0227) sind als metakommunikative Ankündigungen für einen weiteren Erklärprozess auf Erzählerseite auszumachen. Um eine angenommene Wissensasymmetrie zu beseitigen, beginnt Herr W. mit einer Darlegung seines Wissens um die Sprachensituation der Hugenotten Berlin zu Zeiten der Ansiedlung („kamen hier“, 0229). Es ist unklar, welcher Standpunkt des Erzählers mit der Erklärung, dass jeder vierte Berliner ein Hugenotte war (0229) und Ausdrücke wie „Friseur, Boulette alles so“ (0233) „ja keene deutschen“ (0234) sind, evident gemacht werden soll. Die Besonderheit von Scheinentlehnungen soll hier unbeleuchtet bleiben. Die Aussage „die sind ja keene deutschen so“ (0234) könnte auf den Umstand verweisen, dass fremdsprachliche Kompetenz durch Sprachkontakte unumgänglich ist, als solche aber nicht vom Erzähler wahrgenommen wird. Schließlich ist die Konfrontation mit der englischen Sprache heutzutage (0235, 0237) auch unumgänglich. Der Erzähler macht durch die explizite Kategorisierung seiner Fähigkeit „da versteh
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ick keen Wort“ (0242) allerdings deutlich, dass der reine Kontakt zu einer anderen Sprache (0237, 0241) noch lange keine Fremdsprachenkompetenz fördert. Herr W. erzählt daraufhin von seinem Großvater, der auf einer hugenottischen Schule noch die französische Sprache gelernt hatte. Er erzählt von seinem Alltag in Kriegszeiten, von seiner Heimatstadt, den Kasernen und Soldaten. Auf die Frage, ob das Französische bei den Hugenottennachfahren verlorengegangen ist, zieht der Erzähler zunächst einen Vergleich. (6) 07-12-2011_HerrW [00:12:08-00:13:39] 0346 0347 0348 0349 0350 0351 0352 0353 0354 0355 0356 0357 0358 0359 0360 0361 0362 0363 0364 0365 0366 ((…)) 0387 0388 0389 0390 0391 0392
W [ja;=is ja is ja in berlin OOCH ] kaum noch;=ja, I nee;=aber jetz bei IHnen; [wirklich bei IHnen; ] W [bei bei MIR, ] is ° h so so sagen wir mal SO; mein mein großvater (-) der is drei dreiundNEUNzig jeworden– der is kurz (--) vor ende des vor ende des KRIEges– nee kurz vor anfang des krieges is der jeSTORben; der war noch RÜStig, (--) W der konnte brauchte keene BRILle, (-) der konnte noch (-) konnte sehr jut SCHREIben– (-) und der war (-) war tapeZIErermeister; (--) W und (.) und der (--) hatte wie dit bei HITler so war, mussten wir alle n ahnen ne AHnentafel haben; (-) und DA hat der (-) die ahnentafel jemacht, und hat (-) denn (.) dis zuRÜCKverfolgt, bis kurz zur EINwanderung– wir kommen aus der normanDIE; dis wird irgendwo liegen und verROTten; aber DER hat dit jemacht; (-) und (-) wenn ICK_S jehabt hätte hätte ick mich dafür interessiert; aber so isset praktisch UNterjejangen; I (-) hm– W kann ick nich allzu viel erZÄHlen;
Nachdem Herr W. die Frage nach dem Verlust des Französischen bei den Hugenottennachfahren mit einem Vergleich („ooch“, 0346) zu den Berliner Hugenottennachfahren bejaht, wird von der Interviewerin eine Engführung der Referenz erbeten („wirklich bei Ihnen“, 0349). Die turninitiale Konstruktion mit verbum dicendi „sagen wir mal so“ (0351) ist als metakommunikative Sichtbarmachung von Unschärfe zu sehen. Sie hat zudem projektive Kraft, da sie trotz der finalen fallenden Tonhöhenbewegung eine gewünschte Fortführung der TCU anzeigt. Die Formulierungsarbeit besteht hier in der Wortfindung, die aber, markiert durch die Modalpartikel „mal“ (0351), als vorläufig explizit gemacht wird. Es folgt eine argumentativ einge-
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setzte Belegerzählung, die ein prototypisches Muster aufweist. In der Orientierungsphase (0352-0360) gibt das erzählende Ich Informationen zu handelnden Personen, Zeit und Situation an, spricht von seinem Großvater, dessen Eigenschaften und beruflicher Tätigkeit. Die Komplikationsphase (0361-0365) gibt in Form eines Einschubs („wie dit bei Hitler so war“, 0361) Aufschluss über die unabwendbare Folge des Regimes, eine Ahnentafel anfertigen zu müssen. Anhand der Ahnentafel ist der Weg der Familie bis zur „Einwanderung“ (0365) zurückzuverfolgen. In der Evaluationsphase (0366-0388) nimmt das erzählende Ich die Erkenntnis, dass die Familie aus der Normandie stammt, als bedeutungsstiftenden Aspekt seiner Biographie wahr, erkennbar an der pronominal realisierten Zugehörigkeitsmarkierung „wir“ (0366) zu einer Gruppe, die vor mehr als 300 Jahren eingewandert ist. Es folgt eine kurze Passage, die Aufschluss über die besprochenen Personen geben könnte. Sie wird aus forschungsethischen Gründen hier nicht besprochen. Das erzählende Ich stellt dann die Vermutung an, dass das Dokument wahrscheinlich „irgendwo liegen und verrotten“ (0387) wird. Aus der aktuellen Perspektive schafft das erzählende Ich in der Auflösungsphase (0389-0390) eine vergangenheitsbezogene „wenn-dann“Konstruktion, die das Bedingungsgefüge des Interessenverlusts erklären soll. In der Protasis „und wenn ick’s jehabt hätte“ (0389) referiert der Erzähler auf die verschwundene Ahnentafel, modalisiert die Aussage über die Verwendung des Konjunktivs II auch in der Apodosis („hätte ick mich dafür interessiert“, 0389) als reines Gedankenspiel und beansprucht so die fehlende Entscheidungsgewalt. In der Coda (0392) geht das erzählende Ich in einen engeren Zeitbezug zum Hier und Jetzt, in dem es „nich allzu viel erzählen kann“ (0392). Die metanarrative Schlussformel verstärkt rahmend die Wirkung der turninitialen Unschärfe- und Vagheitsmarkierung. Als Ergebnis der Belegerzählung entsteht dennoch eine kohärente Darstellung der bisher vermittelten Distanz des Erzählers als Hugenottennachfahre zum hugenottischen Erbe, das auch die französische Sprache umfasst. Herr W. erzählt von einem Pfarrer der französisch-reformierten Kirche und von seinen Eltern, die nicht streng gläubig waren. In der folgenden Sequenz geht es um das erste Erlebnis im Zusammenhang mit seiner hugenottischen Herkunft, an das der Erzähler sich erinnern kann. (7) 07-12-2011_HerrW [00:15:24-00:15:37] 0439 0440 0441 0442 0443 0444 0445
I [wissen sie wie das LIEF, ] W [na;=dit war als ] KINder; (.) und denn (-) als kinder (.) und dann wie wir dann in die kirche jejangen sind da in die französische KIRche; da ham ( ) jeSAGT; und denn mein großvater (-) der hat ja denn immer erZÄHLT; wie er noch zur SCHUle jing und alles–
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Der Erzähler macht mit der Angabe der lebensgeschichtlichen Teilphase „als Kinder“ (0440/0441, 0442) den ungefähren Zeitrahmen der ersten Erlebnisse sichtbar. In der Erinnerungsarbeit bleibt möglicherweise aus Gründen der Darstellungsökonomie der Aspekt des Kirchgangs in seiner Wirkung unbeleuchtet, er wird hier nur als biographischer Fakt angegeben („wie wir dann in die Kirche jejangen sind“, 0442) und gleich präzisiert („in die französische Kirche“, 0442). Die Rahmenschaltelemente „und dann“ (0442) und „und denn“ (0444) markieren hier keine Zeitschritte, sondern dienen der Auflistung von Vermittlungsinstanzen. So wird der „Großvater“ (0444) mit seinen Erzählungen als Motor der Vermittlung identifiziert. Auffällig sind die Selbstverständlichkeit anzeigende Partikel „ja“ (0444), das Iterativität erzeugende Temporaladverb „immer“ (0444) und die Etcetera-Formulierung mit Indefinitpronomen „und alles“ (0445), die potentielle Fortführbarkeit anzeigt. Die dadurch entstehende Vagheit ist als Folge der Erinnerungsdynamik aufzufassen. Hier werden erzeugte Selbstverständlichkeit, Iterativität und Fortführbarkeit genutzt, um vom Präzisierungsanspruch erlöst auf einen gemeinsamen Wissensbestand mit der Hörerin zu referieren. Immerhin ist allgemein bekannt, dass Großeltern ihren Enkeln oft aus der Vergangenheit erzählen. Welche konkreten Inhalte die Vermittlung hatte, wird nicht deutlich. Im Anschluss erzählt Herr W. noch einmal von der fehlenden Ahnentafel und der geschwächte Wirkung der Kirche in Zeiten des Nationalsozialismus. Die Konfrontation mit der eigenen Herkunft scheint erst in späteren Lebensjahren deutlicher. (8) 07-12-2011_HerrW [00:17:05-00:17:36] 0478 0479 0480 0481 0482 0483 0484 0485 0486 0487 0488
W und (1.4) da dadurch äh (1.1) SIND wir nich allzu viel– und denn inne in unsere SCHUle war ja ((räuspert sich)) (nichts) wa– (---) W heute ((räuspert sich)) isset so (-) wenn ick irgendwo hinkomme und sage meinen NAmen, (-) denn erst mal können sie ihn nich gleich richtig AUSsprechen– (1.3) W und denn sagen sie äh äh sind sie von den hugeNOTten, und ick sage ja (.) bin noch hugenotte bin noch_n ECHter noch; ° h ((räuspert sich)) denn sonst wär ick ja nich so sehr druff jeKOMmen;=wa, aber die leute bringen eenen SELBST darauf;
Die abgebrochene Struktur „sind wir nich allzu viel“ (0478) mit unklarer pronominaler Referenz („wir“, 0478) wird ohne Reparaturinitiierung in eine Konstruktion mit thematischer Neuausrichtung überführt. Da es in der vorangegangenen Sequenz um die Kindheit und Schulzeit des Erzählers ging, scheint die zeitliche Verortung
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mit dem Orientierungshinweis durch das Temporaladverb „heute“ (0481) einen weitgefassten, aber späteren Zeitraum zu bezeichnen. Erzählstrategisch nutzt der Erzähler als Veranschaulichungsverfahren eine rekonstruierte Beispielerzählung, die Aufschluss über den aktuellen Umgang mit seiner Herkunft gibt und so positionierungsrelevant wirkt. Die Beispielerzählung wird mit einer eine Folgeerwartung generierenden, metanarrativen Ankündigung eingeleitet und fungiert als sequenzübergreifende Kontrastierung („heute isset so“, 0481). Im Gegensatz zur Erzählung über die Vermittlung durch den Großvater erscheint die illustrierende Beispielerzählung nun in einem höheren Auflösungsgrad, sie stellt verdichtet die Konfrontation des Erzählers mit seiner Herkunft dar. Die Anwendung des szenischen Präsens, der Verallgemeinerungsindikator „wenn“ (0481) und die vage räumliche Verortung („irgendwo“, 0481) markieren den exemplarischen Charakter der re-inszenierten Situation, in der das erzählte Ich seinen Namen nennt und mit den Konsequenzen umgeht. Das erzählende Ich listet dann die durch andere („sie“, 0482, 0484) hervorgebrachten Reaktionsabfolge („erst mal“, 0482; „und denn“, 0484) auf die Namensnennung auf. Die pronominale Referenz der Adressaten ist insofern als Positionierungsverfahren zu verstehen, als hier eine Alterität geschaffen wird, anhand derer die Position des erzählten und des erzählenden Ich exemplifiziert werden kann. So kann die Stimme Dritter in dem Konfrontationsdialog als Positionierungsraum genutzt werden. Das erzählende Ich greift zunächst die Unfähigkeit des Gegenübers auf, seinem Nachnamen „gleich richtig aussprechen“ (0482) zu können. Der Wechsel zur direkten Redewiedergabe, eingeleitet mit verbum dicendi „denn sagen sie“ (0484), ist ein typisches Rekonstruktionsverfahren für bedeutungsvolle Ereignisse, mit denen Evaluationen und Interpretationen verknüpft sind. Das isochrone Erzählen, die Deckungsgleichheit von erzählter Zeit und Erzählzeit, erleichtert den intersubjektiven Nachvollzug für die Hörerin. Die wiedergegebene fremde Rede „sind sie von den Hugenotten“ (0484) bietet dann für das erzählte Ich den Anlass zur expliziten Selbstkategorisierung als „Hugenotte“ (0485), die zudem mit dem Nachtrag „bin noch ’n echter noch“ (0485) präzisiert wird. Es scheint, als würde hier eine Dichotomie von „echten“ und „unechten“ Hugenotten eröffnet, die dann aber unbeleuchtet bleibt. Nach Beendigung der Dialogwiedergabe evaluiert das erzählende Ich die Situation des erzählten Ich und macht deutlich, dass es ohne diese Konfrontation „nich so sehr druff jekommen“ (0487) wäre. Die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft ist demnach durch Dritte motiviert und wird insbesondere über den Nachnamen vorangetrieben. Die Handlungsinitiative liegt also nicht vorrangig beim Erzähler, eher sind es von äußeren Faktoren bedingte Widerfahrnisse („die Leute bringen eenen selbst darauf “, 0488), die zur Auseinandersetzung mit der Abstammung führen. Herr W. erzählt dann noch einmal von seiner Ehe, von seiner verstorbenen Frau und seiner Krankheit, die ihm den regelmäßigen Kirchgang erschwert. Er erzählt von Verwandten, mit denen er in seiner Kindheit zusammen war, die er aber erst
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nach der Wiedervereinigung richtig kennengelernt hat. Diese Verwandten wussten ihm zufolge immer mehr als er über ihre hugenottische Abstammung. Er spricht noch einmal von der Vergangenheit und dem fehlenden Interesse an seiner Herkunft. (9) 07-12-2011_HerrW [00:19:27-00:19:60] 0541 0542 0543 0544 0545 0546 0547 0548 0549 0550 0551 0552 0553 0554
I und was bedeutet ihnen das heute dass sie äh von hugenotten ABstammen, (--) I wenn das früher schon nich so_ne besondere beDEUtung [hatte, ] W [also ] ((räuspert sich)) ick muss ehrlich sagen (--) äh für mich isset praktisch (-) ne verJANgenheitsbewältigung; (--) I hm_HM, W ick mach so die (---) meine vorfahren die sind damals jeFLÜCHtet, (-) weil_se da verFOLGT wurden– ° h und irgendwie (-) dass sie nur jearbeitet haben dit möcht ick irgendwie in mir erHALten; (--) W so als als als na wie SAGT man so; was_n ERbe oder so;
Die sequenzeinleitende Frage der Interviewerin zielt auf eine evaluierende Kategorisierung des Verhältnisses vom Erzähler zu seiner Abstammung (0541) im Hinblick auf eine Änderung der Einstellung im Laufe der Zeit (0543). Eine mögliche Einflussnahme oder Ko-Konstruktion der darauffolgenden Antwort entsteht durch den suggestiven Charakter des Nachtrags „wenn das schon früher nich so ’ne besondere Bedeutung hatte“ (0543/0544). Der epistemische Marker „ehrlich“ (0546) im turninitialen verbum dicendi „ick muss ehrlich sagen“ (0546) kommentiert die Bezugsäußerung hinsichtlich ihrer Vertraulichkeit im Sinne eines Geständnisses und gibt fremdpositionierend auch Hinweise, wie die Äußerung zu verstehen ist. Die so höchst subjektiv konstruierte Stellungnahme ist in ihrer Wahrheit nicht angreifbar, weil nur die Wahrnehmung der Innenwelt des Sprechers entscheidend ist. Der Erzähler bekräftigt durch die Subjektivierung „für mich“ (0546) den Geltungsbereich seiner Aussage „für mich isset praktisch ne Verjangenheitsbewältigung“ (0546). Das anaphorische Pronomen „es“ aus „isset“ (0546) bezieht sich hinsichtlich des Gesprächsverlaufs auf die Herkunft des Erzählers, wobei die Kategorisierung „Verjangenheitsbewältigung“ (0546) eher den Prozess der reflexiven Auseinandersetzung mit der Herkunft bezeichnet. Obwohl der Redezug an dieser Stelle durch die äußerungsfinale Tonhöhenbewegung (0546) beendet scheint, setzt der Erzähler aufgrund der Pause (0547) und dem fragenden Kommentar der Hörerin (0548) zu einer Erklärinteraktion an (0549-0559). Der Beginn „ick mach so die“ (0549) wird hier ab-
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gebrochenen und nach einer Pause korrigiert wieder aufgenommen. Abbruch, Pause und der Rückgriff auf bekanntes Wissen („meine Vorfahren die sind damals jeflüchtet, weil se da verfolgt wurden“, 0549/0550) zeugen hier von der Schwierigkeit, die vorangegangene Kategorisierung zu begründen. Die Gliederung der Äußerungseinheit durch Linksherausstellung des Subjekts mit eindeutiger Verhältnismarkierung durch das Possessivpronomen „meine Vorfahren“ (0459) dient der Fokussierung des Aspekts, auf den die „Verjangenheitsbewältigung“ (0459) sich bezieht. So vermeidet der Sprecher ein weiteres Mal, dass seine Aussage als allgemeingültig aufgefasst werden könnte. Worin die „Verjangenheitsbewältigung“ (0459) besteht, wird in der Aussage „dass sie nur jearbeitet haben, dit möchte ick irgendwie in mir erhalten“ (0551) deutlich. Das angenommene Arbeitsethos der eingewanderten Hugenotten wird hier als gewünschter („dit möchte ick“, 0551), fortzuführender Aspekt der Lebenswirklichkeit des erzählenden Ich vermittelt. Es ist jedoch nicht nur die Vorbildwirkung der Vorfahren, an denen das erzählende Ich sich orientiert. Auch die genealogische Abstammung verlangt ihm zufolge eine Art Pflichterfüllung („was ’n Erbe oder so“, 0554), wobei die Wortwiederholung „als als als“ (0553), die metakommunikative Struktur „wie sagt man“ (0553) und die Etcetera-Formel „oder so“ (0554) Vagheit und Formulierungsschwierigkeiten anzeigen, die mit der Plausibilisierung der Kategorisierung „Verjangenheitsbewältigung“ (0551) einhergehen. Herr W. erzählt von seinen Geschwistern, die den Familiennamen durch Eheschließungen nicht weitergetragen haben. Er spricht über die fehlenden männlichen Nachkommen, die den Namen hätten behalten können, über den Ariernachweis, den auch seine Familie erbringen musste, und über seinen Großvater, den er lebhaft in allen Facetten in Erinnerung hat. Herr W. erzählt von seinen Kindern, die wenig Interesse an ihrer Herkunft haben, sodass es kaum Gespräche über die besondere Abstammung gibt. In der folgenden Sequenz soll noch einmal auf die Sprachen im Leben des Interviewpartners eingegangen werden. Auf die Frage der Interviewerin nach einer möglichen Konfrontation mit weiteren Sprachen geht es noch einmal um die Kriegsgefangenschaft des Erzählers und dann um Reisen, die er mit seiner Frau gemacht hat. (10) 07-12-2011_HerrW [00:29:29-00:29:41] 0831 0832 0833 0834 0835 0836 0837 0838 0839
I waren sie auch einmal in der normandie wo sie auch eigentlich [HERstammen, ] W [nee;=da sind_wa ] NICH hinjekommen; FRANKreich waren wir jar nich; I ach SO; W ick war bloß im krieg eenmal in paRIS (-) und eenmal in bordeaux, (--) W und sonst waren wir JAR nich in frankreich;
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(-) und zu (-) äh (1.0) wir hatten keene beZIEhung da oben hin jetz;
Der sequentielle Ablauf bietet der Interviewerin Gelegenheit zur Frage nach der Verbindung zum Herkunftsort (0831). Ein weiteres Mal ist der suggestive Charakter des Nachtrags „wo sie auch eigentlich herstammen“ (0831) auf die sequenzeinleitende Frage als Anzeige für eine gesprächssteuernde Haltung zu sehen und kann eine stärker ko-konstruierte Antwort des Interviewpartners zur Folge haben. Der Erzähler setzt durch einen overlap seinen Turn an und weist die suggerierte Annahme mit der Negationspartikel „nee“ (0833) zurück. Er verstärkt seine unmissverständliche Antwort „da sind wa nich hinjekommen“ (0833/0834) durch die Präzisierung „Frankreich waren wir jar nich“ (0835) und produziert so über diese weitere Negation im Verhältnis zur Annahme der Hörerin, dem Antezedens aus dem vorangegangenen Turn (0831), einen nicht weiter zu hinterfragenden common ground. Nachdem die Hörerin ihr Verstehen kenntlich gemacht hat (0836), setzt der Erzähler zu einer Art selbstinitiierten Reparatur des bisher vermittelten Kenntnisstandes an. Die Abwandlung des Reparaturschemas „not x, but y“ („jar nich“, 0835, zu „bloß eenmal“, 0837) führt an dieser Stelle einen Perspektivenwechsel ein und zeigt eine wahrgenommene Trennung der Gründe für den Aufenthalt im Ausland. Der Erzähler nutzt zur inhaltlichen Abschwächung auch der Relevanz für die Frage sowohl die Gradpartikel „bloß“ (0837) als auch das Temporaladverb „eenmal“ (0837) und situiert durch die Kontextangabe „im Krieg“ (0837) seine Aussage auf einer anderen Ebene. Das erzählende Ich weiß im Moment der Negation eines Frankreichaufenthalts (0835) um das Gegenteil, es erzählt immerhin vom teleologischen Standpunkt aus. Als würden parallele Stränge seines Lebens existieren, inhaltlich strikt voneinander getrennt, offenbart das erzählende Ich so eine Strukturierung seiner verschiedenen Lebenserfahrungen. Die Erzählbarkeit von Krieg scheint neben anderem von einer Art Zeitlosigkeit und Parallelität geprägt. Noch einmal bekräftigt der Erzähler im Hinblick auf die Interviewerinnenfrage, dass er und seine Familie („wir“, 0833, 0835, 0839) abgesehen von seinen Aufenthalten zu Kriegszeiten nicht in Frankreich gewesen sind. Die folgende TCU (0840) dient der Rechtfertigung, warum der Erzähler den Herkunftsort der Familie nie besucht hat. Sie beginnt mit einer abgebrochenen Struktur („und zu“, 0840), wird von einem Häsitationsphänomen (0840) sowie einer langen Pause gefolgt (0840) und markiert so die Suchbewegung in der Formulierungsarbeit des erzählenden Ich. Die Referenz für die deiktischen Verweise „da oben hin jetz“ (0840) bleiben zunächst unklar – Frankreich liegt kaum oberhalb des Gesprächsortes, allerdings wird durch den sequentiellen Verlauf deutlich, dass sich die Begründung „wir hatten keene Beziehung da oben hin jetz“ (0840) auf die Normandie beziehen muss. Das äußerungsfinale Adverb „jetz“ (0840) hat in diesem Fall keine zeitreferentielle Funktion und wird eher aspektfokussierend eingesetzt.
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Herr W. erzählt von anderen Reisen, die er mit seiner Frau unternommen hat. Er erzählt von ihrer Hochzeitsreise, von Aufenthalten in den Bergen und am Meer, von Reisen nach Russland, Bulgarien und Italien und bekräftigt noch einmal, dass er nicht nach Frankreich gefahren ist. In der folgenden Sequenz geht die Interviewerin auf eine Äußerung des Erzählers ein, die zuvor unbeleuchtet blieb. (11) 07-12-2011_HerrW [00:31:45-00:32:10] 0891 0892 0893 0894 0895 0896 0897 0898 0899 0900 0901 0902 0903
I ähm sie ham vorHIN gesagt– wenn sie jemand fragt oder wenn sie jemand ANspricht dann sagen sie, (.) ja_JA;=ich BIN noch_n echter huge[notte; ] W [ja; ] ja; [IRgendwie– ] I [das IS ihnen– ] W irgendwie hab bin ick ooch noch STOLZ druff; also äh (-) sonst würd ick ja jar nich mehr da HINjehen; ick hab immer noch (-) dieset äh (-) äh (-) in MIR, (--) so die hierherjekommen sind mit nüscht und ham anjefangen ham hier sich hier (-) waren FLEIßig– und (-) dieser inbegriff (--) der hat sich weiter der is bei mir noch erHALten;=ja,
Die sprachliche Bezugnahme zur vorangegangenen Äußerung wird von der Interviewerin mit verbum dicendi eingeleitet („sie ham vorhin gesagt“, 0891) und durch die wortgetreue Wiederholung der direkten Rede des Erzählers „ja, ich bin noch ’n echter Hugenotte“ (0893/0894) hergestellt. Da es sich hier um keine Frage der Interviewerin handelt, setzt das erzählende Ich zu einem Kommentar (0899) an, der kategorisierend als explizite Selbstaussage Aufschluss über die emotionale Beteiligung an dem Gedanken zur Abstammung gibt („bin ick ooch noch stolz druff “, 0899). Der wiederholte Vagheitsmarkierer „irgendwie“ (0897, 0899) rahmt die Äußerung im Hinblick auf die nur ungefähre Passgenauigkeit. Im Sinne des Kohärenzbestrebens muss die Selbstaussage auch in irgendeiner Form in ihrer Unschärfe markiert werden, immerhin hat der Erzähler bisher keine besonders enge Bindung zu seiner Abstammung kenntlich gemacht. Um Kohärenz zu erzeugen, führt das erzählende Ich über eine Erklärinteraktion aus, wie es zu dem Gefühl kommt. Die Partikel „also“ (0900) in Vor-Vorfeldposition projiziert einen multi-unit-turn und leitet so die als selbstverständlich modalisierte („sonst“, „ja“, 0900) Erklärung ein. Nur mithilfe des geteilten Wissensbestandes, des common ground der Interagierenden, kann hier davon ausgegangen werden, dass der Erzähler den Kirchgang anspricht. Anders wäre auch die Referenz von „hinjehen“ (0900) nicht zu erklären. Diese versteckte konditionale Fügung offenbart nun Handlungsmotivationen – würde der Erzähler keinen Stolz verspüren, ginge er nicht zur Kirche. Im Hinblick auf agency führen also keine äußeren Faktoren, sondern ein vages Gefühl von Stolz zum Kirchgang. Die
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komplexe Sachverhaltsdarstellung, die mit dem turnitialen „also“ (0900) beginnt, ist eine Replik auf schon Dagewesenes. Ein weiteres Mal beschreibt der Erzähler die Eigenschaften der Hugenotten, die er fortzuführen wünscht. Die Benennung des übergeordneten Phänomens fällt ihm angesichts des fehlenden Bezugswortes zum Demonstrativpronomen („dieset äh äh in mir“, 0901) schwer, sodass er den Kohäsionsfehler mithilfe der Erzählung über die Anfänge der hugenottischen Ansiedlung (0902) zu überwinden sucht. Die Linksherausstellung von „Inbegriff “ (0903) fokussiert die Relevanz des vermuteten hugenottischen Ideals, das beim erzählenden Ich „noch erhalten“ (0903) wird. Gemäß der thematischen Ausrichtung auf das Ideal der Hugenotten zu Zeiten ihrer Ansiedlung spricht der Erzähler dann über die heutige Zeit, über fehlendes Arbeitsethos, Sparsamkeit und Disziplin. Herr W. bejaht die Frage der Interviewerin, ob er diese Aspekte für typisch hugenottische Eigenschaften hält, und führt den Gedanken weiter aus. (12) 07-12-2011_HerrW [00:34:33-00:35:20] 0974 0975 0976 0977 0978 0979 0980 0981 0982 0983 0984 0985 0986 0987 0988 0989 0990
W redlich und und äh (-) dit (-) is (-) dis zwar auch ne DEUTsche tugend, aber (-) ick BILD mir immer ein– ((räuspert sich)) wenn man irgendwo (1.0) seine HEImat verlassen muss– (-) denn bleibt (-) noch SO viel drin– dass es sich auf ne weile (-) irgendwie verERBT;=ja; [dis ] I [HM_hm, ] W so so (-) so seh ICK dit jetz; und wenn wir von der kirche so SPREchen da, und kommt man uff die hugeNOTten– h° denn äh is da immer noch so_n (---) bestimmter WERT da; (--) W die die (--) ich kann das jetz so nich AUSdrücken aber irgendwie (2.5) is da noch wat da– als wenn als wir sind noch was ANderes; nich wat BESseret aber was anderes;=ja, (---) W nich wat BESseres wollen wir ja nich sein;
Diese selbstthematisierende Erklärinteraktion ist von konditionalen Gefügen, Subjektivitätsmarkierungen, Vagheit und Reparaturen geprägt. Zur Intensivierung der Aussage, dass es sich in den vorangegangenen Ausführungen zur Redlichkeit um hugenottische Eigenschaften handelt, dient die „zwar-aber“-Konstruktion (0974/ 0975), die die Kategorisierung als „deutsche Tugend“ (0974) gleichsam relativiert. Zudem offenbart das erzählende Ich eine durch die Dichotomie deutsch/hugenottisch wahrgenommene Trennung der Provenienzen von Eigenschaften und Verhalten. Die folgende Welterklärung in der „wenn-dann“-Konstruktion (0976) wird mithilfe der metanarrativen Formulierung „ick bild mir immer ein“ (0975) mit ver-
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bum sentiendi eingeleitet und so stärker subjektiviert. Die Allgemeingültigkeit der selbstthematisierenden Aussage erfolgt in der Protasis „wenn man irgendwo seine Heimat verlassen muss“ (0976) durch die Anwendung des generalisierenden Pronomens „man“ (0976) und die vage Kontextualisierung durch das deiktisch vage Lokaladverb „irgendwo“ (0976). Die Apodosis „denn bleibt noch so viel drin, dass es sich auf ’ne Weile irgendwie vererbt, ja?“ (0977/0978) bezieht sich auf die zuvor besprochenen Eigenschaften der Hugenotten, die vermutlich durch die Flucht stärker „drin“ (0977) behalten werden. Die rückversichernde Partikel „ja“ (0977) sichert das intersubjektive Verständnis der Hörerin auf der Basis eines geteilten Wissens zu den Folgen einer Flucht. Erneut subjektiviert das erzählende Ich die Aussage im Hier und Jetzt (0981) im Zuge der Selbstpositionierungsaktivität und reduziert damit die Angreifbarkeit des Deutungsmusters. Obwohl die äußerungsfinale Tonhöhenbewegung für die Beendigung des Turns spricht (0981), greift das erzählende Ich eine weitere Situation für die Begründung des Vererbungsgedanken auf. Mithilfe der „wenn-dann“-Konstruktion zeigt es, dass bei der Thematisierung der Hugenotten in der Kirche „immer noch so’n bestimmter Wert da“ (0984) ist, der trotz seiner Bestimmtheit unscharf und vage bleibt. Das erzählende Ich markiert die Unschärfe durch die metakommunikative Rahmung der eigenen Äußerung hinsichtlich ihrer Formulierungsadäquatheit (0986). Die Formulierungsschwierigkeiten zeigen sich auch an Wortwiederholungen (0986), Unschärfeindikatoren („irgendwie“, 0986) und längeren Pausen von bis zu 2,5 Sekunden (0986). In der selbstkategorisierenden Äußerung „als wenn als wir sind noch was Anderes“ (0987) bezieht das erzählende Ich sich über die pronominale Zugehörigkeitsmarkierung „wir“ (0987) selbstpositionierend in eine Gruppe ein, die im Kontrast („anderes“, 0987) zu einem nicht definierten Gegenspieler steht. Die besondere Negationsstruktur „nich wat Besseret, aber was Anderes, ja?“ (0988) mit verständnissichernder Rückversicherung („ja“, 0988) zeigt die vom Sprecher antizipierten Urteile der Hörerin, die er im Zuge des recipient design noch vor der gesichtsbedrohenden Urteilsgründung zu verhindern sucht. In der selbstinitiierten Reparatursequenz nach dem Schema „not x, but y“ wird das Reparandum („wat Besseret“, 0988) als solches im Vorfeld kenntlich gemacht, das nach dem adversativen „aber“ (0988) der Alternative („was anderes“, 0988) weichen muss. Zur Unterstützung dieses Verfahrens schließt das erzählende Ich seine Ausführungen mit der unmissverständlichen Kategorisierung „wat Besseres wollen wir ja nich sein“ (0989). Herr W. erzählt noch einmal von dem fehlenden Interesse seiner Kinder und davon, dass auch er sich nicht intensiv mit der Geschichte seiner Familie auseinandergesetzt hat. Er erzählt von seiner Schulzeit, von seiner Familie, seiner Frau und dem Besuch von Gottesdiensten. Immer wieder streut er die Sorge um seine Auskunftsfähigkeit und die Erzählwürdigkeit seiner Gedanken ein. Im Nachfrageteil des Gesprächs, in dem die Interviewerin eine Zusammenfassung der bisherigen Gesprächs-
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inhalte anstrebt, kommt es zur Vervollständigung des Sprachenportraits. So geht es zunächst um die Muttersprache des Erzählers.
(13) 07-12-2011_HerrW [00:44:44-00:44:54] 1269 1270 1271 1272 1273 1274 1275 1276
I ähm ihre muttersprache is DEUTSCH; W MEIne muttersprache is deutsch; (1.6) I ich würd die gern irgendwo hier noch (-) REIN; W ja;=die können wir oben an die OHren; I an die OHren; W da kann die MUTtersprache ( )– (-) sehen können wir ja nich aber HÖren;
Der Erzähler übernimmt wortgetreu die von der Hörerin angebotene Kategorisierung (1269) der deutschen Sprache als seine Muttersprache (1270). Nach einer längeren Pause bedeutet die Hörerin, dass sie das Deutsche im Sprachenportrait „gern irgendwo hier noch rein[zeichnen]“ (1272) möchte. Das erzählende Ich stimmt der Äußerung zu („ja“, 1273) und schlägt die gemeinschaftliche Verortung („wir“, 1273) „oben an die Ohren“ (1273) vor. Zur Begründung nutzt das erzählende Ich die durch die Partikel „ja“ (1276) mit Selbstverständlichkeit und Bestimmtheit modalisierte Regel „sehen können wir ja nich, aber hören“ (1276) und zeigt so das Verständnis der Funktion seines Sprachenportraits. Daraufhin fallen Herrn W. Begriffe wie Friseur, Kotelett und Boulette ein, die er als französisch kategorisiert. Also möchte er das Französische in Kopfnähe verorten. Die erneute Frage nach einem möglichen Kontakt zu weiteren Sprachen verneint Herr W. mit Verweis auf die fehlenden Anwendungsbereiche in seinem Leben. Die darauf folgende letzte Äußerung des Erzählers soll nun noch besprochen werden. (14) 07-12-2011_HerrW [00:48:45-00:48:51] 1420 1421 1422
W und dadurch kann ick da äh in DER beziehung kann ick ihnen da wirklich wenig helfen; (--) ja; (--) W (-) vielleicht hat sich frau ( ) da MEHR versprochen–
Diese letzte Sequenz ist als implizite Selbstkategorisierung hinsichtlich des gesamten Gesprächsverlaufs aufschlussreich. Nach etwa 48 Minuten zeigt Herr W. Interesse an der Beendigung des Gesprächs, indem er seiner Sorge um die Erzählwürdigkeit seiner Erfahrungen erneut Ausdruck verleiht. Das erzählende Ich kategorisiert sich „in der Beziehung“ (1420) als nicht auskunftsfähig, wobei die „Beziehung“ mit großer Wahrscheinlichkeit sowohl die Konfrontation mit Sprachen als auch mit der hugenottischen Herkunft meint. Die Gültigkeit der Äußerung wird durch das retraktiv fungierende „wirklich“ (1420) intensiviert, das sich auf alle ähnlichen, die Sorge be-
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treffenden Äußerungen bezieht. Die Beteuerung umschreibt den epistemischen Gehalt der Erzähleraussagen und wirkt auch als Verstehenssicherung gegenüber der Hörerin. Die Partikel „ja“ (1420) erscheint nach einer Pause mit fallender Tonhöhe, sie signalisiert nicht nur das Ende der thematischen Einheit, sondern auch der Interaktion. Da die Hörerin trotz dieses Gliederungs- oder Abschlusssignals nicht reagiert, expandiert das erzählende Ich seine Überlegungen und geht auf den Ursprung des Gesprächs ein. Es thematisiert die angenommenen Intentionen der Vermittlerin, die sich von dem Gespräch „vielleicht […] mehr versprochen“ (1422) hat. Der Erzähler betrachtet das Gespräch offenbar als Hilfestellung gegenüber der Hörerin („helfen“, 1420) und positioniert sich indirekt als inkompetenter Gesprächspartner bezüglich der Zielvorstellung von Interviewerin und Vermittlerin. Identitätskonstruktion von Herrn W. Die im Gespräch her- und dargestellte Identität von Herrn W. ist insbesondere von der kommunikativen Bearbeitung seiner Kriegserfahrungen geprägt. Auch die Konstruktion seiner Sprachidentität als Blick in das Selbst- und Weltverhältnis des Sprechers stützt sich auf dieses Kontingenzerleben. Innerhalb von Erzählungen, die unter der Maßgabe dieser biographischen Epoche auch metanarrativ relevant gesetzt werden, konstruiert Herr W. ein Selbst, das bei der Hörerin den steten Rückbezug auf seine Erfahrung einfordert. Schicksalhaftigkeit, Kontingenzerleben und Heterogenität in der Lebenswirklichkeit werden von Herrn W. durchweg argumentativ bearbeitet, sodass ein deutliches Kontinuitäts- und Kohärenzbedürfnis gestillt werden kann. Ferner ist eine Kongruenz von erzähltem und erzählendem Ich erkennbar. Die Erzählungen und teilweise auch nur einbettende Erwähnung von Kriegserfahrung dient im Gespräch zum einen als Hintergrundkonstruktion, die im Zuge des Adressatenzuschnitts als verständnissichernde Folie geliefert wird. Zum anderen haben die mit den Kriegserfahrungen im Zusammenhang stehenden Erzählungen und kleineren Anekdoten auch Schlüsselcharakter, sodass eine gesamtbiographische Relevanz erkennbar wird. Das intensive Darstellungsbedürfnis des Erzählers wird aufgrund der nicht stattfindenden Aufforderungen deutlich und legt den erwünschten Deutungsrahmen für viele Gesprächsinhalte fest. Gerade die Antizipation von möglichen negativen Deutungen durch die Hörerin versucht Herr W. über Modalisierungsverfahren zu verhindern. So stellt er für seine Äußerungen selten Allgemeingültigkeits- oder Wahrheitsansprüche, sondern bekräftigt vornehmlich die Perspektive der eigenen Wahrheit. Das gilt beispielsweise für die Ausführungen zum hugenottischen Erbe, dessen Fortführung Herr W. sich verpflichtet fühlt. Die Auseinandersetzung mit seiner hugenottischen Herkunft ist für Herrn W. nach eigener Aussage eine Vergangenheitsbewältigung. Gemessen an den lebensgeschichtlich relevanten Etappen könnte angenommen werden, dass die Bewältigung darin besteht, das Kriegserleben und seine
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Folgen als unabänderliches Übel zu akzeptieren, so wie seine Vorfahren auch die Fluchtkonsequenzen akzeptiert haben. Das Erbe besteht für ihn nun in der Beibehaltung des vermuteten Arbeitsethos, der Disziplin und Sparsamkeit. Sein Gewordensein, seine Handlungsmotivationen und Deutungsmuster stützen sich also maßgeblich auf die Kenntnis der Eigenschaften seiner Vorfahren. Im Zuge der situativen Erinnerungsarbeit markiert der Plausibilisierungswille, erkennbar an argumentativen Passagen oder Belegerzählungen, die angestrebte Kohärenz. So ist beispielsweise die Unzugänglichkeit der Ahnentafel Grund für das geringere Interesse an den Vorfahren und gleichsam der französischen Sprache. Ähnlich verhält es sich bei der Konfrontation mit anderen Sprachen. Das fehlende Interesse an der russischen Sprache zu Zeiten seines Aufenthalts in Russland wird im Aufbau einer Eigentheorie für die Verteidigung der heute wenig vorhandenen Russischkompetenz genutzt. Außerdem führt die überwiegend negative Assoziation mit Land und Sprache zur begründeten Ablehnung und wirkt so in der Herstellung des Zeit- und Sinnzusammenhangs einheitlich. Die vorhandene Sprachkompetenz wird über eine relativ isochrone Darstellung der biographischen Etappen dargestellt, wobei Distanzierungsmaßnahmen in der Selbstpositionierung stets die Alternativlosigkeit des Russischlernens in zwölf Jahren berufsbedingten Russlandaufenthalts belegen. Die Modalisierungsverfahren belegen, dass Herr W. sich trotz der Eigenbemühungen als Patiens des Russischlernens durch die fordernden Umstände wahrnimmt. Die Beziehung zur russischen Sprache ist als kontextualisierte Notwendigkeit zu Zeiten des Aufenthalts sowie als Sprachkompetenz heutzutage kaum noch vorhanden. Die emotionale Negativbewertung versucht Herr W. mithilfe von welterklärenden Deutungen zur Kriegsbeteiligung zu begründen. Die Sorge um Adäquatheit in der Formulierungsarbeit wird vom Sprecher mehrfach metakommunikativ betont. Es wird weiterhin deutlich, dass es eine gefühlte Vorstellung der Verbindung von hugenottischer Herkunft und französischer Sprache gibt, wobei beachtet werden muss, dass Interviewerinnentätigkeiten in Verbindung mit dem Gesprächsziel natürlich ko-konstruierende Aspekte in der Stiftung von Zusammenhängen darstellen. So findet das Französische im Sprachenportrait durch die Annahme französischer Ausdrücke im Deutschen seinen Platz in Kopfnähe. In der Verhältnisdarstellung zum Französischen ist der Sprachverlust vor einigen Generationen als ein den Erzähler entlastendes Moment zu sehen, keine Kompetenz vorweisen zu können. Auch die verschwundene Ahnentafel sowie die fehlende Verbindung der Gemeinde zur französischen Sprache dienen hier als Rechtfertigung. Lediglich die Nennung seines Nachnamens durch andere Menschen führt Herrn W. zur Konfrontation mit der französischen Aussprache und Reflexionen hinsichtlich Sprache und Herkunft. So sind es Stimmen Dritter, wahlweise interessierter Familienmitglieder oder Fremder, die als Motor der Vermittlung wirken. Die explizite Kategorisierung als echter Hugenotte sowie verschiedene Zugehörigkeitsmarkierungen zeugen dennoch vom hugenottischen Bewusstsein, das sich vorwiegend über genealogische Aspekte definiert. Zu-
216 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
dem birgt die Zugehörigkeit zur französisch-reformierten Kirche ein distinktives Merkmal, es unterscheidet Herrn W. von anderen und fördert auch im Hinblick auf die hugenottischen Tugenden ein Gefühl von Stolz. Die emotionale Beteiligung ist dann hinsichtlich agency als maßgeblicher Motor des Kirchgangs und des Interesses an der Herkunft verantwortlich. Die kommunikative Vermittlung der gefühlten Dichotomie deutsch/hugenottisch unterlegt die Wahrnehmung von Alterität, die in der Interaktionssteuerung durch verständnissichernde Verfahren konkretisiert wird. Direkte Adressierungen und metakommunikative Äußerungen machen die Unsicherheit evident, den antizipierten Erwartungen der Hörerin nicht gerecht zu werden. Die durch jene Sorge intensiver hervorgebrachte, wechselseitige Ausrichtung auf Erwartungshaltungen der Interagierenden bedingt natürlich auch eine stärkere KoKonstruktion von Bedeutung im Gespräch.
4.6 „NEE, MIT SPRACHEN HATTE ICHʼS NICH SO.“8 Abbildung 11: Sprachenportrait Frau L.
8
Transkript 6, Frau L., 47 Minuten
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Frau L. ist in den 1920er Jahren in einem sächsischen Dorf als jüngste Tochter der Familie geboren, dort mit ihren Eltern und Geschwistern aufgewachsen und noch vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten eingeschult worden. Sie kommt aus einer traditionsreichen hugenottischen Familie, um die sich viele Geschichten und auch Mythen ranken. Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist sie Mitte 80. Sie war nie verheiratet und hat keine Kinder. Frau L. ist Mitglied der reformierten Gemeinde, sie nimmt dort regelmäßig an Gottesdiensten und Veranstaltungen teil. Das Interview wird in ihrem Zuhause aufgenommen, es wird knapp über 46 Minuten dauern. Während des Gesprächs ist Frau L. interessiert und offen, sie ist sehr aufmerksam und scheint an dem Interview Gefallen zu finden. Die Tonbandaufnahme bereitet ihr keine Probleme oder Nervosität. Obwohl Frau L. kein erhöhtes Sprechtempo hat und die dialektale Einfärbung nur gering ist, sind einige Wörter und Passagen etwas undeutlich und können nur angenommen werden. Auf dem Wohnzimmertisch liegen vorbereitete Materialien ihrer Familiengeschichte, auf die im Verlauf des Gesprächs noch eingegangen wird. Während Frau L. das Sprachenportrait zeichnet, beginnt sie schon mit ihren Erläuterungen, sodass das Tonbandgerät ihre ersten Sätze noch nicht aufnehmen kann. (1) 13-10-2011_FrauL [00:00:43-00:01:26] 0022 0023 0024 0025 0026 0027 0028 0029 0030 0031 0032 0033 0034 0035 0036 0037 0038 0039 0040 0041 0042 0043 0044 0045 0046 0047 0048 0049 0050
L [also deutsch ] (erst) im KOPP natürlich; man hat_s verINnerlicht;=nich wahr, es is meine MUTtersprache; ° hh englisch in der SCHUle, I (-) hm_HM, L na_JA; (.) hätte bissl MEHR sein können vielleicht; ((zeichnet)) so; I das ham sie intenSIver; L ja;=englisch ham_wer als erste FREMDsprache gehabt– I ah– [das is ] L [ENGlisch; ] I UNgewöhnlich; L äh:– I meistens war_s doch RUSsisch, L nee;=ich bin ja schon im dritten REICH zur schule gegangen; I ah is_n bisschen FRÜher; [HM_hm, ] L [ich bin ] bin doch FRÜher zur schule gegangen;=nee_NEE; [äh ] I [hm_HM, ] L wir hatten als erstes ENGlisch, als zweites laTEIN, I hm_HM, L dann kam als dritte als wahlfach franZÖsisch dazu, (.) aber dann wurde die SCHUle ausgebombt, und wir haben also an unmöchlichsten STELlen (schulerische)–
218 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren 0051 0052 0053
und da fielen solche sachen WEG; I hm_HM, L ne,=da hatten wir nur noch so die HAUPTfächer;=
Während der ersten halben Minute der Tonbandaufnahme zeichnet Frau L. das Sprachenportrait und kommentiert dabei teilweise murmelnd die von ihr verorteten Sprachen. Als Eröffnungssignal der eigentlichen Erläuterung dient die Struktur „also Deutsch“ (0022), die Frau L. das Rederecht zusichert. Die Verortung der deutschen Sprache in den „Kopp“ (0023) wird mithilfe des Modalworts „natürlich“ (0023) expandiert und so als Selbstverständlichkeit modalisiert. Durch die Generalisierung mit „man“ und die Rückversicherungsstruktur „nich wahr?“ (0024) wird deutlich, dass Frau L. hier einen allgemeingültigen Anspruch auf ihre Annahme der Verinnerlichung der deutschen Sprache erhebt. Ein Blick auf das Sprachenportrait zeigt, dass Deutsch aber auch in der Bauchgegend einen Platz findet, darüber wird jedoch nicht gesprochen. Daraufhin kategorisiert Frau L. Deutsch explizit als ihre „Muttersprache“ (0025). Die verblose Struktur „Englisch in der Schule“ (0026) gibt eine raumzeitliche Orientierung an, die im Kontrast zur Muttersprache Deutsch steht, und wird im Sprachenportrait während des Sprechens erweitert (0028/0029). Mithilfe der deiktischen Angabe „ham wer“ (0031) rechnet die Sprecherin sich selbstpositionierend zur Gruppe derjenigen, die Englisch als erste Fremdsprache in der Schule erlernt haben. Auf den evaluierenden Einschub der Interviewerin („ungewöhnlich“, 0035), der durch eine allgemeine Begründung komplettiert wird (0037), reagiert die Erzählerin mit einer Zurückweisung („nee“, 0038) und korrigiert die Proposition durch eine zeitliche Kontextualisierung („schon im Dritten Reich“, 0038), wobei sie die Implikatur der Aussage als bekannt voraussetzt („ja“, 0038) und so der Hörerin fremdpositionierend Kenntnisse zur schulischen Fremdsprachenabfolge in verschiedenen historischen Zeiträumen unterstellt. Ähnliches gilt für die zeitliche Konkretisierung in „bin doch früher zur Schule gegangen“ (0042). Die Erzählerin geht mit einer Aufzählung auf die Sprachenabfolge zu ihrer Schulzeit ein (0045-0048), um dann mithilfe der äußerungsinitialen adversativen Konjunktion „aber“ (0049) zwar keinen Gegensatz zur Sprachenabfolge einzuleiten, aber implizit auf die Unmöglichkeit des Fremdsprachenlernens durch die Ausbombung einzugehen (0049). Diese Deutung bestätigt sich beim Blick auf die folgenden Aussagen, denen zufolge die „unmöchlichsten Stellen“ (0050) wahrscheinlich des Unterrichts die Ausbildung blockierten. Das Rahmenschaltelement („aber dann“, 0049) ist also sowohl für den Zeitschritt als auch den Fokuswechsel von Bedeutung. Die Erzählerin präzisiert dann, dass „solche Sachen“ (0051), wobei die vage Formulierung die Fremdsprachen bezeichnet, aus ihrem schulischen Alltag wegfielen. Das wird deutlich, indem Frau L. Fremdsprachen und „Hauptfächer“ (0053) einander gegenüberstellt. Die äußerungsinitiale Rückversicherungspartikel „ne“ (0053) verweist ihr auf die Unterstellung geteilten Wissens zu Entscheidungen der Bildungspolitik in Krisenzeiten.
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(2) 13-10-2011_FrauL [00:01:29-00:01:38] 0056 0057 0058 0059 0060
I und warum ham sie französisch in die FÜße ge– L na_JA–=WEIL ich– da ham_wer so WEnig gehabt; das hat keinen beZUG;=nich wahr, nich dass ich das mit füßen TREten will;=nein; französisch ich find das_ne SEHR schöne sprache;
Die folgende Passage widmet sich der Verortung der Sprachen ins Portrait. Auf die Frage, warum Frau L. Französisch in die Fußgegend gezeichnet hat, setzt sie zu einer rechtfertigenden Äußerung an, die zunächst abgebrochen, dann in Form einer selbstinitiierten Reparatur weitergeführt wird (0057). Die situative Vergegenwärtigung der früheren Lage führt an dieser Stelle zum Wechsel des deiktischen Bezugsrahmens („ich, da ham wer“, 0057), da die schulische Situation sie nicht allein, sondern die Klasse betraf. Ob mit der Aussage „das hat keinen Bezug, nich wahr?“ (0058) der Umstand gemeint ist, dass Frau L. wegen mangelnder Französischausbildung keinen Bezug zur Sprache hat oder dass die Verortung des Französischen in die Fußgegend keine Relevanz besitzt, wird zunächst nicht deutlich. In der Erklärinteraktion bleibt es dann aber bei der Negation der der Hörerin unterstellten Vermutung, dass die Erzählerin das Französische „mit Füßen treten will“ (0059). Die Zurückweisung wird zusätzlich von der äußerungsfinalen Negationspartikel „nein“ und der mittel fallenden Tonhöhenbewegung mit Bestimmtheit modalisiert. Es kommt jedoch nicht zur Auflösung der Verortung. Durch Linksherausstellung im VorVorfeld und syntaktische Loslösung des Topiks „Französisch“ (0060), auf das sich dann das anaphorische Pronomen „das“ (0060) in satzmedialer Position bezieht, kann die Erzählerin hier die Thematisierung beeinflussen. Eingeleitet mit verbum sentiendi („ich find“, 0060) kategorisiert Frau L. daraufhin das Französische als eine „sehr schöne Sprache“ (0060). Alle im Sprachenportrait vorkommenden Sprachen werden nun nacheinander abgearbeitet. (3) 13-10-2011_FrauL [00:01:49-00:01:52] 0070 0071 0072
L och dis habe ich an sich ganz GERN gehabt; laTEIN– I ja, L HM_hm, KAM ooch; kommt auf_n LEHrer drauf an;=nich WAHR,
Die Modalisierung durch die primäre Interjektion „Och“ (0070), die die Äußerungseinheit einleitet, dient gleich zu Beginn der verstärkten Subjektivierung. Mittels Variationsanalyse ist die Partikelstruktur „an sich“ (0070) als epistemischer Marker im Sinne des epistemischen Adverbs „eigentlich“ zu verstehen und operiert so auf satzsemantischer Ebene zur Abschwächung der Aussage. Frau L. setzt, wenn auch unbewusst, mit diesem Marker und mithilfe der Gradpartikel „ganz“ (0070) auf eine Abtönungsstrategie bezüglich ihrer Aussage zur lateinischen Sprache. Die paradigmatische („dis“, 0070) Rechtsexpansion „Latein“ (0070) zeigt, dass Frau L. ihr Wis-
220 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren
sen dazu in actu konstruiert, die Äußerung wird syntaktisch nicht mit Sicherheit abgeschlossen. Die Erzählerin reaktualisiert dann die damalige Erlebnisperspektive, wobei sie die vergangenheitsbezogene TCU, dass der Lehrer eine entscheidende Rolle in der Fremdsprachenausbildung spielt, abbricht („kam ooch“, 0072) und zur auch heute gültigen Kategorisierung in Form einer Normformulierung korrigiert. Sie wird bei der Hörerin zusätzlich rückversichert („nich wahr?“, 0072). Dieses tempusbezogene Reparaturverfahren ist insofern positionierungsrelevant, als es die Kongruenz der Einstellungen von erzählter Figur und Erzählfigur, die Zeit und Raum überdauernde Kohärenz anzeigt. (4) 13-10-2011_FrauL [00:02:02-00:02:14] 0078 0079 0080 0081 0082 0083
L ENGlisch, NA_ja (gott/gut)–=das hat man so die ganzen (jahre) MITgemacht; ° h I (.) ja– L viel is nich mehr HÄNgengeblieben, man wird ja jetz immer mal wieder mit englisch konfronTIERT;=NICH wahr, schon WENN man am computer was; !A:CH! mensch wieder englisch; ( ) kannste kaum überSETzen– ((lacht))
Die Linksexpansion „Englisch“ (0078) dient als thematische Rahmenschaltung. Durch die Verwendung des Indefinitpronomens „man“ (0078), der vagheitsmarkierenden Strukturen „na ja“ und „so die ganzen Jahre“ (0078) und des abtönenden Verbs „mitgemacht“ (0078) wird durch Frau L. einerseits eine distanzierende Haltung zum Geschehen eingenommen, andererseits konstruiert sie im Hinblick auf agency ein Vergangenheits-Ich, dem das Englischlernen oktroyiert wurde, das sich gefügt hat und über wenig Handlungsmotivation verfügte. Durch syntaktische Änderung der unmarkierten Wortstellung, also Topikalisierung („viel is nich mehr hängengeblieben“, 0080), und die Negation des Erwartbaren markiert die Erzählerin die für sie relevante Information, dass ihre englische Sprachkompetenz zum jetzigen Zeitpunkt eingeschränkt ist. Die persönliche Distanzierung wird durch Indefinitpronomina fortgeführt (0081/0082). Um die Konfrontation mit der englischen Sprache deutlicher darzustellen, re-inszeniert Frau L. durch eine direkte Redewiedergabe (0082/0083) einen häufiger auftretenden Zustand („immer mal wieder“, 0081) und bringt mit dem prosodisch hervorgehobenen Ausruf „Ach Mensch“ (0082) zu Beginn der uneingeleiteten Redewiedergabe sowie durch die fragmentarische Struktur „wieder Englisch“ ihre affektive Beteiligung in dieser Situation zum Ausdruck.
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(5) 13-10-2011_FrauL [00:02:32-00:02:37] 0093 0094 0095
L also ich bin in bulgarien bin ich PAAR mal gewesen im urlaub– da is man ja mit der sprache konfronTIERT worden; RUSsisch; in russland war ich EINmal–
In einer Sequenz von etwa fünf Sekunden geht Frau L. auf Nachfrage, welche Sprachen im Portrait noch vertreten sind, kurz auf die bulgarische und die russische Sprache ein. In der Beschreibung ist auffällig, dass Frau L. keine Angaben zu ihren Kompetenzen macht, sondern gleich auf den Ursprung der Beziehung zur Sprache eingeht. Als unumgängliche Konsequenz der Aufenthalte in Bulgarien und Russland kommt es laut der Erzählerin ganz selbstverständlich („da is man ja“, 0094) zur Konfrontation mit den Sprachen des Urlaubslandes. Es wird im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht noch einmal auf diese zwei Sprachen eingegangen. In der folgenden Sequenz geht es um das Aufwachsen im Elternhaus und die berufliche Ausbildung der Erzählerin. Frau L. erzählt von ihrer Kindheit als Nachzüglerin in der Familie, von schlechten Zeiten während des Zweiten Weltkriegs, von ihren schon alten Eltern, den mageren Nachkriegsjahren und davon, dass sie ein Jahr vor dem Abitur 1945 die Schule aus finanziellen Gründen verlassen musste, um einen Beruf zu erlernen. Sie erzählt von ihrer Mitgliedschaft in einer traditionsreichen Vereinigung. Auf die Frage nach der Erinnerung des ersten Erlebnisses im Zusammenhang mit ihrer hugenottischen Herkunft antwortet Frau L.: (6) 13-10-2011_FrauL [00:08:45-00:09:21] 0279 0280 0281 0282 0283 0284 0285 0286 0287 0288 0289 0290 0291 0292 0293
L ja–=also das ERSte mal– jetz muss ich mal überLEgen; wir hatten also äh besachter äh äh VETter– also er sacht immer ich bin seine GROSStante, (.) na_JA;=also de ݫder berühmte anwalt aus I MÜNchen; L MÜNchen.= [ja; ] I [HM_hm, ] L die waren aus irgendwelchen gründen auch ab und zu mal hier in (.) in LEIPzig, und ham meinen BRUder immer besucht; also das war (.) der kontakt den wir zu den huken ݫhugenotten HATten; und die frau vor allem die FRAU dazu; die is SEHR interessiert an diesen dingen; und sammelt da auch was sie da nu noch so KRIEgen kann und so; aber SONST ham wir eigentlich– ja–=was so erZÄHLT worden is; was mir zuhause von zuhause erzählt worden is von unseren VORfahren;
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Frau L. leitet ihre Erzählung mit einer teilweisen Wiederholung der Fragestellung („das erste Mal“, 0279) und dann prospektiv mit einer metakommunikativen Problemsignalisierung ein („jetz muss ich mal überlegen“, 0279). Dadurch gewinnt sie Zeit zum Nachdenken und markiert auch selbstpositionierend ihre Bemühungen um eine adäquate Antwort. Im Erinnerungsprozess kommt es dann zum Rückverweis auf ein Familienmitglied (0280-0283), das schon vorher Thema des Gesprächs war. Nachdem Frau L. auf die Besuche des Vetters und seiner Frau bei ihrem Bruder eingeht, schließt sie zunächst den Erinnerungsprozess, erkennbar hier an der fallenden Tonhöhenbewegung am Ende der TCU. Die Fortführung der eigentlich abgeschlossenen Antwort (0288) durch eine einem plötzlichen Einfall gleichende, selbstinitiierte Reparatur („und die Frau, vor allem die Frau dazu“, 0289), durch die abgebrochene Äußerungseinheit „aber sonst ham wir eigentlich“ (0291), durch Vagheitsmarkierer wie „ja“ und „so“ (0292) markiert auf inhaltlicher Ebene die Schwierigkeit einerseits der Erinnerungsarbeit, andererseits der konkreten Wiedergabe im Gespräch. Die Formulierungsschwierigkeit zeigt sich an der Verwendung des semantisch weitgehend leeren Ausdrucks „diesen Dingen“ (0289) und der EtceteraFormulierung „und so“ (0290), Frau L. kann hier auf die Detaillierung verzichten. Die Erzählerin beendet diesen problematischen Zustand mit einer Schlussformulierung im Passiv, die sie so auch vom Gültigkeits- und Präzisionsanspruch entbindet. Es wird deutlich, dass sie die Kenntnisse über ihre Herkunft vorwiegend durch mündliche Tradierung innerhalb der Familie gewonnen hat. Frau L. erzählt daraufhin Geschichten verschiedener Familienmitglieder. Sie spricht von ihrem Großvater, der seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben hat, von Gesprächen mit den Eltern über die Vorfahren, von einem Familienstammbaum, den sie extra herausgesucht hat, und von einem Buch über einen berühmten Leipziger Verwandten. (7) 13-10-2011_FrauL [00:15:41-00:15:53] 0511 0512 0513 0514 0515 0516 0517
I das is ja schon ein (.) sehr traditiONSbewusstes; L JA_ja;=wir SIND an sich auch traditionsbewusst; I HAben sie [(irgendwie/äh wie)– ] L [es geht ] nur leider jetz äh hm je WEIter die nachkommen sind; das interessiert die die jungen leute interesSIERT_S einfach nicht mehr;
Die diese Erzählungen kommentierende Formulierung „das is ja schon ein sehr traditionsbewusstes“ (0511) bleibt von der Interviewerin aus Gründen der Wortsuche unabgeschlossen. Frau L. bejaht daraufhin mit Bestimmtheit („Ja ja“, 0512) und schwächt noch innerhalb des Turns aber ihre Aussage zum Traditionsbewusstsein der Familie mithilfe der Partikelstruktur „an sich“ (0512) wieder ab. Die explizite
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Kategorisierung bleibt so mit Einschränkungen verbunden, die dann detaillierter ausgeführt werden. Das erzählende Ich rahmt die Aussage zum Interesse der jüngeren Generation an der Tradition mit dem Adverb „leider“ (0516) und drückt so ein Bedauern aus. Auf syntaktischer Ebene markiert die Erzählerin, welchem Aspekt diese Evaluation gilt. Sie topikalisiert das entscheidende Element („das interessiert die“, 0517), die relevante Information über das Interesse der Nachkommen für die hugenottische Herkunft. Zur Verstärkung der Kategorisierung wiederholt sie das zuerst topikalisierte Element noch einmal und setzt hier auch den Fokusakzent („interesSIERT’S einfach nicht mehr“, 0517). (8) 13-10-2011_FrauL [00:17:09-00:17:21] 0557 0558 0559 0560
L man war bewusst dass man eben von diesen (.) familie ABstammte– ° h und hm::: wurde mal drüber geSPROchen aber nich unentwegt. I HM_hm, (.) was verbinden sie HEUte mit dem begriff (.) hugenotte, L hh° ich bin eigentlich bissl STOLZ
Angesprochen auf die Konstanz ihres Interesses antwortet Frau L. trotz klarer pronominaler Referenz auf sich und die Familie mit dem generalisierenden „man“ (0557) und verweist auch durch die Partikel „eben“ (0557) auf die Evidenz und Unabänderlichkeit der Aussage, dass es ein grundsätzliches Bewusstsein über die hugenottische Abstammung gibt, das aber „nicht unentwegt“ (0558) Thema der Auseinandersetzung war. Die Interviewerin fragt dann nach der Assoziation mit dem Hugenottenbegriff in der aktuellen Erzählwelt. Frau L. gibt nun kategorisierend einerseits Aufschluss über ihre emotionale Beteiligung („Stolz“, 0560), die sie in ihrem Ausmaß durch das epistemische Adverb „eigentlich“ und die Gradpartikel „bissl“ (0560) gleichsam entkräftet. Andererseits teilt sie die empfundene Gruppenzugehörigkeit mit und positioniert sich selbst innerhalb einer Gemeinschaft („dass ich dazugehöre“, 0560). Das turninterne, unkontrollierte Lachen zeigt in selbstpositionierender Hinsicht, dass die Erzählerin für das Gesagte nicht unbedingt verantwortlich gemacht werden will, dass vielleicht eine Art Scham beim Aussprechen empfunden wurde. Nachdem Frau L. von der Gemeinde erzählt, die in ihren Anfängen das Französische gepflegt hatte, geht es um den Zusammenhang von Sprache und Abstammung. (9) 13-10-2011_FrauL [00:19:05-00:19:12] 0608 0609 0610
I HM_hm, gehört das für sie zuSAMmen, das hugeNOTtesein und äh das französische, L hm_NÖ;=eigentlich NICH so;
224 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren 0611
NICH so; ich weiß man kommt und es is_ne ( ) unsere ur urväter kommen aus aus äh FRANKreich aber (---) nö;
Die Antwort auf die Frage nach dem empfundenen Zusammenhang von hugenottischer Abstammung und französischer Sprache war im Zuge der prozessualen Konstruktion hugenottischer Sprachidentität zu erwarten. Nachdem die Erzählerin die Frage nach dem Zusammenhang von hugenottischer Abstammung und französischer Sprache negiert, wobei sie die Faktizität ihrer Aussage durch die Reihung verschiedener Partikeln („hm nö, eigentlich nich so.“, 0610) abschwächt, setzt sie zu einer argumentativen Deutung an, die in ihrer Struktur den Ausbau einer Eigentheorie abbildet. Das erzählende Ich beansprucht in der expliziten Selbstaussage zunächst epistemische Autorität („ich weiß“, 0611), generalisiert im Zuge der Reflexion und Distanzeinnahme zu sich selbst durch das Pronomen „man“ (0611) und erreicht so die Abstraktionsebene der Theorie, lässt die Aussage unvollendet und bricht auch die folgende Überlegung „es is ’ne“ (0611) ab, präzisiert wieder den Adressatenkreis („unsere Urväter“, 0611) und beendet die Deutung fragmentarisch durch die Wiederholung der Negation „nö“ (0611). Die Erzählerin vermeidet auch durch die Modalisierung der Aussage bezüglich einer unanfechtbaren Gewissheit, dass die Argumentation logisch ausgeführt werden muss, sie bleibt so enthymematisch. Es ist schlicht ein Gefühl der Unverbundenheit von Herkunft und Sprache, das keiner lückenlosen Beweisführung bedarf. Frau L. bekräftigt noch einmal ihr Verhältnis zu Fremdsprachen. (10) 13-10-2011_FrauL [00:23:017-00:23:24] 0724 0725 0726 0727 0728 0729
L [nee;=mit ] SPRAchen hatte ich_s nich so; ich mein ich hab (mein/bei) englisch hab ich grad so bin ich immer so MITgegangen; war in der MITte; und ° h latein hab ich ganz ganz latein is ja_ne PAUKsprache;=nich WAHR,
Nach der selbstkategorisierenden Aussage zu ihrem losen Verhältnis zu „Sprachen“ (0725) geht Frau L. auf die schulischen Fremdsprachen Englisch und Latein ein. Die Formulierungsschwierigkeit, die sich an Wiederholung („ich hab Englisch hab ich“, 0726) und selbstinitiierter Reparatur („hab ich grad so bin ich“, 0726) zeigt, trägt diese Sequenz auch durch die vage Selbstpositionierung „in der Mitte“ (0727), die vermutlich eine Kategorisierung der Kompetenzen im Verhältnis zur Schulklasse anzeigt. Auch durch die abschwächende Wortwahl zum Fremdsprachenlernen („mitgegangen“, 0726) wird deutlich, dass Frau L. sich nicht als handlungsinitiatives Agens darstellt, das über Kontrollmöglichkeiten verfügte. Vielmehr ist die explizite Kategorisierung von Latein als „Pauksprache“ (0729) mit der Rückversicherung bei der Hörerin (0729) Ausdruck für die Zurückweisung von Einflussmöglichkeiten.
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 225
Frau L. erzählt weiter von Familienmitgliedern, die, wie es für das gehobene Bürgertum üblich war, in Pensionaten der Französischen Schweiz die französische Sprache erlernt haben. Sie spricht von ihren älteren Geschwistern, die mehr von den Traditionen in der Familie mitbekommen haben als sie. Sie erzählt von Familientragödien, vom Verlust des ältesten Bruders, von Kriegswirren und dem untergeordneten Stellenwert der Kinder in einer Familie des frühen 20. Jahrhunderts – alles Umstände, die die Pflege des hugenottischen Erbes überschattet und auch unwichtig gemacht haben. Frau L. erzählt von ihrer aktuellen Lebenswirklichkeit, von Ausflügen mit Verwandten und Festen, die sie demnächst besuchen wird. Die Sprache kommt auf die Gemeindezugehörigkeit der Erzählerin. (11) 13-10-2011_FrauL [00:33:27-00:33:55] 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062
I was bedeutet das ihnen heute in der geMEINde zu sein. was bedeutet die geMEINde für sie; L (---) ich würde sagen hm es IS vielleicht_n bisschen ° h äh bisschen äh– ((lacht)) (-) ° h hm::: na ja ich weiß nich wie ich AUSdrücken soll– ich möchte die äh ge ݫangehörige der gemeinde BLEIben, ° h erstens mal fühl ich mich ganz WOHL dort– und zweitens mal es is auch_n bisschen EIgensinnig äh– ( ) WENN_S mal nich mehr geht, man is froh wenn mal einer von der gemeinde kommt und nach eenem GUCKT.
Nach einer längeren Pause schwächt die Erzählerin schon in der Einleitung ihrer Antwort das Gewicht der Aussage über die Formulierung „ich würde sagen“ (1057) ab. Weitere Vagheitsmarkierer wie das Modaladverb „vielleicht“ (1057) und die Gradpartikel „bisschen“ (1057) sowie Pausen, Abbrüche und Wiederholungen modalisieren die Aussage zur Bedeutung der Gemeindezugehörigkeit bezüglich ihrer Adäquatheit. Die Unsicherheit des erzählenden Ich wird durch das Lachen (1057) zusätzlich verstärkt. Frau L. deutet dann auf metakommunikativer Ebene („ich weiß nich, wie ich ausdrücken soll“, 1058) auf eine Formulierungsschwierigkeit hin, wobei die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der inhaltlichen Richtung noch unklar bleibt. Erst die folgenden Aussagen zum Wohlbefinden und der Absicherung im Alter zeigen, dass möglicherweise Scham über die Eigennützigkeit des Gedankens zu den Formulierungsschwierigkeiten geführt haben. Bevor sie die Aufzählung („erstens Mal“, 1060; „zweitens Mal“, 1061) komplettiert, kategorisiert das erzählende Ich sich durch einen Einschub (1061) indirekt als „eigensinnig“ (1061) und nutzt diese Rahmung auch fremdpositionierend als Sicherung gegenüber der Hörerin, wie die darauf folgende Aussage zu verstehen ist. Frau L. ist bewusst, dass einer der Gründe ihrer Gemeindezugehörigkeit gesellschaftlich weniger anerkannt werden könnte. Daher distanziert sie sich pronominal („man“, „eenem“, 1062) und markiert so eine allgemeingültige Deutung, die möglicherweise auch für andere Gemeindeglieder gilt.
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Noch einmal geht die Erzählerin auf die Umstände ihrer Kindheit ein, erzählt von Tagesabläufen und dem Beruf ihres Vaters. Die letzten Minuten des Interviews sind einer Zusammenfassung durch die Interviewerin gewidmet, die der Erzählerin Gelegenheit zur Revision oder Präzision bietet. In dieser Zusammenfassung bestärkt sie ein weiteres Mal, dass es für sie zwischen der hugenottischen Herkunft und der französischen Sprache keine Verbindung gibt. Identitätskonstruktion von Frau L. Die Konstruktion der Sprachidentität von Frau L. wird als Synthetisierung differenter Erfahrungen und Kontingenzerleben in besonderem Maße von einem Kontinuitätsbedürfnis getragen. Die aus dem Text hervorgehende Kongruenz von erzählter Figur und Erzählfigur ist dafür ein Beweis, dargestellte und hergestellte Identität stehen weitestgehend im Einklang. Weiterhin sind Her- und Darstellung ihrer Sprachidentität im Gespräch von diversen Korrekturen, Rückversicherungen und auch Abschwächungen durch Frau L. geprägt, sodass ein Anspruch auf adäquate Antworten, angemessene Bewertungen und Richtigkeit ihrer Aussagen deutlich wird. Da die Pflege des hugenottischen Erbes laut der Erzählerin kaum ihrer Initiative unterlag und von Familienmitgliedern ausgelöst als fremdinitiiert wahrgenommen wird, deckt sich ihre Darstellung eines hugenottischen Bewusstseins in Kombination mit einem Gefühl der Bescheidenheit. Hier sind es in sozialer Dimension einerseits Selbstpositionierungsaktivitäten, die durch Indikatoren der Vagheit und Abschwächung die Fixierung einer konkreten Haltung zur Abstammung verhindern. Andererseits ist der Zahn der Zeit ausschlaggebender und auch bedauerter Faktor für die Vernachlässigung von Traditionen in den folgenden Generationen. Frau L. offenbart zwar im Laufe des Gesprächs ein Zugehörigkeitsgefühl, das sie mit Stolz erfüllt, gibt jedoch durch kommunikative Entkräftigungsstrategien Aufschluss über ein generelles Deutungsmuster zur Adäquatheit dieser Haltung. Die schwierige Beweisführung von Gefühlszuständen führt zur Anfechtbarkeit und bleibt daher vielfach mit Vorsicht ausgesprochen. Auch die Aussagen zur Gemeindezugehörigkeit sind von Behutsamkeit und der Sorge um die intersubjektive Akzeptanz der Aussagen geprägt. Die Abarbeitung des Sprachenportraits erfolgt überwiegend eigeninitiativ durch die Erzählerin. Die deutsche Sprache wird mit Selbstverständlichkeit zur Verortung in Kopfgegend als Muttersprache kategorisiert. Für das Englische zeigt Frau L. an, dass sie kaum noch über aktive Sprachkompetenz verfügt, eher sind Konfrontationen mit dem Englischen in ihrer Lebenswirklichkeit mit negativen Bewertungen über die Anstrengung verbunden. Die Analyse von agency zeigt einerseits, dass das Erlernen der englischen Sprache als erste schulische Fremdsprache als unabwendbare Pflicht wahrgenommen wurde und wird. Andererseits macht Frau L. die historischen Umstände des Zweiten Weltkriegs für die Kompetenzausprägung verantwort-
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lich und beruft sich auf die zeitgeschichtliche Unmöglichkeit einer adäquaten Fremdsprachenausbildung. Auch für das Erlernen der von ihr geschätzten lateinische Sprache macht Frau L. die Fähigkeit der Lehrperson verantwortlich, hier zeigt sich an der Art der Her- und Darstellung, dass erzähltes und erzählendes Ich in ihrer Bewertung kongruent sind. Im Gespräch wird implizit deutlich, dass für das Französische kaum Sprachkompetenzen bei der Erzählerin vorliegen. Auch hier sind es lebensgeschichtliche Umstände, beispielsweise die Ausbombung der Schule, die den Ausbau der Fähigkeit verhindert haben. Die positive affektive Bewertung der französischen Sprache entsteht insbesondere durch eine intersubjektive Aushandlung der Sprecherinnen zur Verortung im Sprachenportrait. So ist die situative Kategorisierung des Französischen als schöne Sprache in erster Linie als Rechtfertigung gegenüber der Interviewerin ko-konstruiert. Russisch und Bulgarisch werden mit Aufenthalten verknüpft, konkrete Angaben zur Kompetenz werden nicht gemacht. In den verschiedenen Darstellungen ihres Aufwachsens, der zuweilen schwierigen Kindheit, den gesellschaftlichen Zuständen und Umbrüchen manifestiert sich Frau L.s Blick auf ihr Gewordensein. Frau L. versteht sich als Betroffene der Umstände, es sind vorwiegend Widerfahrnisse, die dann allerdings selbstgesteuertes Verhalten zur Überwindung der Notsituationen nach sich ziehen. Frau L. hat sich die Verhältnisse zunutze gemacht und wirkt trotz der Widrigkeiten als Handlungsinstanz ihrer Geschichte. Einzig hinsichtlich der Konstruktion von Sprachidentität ist ihre Agentivität eingeschränkt. Die hugenottische Sprachidentität von Frau L. findet ihr Konstruktionsfeld in den Unabwendbarkeiten ihrer Biographie, die der französischen Sprache kaum Platz einräumen konnte. Im Zuge der Erfahrungsorganisation zeigt die stete Suche nach einem Ursache-Wirkungs-Prinzip sowohl der Bewertungen als auch der Kompetenzen, dass Frau L. das kohärente Gefühl ihres Selbst gerade durch die Bearbeitung heterogener Lebensumstände gewinnt. Dass französische Sprache und hugenottische Herkunft für Frau L. nicht zusammengehören, erlaubt eine kohärente Darlegung des Verhältnisses zum Französischen, insbesondere zum nicht erfolgten Ausbau ihrer Fremdsprachenkenntnisse.
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4.7 „DAS HIER WEIL MIT SPRACHEN, DAS IS NICH SO MEIN DING.“9 Abbildung 12: Sprachenportrait Herr O.
Herr O. ist in Leipzig als das jüngste von drei Geschwistern geboren, aufgewachsen und lebt auch heute mit seiner Familie in der sächsischen Stadt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er Ende 40. Herr O. ist ein aktives Mitglied der reformierten Gemeinde Leipzig, bekleidet dort seit vielen Jahren ein Amt und nimmt regelmäßig an Veranstaltungen und Gottesdiensten teil. Das Gespräch kommt über die Vermittlung der Leipziger Gemeinde zustande und wird in dem Wohnzimmer der Familie aufgezeichnet. Es soll knapp 40 Minuten dauern. Schon während der telefonischen Absprache ist Herr O. nicht von seiner Auskunftsfähigkeit überzeugt, lässt sich aber dennoch auf das Interview ein und auch die digitale Aufzeichnung bereitet ihm keine Probleme. Die Aufgabe des Zeichnens erfüllt Herr O. mühelos und beginnt vor der Aufzeichnung zu sprechen. Die Verortung der russischen Sprache wird erst während des Gesprächs vollzogen.
9
Transkript 7, Herr O., 37 Minuten
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(1) 13-10-2011_HerrO [00:00:00-00:00:53] 0001 0002 0003 0004 0005 0006 0007 0008 0009 0010 0011 0012 0013 0014 0015 0016 0017 0018 0019 0020 0021 0022 0023 0024 0025 0026 0027
I ((Blätterrascheln)) äh das is relativ EINfach ham sie gesagt, O (.) das hier weil mit SPRAchen; das IS nich so mein ding. [(--) is NICH so viel; ] I [(--) okay;] (--) aber da ham wir zuMINdest, ah SÄCHsisch ham sie aufgeführt; O (.) ja:;=weiß ich nu nich ob man_s unbedingt als SPRAche aber; I HM_hm, O ja; I (-) ° h können sie mir erklären warum sie (.) das genau dort und dort HINgemalt haben, O ja;=deutsch is meine muttersprache und das is das was mir am HERzen liegt, und englisch brauch ich für_n beRUF; also inSOfern deswegen is das im kopf; I ENGlisch brauchen sie für den beruf. [da ] O [HM_hm, ] I sind sie JEden tag mit konfrontiert, O ja;=mehr oder WEniger; zwar nur im LEsenden sinne, nich im geSPROchenen, weil (.) ich häufig dokumentationen und und TEXte lesen muss die in englisch sind; I HM_hm, (-) und das SÄCHsische, das RAHMT äh das deutsche ein. O ja–=das IS sozusagen; ((haut mit der Hand auf seinen Schenkel)) (1.3) ° hh hh° also für_s hochdeutsche muss ich mir MÜhe geben, das SÄCHsische das kommt von alleine;=ja.
Die erste Sequenz ist der Erläuterung des Sprachenportraits gewidmet. Die direkte Redewiedergabe „das is relativ einfach“ (0001) durch die Hörerin verweist auf eine Äußerung des Erzählers während des Zeichnens. Die Bewertung „relativ einfach“ (0001) wird von Herrn O. durch die explizite Kategorisierung seiner Fähigkeit und seines Interesses „weil mit Sprachen, das is nich so mein Ding“ (0002) begründet. Die Erweiterung „is nich so viel“ (0003) verstärkt die selbstpositionierende Einschätzung und legt den Rahmen für die weitere Interaktion fest. Die Unsicherheit über die Benennung von Dialekten (0007) wird durch die metanarrative Anzeige von Nichtwissen „weiß ich nu nich“ (0007) gerahmt. Der negierte Matrixsatz kann als Reparaturinitiierung gesehen werden, die nach der adversativen Konjunktion abgebrochen wird und so die eigentliche Aussage umgeht. Nach der Aufforderung um Erläuterung durch die Hörerin (0010) kategorisiert Herr O. die deutsche Sprache als „Muttersprache“ (0011) und plausibilisiert die Verortung „am Herzen“ (0011) mithilfe eines invertierten Spaltsatzes („das is das, was“, 0011), der so durch die Thematisierung eine höhere emphatische Funktion aufweist. Für die englische Sprache wird das Anwendungsgebiet „Beruf “ (0012) als Begründung für die Verortung
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in der Kopfgegend gewählt (0013). Nach der äußerungsbestätigenden Wiederholung der Aussage durch die Hörerin (0014) und ihrer Frage nach der täglichen Konfrontation mit der englischen Sprache (0017) schränkt Herr O. die Art der Anwendung des Englischen in seinem Berufsleben ein, indem er ein abgewandeltes Reparaturschema mit Fokuspartikel („nur“, 0019) anwendet. Die selbstpositionierende Struktur „zwar nur im lesenden Sinne, nich im gesprochenen“ (0019) zeigt auch fremdpositionierend durch die Negation eine bei der Hörerin vermutete Annahme, es handle sich um eine ganzheitliche, also Lesen und Sprechen umfassende Sprachkompetenz, die mit der vorangegangenen Äußerung (0012) bezeichnet wurde. Hier legt Herr O. im Zuge des Adressatenzuschnitts den common ground fest und begründet durch die folgende argumentative Passage (0020) die Fokussierung auf die Lesekompetenz. Die dann von der Interviewerin übernommene Erläuterung des Sprachenportraits (0021/0022) enthält bezüglich des Sächsischen zwar keine Frage, wird aber vom Gegenüber als solche behandelt. Hier dominiert die Problematik in der Formulierungsarbeit, die sich an dem Vagheitsmarkierer „sozusagen“ (0023), dem abgebrochenen Erklärungsversuch (0023), dem Ausweichen auf nonverbales Verhalten (0024) und der Verzögerung (0025) zeigt. Als Veranschaulichungsmöglichkeit seines Emotionsausdrucks inszeniert Herr O. mittels einer Geste (0024) die affektive Verbindung zum Sächsischen. Zur Erklärung der Geste kontrastiert Herr O. nach einer langen Pause (0025) die Kategorisierung für das „Hochdeutsche“ (0026), das ihm mehr Mühe abverlangt (0026), und „das Sächsische“, das „von alleine“ (0027) kommt. Die Kontrastierung gewinnt durch die syntaktische Parallelität, insbesondere die Fokussierung durch Linksherausstellung (0027) des positiv bewerteten Sächsischen und das bestätigende Abschlusssignal „ja“ (0027) wesentlich mehr Gewicht. Herr O. erzählt vom schulischen Lernprozess, von ausgefallenen Englischstunden und dem Nutzen der Fremdsprachen für sein Berufsleben. (2) 13-10-2011_HerrO [00:02:19-00:03:11] 0074 0075 0076 0077 0078 0079 0080 0081 0082 0083 0084 0085 0086 0087 0088
I als äh als schulsprache gab es nur da NUR englisch, [als ] O [ja; ] I ERSte fremdsprache; O nee;=als ZWEIte. erste fremdsprache war RUSsisch, I ah OKAY, O ganz klar aber das is das war nach der zehnten klasse schon wieder DRAUßen; [hab ich ° h das hab ich JA;=das hab ich ] I [dis muss nich mal mit AUFgemalt werden; ] O hab ich I ah JA, O erFOLGreich verdrängt, I ja; O wenn man was verdrängt hat dann isses irgendwo ganz UNten;=ne, I HM_hm, ja;
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 231 0089 0090 0091 0092 0093 0094 0095 0096 0097 0098 0099 0100 0101 0102
O dis STIMMT, russisch MUSSte ich lernen, ((vervollständigt das Sprachenportrait)) I ja;=da mussten ja VIEle durch; O tja; (.) und äh die zweite fremdsprache die eben FAkultativ war; gab_s ja zwei MÖGlichkeiten in der regel, (-) englisch oder franZÖsisch, I HM_hm, O und bei uns an der an der schule WAR gar kein französischlehrer; also (-) gab_s nur ENGlisch; I (-) WAR das für sie ne äh– O ich hätte DAmals lieber französisch gemacht, I (.) waRUM, O hm !WEI:L! ich ja_n französischen namen habe; im NACHhinein war_s klug und weise;
Die Frage der Interviewerin, ob „nur Englisch“ (0074) als schulische Fremdsprache angeboten wurde, bejaht Herr O. zunächst (0076). Erst die präzisere Nachfrage „als erste Fremdsprache“ (0077) aktiviert durch die Negation „nee, als zweite“ (0078) den Erinnerungsmechanismus des Erzählers hinsichtlich der schulischen Sprachenfolge, die auch Russisch beinhaltete (0078). Die Modalisierung als Selbstverständlichkeit „ganz klar“ (0080) zeigt vor allem, dass Herr O. geteiltes Wissen zwischen den Interagierenden über den unumgänglichen Russischunterricht in der DDR voraussetzt. Außerdem markiert die Fortführung, eingeleitet mit konzessiv-adversativer Konjunktion (0080), sowohl Einschränkung als auch Negation der antizipierten Erwartung der Hörerin, dass hier aktive Sprachkompetenz vorliegt. Der Erzähler positioniert sich in der erzählten und in der Erzählwelt mithilfe eines somatischen Bildes in Distanz zur russischen Sprache („das is das war nach der zehnten Klasse schon wieder draußen“, 0080). Die folgende TCU (0081) ist in ihrer syntaktischen Struktur von der Suchbewegung auf dem Sprachenportrait geprägt. Komik und Erstaunen über das Fehlen der russischen Sprache im Sprachenportrait wird durch die prosodische Markierung („ver!GES!sen“, 0083) evident. Die starke Akzentuierung und das Lachen in der Aussage „das hab ich völlig vergessen“ (0083) zeugen auch von der Verdrängung des Russischen, die der Erzähler dann explizit macht und mit einer subjektiven Theorie unterlegt (0085-0087). Im Zuge einer kategorischen Formulierung zu den Folgen eines Verdrängungsprozesses, erkennbar an dem generalisierenden Pronomen „man“ (0087), in der „wenn-dann“-Konstruktion und der Rückversicherungspartikel „ne“ (0087), die die Zustimmung der Hörerin verlangt, verortet Herr O. das Russische in Fußnähe „ganz unten“ (0087). Im Hinblick auf agency offenbart das Modalverb „musste“ (0089), dass das erzählende Ich den Lernprozess als unabwendbare Vorgabe auch im Hier und Jetzt als Zwang empfindet und sich emotional in die Perspektive des erzählten Ich versetzt. Das Versetzen in die damalige Wahrnehmungsperspektive ist zwar nicht explizit belegbar, kann aber anhand des Gesprächsverlaufs angenommen werden. Die Erklärinteraktion zum
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Sprachangebot (0092-0094) zeigt dann ein Muster der Eigentheorie, das relativ unerwartet offenbart wird. Als zweite fakultative Fremdsprache musste Herr O. Englisch wählen, denn „an der Schule war gar kein Französischlehrer“ (0096). Die Handlungsmöglichkeit war daher beschränkt, die Konsequenz wird als logischer Schluss alternativlos präsentiert (0097). Die Positionierung des erzählten Ich in der erzählten Welt ist durch Konjunktiv II und die deiktische Angabe „damals“ (0099), insbesondere ihrer prosodischen Markierung, als Vorläufer auf eine Perspektivänderung zu verstehen. Die Begründung der Aussage, dass der Erzähler zu Schulzeiten „lieber Französisch gemacht“ (0099) hätte, steht in Zusammenhang mit seinem französischen Nachnamen (0101). Was hier mit Selbstverständlichkeit modalisiert wird („ja“, 0101), ist keineswegs erwartbar gewesen. Die zunächst inkohärent wirkende Darstellung, in der Herr O. sich bisher als uninteressiert an der französischen Sprache und dem Zusammenhang mit seiner hugenottischen Herkunft gezeigt hat und plötzlich die gefühlte Verbindung zwischen Sprache und Abstammung evident macht, wird erst in der folgenden, den aktuellen Gesprächszeitpunkt betreffenden TCU („im Nachhinein war’s klug und weise“ (0102) aufgelöst. Sie verleiht vorherigen Aussagen und dem bei der Hörerin erweckten Eindruck Stringenz, da die retrospektive Bewertung die bisher konstruierte Selbstpositionierung stützt. Herr O. spricht von seiner Einschätzung, dass die französische Sprache schwerer zu lernen sei als die englische Sprache, spricht von seiner Tochter und vom Vorteil, aktive englische Sprachkompetenz vorweisen zu können. Die folgende Sequenz ist den ersten Erlebnissen des Erzählers, die im Zusammenhang mit seiner Herkunft stehen, gewidmet. Hier geht Herr O. zunächst auf die Besonderheit seines Nachnamens ein, der ihm zu Schulzeiten die Andersartigkeit seiner Familie gezeigt hat. Nach der Frage, wer die Vermittlungsarbeit in der Familie übernommen hat, erzählt Herr O. von seinem Vater. Dessen Verschlossenheit führte dazu, dass die Mutter von Herrn O. ihn über seine Herkunft aufgeklärt hatte. (3) 13-10-2011_HerrO [00:05:58-00:06:21] 0187 0188 0189 0190 0191 0192 0193 0194
O (.) waren sie so interessiert oder sind das en passant nebenbei äh erZÄHlungen gewesen; (1.98) I hat sich das vielleicht über die geMEINde ergeben; O (---) ° h hm: (---) nee,=das hat mich dann SCHON interes siert, ° h also so_n BISSchen geschichte hat mich schon immer interessiert, I HM_hm, O ((räuspert sich)) (--) und dann WENN man eben so_n ausländischen namen hat–=ja; möchte man schon wissen (-) wo_s HERkommt,
Dieser Ausschnitt gibt näheren Aufschluss über die Handlungsinitiative des Erzählers, seine Kenntnisse über die eigene Herkunft auszubauen. Die Frage der Hörerin
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(0187) zielt auf eine Selbstpositionierung des Gegenübers hinsichtlich seiner aktiven Informationsbeschaffung ab. Da der Erzähler zunächst nicht antwortet (0188), bietet die Hörerin ihm eine Möglichkeit aus der Kenntnis seiner damaligen Lebenswirklichkeit an (0189). Pausen und Häsitationsphänomene (0190) zeugen hier wahlweise von der Schwierigkeit im Erinnerungsprozess oder von einer Formulierungsproblematik. Die Negation der hörerinnenseitigen Annahme, das Interesse sei durch die Gemeinde gefördert worden, ist als Ausdruck für die selbstkategorisierende Eigeninitiative zu verstehen (0190). Hier positioniert der Erzähler das erzählte Ich als interessiert, wobei die Modalpartikel „schon“ (0190) als Zugeständnisindikator ein „aber“ projizieren kann, das hier jedoch nicht folgt. Dafür geht der Erzähler kategorisierend auf sein generelles, zeitüberdauerndes („schon immer“, 0191) geschichtliches Interesse (0191) ein, das er allerdings, erkennbar an der prosodisch hervorgehobenen Struktur „so’n bisschen“ (0191), abschwächt. Die konditionale „wenndann“-Konstruktion zum interessefördenden Nachnamen (0193/0194) erfolgt nun mit generalisierendem Pronomen „man“ (0193) und hat so einen höheren explikativen Abstraktionsgrad. Die Modalpartikeln „eben“ (0193) und „schon“ (0194) verstärken die Aussage, nach der der „ausländische[ ] Name[ ]“ (0193) automatisch ein Interesse generiert (0194), und verleihen der Annahme eine fatalistische und unwiderrufliche Wirkung. Herr O. erzählt von der Gemeindegeschichte, von seiner Familie in und seiner Funktion für die Gemeinde. (4) 13-10-2011_HerrO [00:07:00-00:07:22] 0214 0215 0216 0217 0218 0219 0220 0221 0222 0223
O und da is natürlich ooch äh in der in der ooch in der jungen geMEINde kriegt man das dann mit; also ooch der PFARrer weiß das ja; (-) wo seine schäfchen HERkommen– und da KRIEGT man das dann schon mit; dass man eben diese ° h diese hugenottischen wurzeln HAT; ja und dann hat man schon mal versucht da hinterHER zu fragen; ° h aber was geNAUes konnte einem da ooch niemand erzählen; I hm_HM, O (-) und aus dem WAS ich erfahren habe vermute ich auch eher, (---) dass es zwar hugenotten WAren; aber der grund weshalb die nach deutschland kim ݫkamen eher WIRTschaftliche gründe waren;
Der Erzähler zeigt bezüglich der Genese seines hugenottischen Bewusstseins, dass sein erzähltes Ich nur über wenig autonomes Handlungspotential verfügt. Er konstruiert vorrangig mittels Wortwahl eine Wahrnehmung der Vermittlung als Widerfahrnis. Das erzählte Ich ist hier eher passiver Aktant seiner Geschichte, die zwangsläufig Teil seiner Lebenswirklichkeit wurde. In dieser Passage dominiert daher die
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generalisierende Darstellung durch das Indefinitpronomen „man“ (0214-0219), die gemeinsam mit modalisiernenden Indikatoren wie „natürlich“ (0214), „ja“ (0214), „schon“ (0217) und „eben“ (0218) den Normalitäts- und Selbstverständlichkeitsanspruch in den Aussagen zur unabwendbaren Konfrontation mit der hugenottischen Abstammung durch die Gemeindezugehörigkeit („und da kriegt man das dann schon mit“, 0217) verstärkt. Zudem kommen Distanzierungsmaßnahmen zur eigenen Handlungmöglichkeit zum Tragen. So wird der Pfarrer, der weiß, „wo seine Schäfchen herkommen“ (0216), als Referenz für die Vermittlung eingesetzt. Fast vorwurfsvoll erscheint die ernüchternde Bilanz der Nachfragebemühungen „aber was Genaues konnte einem da ooch niemand erzählen“ (0220). Die Abgabe der Verantwortung auf andere, die dem erzählten Ich Wissen hätten liefern können, ist wiederum als entlastendes Moment in der Konstruktion eines hugenottischen Bewusstseins zu verstehen. Die darauf folgende TCU bestätigt den Eindruck insofern, als die wirtschaftlichen Einwanderungsgründe seiner Vorfahren ein Motiv für die Distanz des Erzählers sein können – immerhin wird hier keine religiöse Fluchtgeschichte eröffnet, die eine ausgeprägtere empathische Haltung zur Folge haben könnte. Das erzählende Ich bewertet implizit die Relevanz der Familiengeschichte, indem er ihren Hugenottenstatus durch eine „zwar-aber“-Konstruktion, die dennoch als Vermutung dargestellt wird (0222), relativiert („dass es zwar Hugenotten waren, aber […]“, 0223) und sich so distanziert positonieren kann. Herr O. erzählt dann vom Ahnenpass der Familie. Diese Besonderheit der lückenlosen Auflistung von Familienmitgliedern bietet Anlass zur Klärung seiner emotionalen Beteiligung. Auf die Frage, ob es ihm besonders interessant erscheint, dass er keine herkömmliche Familiengeschichte vorweisen kann, antwortet der Erzähler: (5) 13-10-2011_HerrO [00:08:28-00:09:19] 0250 0251 0252 0253 0254 0255 0256 0257 0258 0259 0260 0261 0262 0263
O nein;=weil ich mal davon ausgehe dass es in deutschland VIEle familien gibt; die also man redet ja heute viel über bürger mit migratiONShintergrund; aber ich glaube wenn man geNAU nachguckt; wird man in VIElen stammbäumen merken; dass die alle irgendwann mal irgendwie irgendwo mal ZUgewandert sind. bei manchen isses HUNdert jahre her– bei manchen isses vielleicht dreihundert oder FÜNFhundert jahre her; I HM_hm– (1.1) was [verbir] ݫ O [also ] I was verBINden sie denn dann heute noch mit dem begriff hugenotte; (1.68) O also eigentlich NUR dass ich äh reformiert bin. (.) das ansonsten hat das für mich KEInehab ich dazu (.) keine innere (---) äh beZIEhung;
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also ich weiß dass die hugenotten in frankreich stark unterDRÜCKT (--)worden sind, und dass das für die dort ne GANZ tragische zeit war, dass es für deutschland zum teil n segen war dass_se HERgekommen sind, weil die viel (-) äh kaufmännisches und handwerkliches knowHOW mitgebracht haben, aber ansonsten hab ich dazu (--) jetz zu dem hugeNOTtesein als solches äh keine beziehung.
Auf die Zurückweisung der Annahme der Hörerin, dass die Familiengeschichte besonders interessant ist („nein“, 0250), wird vom erzählenden Ich argumentativ ein komplexes Deutungsmuster zur Normalität einer Migrationsgesellschaft eröffnet, das den Nachvollzug bisheriger Passagen intersubjektiv erleichtert. Der Erzähler entfaltet zunächst eine durch verbum putandi (0250) subjektiv konstruierte Behauptung zu Familien in Deutschland, die noch vor Abschluss der Prämisse eine explikative Nebenlinie erfordert (0251). Diese Nebenlinie wird als Objektivierungsverfahren der Argumentation eingesetzt, da hier mit dem allgemeingültigkeit erwirkenden Pronomen „man“ (0251) ein gesellschaftlicher Diskurs („Bürger mit Migrationshintergrund“, 0251) herangezogen wird, der im Zuge des shared knowledge weitgehende Erläuterungen vermeidet. Die adversative Konjunktion „aber“ (0252) zeigt dann, dass der Erzähler dem Diskurs „Bürger mit Migrationshintergrund“ (0251) die Tatsache entgegenstellt, dass „alle irgendwann mal irgendwie irgendwo mal zugewandert sind“ (0254). Die Formulierung wird durch die Unschärfemarkierungen „irgendwie irgendwo mal irgendwann“ (0254) als nur ungefähr passend modalisiert. So kann das erzählende Ich sich positionieren, ohne verlässliche Daten angeben zu müssen, und konstruiert eine kohärente Darstellung seiner emotionalen Beteiligung. Dieser Beweisführung folgend, steht die Frage nach der Verbindung mit dem Begriff „Hugenotte“ 0259) durch die Interviewerin. Die lange Pause (0260) zeugt von einer überdachten Antwort. Die Kategorisierung der Bedeutung durch die Äußerung „eigentlich nur, dass ich reformiert bin“ (0261) zeigt durch die Verwendung des epistemischen Adverbs „eigentlich“ (0261), das mit „im Grunde genommen“ paraphrasiert werden kann, einerseits eine hier zum Ausdruck kommende grundsätzliche Haltung des Erzählers, und andererseits durch die abschwächende Partikel „nur“ (0261) die Ausschließlichkeit der gefühlten Verbindung zum Hugenottesein. Zur Intensivierung der Aussage trägt der Erzähler eine weitere Kategorisierung nach (0262/0263), die die Ausschließlichkeit des Reformiertseins durch die hugenottische Abstammung betrifft. Die subjektiv konstruierte Schlussformulierung („für mich“, 0263) zeigt trotz fehlender Markierung, aber durch Kongruenz zu vorherigen vergangenheitsbezogenenen Äußerungen, dass sich diese „innere“ (0263) Haltung zur Familiengeschichte sowohl auf erzähltes wie erzählendes Ich bezieht. Mit der redeeinleitenden Partikel „also“ (0264) macht Herr O. deutlich, dass seine Argumentation noch nicht abgeschlossen ist. Die Vermittlung des Wissensbestandes („ich weiß“
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0264) erfolgt durch Listenbildung (0264-0267) und wird mit einer abgewandelten Wiederholung der TCU zur „innere[n] Beziehung“ (0263) geschlossen (0263). An dieser Stelle zeigt er also durch ein Selbstpositionierungsverfahren, das seinen Kenntnisstand betrifft, wie er sich verstanden wissen will. Die Bedeutung seiner Abstammung liegt für den Erzähler trotz historischer Kenntnis, auf die er die Hörerin aktiv aufmerksam macht, ausnahmslos bei der religiösen Zugehörigkeit. Darauf spricht der Erzähler noch einmal von der Gemeinde, die sich über die Jahre stark gewandelt hat, über frühere Zeiten, zweisprachige Gottesdienste und die Unerlässlichkeit, der Vergangenheit nicht hinterherzutrauern. Ein Impuls für die Beschäftigung mit dem Reformiertsein kommt aus der Zeit seines Grundwehrdienstes als Bausoldat, eine Möglichkeit für DDR-Bürger, den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern. (6) 13-10-2011_HerrO [00:12:28-00:12:50] 0343 0344 0345 0346 0347 0348 0349 0350 0351 0352 0353 0354
O (.) und das war natürlich auch_n BUNT gemischter haufen, vom vom katholiken über_n normalen lutheraner bis über_n methodisten und (.) BAPtisten und all–ݫ das ging ja (.) quer durch alle religiONSgemeinschaften; I HM_hm, O ° h und da: war_s natürlich schon interesSANT; hm reforMIERT was heißt denn, da hat man sich SELber erstmal damit beschäftigt– was IS denn das, was is denn da anders als bei UNS, I (.) da sind auch SIE [(mehr an das reformiertsein)– ] O [ja;=da HAT man sich mit ja– ] ja;=da hat man sich mit dem thema erstmal mehr beSCHÄFtigt.
In dieser Passage zeigt sich, dass die Konfrontation mit anderen Menschen, insbesondere die Aushandlung von Alterität in der Gruppe, zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein führt. Obwohl der Erzähler durch Modalisierung („natürlich“, 0343) verdeutlicht, dass intersubjektiv geteiltes Wissen über die Mischung von Konfessionsangehörigkeiten beim Grundwehrdienst ohne Waffe bestehen müsste, geht er auf die einzelnen „Religionsgemeinschaften“ (0345) noch einmal ein (0344/0345). Die Bewertung „und da war’s natürlich schon interessant“ (0347) wird als Zugeständnis formuliert, wobei die Modalpartikel „schon“ (0347) zwar die Unbestrittenheit markiert, aber auch ausdrückt, dass dieser Aspekt im größeren Kontext nicht so entscheidend ist. Das erzählende Ich alterniert dann in den Perspektiven, re-inszenierend die frühere Wahrnehmungsperspektive und gibt mit der uneingeleiteten Redewiedergabe „hm reformiert was heißt denn“ (0348) einen kleinen Ausschnitt der Überlegungen aus der Figurenwelt preis. Das erzählende Ich wechselt daraufhin wieder in die aktuelle Gesprächssituation, bewertet retrospektiv die Folgen der Konfrontation (0349), um dann ein weiteres Mal die deiktische Erlebnisperspektive zu reaktualisieren („da“, „uns“, 0350) und mit direkter Redewiedergabe der Fragen („als
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bei uns?“, 0350) die Auseinandersetzung zu präzisieren. Auffällig sind erneut die pronominal realisierten Distanzierungsmaßnahmen („man“, 0349, 0353, 0354), die jedoch auch als generalisierende Indefinitpronomina gelten und sich auf die Diskussionsgruppe beziehen können. Herr O. erzählt von seinen wesentlich älteren Geschwistern und von ihrem Umgang mit der hugenottischen Abstammung, der sich von seinem nicht so sehr unterscheidet. Er spricht von der vermuteten Sprachenaffinität seiner Schwester, die sich allerdings nicht auf das Französische bezog. Im Folgenden geht es um den Umgang des Erzählers mit anderen Hugenottennachfahren. Auf die Frage, ob Herr O. Menschen mit französischem Namen auf ihre mögliche gemeinsame Herkunft anspricht, erzählt er von Arbeitskollegen. (7) 13-10-2011_HerrO [00:15:50-00:16:37] 0449 0450
0451 0452 0453 0454 0455 0456 0457 0458 0459
O das KOmische is, (.)ich hab ja auf arbeit zwei arbeitskollegen die (---)hugenottische VORfahren haben; (--) die ham aber hm: mit (1.3) also mit der kirche allgeMEIN und mit hugenotten ansonsten (--) überhaupt nichts am hut, I hm_HM, O aber (--) aus denen kommt das weche ݫwesentlich eher und LEICHter heraus; die sind wesentlich STOLzer auf ihre hugenottischen vorfahren, obwohl sie mit ihrer vergangenheit ° hh also zumindest mit ihrer KIRCHlichen vergangenheit total gebrochen haben, (-) aber [die ] I [hm– ] O hängen das wesentlich MEHR raus;=ja, ansonsten ich NICH;=nee–
Die Antwort wird mit einer metakommunikativen Rahmung „das Komische is“ (0449) begonnen und ist als vorgreifende Verdeutlichung, als Interpretationsanweisung für die Hörerin zu verstehen. Die Präambel generiert spannungserzeugend eine Folgeerwartung und kündigt die sprecherseitige Bewertung des Zustandes an, der dann geschildert wird. Herr O. führt zunächst das Setting mit der Informationsgabe zu Ort („auf Arbeit“, 0449) und handelnden Personen („zwei Arbeitskollegen“, 0449) an. Die Kategorisierung der Kollegen, „die hugenottische Vorfahren“ (0449), aber mit der Abstammung oder der Kirche „überhaupt nichts am Hut“ (0450) haben, dient hier durch Kontrastierung mit der eigenen Geschichte als Positionierung. Insbesondere die vergleichende Bilanz, die durch den adversativen Anschluss (0452) als ungewöhnlich bis inkohärent markiert wird, steht als Selbstpositionierung im Fokus der Darstellung. Die Proform „das“ (0452) verweist katadeiktisch auf den noch näher zu spezifizierenden Aspekt, der „wesentlich eher und leichter“ (0452) von den Kollegen präsentiert wird. Herr O. löst die projizierte Erwartung ein und benennt
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mit „die sind wesentlich stolzer“ (0453) das, was im Kontrast zu ihm steht. Die Verwendung des Komparativ (0452/0453) zeigt hier deutlich, wie Identität und Alterität im Kommunikationsakt durch die Kategorisierung der Kollegen ausgehandelt werden. Sie fremdpositionieren durch ihre dargestellte Haltung den Erzähler. Zudem wirkt die Präambel (0449), als hätte die Frage der Interviewerin eine erkenntnisgenerierende Konstruktion zur Folge gehabt und so in actu die selbstbezügliche Aussage erwirkt. Der nachgeschobene Konzessivsatz (0454) offenbart dann, dass „das Komische“ (0445) für Herrn O. im Bruch mit der Kirche bei gleichzeitig offenbartem hugenottischen Bewusstsein liegt (0454). Die gefühlte Verbindung von hugenottischem Bewusstsein oder Stolz und der Kirche scheint in dieser Äußerung im Gegensatz zu vorangegangenen evident. Herr O. erzählt von seinen Kollegen und vom Konfirmandenunterricht. Er spricht von den pragmatischen Vorteilen, die sein Nachname mit sich bringt und noch einmal von der Geschichte der reformierten Gemeinde in Sachsen. Als es um die Weitergabe der Familiengeschichte an seine Tochter geht, geht Herr O. ein weiteres Mal auf die Genese seiner Kenntnisse ein. (8) 13-10-2011_HerrO [00:22:04-00:22:26] 0611 0612 0613 0614 0615 0616 0617 0618 0619 0620 0621 0622 0623
I (--) wünschen sie sich da [inteRESse, ] O [nein; ] ähm (1.1) also ich würd_s ihr nich nich verMITteln, (1.0) ich denke es reicht wenn sie weiß wo ihre eltern wo ihre GROSSeltern herkommen; was das für menschen WAren. das reicht um um zu wissen woher komm ich was BIN ich. I HM_hm; O (-) und wenn sie mehr interesse HAT, I (-) HM_hm, O viel mehr kann ich aber ehrlich gesagt wie gesagt AUCH nich erzählen; WEIL ich ja zum beispiel– ich hab ja meine großeltern ähm väterlicherseits überhaupt nich KENnengelernt,
Der Erzähler weist die Frage der Hörerin nach seinem Wunsch zunächst mit der Negationspartikel „nein“ (0613) eindeutig zurück. Häsitationsphänomen und längere Pause (0614) zeugen von der Bemühung, die Zurückweisung näher zu erklären. Die folgende doppelte Negation „nich nich vermitteln“ (0614) ist als gewählte Struktur auffällig, da sie auf der Bedeutungsebene wesentlich mehr Unschärfe markiert als eine Affirmation. Dazu trägt die Verwendung des Konjunktiv II („würd’s“, 0614) als Irrealität ausdrückende Relativierungsmaßnahme zusätzlich bei. Um der umständlichen Formulierung die Vagheit zu nehmen, baut Herr O. eine explizierende Eigentheorie aus. Nach einer längeren Pause führt das erzählende Ich also die als subjektiv gekennzeichnete („ich denke“, 0615) und zunächst auf die Tochter ge-
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münzte reflexive Selbstcharakterisierung an. Dass die Aussage zur ausreichenden Kenntnis über Eltern und Großeltern (0615) nicht nur für die Weiterentwicklung der Tochter gilt, wird in der generalisierenden Äußerung „das reicht um um zu wissen woher komm ich was bin ich“ (0617) durch die fiktive wiedergegebene Rede als allgemeingültige Normformulierung bestätigt. Der Erzähler versetzt sich daraufhin mithilfe einer „wenn-dann“-Konstruktion in das fiktive Szenario, in dem die Tochter „mehr Interesse hat“ (0619). Trotz steigender finaler Tonhöhenbewegung bleibt es bei der Protasis (0619), die Herr O. nicht in der Apodosis auflöst, sondern einem plötzlichen Einfall gleich selbstkategorisierend auf seinen Kenntnisstand eingeht (0621). Die selbstthematisierende Aussage modalisiert der Erzähler durch die Verwendung des Metakommentars „ehrlich gesagt“ (0621), der hier die Funktion der abgemilderten Stellungnahme in einer potentiell gesichtsbedrohenden Aussage erfüllt. Im Zusammenhang mit der darauffolgenden Analyse der Provenienz des Nichtwissens, deutlich erkennbar an der kohärenzzstiftenden Einleitung mit „weil“ (0622), wird auch im Hinblick auf agency deutlich, dass die Gesichtbedrohung durch das Heranziehen eines Verantwortlichen („hab ja meine Großeltern ähm väterlicherseits überhaupt nich kennengelernt“, 0623) sich in dieser scheinbar problematischen Situation abwenden lässt. Im Folgenden geht es um die Mitgliedschaft der Familie in der Gemeinde, um Bräuche und Traditionen. Herr O. erzählt von seiner Vergangenheit und seiner Wandlung zu einem konservativeren Erwachsenen. Er spricht von seiner Gemeindearbeit in DDR-Zeiten, den Strukturen, die sich mittlerweile stark verändert haben, und er spricht vom Schwund der Konfirmanden sowie von der immer kleiner werdenden Gemeinde, in der er sich trotzdem stark engagiert. Die Zusammenfassung durch die Interviewerin bestätigt einmal mehr, dass Herr O. zur französischen Sprache und der Pflege des hugenottischen Erbes kaum eine Verbindung hat. Identitätskonstruktion von Herrn O. Der Gesprächsimpuls des Sprachenportraits legt schon früh den Deutungsrahmen für die Interaktion zwischen Interviewerin und Herrn O. fest. Hier dienen explizite Selbstkategorisierungen als Rahmung, die im Zuge des Adressatenzuschnitts sowohl Missverständnissen vorbeugen als auch Erwartungen an die Gesprächsinhalte markieren. Selbstthematisierende Aussagen zum generell schwierigen Umgang mit Sprachen werden von Herrn O. so eingesetzt, dass Entlastungsmomente noch vor näherer Betrachtung und Nachfragen geschaffen werden. Eine positive emotionale Beteiligung wird hier nur für Deutsch als Muttersprache und das Sächsische explizit verdeutlicht. Für die englische Sprache als zweite schulische Fremdsprache steht bei Herrn O. auch heute aus beruflichen Gründen aktive Lesekompetenz zur Verfügung. Im Hinblick auf das Englische zeigt die Analyse von agency, dass Herr O. die Anwendung im professionellen Bereich pragmatischerweise als unumgänglich ansieht.
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So kommt es zur bedeutungsstiftenden Interpretation der Sprachenwahl des erzählten Ich, die sich aus der Retrospektive als günstig erwiesen hat. Zudem wird durch selbst- und fremdpositionierende Zuschreibungen deutlich, dass Herr O. jedwedes Vorhaben mit seinen Fähigkeiten abgleicht und stets Aufwand und Nutzen einander gegenüberstellt. Diese nützlichkeitsorientierte Denkrichtung ist auch dafür verantwortlich, dass Herr O. erst in der erkenntnisgenerierenden Dynamik des Gesprächs und der daraus resultierenden Vergegenwärtigung die russische Sprache im Sprachenportrait verortet. Als erste schulische Fremdsprache ist das Russische aus der Lebenswirklichkeit von Herrn O. vollständig gewichen. Diese Verdrängungsleistung wird welterklärend mithilfe kategorischer Aussagen verteidigt. Für Herrn O. ist eine Sprache, die er lernen musste und die aber nicht angewendet wird, eine leicht zu vergessende Sprache. Im Zuge der Wahl weiterer schulischer Fremdsprachen offenbart der Erzähler, dass sein außergewöhnlicher Nachname ihn in Richtung der französischen Sprache hätte drängen können, wenn das Angebot überhaupt exisitiert hätte. Die mangelnde Handlungsmöglichkeit bei der Fremdsprachenwahl ist auch in Belangen zur Pflege des hugenottischen Erbes als entlastender Aspekt zu betrachten. So macht Herr O. das Fehlen der Vermittlungsinstanzen zum verantwortlichen Umstand in der Konstruktion seines hugenottischen Selbstverhältnisses. Auch der Aufbau subjektiver Theorien zur Gewöhnlichkeit der Migrationsgesellschaft ist als Motor für die Verteidigung seiner eher losen Verbindung zur Abstammung als genealogisches Phänomen zu sehen. Der Rückgriff auf diese gesellschaftliche Realität erwirkt in ihrer Selbstverständlichkeit eine kohärente Darstellung des Verhältnisses von Herrn O. zu sich und seiner Herkunft. Sowohl im Hinblick auf Kontinuität als Zeitzusammenhang als auch auf Kohärenz als psychische Einheit zeugt das Gespräch mit Herrn O. gleichsam von dem Bestreben und der Fähigkeit, Deckungsgleichheit von vergangenem und gegenwärtigem Ich darzustellen. Als Handlungsfelder der Identitätsbildung des Herrn O. dienen die Zugehörigkeit zur Gemeinde, Religiosität als Lebenswirklichkeit sowie die berufliche Verwirklichung – Faktoren, die für das Selbstverhältnis des Erzählers unerlässlich sind und auch als solche über selbst- und fremdpositionierende Darstellungsstrategien kenntlich gemacht werden. Das Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinde und religiösen Gruppe der Reformierten wird zusätzlich durch Kontrastierungen verstärkt, die auf Fragen nach der affektiven Bindung zur Herkunft folgen. So ist ein hugenottisches Bewusstsein beim Erzähler im Laufe der Zeit über die Gemeindezugehörigkeit gewachsen, geht damit notgedrungen einher und zeigt sich insbesondere an Passagen, in denen ein generalisierter Anderer oder die Stimme Dritter als fremdpositionierende Aspekte herangezogen werden. In Kohärenz zum eigenen Ausbau des Kenntnisstandes und des hugenottischen Bewusstseins rechtfertigt Herr O. auch seine Vermittlungstätigkeit gegenüber der Tochter und konstruiert ein reflexives Selbst, das dem UrsacheWirkungs-Prinzip ausgeliefert ist. Hier entsteht jedoch kein Dilemma, keine zu synthetisierende Differenz, sondern ein nüchterner Blick auf das Gewordensein.
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4.8 „WIR SIND JA NICH MEHR MIT DER FRANZÖSISCHEN SPRACHE GROേ JEWORDEN, GAR NICH MEHR.“10 Abbildung 13: Sprachenportrait Frau T.
Frau T. kommt aus einem kleinen mecklenburgischen Dorf am nördlichen Rand der Uckermark, ist in der Gegend aufgewachsen, zur Schule gegangen und lebt dort auch heute mit ihrem Mann. Sie war lange in der Landwirtschaft tätig. Frau T. ist zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 70. Das Gespräch findet in einer öffentlichen Einrichtung des Dorfes im Beisein einer Freundin von Frau T. statt. Während des Interviews breitet Frau T. Unterlagen auf dem Tisch aus, die vorrangig als Zeugnisse der hugenottischen Vergangenheit des Dorfes dienen sollen und nach und nach besprochen werden. Frau T. ist seit jeher Mitglied der französisch-reformierten Gemeinde, die sich in der ersten Einwanderungswelle um 1687 gegründet hat. Außerdem ist sie im Bereich der Aufrechterhaltung des hugenottischen Erbes aktiv. Die Impulsaufgabe des Zeichnens scheint zunächst klar, allerdings wird im Laufe der Erläuterung deutlich, dass Frau T. das Sprachenportrait anders verstanden hat.
10 Transkript 8, Frau T., 31 Minuten
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(1) 17-11-2011_FrauT [00:00:03-00:00:38] 0003 0004 0005 0006 0007 0008 0009 0010 0011 0012 0013 0014 0015 0016 0017 0018 0019 0020 0021 0022 0023 0024
T ich würde gerne HÄTte gerne französisch gelernt; und war auch auf der oberschule in ( ), ° hhh [und ] I [hm_HM, ] T bin mit dem französischen nicht zuRECHTgekommen; da hat der franZÖsischlehrer immer zu mir jesacht– sie mit ihrem französischen NAmen; ° h müssten ja geRAde– ich sach ich MÖCHT_S lernen; ich kann es nicht AUSsprechen dieses– ° h dat is mir irgendwie (-) das KANN ich nich; I GING nich;= [nee, ] T [nee; ] I und warum woran LAG [das, ] T [ja;=das ] WEISS ich nich; ich hab noch äh abends nachts mit taschenlampe unter der decke im internat (.) voKAbeln jelernt– nö; (.) ich hab sie einfach nich beHALten;
Die Eröffnungssequenz des Interviews kommt ohne nähere Aufforderung zur Erläuterung des Sprachenportraits aus. Frau T. nutzt ihre Zeichnung als Grundlage, das Gespräch eigeninitiiert zu beginnen. Die turninterne Selbstreparatur „würde gerne hätte gerne“ (0003) mit prosodischer Markierung auf dem korrigierten Element („hätte“, 0003) wird ohne Verzögerung initiiert. Sie eröffnet durch den Tempuswechsel gleichsam einen Perspektivenwechsel von aktueller Erzählzeit zur erzählten Zeit, in der der Lernwunsch des vergangenen Ich bestand. Der durch das Wissen um den Ausgang der Situation gewählte Modus des Konjunktivs zeigt an dieser Stelle, dass es sich um eine nicht realisierte Vorstellung in einer noch nicht spezifizierten Vergangenheit handelt, das Französische zu lernen. Zur Bestätigung dieses Abstracts, das der Hörerin von vornherein das Resultat offenbart, nutzt Frau T. dann die zeitliche Grenzziehung in den biographischen Abschnitt der Schulzeit (0004), in dem sie „mit dem Französischen nicht zurechtgekommen“ (0008) ist. Durch die folgende Re-Inszenierung vergegenwärtigt Frau T. die damalige Situation und aktualisiert mittels Dialogwiedergabe auch für die Hörerin die Erlebnisperspektive. Die Illustration der Kategorisierung (0004) beginnt sie mit verbum dicendi, das den vermutlich gefühlt iterativen Charakter der Auseinandersetzung mit ihrem Französischlehrer darstellt („hat immer zu mir jesacht“, 0009). Die wiedergegebene Aussage in der erzählten Welt „Sie mit Ihrem französischen Namen, Sie müssten ja gerade“ (0010/0011) fremdpositioniert das erzählte Ich durch die Stimme eines Dritten und wird sogleich für die mit verbum dicendi eingeleitete Antwort des erzählten Ich an den Lehrer abgebrochen. Sowohl die Verwendung des Präsens als auch Abbrüche
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(„dieses“, 0013, „dat is mir irgendwie“, 0014) und anklagende Stimmfärbung zeigen hier die affektive Wahrnehmungsperspektive, eine unangenehme Erinnerung, erkennbar an sprachlicher Suchbewegung und dem stimmlich animierten Bedauern um die Unfähigkeit, sich die Sprache anzueignen. Die noch im Präsens realisierte Kategorisierung der Kompetenz „das kann ich nich“ (0014) wird durch den Tempuswechsel in die Erzählzeit überführt („ging nich“, 0015) und trägt so zur Selbstkontinuierung bei. Auf die Frage, woran die Unmöglichkeit des Zugangs zur Sprache lag (0018/0019), folgt zunächst die invertierte, epistemische Unschärfeankündigung „weiß ich nich“ (0021), die durch die finale Tonhöhenbewegung mit Gewissheit modalisiert wird. Sie deutet aber auch auf die Formulierungsarbeit, die hier in actu geschieht und der Suche nach Gründen entlastend zur Seite steht. Die Unschärfeankündigung bewirkt in diesem Fall zudem eine Absicherung vor möglichen Widersprüchen, die durch die Schilderung der Lernbemühungen (0022-0024) von Frau T. entstehen könnten. Immerhin war schon für den Französischlehrer ihre Inkompetenz im Verhältnis zum französischen Nachnamen als Widerspruch, für den es sich zu rechtfertigen gilt, gekennzeichnet worden. Frau T. geht dann noch einmal bedauernd auf ihre Unfähigkeit ein, die französische Sprache zu lernen. Im Folgenden soll das Sprachenportrait weiter besprochen werden. (2) 17-11-2011_FrauT [00:01:45-00:02:13] 0053 0054 0055 0056 0057 0058 0059 0060 0061 0062 0063 0064 0065
I we ݫham sie denn ne ANdere sprache noch [in der schule gelernt englisch russisch, ] T [nee, (-) nee;=wir hatten ] franZÖsisch nur französisch; I ach SO; T und denn wurde ich nachher (--) da RAUSexperimentiert aus der schule– das ging (-) äh kommen sie aus der de: de: ER oder komm ja; (-) ° h weil wir (.) großbauern waren durften nur so und so viel proZENT, I HM_hm, T zu der ZEIT– (--) und da waren drei von uns aus_m dorf die mussten denn RAUS da– und denn ° h hatte sich das erübrigt auch mit meinem franZÖsisch. ° h was mich aber sehr (--) was ich sehr pflege und auch (-) mein sohn noch spricht sehr gut PLATTdeutsch;
Die Antwort auf die Frage der Interviewerin nach anderen schulischen Fremdsprachen wird im turn-taking-Prozess durch simultanes Sprechen realisiert, Frau T. produziert ihren Redebeitrag weit vor der übergangsrelevanten Stelle. Die im VorVorfeld gesetzten Negationspartikel „nee“ (0055) leiten die von den angebotenenen Möglichkeiten („Englisch, Russisch“, 0054) ausgehende Antwort mit Fokuspartikel
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(„nur“, 0056) ein, nach der die französische Sprache als einzige schulische Fremdsprache fungierte. Mithilfe des Rahmenschaltelements „und denn“ (0058) markiert die Erzählerin den nächsten biographischen Abschnitt, der die Zeit nach der Schule betrifft. Hier steigt sie nach anfänglicher Erläuterung („das ging“, 0059) für einen Moment aus der gewählten Erzählebene aus, um im Sinne des Adressatenzuschnitts und unter dem Zwang zur Kondensierung den Wissensbestand der Hörerin abzuklären und intersubjektives Verständnis zu erwirken (0059). In der direkten Adressierung „kommen Sie aus der DDR oder komm ja“ (0059) verweist die äußerungsfinale Zustimmungspartikel „ja“ (0059) auf die nonverbale Antwortgeste der Interviewerin. Die Zuschreibung, der zufolge die Herkunft der Hörerin weitere Erklärungen erübrigt, bleibt aber trotz des Vorbereitungscharakters nahezu folgenlos. Zur Herstellung einer kausalen Relation der frühzeitigen Beendigung ihrer Schulzeit erbringt die Erzählerin eine explizite Kategorisierung ihrer Familie („weil wir Großbauern waren“, 0060), bricht die allgemeingültige Erklärung allerdings nach dem Hilfsverb ab (0060/0062) und geht dann auf die sie betreffende Konsequenz „mussten denn raus da“ (0063) ein. Als Resultat der schulpolitischen Entscheidung wird hier nicht nur der Schulabbruch, sondern im Zuge des thematischen Anschlusses auch die Beendigung der Auseinandersetzung mit der französischen Sprache präsentiert (0064). Ihre Finalität wird zusätzlich über die tief fallende Tonhöhenbewegung am Ende der TCU bestätigt. Diese Hintergrundkonstruktion plausibilisiert nun aus anderer Perspektive, die exogene Faktoren einbezieht, warum die Erzählerin zur französischen Sprache ein eher schwieriges Verhältnis hat. Die thematische Engführung auf das Plattdeutsche (0065) erlaubt der Erzählerin dann, sich von dem potentiell problematischen Verhältnis zur französischen Sprache zu distanzieren, um eine andere Kompetenz anzubieten und in den Vordergrund zu rücken. Die Kategorisierung mit Reparatur „was mich aber sehr, was ich sehr pflege“ (0065) dient als Selbstpositionierungsverfahren der Präsentation anderer Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Erzählerin für das Französische nicht liefern konnte und über bedauernde Stimmfärbung auch markiert hatte. Für das Plattdeutsche liegt demnach sowohl bei der Erzählerin als auch ihrem Sohn aktive Sprachkompetenz vor, die im Sprachenportrait über die grüngefärbten Stellen angezeigt wird. Daraufhin wird im Gespräch deutlich, dass die grüne Farbe für die Sprachen gewählt wurde, die Frau T. sprechen kann oder möchte, während die rote Farbe in Hand- und Herzgegend für die Traditionen steht, die Frau T. heute noch pflegt. Die Aufgabe des Zeichnens wurde eindeutig anders verstanden, sodass die Legende im Nachgang angefertigt wird und dennoch ein etwas unklarer Eindruck des Portraits bestehen bleibt.
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(3) 17-11-2011_FrauT [00:03:11-00:03:37] 0092 0093 0094 0095 0096 0097 0098 0099 0100 0101 0102 0103 0104
I dis is also AUCH französisch; äh dis sind äh wenn man das wenn das jetz die SPRAchen [sein sollen; ] T [ALles von– ] nee;=und DAS nich; DAS is is– I deutsch, T äh (---) die traditiOnen sind das französische; na_JA;=denn auch (.) auch franZÖsisch; wenn sie das SO sehen; I hm_HM, T ähm (-) dass ich die (---) äh wie soll ich das erKLÄren; (--) die traditionen der franzosen noch äh (---) gerne mache MITmache; was ich weiß was DIE mal jemacht haben–
Diese Sequenz zeigt deutlich, dass intersubjektive Aushandlung und KoKonstruktion als Grundmodus des Gesprächs wirken kann. So ist die Hörerin mit der Betrachtung und Deutung des Gezeichneten sichtlich gefordert, erkennbar hier an der mittel fallenden Tonhöhenbewegung (0092), die den Wunsch nach endgültiger Klärung anzeigt, und an Abbrüchen, sprachlicher Suchbewegung („dis sind äh wenn man das wenn das jetz“, 0093) sowie Häsitationsphänomenen (0093). Auch die Erzählerin hat Schwierigkeiten, ihre Intentionen darzustellen (0095/0096) und macht die Formulierungsprobleme mittels Zurückweisung und Wortsuche (0096) sichtbar. Jene Vagheit ihrer Ausführungen zur Portraitgestaltung wird durch Abtönungspartikel (0099) und den Eindruck situativ entstandener Erkenntnisleistung zu den französischen „Traditionen“ (0098) deutlich. Die Aushandlung der Bedeutung des Sprachenportraits gipfelt in der direkten Adressierung „wenn Sie das so sehen“ (0100), mit der die Erzählerin die Verantwortung für die Deutung an die Hörerin letztlich abgibt. Allerdings zeigt Frau T. durch den metakommunikativen Kommentar „wie soll ich das erklären“ (0102), dass sie Interesse an der Präzisierung des Gezeichneten hat und die Deutung so nicht im Raum stehen lassen kann. Frau T. gibt daraufhin kategorisierend Aufschluss über ihre Vorliebe, „die Traditionen der Franzosen noch äh, gerne“ (0103) mitzumachen, rekurriert dabei auf ihre epistemische Autorität (0104). Interessant erscheint hier die Bezeichnung „Franzosen“ (0103), obwohl es sich in der folgenden Ausführung um hugenottische Traditionen handelt. Frau T. spricht dann über hugenottische Traditionen, Küchengeräte, die sie auch heute noch benutzt. Sie spricht über die Ansiedlung der Hugenotten in den umliegenden Dörfern und die Schwierigkeiten, das Land nach dem Dreißigjährigen Krieg urbar zu machen. Auf die Frage, ob die Erzählerin sich an das erste Erlebnis, das sie mit ihrer hugenottischen Herkunft verbindet, erinnern kann, folgen Ausführungen zur Gemeindezugehörigkeit. Aus forschungsethischen Gründen kann dieses Segment hier nicht besprochen werden, da es näheren Aufschluss über die Personen geben kann. Die Verbindung zur hugenottischen Abstammung ist laut der Erzählerin
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in Gottesdiensten und Weihnachtsfeiern zu finden, zu denen sie als Kind von ihrem Großvater mitgenommen wurde. Eine Anekdote über eine missglückte Gedichtrezitation im Kindesalter wird als erste, wenn auch unangenehme Erinnerung präsentiert. Dann folgen Überlegungen zu einzelnen Familienmitgliedern. (4) 17-11-2011_FrauT [00:06:03-00:06:42] 0164 0165 0166 0167 0168 0169 0170 0171 0172 0173 0174 0175 0176 0177 0178
T und so äh ja: (-) meine mutti war ja nun KEIne ° h äh hugenottin; mein vati wurde dann solDAT– da war ich (-) fünf oder sechs wie er FIEL– I HM_hm, T und war vorher schon soldat so dass ich da (--) mehr an meinen GROSSvater erinnerungen hab; der hat HAT uns denn so (---) aber– ° hh h° da wir wir so viel (.) arbeit hatten und zu TUN hatten; war ° hh zu damaliger zeit nich SO viel zeit um– und man war ja auch (---) als junger mensch da GAR nich so interessiert; jetzt wo man ÄLter ist; [da ] I [ja– ] T da möchte man das alles WISsen und– da sind nämlich nich mehr viele da die da (.) drüber erZÄHlen können;
Frau T. führt die Sequenz zu ihren Erinnerungen auch an den familiären Umgang mit der hugenottischen Herkunft eigeninitiativ weiter aus. Als gesprächsorganisierendes Fortsetzungsignal dient hier die Etcetera-Formulierung „und so“ (0164), die um ein gedehntes „äh ja“ (0164) erweitert wird und so die anhaltende Redebereitschaft anzeigt. Um ihren Kenntnisstand zu plausibilisieren und die ersten Erinnerungen an die hugenottische Herkunft zu rechtfertigen, baut die Erzählerin nun eine kurze Hintergrundkonstruktion aus (0164-0168). Die Kategorisierung der Mutter („war ja nun keine äh Hugenottin“, 0164) wird erst im Zusammenhang mit der Beschreibung des Vaters, der als Soldat dem Krieg zum Opfer fiel, als die Erzählerin „fünf oder sechs“ (0166) Jahre alt war, relevant. Da die Mutter keine genealogische Verbindung zu den Hugenotten hatte und der Vater als Vermittlungsinstanz nicht mehr wirken konnte, dient einzig der Großvater als Verbindungselement zur hugenottischen Abstammung (0168). Die Struktur „der hat hat uns denn so, aber“ (0169) wird nach dem Vagheitsmarkierer „so“ (0169) abgebrochen und bleibt dann auch unvollendet, obwohl die konzessiv-adversative Konjunktion „aber“ (0169) schon weitere Überlegungen ankündigt. Die mit der Kausalkonjunktion „da“ (0171) eingeleitete Erklärinteraktion dient nun der Begründung für die Intensität der Auseinandersetzung mit der hugenottischen Vergangenheit. Unsicherheit, Unsagbarkeit oder die potentiell gesichtsbedrohende Nichtbeschäftigung mit dem Hugenottesein werden durch Disfluenzmarker wie Atempausen oder Häsitationsphänomene (0168,
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0170, 0172, 0173), semantische Redundanz („Arbeit hatten und zu tun hatten“, 0171) und sprachliche Suchbewegungen („nich so viel Zeit um“, 0172) deutlich. Im Hinblick auf agency scheint der Zeitfaktor als entlastendes Moment ebenso zu fungieren wie ein durch Allgemeingültigkeitsindikatoren unterstellt bekanntes („man war ja auch“, 0173) Desinteresse „als junger Mensch“ (0173) an der Herkunft. Gerade die Modalpartikel „ja“ (0173) zeigt den epistemic stance und so die unstrittige Evidenz des geteilten Wissenbestandes an. Die Gegenüberstellung von Interessenslagen in verschiedenenen Lebensspannen („jetzt wo man älter ist“, 0174) wird durch eine kontextsensitive Pronomenwahl („man“, 0173, 0174, 0177) gestützt. Das Indefinitpronomen erfüllt sowohl die autoreferentielle als auch die generische Funktion, indem es einerseits zur Relativierung eines potentiell gesichtsbedrohenden Gesprächsgegenstands angewendet wird, andererseits auf den allgemeinen Zusammenhang verweist, der menschliches Verhalten begründet. In dem eröffneten aktuellen biographischen Bezugsraum (0174) besteht der selbstpositionierende Wunsch „das alles wissen“ (0177) zu wollen, wobei das anaphorische Pronomen „das“ (0177) vermutlich auf die genealogischen Verbindungen, Traditionen und innerfamiliären Besonderheiten zum Hugenottesein referiert. Auch die Begründung („nämlich“, 0178), dass es ein mit den Generationen aussterbendes Geschichtenrepertoir gibt, das es zu erfahren und weiterzutragen gilt, motiviert die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft (0178). Frau T. drückt im Folgenden ihr Bedauern aus, dass sie nie in Frankreich gewesen ist, um sich vor Ort mit ihrem Erbe zu beschäftigen. Eine solche Fahrt würde ihr heute aus gesundheitlichen Gründen viel abverlangen und ist trotz ihres Willens zur aktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihrer Familie nicht mehr möglich. Auf die Frage, wie in ihrem Elternhaus mit dem Thema der Abstammung umgegangen wurde, erzählt Frau T. von einzelnen Familienmitgliedern, von ihrem Großvater, der kurz nach dem Krieg, in dem beide Söhne gefallen sind, verstorben ist. Sie erzählt von ihrer Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes wieder geheiratet hat und der Kirche ihres ersten Ehemanns treu geblieben ist. Noch einmal bemüht Frau T. das Argument der fehlenden Zeit für die Beschäftigung mit ihrer Herkunft. (5) 17-11-2011_FrauT [00:08:33-00:09:01] 0247 0248 0249 0250 0251 0252 0253 0254 0255
T aber ° hh h° wir hatten so viel zu tun so viel ARbeit; dass ° h h° ich äh äh ga ݫdass wir gar keine zeit hatten uns (.) so sehr damit zu beSCHÄFtigen; da jetzt wieder ° hh seit meiner HEIrat; mein mann is KEIN hugenotte– I HM_hm, T aber sehr äh aus äh ner kirchlichen faMIlie, und der hat sich gleich ° h in unsere kirche da integriert und is SEHR, (-) und weiß alles davon und (-) KÜMmert sich und– ff
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und dadurch bin ich jetz noch mal wieder so REINjekommen in diese ganze sache hier;
Diese Passage zeigt deutlich, wie die Erzählerin zur intersubjektiven Aushandlung ihres Gewordenseins unter anderem Graduierungsverfahren nutzt. Was bezüglich der Beschäftigungsintensität kurz zuvor durch die graduierende Angabe „nich so viel Zeit“ (0172) konstruiert wurde, erfährt eine Verstärkung durch die Partikelkonstruktion „gar keine“ (0248). So wird der Zeitfaktor erneut relevant gesetzt. Die zur Begründung des Interesses herangezogene Dichotomie von jung und alt (01730177) wird nun von der Erzählerin um eine exogene Komponente erweitert. Sie eröffnet eine kurze Belegerzählung für die Aussage „jetzt wieder seit meiner Heirat“ (0249), die, erkennbar an der fallenden Tonhöhenbewegung am Ende der TCU, eigentlich schon beendet war. Frau T. führt ihren Mann in die Erläuterung um die Genese ihrer Beschäftigung ein, kategorisiert ihn bezüglich seiner Herkunft (02500252) und fremdpositioniert ihn durch die Beschreibung seiner Integration in die Kirche als aktiven Teil ihrer Motivation. Diese deskriptive Passage ist letztlich als argumentative Konstruktion zu deuten („dadurch“, 0256), die die Wahrnehmung der Sprecherin über handlungorientierende Eckpunkte ihrer Lebenswirklichkeit betrifft. Deiktische Angaben wie „jetz“ und „hier“ (0256) und die semantische Vagheit in der Konstruktion „diese ganze Sache“ (0256) verweisen auf den kontextsensitiven Charakter der face-to-face-Interaktion, in der durch den common ground auch manuale Gesten vagem Sprechen die Unschärfe nehmen können. In der folgenden Sequenz spricht Frau T. über die Weitergabe ihres Wissens an ihre Kinder. Sie erzählt von der Pflege des hugenottischen Erbes durch die Familie, von der Verbundenheit und davon, dass jedes Familienmitglied das Hugenottenkreuz, ein Erkennungszeichen reformierter Christen, um den Hals trägt. Im Folgenden geht es um die Frage, an welches Gefühl sich die Sprecherin bezüglich ihrer Konfessionsangabe in Jugendzeiten erinnern kann. Die Annahme, dass es etwas Besonderes war, französisch-reformiert zu sein, weist die Sprecherin zurück und geht dann näher darauf ein. (6) 17-11-2011_FrauT [00:10:59-00:11:27] 0318 0319 0320 0321 0322 0323 0324 0325 0326
T das waren ja fast AUSschließlich nachher noch (.) hugenotten; I HM_hm, (1.0) ja; T und (--) in den familien äh is das noch alles tradition was so (1.0) auch (-) mit_m ESsen– manche jeRICHte die aus der zeit noch sind und so; ja;=das is für uns ne selbstverSTÄNDlichkeit; dat is jeNAUso als wenn– (--) h° (1.1) na;=wie soll ich das SAgen; wenn einer sagt ° h ihr seid hugenotten ihr seid (.) DEUTsche oder so; das IS eben so–
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 249
Diese argumentative Passage dient dem Aufbau eines Deutungsmusters der Erzählerin zur Normalität ihrer Lebenswirklichkeit. Die Partikel „ja“ (0318) signalisiert fremdpositionierend, dass der dargestellte Sachverhalt (0318) der Hörerin bereits bekannt sein müsste, präsupponiert so den common ground. Als Interaktionssteuerungsverfahren bewirkt diese Maßnahme die hörerinnenseitige Berücksichtigung des Besiedlungszustandes im Dorf für den Gesprächsverlauf. Die Erzählerin kann nach Zustimmung der Hörerin (0319) die Sachverhaltsdarstellung fortführen, zeigt die Herausforderung einer in-actu-Konstruktion durch sprachliche Suchbewegungen und Abbrüche („was so“, 0320), Pausen (0320), plötzliche Einfälle (0320) und entlastende Fortführungsausdrücke (0321). Als Gliederungssignal, das dann eine bilanzierende Äußerung einleitet, dient die mit mittel fallender Tonhöhenbewegung realisierte Partikel „ja“ (0322). Sie markiert auch den Abschluss des autoepistemischen Prozesses zur „Selbstverständlichkeit“ (0322), der im Vorfeld stattgefunden hat. Die Erzählerin eröffnet dann zum besseren Verständnis einen explikativen Vergleich (0323), wobei sie durch Pausen (0323, 0324) und letztlich metakommunikativ (0324) die Suche nach adäquater Fomulierung deutlich macht. In dem Entwurf eines kurzen Szenarios, hier der fiktiven wiedergegebenen Rede eines generalisierten Anderen („einer“, 0325) wird durch die angebotene Kontrastierung „Deutsche“ und „Hugenotten“ (0325) eine gefühlte Dichotomie deutsch/hugenottisch in der Wahrnehmungsperspektive der Erzählerin deutlich. Diese implizite Selbstpositionierung als Hugenottin und somit Nicht-Deutsche soll von der Hörerin als unabänderlicher Sachverhalt hingenommen werden („das is eben so“, 0326). Durch die Partikel „eben“ (0326) modalisiert die Sprecherin ihre vorangegangenen Äußerungen als nahezu axiomatische und so unantastbare Wahrheit. Zusätzliche Nachfragen seitens der Hörerin werden nun obsolet, die Erzählerin muss nicht weiter nach Beispielen ihrer fatalistischen Wahrnehmung suchen und befreit sich mit dieser Abschlusskonstruktion (0326) vom Detaillierungszwang. Im Folgenden bekräftigt die Erzählerin noch einmal, wie ernst es ihr mit der Pflege des hugenottischen Erbes ist. Dann geht es um die französische Sprache, die laut Frau T. in ihrer Familie keine Rolle gespielt hat. Sie überlegt, welche Familienmitglieder noch aktive Französischkompetenz hatten. (7) 17-11-2011_FrauT [00:14:12-00:14:24] 0424 0425 0426 0427 0428 0429 0430 0431
I hm_hm (.) sehen sie denn ne starke verbindung zwischen (--) dem hugenottesein und der französischen SPRAche, (--) I für sie jetz als [hugenottenNACHfahrin, ] T [nee;=eigentlich NICH; ] I (.) nee, T nee; (1.0) wir h° wir sind ja nich mehr mit der französischen sprache groß jeworden GAR nich mehr;
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Die Frage nach einer gefühlten „starke[n] Verbindung“ (0424) von Herkunft und Sprache wird von der Erzählerin zurückgewiesen. Auf die im Vor-Vorfeld platzierte Negationspartikel „nee“ (0428) folgt eine selbstpositionierende und kohärenzerzeugende Maßnahme durch das epistemische Adverb „eigentlich“ (0428). Frau T. erwirkt durch die nachgeschobene Verstärkung, dass das bisher Gesagte nicht im Widerspruch zur aktuellen Äußerung stehen kann und begründungsbedürftig würde. Die durch „eigentlich nich“ (0428) ausgedrückte subjektive Relevanz entlastet Frau T., die der Hörerin eine für sich antizipierte Sprachkompetenzzuschreibung unterstellt. Die Aussage „wir sind ja nich mehr mit der französischen Sprache groß jeworden, gar nich mehr“ (0431) expliziert nach einer Denkpause die Prämisse der Argumentation, der Beweisführung ihrer Wahrnehmung (0428) insbesondere durch den Einsatz der Modalpartikel „ja“ (0431). Sie fungiert als kontinuitätserzeugender Beleg und offenbart zudem ein übergreifendes Deutungsmuster zur Verbindung, die ein Mensch zu Sprachen haben kann. Demzufolge ist die Konfrontation mit dem Französischen in der Lebenswirklichkeit der Sprecherin notwendig, um die „starke Verbindung“ (0424) von Herkunft und Sprache zu empfinden. Erst die Expansion der TCU durch eine graduelle Verstärkung („gar nich mehr“, 0431) macht den Widerspruch im Hinblick auf die schulischen Fremdsprachenausbildung der Erzählerin evident. Über ihren Stiefvater, der in französischer Kriegsgefangenschaft war, sagt Frau T. später: (8) 17-11-2011_FrauT [00:14:58-00:15:13] 0446 0447 0448 0449 0450 0451 0452 0453 0454
T [der hat ] I [HM_hm, ] T immer jesagt ach die franzosen dat is doch_n FALsches volk und so– I HM_hm, T und äh (---) na_JA;=ob wir nun FALSCH sind weiß ich nich; vielleicht SEhen das andere auch so; (2.0) T falsch nich aber STOLZ; (.) würd ich das EHER nennen;
Diese kurze Passage steht im Zeichen der Kategorisierung und Zugehörigkeitsbeschreibung als komplexes Positionierungsverfahren der Erzählerin. Die wiedergegebene Rede (0446-0450), der hier als iteratives Muster („immer“, 0448) präsentiert wird, beinhaltet die Abwertung der Franzosen als „falsches Volk“ (0448) durch den Stiefvater. Dieser fremdpositionierenden Kategorisierung sieht sich offensichtlich auch das erzählte Ich ausgesetzt, sodass das erzählende Ich in der aktuellen Interaktionssituation Stellung bezieht und sich selbstpositionierend in die Gruppe der Gemeinten zählt. Obwohl die Redewiedergabe noch nicht beendet scheint („und äh“, 0450), kommt es im Gesprächsgeschehen zu einem autoepistemischen Prozess. Das
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Schaltelement „na ja“ (0450) markiert dafür den Zeitschritt ins Hier und Jetzt. In deiktischer Hinsicht ist die pronominale Zugehörigkeitsmarkierung (0450) der Erzählerin besonders auffällig, denn sie bezeichnet eindeutig die „Franzosen“ (0448), über die der Stiefvater gesprochen hat, nicht die hugenottischen Flüchtlinge. Die epistemische Unschärfemarkierung „weiß ich nich“ (0450) und das Adverb „vielleicht“ (0451) modalisieren die Überlegungen im Hinblick auf ihre Vorläufigkeit, das Gesagte soll die Sprecherin nicht angreifbar machen. Nach einer langen Pause (0452) bilanziert Frau T. mithilfe eines Reparaturverfahrens nach dem Schema „not X, but Y“, indem sie das zu korrigierende Fragment, das Reparandum „falsch“ (0453) aus der fremden Rede wiederholt und durch „stolz“ (0453) ersetzt. Die Äußerung wird dann trotz finaler Tonhöhenbewegung (0453) noch fortgesetzt und als rein subjektiv wahrgenommene Einstellung modalisiert (0454). Frau T. erzählt dann von den älteren Dorfbewohnern, die die Andersartigkeit als Hugenottennachfahren noch mehr spüren und verkünden würden als folgende Generationen. Sie spricht über die Motive Friedrichs des Großen, die Hugenotten in der Uckermark anzusiedeln und über die angenommene Standfestigkeit und Tüchtigkeit der Flüchtlinge. In einer Anekdote zur Auseinandersetzung mit einem Fremden wird deutlich, wie sehr sie ihre Lebenssituation auf dem Dorf genießt und verteidigt. Auf die Frage nach den wichtigsten Traditionen gibt Frau T. die Taufe als ein zu erhaltenes Merkmal der religiösen Verbundenheit an und erläutert dann die Bescheidenheit der kirchlichen Ausstattung bei den Hugenotten. Frau T. beschreibt sich dann als gesellige Person, die aber am liebsten in ihrer gewohnten Umgebung bleibt und rechtfertigt so auch die wenigen Reisen, die sie im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern unternommen hat. Sie erzählt von ihren Töchtern und und Enkelkindern, welche Sprachen sie lernen und was sie beruflich machen wollen. Noch einmal geht die Erzählerin darauf ein, dass niemand in der Familie die französische Sprache für sich entdeckt hat. Zum Ende des Gesprächs zeigt Frau T. ein altes Fotoalbum und kommentiert die Abbildungen der ehemaligen französischen Schule und des alten Pfarrhauses. Identitätskonstruktion von Frau T. Die kommunikative Selbstkontinuierung von Frau T. wird, wenn auch eher versteckt, von einem starken Kontinuitäts- und Kohärenzbedürfnis getragen. In der Bearbeitung der Widersprüchlichkeiten und differenten Erfahrungswelten sind Argumentationversuche gleichsam von der Suche nach äußeren wie inneren Faktoren für das Gewordensein geprägt. Frau T. bezieht einen Großteil ihres hugenottischen Bewusstseins aus ihrer Kindheit, aus der Zugehörigkeit zur Gemeinde ihres Dorfes, aus der aktuellen ehrenamtlichen Arbeit im Bereich der Pflege des Erbes und dem innerfamiliären Umgang mit der hugenottischen Herkunft, der sich auf häusliche Traditionen bezieht. Die Vermittlungsarbeit wurde vorrangig von dem Großvater der
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Erzählerin übernommen. Allerdings ist die Handlungsorientierung von Frau T. nicht auf die genetische Verwandtschaftsbeziehung angewiesen. Das zeigt sich an den Ausführungen zu ihrem neu erwachten Interesse an ihrer Herkunft, das durch den zweiten Ehemann ausgelöst wurde. Die aktive Beschäftigung ist neuerdings eine fremdinitiierte, der nicht hugenottische Ehemann wird als Motor fremdpositioniert. Frau T. ist während des Gesprächs stets darauf bedacht, Ursachen und Kausalketten zur Herstellung von Kontinuität und Bearbeitung heterogener Erlebniswelten aufzubauen. Das zeigt sich insbesondere an der metakommunikativen Bearbeitung von sprachlichen Suchbewegungen. Im Hinblick auf agency ist der Zeitfaktor in Verbindung mit der beruflichen Ausrichtung der Familie maßgeblich für die kaum erfolgte Auseinandersetzung mit den Wurzeln verantwortlich, er wird mehrfach in argumentativen Passagen herangezogen. Als Objektivierungsverfahren, das den intersubjektiven Nachvollzug garantieren soll, dient der Hinweis auf das Aufwachsen im System der DDR. In diesem Zusammenhang findet in erzählökonomischer Hinsicht eine kontrafaktische Idealisierung der Kongruenz von Relevanzsystemen der Interaktionspartnerinnen statt. Im Zuge des Adressatenzuschnitts ist die Erzählerin auf Adäquatheit und Akzeptanz ihrer Aussagen bedacht. Sie rechtfertigt, abgesichert durch den Prozess des grounding, durch die Herstellung eines auf das politische System bezogenen geteilten Wissensbestandes mit der Hörerin, ein Patiens, das durch die Arbeit von der Auseinandersetzung mit dem Erbe abgehalten wurde. Andererseits bemüht sie kategorische Normformulierungen zum verhaltenen Interesse eines jungen Menschen an der Vergangenheit der Familie und konstruiert so ein Agens, das selbst für die Ausrichtung seiner Interessenslagen verantwortlich ist. Auf der Zeitebene ist die Verteidigung des erzählten Ich Motor der Selbstkonstruktion des erzählenden Ich, so wird ein kontinuierliches Selbstverständnis beansprucht. Selbstpositionierungsmaßnahmen in Form von Kategorisierungen als Frau mit französischen Wurzeln und als stolze Hugenottennachfahrin, Kontrastierungen zu Menschen mit deutschen Wurzeln zur Generierung von otherness und die Konstruktion von unantastbaren Axiomen zum hugenottischen Selbstverständnis zeugen von einem kohärenten Selbst- und Weltverhältnis. Jenes wird auch in der kommunikativen Synthetisierung der differenten Erfahrungswelt offenkundig. Für die Bearbeitung der mangelnden schulischen Sprachenausbildung stehen Begründungsmechanismen zur Verfügung, die sich auf den Faktor Zeit und die Umstände des Aufwachsens in der DDR beziehen. Außerdem beansprucht die Erzählerin, die keine aktive Sprachkompetenz für das Französische vorweisen kann, keinerlei Verbindung zwischen dem Hugenottesein und der französischen Sprache. Dem auch durch Stimmen Dritter ausgelösten Widerspruch vom Nichtbeherrschen der Sprache und dem französischen Nachnamen kann Frau T. aufgrund dieser Einstellung letztlich gelassen begegnen. Ihre psychische Einheit ist daher nicht bedroht, auch wenn in der Interaktion Bedauern und Ärger über eigene Unfähigkeiten ausgedrückt werden. Als Ausgleich und Distanznahme zur fehlenden Französischkompetenz nimmt Frau T.
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schon im Sprachenportrait Bezug auf die familiäre Ausbildung der plattdeutschen Sprachkompetenz. Die intersubjektive Auseinandersetzung mit dem Sprachenportrait zeigt, dass Ko-Konstruktion im Gespräch nicht unbedingt erhellend wirken kann. Die Interpretation des Portraits scheitert offensichtlich an der Ungenauigkeit der Aufgabenstellung durch die Interviewerin. Die im Gespräch vermittelte Überzeugung, der Besonderheit ihrer Herkunft über das Engagement im Bereich der Pflege des hugenottischen Erbes auf privater und öffentlicher Ebene Tribut zu zollen, markiert die andauernde Genese eines hugenottischen Selbstverständnisses der Erzählerin. Für Frau T. hat dies allerdings mit der französischen Sprache wenig zu tun.
4.9 „ABER UM DEN GLAUBEN ZU PRAKTIZIEREN ODER ALS HUGENOTTENNACHKOMME ÄH HIER ZURECHTZUKOMMEN, BRAUCHT MAN FRANZÖSISCH NICH.“11 Abbildung 14: Sprachenportrait Herr N.
11 Transkript 9, Herr N., 73 Minuten
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Herr N. wird im Wohnzimmer seines Hauses im Landkreis Greifswald-Vorpommern in der Nähe der polnischen Grenze interviewt. Er wurde als Einzelkind zu Beginn der 1950er Jahre in der Gegend geboren, ist dort auch zur Schule gegangen, hat in Rostock studiert und lebt heute zusammen mit seiner Frau in einem kleinen Dorf. Der Kontakt kann über das Telefonbuch anhand seines französischen Nachnamens hergestellt werden. Er stammt aus einer der französisch-reformierten Familien, die sich in dieser Gegend angesiedelt und den Familiennamen seit der Einwanderung nicht abgelegt haben. Herr N. ist seit jeher aktives Mitglied der französischreformierten Gemeinde. Auf dem Wohnzimmertisch befinden sich vorbereitete Materialien, die im Verlauf des Interviews besprochen werden. Während der Aufnahme des Gesprächs zeigt sich Herr N. sehr interessiert und redebereit. Er elizitiert auch ohne Aufforderung längere Erzählpassagen. Die Aufgabe des Zeichnens erfüllt Herr N. ohne weitere Nachfragen. Dabei kommentiert er schon vor Beginn der Aufzeichnung die Verortung der Sprachen in seinen Körper. (1) 17-11-2011_HerrN [00:00:04-00:00:53] 0003 0004 0005 0006 0007 0008 0009 0010 0011 0012 0013 0014 0015 0016 0017 0018 0019 0020 0021 0022 0023 0024 0025
I sie ham eben gesagt äh französisch was am NAheliegendsten wäre liegt ganz am rand, N ja–= [weil KEIne– ] I [wo ham sie ] französisch HINgemalt, N weil keine UNten; [in den ] I [ah; ] N (-) BAUCH; I HM_hm, N äh (---) irgendwo im HINterkopf, (.) französische äh äh vokabeln nur aus den (-) einjedeutschten DINgen– die hier in der UMgangssprache üblich waren– (-) und franZÖsischunterricht (---) äh nicht, (-) eine doppelstunde mal im siebten SCHULjahr; da wollte ne lehrerin so (--) so dieses dieses ERSte hier; (---) la sondette retenti is mir INnerlich– I ja, N die klingel erTÖNT; le professeur (---) entre dans (-) la salle de CLASSE; oder weiß der KUckuck wie das war; aber französisch NIE ne chance jehabt französisch zu lernen, ° h sondern (1.3) ab fünftem schuljahr russisch wie ÜBlich,
In dieser ersten Sequenz dominiert die thematische Ausrichtung auf das Sprachenportrait. Obwohl die Hörerin die nicht aufgezeichnete Aussage des Sprechers zur französischen Sprache (0003) wiederholt und ihn mittels finaler Tonhöhenbewegung (0003) zur Erklärung animieren will, unterbricht sie seine Antwort für eine nächste Frage nach der Verortung des Französischen (0006/0007). So verhindert der
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Missgriff im Interaktionssteuerungsverfahren die argumentative Detaillierung zur Kategorisierung „am naheliegendsten“ (0003), zu der der Erzähler nach Zustimmung („ja, weil keine“, 0004) bereits ansetzen möchte. Die Platzierung der französischen Sprache im Bauchraum („unten in den Bauch“, 0008-0011) wird zunächst vom Sprecher anhand des Gezeichneten verbalisiert, dann allerdings in der als Frage formulierten TCU an anderer Stelle „irgendwo im Hinterkopf “ (0013) verortet. Daraufhin folgt eine vom Erzähler selbst initiierte Präzisierung, in der er zunächst mithilfe der erklärenden Struktur aus verbloser TCU „französische äh äh Vokabeln nur aus den einjedeutschten Dingen“ (0014) und der Provenienzaufklärung (0015) vermutlich seine eigene Kompetenzausprägung kategorisiert. Die Festlegung eines deiktischen Bezugsrahmens dient der raum-zeitlichen Kontextualisierung („hier in der Umgangssprache üblich waren“, 0015) und ist als Selbstpositionierungsverfahren zu verstehen, das der Hörerin gleich zu Beginn des Gesprächs einerseits das etymologische Wissen des Erzählers anzeigt, andererseits die Selbstverständlichkeit des Kontakts mit der französischen Sprache vermitteln soll. Im Folgenden betont Herr N., dass er bis auf eine „Doppelstunde mal im siebten Schuljahr“ (0017) keinen schulischen Französischunterricht besucht hat (0016). Der Sprecher setzt dann zu einer Erzählung an (0018), die sich auf die „Doppelstunde“ (0017) bezieht. Sie bleibt trotz der fallenden Intonation vermutlich aufgrund von Lexikalisierungsproblemen syntaktisch und semantisch unvollendet. Die neu produzierte TCU „la sondette retenti is mir innerlich“ (0019) wird ebenfalls abgebrochen und nach positivem Rückmeldesignal der Hörerin (0020) mit einer Übersetzung (0021) beendet. Die fehlerhafte Erinnerung an die französische Übersetzung für den Begriff der Klingel ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Der Erzähler expandiert die Übersetzungsleistung und inszeniert eine weitere französische Aussage (0022), die von der „Doppelstunde“ (0017) in Erinnerung geblieben ist. Die französische Redewiedergabe weist im Rahmen eines Veranschaulichungsverfahrens eine hohe Belegfunktion auf. Sie beweist als Selbstpositionierung die fremdsprachliche Kompetenz des erzählten und des erzählenden Ich, stellt aber auch beweisführend Authentizität im Gespräch her. Mit dem relativierenden Nachtrag „oder weiß der Kuckuck, wie das war“ (0023) schwächt das erzählende Ich die Gültigkeit der Redewiedergabe rückwirkend ab und kann sich durch die Unschärfemarkierung vor der Hörerin entlasten. Zu eben dieser Entlastung tragen sowohl die vorangegangenen Ausführungen zum fehlenden Französischunterricht (0014-0017) als auch die folgende Begründung (0024) bei. Im Hinblick auf agency wird nun trotz fehlender pronominaler Referenz deutlich, dass das erzählende Ich das untergrabene Handlungspotential im Prozess des Französischlernens („nie ne Chance jehabt“, 0024) als Widerfahrnis wahrnimmt. Die russische Sprache verortet Herr N. im Arm des Portraits und erläutert, dass er „ab fünftem Schuljahr Russisch wie üblich“ (0025) gelernt hat. Hinsichtlich der syntaktischen Gestaltung dieser ersten Sequenz ist auffällig, dass der Sprecher vorrangig fragmentarische Konstruktionen anbietet, die entweder als subjektlose (0024) oder
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subjekt- und prädikatslose Infinitkonstruktionen (0014) erscheinen. Die Bedeutungen dieser dichten Konstruktionen können dennoch problemlos zugeordnet werden, dafür sind Kontext und thematische Ausrichtung der Passage hilfreich. Die englische Sprache hat Herr N. in den anderen Arm der Silhouette verortet. (2) 17-11-2011_HerrN [00:00:58-00:01:17] 0027 0028 0029 0030 0031 0032
N äh (--) englisch (-) HILFSdenkerabitur an der uni, I (.) hm_HM, N weil ich an der oberschule nur laTEIN hatte, und man musste staatsexamen in ZWEI (.) lebenden fremdsprachen machen– demzufolge (.) äh war außer russisch noch englisch oder franZÖsisch erforderlich, ° h und äh (-) ° h französisch gab_s keinen anfängerkurs aber englisch gab_s n ANfängerkurs;
Ein weiteres Mal beginnt der Erzähler mit einer dichten Konstruktion, die trotz des Detaillierungswunsches dem Kondensierungszwang des Erzählens zu verdanken ist. Die Linksexpansion „Englisch“ (0027) dient zunächst als thematische Rahmenschaltung. Daraufhin verwendet der Erzähler eine minimale Setzung ohne Vorfeld, Finitum oder gefüllte rechte Satzklammer („Hilfsdenkerabitur an der Uni“, 0027). Diese minimale Setzung lässt jedoch in ihrer Eigenschaft als in den Gesprächskontext eingebettete Nominalphrase nur den Schluss zu, dass das erzählte Ich an der Universität eine Abiturprüfung in Englisch abgelegt hat. Als Begründung für die Wahl einer weiteren Fremdsprache gibt der Erzähler die Bedingungen für das Staatsexamen an der Universität an. Da Herr N. als schulische Fremdsprachen Russisch und „nur Latein“ (0029) gelernt hat, war er gezwungen, eine weitere lebende Fremdsprache zu erlernen (0030). Im Hinblick auf agency zeigt die Lexik des Turns („musste“, 0030), „erforderlich“, 0031) die vom Erzähler empfundene Unumgänglichkeit der curricularen Vorgabe und seine eingeschränkte Handlungsmacht. Auch die Wahlmöglichkeit zwischen Englisch und Französisch ist aufgrund des fehlenden Angebots („Französisch gab’s keinen Anfängerkurs“, 0032) nicht gegeben, sodass das erzählte Ich sich dem äußeren Umstand schlicht hingeben und den Englischkurs besuchen musste (0032). Herr N. erzählt daraufhin von seiner universitären Ausbildung. Er beschreibt, in welchem Hochschulsystem er sich wiederfand, an welchen Orten welche Studiengänge angeboten wurden, kommt dann noch einmal auf die Anforderungen bezüglich der Fremdsprachenkompetenz für das Staatsexamen zurück und erzählt auf Nachfrage mehr von der Französischlehrerin in der siebten Klasse, die aufgrund anderweitiger Beschäftigungen ihren Kurs nach zwei Wochen Unterricht nicht mehr anbieten konnte.
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(3) 17-11-2011_HerrN [00:03:27-00:04:07] 0085 0086 0087 0088 0089 0090 0091 0092 0093 0094 0095 0096 0097 0098 0099 0100
N also im siebenten schuljahr sollte das pasSIEren. I hä ݫhätten sie das gern geMACHT, N ° hh äh SIcherlich; mein sohn HAT_S nachher jemacht äh an der (-) ° h äh an der schule– und äh anschließend am gymNAsium– der ging eben zur schule über diese WENdezeit I ah; N hinaus, der hat neunzehnhundertfünfundNEUNzig abitur jemacht– und hat glaub ich noch sechs jahre französisch jeHABT aber– ° h denn sieht man auch wie beengt ebend (--) ne SCHUlische sprachausbildung is, (--) das hab ich später mit POLnisch zum beispiel, meine erfahrungen mit polnisch ° h sind DAhingehend besser, dass ich heute vielleicht was UMgangssprachliches sprechen angeht besser polnisch spreche als russisch, I ja,=wie sind sie dazu geKOMmen, N na;=ich hab mit polnischen kommilitonen zusammen stuDIERT,
Der Erzähler beendet seine Erzählung zum fakultativen Französischkurs mit der nochmaligen Angabe zum Zeitpunkt (0085) und zeigt über die Einleitung mit der Partikel „also“ (0085) und die fallende Tonhöhenbewegung die Abschlussfunktion der TCU für die thematische Sequenz. Die Frage, ob Herr N. gern an dem fakultativen Unterricht teilgenommen hätte (0086), wird trotz der Verzögerung („äh“, 0087) durch die Intonation mit Bestimmtheit bejaht, wobei das Adverb „sicherlich“ (0087) die Antwort eher hinsichtlich einer Eventualität modalisiert. Der Erzähler weicht dann auf die Sprachenausbildung seines Sohnes aus (0088-0094), der „über diese Wendezeit“ (0090) zur Schule ging und Französisch als Unterrichtfach hatte. Durch einen Wechsel von Erzählung zur Erklärinteraktion (0089/0090) erscheint die Herstellung eines common ground zwischen Hörerin und Sprecher hinsichtlich politischer Bezugssysteme durch die Verwendung der Modalpartikel „eben“ (0090) und das Demonstrativpronomen „diese“ (0090) vor dem betonten Bezugswort auffällig. Immerhin handelt es sich nicht um eine wählbare Referenz, die deutlich machen soll, welche der vielen Wendezeiten gemeint ist, sondern um eine Markierung gemeinsamen Wissens um die Besonderheiten der politischen Umbruchsituation für die schulische Sprachenausbildung. Die Ausführungen zum Französischunterricht des Sohnes werden dann vom Erzähler abrupt nach der konzessiv-adversativen Konjunktion „aber“ (0094) abgebrochen und ein zunächst in der Argumentation enthymematisch bleibender Einblick in die Haltung des Erzählers zur „schulische[n] Sprachausbildung“ (0095) gegeben. Die kategorisierende Äußerung erhebt auf den ersten Blick einen Allgemeingültigkeitsanspruch, zielt sie doch grundsätzlich auf „’ne schulische Sprachenausbildung“ (0095) ab. So bewertet das erzählende Ich mithilfe von Generalisierungsindikatoren wie dem Indefinitpronomen „man“ (0095) und der Modalpartikel „ebend“ (0095) die Unzulänglichkeit des Fremdsprachenun-
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terrichts. Trotz der kategorischen Formulierung zu der empfundenen Wirkungskraft des Unterrichts („wie beengt“, 0095) handelt es sich um eine subjektive Theorie zum Fremdsprachenunterricht. Diese allgemeine These wird im Folgenden mit einem Beispielargument aus der Konfrontation des erzählenden Ich mit Fremdsprachen untermauert. Der erste Einleitungsversuch der Beispielerzählung, die durch den finalen Marker „zum Beispiel“ (0096) ihre Belegfunktion offenbart, wird abgebrochen und durch eine Reparatur ersetzt, die sogleich eine Bewertung der Spracherfahrung beinhaltet („besser“, 0097). Das erzählende Ich kontrastiert dann seine fremdsprachliche Kompetenzen für die polnische und die russische Sprache, wobei die Kategorisierung der sprechsprachlichen Kompetenz im Polnischen zum aktuellen Sprechzeitraum („heute“, 0098) mit dem Komparativ „besser“ (0098) durch das Adverb „vielleicht“ (0098) und die variationsbezogene Struktur „was umgangssprachliches Sprechen angeht“ (0098) relativiert und so die absolute Gültigkeit abgeschwächt wird. Noch wird nur vage deutlich, inwiefern die subjektive Theorie des Erzählers zur schulischen Fremdsprachenausbildung (0095) von der Belegerzählung gestützt werden soll. Erst die Nachfrage der Hörerin (0099) gibt Aufschluss über die Form der Aneignung des Polnischen, und verlangt dennoch, dass sie die Lücken der Argumentation selbstständig füllt. Implizit wird die Deutung offenbart, dass das gemeinsame Studieren „mit polnischen Kommilitonen“ (0100) die umgansprachliche Kompetenz des Erzählers im Polnischen mehr gefördert hat als die schulsprachliche Ausbildung in der russischen Sprache. Im Folgenden erzählt Herr N. von seinem Wohnort in Grenznähe zu Polen, seiner Studienzeit und von seiner Beschäftigung in den Semsterferien. Er hat in einem Kinderferienlager gearbeitet und dort durch den Kontakt mit polnischen Kindern so viel Sprachkompetenz erworben, dass selbst seine polnischen Kommilitonen überrascht waren. (4) 17-11-2011_HerrN [00:05:06-00:05:15] 0124 0125 0126 0127 0128 0129 0130 0131
N aber so ISses eben durch diesen permanenten kontakt, [° h äh ] I [(.) LERNT man das; ] N lernt man viel MEHR und das war [ja ] I [hm– ] N das haupthemmnis der sprachausbildung zu de: de: er zeiten– dass man (-) äh praktisch nich verTIEfen konnte;
Das erzählende Ich bilanziert die Erzählung mithilfe eines multi-unit-turns mit einem generellen Deutungsmuster zum Fremdsprachenlernen im „permanenten Kontakt“ (0124) mit Muttersprachlern. Sowohl die Modalpartikel „eben“ (0124), die den Äußerungsinhalt hinsichtlich seiner unabänderlichen Grundsätzlichkeit modalisiert, als auch der pronominale Wechsel zum generalisierenden Indefinitpronomen „man“
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 259
(0126) zeugen von der Allgemeingültigkeit der Behauptung. So konstruiert der Erzähler eine positionierungsrelevante Eigentheorie, die sein Spracherleben durch Hinzuziehen grundsätzlicher Zusammenhänge rechtfertigt. Im Zuge der andauernden Argumentation kommt es nun zur endgültigen Aufklärung, eingeleitet durch die Reparatur („lernt man das“, 0126, „lernt man viel mehr“, 0127), die dem Fremdsprachenlernen durch Kontakt mit Muttersprachlern eine höhere Wirkung zuspricht. Was der Erzähler bezüglich der schulischen Sprachausbildung zuvor mit dem Wort „beengt“ (0095) bezeichnet hat, erweitert er nun mit dem Kompositum „Haupthemmnis“ (0130) des politischen Systems der DDR, das die Vertiefung einer erlernten Sprache behindert hat (0130). Auch hier zeugt die Modalpartikel „ja“ (0128) von der Selbstverständlichkeit des Sachverhalts, der der Hörerin bekannt sein müsste und nun als Basis des gemeinsamen Wissens für den Fortgang des Gesprächs dienen soll. Die Entfaltung der Argumentation ist insofern als selbstpositionierendes Verfahren zu lesen, da die schlechter ausgebildete Russischkompetenz des Erzählers eine Begründung gefunden hat, die ihm insbesondere Handlungsmacht abnimmt. Herr N. führt seine Gedanken zum Fremdsprachenlernen weiter aus, spricht von der Unzulänglichkeit theorielastiger Ausbildung und von dem engen Kontakt mit polnischen Muttersprachlern durch seinen Wohnort. Er erzählt, wie er sich früher dafür eingesetzt hat, dass deutsche Landwirte Polnischkurse besuchen konnten. Auf Nachfrage der Hörerin wird das Sprachenportrait weiter besprochen. Deutsch und Platt hat der Erzähler in Kopfnähe verortet, berichtet aber, dass in seiner Familie aufgrund der Forderungen in der Schule nicht nur Platt gesprochen wurde. Er erzählt von Familien in anderen uckermärkischen Dörfern, in denen ausschließlich Platt gesprochen wurde und von seiner Abneigung gegen gekünsteltes Platt. Als es um die verschiedenen Variationen des Platt geht, wird deutlich, dass der Erzähler über metalinguistisches Wissen verfügt. Er spricht von der Phonetik, von Laut- und Vokalverschiebungen in den unterschiedlichen Regionen, die das Platt beeinflusst haben, und er gibt Beispiele vom Schweriner und vom pommerschen Platt an. Die Frage der Hörerin, ob Herr N. sich intensiv mit Sprachen beschäftigt hätte, negiert er und verweist auf sein vielseitiges Interesse. Auf die Frage nach der Erinnerung an das erste Erlebnis, das in Verbindung mit den hugenottischen Wurzeln steht, antwortet Herr N., dass es kein einzelnes Ereignis, sondern ein eher schleichender Prozess war. (5) 17-11-2011_HerrN [00:17:15-00:17:49] 0485
0486 0487 0488 0489
N und (.) wenn dann gottesdienst war französisch reformierter gottesdienst dann is man natürlich als kind MITjenommen worden, I HM_hm, N und zu festtagen is man ooch mal zum GOTtesdienst jegangen– ° h äh äh beim evangelisch LUtherischen [(.) pastor, ]
260 | Identität und Sprachidentität von Hugenottennachfahren 0490 0491 0492
0493 0494 0495 0496
I [(.) hm_HM, ] N ° h und da ha ݦhat man schon bald äh jemerkt dat äh dat das ZWEI pastoren waren, ° h einer wo die masse des dorfes hinging und einer wo nur so (-) fünfundzwanzig dreißig MANN zu der zeit noch hingingen; I ja– N und (-) denn hab ick dit äh sehr WOHL empfunden, denn hieß dat immer ja wir sind französisch reforMIERT, und wir ham unsere eigene WEIHnachtsfeier,
In der Sequenz zu den ersten Erinnerungen an die hugenottische Herkunft, die eng an den Besuch der Kirche gebunden sind, ist die Pronomenwahl („man“, 0485, 0487, 0491) trotz klarer pronominaler Referenz auf das erzählende Ich auffällig. Der Eindruck einer Distanzierung vom Prozess der Vermittlung wird zusätzlich von der Passivkonstrukton „is man natürlich als Kind mitjenommen worden“ (0485) gestützt. Ein variationsanalytischer Versuch beispielsweise durch Umformulierung in „und da bin ich als Kind natürlich mitgegangen“ oder „und da ist man als Kind natürlich mitgegangen“ offenbart die selbstpositionierende Darstellung sowohl des erzählten als auch das erzählenden Ich als wenig handlungsinitiative Instanz. Die Erinnerung wird in einer nahezu prototypischen Erzählform dargeboten, wobei in der ersten Phase zunächst orientierende Hinweise zu Ort und Zeit gegeben werden (0485-0489). Daraufhin folgt die Darstellung der Komplikation, bei der das erzählende Ich die Präsenz von „zwei Pastoren“ (0491) als ausschlagegebenden Faktor für die Wahrnehmung einer Außergewöhnlichkeit beim erzählten Ich feststellt. Zum Gefühl der Besonderheit trägt die Kontrastierung der Teilnahme am lutherischen Gottesdienst („Masse des Dorfes“, 0492) mit der des französisch reformierten Gottesdienstes („nur so fünfundzwanzig, dreißig Mann“, 0492) bei. Im Übergang zur Evaluationsphase nimmt das erzählende Ich die Konsequenz dieser Gegenüberstellung als bedeutungsstiftenden Aspekt seiner Biographie wahr, wechselt in der pronominalen Gestaltung in den Modus der Perspektiveinnahme („ick“, 0494) und verweist mit dem anaphorischen Pronomen „dit“ (0494) auf die besondere Abstammung, die es daraufhin „sehr wohl empfunden“ (0494) hat und handlungsmotivierend zu Nachfragen geführt haben muss. Obwohl der Frageprozess nicht deutlich markiert sind, geht aus der Einleitung der direkten Rede „denn hieß dat immer“ (0495) und der Re-Inszenierung der Antwort einer nicht näher bestimmten Person „ja, wir sind französisch-reformiert und wir ham unsere eigene Weihnachtsfeier“ (0495/0496) die Frage des erzählten Ich hervor. Der Kondensierungszwang des Erzählens macht sich an dieser Stelle über das Auslassen der Nachfragen des erzählten Ich bemerkbar, ist aber anhand des Wissens um Kohärenzen und Folgeerwartungen zu rekonstruieren. Herr N. erzählt dann vom Pastor, von seinem Konfirmandenunterricht und von Veränderungen im Gemeindeleben über die Jahre. Er erzählt von seiner Großmut-
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ter, die die Vermittlung vorangetrieben hat, und spricht über die Bildungsarbeit seiner Vorfahren. Er erläutert das Heiratsverhalten der Hugenottennachfahren im frühen 20. Jahrhundert, als zunehmend Mischehen aufgetreten sind. Auch in der Familie des Erzählers hat erstmalig 1920 ein Hugenottennachfahre eine nicht reformierte Frau, die Großmutter von Herrn N., geheiratet. Daraus folgt eine längere Erzählung über die Besonderheit der Trauung, bei der zwei Pastoren anwesend waren. Im Zuge der Erzählung über die Sprache des Gottesdienstes wird auch der Nachname des Interviewpartners thematisiert. Auf die Frage, ob der eindeutig französisch klingende Nachname zu Verwunderungen bei ihm oder Mitschülern geführt hätte, erzählt Herr N. lediglich von seinen Nachforschungen über die Herkunft des Namens und spricht dann über den Familienstammbaum, der auf dem Tisch liegt. Dieser reicht bis ins Jahr 1570 zurück und lässt die minutiöse Rekonstruktion einer langen Familiengeschichte zu. Herr N. zieht nach und nach immer mehr Dokumente heran, um sie zu erläutern. Nach einer Erzählung über die Migrationsbewegungen der Familie bietet sich die Frage nach der empfundenen Bedeutung der Herkunft an. (6) 17-11-2011_HerrN [00:29:32-00:30:32] 0815 0816 0817 0818
0819 0820 0821 0822 0823 0824 0825 0826 0827 0828 0829 0830 0831
I ähm wenn sie jetz auch so materialien haben was beDEUtet ihnen das; dass sie ähm (--) nachfahre von dieser GRUPpe sind; N na_JA;=mir hat dit äh als kind sehr VIEL bedeutet weil man ja äh (-) äh hm– (2.0) in der jemeinde äh in der in der in der alljemeinen sch schulausbildung is viel von FREIheit und äh sozialismus und weiß ick wat jesprochen worden– [( ) von ] I [hm_HM, ] N allem drum und dran und dann war_s eben interesSANT, dass in der faMIlie, ° h oder dass die familie früher (--) ° h wegen ihres GLAUbens (--) äh aus der heimat jegangen is– und (.) dit is ne dolle SAche, also materielle dinge ham zwar AUCH ne rolle jespielt, aber dass man wegen seiner wegen der freiheit des glaubens ° h äh seine HEImat äh äh verlassen hat; und is irgendwo HINjegangen; [das hat mich ] I [HM_hm, ] N als kind ° h äh zum NACHdenken jebracht und irgendwie war man da– ° hh na war dit für mich GROSS oder was bewundernswertes;
Obwohl die Antwort des Erzählers im direkten Anschluss als multi-unit-turn folgt und zunächst kategorisierend auf den Grad der Bedeutung („viel“, 0817) eingegangen wird, zeugen vermehrte Verzögerungs- und Vagheitsindikatoren, Fortführungsausdrücke sowie Pausen und Reparaturen (0817, 0818) von Schwierigkeiten in der Formulierungsarbeit. Herr N. entfaltet in der expliziten Selbstaussage zu seinem er-
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zählten Ich als Schulkind eine Eigentheorie, die eng an das Aufwachsen im politischen System der DDR geknüpft ist. Die zu Schulzeiten vermittelten Inhalte von „Freiheit und äh Sozialismus“ (0818) haben in der Wahrnehmung des erzählenden Ich zur Genese des Interesses und der Bedeutung seiner Herkunft maßgeblich beigetragen. Fortführungsausdrücke wie „weiß ick wat“ (0818) und „allem drum und dran“ (0821) entlasten das erzählende Ich im Detaillierungswunsch und zeigen fremdpositionierend das der Hörerin unterstellte Wissen DDR-spezifischer Vermittlungsinhalte für die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Äußerung. Die implizite Gleichstellung von Ausreisenden aus der DDR und hugenottischen Flüchtlingen wird erst in der korrigierten Wiederholung des Fluchtgrunds von „wegen ihres Glaubens“ (0823) zu „wegen der Freiheit des Glaubens“ (0826) evident. Die Bewertung der Familiengeschichte („dolle Sache“, 0824) ist durch die Tempuswahl als Positionierungsaktivität des erzählenden Ich im Hier und Jetzt zu verstehen, die Bewunderung für die religiös motiverte Flucht besteht auch heute und wird im Folgenden noch argumentativ bestärkt. Der Erzähler nutzt hier innerhalb eines Turns eine „zwar-aber“-Konstruktion, in der der korrelative Konzessivmarker „zwar“ (0825) das generelle Anerkennen materieller Fluchtgründe anzeigt (0825), allerdings schon das Gegenargument projiziert, sodass die Einräumung durch das stärkere Argument der Glaubensfreiheit im wesentlich längeren aber-Teil (0826) abgelöst wird. Diese selbstinitiierte concessio ist auch als selbstpositionierende Maßnahme zu lesen, da unterschiedliche Fluchtfaktoren (0825) kritisch reflektiert werden. Der Erzähler evaluiert den Erkenntnisprozess im Schlusskommentar (0828-0831) mit der Bekundung der emotionalen Beteiligung des erzählten Ich, die sich durch sprachliche Suchbewegung („irgendwie war man da na“, 0830/0831) auch auf der Textebene widerspiegelt. Herr N. erzählt dann noch einmal von dem eher schlechten Ansehen der Kirche zu DDR-Zeiten, spricht von der Christenlehre und dem Konfirmandenunterricht in seiner Kindheit und Jugend. Er erzählt, wie es derzeit um die Kirche bestellt ist und wie das Gemeindeleben sich über die Jahre verändert hat. Auf die Interviewerinnenfrage, wie Herr N. seinen Kindern das hugenottische Erbe vermittelt hat, geht er auf die Teilnahme seiner Kinder an der Christenlehre und deren Taufe ein. Außerdem kommt noch einmal der Französischunterricht des Sohnes zur Sprache, der laut dem Erzähler keine langfristige Bindung zur Folge hatte. (7) 17-11-2011_HerrN [0038:08-00:38:23] 1060 1061 1062 1063
N die sprache is ja nich das entSCHEIdende; äh entscheidend is ja ° hh oder für VIEle äh nachfahren französisch reformierter familien– dass sie HEUte noch ne möglichkeit haben ° hh äh (---) na in– äh nach UNserer kirchenverfassung gottesdienste zu machen und die amtshandlungen ausführen zu lassen–
Aspekte der Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren | 263
In dieser kurzen Sequenz im Anschluss an die thematische Ausrichtung auf die Sprachausbildung des Sohnes bezieht der Erzähler hinsichtlich der Gewichtung der verschiedenen Aspekte seiner Lebenswirklichkeit Position. Die Herstellung des Deutungsmusters wird dramaturgisch so aufgebaut, dass sukzessive interaktive Folgeerwartungen entstehen. Der redeeinleitende Turn, der zunächst anzeigt, was „nich das Entscheidende“ (1060) ist, nämlich die Sprache, erscheint durch die Realisierung der finalen Tonhöhenbewegung eigentlich abgeschlossen, dient hier aber lediglich der Initiation eines thematischen Wechsels und dem Erwartungsaufbau bei der Hörerin. Das Sprachenthema wird von der eigentlich relevanten Behauptung über das stärkere Gewicht der Glaubensausübung abgelöst. Diese Behauptung wird als Projektorkonstruktion realisiert, wobei die Projektorphrase „das Entscheidende is ja“ (1061) als metapragmatische Rahmung auch durch die Selbstverständlichkeit anzeigende Partikel „ja“ (1061) die interaktive Folgeerwartung verstärkt. Die relevant gesetzte Information, dass „Nachfahren französisch reformierter Familien“ (1061) Wert auf die Möglichkeiten der Glaubensausübung legen, ist so eigentlicher Kern der Äußerungssequenz. Herr N. führt weiterhin aus, wie die französische Sprache zu Zeiten der Ansiedlung unabdingbar für die Aufrechterhaltung eigener Verwaltungsapparate, Administration, Schule und Kirche war, heute jedoch keine wichtige Funktion in diesen Bereichen erfüllen muss. (8) 17-11-2011_HerrN [0040:49-00:41:14] 1142 1143 1144 1145 1146 1147
N französisch spielt nur noch ne rolle wie russisch englisch POLnisch oder (.) von mir aus italienisch– so is ne FREMDsprache; ° h man weiß zwar dat diese fremdsprache die sprache der VÄter war, I HM_hm, N aber h° ° h äh ° h um den GLAUben zu praktizieren– oder als (.) hugenottennachkomme äh hier zurechtzukommen BRAUCHT man französisch nich.
Über das Darstellungsverfahren der Listenbildung („Russisch, Englisch, Polnisch oder von mir aus Italienisch“, 1142) setzt der Erzähler die französische Sprache mit den genannten unter der Oberkategorie „is ne Fremdsprache“ (1143) gleich. Die folgende „zwar-aber“-Konstruktion ist in Kombination mit dem Indefinitpronomen „man“ (1144) als kategorische Formulierung mit Allgemeingültigkeitsanspruch und dialogisch ausgehandelte Selbstpositionierung zu lesen. Sie ist insofern kategorisch, als sie durch die Generalisierung („man“, 1144) für alle „Hugenottennachkomme[n]“ (1147) gelten soll. Zudem sichert die Prolepse (1144) im interaktiven Kontext, dass ein möglicher Einwand der Hörerin im Vorfeld abgewendet wird. So ist das Hauptargument, dem zufolge Französisch als „Sprache der Väter“ (1144) für die
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Glaubensausübung und das Zurechtkommen als Hugenottennachfahre (1147) nicht vonnöten ist, ein Deutungsmuster, das eine kohärente Darstellung des erzählenden Ich gegenüber der Hörerin erlaubt – schließlich zeigt die Lebenswirklichkeit von Herrn N., dass er trotz fehlender aktiver Kompetenz in der französischen Sprache ein engagierter Hugenottennachfahre ist. Die letzten Minuten des Interviews widmet sich der Erzähler ausführlich der Erläuterung der verschiedenen Materialien, der Stammbücher und Chroniken, einer selbstgeschriebenen Familiengeschichte und verschiedenen Fotographien, die er im Vorfeld zusammengetragen hat. Identitätskonstruktion von Herrn N. Die kommunikative Selbstkontinuierung von Herrn N. ist von einem starken Bedürfnis nach kohärenz- und kontinuitätserzeugenden Erzählungen geprägt. Diese elizitiert er auch in längerer Form ohne vorherige Aufforderung, insbesondere argumentative Passagen zu seiner Lebenswirklichkeit dominieren das Gespräch. Im Interaktionssteuerungsprozess agiert der Gesprächspartner stark adressatenbezogen, konstruiert dialogisch ausgerichtete Handlungssequenzen und wählt auch über die Absicherung eines gemeinsamen Wissenhorizonts Maßnahmen der Kondensierung. Diese erzählökonomische Leistung dient überwiegend der Fokussierung und hat keinen nennenswerten Einfluss auf das Verständigungsgeschehen. Die Selbstthematisierungen werden stets in Bezug auf das Aufwachsen im politischen System der DDR ausgerichtet, sodass die hergestellte Kongruenz von erzählter Figur und Erzählfigur noch eindeutiger erscheint, da es sich hier nicht nur um informative Hintergrundkonstruktionen handelt. Zudem sichert der Erzähler intersubjektive Nachvollziehbarkeit, indem er beispielsweise den Umgang des DDR-Regimes mit der Kirche schildert, aber auch fremdpositionierend das Kontextwissen der Hörerin präsupponiert. Herr N. ist grundsätzlich auf die Erklärbarkeit von Zusammenhängen, beispielsweise zum Ausbau von seiner und genereller Sprachkompetenz zu DDRZeiten, Vermittlungsarbeit durch die Großeltern oder sein Gefühl gegenüber der Familiengeschichte, bedacht. Sein Gewordensein ist mithilfe von Objektivierungsverfahren, durch das Hinzuziehen äußerer Umstände multifaktoriell belegbar und kann so leichter erklärt werden. Als selbstpositionerende Maßnahme steht die Demonstration epistemischer Autorität beispielsweise durch die Wiedergabe französischer Merksätze oder die Präsentation metalinguistischen und historiographischen Wissens im Vordergrund. Für Deutsch beziehungsweise Platt als ihn umgebende Sprachen beweist Herrn N. metalinguistisches Wissen. Für die russische Sprache beansprucht der Erzähler trotz schulischer Ausbildung ab der fünften Klasse keine aktive Sprachkompetenz, ähnliches gilt für Englisch, das er als curriculare Anforderung für das Universitätsstudium nachholen musste. Polnisch hat Herr N. durch den direkten Kontakt mit Muttersprachlern gelernt und weist im Bereich der Umgangs-
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sprache aktive Kompetenzen auf. Mit dem Französischen ist der Erzähler nur kurz in Kontakt gekommen, konnte hier keine Kompetenz ausbilden und hatte auch später weder Gelegenheit noch Veranlassung, die Sprache zu lernen. Hier zeugen Analysen von agency in Passagen, in denen die Darstellung des politischen Bezugssystems offenkundig wird, dass Herr N. sein Gewordensein und so auch die Ausbildung fremdsprachlicher Kompetenzen in subjektiven Theorien auf die Einschränkungen der Sprachvertiefung durch praktische Anwendung in der DDR bezieht. Die daraus erwachsende Schlussregel – eine Fremdsprache kann nur durch praktische Anwendung erlernt werden – ist maßgeblich für die Verteidigung seiner Lebenswirklichkeit, in der er auch davon überzeugt ist, dass französische Sprache und Hugenottesein kein einander bedingendes Verhältnis darstellen. So bezieht Herr N. sein hugenottisches Bewusstsein einerseits aus der Bearbeitung des Erbes durch gehütete und auch erstellte Materialien, die sowohl genealogische als auch historiographische Aspekte bündeln und sein Interesse generieren. Andererseits erwächst durch das Zusammenspiel von Identität und Alterität in der Dorfgemeinschaft sowie Theorien über Fluchtgeschichten im Zusammenhang mit politisch konnotierten Begriffen wie Freiheit und Sozialismus ein Gefühl der Besonderheit. Religiöse Aspekte wie das Gemeindeleben, Amtshandlungen, Glaubensausübung, der Besuch von Christenlehre und Gottesdiensten werden über argumentative Sequenzen als gewichtige Faktoren nicht nur der hugenottischen Lebenswirklichkeit von Herrn N. vermittelt.
IV Diskussion der Ergebnisse
Anhand der der Feinanalysen und Fallrekonstruktionen wird mit Blick auf das Untersuchungsziel und die Forschungsfragen, die im Verlauf der Untersuchung entwickelt wurden, eine Diskussion der Ergebnisse in Verbindung mit den theoretischen Vorannahmen zur Geschichte der Hugenotten, Identitäts- und Sprachidentitätskonstruktionen eröffnet. Das die Diskussion leitende Ziel besteht in der Beantwortung der Frage: Wirkt die französische Sprache derart identitätskonstitutiv, dass sie über mehrere Jahrhunderte hinweg noch heute die Identität der Hugenottennachfahren konstruiert? Zunächst werden die Vorannahmen der einzelnen Kapitel wiederholt und die im methodischen Teil der Arbeit angesprochenen Generalisierungsverfahren genutzt, um die überindividuellen Aussagen zu Aspekten der Konstruktion von Identität und Sprachidentität der Hugenottennachfahren zu ermöglichen. Es soll hier nicht darum gehen, die Faktoren, die den Sprachenwechsel und den Sprachverlust vor etwa 200 Jahren begünstigt haben, auch in einer aktuellen Erhebung nachweisen zu können. Vielmehr geht es um die kommunikativ vermittelte Form des Umgangs mit dem Französischen als eines der Elemente, die die Identität der Hugenottennachfahren konstruieren können.
5
Zusammenführung theoretischer und empirischer Befunde
Wie in Kapitel 1 ausgeführt wurde, liegen bisher keine Untersuchungen vor, die Aspekte gegenwärtiger Identitätskonstruktionen von Hugenottennachfahren betreffen und auf der Grundlage erhobener Daten in Form von Interviews Aussagen über die Rolle der französischen Sprache in der aktuellen Lebenswirklichkeit treffen. Das mag einerseits an der sprachlichen Unmarkiertheit der Untersuchungsgruppe liegen, andererseits an der damit im Zusammenhang stehenden fehlenden Brisanz in kultureller, politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Die in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse können daher nicht mit schon vorhandenen Forschungsergebnissen zu hugenottischer Identität und Sprachidentität in Beziehung gesetzt und abgeglichen werden. Das gilt zumindest für die gegenwärtigen Identitätskonstruktionen der Hugenottennachfahren. Für die Möglichkeit aber, den in Kapitel 2 etablierten Identitäts- und Sprachidentitätsbegriff einer datenbasierten Überprüfung zu unterziehen – auch um die wissenschaftliche Debatte um Begrifflichkeiten von rein theoretischen Überlegungen zu befreien –, gilt das keineswegs. Die Integration der Analyseergebnisse in den Forschungskontext dient dem Erkenntnisgewinn und der Anschlussfähigkeit der vorgestellten Konzepte. Nachdem bei der Präsentation der Fallstrukturen im Anschluss der Analyse die reine Textebene noch als Basis herangezogen wurde, um die Regelhaftigkeit eines Falls zu fokussieren, löst sich die folgende Darstellung wesentlich stärker von der textuellen Oberfläche des Datenmaterials (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 272). Die an den Fragestellungen orientierten und gesprächsleitenden Dimensionen des Erlebens und der Handlungsorientierung sind für diese Betrachtung wegweisend. Zu den untersuchten Kriterien gehören entsprechend den Fragestellungen und theoretischen Vorannahmen zur Konstruktion von Identität und Sprachidentität
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• die zeitüberdauernden Umgangsweisen mit der hugenottischen Abstammung • Aspekte der Konstruktion eines Selbst- und Weltverhältnisses bezüglich des Zu-
sammenhangs zwischen hugenottischer Abstammung und der französischen Sprache • Bewertungs- und Deutungsmuster im Sinne handlungsleitender Orientierungen und ihre Veränderung im Gespräch • soziodemographische Merkmale, die als Vergleichsdimensionen dienen.
5.1 VERGLEICHENDE UND FALLÜBERGREIFENDE REFLEXIONEN Im Vorfeld der datenzentrierten Arbeit wurden auf Basis des aktuellen Forschungsstandes der Historiographie Fragen formuliert, die die unterschiedlichen Akkulturationsprozesse in den einzelnen Ansiedlungsgebieten als möglichen Einflussfaktor für die gegenwärtigen Identitätskonstruktionen betreffen. Die Ausführungen zu den Ansiedlungsprozessen in Dörfern und Städten in Brandenburg-Preußen und Kursachsen haben gezeigt, dass für die ersten Einwanderergenerationen der Akkulturationsdruck in ländlichen Gebieten meist aufgrund der infrastrukturellen Gegebenheiten erheblich stärker ist und zunächst ein intensiveres Festhalten an Sprache und Kultur zur Folge hat, um ein homogenes Gruppengefühl zu bewahren. Gleichzeitig bewirkt das Leben in kleineren Kolonien, in denen sich verschiedene Gemeinden Kirchenhäuser teilen müssen, französische Gottesdienste und auch der Französischunterricht in Schulen wegen fehlenden Personals nicht angeboten werden können, einen schnelleren Sprachenwechsel. Städtische Kolonien können durch ein ausdifferenziertes kirchliches und säkulares Netzwerk, das sie autark organisieren können, die Kultur faktisch länger erhalten und das Französische auch als reine Kultsprache mit symbolischem Charakter für die „gruppenausweisende[ ] Funktion“ (Hartweg 2005: 156) pflegen. Dabei nimmt die Berliner Kolonie durch ihre Größe und besondere Ansiedlungsprivilegien in Brandenburg-Preußen einen Sonderstatus ein, der Erhalt ihrer distinktiven Merkmale gelingt den Hugenotten und ihren Nachkommen wesentlich leichter. Trotz ihrer beachtlichen Größe muss die Leipziger Kolonie ihre Integrationsprozesse aufgrund des stark lutherisch geprägten Umfelds in Kursachsen vorantreiben, sodass der Erhalt des Französischen und der Kultur erschwert ist. Laut Historiographie speist sich das hugenottische Selbstverständnis über mehrere Generationen nach der Einwanderung aus Aspekten der gemeinsamen Fluchtgeschichte und dem neuen Leben in der Fremde, der geteilten Konfession und französischen Kultur, aus einem Minderheitenstatus im Gastland und schließlich der französischen Sprache. Während der Phase einer Mehrsprachigkeit zeigt die querelle de langues einerseits
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die problematische Auseinandersetzung mit verschiedenen Interessen unter den Nachkommen, andererseits kommt nun die Wahl für das Französische einem „identitären Akt“ (Böhm 2010: 530) gleich. Anhand dieser historiographischen Erkenntnisse wurde als Vorannahme eine mögliche Abstufung zunächst in der Bedeutung der französischen Sprache für die Pflege des hugenottischen Erbes in Betracht gezogen. So könnten Hugenottennachfahren aus Berlin der französischen Sprache durch ein bewusstes Konservieren und den tatsächlich längeren Erhalt in kirchlicher, religiöser und privater Lebenswirklichkeit eine höhere Bedeutung beimessen als Hugenottennachfahren aus Leipzig und letztlich dörflichen Gegenden Brandenburgs und Mecklenburgs, deren Vorfahren dem Druck nach einem Sprachenwechsel schneller nachgeben mussten. Es wurde angenommen, dass Gespräche mit Hugenottennachfahren in ländlichen Gebieten die französische Sprache kaum als sprachidentitätskonstitutives Element zutage fördern, da der Sprachverlust hier wesentlich früher eingesetzt hat. Zudem wurde vermutet, dass eine Einbindung der interviewten Personen in kirchliche Gemeinden und Hugenottenvereinen ein Einflussfaktor auf die Konstruktion von Identität und Sprachidentität sein könnte, der sich in den Gesprächen deutlich manifestieren wird. Identitäts- und Sprachidentitätskonstruktionen im Vergleich Als eine in Berlin lebende und der französisch-reformierten Gemeinde angehörige Hugenottennachfahrin zeigt Frau P. durchweg ein Muster in der Identitätskonstruktion, bei dem gruppen- und glaubensbezogene Zugehörigkeitsempfindung, intensive Gemeindearbeit und der Umgang mit ihrer genealogischen Abstammung konstitutive Elemente hugenottischer Identität darstellen. Sie dienen als sozialdistinktive Merkmale ihres Seins, wobei insbesondere durch die Auseinandersetzung mit Dritten eine Alterität des Seins beansprucht wird. Die Bewahrung familiengeschichtlicher Besonderheiten wie der Erhalt eines Stammbaums erfährt ihre Grenze in der fehlenden Fortführung der Französischkompetenz ihrer direkten Vorfahren. Ihre Fallstruktur charakterisiert sich durch eine Sprachidentitätskonstruktion, bei der – trotz vorhandener Fremdsprachenkompetenz – in Kohärenz zum Patienserleben der sprachbiographischen Entwicklung bezüglich des Französischen und der fehlenden lebensweltlichen Einbindung der Sprache auch handlungsorientierend keine kommunizierte Verbindung von Hugenottesein und französischer Sprache aufgewiesen wird. Allerdings kann hier situativ ein Lernwunsch ko-konstruiert werden, der hinsichtlich fremdsprachlicher Kompetenzbekundung Potential zur Realisierung aufweist. Ähnlich verhält es sich bei der Berliner Hugenottennachfahrin Frau A., die jedoch keiner Gemeinde angehört. Auf der Oberfläche unterscheiden sich die Fälle von Frau P. und Frau A. hinsichtlich der Bestimmtheit situativer Selbstkontinuierung als Hugenottennachfahrin, die bei Frau A. zunächst von Vagheit und Unsi-
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cherheit geprägt ist und erst durch die fortlaufende kommunikative Auseinandersetzung gesicherter generiert wird. Auch hier sind gruppenbezogene Zugehörigkeitsund Abstammungsempfindungen anlässlich des Nachnamens sowie die Auseinandersetzung mit der Herkunft durch Dritte für die Alteritätsbehauptung verantwortlich, die sich mit voranschreitender Dar- und Herstellung des Selbst noch verstärkt. Als Anlass für die Selbstversicherungen ist die in den Zeitbezügen alternierende Reaktualisierung lebensgeschichtlicher Episoden, die auf distinktive Merkmale bezogen sind, notwendig. Innerhalb der Sprachidentitätskonstruktion ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit von Hugenottesein und französischer Sprache nicht verankert, sodass ein Kohärenzanspruch hinsichtlich der als Fremdinitiierung wahrgenommenen Auseinandersetzung mit der Sprache bedient werden kann. Parallel dazu wirkt die Selbstversicherung als Hugenottennachfahrin wieder gemindert, wenn es um das Thema der französischen Sprache geht. Eine generell vorhandene Fremdsprachenkompetenz und eine thematische Fokussierung plausibilisieren den vermittelten Sprachlernwunsch mit voranschreitender Interaktion. Beide Fälle gleichen sich insbesondere in der Ausgestaltung einer pragmatischen Handlungsorientierung hinsichtlich des Ausbaus aktiver Sprachkompetenz, der letztlich nur dann erfolgen würde, wenn es innerhalb der Lebenswirklichkeit vonnöten wäre. Vor allem scheinen es Zugeständnisse an die Hörerin und das antizipierte Gesprächsziel zu sein, dass im dynamischen Prozess der Sprachidentitätskonstruktion Hinwendungen zur französischen Sprache stattfinden. Eine gesamtbiographische Relevanz der französischen Sprache als identitätskonstitutives Element ist in diesen beiden Fällen jedoch nicht erkennbar. Frau L. konstruiert als Leipziger Hugenottennachfahrin und aktives Gemeindeglied eine Identität, in der gruppen-, glaubens- und gemeindebezogene Zugehörigkeitsempfindung, genealogische und historiographische Aspekte für die Bedeutungsstiftung ihres hugenottischen Seins verantwortlich sind. Die Verbundenheit zum hugenottischen Erbe ist als materialbasierte Beschäftigung auf das Sammeln von Artikeln, Chroniken und Stammbäumen angewiesen, bleibt jedoch als affektive Bekundung vor allem im Hinblick auf Alteritätsgefühle eher nüchtern. Formulierungsbezogene Vagheit und die Sorge um intersubjektive Akzeptanz tragen die Konstruktion von Identität, die dadurch stark auf Ratifizierungsmaßnahmen des Gegenübers zu beruhen scheint. Auch für die Sprachidentität, die bezüglich der französischen Sprache mit affektiven Bekundungen gegenüber der Hörerin konstruiert wird, ist das Muster zu erkennen, der nicht vorhandenen Sprachkompetenz wenigstens eine positive Bewertung an die Seite zu stellen. Die zeitgeschichtlichen Umstände ihrer Biographie werden als wiederkehrende kontinuitäts- und kohärenzstiftende Plausibilisierungen für das Patienserleben, insbesondere auch der fremdsprachbiographischen Entwicklung, verantwortlich gemacht. Ähnlich konstruiert Herr O. als Leipziger Hugenottennachfahre und aktives Gemeindeglied kommunikativ ein Selbst, das gemeinde- und glaubensbezogene Zugehörigkeitsgefühle als
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Säulen der hugenottischen Identitätskonstruktion offenbart und durch den steten Rückbezug auf politische Situationen der Lebensgeschichte sowohl die Ausprägung hugenottischen Selbstverständnisses als auch fremdsprachliche Kompetenzausprägung rechtfertigen kann. Genealogische Aspekte werden bei Herrn O. zwar nicht als konstitutive Elemente der Identitätskonstruktion gezeigt, aber die Fälle ähneln sich stark im strukturellen Aufbau einer den politischen Umständen ausgelieferten und dennoch handlungsmächtigen Instanz des Gewordenseins. Bezüglich der Sprachidentitätskonstruktion ist in beiden Fällen das nicht vorhandene Verbundenheitsgefühl von Hugenottesein und französischer Sprache in kohärenter Weise auch durch die Bekundung generell mangelnder Fremdsprachenkompetenz markant. Die Sprachidentität wird vor allem im Hinblick auf das Englische als alltagspraktische Notwendigkeit von nützlichkeitsorientierten Deutungsregeln getragen. Eine gesprächsbedingte Veränderung der das Französische betreffenden Handlungsorientierung durch die fokussierte Auseinandersetzung mit Herkunft und Sprache ist kaum zu erkennen. Zudem wird die fehlende Notwendigkeit für eine aktive Sprachkompetenz kenntlich gemacht. Als wiederkehrendes Muster in der Konstruktion von hugenottischer Identität und Sprachidentität ist auch für das Gewordensein von Herrn N. der stete Bezug zum politischen Zeitgeschehen zu erkennen, sodass politische Bedingungen das eigentlich vorhandene Interesse sowohl generell an Fremdsprachen als auch am Französischen und die dennoch nicht vorhandene Kompetenz erklärt. So besteht auch bei Herrn N. keine Beziehung zwischen dem Hugenottesein und der französischen Sprache, die als unabdingbare Komponente erachtet wird. In diesem strukturell ähnlichen Fall werden Deutung und Bewertung seines Selbst- und Weltverhältnisses kohärent mit äußeren Umständen in Einklang gebracht, um Kontingenzen und Widersprüchlichkeiten keinen Raum zu lassen. Dazu zählt vor allem die Unmöglichkeit der praktischen Anwendung des Französischen, die Sprachidentität wird mit argumentativen Ketten und Schlussregeln zum Fremdsprachlernen konstruiert. Sein hugenottisches Bewusstsein speist sich kontinuierlich aus gemeinde-, glaubens- und gruppenbezogenen Zugehörigkeitsgefühlen. Sie sind gepaart mit genealogischem und historischem Interesse, das sich in engagierter Materialsammlung und erstellung manifestiert. Diese Aspekte sind für Alteritätsbehauptungen verantwortlich und erzeugen so auch bedeutungsstiftende Merkmale seiner Biographie. Obwohl die Fälle von Frau L., Herrn O. und Herrn N. sich auf der Oberfläche in ihrer kommunikativen Dar- und Herstellung des Selbst beispielsweise in der KoKonstruktion unterscheiden, sind es letztlich die lebensgeschichtlichen Relevanzen, Begründungszusammenhänge und Handlungsorientierungen, die die Fälle durch die Ähnlichkeit der Regeln für die Strukturbildung vereinen. Strukturelle Ähnlichkeit im Aufbau der lebensgeschichtlichen Relevanz von Zeitgeschehen weist auch die Konstruktion von Identität und Sprachidentität des Pots-
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damer Gemeindeglieds Herrn W. auf. Allerdings ist hier das stets wiederkehrende Muster viel stärker mit den politischen Umbrüchen, dem Kriegserleben und den daraus resultierenden Widrigkeiten verbunden, sodass sein kommunikatives Selbstund Weltverhältnis sich fast ausschließlich auf die mühsame Bearbeitung der kontingenten Extremerfahrungen stützt. Handlungsorientierend wirken tradierte Mythen über die Hugenotten als vorbildhafte Folie seines Verhaltens und werden in der Interaktion für sein Gewordensein relevant gesetzt. Die Mythen dienen auch als Bewältigungsmöglichkeit, wobei die Identität von nachlassenden Zugehörigkeitsempfindungen zur Glaubensgemeinde und dem genealogischen Abstammungsaspekt in der Konstruktion mehr gerechtfertigt als getragen wird. Ein von Dritten ausgelöstes Alteritätsgefühl markiert dennoch sein hugenottisches Bewusstsein. Die Konstruktion von Sprachidentität unterliegt ebenfalls dem Muster des steten Rückbezugs auf lebensgeschichtliche Kontingenz, die die Handlungsohnmacht plausibilisiert, und erhält über diese Verknüpfungsleistung ihren kohärenten und kontinuierlichen Charakter. Seine Sprachidentität zeigt allenfalls in der Perspektive der KoKonstruktion eine gefühlte Verbindung von französischer Sprache und Hugenottesein. Die fehlende Notwendigkeit einer aktiven Sprachkompetenz des Französischen in der Lebenswirklichkeit stellt den Sinnzusammenhang zu geringem Interesse und nicht vorhandener französischer Sprachkompetenz her. Als aktives Gemeindeglied und Erbschaftspflegerin zeigt die uckermärkische Hugenottennachfahrin Frau T. eine Sprachidentität, die sich intensiver als andere an der ko-konstruierenden Interaktion hinsichtlich der gefühlten Verbindung von Hugenottesein und französischer Sprache orientiert. Wiederkehrende Schambekundungen, die die französischsprachige Kompetenzausbildung betreffen, wechseln sich mit der handlungsorientierenden Bewertung der gefühlten Unnötigkeit der Sprache für das Hugenottesein ab. Die Selbstkontinuierung unterliegt hier besonders stark den Regeln der Interaktion, da verständnissichernde Maßnahmen und die stete Sorge um Akzeptanz der Aussagen den Konstruktionsprozess tragen und für ein kontinuierliches Selbstverhältnis sorgen. Während in allen anderen Fällen der genealogische Abstammungsaspekt im Konstruktionsprozess als Merkmal der Verbundenheit und vor allem Distinktion dient – ausgenommen sei Herr O., der die Gewöhnlichkeit einer Migrationsgesellschaft dem genealogischen Phänomen in der Bewertung vorzieht – konstruiert Frau T. ihre Identität als Hugenottennachfahrin stärker durch selbstthematisierende Aussagen bezüglich der Traditionspflege, Gemeindezugehörigkeit sowie Besonderheits- und Alteritätsempfinden. Sie prägen auch unter Zuhilfenahme von Mythen und Stilisierung hugenottische Identität, die unter Einfluss der zeitgeschichtlichen Lebenswirklichkeit vernachlässigt und von Dritten aber reaktiviert werden kann. Als funktionale Konstruktionselemente des hugenottischen Seins bilden diese Aspekte die Struktur ihres kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses, die dergestalt den anderen Fällen ähnelt. Auch ihre Handlungsorientierung ist
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durch die kommunikativ vermittelten Bewertungsmuster trotz des bekundeten Interesses nicht auf den Ausbau einer Französischkompetenz ausgerichtet. Die Fälle von Herrn J. und Herrn Y. stellen sich als strukturelle Gegensätze zu den vorangegangenen Fällen dar. Der Berliner Hugenottennachfahre Herr J. mit Wurzeln in Magdeburg offenbart ein Muster der Identitätskonstruktion, bei dem trotz aktiver Mitgliedschaft in der Glaubensgemeinde eher die Gruppenzugehörigkeit sowie historische, genealogische und kulturelle Aspekte der Genese von Besonderheits- und Alteritätsempfinden dienen. Auch bei Herrn J. sind es aus der Historiographie entnommene Mythen über die Hugenotten, die für sein Selbst- und Weltverhältnis bedeutungsstiftend sind. Die abweichende Struktur beider Fälle zu den anderen bildet sich hier durch den unentwegten Aufbau eines handlungsmächtigen Agens der eigenen Biographie, sodass beispielsweise selbst verursachte Vernachlässigungen selten äußeren Widrigkeiten zugesprochen werden. Ein regelmäßiger Abgleich von Lebenswirklichkeit, die insbesondere durch zeitgeschichtliche Umstände geprägt ist, und der Handlungsorientierung bewirkt einen zeitüberdauernden Sinnzusammenhang seines hugenottischen Seins, zu dem auch die aktive Kompetenz der französischen Sprache zu rechnen ist. Die Sprachidentitätskonstruktion wird in der Fallstruktur von Herr J. von einem gefühlt selbstverständlichen Zusammenhang zwischen hugenottischem Sein und französischer Sprache getragen, der auch durch Schamempfindung gegenüber Dritten ausgelöst wird. Dieses Verbundenheitsgefühl kann nur in der Bearbeitung, also im Aufbau aktiver Sprachkompetenz und in familiärer Vermittlungstätigkeit, aufgelöst werden. Zur Umsetzung tragen generell vorhandenes Interesse und fremdsprachliche Kompetenz zusätzlich bei. Herr Y. ist als Berliner Hugenottennachfahre kein Mitglied einer Gemeinde, zeigt aber eine Konstruktion von hugenottischer Identität und Sprachidentität, die sich stark auf die durch das Gespräch ko-konstruierte Wahrnehmung als Gruppenzughöriger mit ererbten hugenottischen, insbesondere auch französischen Eigenschaften und daraus entwickelte Begründungsmuster seines Gewordenseins bezieht. Seine Struktur erhält der Fall insbesondere durch die aktuell initiierte Auseinandersetzung mit dem Thema seiner Herkunft, die er in Verbindung mit seinem historischen und kulturellen Interesse als besonders erachtet. In Kohärenz zur Ausrichtung der Deutungsmuster auf das Gesprächsziel ist auch die Bewertung des bejahten Zusammenhangs von französischer Sprache und Hugenottesein wie eine einzuhaltende Regel der Selbst- und Weltdarstellung zu betrachten. So erscheint die Scham über die nicht ausgebaute Französischkompetenz in der Gesetzmäßigkeit seines Falls nur konsequent und ist unter Maßgabe des eigenen Agenserlebens als inkohärenter Aspekt der Lebenswirklichkeit für die Konstruktion von Sprachidentität von funktionaler Bedeutung. Die über das Gespräch anhaltenden Schambekundungen und der immer intensiver kommunizierte Lernwunsch mit dem zu erreichenden Ideal werden seiner Performanz erst gerecht.
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Alterität als Element der Identitätskonstruktion Die Selbstbilder der Hugenottennachfahren, eine spezifische Erinnerungskultur und die lebenspraktische Ausgestaltung des Umgangs mit der Herkunft sind trotz wiederkehrender Muster individuell einzigartig. Es konnte gezeigt werden, dass das betreffende Lebensumfeld, die dörflichen oder städtischen Umgebungen, die von den jeweiligen Ansiedlungs- und Sprachwechselprozessen unterschiedlich geprägt sind, für die Konstruktion von hugenottischer Identität nicht entscheidend ist. Familieninterne, kulturelle und historische Tradierungen als generationenübergreifende Narrative bestimmen das aktuelle kommunikative Selbst- und Weltverhältnis. Dazu sind stets Erfahrungsbildung und Erinnernungsprozesse geteilter Natur in einem sozialen Milieu nötig, das über mehrere Generationen hinweg eine „Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft“ bildet (vgl. Assmann 2006: 25). Dem intergenerationalen Austausch im Kommunikationsrahmen einer Gruppe, insbesondere einer Familie, wird eine „hochgradig selektive“ (Dimbath/Wehling 2011: 20) Erinnerungsund Erzählpraxis zugeschrieben, die sich an Prägung, Einstellungen und Bedürfnissen der einzelnen Mitglieder orientiert (vgl. auch Welzer 2010 zur Veränderung der Vergangenheit in Nacherzählungsprozessen). Auch in diesem intergenerationalen Austausch, in dem individuelle und kollektive Erlebenswelt miteinander stets in wechselseitiger Aushandlung stehen, greifen die charakteristischen Merkmale des Erzählens. Die Selektivität in der Auswahl der Erzählinhalte bedingt die Handlungsorientierung der jeweiligen Gemeinschaft (vgl. Hildebrand 1999: 28), sodass beispielsweise eine nicht vorhandene Fokussierung auf Elemente der hugenottischen Geschichte oder eine vermittelte, gefühlte Andersartigkeit ihren Einfluss auf das Verblassen oder die Bewahrung haben müssen. Grundsätzlich bedarf es Personen oder Gruppierungen im Umfeld, die aktiv eine Vermittlerrolle übernehmen oder, teils unbewusst, den Anlass für die Auseinandersetzung schaffen. Dabei kann es sich um die religiöse Gemeinschaft, ein Familienmitglied oder auch eine Schulfreundin handeln. Die vorhandene Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde, die nicht vorhandene Zugehörigkeit oder gar die völlige Ablehnung von Gruppierungen sind nach Analyse und Auswertung nicht als eindimensionaler Einflussfaktor für kommunikativ vermittelte Umgangsweisen mit der hugenottischen Herkunft zu verstehen. Sie sind in ihrer Verschränkung mit allen anderen die Biographie betreffenenden Aspekten zu komplex, um eine klare Entsprechung zu generieren und verändern daher die Konstruktion von hugenottischer Identität und Sprachidentität nicht in eine eindeutige Richtung. Für einige Hugenottennachfahren, insbesondere für Frau P., Herrn O., Frau T. und Herrn N., haben vor allem Gemeindearbeit, Amtshandlungen und konfessionelle Zugehörigkeit die fokussierte Herausbildung hugenottischer Identifikationsprozesse und eine stärkere Auseinandersetzung mit der hugenottischen Geschichte
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zur Folge. Entgegen der Annahme, dass das hugenottische Erbe reduziert nur in der Anfertigung von Stammbäumen besteht (vgl. Böhm 2010: 531), zeigt eine intensive Beschäftigung mit dem Hugenottesein sich auch über die Pflege von häuslichen und kulturellen Traditionen, Beteiligung in Vereinen zum Erhalt des hugenottischen Erbes, privater Materialsammlung und eigeninitiierte Erstellung von Chroniken unter Zuhilfenahme archivalischer Quellen. Genealogisch bedingtes Abstammungs- und Alteritätsempfinden sowie Bewusstsein und Interesse für die Geschichte der Vorfahren sind unabhängig von intensiver glaubensbezogener Lebenswirklichkeit wie bei Frau T., Frau L., Herrn W. und Herrn J. ausgeprägt vorhanden und letztlich auch ohne Gemeindezugehörigkeit denkbar. Dies gilt für Frau A. und wesentlich stärker für Herrn Y., der das mehrfach verdeutlicht. Insbesondere das Gefühl der Alterität, die Abgrenzung zu denen, die deutsche Wurzeln haben, ist in allen Fällen zu finden und nicht immer auf geographische, konfessionelle oder gemeindebezogene Merkmale zurückzuführen. In einigen Fällen, verstärkt bei Frau T. und Frau L., führt diese oft als Selbstverständlichkeit vermittelte Andersartigkeit zu einem Gefühl von Stolz, das sich dann mithilfe der Übernahme von die Hugenotten glorifizierenden Mythen begründen lässt. Die Stilisierung kann wie bei Herrn W. aber auch für die lebenspraktische Ausrichtung und Bewältigung genutzt werden. Die kommunikative Verbindung von Kriegserleben als Extremform kontingenter Wirklichkeit und hugenottischer Herkunft als von ihm unbeeinflussbarer Faktor eröffnet im Fall von Herrn W. die Möglichkeit eines Deutungsmusters, das mindestens in diesem einen Moment den bedeutungsstiftenden Zusammenhang der Vergangenheitsbewältigung anzeigt. Grundsätzlich erfahren die Versprachlichung und Erzählbarkeit von Emotionen, affektiven Beziehungen, belastenden Situationen oder gar traumatischen Erfahrungen hier jedoch Grenzen, da diese selten „in Form episodisch strukturierter, bewusstseinsfähiger und narrativierbarer Erinnerungen in die autobiographische Gedächtnisbasis eingespeist“ (Waller/Scheidt 2010: 64) sind. Konfessionell bedingte Alteritätsbekundungen können unabhängig von geographischen Aspekten und Ausprägung des Gemeindebezugs als Element der Identitätskonstruktionen ausgemacht werden. Ein genealogisch begründetes Abgrenzungsbedürfnis kann gesichert nur im Fall von Herrn O. vollständig ausgeschlossen werden, da sein Selbstverhältnis diesbezüglich durch die Annahme der Normalität von Migrationsgesellschaften bestimmt ist. Insofern scheint das Gefühl der Distinktion der meisten Interviewten gegenüber Menschen mit deutschen Wurzeln nicht nur aufgrund der enormen Zeitspanne, in der mindestens zehn Generationen in den Regionen des heutigen Deutschlands geboren sind, erstaunlich. Auch die Lebenswirklichkeit der Hugenottennachfahren müsste mindestens vom Hörensagen von der Selbstverständlichkeit einer Migrationsgesellschaft geprägt sein, wobei soziodemographische Aspekte auch in dieser Perspektive nicht ins Gewicht fallen.
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Die französische Sprache in der Konstruktion von Sprachidentität Ähnliches gilt für die hugenottische Sprachidentität, die inhaltlich unabhängig von mehr oder weniger aktiver Gemeindezugehörigkeit, Alter, biographischem Verlauf und geographischer Merkmale des Lebensraums konstruiert wird. Beispielsweise konnte nicht festgestellt werden, dass das Aufwachsen und Leben in Berlin, wo ein beharrliches Festhalten an der französischen Sprache länger möglich war und auch heute noch französischsprachige Gottesdienste angeboten werden, mit dem Ausmaß aktueller Sprachpflege und -kompetenz in einem auffälligen Zusammenhang stehen. Im Umkehrschluss steht auch eine Handlungsorientierung der Nachfahren zur französischen Sprache in ländlichen Gegenden nicht mit ihrer Bewertung für die Lebenswirklichkeit in einem proportionalen Verhältnis. Weiterhin haben weder die Intensität der Auseinandersetzung mit der hugenottischen Herkunft noch eine generelle lebensgeschichtliche Konfrontation mit Fremdsprachen durch Urlaube, andere Freizeitaktivitäten oder den Beruf für die Sprachidentität der Nachfahren hinsichtlich des Französischen einen erkennbaren Einfluss. Für die Erfüllung eines in den Gesprächen kommunizierten Alteritätsanspruches sind eine fremdsprachliche Kompetenz sowie die Auffassung ihrer Bedeutung für das hugenottische Sein keine Voraussetzung. Ist das Französische in aktiver Sprachkompetenz für die aktuelle Lebenswirklichkeit nicht vonnöten, wird meist kein Handlungsbedarf gesehen, das Französische zu erlernen oder einst vohandene Kompetenzen zu reaktivieren. Der Sprachwechsel der Hugenotten vom Französischen zum Deutschen ist zum Ende des 18. Jahrhunderts nahezu abgeschlossen. Dennoch zeigt ein Vergleich mit anderen religiösen oder ethnischen Minderheiten und Sprachgemeinschaften, die die Sprache ihrer Herkunft auch über weit mehr als vier Generationen bis in die heutige Zeit erhalten haben, dass ganz besondere regionale, auf die Gruppenstruktur bezogene, politische oder religiöse Voraussetzungen für den Erhalt geschaffen sein müssen. Natürlich ist dieser Vergleich immer mit Vorsicht zu betrachten, da die Verknüpfung verschiedenster Migrationsvorgänge oder Sprachwechselprozesse vor allem in diachroner Perspektive zu kurzschlüssigen Ergebnissen führen könnte. Ein Blick auf die Besonderheiten von Sprachinseln kann jedoch eine mögliche Erklärung dafür liefern, warum die Hugenottennachfahren heutzutage kaum eine lernmotivierende Notwendigkeit in der französischen Sprache für ihre Identität sehen. Sprachinseln, jene „Sprachgemeinschaften auf begrenztem Raum mit Sprachen oder Sprachvarietäten, die sich von der Sprache der Umgebung mehr oder weniger deutlich unterscheiden“ (Rosenberg 2003: 275), zeichnen sich vor allem durch ein mit der Minderheitensprache in Verbindung stehendes „Bewusstsein der eigenen Distinktivität“ und ein „dichtes kommunikatives Netzwerk“ (Rosenberg 2003: 275) aus. Ein Jahrhunderte währender Spracherhalt kann in diesen Fällen trotz des Kontakts mit der umgebenden Sprache beispielsweise durch die regionale Abgrenzung, durch private Sprachpflege, von politischer sowie religiöser Seite als kulturelles oder als so-
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zialdistinktives Merkmal gefördert werden. Oftmals kommen mehrere dieser Gründe zusammen (vgl. Mattheier 1994 zur spracherhaltenden „Sprachinselmentalität“, Siebenhaar 2004 zu den deutschen Sprachinseln in der französischsprachigen Schweiz, Ammon 2015 zu den Motiven des Spracherhalts). Eine Studie zum aktuellen Spracherhalt katholischer Sorben (Kimura 2015) untermauert die These, dass es einen konkreten Anlass für den Erhalt oder das Erlernen des Französischen bei den Hugenotten geben müsste. Die autochthone sprachlich-ethnische Minderheit verzeichnet keine ähnliche Flucht- und Ansiedlungsgeschichte, die Sorben mussten sich in ihrer Geschichte aber seit Beginn des 13. Jahrhunderts mit einem zunehmenden Sprachverlust, mit umfangreichen Sprachregelungen und -verboten, aber auch politischer Sprachförderung auseinandersetzen. Der derzeitige Spracherhalt der katholischen Sorben erinnert an den institutionalisierten Spracherhalt der Hugenotten im 18. Jahrhundert, als allerdings von gegenwärtiger Mobilität, Digitalisierung und Diversifizierung noch nicht die Rede sein konnte. Für den aktiven Erhalt dieser bedrohten Sprache sind also die motivierenden Faktoren in heutiger Zeit interessant. Obwohl alle Sorbischsprachigen heutzutage fließend Deutsch sprechen, ist Sorbisch die Alltagssprache einer kleinen katholischen Region in der westlichen Oberlausitz (vgl. Kimura 2015: 15). Laut Kimuras Studie zu Sprachhandlungen liegt das Gelingen des Spracherhalts an der unbedingten Förderung des Sorbischen durch die Kirche, die durch die spracherhaltenden Maßnahmen, ein bestimmtes Sprachmanagement, auch eine stärkere Verbindung der Gemeindeglieder untereinander bewirkt (vgl. Kimura 2015: 29). Jaenecke hat in ihrer Untersuchung zum Spracherhalt der Sorben (2003) ebenfalls festgestellt, dass eine aktive Kompetenz der Sprache als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gilt. In diesem Zuammenhang muss die sorbische Sprache identitätskonstitutiv wirken. So findet das Sorbische „Eingang in nahezu alle Bereiche des religiösen Lebens, die Ausnahmen werden von den Pfarrern und Gemeindemitgliedern problematisiert“ (vgl. Jaenecke 2003: 334). Solche sprachregelnden und -fördernden Maßnahmen werden von den französisch-reformierten Gemeinden, aus denen die Interviewten stammen, nicht vorgegeben (vgl. beispielhaft Herr N.: „Aber um den Glauben zu praktizieren oder als Hugenottennachkomme äh hier zurechtzukommen, braucht man Französisch nich“), sodass weder auf der Ebene aktiver Glaubensausübung einer Hugenottin noch auf dem daraus erwachsenden hugenottischen Selbstverständnis ein normierender Druck lastet. Ebenso existieren weder innerhalb noch außerhalb der Gemeinden „dichte[ ] kommunikative[ ] Netzwerk[e]“ (Rosenberg 2003: 275), die eine Französischkompetenz der Interviewten unumgänglich machen würden. Selbst die Französischkompetenz direkter Vorfahren, Großeltern und Eltern, hat hier für die private Pflege keine nennenswerten Auswirkungen. Für das „Bewusstsein der eigenen Distinktivität“ (Rosenberg 2003: 275) ist das Französische eher abkömmlich. Fehlen die alltagspraktischen Anwendungsbereiche, entsprechenden Kommunikationsorte oder eine auf die Förderung und den Erhalt des Französischen ausgerichtete
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Sprachpolitik, besteht bei den Hugenottennachfahren wenig intrinsisches Verlangen (vgl. beispielhaft Frau A.: „Also ich hab jetz nich das Gefühl, dass ich irgendwas aufholen müsste, um da näher ranzukommen oder so“). Einzig das von Dritten ausgelöste Schamgefühl über die nicht vorhandene Sprachkompetenz kann je nach Art, wie jemand wahrgenommen werden möchte, zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Französischen führen (beispielhaft Herr J.: „Wenn man einen französischen Nachnamen hat und andauernd auf seine Vorfahren angesprochen wird und selber kein Französisch kann, is das peinlich.“). Auch die Existenz des frankophonen Gemeindeteils der Berliner Gemeinde kann, wie im Fall von Frau P. gezeigt wurde, einen Wunsch zur kommunikationserleichternden Kompetenzreaktivierung auslösen, die Überlegungen bleiben in diesem Zusammenhang doch eher hypothetisch. So kann festgehalten werden, dass die Motivation zum Ausbau fremdsprachlicher Kompetenz vorwiegend einen konkreten Anwendungskontext im Hier und Jetzt benötigt. Erfährt der Alltag der Hugenottennachfahren eine problemlose Bewältigung ohne den Einsatz der französischen Sprache auch als distinktives Merkmal, wird ihre Bedeutung für die Erfüllung hugenottischer Lebenswirklichkeit eher negiert. Nach wie vor vorhandene Narrative des frommen und fleißigen Hugenotten mit dramatischer Flucht- und Ansiedlungsgeschichte können dennoch die Einschätzung über eine notwendige Verbindung französischer Sprache und Hugenottesein beeinflussen. So konnte beobachtet werden, dass diejenigen Hugenottennachfahren, die sich stärker als andere am stilisierten Geschichtsbild orientieren, auch der französischen Sprache theoretisch eine höhere Bedeutung beimessen und handlungsorientierend verstärkt Rechtfertigungen, Begründungen und Argumentationsversuche in der Erzählwelt oder sogar Maßnahmen in der erzählten Welt einleiten. Dies kann als Beispiel für die erste Prämisse des Symbolischen Interaktionismus gesehen werden, der zufolge Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Dinge für den Menschen haben (vgl. Blumer 2013: 64). Zudem gibt die Handlung selbst, wahlweise die in der Lebenswirklichkeit oder die im Gespräch, Aufschluss über die Bedeutung, die ein Objekt für die jeweilige Person hat. Diese zweite Prämisse verhilft dem interpretativen Schluss zu seiner Güte. Für die betreffenden Nachfahren, allen voran Herr J. und Herr Y., besteht die französische Sprache in der Konstruktion von Sprachidentität als konstitutives Element hugenottischen Selbst- und Weltverhältnisses. Selbst in diesem Deutungsmuster bedarf es aber keiner aktiven Sprachbeherrschung. Durch den ko-konstruktiven Charakter des Interviews konstruieren die Nachfahren je nach Darstellungsbedürfnis eine Sprachidentität, die das Französische als konstitutive Komponente enthalten kann. Daraus resultiert für den aktuellen Gesprächskontext und die erzählte Zeit jedoch nicht unbedingt ein sprachzugewandtes Verhalten. Obwohl in fast allen Sprachenportraits das Französische einen Platz gefunden hat und obwohl eine thematische Engführung auf die französische Sprache von den interviewten Person eigeninitiiert ausgehen konnte, kann das allein dem Umstand, mit einer Sprachwissenschaftlerin ein Ge-
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spräch über Sprachen zu führen, also ausschließlich dem Kontext, geschuldet sein. In einem Fall wurde gezeigt, dass die französische Sprache auf der Ebene der Art und Weise des Konstruktionsprozesses von Sprachidentität genutzt wird. Die Präsentation von Französischkompetenz von Herrn N. durch Zitate zeigt neben dem inhaltlichen Bezug ein Darstellungsverfahren an, das sonst nicht beobachtet werden konnte. Das verstärkt die interpretative Gewichtung der Positionierungsprozesse, der performativen Absichten und Darstellungsinteressen, die den Unterschied zwischen Erleben und Erzählen (vgl. Rosenthal 2010: 216) deutlich machen. Die biographische Bedeutungs- und Sinnstiftung stellt sich in einem einzigen Moment dar, wobei auch zu jedem Zeitpunkt des Gesprächs durch die Verschränkung von Zeit und Erzählung, also die Temporalisierung von Wirklichkeit ihren Einfluss auf die Ausgestaltung des vermittelten Sinns haben muss. Insofern ist die Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Denken und Fühlen nichts anderes als etwas Vergängliches, das dadurch aber nicht minder konstitutiv für die Identitätskonstruktion ist. Inwiefern das (Selbst-)Werden innerhalb eines Gesprächs die sinnstiftenden Merkmale hugenottischer Identitätskonstruktion verändern kann, zeigen die Fälle von Frau P., Frau A. und besonders Herrn Y., bei denen Sprachlernwünsche über die Dauer des Interviews immer stärker generiert werden. Der Fragmentisierungsthese des Subjekts zum Trotz dekonstruiert mit dieser Veränderung jedoch keiner der Hugenottennachfahren sein Selbst, weil er plötzlich ganz andere Bedürfnisse anzeigt. Es ist eine dem Erzählen inhärente Besonderheit, dass Vergangenheit – und dazu zählt auch die Vergangenheit der letzten drei Minuten eines Gesprächs – immer wieder neu geordnet und bewertet wird. Das Ergebnis der Untersuchung ist die Erkenntnis, dass die französische Sprache für die Identitätskonstruktion der Hugenottennachfahren letztlich eine verzichtbare Komponente darstellt. Dies ist unabhängig vom Ausmaß der Auseinandersetzung mit anderen Aspekten des hugenottischen Erbes. Allenfalls auf der thematischen Ebene eines Gesprächs konnte das Französische im Auf- und Abbau von Sprachidentität als temporäres und situatives Element der Identitätskonstruktion gefunden werden.
5.2 RESSOURCEN UND GRENZEN DER REKONSTRUKTION Da ein gelebtes Leben von der Außenperspektive nur als „sprachabhängige Erinnerung“ (Straub/Sichler 1989: 224) zugänglich ist, bleibt nichts anderes übrig, als die bekannten Größen einer Gesprächspartnerin – alle Angaben im Vorfeld des Interviews, alle Äußerungen im Interview – und alle gesprächsexternen Wissensressourcen der Hörerin zur Erhebungsgesamtheit zu erklären. Die jeweiligen Wissensressourcen im Gespräch sind für eine Interaktion Voraussetzung, werden mit jedem
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Gesprächsschritt aktualisiert und sind so auch Produkt einer geteilten Handlungssequenz (vgl. Deppermann 2015b: 4). Ist das geteilte Wissen zunächst nicht vorhanden oder misslingen grounding-Prozesse, entstehen im Interaktionsverlauf aber auch fruchtbare Missverständnisse, die auswertungsrelevante Reparaturen erfordern und neue Kontexte öffnen. Letztlich ist die Aufdeckung der die Lebenswirklichkeit betreffenden Merkmale der interviewten Hugenottennachfahren als Hintergrundinformationen für rekonstruktive Interpretationen unumgänglich. Dazu gehören die Einbindung in Glaubensgemeinschaften oder Vereinen sowie Aspekte des geographischen Umfelds, den vergangenen und gegenwärtigen räumlichen Bezugspunkten. Diese Bezugspunkte wurden in Kombination mit den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des vergangenen – beispielhaft steht hier das Leben in der DDR – sowie aktuellen Lebensmittelpunkts in die Arbeit an den Gesprächsdaten automatisch durch den Einsatz ethnographischen Wissens zur interaktiven Verständnissicherung im Interview einbezogen. In dieser Form kann und muss eine Biographie nicht in Gänze erschlossen werden. Selbst in weniger umfangreichen Erzählungen oder knappen Frage-AntwortSequenzen können ein Nebeneinander und dann eine auswertungstechnische Gegenüberstellung von mehr oder weniger bedeutungsstiftenden Inhalten identifiziert werden. Das Ziel ist, die Aspekte, die von der Sprecherin biographisch auf bestimmte Art und Weise relevant gesetzt werden, zu filtern und sie rekonstruktionslogisch mit Blick auf die Dynamik des Konstruktionsprozesses zu bearbeiten. So hat auch die Analysearbeit mit konstruktionsgrammatischen Ansätzen (vgl. Deppermann 2006) ihre Berechtigung, wenn davon ausgegangen wird, dass grammatische Regelhaftigkeiten zwar bestehen, aber je nach Performanz in der Interaktion verändert werden können (vgl. Günthner 2007b: 2/3). An dieser Stelle können die Erzählung, der nach wie vor Subjektivität und Lückenhaftigkeit unterstellt wird, kürzere Texte wie small stories und selbst kleinste Strukturen als reliable Analysefelder rehabilitiert werden. In der Annahme von Welterfahrung und -erleben als sprachlich manifestierte Konstruktionen, die hermeneutische Prozesse beim Erzähler durch die sich in der Erzählung aufbauende Suche von Zusammenhängen erst ermöglichen, hat ein Selbstverhältnis in der kommunikativen Handlung seinen von außen zugänglichen Entstehungsort. Auf die von Straub geübte Kritik an der empirischen Analyse qualitativer Identitätsaspekte, die den struktur- oder formaltheoretischen Identitätsbegriff nicht erhellen und keine Aussagen über die Form des kommunikativen Selbstverhältnisses erlauben kann (Straub 2000: 171), muss nach Auswertung der vorliegenden Daten noch einmal eingegangen werden. Ein kommunikatives Selbstverhältnis wird, wie im linken Feld des Modells der Identitätskonstruktion aus Kapitel 2.2 vorgestellt, von qualitativen Identitätsaspekten, von Interessen, beruflichen Orientierungen, Erzählkonventionen oder soziokulturellen Umfeldbedingungen einer Person beeinflusst und getragen. Alternierend werden diese Aspekte wieder durch jeden weiteren
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kommunikativen Akt beeinflusst. So ist einerseits natürlich die Struktur von Identität bestimmbar, Regelhaftigkeiten und Muster der Konstruktionen wurden hier offengelegt. Dazu gehört aber andererseits der inhaltliche Bezug, der naturgemäß Identitätspraktiken im Sinne von Vorlieben oder den spezifischen Umgang mit sozialen Bindungen betrifft. Die Synthetisierungsleistung in ihrer Struktur zu erkennen, ist nur durch die Kenntnis der zu synthetisierenden Aspekte möglich. Sofern eine extensive Auseinandersetzung und eine Bezugnahme beider Ebenen der Konstruktion aufeinander erfolgt – das gilt für Untersuchungen in der Linguistik wie in jeder anderen Disziplin –, kann die Gefahr der Kritik an gegenstandsangemessener Verbindung von Theorie und Empirie in identitätstheoretischen Diskursen minimiert werden. Kontinuität und Kohärenz in der Dynamik der Identitätskonstruktion Die Arbeit an verschiedensten Zeitbezügen im Aufbau einer individuellen Entwicklungsgeschichte kann, wie in einigen Fällen gezeigt werden konnte, Mängel hinsichtlich der Kontinuität und bisweilen Kohärenz aufdecken, sie sogar erst durch den Erzählakt bewirken. Um Kontinuität zu erzeugen, werden Widersprüchlichkeiten in den Erzählungen nicht nachträglich eliminiert, eher werden sie verwandelt, sodass eine „stimmige Gestalt“ (Straub 2000: 173) entsteht. Stets sind die Interviewten bemüht, kausale Zusammenhänge, Ursache und Wirkung von Koinzidenzen zu formen und ihr Verhalten im Hinblick auf eine biographische Gesamtgestalt zu verteidigen. Das gilt auch für die von der Hörerin initiierte Suche nach Verweisungen und Verbindungen des Erzählgehalts. Sind der Zeitzusammenhang oder die psychische Einheit des Subjekts im Hinblick auf divergierende Rollenerwartungen bedroht, kann der Akt der Konfiguration aus dem Dilemma helfen und eine Synthese des Heterogenen bewirken. Dies geschieht beispielsweise in den Fällen, wo eine Hugenottennachfahrin sich eigentlich als Agens ihrer Biographie konstruiert, aber fehlendes Engagement in der Sprachenfrage oder Traditionspflege zu Scham gegenüber der Hörerin führt. Hier wird das Patienserleben leicht in eine unabwendbare Schicksalhaftigkeit, die den äußeren Umständen zuzurechnen ist, überführt. Auch in den Fällen, wo die Zeit im Sinne von mit anderen Inhalten gefüllter Lebenszeit als Rechtfertigungsinhalt genutzt wird, fällt diese Kompositionskunst ins Auge. Die Gespräche haben gezeigt, dass beispielweise die Distanzeinnahme durch die doppelte Zeitperspektive zu vermittelnden Argumentationen und Bewertungen des vergangenen oder zukünftigen Handelns im Hier und Jetzt führen kann und dadurch auch intersubjektives Verstehen stattfindet. Die Analyse von Positionierungsaktivitäten und performativen Absichten hat die Funktion der Beteiligten im Gefüge erhellt und lässt Rückschlüsse auf die Natur geteilter Verstehensprozesse zu. Die Hörerin ist unter anderem mit der Wirklichkeitskonstruktion von Herrn Y. soli-
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darisiert worden, da er seine emotionale Beteiligung der Scham verstärkt an einer angenommenen Erwartungshaltung im Sinne des Mead’schen generalisierten Anderen (vgl. Mead 1967: 164) ausgerichtet und in der Folge ein darauf ausgerichtetes Frageverhalten der Hörerin evoziert hat. Das mag wie ein flatterndes Fähnchen im Wind oder eine allzu gute Inszenierungsleistung vor allem seitens des Sprechers wirken. Es erinnert auch an den Begriff der Maskerade von Strauss (vgl. Strauss 1997). Die erfahrungsorganisatorische Leistung des kommunikativen Handelns, insbesondere des lebensgeschichtlichen Erzählens, besteht aber vorrangig in der kooperativen Bearbeitung des Zeitzusammenhangs eines Daseins. Daher ist das Verhalten nichts anderes als die Spiegelung des antizipierten Urteils eines Gegenübers als handlungsleitende Komponente einer Interaktion (vgl. Strauss 1997: 11). Die Besonderheit der Ko-Konstruktion gilt sowohl für das Interview in synchroner als auch im lebenslangen Identitätsbildungsprozess in diachroner Hinsicht. Es sind vor allem die Stimmen Dritter, wahlweise von Verwandten, Bekannten oder Freunden sowie in verschiedenen Lebensphasen oder -momenten die Konfrontation mit der Herkunft, die die Auseinandersetzung mit jener bewirkt und zur Ausbildung distinktiver Gruppenmerkmale beitragen kann. Angaben zur Konfession zu Schulzeiten, Verwunderung von Lehrkräften über mangelnde fremdsprachliche Kompetenz, Verteidigung der Glaubens- und Gemeindezugehörigkeit zu DDR-Zeiten oder Fragen nach der Sprachkompetenz im Französischen in Anbetracht des französischen Nachnamens können bei den Hugenottennachfahren zu Gefühlen der Besonderheit und der Andersartigkeit führen, aber auch auf Inkohärenzen hinweisen, die dann dialogisch ausgehandelt werden. Diese Aushandlung von Bedeutungen geschieht einerseits in dem im Gespräch thematisierten interaktionalen Kontext wie der Schule, Behörde oder des Abendbrotstisches. Die gefühlten Inkohärenzen können wie bei Herrn J. im Fall der schambehafteten Konfrontation mit seiner nicht ausgebauten Französischkompetenz und dem sich auferlegten Anspruch Handlungsorientierung bewirken, die in der Wahl des Französischen als Studienfach mündet. Andererseits geschieht die Aushandlung in der Dar- und Herstellung des Selbst im Moment des Darüber-Erzählens. Gerade Herr J. ist sich des Ausgangs der Peinlichkeitsepisode bewusst, sodass diese Erzählung wenig Gefahr für sein momentanes Selbstverhältnis birgt. Das Erzählen vom gegenwärtigen Standpunkt unterliegt einer retrospektiven Teleologie, aber was zu Zeiten der Konfrontation mit der Herkunft in Schule oder Elternhaus tatsächlich erlebt, gefühlt und verhandelt wurde, ist nicht nur nicht nachweisbar, es bleibt auch gemäß dem erkenntnistheoretischen Rahmen der Studie irrelevant. Wenn ein bestimmter Zusammenhang, ein sinnstiftendes Element der hugenottischen Identitätskonstruktion wie beispielsweise das Engagement in der Erbschaftspflege jetzt ausgemacht werden kann, so heißt das nicht, dass es in einer anderen, späteren oder früheren Thematisierung genauso wäre. Im Umkehrschluss kann ein anderes Gespräch Konstruktionselemente hugenottischer Identität zutage
Zusammenführung theoretischer und empirischer Befunde | 285
fördern, die hier unangesprochen bleiben. Insofern muss in der Rekonstruktion damit gerechnet werden, „daß die Kontingenz des Lebens, all jene Ungereimtheiten und bizarren Zufälligkeiten menschlicher Existenz in einer autobiographischen Erzählung letztlich immer unterbelichtet oder gar ausgeblendet bleiben“ (Brockmeier 1999: 37). Es zeigt, dass die Regeln oder die Struktur einer sprachlichen Interaktion die Wirklichkeitskonstruktion erst formen und sie unter Maßgabe des Zeitzusammenhangs menschlichen Seins dynamisch gestaltet. Die Freiheit in der Auswahl der erzählten Inhalte, die Möglichkeiten, bestimmten Fragen auszuweichen, nicht zu antworten oder thematische Richtungswechsel vorzunehmen, führt dazu, dass eine Erzählerin alles aussondern kann, was sie nicht entwicklungstheoretisch folgerichtig entfalten kann. So muss in der hier eingenommenen Perspektive der Konstruktivität des Erzählens immer beachtet werden, dass Menschen nicht unbedingt einen kontinuierlichen und kohärenten Lebensweg durchlaufen, ihn als solchen aber durchaus her- und darstellen können. Schließlich sind die Gespräche auch als Beleg für die individuelle Anerkennung der gestalterischen Möglichkeiten in der Gesprächsführung zu betrachten. Das Ausmaß der kreativen Ausschöpfung dieser Möglichkeiten hängt vorwiegend davon ab, welches Kommunikationsziel eine Person verfolgt und wie sie sich verstanden wissen will. Die Sorge der Erzählerin vor negativen Deutungen oder Fehlinterpretationen von Äußerungen, vor misslingender Erfüllung antizipierter Erwartungen oder der Aufbau entlastender Argumentationen ohne dazugehörige Aufforderung seitens der Hörerin zeigen und fördern den dynamischen Charakter der Konstruktionsprozesses. Es sind Anekdoten oder Schlüsselerzählungen, die, oft als Initiation für die Auseinandersetzung mit der hugenottischen Herkunft präsentiert, zur Herstellung logischer Zusammenhänge der Lebensgeschichte dienen. Durch Fragen nach dem ersten Kontakt mit der hugenottischen Herkunft werden teilweise disparate Ereignisse im Zuge des Erzählprozesses zusammengefügt und unter neuer Perspektive interpretiert. Bisweilen führen dieses emplotment (vgl. Polkinghorne 1991: 141) und das Bedürfnis nach Stringenz durch die Komplexität von Erinnerungsarbeit und Überwindung von Zeitdifferenz zu kreativen Umdeutungen (vgl. Ricœur 2007: 7). Ein Beispiel dafür ist die Refiguration der Erinnerung von Herrn Y. an seinen Erstkontakt mit dem Hugenottesein in Verbindung mit dem Erleben des Mauerfalls. Auf textlokaler Ebene fallen temporal disparate Ereignisse zusammen, die derart präsentiert der Herstellung einer kontinuierlichen Entwicklungsgeschichte des Selbst im Interview dienen. Der transitorische Charakter der Identität bewirkt diese auffällige Rekomposition, die als Ergebnis nur die Bearbeitung von gespeicherten Inhalten, nicht aber die Arbeit am ursprünglichen Geschehen bedeutet (vgl. Hall 2013: MIT TR). Die identitätskonstitutive Verbindung von Erstkonfrontation und Mauerfall wird erst im sprachlichen Vollzug des Gesprächs mit einer zusammenhängenden Bedeutungszuweisung versehen und existent, hier bringt durch die Anforderung des Erzählens das „Nennen das Seiende erst zum Wort und zum Erscheinen“ (Heideg-
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ger, GA 5: 61). Letztlich offenbart dieser Kohärenzmangel keine krisenbehafteten Widersprüche im Selbstverhältnis, er zeigt nur, dass Identitätskonstruktion sich sinnstiftend auf situativ entstehende Verweisungszusammenhänge stützt. Er zeigt auch, dass gerade der Akt der Synthetisierung der Annahme von diffusen, pluralen oder multiplen Identitätsmodellen widersprechen muss. Unter Ausschluss pathologischer Besonderheiten oder Traumata als Erzählinhalte ist das interaktiv ausgehandelte Sein im Moment des Erzählens noch lange nicht diffus oder fragmentiert, die persistente Einheit der Person nicht zwingend bedroht. Allenfalls ist die Konfrontation mit der kontingenten Erfahrungswelt eine verstärkte Herausforderung für die Aushandlung. Nur die Beachtung der Differenzen von Erfahrungskonstitution und Erzählkonstitution macht auf diese Verfahren aufmerksam. Identität und mithin Sprachidentität können in dieser Perspektive keinen vorsprachlichen und auch keinen vorzeitlichen ontologischen Status einnehmen. Die gesellschaftliche Dekonstruktion im Sinne der aus postmoderner Perspektive postulierten soziostrukturellen Fragmentisierung und Diversifizierung von Lebensumständen kann über die sprachliche Kontingenzbearbeitung des eigenen Erlebens synthetisiert und somit geordnet werden. Eine Abkehr vom Identitätsbegriff, der diese sprachlichen Bearbeitungen meint, ist deshalb nicht vonnöten.
V Zusammenfassung und Ausblick
Wenn Martin Heidegger meint, „wir wären um keine Antwort verlegen …“ (GA 12 1985: 149), sobald die Frage nach dem Verhältnis einer Person zur Sprache gestellt wird, verweist er mindestens auf zwei Umstände. Zum einen ist die genuine Beziehung der Sprache und des Menschseins durch ihren identitätskonstitutiven Charakter eingelöst, der in dieser Arbeit dargestellt wurde. Zum anderen kommt selten jemand in die Verlegenheit, das Verhältnis zu einer Sprache nicht in irgendeiner Weise konstruieren zu können und in diesem Zuge nicht auch seine Sprachidentität zu entwerfen. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war die Frage nach der gegenwärtigen Funktion der französischen Sprache in den Identitätskonstruktionen deutscher Hugenottennachfahren der zehnten und elften Generation. Nach einer über dreihundertjährigen Einwanderungsgeschichte bestimmt eher eine sprachliche Unmarkiertheit, weniger eine gesellschaftlich auffällige Problemlage ihr Spracherleben. Mithilfe von Gesprächsdaten aus Interviews mit den Hugenottennachfahren sollte ein empirisch überprüfbarer Zugang zur sprachlichen Verfasstheit von Identität gewährleistet werden. Zudem wurde das Ziel verfolgt, dem Forschungskomplex von Sprache und Identität in der Linguistik eine begriffliche Annäherung an die bisher sehr unterschiedlich definierte Kategorie der Sprachidentität beizusteuern, um auch ihre Operationalisierung für weitere Untersuchungen anschlussfähig zu machen. Die Funktion von Sprache und Sprechen für die Identitätskonstruktion des Menschen zu untersuchen, führt aufgrund seiner ontologischen Bestimmung als individuell handelndes, gesellschaftlich eingebundenes, psychosoziales und der Zeitlichkeit ausgesetztes Wesen zu einer interdisziplinären Verschränkung der forschungstheoretischen und -methodischen Ansätze. So wurden in Kapitel 1 zunächst Erkenntnisse der historiographischen Forschung dargelegt, die die Ansiedlungsbedingungen und Akkulturationsprozesse der Hugenotten in den Kolonien BrandenburgPreußens und Kursachsens betreffen. Die am längsten kultur- und sprachbewahrende Berliner Kolonie steht den ländlichen Kolonien in Brandenburg und den lutherisch geprägten Umfeldbedingungen in Kursachsen gegenüber, sodass es zu territo-
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rial unterschiedlichen Sprachwechselszenarien kommt, denen in dieser Arbeit erkennbare Folgen für die heutige Zeit unterstellt wurden. Die verschiedenen master narratives, die zur Legendenbildung und Mythologisierung der Hugenotten und ihrer Nachfahren beigetragen haben, beziehen sich vorrangig auf das Selbstbild der frommen und fleißigen Hugenotten, die als Flüchtlinge auch Kulturbringer im Gastland sein sollten. Das gemeinsame Schicksal einer Flüchtlingsgruppe hat zur Ausformung einer Gruppenidentität in der Fremde beigetragen und so die Folklorisierung hugenottischer Identität bewirkt. Die Selbstbilder sind in ihrer Gestalt von den einzelnen Generationen vor allem zu Krisenzeiten auf gesellschaftliche Bedürfnisse angepasst worden. Von der Suche nach der einzigen Wahrheit hat die Geschichtsforschung sich mittlerweile verabschiedet. Sie fragt nunmehr, worin in sinn- und kohärenzstiftender Hinsicht das hugenottische Erbe besteht und wie hugenottische Gruppenidentität über Geschichtsnarrative konstruiert wird. Der Paradigmenwechsel macht auch deutlich, dass in dieser wie in der Diskussion um den Identitäts- und Sprachidentitätsbegriff keine einzig gültige und objektive Wahrheit angestrebt werden kann. Eine eingehende Untersuchung psychologischer, soziologischer, philosophischer und linguistischer Auseinandersetzungen mit dem Identitätsbegriff in Kapitel 2 hatte zum Ziel, den Weg einiger Identitätstheorien auch im Hinblick auf zeitdiagnostische Merkmale nachzuzeichnen und sprachbezogene Implikationen zu filtern. Diese Vorarbeit bot die Möglichkeit, die Kategorie Sprachidentität mit einer zeitgemäßen Definition zu versehen, die sich insbesondere auf den formal- oder strukturtheoretischen Identitätsbegriff bezieht. Identitätskonstruktionen sind, wie in Kapitel 2.2 dargelegt wurde, im ständigen Auf- und Abbau begriffene Synthetisierungsleistungen, die sich als temporale, dynamische und kontextualisierte Selbstkontinuierungen darstellen. Diese Selbstkontinuierungen basieren auf Interpretationsleistungen vergangener, gegenwärtiger oder antizipierter Lebenswirklichkeit und werden in ständiger Prozesshaftigkeit interaktiv ausgehandelt, um hinsichtlich der Veränderungen über die Zeit eine persistente Einheit der Person zu erwirken. Die bedeutungsstiftenden Konstruktionen sind auf kommunikative Handlungen als aktive Selbstthematisierung angewiesen und unterliegen so der Schwierigkeit, außerhalb von Sprache und Sprechen zu entstehen und wieder zu vergehen. Damit ist die identitätskonstitutive Funktion von Sprache und Sprechen belegt. In Kapitel 2.3 wurde festgehalten, dass Sprachidentität innerhalb eines kommunikativen Aktes durch die thematische Engführung auf das Spracherleben einer Person entsteht. Sie gleicht als Subkategorie von Identität auch ihren Merkmalen der Prozessualität, Situativität und Dynamik. Sprachidentität wird in einem Moment des praktischen Vollzugs als kommunikatives Sprachverhältnis unter bestimmten kontextuellen Bedingungen konstruiert. Zur Visualisierung des Konstruktionsprozesses wurde in 2.2 das Modell der Identitätskonstruktion vorgelegt, das das reflexive und kommunikative Selbst- und Weltverhältnis abbildet und dabei vor allem der Zeitlichkeit Rechnung trägt. Das in
Zusammenfassung und Ausblick | 289
2.3 vorgelegte Modell der Sprachidentitätskonstruktion fokussiert ebenfalls den temporalen Charakter der Synthetisierungsleistung bezüglich des sprachlichen Erlebens und zeigt den dynamischen Auf- und Abbau eines kommunikativen Sprachverhältnisses unter Berücksichtigung verschiedener Konstruktionselemente, die sowohl Einflussfaktoren als auch Resultate des Konstruktionsprozesses sind. Einerseits ist die Art der Verknüpfung, die jeweilige Form des kommunikativen Aktes mit den verschiedenen Gesprächsphänomenen, entscheidend. Andererseits ist der inhaltliche Bezug gerade im Hinblick auf Sprachidentität von Bedeutung. Diese Ebenen sind unabdingbar miteinander verbunden und für beide galt es zu untersuchen, welches Gewicht die französische Sprache hat und wie Identität und Sprachidentität entworfen werden. Da Identität und Sprachidentität im Moment des Sprechens konstruiert werden, sind ihre Rekonstruktionen im Sinne einer gegenstandsangemessenen Verbindung von Theorie und Empirie ausschließlich in den sprachlichen Handlungen zu suchen. Wie in 3.2 dargelegt, eignen sich erzählerische Prozesse besonders für die kontinuitätsstiftende Bearbeitung von Transformationen und Kontingenzen, da die vielfältige Erfahrungswelt in der kondensierten Form eine derartige Verknüpfung erfährt, dass Deutungen über vergangene oder antizipierte Handlungsorientierungen mit dem gegenwärtig Gesagten in Einklang gebracht werden müssen und so von außen erfahrbar werden. Die Gesprächsdaten, die durch biographisch-narrative Leitfadeninterviews mit den Hugenottennachfahren gewonnen werden konnten, wurden daher mit erzähl- und gesprächsanalytischen sowie hermeneutischen Verfahren in der Analyse und Auswertung untersucht. Die Berücksichtigung des interaktionistischkonstruktivistischen theoretischen Rahmens erforderte im Abschnitt III.4 ein maximal offenes und rekonstruktionslogisches Vorgehen in der Bearbeitung der Interviews, hier wurden die in 3.3 und 3.4 besprochenen Analyseverfahren der Diskursiven Psychologie, der Interaktionalen Linguistik, der Konversations- und der Gesprächsanalyse angewendet. Die Regelhaftigkeiten und Muster einzelner Konstruktionen wurden einander im Kapitel 5.1 vergleichend gegenübergestellt, um überindividuelle Aussagen zu Aspekten der Identitäts- und Sprachidentitätskonstruktion der Hugenottennachfahren treffen zu können. Die innere Gesetzmäßigkeit eines Falls ist jeweils als Strukturgeneralisierung zu verstehen und zeigt unter dialektischem Verständnis das Allgemeine im Besonderen an, sodass auf repräsentative Typenbildungsverfahren zugunsten heterogener Lesarten und der Einzigartigkeit jedes Falls verzichtet werden konnte. Die Expansion der Ergebnisse und ihre Integration in den forschungstheoretischen Kontext ergaben in der Diskussion folgende Feststellungen:
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• Für die Herstellung eines sinn- und bedeutungsstiftenden Zeitzusammenhangs,
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der eine biographische Gesamtgestalt anzeigt, bedarf es kommunikativer und erzählerischer Akte, die mit dem Bestreben nach Kohärenz und Kontinuität und bestimmten performativen Absichten der Interagierenden eine Identität konstruieren. Identitäts- und Sprachidentitätskonstruktionen wehren sich als Momentaufnahmen aufgrund ihrer Prozessualität und Temporalität grundsätzlich gegen eindeutige Festlegungen. Sie können vor allem keine umfassende Rekonstruktion der bedeutungsstiftenden Elemente liefern, die die Lebenswirklichkeit der Hugenottennachfahren bestimmt. Aktuelle Deutungsmuster und daraus erwachsende Handlungsorientierungen werden in der Interaktion durch gemeinsame Erfahrungsbildung einer Erzählgemeinschaft ausgehandelt, wobei familien-, gruppen- oder gemeindeinterne Tradierungen und Vermittlungsmaßnahmen mit lebenspraktischen Bedürfnissen in Einklang gebracht werden und so das Ausmaß der Auseinandersetzung bestimmen. Als überindividuelles Konstruktionselement der Identität der Hugenottennachfahren fungiert das meist durch Dritte ausgelöste Gefühl der Andersartigkeit in unterschiedlichen Ausprägungen als konfessionelle, gemeinde- oder gruppenbezogene oder genealogische Zugehörigkeitsbekundung. Alteritätsansprüche können durch die Übernahme von hugenottischen Mythen und Stilisierung in das Selbstverhältnis noch verstärkt werden. Mit erhöhtem konfessionellen oder Gemeindebezug wächst die Bedeutung materialbasierter Auseinandersetzung mit der hugenottischen und familiären Geschichte. Unabhängig vom Ausmaß der Auseinandersetzung mit anderen Aspekten des hugenottischen Erbes und unabhängig von der Anerkennung oder den Stimmen Dritter ist die französische Sprache nicht konstitutiv für die Identität der Hugenottennachfahren. Allerdings können eine stärkere Orientierung am stilisierten Geschichtsbild und ein bestimmtes Darstellungsbedürfnis eine Bedeutungsbeimessung als flüchtiges und theoretisches Phänomen in der Sprachidentitätskonstruktion bewirken. Ohne darauf ausgerichtete Maßnahmen oder einen konkreten Anwendungsbezug sind der Erhalt, das Erlernen oder das Reaktivieren der französischen Sprache für die Identitätskonstruktion der Hugenottennachfahren verzichtbar.
In einem interdisziplinär angelegten Forschungsprojekt können bei weitem nicht alle Konzepte, Begriffe und Verfahren, die eigentlich im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Kontext aufgegriffen werden müssten, ihren Platz finden. Diese Arbeit lässt für weitere Forschungen ausreichend Möglichkeit, beispielsweise verstärkt aus migrations- oder laienlinguistischer Perspektive an die vorliegenden Ergebnisse
Zusammenfassung und Ausblick | 291
anzuknüpfen. Eine vergleichende Untersuchung mit den Sprachidentitätskonstruktion anderer ethnischer oder religiöser Gemeinschaften, die eine mehrere Jahrhunderte zurückliegende Migration vorweisen, kann hier weiteren Aufschluss über die lebensgeschichtliche Bedeutung der Sprache der Vorfahren geben. Der temporale und kontextsensitive Charakter von Identitätskonstruktionen lädt auch dazu ein, für dieselbe Untersuchungsgruppe verschiedene Erhebungszeitpunkte und veränderte Gesprächsbedingungen unter anderem in der Teilnehmerinnenkonstellation anzusetzen, um Veränderungsprozesse im Leben der Hugenottennachfahren und ihre Auswirkungen auf die Konstruktion von Identität und Sprachidentität zu beleuchten. Veränderte Handlungsorientierungen und Deutungsmuster bezüglich der gefühlten Verbindung von Hugenottesein und französischer Sprache könnten allein durch diese ersten Interviews hervorgerufen sein. Die Analyse und Auswertungen der Daten kann zudem durch eine Interpretationsgruppe vorgenommen werden, um eine maximale Ausschöpfung der Rekonstruktionsangebote durch unterschiedliche Perspektiven zu bewirken. In diesem Zusammenhang muss noch einmal darauf verwiesen werden, dass auch die Rolle der Interviewerin als Interaktionsteilnehmende und Ko-Konstrukteurin von Identität in der Gesprächsforschung viel stärker in die Analyse- und Auswertungsarbeit einzubeziehen ist. Ohne den Verweis auf die Bedeutung kollektiver Erinnerungsprozesse für und wechselseitig auch durch die Ausgestaltung individueller Erinnerungen kommt eine Diskussion um die Genese transgenerationaler Zugehörigkeitsempfindungen zu einer Minderheit kaum aus. Die individuelle Erinnerung wird innerhalb eines sozialen Rahmens konstruiert, der wiederum vom Individuum durch seine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, einer „Wir-Gruppe“ (vgl. Assmann 2006: 21) geformt wird. Dieser wechselseitige Prozess kann beispielsweise im Rahmen einer religiösen Gruppe, zu der die Zugehörigkeit empfunden und vielleicht wieder abgelegt wird, oder innerhalb einer Familie stattfinden. Von einer intensiven Auseinandersetzung mit der kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Deutung des kollektiven, individuellen und kulturellen Gedächtnisses (vgl. z.B. Halbwachs 1925, 1950, Assmann 1992, Assmann 1999, 2006) wurde hier aufgrund der Forschungsausrichtung Abstand genommen und nur innerhalb der Analysearbeit ein kurzer Blick auf die Erzählgemeinschaft gerichtet. Eine gesprächsanalytische Untersuchung zur Konstruktion von Identitäten von Migrationsgemeinschaften sowie dem kollektiven Spracherleben in einer community of practice (vgl. Lave/Wenger 1991) kann dem theoretisch begrifflichen Rahmen von Identität und Sprachidentität eine weitere empirische Unterfütterung liefern. Da die französische Sprache nach über dreihundert Jahren seit der Einwanderung der ersten Hugenotten in Deutschland mittlerweile keine identitätskonstitutive Funktion mehr hat, liegt der Verdacht nahe, dass sich ein komplexes Spannungsfeld von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit, auf Sprache bezogenen Hybriditätsgefühlen, Stigmatisierungs- und Marginalisierungsphänomenen im Laufe der Jahr-
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hunderte von selbst entspannt. Der Verdacht ist für diejenigen, die heute mitten in diesem Spannungsfeld leben, sicherlich eine Zumutung. Aus den Ergebnissen dieser Arbeit kann jedoch im Zusammenhang mit dem gesellschaftlich relevanten Migrationsdiskurs für den Umgang mit Ein- und Mehrsprachigkeit mindestens ein lebenspraktisches Plädoyer gezogen werden. Die kommunikative Bearbeitung von Heterogenität und Kontingenzen sowie Brüchen in der Lebensgeschichte eines Menschen ist nicht dem wissenschaftlichen Blick der Forschung vorbehalten. Die Konstruktion eines Selbst- und Weltverhältnisses ist ein Modus, der insbesondere im Alltag vollziehbar gemacht werden muss. Dafür müssen im gesellschaftlichen Miteinander, beispielweise im pädagogischen Kontext, wesentlich mehr Anlässe der aktiven Selbstthematisierung geschaffen werden, die dem Bestreben nach Kontinuität und Kohärenz, vor allem nach dem Geschichtenerzählen gerecht werden.
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Transkriptionskonventionen
Die Konventionen folgen GAT 2 (Selting et al. 2009). Sequenzielle Struktur/Verlaufsstruktur [ ] Überlappungen und Simultansprechen [ ] = schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprecherinnenbeiträge oder Segmente (latching) Ein- und Ausatmen °h / h° Ein- bzw. Ausatmen von ca. 0,2–0,5 Sek. Dauer °hh / hh° Ein- bzw. Ausatmen von ca. 0,5–0,8 Sek. Dauer °hhh / hhh° Ein- bzw. Ausatmen von ca. 0,8–1,0 Sek. Dauer Pausen (.) (-) (--) (---) (0.5) (2.0)
Mikropause, geschätzt, bis ca. 0,2 Sek. Dauer kurze geschätzte Pause von ca. 0,2–0,5 Sek. Dauer mittlere geschätzte Pause von ca. 0,5–0,8 Sek. Dauer längere geschätzte Pause von ca. 0,8–1,0 Sek. Dauer gemessene Pausen von ca. 0,5 bzw. 2,0 Sek. Dauer (Angabe mit einer Stelle hinter dem Punkt)
Sonstige segmentale Konventionen und_äh Verschleifungen innerhalb von Einheiten äh öh äm Verzögerungssignale, sog. „gefüllte Pausen“ : Dehnung, Längung, um ca. 0,2–0,5 Sek. :: Dehnung, Längung, um ca. 0,5–0,8 Sek. ::: Dehnung, Längung, um ca. 0,8–1,0 Sek. ݦ Abbruch durch Glottalverschluss
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Lachen und Weinen haha hehe hihi silbisches Lachen ((lacht))((weint)) Beschreibung des Lachens
Lachpartikeln in der Rede, mit Reichweite Rezeptionssignale hm ja nein nee einsilbige Signale hm_hm ja_a zweisilbige Signale ݦhmݦhm, mit Glottalverschlüssen, meistens verneinend Akzentuierung akZENT ak!ZENT!
Fokusakzent extra starker Akzent
Tonhöhenbewegung am Ende von Intonationsphrasen ? hoch steigend , mittel steigend – gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend Sonstige Konventionen ((hustet)) para- und außersprachliche Handlungen u.
interpretierende Kommentare mit Reichweite Ereignisse
() (xxx), (xxx xxx) (solche) (also/alo)
sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse mit Reichweite unverständliche Passage ohne weitere Angaben ein bzw. zwei unverständliche Silben vermuteter Wortlaut Alternativen
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14:
Identität als Patchworking, Keupp et al. 2002: 218 Modell der Identitätskonstruktion Modell der multiplen Sprachidentität, Kresic 2007: 15 Modell der Sprachidentitätskonstruktion Positionierung, Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 209 Sprachenportrait Frau P., erstellt am 10.02.2010 Sprachenportrait Frau A., erstellt am 04.10.2011 Sprachenportrait Herr Y., erstellt am 18.10.2011 Sprachenportrait Herr J., erstellt am 11.02.2010 Sprachenportrait Herr W., erstellt am 07.12.2011 Sprachenportrait Frau L., erstellt am 13.10.2011 Sprachenportrait Herr O., erstellt am 13.10.2011 Sprachenportrait Frau T., erstellt am 17.11.2011 Sprachenportrait Herr N., erstellt am 17.11.2011
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Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
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Das Einfamilienhaus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2017 Juli 2017, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3809-7 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3809-1
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