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German Pages 138 [142] Year 2012
Idea matheseos universae Ordnungssysteme und Welterklärung an den deutschen Universitäten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
Herausgegeben von Klaus-Dieter Herbst und Helmut G. Walther
Geschichte Franz Steiner Verlag
Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena - 9
Klaus-Dieter Herbst / Helmut G. Walther (Hg.) Idea matheseos universae
quellen und beiträge zur geschichte der universität jena Herausgegeben von Joachim Bauer, Jürgen John und Helmut G. Walther band 9
Idea matheseos universae Ordnungssysteme und Welterklärung an den deutschen Universitäten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Herausgegeben von Klaus-Dieter Herbst und Helmut G. Walther
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Friedrich-Schiller-Universität Jena Umschlagabbildung: Ernst Liebermann: Erhard Weigel auf dem Dach seines Hauses (1909), Öl auf Leinwand, 196 x 155 cm, Kustodie FSU Jena, InvNr. M 81.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10194-3
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Helmut G. Walther Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Olaf Breidbach Repräsentationen des Wissens – Ein Vergleich der Darstellungsformen der barocken Universalwissenschaft (Athanasius Kircher) und der Modernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus-Dieter Herbst Erhard Weigel und seine Empfehlungsschreiben für Gottfried Kirch und Tobias Schnitter an Johannes Hevelius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Behme Die Wissenschaftskonzeption von Erhard Weigels Analysis Aristotelica 37 Stefan Kratochwil Der Begriff Mathesis bei Erhard Weigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Maarten Bullynck Anatomie des Beweises – Versuch eines mathematikhistorischen Zugangs zu Erhard Weigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Stefan Wallentin „Weigelius mit seinen Grillen“ – Erhard Weigel und die Universität Jena, dargestellt anhand der Visitationsakten 1669–1696 . . . . . . . . . .
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Helmut G. Walther Bemerkungen zur Rolle der Mathematik als Disziplin im Wissenschaftsbetrieb des 17. Jahrhunderts an der Academia Norica, zu Erhard Weigel und zu seinen in Altdorf lehrenden Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Georg Steinberg Die Gründung der Universität Halle 1694 und das Wissenschaftsverständnis ihres ersten Dozenten Christian Thomasius . . . . . . . . . . . . . 101 Detlef Döring Die Philosophische Fakultät der Alma mater Lipsiensis um 1700 und die Anfänge der modernen Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
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Inhaltsverzeichnis
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
VORWORT Seit über einem Jahrzehnt werden in Jena wissenschaftliche Tagungen durchgeführt, deren thematische Rahmen sich um Leben und Werk des Jenaer Universitätsprofessors Erhard Weigel (1625–1699) und dessen Einbettung in die Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit ranken. Nachdem im März 1999 mit einer Veranstaltung anlässlich des 300. Todestages von Weigel begonnen worden war, folgten jeweils im Dezember 2000, 2003 und 2006 die Untersuchungen des Weigelschen Werkes im Kontext der Philosophie beziehungsweise der Theologie sowie – unter Loslösung von der engen Bindung der Vorträge an Weigel – die Annäherung an das übergreifende Thema der Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Die Vorträge von drei dieser vier Tagungen, die jeweils von einem Institut beziehungsweise Lehrstuhl der Jenaer Universität wesentlich mitgetragen wurden,1 konnten publiziert werden.2 Mit den Tagungen und Publikationen wurde einem wesentlichen Ziel der 2003 gegründeten Erhard-Weigel-Gesellschaft e.V. entsprochen.3 Die fünfte Tagung, die von der Erhard-Weigel-Gesellschaft initiiert wurde, fand im November 2008 statt. Sie wurde gemeinsam mit dem Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Federführung von Herrn Professor Dr. Helmut G. Walther durchgeführt, wofür diesem herzlich zu danken ist. Unter dem Rahmenthema „Idea matheseos universae. Ordnungssysteme und Welterklärung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der Jenaer Universitätslehrer Erhard Weigel und seine Kollegen“ spannten die dargebotenen Vorträge einen Bogen von den wissenschaftstheoretischen Aspekten im Weigelschen Denken bis hin zu einer vergleichenden Schau der damals bedeutenden Universitäten in Jena, Helmstedt, Leipzig und Altdorf. Die Weigel-Tagung ließ zudem Raum für Vorträge, in denen Details aus dem Leben von Weigel beleuchtet wurden. Dafür, dass – mit Ausnahme des Vortrages „Helmstedts universitärer Wissenschaftsbetrieb des 17. Jahrhunderts im Spiegel der Vorlesungsverzeichnisse“ von Jens Bruning – alle 2008 vorgetragenen Beiträge nun auch zum Druck gebracht werden konnten, sei dem Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Herrn Prof. Dr. Klaus Dicke, herzlich gedankt. In der Schriftenreihe Quellen und Beiträge zur Geschichte 1
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1999 vom Astrophysikalischen Institut und der Universitätssternwarte (Leitung: Prof. Dr. Werner Pfau), 2000 vom Lehrstuhl für allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik (Prof. Dr. Michael Winkler), 2003 von ebendiesem Lehrstuhl und dem für Kirchengeschichte (Prof. Dr. Volker Leppin) und 2006 vom Lehrstuhl für Kulturgeschichte (Prof. Dr. Michael Maurer). Reinhard E. Schielicke, Klaus-Dieter Herbst, Stefan Kratochwil (Hg.): Erhard Weigel – 1625 bis 1999. Barocker Erzvater der deutschen Frühaufklärung, Thun, Frankfurt a.M. 1999; Stefan Kratochwil (Hg.): Philosophia mathematica. Die Philosophie im Werk von Erhard Weigel, Jena 2005; Klaus-Dieter Herbst, Stefan Kratochwil (Hg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. u.a. 2009. Vgl. Hompage der Erhard-Weigel-Gesellschaft. Abrufbar unter: http://www.erhard-weigelgesellschaft.de.
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Vorwort
der Universität Jena erhalten die Aufsätze einen angemessenen Platz, welcher der Bedeutung des Gelehrten Erhard Weigel innerhalb der Universität Jena und auch der Rolle dieser Akademie innerhalb der Universitätslandschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entspricht. Die gezielte Untersuchung des akademischen Wirkens von Weigel wird auf der nächsten Tagung im Dezember 2011 fortgesetzt werden. Gemeinsam mit dem Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik „Ernst-Haeckel-Haus“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena lädt die Erhard-Weigel-Gesellschaft nach Jena ein, um sich über „Erhard Weigel und die Wissenschaften“ auszutauschen. Im Mittelpunkt der Vorträge stehen dann die philosophischen, mathematischen, physikalischen und astronomischen Anschauungen Weigels. Hierzu soll den oft noch nicht näher beleuchteten Disputationen Weigels eine breite Aufmerksamkeit gewährt werden. Jena, im September 2011
Klaus-Dieter Herbst Vorsitzender der Erhard-Weigel-Gesellschaft e.V.
Helmut G. Walther EINLEITUNG Die moderne Universitätsgeschichte wie die Wissenschaftsgeschichte haben inzwischen eine Reihe von Paradigmenwechseln hinter sich. Universitätsgeschichte ist kaum mehr ohne komparatistischen Ansatz denkbar. Dabei zeichnet sich bekanntlich die deutsche Wissenschaftsentwicklung im Unterschied zur westeuropäischen aus, dass sich die Entwicklung der Wissenschaftsdisziplinen im Wesentlichen an den Universitäten vollzog und den neuen Institutionen der Akademien eine geringere Bedeutung zukam als im Westen. So bietet eine vergleichende Untersuchung deutscher Universitäten des 17. Jahrhunderts auch die Basis für wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen. Universitätsgeschichtliche Forschung wird immer den Blick auf den institutionellen Rahmen und die organisatorischen Formen dieser traditionellen Bildungseinrichtungen richten und die Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen: in Hinblick auf den Einfluss der landesherrlichen Unterhalter der Universitäten auf dem Feld der finanziellen Ausstattung und der Berufungen, auf die Abläufe des konkreten akademischen Lehrbetriebs der damaligen Universitäten im Rahmen der Curricula, aber auch der Möglichkeiten zur Entwicklung neuer Anschauungen und wissenschaftlicher Deutungsparadigmata als Folge kontroversen Diskurses. Traditionell wird Erhard Weigel in wissenschaftshistorischen Abhandlungen noch immer der Periode der sogenannten „Frühaufklärung“ zugeordnet. In der Jenaer Universitätsgeschichtsforschung war man stolz darauf, dass die Salana mit ihm über einen der bedeutendsten und einflussreichsten Vertreter dieser Frühaufklärung als akademischen Lehrer und schulbildenden Wissenschaftler besaß. Dennoch bot gerade 2008 als das Jubiläumsjahr der 450. Wiederkehr der privilegierten Institutionalisierung der Jenaer Universität Anlass, sich von einer zu sehr als „Jenaer Nabelschau“ angelegten universitätsgeschichtlichen Weigelrezeption zu verabschieden und mit einer komparatistischen Blickerweiterung zugleich den traditionellen und deshalb allzu bequemen philosophiegeschichtlichen Begriff der „Frühaufklärung“ nach seiner Erklärungsfunktion innerhalb der Paradigmen und Problemstellungen der modernen Wissenschaftsgeschichte neu zu befragen. Denn zweifellos entstammt dieser Begriff einer teleologisch verstandenen Wissenschaftsgeschichte, die mit der Periode der Aufklärung, dann endlich das Stadium der „Moderne“ erreicht sieht und damit die traditionellen, autoritätsgebundenen älteren Wissenschaftsauffassungen, nach Kant das Stadium der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ hinter sich gelassen habe. „Frühaufklärung“ meint letztlich somit stets nur ein auf diesem Wege erreichtes Stadium des „Noch-Nicht“. Konkret bestimmte deshalb insbesondere die auf die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Disziplinen ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte die „Frühaufklärung“ durch den Grad der „Abnabelung von Aristoteles“ zugunsten der Nutzung empirischer Erfahrung der Menschen bei der Schaffung von Welterklärungsmodellen. Dass solche einsträngig
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Helmut G. Walther
teleologisch angelegten wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungsmodelle kaum den realen Wissenschaftsprozessen der Frühneuzeit gerecht werden, dass es nicht nur einen „Aristotelismus“ gab, vielmehr sich die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Wissenschaft durch die Ausbildung eines ganzen Spektrums von Aristotelismen auf unterschiedlicher Basis auszeichnete und die Entwicklung auch seit dem 16. Jahrhundert durch solche konkurrierenden Aristotelismen gekennzeichnet wurde, hat gerade die jüngere auf die Entwicklung der Naturwissenschaften ausgerichtete Forschung gelehrt.1 Mit der Jenaer Tagung von 2008 sollten somit in komparatistischer Sicht auf die deutsche Universitätslandschaft der institutionelle Rahmen und seine konkreten Auswirkungen auf den Lehrbetrieb in den Blick genommen werden, um die Rahmenbedingungen des damaligen Wissenschaftsverständnisses und seiner Entwicklungsrichtungen zu untersuchen. Die Basis des Wissenschaftsverständnisses sollten dabei Untersuchungen liefern, was sich damalige Universitätslehrer als Autoren explizit (beispielsweise in Form wissenschaftstheoretischer Schriften und Lehrbücher) oder implizit (beispielweise in Form der von ihnen praktizierten Wissenschaft) unter Wissenschaft vorgestellt und einem interessierten Publikum vermittelt haben. Daraus ergaben sich als weiterführende Fragen: • Wie verhalten sich Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis zueinander? Wird tatsächlich in den Einzeldisziplinen praktiziert und in der akademischen Lehre vertreten, was in der Wissenschaftstheorie reflektiert wurde? • Inwieweit kann im 17. Jahrhundert noch von einem homogenen Wissenschaftsverständnis, auch beschränkt auf eine Universität, gesprochen werden? Wieweit reicht die gemeinsame aristotelische Grundlage und wie groß sind bereits die Differenzen? Worin sind diese Unterschiede begründet? Gibt es in verschiedenen Fakultäten verschiedene Vorstellungen von Wissenschaft? Können die Differenzen zwischen präferierten Paradigmen der Fakultäten überbrückt werden und welche Konsequenzen ergeben sich für das Bild der Gesamtuniversität nach außen? • Kann von einem entscheidenden Einfluss der Konfessionen auf das Wissenschaftsverständnis gesprochen werden? • Wie steht es um die Rezeption des Wissenschaftsverständnisses früherer Epochen? Welche Zeitalter beziehungsweise Schulen werden bevorzugt rezipiert (beispielsweise antike oder scholastische Autoren, spanische oder italienische Neuscholastik)? Welches sind die bevorzugten historischen Referenzpersonen? • Ausgehend von Weigels Schriften ist danach zu fragen, ob es unter den konkurrierenden Aristotelismen des 17. Jahrhunderts, einen Versuch gibt, die Disziplin der Mathematik zu einer Leitwissenschaft zu erheben. Wird tatsächlich von vielen Autoren die Mathematik als das Ideal einer Wissenschaft gepriesen, an 1
Dazu die Ergebnisse des Tagungsbandes: Cees Leijenhorst, Christoph Lüthy, Johannes M.M.H. Thijssen (Hg.): The Dynamics of Aristotelian Natural Philosophy from Antiquity to the Seventeenth Century (= Medieval and Early Modern Science 5), Leiden-Boston-Köln 2002.
Einleitung
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der sich die anderen Disziplinen zu orientieren hätten? Dabei müssen die Rahmenbedingungen für solche Paradigmenbildungen geklärt werden: Wie steht es um allgemein akzeptierte Vorstellungen von einem Gesamtzusammenhang des Wissens? Welche Ordnungen des Wissens werden überhaupt bevorzugt? Welche Ordnungskriterien werden hier bevorzugt (topische, logisch-systematische oder alphabetische Ordnung)?2 Schließlich ist danach zu fragen, wie Theorie und Praxis des Wissenschaftsverständnisses verbunden werden? Leider konnten für alle Fragestellungen nicht Referenten gefunden werden. Insbesondere für den ein Forschungsdesiderat der Universitäts- wie der Wissenschaftsgeschichte darstellenden Problembereich der Auswirkungen des Konfessionalisierungsprozesses auf die Entwicklung von Wissenschaftsparadigmen konnte auf der Jenaer Tagung nicht verfolgt werden, da angefragte Spezialisten aus Terminnöten leider absagen mussten.
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Dazu zuletzt: Wolfgang Dickhut, Stefan Manns, Norbert Winkler (Hg.): Muster im Wandel. Zur Dynamik topischer Wissensordnungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 5), Göttingen 2008.
Olaf Breidbach REPRÄSENTATIONEN DES WISSENS – EIN VERGLEICH DER DARSTELLUNGSFORMEN DER BAROCKEN UNIVERSALWISSENSCHAFT (ATHANASIUS KIRCHNER) UND DER MODERNEN EINLEITUNG Wenn der vorliegende Text Momente einer Konzeption des 17. Jahrhunderts darzulegen sucht, so berührt er damit nicht nur Vergangenes.1 Er beschreibt hierin eine Tradition, die vielmehr massiv, wenn auch als solche kaum erkannt, bis heute in die Strukturierung der modernen Wissensrepräsentationssysteme nachwirkt. So will diese Skizze denn auch versuchen, die vormalige bis heute nachwirkende Idee der Repräsentation von Wissen, die Athanasius Kircher formulierte,2 vor dem Hintergrund moderner Auffassungen darzustellen und beginnt so mit dem Versuch, die neueren, technisch realisierten Systeme der Wissensrepräsentation in ihren essentiellen Konturen nachzuzeichnen.3 Dabei ist Wissen, in diesen Technologien nicht mehr nur einfach als etwas, das in bestimmter, reproduzierbarerer Weise abgespeichert ist.4 Wissen ist vielmehr als Funktion einer Verweisstruktur, in der die Information in einem System Veränderungen seiner Verarbeitungsstruktur induziert, und so das System selbst informiert.5 Es scheint dabei in einer oberflächlichen In-Blick-Nahme, dass hier mit der Einführung der Netzwerktechnologien derzeit ein neues, dynamische Prozesse abzeichnendes Moment in der technischen Darstellung von Wissen implementiert ist.6 1
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Olaf Breidbach: Die letzten Kabbalisten, die neue Wissenschaft und ihre Ordnung. Bemerkungen zu den Traditionslinien bio- und neurowissenschaftlicher Forschung, in: Rudolf Seising, Menso Folkers, Ulf Hashaben, (Hg.): Form, Zahl, Ordnung. Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, Stuttgart 2004, S. 63–76. Paula Findlen (Hg.): Athanasius Kircher. The Last Man Who Knew Everything, New York & London 2004. Dabei sieht dieser Text von einer ideengeschichtlich theologischen Einbindung des Denkens Kirchers ab, und sucht dieses Denken zunächst operativ zu bestimmen, was in Bezug auf den für diese Überlegung zentralen Text – der ars magna sciendi von Kircher – auch zu rechtfertigen ist, suchte Kircher hier doch nach einer operativen Bestimmung seiner Methode. Vgl. Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680), Berlin 1993; zu dem theologisch/neuplantonischen Hintergrund des Ansatzes Kirchers vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt 1998. David Frank Kerridge: Inaccuaracy and Inference. J. Royal Statist, in: Society Ser. B 23 (1961), S. 184–194; Mikhail Bongard: Pattern recognition, New York 1970. Klaus Holthausen, Olaf Breidbach: Analytical description of the evolution of neural networks: Learning rules and complexity, in: Biological Cybernetics 81 (1999), S. 169–175. Helge Ritter, Thomas Martinetz, Klaus Schulten: Neuronale Netze. Eine Einführung in die
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Olaf Breidbach
Dabei wird dieses Bild der Vernetzung insbesondere im Verweis auf das Internet interessant erscheinen, besteht doch die These, dass bei einem genügend großen Grad an Vernetzung die Gesamtheit des verfügbaren Wissens über eine entsprechende Netzwerkarchitektur abgegriffen werden kann und sich bei der Größe dieses Ereignisraumes auch temporär stabile lokale Informationsflussnetze bilden können, die sich gegenüber dem Rest des Informationsflusssystems autonomisieren und so dieses System in sich organisieren.7 Insoweit scheint im Bild des Netzes eine Dynamik dargestellt zu sein, die wesentliche Momente einer modernen relativistischen Konzeption von Wissensbewertung und Geltung aufnimmt.8 Allerdings ist die grundlegende Vorstellung, in dem diese Dynamik eingewoben wird, ein altes. Schon in der ars magna sciendi von Athanasius Kircher von 1669 findet sich das Bild des Netzes in breiter Weise genutzt.9 Dort dient es dazu zu zeigen, dass sich auch in einer statischen Verweisstruktur Begriffe so ordnen lassen, dass sie in dieser Ordnung ihre eigentliche Bedeutung zugewiesen bekommen. Kirchers Idee war, die Beziehung aller Begriffe zueinander auszuweisen.10 Dann wäre ein Ordnungsgefüge rekonstruiert, das jedem Begriff seinen natürlichen Ort zuweist. Damit wäre in einer entsprechend begrifflich umschriebenen Ordnung das Problem umgangen, Dinge nur mit den Mitteln einer seinerzeit als unzureichend angesehenen Erfahrung in ihre Ordnung zu setzen. Noch Carl von Linné sollte sich 100 Jahre später einer vergleichbaren Operation bedienen.11 In seinem System der Natur naturalisierte er dann allerdings die Begriffsrelationen der vormaligen Topik und schrieb seine natürliche Systematik nach der Bestimmung der Ordnung empirisch bestimmter Merkmalsrelationen.
REPRÄSENTATIONSRÄUME Derartig klare Wissensordnungssysteme haben wir verloren. Es zeigte sich, dass die absolute Referenz, die noch Carl von Linné im Verweis auf Gott fand,12 in den Wissenschaften selbst nicht zu begründen war und demnach aufgegeben werden musste. Wir orientieren uns heute in der Darstellung der Informationsverarbeitung und der Sicherung von Informationen am Verhalten kognitiver Systeme, deren Reaktionen wir beschreiben können. Dabei zeigt sich in einer entsprechenden Darstellung, dass die bisher für eine Wissensbewertung verwendete Informationstheorie zu kurz 7 8 9
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Neuroinformatik selbstorganisierende Netzwerke. Bonn 1991. Knowbotic research: http://www.krcf.org/krcfhome/; zuletzt abgerufen am 4.7.2009 Olaf Breidbach: Vernetzungen, in: Trajekte 16, Jg. 8.l (2008), S. 29–33. Athanasius Kircher: Ars magna sciendi. In XII libros digesta, qua nova et universali methodo per artificiosum combinationum contextum de omni re proposita plurimis et propre infinitis rationibus disputari, omniumque summaria quaedam cognitio comparari potest, Amsterdam 1669, S. 170. Cesare Vasoli: Considerazioni sull’ Ars Magna Sciendi, in: Maristella Casciato, Maria Grazia Ianniello, Maria Vitale (Hg.): Enciclopedismo in Roma barocca. Athanasius Kircher e il Museo del Collegio Romano tra Wunderkammer e museo scientiifico Venezia 1986, S. 62–77. Olaf Breidbach, Michael Ghiselin: Baroque Classification. A Missing Chapter in the History of Systematics, in: Annals of the History and Philosophy of Biology 11 (2007), S. 1–30. Sten Lindroth: The two faces of Linnaeus, in: Tore Frängsmyr (Hg.): Linnaeus. The Man and His Work, Canton, MA. 1994, S. 1–62.
Repräsentationen des Wissens – Ein Vergleich
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greift, um zu beschreiben, wie kognitive Systeme funktionieren. Wissen ist dort als memorierungsfähige Repräsentation von Welt begriffen.13 Hier liegt nun ein Problem. Dieses Wissen ist bezogen auf die Welt bewertet.14 Kann ich diese nicht vollständig beschreiben, kann ich die Informationseingaben, die in das kognitive System eingefüttert werden, nur in Bezug auf ihre Kontingenz und Kohärenz zu den bisher abgespeicherten Repräsentationen bewerten.15 Das bedeutet, dass nach der Passung einer Information in den Gesamtzusammenhang der bisherigen Registrierungen durch das Information aufnehmende System zu fragen ist. Geltung gewinnen die Informationseingaben, die in den so eröffneten Gesamtzusammenhang einpassen. Resultat solch einer Wissensbestimmung ist dann aber, dass nur eine Spezifikation vorhandener Wissensräume, nicht aber der Gewinn neuer Perspektiven beschrieben werden kann. Das bedeutet, es sind Bewertungsfunktionen vorgegeben, die ein Zuordnungsraster voraussetzen und nicht erst erschließen.16 Dies wird genau dann problematisch, wenn ich vorhandene kognitive Systeme als Resultate eines evolutiven Optimierungsprozesses begreife. Demnach sind die existierenden kognitiven Systeme zwar an die derzeitige Situation angepasst, offen ist aber, wie sie angepasst sind. Evolutionär bewertet wird die Funktionalität ihrer Handlung, nicht die Objektivität der Weltrepräsentation, die diese Handlung leitet. Damit ist in einem entsprechenden Relationssystem nur ein Raum von Möglichkeiten zu bemessen. Zu fragen ist, inwieweit eine Information in diesen Raum einzupassen und aus dieser Passung zu definieren ist. Im Denkansatz der barocken Universalwissenschaft ist dieses derart gewonnene Geltungsgefüge in einer absoluten Struktur des uns zu denken Möglichen gegründet. Dieses Absolute ist Gott, der sich eben auch in seiner Schöpfung wiederspiegelt und somit garantiert, dass die Ordnung der Dinge, dann, wenn sie perfekt rekonstruiert ist, das Absolute reflektiert und damit Wahrheit darstellt.17 Anders sieht dies aus, wenn in solch einer Konstruktion die Sicherungsfunktion des Absoluten gestrichen wird. Geschieht dies, ist ein entsprechendes Verweissystem nur jeweils für den Moment zu sichern. Es kann nicht erschließen, was über den momentan aufgenommenen Set von Daten und Informationen noch an weiteren möglichen Informationen vorliegt. Es kann also keine Aussage darüber gewinnen, wie komplett ein gewonnener Relationsraum ist, den ich etwa in einem neuronalen Netz oder in dessen Software-Emulgierung abbilde. Bewertungsfunktionen für das in diesem Relationsgefüge gefangene Wissen verweisen immer auf die instantanen Bedingungen zurück, unter denen dieses Wissen produziert wurde. 13 14 15 16 17
Olaf Breidbach: Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht, Franfurt a.M. 2008. Ders., Deutungen. Zur philosophischen Dimension der internen Repräsentation, Weilerswist 2001. Nicolas Rescher: Die Kriterien der Wahrheit, in: Gunnar Skirbekk (Hg.): Wahrheitstheorien. Frankfurt a.M. 1977, S. 337–390. Günther Palm: Information and Surprise in Brain Theory, in: Gerhard Rusch, Siegfried J. Schmidt, Olaf Breidbach (Hg.): Interne Repräsentationen, Frankfurt a.M. 1996, S. 153–173. Paolo Rossi: Clavis universalis. Arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz, Bologna 1983.
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Olaf Breidbach
Wenn nun Wissen als Abbildung der Welt im Ich zu fassen ist, so wäre die Güte dieser Abbildung in Bezug auf die Abbildungsvorgaben zu bemessen. Genau dies erlaubt die Informationstheorie, die dazu geschaffen war, die Qualität von Signalübertragungsapparaturen zu bewerten.18 Bewertet wird damit nichts Anderes als die Passung von Eindruck und Ausdruck, die Güte der Hohlform, die sich um einen Ausdruck der Welt, sei es seitens einer Maschine, sei es seitens des menschlichen Geistes, zu legen vermag. Nun kann ich von einer entsprechenden Bewertung ausgehend auch den Effekt einer entsprechend abgebildeten In-Formation bewerten. Effektiv wird solch eine Information in den Handlungen des Subjektes – oder der Maschine – die sie erreicht.19 Damit kann die Information von ihrem Effekt her bewertet werden, und so etwa bestimmt werden, wie eine Abbildung der Welt zu gestalten ist, um einen für das kognitive System positiven Handlungseffekt zu erhalten.20 Der Effekt der Handlung wird aber wieder nur bezogen auf den Moment abbildbar, in dem diese Handlung effektiv ist. Damit ist dann allerdings eine Kostenfunktion zu erstellen, anhand derer zu bewerten ist, was an Investitionen in eine genügend gute Abbildungsqualität – etwa durch den Aufbau einer komplexen Sensorik – hereinzustecken ist, um ein für den Moment optimales Verhalten zu erhalten. Dabei kann dann wieder umgekehrt vom Effekt des Verhaltens her bestimmt werden, wie teuer etwaige Fehlfunktionen (unscharfe Abbildungen der Außenwelt) auf Seite des Verhaltenseffektes werden können.21 Damit sind dann zwei Funktionen gewonnen, die aufeinander zu beziehen sind und so einen optimalen Investitions- und NutzwertBereich für die Informationswidergabequalität zu bestimmen erlauben.22 Dies scheint eine dynamische Situation abzubilden, wie sie für eine an evolutiven Funktionen orientierte Theorie des Wissens auch wünschenswert wäre. Allerdings hat diese komplexe Darstellung einen Haken, die Eichung der die entsprechenden Bewertungsfunktionen darstellenden Kurven setzt voraus, dass das entsprechend bewertende System über die Güte seiner Weltabbildung orientiert ist. Kircher nutzte in seiner ars magna sciendi das Netz für die Darstellung der Geschlossenheit eines solchen Relationsgefüges.23 Dabei sind auch bei ihm die Verknüpfungsebenen des Netzes gestuft und entsprechend komplex zeigt sich bei näherer Hinsicht die von Kircher ausgewiesene Kombinatorik.24 Aussage der von ihm bemühten Netzbilder ist, dass sich eine begriffliche Bestimmung nicht auf Grund 18 19 20
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Ralph V. L. Hartley: Transmission of Information, in: Bell Syst. Tech. J. 7 (1928), S. 535–563. Valentino Braitenberg: Vehicles. Experiments in Synthetic Psychology, Cambridge, Mass. & London, 1984. John K. Burton, Paul F. Merrill: Needs assessment: goals, needs and priorities, in: Leslie J. Briggs (Hg.): Instructional Design: principles and applications, Englewood, Cliffs NJ 1977, S. 21–45; John P. Campbell: Training design for performance improvement. Productivity in organizations, San Francisco 1988; Rolf Pfeifer, Christian Scheier: Understanding Intelligence, Cambridge, Mass. & London 2000. John Maynard Smith: The Evolution of Sex, Cambridge 1978. Zum Ansatz Olaf Breidbach: Internal Representations – A Prelude for Neurosemantics, in: The Journal of Mind and Behaviour 20/4 (1999), S. 403–420. Kircher, Ars (wie Anm. 3), S. 169–171. Olaf Breidbach: Zur Repräsentation des Wissens bei Athanasius Kircher, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 282–302.
Repräsentationen des Wissens – Ein Vergleich
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empirischer Attributionen von Begriffsrealisierungen findet, sondern die hier gewonnene Sicherung des Wissens einzig darauf basierte, dass die relationale Beziehung zwischen den Begriffen in ihrer Gesamtheit dargestellt, und somit jeder Begriff im Gefüge der ihn bestimmenden Definitionen eindeutig positioniert ist. Die moderne Theorie, die Information als Weltrepräsentation begreift, setzt zunächst anders an.25 Korrektiv für diese Wissensbewertungsfunktionen ist eine Zustandsinformation über die Qualität der Welt, die ich abbilde, und auf die hin ich handle. Da ich die Binnenstruktur der Welt selbst nicht kenne, ist der Effekt einer Information – will ich ihn bewerten –, wie skizziert, nur am Erfolg zu bemessen, der soeben unabhängig von einer dezidierten Einsicht in den Zustand der Umwelt, darzustellen ist.26 Schließlich liegt für diesen Ansatz ja kein absolut gesichertes Bild der Welt vor, an Hand dessen etwaige Weltabbildungen des Systems, die dann zu einer Handlung führen, zu bewerten sind. Entsprechend werden dann auch evolutionsbiologisch erarbeitete Fitnessfunktionen bemüht, um an Hand des Erfolges bestimmter Strategien Bewertungsfunktionen definieren zu können.27 Deren Nachteil ist, dass sie immer erst im Nachhinein formuliert werden können. Das heißt, dass eine Handlung erst dann als gut bewertet werden kann, wenn sie erfolgt ist. Nach ihrem Vollzug hat sie dann aber wieder die Ausgangsbedingungen für die nächste Handlung geändert, da auf Grund ihres Eingriffs die Umwelt, in der sie agiert, nicht mehr die gleiche ist. Nun kann ich diese Veränderung intern abbilden, indem ich die innere Abbildung der Handlung dem inneren Bild von Welt, nach dem diese Handlung erfolgt ist, überlagere und so eine Serie von Handlungen intern abbilde. In diesen internen Abbildungen sind dann Verschiebungen im Zuordnungsgefüge des inneren Systems dargestellt, die – so die Vorstellungen – die extern induzierte Veränderungsfolge zumindest näherungsweise abzubilden erlaubt. Entsprechend formiert sich dann ein Erwartungswert, der angibt wie eine nun folgende Handlung sich extern (und damit auch in einem intern zu bemessenden Verhaltenserfolg) niederschlägt. In einer Serie von Handlungen wird dieses Gefüge von Überlagerungen dann fortwährend superponiert, bis ich gegebenfalls durch einen Test erfahre, ob und wenn ja inwieweit dieses innere Abbild der induzierten Änderungen und ihres Effektes mit den real veränderten Bedingungen übereinstimmt.28 Das bedeutet, dass sich derart in der Zuordnung von Innenreaktionen zu Außenkonfigurationen ein Vor-Wissen definiert ist. So kann ich ein Weltbild zumindest in ersten Wahrscheinlichkeitsapproximationen bestimmen. 25 26
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Hillary Putnam: Repräsentation und Realität, Frankfurt a.M. 1999; Christopher Prendergast: The Triangle of Representation, New York 2000. Byoung-Tak Zhang, Heinz Mühlenbein: Evolving optimal neural networks using genetic algorithms with Occam's razor, in: Complex Systems, 7 (1993), S. 199–220; Esther Thelen, Linda Smith: A Dynamic Systems Approach to the Development of Cognition and Action, Cambridge, Mass. 1994; Stefano Nolfi, Dario Floreano: Evolutionary Robotics. The Biology, Intelligence, and Technology of self-Organizing Machines, Cambridge, Mass. & London 2000. George R. Price: Selection and covariance, in: Nature 227 (1970), S. 520–521; Albert F. Bennett, Richard E. Lenski, John E. Mittler: Evolutionary adaptation to temperature. I. Fitness responses of Escherichia coli to changes in its thermal environment, in: Evolution 46 (1992), S. 16–30; Miroslav Radman, Ivan Matic, François Taddei: Evolution of evolvability, in: Ann. NY Acad. Sci. 870 (1999), S. 146–155. Murray Gell-Mann, Seth Lloyd: Information measures, effective complexity, and total information, in: Complexity 2 (1996), S. 44–52.
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Dies ist mit der klassischen Informationstheorie realisierbar, sie kann gegebenenfalls eine Unschärferelation zulassen und auch in der Hardware des abbildenden Systems etablieren. Wissen wäre dann als ein Wert bestimmt, der über die Zuordnung der subjektinternen Bedingungen und der Außenbedingungen informiert. Damit gewinne ich einen Erwartungshorizont möglicher Handlungsfolgen, benenne ein Tableau von Formen, in denen sich mir die Welt abbilden kann, und konstruiere so ein Beziehungsnetzwerk der mir möglichen Aussagen.29 Wissen wäre dann eine Aussage über den Stellenwert einer einzelnen Position in dem Gesamtgefüge dieser mir möglichen Aussagen. Entsprechend wäre denn auch eine Bewertungsfunktion zu definieren, über die die Wahrscheinlichkeit in der Auswahl von Zuordnungen der mir möglichen Aussagen bestimmt wird.30 Demnach kann ein Erwartungshorizont aufgespannt werden, der mir eine Welt von Erwartungswerten definiert. Abweichungen von diesem Erwartungshorizont sind zu registrieren und erlauben es so, im Gefüge der Möglichkeiten unwahrscheinlichere und wahrscheinlichere Aussagen zu unterscheiden und entsprechend Ausscherungen aus diesem Erwartungshorizont zu bewerten. Demnach ist Welt als eine externe Größe zumindest approximativ einzugrenzen. Dabei gewinnen sich in einem entsprechenden Vorgehen Kosten-Nutzen-Funktionen, die es erlauben, eine Information auf das Gesamtwissen zu beziehen und sie so in ihrem Wert bezogen auf den Gesamtzusammenhang aller bisher erhaltenen Informationen zu bestimmen. In einer ersten Näherung hätte ich hiermit eine Funktion beschrieben, in der Bewertungen von Information darzustellen sind. Insoweit scheint sich in diesem Ansatz dann auch eine Dynamik abzubilden. Zu fragen ist, ob dieser Eindruck auch auf der strukturellen Ebene, in der sich diese Bestimmungsfunktionen sichern müssen, aufrecht zu halten ist. Eine entsprechende Theorie geht davon aus, dass es mir möglich ist, ein Erwartungsprofil der möglichen Aussagen zu gewinnen.31 Das bedeutet, die Vorgabe einer solchen Darstellung von Wissen ist die Einsicht in einer kompletten Erklärung von Welt, der Ausweis einer zumindest in Partialräumen (für die ich dann diese Erwartungswerte formulieren kann) beschreibbaren Funktion von Wissen.32 Das heißt also, die Dynamik der Bewertungsfunktionen ist an eine letztlich statische Abbildungsfunktion geknüpft. Diese entspricht zumindest in ihren Grundzügen dem Bild, das Athanasius Kircher nutzte, um die Geltung seines Wissenssystems zu demonstrieren.33 Dies macht ihn für eine an modernen Wissensrepräsentationssystemen interessierte Theorie bedeutsam. Es scheint, dass zumindest Konturen des alten Konzeptes der barocken Universalwissenschaft, wie es in Kirchers ars magna sciendi in pragmatischer, das heißt hier aus seiner theologischen Begründung herausgehobenen Weise beschrieben ist, bis in die Vorstellungsmuster der modernen cognitive science tradiert sind.34 Damit 29 30 31 32 33 34
Ernst Pfaffelhuber: Learning and information theory, in: Int. J. Neuroscience 3 (1972), S. 83–88. Günther Palm: Evidence, Information and Surprise, in: Biol. Cybernetics 42 (1981), S. 57–68. Rüdiger Reinhardt: Wissen als Ressource. Theoretische Grundlagen, Methoden und Instrumente zur Erfassung von Wissen, Frankfurt a.M. 2002. Olaf Breidbach, Klaus Holthausen: Self-organized feature maps and information theory, in: Network: Computation in Neural Systems 8 (1997), S. 215–227. Kircher, Ars (wie Anm. 3), S. 170. Breidbach, Kabbalisten (wie Anm. 1), S. 63–76.
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ist diese von Kircher getroffene Operationalisierung seines Begründungszusammenhanges, der aus philosophisch/systematischer Perspektive massiv kritisiert wurde,35 für eine wissenschaftshistorische Analyse von besonderem Interesse, wird hier doch das Konzept der Wissensrepräsentation formal aus dem theologischen Programm, wie wir es noch bei Leibniz formuliert finden,36 ausgelöst. Es ist damit Teil eines Wissenssystems und kann als solch ein Teil auch in einer technisch strukturierten Landschaft von Wissenssystematisierungen weiter mitgeführt werden. Kircher entwirft hier das Bild eines Wissenszusammenhanges, der als ein Komplex von aufeinander bezogenen Verweisen auf Beschreibungszustände bestimmt werden kann. Seine ars magna sciendi ist ein Buch, in dem die Summe der möglichen Urteile und damit die Summe der möglichen Aussagen als Resultat eines nach strikten Regeln aufgebauten Verweissystems von Attributionen beschrieben ist. Entsprechend den Aussagen von Kircher ist das daraus abzuleitende Netz von Beziehungen zureichend, die Totalität aller Aussagen und damit das mögliche Wissen abzubilden. Kircher gibt in seiner ars magna sciendi die Regeln vor, nach denen dieses Wissen zu strukturieren ist. Im Resultat wird so ein zwar sehr komplexes, aber doch statisches System von Verweisstrukturen aufgebaut, anhand dessen nun ein Schema des möglichen Wissens zu gewinnen ist.
WISSENSARCHITEKTUREN Für Kircher sind die Sucharchitekturen, in denen sich der Zusammenhang der Dinge abbildet, nicht einfach gefunden oder in einer spekulativ arbeitenden Philosophie erschlossen. Für ihn werden sie konstruiert. Das bedeutet, er offeriert eine Mechanik der Denkoperationen, nach denen sich die Funktionsbestimmungen des Denkens darstellen lassen. Für ihn ist dann in deren System, in der Universalität ihrer Anwendung, die Wahrheit ihrer Aussagen zu bestätigen. Sein daraus entwickeltes Verfahren ist zumindest im Prinzip einfach. Die Welt ist für ihn in der Struktur der Sprache, in der wir sie beschreiben, abgebildet. Diese Struktur kann nun in formalen Regeln rekonstruiert werden. In seiner polygraphia hatte Kircher das Verfahren dargestellt,37 über eine Kombination von Grundsilben jede Sprache in jede andere überführen zu können. In seiner ars magna sciendi setzt er an diesen Ideen an, holt aber noch umfassender aus. Für ihn ist jeder Begriff der Reflex dessen, was in ihm bestimmt wird. Demnach – so führt er in seinem oedipus aegyptiacus aus –38 sind denn auch die Hieroglyphen Chiffren oder Metaphern, in denen sich Grundaussagezustände wiederspiegeln und nicht einfach Strukturelemente einer Sprache.39 Kircher führte so zwar die Sprachforschung auf einen Fehlweg, für ihn gab dies aber einen Ansatz zu einem Verständnis der Sprache als einer in ihren 35 36
Rossi, Clavis (wie Anm. 17). Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin, New York 1991; François Duchesneau: Leibniz et la Méthode de la Science, Paris 1993. 37 Athanasius Kircher: Polygraphia nova et universalis, ex combinatoria arte detecta, Rom 1663. 38 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Hermes Trismegistos, Isis und Osiris in Athanasius Kirchers „Oedipus Aegyptiacus“, in: Archiv für Religionsgeschichte 3 (2001), S. 67–88. 39 Caterina Marrone: I geroglifici fantastici de Athanasius Kircher, Viterbo 2002.
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Begriffen gebrochene Widerspiegelung von Welt. Die Begriffe waren nichts als die Reflexe dieser sich in Zeichen bannenden Welt. Gibt es also so etwas wie einen Grundsatz von Zeichen, auf die die Vielfalt von Begriffen rückführbar wäre? Hier setzt Kircher dann nun wieder sehr einfach an. Da alle Begriffe in ihrer Zuordnung zueinander positioniert sind, ist es möglich, dann, wenn alle möglichen Beziehungen der Begriffe zueinander abgebildet sind, deren natürliche Ordnung – wie sie Linné dann später auch in natura auswies –40 zu erkennen. Natürlich ist dabei die in der Gesamtheit ihrer Bestimmungsverhältnisse gewonnene Ordnung nicht einfach, weil sie ein momentanes Gefüge der Natur nachbildet, sondern weil sich hier in der Natur das Absolute demonstrieren lässt, das denn auch die Wahrheit der Einzelaussagen einer Begriffssystematik begründet. Damit besteht für Kircher die Forderung, die Totalität der Begriffsrelationen abzubilden. Dabei verknüpft er diese Idee einer relationalen Kennung mit dem einer Kategorialisierung des Wissens. Das heißt, er strukturiert den abzubildenden Raum der Begriffe vor, indem er bestimmte Begriffsräume voneinander abgrenzt. Innerhalb dieser Räume gibt es dann wieder eine Schichtung, da es Begriffe gibt, die in ein Verhältnis bestimmter Begriffe bestimmen und solche Begriffe, die in solch ein Verhältnis nur eingespannt werden. Damit finden sich hierarchische Beziehungen in dem von Kircher aufgewiesenen Relationsgefüge.41 Kircher erschließt nun aus der Analyse der ihm möglich erscheinenden Beziehungen ein Schema jeder möglichen Definition, aus der heraus sich ein Grundschema aller Relationstypen ergibt. Ihm zufolge ist dabei der dreistufige Ansatz jedes Bestimmens (Definitio est differentia specificum et genus proximum) die Grundform jeder Relation. Folglich sind Beziehungen des Bestimmungsgefüges immer hierarchisch. Da er in der Trinitas zugleich auch ein theologisches Modell zur Begründung dieser Schemas jedes möglichen Wissens vorfindet, wird für ihn diese verbindlich und kann nun dazu dienen, das Gefüge der möglichen Beziehungen zu strukturieren. Diese Dreierbeziehung setzt eine Hierarchie von Ausgrenzungsfunktionen. In dieser Hierarchie von Ausgrenzungsfunktionen entwirft sich ein Katalog möglicher Grundoperationen der Bestimmung des Wissens, die nach Kircher dann zu einem Katalog der Möglichkeiten des In Beziehung Setzens zusammenzustellen ist; womit Kircher eine Art von Grundsilbenstruktur seiner Metasprache erhält, die er so als Gefüge von möglichen Arten des In Beziehung Setzens fasst. Begriffe sind demnach nichts anderes als eine Detaillierung dieses möglichen In Relation Setzens. Sie sind in ihrer sich in ihnen fangenden Relationsstruktur zu ordnen. Damit wird für ihn ein Gefüge der möglichen Beziehungen dieser Begriffe skizzierbar. Die in Kircher zu greifende Tradition weist nun aber noch weiter zurück, sie umfasst eine enzyklopädische Tradition, die wir für das 17. Jahrhundert in Alsteds Enzyklopädie gebündelt finden, die um 1630 in Herborn in vier Bänden erschien.42 40 41 42
Olaf Breidbach, Michael Ghiselin: Lorenz Oken and Naturphilosophie in Jena, Paris and London, in: Hist. Phil. Life Sci. 24(2002), S. 219–247. Kircher, Ars (wie Anm. 3), S. 196–211. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Vorwort, in: Johann H. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. V–XVIII.
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In dieser Enzyklopädie sind die Idee des Suchbaumes und die Idee einer Innenrepräsentation von Welt formuliert, wobei auch diese Schrift mit diesen Figurationen möglicher Wissensrepräsentationen noch weiter zurückweist.43 Die enzyklopädische Tradition wirkt nun nicht nur bis auf die französischen Enzyklopädisten und über diese ins 19. Jahrhundert – und zwar in die Konzepte einer Wissensorganisation, wie sie via Oken für die Organisation des Wissenschaftsdialoges zumindest im deutschen Sprachraum leitend wurde – nach.44 Diese Tradition des enzyklopädischen Wissens bestimmte ferner den Aufbau der Sammlungen und Bibliotheken und über diese vermeintlich rein technischen Instrumentarien die Architekturen der bis heute wirksamen Wissensrepräsentationssysteme.45 Dabei entstammen diese Konzepte letztlich der Lullschen Tradition einer sich kabbalistisch verstehenden Topik.46 Kircher, der Jesuit, der in seiner ars magna sciendi 1664 ein letztes Kompendium eines explizit Lullistischen Denkens entwarf, stuft dessen Kombinatorik auf eine Technologie zurück: Die Lullsche ars combinatoria wird ihm zu einer Wissensstrukturierungsformel. Das Ganze der Welt wird gebrochen in die Formeln eines sich universell verstehenden Regelwerkes. Dass sich in diesem Regelwerk die Welt fand, war für einen Jesuiten argumentativ noch einholbar, brach sich für ihn doch in diesem Denken das Absolute. War dieses Denken, das sich so in Formeln setzte, für ihn doch gefangen im Wort, aus dem Gott die Schöpfung, und in dem sich denkenden Menschen eben auch ein Bild seiner Selbst schaffte. Topik ist denn auch nicht einfach eine Repräsentation von Welt. Richtiger wäre es vielmehr, die Welt als eine Repräsentation der Topik zu definieren. Spuren dieses Denkens finden sich in der Naturgeschichte bis hin zu Darwin.47 Ist doch die Suche nach der natürlichen Ordnung der Dinge nichts als die Suche nach der eigentlichen Struktur dessen, was in Gedanken dann zwar expliziert, in dieser Explikation aber immer schon in die unzulängliche, menschliche Form gebracht ist. Kircher wird also nicht einfach zum Heroen einer die Historie der cognitive sciences und der Wissensrepräsentation nachzeichnenden Wissenschaftsgeschichte, sondern eher zu einem Testfall, an dem sich fragen lässt, was sich in der Tradition von diesem Denken fortspann, und was verloren ging, und was sich mit in diesem Denkmuster bis in unsere rezenten Wissens-Versicherungsformen transportiert findet. 43
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Dies betrifft den Stammbaum als altes Muster für den Aufweis von Genealogien. Vgl. dazu Sigrid Weigel: Genea-Logik. Vom Phantasma des Fort- und Nachlebens im Erbe, in: Konrad P. Liessmann (Hg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit, Wien 2004, S. 224–243. Olaf Breidbach: Oken in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: ders., Hans Joachim Fliedner, Klaus Ries (Hg.): Lorenz Oken (1779–1851). Ein politischer Naturphilosoph, Weimar 2001, S. 15–32. Paula Findlen: Possessing Nature. Mueseums, Collections, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley, Los Angeles, London 1996; Jeffrey Garrett: Redefining Order in the German Library 1775–1825, in: Eighteenth-Century Studies 33 (1999), S. 103–123. Johann H. Alsted: Clavis Artis Lullianae et Verae logices Duos in Libellos Tributa, Straßburg 1609. Frederick Gregory: Nature Lost? Natural Sciences and the German Theological Traditions of the Ninetheenth Century, Cambridge 1992; Robert J. Richards: The Meaning of Evolution. The Morphological Construction and Ideological Reconstruction of Darwins’s Theory, Chicago 1992; Michael T. Ghiselin: The founders of morphology as alchemists, in: Ders., Alan E. Levinton (Hg.): Cultures and Institutions of Natural History: Essays in the History and Philosophy of Science, San Francisco 2000, S. 39–49.
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Was ist Denken anderes als eine sich logisch operativ vollziehende Sequenz von Schlüssen? Ließe sich das Denken und damit Kognition demnach nicht konsequent in eine Logik abbilden? Schon Leibniz hat mit seinem Postulat einer mathematischen Logik und den daraus entworfenen Rechenmaschinen die Konsequenz aus dieser Überlegung gezogen, diese funktionale Entzifferung des Geistes aber auf eine Teilfunktion des Ichs, den Verstand begrenzt.48 Das Problem, was sich für ihn stellte, war zu beweisen, dass das einer Logik folgende Denken seine Folgerungen nicht etwa auf falschen Axiomen aufbaute. Seine Lösung war einfach. In der besten aller möglichen Welten konnte der Schöpfer das Denken schlicht nicht auf falschen Axiomen gründen. Dennoch war das Denken in seinen Folgerungen aus diesen Axiomen unvollkommen. Seine Logik war auf die Möglichkeiten des menschlichen und damit beschränkten Verstandes zurückgestuft. Dem logisch operierenden Denken erschien die Welt somit nicht wie sie an sich ist, sondern nur wie sie in der ihr möglichen beschränkten Perspektive erschien. Allerdings stand dieses Denken in diesem Tun unter einer höheren Ordnung. War es möglich, die Struktur des Denkens in ihrer von Gott vorgegebenen Struktur darzustellen? Diese Struktur fasste sich nicht in der Veranschaulichung einer nach logischen Mustern zu beschreibenden Welt, sondern sie lag in den diese Beschreibung ermöglichenden Einheiten, den Begriffen. Deren Ordnung spiegelte die wahren Bezüge der Dinge und damit die wirkliche Struktur der Welt wieder. Die Topik, die Lehre von der Zuordnung der Begriffe zueinander, gab die Methode, diese Struktur zu finden. Im 13. Jahrhundert entwickelte Raimund Lull, in direkten Bezug auf die jüdischkabbalistischen Traditionen, ein Grundmuster solcher Ordnungsfindung der Begriffe.49 Die Lullsche Kunst bestand darin, über ein von ihm erschlossenen Ordnungsmuster den realen Ort eines Begriffes im Gefüge des Ordnungszusammenhanges begrifflicher Reaktionen zu erfassen. Nicht der Begriff an sich, sondern dessen Relation zu der Gesamtheit der Begriffe bestimmte seine Wahrheit. Die Konsequenz einer sich entsprechend systematisch entwickelt findenden ars memorativa findet sich schließlich im 17. Jahrhundert in den Vorstellungsräumen von Robert Fludd dargestellt. Fludd entwarf ein Theater des Geistes, einen Binnenraum in dessen Ordnungsgefüge die Begriffe zueinander in eine Relation gesetzt wurden, die den wahren, das heißt von Gott gesetzten Muster begrifflicher Relationen zumindest entsprachen.50 Derjenige, der in diesem Theater stand und die Begriffsrelationen 48
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Zu dem Gesamtproblem Wilhelm Schmidt Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a.M. 1998. Thomas Leinkauf: Der Lullismus, in: Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Bd. 4. Das römische Reich deutscher Nation. Nordund Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 239–268; Frances A. Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964; Frances A. Yates: Lull & Bruno. Collected Essays. Vol. I, London, Boston, 1992; Anthony Bonner, Introduction, in: Raimundus Lullus: Opera. 2.1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 9–37. Frances A. Yates: The Art of Memory, London 1966; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Robert Fludds Theatrum memoriae, in: Jörg J. Berns, Wolfgang Neuber (Hg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750, Tübingen 1993, S. 154–170.
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übersah, konnte demnach deren eigentliche Bedeutung und damit den Ordnungszusammenhang der Welt erfassen. Die Begriffe hatten dort ihren Ort, und mit diesem in ihrer Zuordnung zueinander ihre Bedeutung. Die ersten Enzyklopädien – so die um 1630 erschienene von Alsted –51 bildeten in ihrer Verweisstruktur diese Idee der Organisation des Kognitiven nach. Die eigentliche Lullsche Kunst, die in der ars combinatoria einen Schlüssel zu der Art der möglichen Kombinatorik der Begriffe und aus dieser Darstellungen der Möglichkeiten begrifflicher Zuordnungen dann das Instrumentarium einer Totalrepräsentation der uns möglichen Bezüge und von dort her dann eine Sicherung des relativen Ortes der Begriffe gefunden hat, kann hier nicht weiter interessieren.52 Kircher sieht von diesen komplexeren, in den Raum der Hermetik rückführenden Bestimmungen denn auch ab.
SPRACHWISSEN In dem derart zwar theologisch fundierten aber selbst als Mechanik dargestellten Schematismus sieht Kircher von den durch die Sinne des Menschen verformten Gegebenheiten des Anschauens ab und reflektiert die Struktur des zu Wissenden. Gewissheit hat dieses Wissen nicht in der Anschauung, sondern in der sich in sich gründenden Systematik seiner Aussagen. Dieses Konzept ist streng und abstrakt. Es zielt von vornherein auf eine universelle Geltung, da es sich nur so, in der Totalität des sich in ihm findenden Verweises von Bestimmungen in sich begründen kann. Dieses Denken gründet sich insoweit allerdings auf sprachliche Bestimmungen, und dies, obwohl es weiß, dass die Sprache des Menschen schon in ihrer Vielfalt genauso unzulänglich ist, wie die durch die Sinne übermittelten Befunde einer nur empirisch erfahrenen Außenwelt. Eine Universalwissenschaft muss also – will sie ihren Anspruch, in ihren Bestimmungen Wahrheit darzustellen, nachkommen – von den Zufälligkeiten der Sprachkulturen absehen und in diesen die Struktur der wahren Sprache aufzufinden suchen, in der sie das zu umschreiben vermag, was für sie Geltung besitzt. Wissen, das bleibt die Voraussetzung für den hier erwachsenen Anspruch, Geltung gewinnen zu können, stellt das dar, was der Schöpfer geschaffen hat. Dabei ist diese Schöpfung einer Realisierung der Sprache Gottes. Der Hauch Gottes, sein Wort erschafft die Welt und gibt ihr ihre Syntax und in dieser Syntax eben auch ihre Bestimmung. Nur wenig nach Kircher wird eng an dieses Argument angelehnt eine neue Form der Natursystematik erwachsen.53 Die menschliche Sprache ist analog zu dieser Sprache Gottes erschaffen, so dass der Mensch Gott verstehen, und Gott sich 51
52 53
Johnann H. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. V–XVIII; zur Tradition der Enzyklopädien allgemein Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983. Johann H. Alsted: Clavis Artis Lullianae et Verae logices Duos in Libellos Tributa, Straßburg 1609. Olaf Breidbach, Michael Ghiselin: Baroque Classification. A Missing Chapter in the History of Systematics, in: Uwe Hoßfeld, Kristian Köchy, Lennart Olsson, Volker Wissemann (Hg.): Annals of the history and philosophy of biology, Göttingen 2007, S. 1–30.
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dem Menschen mitteilen kann. Allerdings ist die Sprache der Dinge für den Menschen in der Fülle von deren Detaillierungen nicht oder doch nur kaum zu entschlüsseln Die Struktur des Wissens ist demnach also für Kircher nicht bezogen auf die Taxonomie und Systematik der Gegenstände, sondern in Bezug auf die Ordnung und die Muster des Redens über Gegenstände einzuholen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn Sprache selbst auch mehr ist als die akzidentelle Äußerungsform eines Lebewesens auf diesem Planeten. Der barocken Universalwissenschaft zufolge war dieses Lebewesen Teil einer Schöpfung, in der Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen waren. Auch seine Sprache – als adamitische Sprache – war die Sprache Gottes, die erst mit dem Turmbau zu Babel verloren ging. Die Sätze, die Gott an Moses weitergab, waren in einer Schrift formuliert, die Gott selbst auf die Tafel geritzt hatte. Insoweit ist uns – so zumindest der Ansatz von Kircher – die wahre Sprache, in der definite Bestimmungen und damit Geltung zu finden sind, zumindest im Prinzip verfügbar. Wahres Wissen ist in dieser Sprache zu finden, die in ihrer Struktur denn auch die Syntax des Göttlichen und damit die Bestimmungen des vom Logos ins Sein gebundenen Alls offenkundig macht. So kreist das Denken Kirchers um die Sprache.54 Es galt diese verlorene Ursprache zu rekonstruieren, um dann in der Darstellung von deren Grammatik das sagen zu können, was uns an Wissen möglich ist. Sprache als eine Größe, die in dem Buch fixiert ist, das uns Gott darstellt, ist nicht einfach nur ein Regelwerk möglicher Aussagen, sondern ein Beziehungsgefüge der uns explizierbaren Assoziationen, die in der adamitischen Sprache all das Denkund Vorstellbare in die Form dieser Sprache gebunden hatte, was sich in der Vulgata eben nur in aller Allgemein- und Gemeinheit widerspiegelt. Diese vormalige Sprache offerierte die Ordnung, in der die Welt aus dem Wort ins Sein gefunden hatte. Diese Sprache ist für denjenigen, der die Geschichte um den Turm zu Babel als Gläubiger liest – und immerhin schreibt Kircher über den turris babel –55 mehr als ein auf Grund von Konventionen erschlossenes Kommunikationsmittel. In der Geschichte vom Turmbau zu Babel verwirrt Gott die Sprachen der Menschen um sie davon abzuhalten in den Himmel zu bauen. Die Sprache – das zeigt sich hier – ist also konstitutiv für die Kultur- und Technik-Leistungen des Menschen begriffen: Die Verwirrung der Sprache zerstreut die Menschen und mit ihnen auch das diesen eigene Wissen. Die Sprachen, in denen wir reden, sind nicht die Sprachen Gottes, aber sie bilden das ab, was in dieser göttlichen Sprache gesagt wurde. Immerhin ist das in der Sprache der Lateiner verbindlich gemachte Neue Testament in der Auffassung der katholischen Kirche eine zwar gebrochene, aber doch konsistente Widerspiegelung des Wortes Gottes. Und schließlich hat auch Christus als wahrer Mensch in der nach-adamitischen Sprache der Menschen gesprochen und darin Gott, und das heißt die Wahrheit, offenbart. Allerdings redete Christus in Gleichnissen. Der wahre Gehalt seiner Botschaften ist in diesen Sätzen der menschlichen Sprache also immer nur umschrieben. 54 55
Schmidt-Biggeman, Hermes (wie Anm. 38), S. 37–88. Athanasius Kircher: Turris babel, Amsterdam 1679.
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Die Sprache repräsentiert, das, was in ihr Geltung erlangt, sie umzeichnet es. So gilt es eine Kunst zu entwickeln, die in diesen Umzeichnungen das rekonstruiert, was umrissen ist. Dies leistet Kircher in seiner ars magna sciendi. In seinen, die gesamte Palette der Wissenschaften umfassenden Schriften suchte Kircher immer und überall nach Ordnung und Systematik. In dieser Systematik lag für ihn der Schlüssel zum Wissen, das in die rechte Sprache gebracht eben das darzustellen vermochte, was für ihn mit dem Turmbau zu Babel verloren gegangen war, eine universelle Sprache.56 Diese Sprache, die er – und das stand hinter seiner polygraphia –57 glaubte in einer Art Essentialkombinatorik rekonstruieren zu können, würde es – ihm zufolge – erlauben, die wahren Bezeichnungen der Dinge und in der Zuordnung dieser Bezeichnungen auch die wahre Ordnung dieser bezeichneten Dinge zu erschließen. Seine ars magna sciendi handelt von dieser Ordnung der Dinge und von dem Verfahren, diese Ordnung zu rekonstruieren. Dabei ist Kircher ein Techniker. Er offeriert eine Art Kombinationsmechanik, in der in der Kombinatorik jedes mit jedem die Vernetzung der überhaupt möglichen Ordnungsbezüge zu bestimmen ist. Gäbe es dann noch eine Regel dafür, in diesem Gefüge des Möglichen das Richtige auszusuchen, so wäre eine wahre Ordnung gefunden und in dieser wahren Ordnung wäre dann die Welt, so wie sie im letzten ist (essentia), gefasst. Diese Regeln würden demnach die Ordnung erschließen, in der die Begriffe im Denken zueinander stehen. Schaffe ich es, den einen notwendigen Ordnungszusammenhang, die Topik dieser Begriffe zu rekonstruieren, so fasst sich in dieser Topik die Struktur des Logos. Was ist nun aber Denken anderes als eine sich logisch operativ vollziehende Sequenz von Schlüssen? Insofern war das Denken und damit Kognition dann auch in einer Logik abzubilden. Für Kircher sind die Sucharchitekturen, in denen sich der Zusammenhang der Dinge abbildet, nicht einfach gefunden oder in einer spekulativ arbeitenden Philosophie erschlossen. Für ihn ist in ihrem System, in der Universalität ihrer Anwendung, die Wahrheit ihrer Aussagen vorgegeben. Damit besteht für ihn die Forderung die Totalität der relationalen Repräsentation der Begriffe zu beschreiben. Dabei verknüpft er aber diese Idee einer relationalen Kennung mit der einer Kategorialisierung des Wissens. Das damit gewonnene Gefüge der möglichen Urteile gilt es nunmehr durch einzelne Aussagen zu füllen. Dies ist der Grundansatz der von Kircher formulierten synthetischen Wissenschaftslehre. Um dies zu leisten bedarf es dann nur noch Regeln, über die die in das jeweilige Schema der möglichen Aussagen einer Wissenschaft passenden Bestimmungsbegriffe zu finden sind. Diese Regeln ergeben sich nun aus der Hierarchie der Zuordnungsmuster, in denen Kircher sein ihm verfügbares Wissen strukturiert fand. Insoweit entfaltet er dann in diesem Schema eine synthetisch erschlossene Syllogistik. Diese ist nichts als die Wissenschaft von der Kombinatorik des Möglichen. Kircher glaubt dabei in der Darstellung der möglichen Kombinatorik der jeweils in diesen Schematismus gefassten Begrifflichkeiten das abzubilden, was eine Wissen56 57
Gerhard F. Strasser: Lingua universalis. Kryptologie und Theorie der Universalsprachen im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 1988. Umberto Eco: Kircher tra steganografia e poligrafia, in: Eugenio L. Sardo (Hg.): Athanasius Kircher. Il Museo del Mondo, Rom 2001, S. 209–213.
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schaft leistet. So formiert er in seiner ars magna sciendi seine Wissenschaftslehre, die selbst nicht mehr davor zurückschreckt, aus den ihr verfügbaren Begriffen eine Theologie zu synthetisieren.58 Was ist das Mögliche anderes als das, was nach den Regeln der Kombinatorik kalkulierbar ist. Dieses Kalkulierbare sind die Sätze in denen wir etwas definieren. Die Sprache ist das, was das Wesen der Dinge benennt. So kennt Kircher auf Grund der Sprache und deren Logik die Grammatik der Welt, und vermag so auch die Ordnung der Dinge in ihrer Systematik aber auch in ihrer Zuordnung an Bord der arca Noah erklären.59 Erklärung heißt hierbei die Praktikabilität des Kalküls. Es ist die erfüllte Kombinatorik in der wir das, was wir wissen oder zu wissen glauben sichern. Es ist das Netz der Beziehungen. Es ist das in der Relation Bestimmte. Es ist das, was berechenbar ist, in dem sich unser Wissen fasst und in dem so wir auf das Absolute stoßen. Fast unendlich aber bestimmt, eingegrenzt auf das Mögliche, an sich unbeeinflusst von der personalen Beziehung dessen, der da denkt, ist hier das, was ihn auszeichnet und so mit den anderen zusammen bringt gewiss. Es ist das Berechenbare, das was auf das Kalkül gebracht ist, in dem sich das, was Wissen abbildet. So bleibt alles in Ordnung.
OBJEKTIVIERUNGEN Für Kircher sind Sucharchitekturen in ihrem System, in der Universalität ihrer Anwendung begründet. Dabei besteht schon für ihn die Forderung nach der Totalität der relationalen Repräsentation der Begriffe. So verknüpft er aber diese Idee einer relationalen Kennung mit der einer Kategorialisierung des Wissens. In dieser Art einer rein operativ technischen Analyse der Zuordnung begrifflicher Operationen scheint so etwas ausgewiesen, das der eingangs beschriebenen Zuordnungsstruktur einer modernen Suchbaumarchitektur entspricht. Wie ist sich dann auch diese moderne Technik ihres Wissens anders sicher, als im Vollzug, in den sie das, was sie benennt, in dieser Benennung dann auch zugeordnet findet. Das Problem ist nur, dass sich diese in der Ausgestaltung durchaus modern erscheinenden Suchund Assoziationssysteme des möglichen Wissens, als statisch darstellen. Kirchers Systemgeltung ist gebunden an die Verabsolutierung seines Wissens. Dies erreicht er – wie ausgeführt – in dem Bezug seiner Systematik auf Gott. Die Dynamik seiner Wissensordnung ist nur die Bewegung aus der Unvollkommenheit zum Vollkommenen, das heißt sie ist nur eine maskierte Statik. Fundiert bleibt seine Systematik in der von Gott gegründeten in sich bestimmten Ordnung der Welt (ordo). Insoweit war für Kircher das seine ars magna sciendi beschließende Gebet, welches die Formel mit der er in seiner synthetischen Wissenschaftslehre operierte, damit dann auch letztlich als Beschwörungsformel enttarnte, eben alles andere als akzidentell. Kircher wusste um die Unsicherheit eines nur bei sich selbst seienden Seins. 58 59
Breidbach, Repräsentation (wie Anm. 24), S. 282–302. Olaf Breidbach, Michael T. Ghiselin: Athanasius Kircher (1602–1680) on Noah’s Ark, in: Proceedings of the California Academy of Sciences 4, Ser. 57, Nr. 36 (2006), S. 991–1002.
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In seiner ars magna lucis et umbrae,60 dem ersten mir bekannten Medienhandbuch der Neuzeit, hatte er zur Genüge aufgewiesen, was es bedeutet, auf sich verwiesen zu sein, und sich damit all den falschen Widerspiegelungen von etwas ausgesetzt zu finden, das dem Subjekt selbst unmittelbar gar nicht zugänglich ist. Für Kircher wurde dieses Problem im Modus klerikaler Autorität entschieden – schließlich war er Jesuit. Die Offenbarung, so wie sie die Autorität der Kirche auf uns vermittelt, garantierte ihm die Wahrheit des Erfahrenen. Das nur Sich denkende Ich wäre für Kircher in eine Falle gelaufen, gefangen in seinem Geist, den Vorspiegelungen einer Welt ausgeliefert, könnte dieses Ich – ihm zufolge – eben nicht Wahrheit und darin die Sicherheit des Absoluten, sondern nur das Unsichere seiner Selbst erfassen. Dieses Absolute ist in einer evolutionsbiologisch argumentierenden Wissensbestimmung aber aufgegeben. In solch einer Evolution sind in der Rekonstruktion der Komplexität der Relationen nur momentane Konfigurationen bestimmbar.61 Das in der Komplexität seiner Bestimmungen vernetzte Wissen ist so nur einen Moment bei sich, ohne sich in seiner Konfiguration über diesen Moment hinaus sicher sein zu können. Die in dieser nur temporären Bestimmtheit geknüpften Bestimmungsnetze sind also löchrig. Sie sind dabei aber auch nicht dynamisch. Sie sichern allein eine momentane Bestimmtheit, bilden also die Dynamik der Evolution auf eine jeweils momentane Statik ab. Insofern ist das Bild des sich dynamisch konfigurierenden Relationsraumes, das wir mit dem Begriff des Netzes verbinden, trügerisch. Es ist nicht so, dass das Netz den klassischen Schematismus eines feststehenden Kategoriensystems für die Dynamik öffnet. Vielmehr findet sich im Bild des Netzes ein Modell, in dem die evolutionäre Dynamik in ein statisches Anschauungsmuster rückgebunden und damit verständlich gemacht wird. Die Suchbauarchitekturen und das in ihr erfasste Wissen sind in ihrer Geltung auch in der Moderne im Netz der möglichen Bedeutungen nicht zu sichern. Derartige Wissenskonzepte greifen in ihren Bestimmungen immer außer sich und suchen sich damit dann doch da zu verankern, wo sie erkennen mussten, ohne Grund zu sein. Ein sich in sich verweisendes Wissen kann keine Objektivierungsfunktionen annehmen. Hier griff schon Kircher mit seiner Kombinationskunst zu kurz. Seine polygraphische Maschine demonstriert dies zur Genüge.62 Kircher vollzog denn auch nicht den Schritt zu einer universellen Bestimmung eines Relationsgefüge aus sich, sondern verharrte in einer hybriden Stellung. Er sicherte seine Relationen in ihrem Bezug auf das Absolute. Diese Hybris hat sein Denken letztlich paralysiert und in dieser Hybris finden wir – wie eingangs skizziert –, aber eben auch die Moderne, die keineswegs den komplexen Anspruch einer universellen Assoziation folgt, sondern in den Theorien über eine objektive Information, in den Aussagen über Optimierungsund Lernfunktionen einen externen Kontroller, einen Lehrmeister vorgibt, der letztlich die Funktion vertritt, die sich bei Kircher in Gott zu sichern vermochte.63 60
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Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae in mundo, atque adeó universa natura, vires effectusque uti nova, ita varia novorum reconditiorumque speciminum exhibitione, ad varios mortalium usus, panduntur, Rom 1646. Jürgen Jost: On the notion of complexity, in: Theory in Biosciences 117 (1998), S. 161–171. Kircher, Polygraphia (wie Anm. 37). Kircher, Ars (wie Anm. 3), S. 481.
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Auch die formalen Operationen der Moderne, die das Wissen in einen Handlungsraum hineinführen und doch innerweltlich zu sichern suchen, verweisen in ihren Handlungen auf eine als absolutes Richtmaß erscheinende Welt. Der Korrekturfaktor, der es erlaubt diese Funktionen zu bewerten, ist ein Reflex jenes Gottes, der bei Kircher die Architekturen des Geistes sicherte. Die objektive nach Shannon und Weaver definierte Information führt nicht heraus aus den Grenzen eines hermetischen Denksystems, sie ist selbst in dieser Tradition zu orten.64 Dies sollte zu denken geben. Unsere Konzepte des Assoziativen hängen in einer Tradition, die sich von den Netzen einer Kircherschen Kombinatorik eben noch nicht gelöst hat. Die Hierarchien unserer Ordnungsstrukturen und die mit diesen verbundenen Kontroll- und Bewertungsfunktionen sind ein später Reflex der hier aufgewiesenen Konzeption. Diesen Reflex gilt es nun auch zu reflektieren und nicht einfach in neue Technologie zu brechen. Dabei ist auch der Verweis auf eine evolutionäre Sicherung von Geltungsbestimmungen nicht zureichend. Die eingehendere Analyse der Fitnessbestimmungen zeigt, dass mit ihnen nur der Ist-Zustand eines Systems beschrieben, nicht aber sein potentieller Wert abbildbar ist. Damit ist in einem Aussagengefüge ein Geltungszusammenhang immer nur in Bezug auf die jeweilige existente Relationslandschaft zu bestimmen.65 Insoweit gewinnt solch eine Bestimmung aber keine Geltung, die über eine bloße Bestimmung der Existenz einer Aussage hinausführen und somit eventuell einen Zukunftswert benennen kann. Auch diese Art einer evolutiven Sicherung eines Geltungszusammenhanges bleibt so in einer internen Verweisstruktur gefangen. Expliziert wird in dem Bild der Vernetzung somit nicht von vorneherein eine Figur, in der dynamische Bestimmungen abbildbar sind. Die Strukturen, in denen sich hier auch im Verweis auf die Evolution ein Wissen zu sichern glaubt, entsprechen in ihrer Grundfigur dem Kircherschen Bestimmungsschema. Die dort benutzte Figur des Netzes bezeichnet eine zwar hochkomplexe, in ihrer Essenz aber statische Struktur. Dadurch, dass das Absolute in der modernen Theorie durch eine evolutive Sicherungsfunktion abgelöst ist, ist noch nicht notwendig die Struktur des diese Begründung leistenden Bestimmungsgefüges verändert. Vielmehr verschleiert die vermeintliche Dynamik der jeweils aber nur für einen Zeitschnitt analytisch nutzbaren evolutiven Bestimmung, für die Fitness eine im letzten tautologische Bestimmung darstellt, dass auch diese Wissenschaft ihre Verweisstrukturen letztlich nach den Vorstellungsbildern ausrichtet, die die alte barocke Universalwissenschaft gefunden hatte. Womit auch die Moderne in einem letztlich statischen Weltbild gefangen bleibt.
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Claude E. Shannon, Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication, Urbana 1949; vgl. auch Gebhard Rusch, Siegfried J. Schmidt, Olaf Breidbach (Hg.): Interne Repräsentationen – Neue Konzepte der Hirnforschung, Frankfurt 1996, Maurizio Ferraris: Estetica razionale, Milano 1997.
Klaus-Dieter Herbst ERHARD WEIGEL UND SEINE EMPFEHLUNGSSCHREIBEN FÜR GOTTFRIED KIRCH UND TOBIAS SCHNITTER AN JOHANNES HEVELIUS ZUR BEZIEHUNG ZWISCHEN ERHARD WEIGEL UND GOTTFRIED KIRCH Bereits vor rund 10 Jahren, im März 1999, wurde von mir die Beziehung zwischen Erhard Weigel und dem Astronomen und Kalendermacher Gottfried Kirch (1639–1710) thematisiert. Damals gelangte ich nach der Durchsicht von zahlreichen zeitgenössischen Quellen wie Briefen, der Leichpredigt sowie astronomischen und anderen Drucken zu der Ansicht, dass „nicht zweifelsfrei entschieden werden [kann], ob Kirch tatsächlich Astronomie bei Weigel studierte“,1 wie es in zahlreichen Lexika seit Kirchs Tod verzeichnet worden ist. Auf diesem quellenkritischen Zweifel aufbauend heißt es in der 2006 vorgelegten Edition der Korrespondenz von Gottfried Kirch, dass diese „oft zu lesende Behauptung [...] bisher durch keine Quelle zweifelsfrei belegt werden“ konnte.2 Aufgrund neuer Quellenfunde kann diese Aussage nunmehr modifiziert werden. Danach ist es sehr wahrscheinlich, dass Kirch doch bei Weigel in Jena studiert hatte. Unlängst ausgewertete Briefe aus dem Nachlass des Astronomen Johannes Hevelius (1611–1687) deuten auf einen Studienaufenthalt Kirchs in Jena zu Beginn der 1670er Jahre hin. So notierte Weigel am 26. August 1673 (alten Stils) in einem Empfehlungsschreiben an Hevelius, dass der Überbringer (Zeiger) des Briefes „in vnsern Auditorijs alhier“ von dem Ruhm Hevelius’ gehört habe und unbedingt den Astronomen in Danzig aufsuchen wolle.3 Auf ein zweites Empfehlungsschreiben, das Weigel am 4. Mai 1677 für einen Tobias Schnitter (1653–1734) verfasst hatte,4 antwortete Hevelius am 2. Juli 1677 (neuen Stils). Der Brief beginnt mit den Worten: „Ich erinnere mich gar wol, das ich Meinem Hochg. Hr. noch eine antwort, insonderheit auf das schreiben, darinnen er mir den Hr. Kirchnern recommendiret hatte, schuldig bin“.5 1
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Klaus-Dieter Herbst: Die Beziehung zwischen Erhard Weigel und Gottfried Kirch, in: Reinhard E. Schielicke, Klaus-Dieter Herbst, Stefan Kratochwil (Hg.): Erhard Weigel – 1625 bis 1699. Barocker Erzvater der deutschen Frühaufklärung. Beiträge des Kolloquiums anläßlich seines 300. Todestages am 20. März 1999 in Jena, Thun und Frankfurt a.M.1999, S. 105–122, hier S. 110. Die Korrespondenz des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch (1639–1710). In drei Bänden hg. und bearbeitet von Klaus-Dieter Herbst unter Mitwirkung von Eberhard Knobloch und Manfred Simon sowie mit einer Graphik von Ekkehard C. Engelmann versehen. Bd. 1: Briefe 1665–1689, Bd. 2: Briefe 1689–1709, Bd. 3: Übersetzungen, Kommentare, Verzeichnisse, Jena 2006, hier Bd. 1, S. lxxxi. Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlaß Hevelius, C 1–11, n° 1609 (vgl. auch die Wiedergabe dieses Schreibens im Anhang, S. 33f.). Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlaß Hevelius, C 1–12, n° 1775 (vgl. auch die Wiedergabe des Beginns dieses Schreibens im Anhang, S. 34f.). Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlass Hevelius, C 1–12, n° 1776 (vgl. auch die Wieder-
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Klaus-Dieter Herbst
Hevelius bezieht sich hier auf das erste Schreiben Weigels aus dem Jahr 1673. Die von Hevelius im weiteren Briefverlauf gegebenen Details lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass mit „Hr. Kirchnern“ Gottfried Kirch gemeint ist. Wenn Weigels Formulierung „in vnsern Auditorijs alhier“ mit „in unseren Hörsälen hier [in Jena]“ interpretiert wird, dann ist von einem Studium Kirchs in den Räumen der Universität Jena auszugehen, auch wenn ihn die Matrikel dieser Institution nicht anführt. Dass er dann in einem Hörsaal „Herrn Weigelium gehöret“ haben wird, wie es im „Lebens=Lauff“, der 1710 in der „Gedächtniß=Predigt“ von Christian Ranßleben mit abgedruckt wurde, zu lesen ist, ist anzunehmen.6 Eine andere Frage ist, was Kirch bei Weigel „gehöret“ haben könnte. Ein Selbstzeugnis von Kirch dazu gibt es nicht. Anhaltspunkte liefern aber die Vorlesungsankündigungen Weigels, die sich in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena erhalten haben.7 Die von Weigel vertretenen astronomischen Ansichten sind auch in dessen Himmels Spiegel von 1661 ausgebreitet. Darin werden zahlreiche neue Erkenntnisse angeführt, die in der Himmelskunde mittels neuer Instrumente, Beobachtungen und Rechnungen im Verlaufe des 17. Jahrhunderts bis zum Erscheinen des Werkes gewonnen worden waren. So beschreibt Weigel zum Beispiel den Jupiter mit seinen vier Monden, den Saturn mit dem Ring und die Sonne mit ihren Flecken. In Bild und Text erläutert er das in der Mitte des 17. Jahrhunderts allgemein favorisierte Weltsystem nach Tycho Brahe (1546–1601), lässt aber Raum für Anderes, wenn er schreibt: „Sonsten ist gewiß/ daß die jenigen [die die Himmelsphänomene beobachten – K.-D.H.]/ [...] auff die Gedancken kommen/ es gienge die Erde so wohl als der Mond und andere ihr fast gleichförmige Weltkörper herumb. Welches wir wie obengedacht vor dießesmahl zu weitern Nachdencken ausgestellet seyn lassen/ [...].“8
Die in diesen Worten mitschwingende Alternative, dass sich auch die Erde wie die anderen Planeten um die Sonne bewegen könnte, deutet Weigel in seiner Zeichnung zum Tychonischen System durch eine gestrichelte Linie um die Sonne als gedachter Erdbahn an. Vielleicht war es gerade diese Offenheit für Neues, noch nicht allgemein Anerkanntes,9 die in den frühen 1670er Jahren den schon über dreißigjährigen 6 7 8
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gabe dieses Schreibens im Anhang, S. 35f.). Vgl. die ausführlichen Zitate in Herbst, Beziehung (wie Anm. 1), S. 107–110. Zum Beispiel für die Sommer- und Wintersemester 1670 bis 1673 unter der Signatur: HSA, 2 Hist. lit. VI, 7, 31–37. Erhard Weigel: Speculum Uranicum Aquilae Romanae Sacrum. Das ist/ Himmels Spiegel/ Darinnen Ausser denen ordentlichen/ auch die ungewöhnlichen Erscheinungen des Himmels mit gebührenden Anführungen abgebildet/ Vornehmlich aber Der im Gestirne des Adlers jüngsthin entstandene Comet/ Nebenst einer neuen Himmels=Charte unter dem Adler des H. Römischen Reiches dargestellet wird, Jena 1661, S. F3b. Exemplar der ThULB Jena, Sign.: HZ/WD 4 Math VII, 59(1). Vergleiche auch die Fortsetzung des Himmels Spiegels von 1665. Im gesamten 17. Jahrhunderts gab es die wissenschaftliche Kontroverse um die Frage, ob die Welt gemäß dem Tychonischen oder dem Copernicanischen System aufgebaut sei. Entschieden wurde sie auch durch die Arbeiten von Johannes Kepler (1571–1630) nicht, denn diese wurden häufig nur im Sinne eines astronomisch-mathematischen Modells wahrgenommen, mit dem die astronomischen Rechnungen verbessert werden konnten. Vgl. Christine Schofield: The Tychonic and semi-Tychonic world system, in: René Taton, Curtis Wilson (Hg.): Planetary astronomy from the Renaissance to the rise of astrophysics. Part A: Tycho Brahe to Newton, Cambridge u.a. 1989,
Erhard Weigel und seine Empfehlungsschreiben an Johannes Hevelius
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Kirch an dem Universitätsprofessor Weigel beeindruckte. Auch Kirch wollte in der astronomischen Forschung um 1670 neue Wege beschreiten, wovon bereits die ersten Jahrgänge seines Christen-, Juden- und Türken-Kalenders zeugen.10 Mit dem Empfehlungsschreiben von Weigel stellte sich Kirch bei dem Astronomen Hevelius in Danzig vor und blieb dort als dessen Gehilfe mehrere Monate bis in das Jahr 1674 hinein.11 Kirch verließ dann Danzig, um zunächst eine Erbschaftsangelegenheit in Gerdauen zu klären. Danach begab er sich zum Studium nach Königsberg, wo er am 1./11. Januar 1675 gemeinsam mit dem Arzt und Mathematikprofessor Georg Wosegin (1626–1706) eine Mondfinsternis beobachtete.12 An seine Frau Maria (†1690) schrieb Kirch am 16./26. April 1675 aus Königsberg: „Ich studire zu Königsberg. Ich hatte bey Herrn Hevelchen gar zu viel zu thun ich hätte meine Kalender bey ihm nicht machen können.“13 Obwohl sich Hevelius durch den nicht angekündigten Abschied von Kirch hintergangen gefühlt hatte, entwickelte sich danach zwischen beiden ein intensiver Briefwechsel zu astronomischen Fragen.
DAS EMPFEHLUNGSSCHREIBEN FÜR TOBIAS SCHNITTER Setzte sich Weigel im Fall Gottfried Kirch für jemanden ein, den er als „seinen“ Studenten hätte bezeichnen können, so trifft das bei Tobias Schnitter nicht zu. Der 1653 in Görlitz geborene Schnitter hatte in Jena „bey [. . . ] jura studiret“,14 was zweifellos
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S. 33–44; Ernst Zinner: Entstehung und Ausbreitung der copernicanischen Lehre, hg. und ergänzt von Heribert M. Nobis, Felix Schmeidler, München 1988, S. 371–386. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass es dem Wirken von Weigel nicht gerecht wird, wenn man ihn als exemplarisch für einen Universitätsgelehrten darstellt, der die „Spannung zwischen Innovation und traditioneller akademischer Orientierung illustriert“, indem er – ganz modern – „eine mathematische Methodik als exakte Grundlage aller Fächer“ forderte, zugleich „aber am geozentrischen Weltbild des Ptolemaeus gegen Galilei und Kepler fest[hielt]“ (so die Behauptung in: Joachim Bauer, Andreas Klinger, Alexander Schmidt, Georg Schmidt (Hg.): Die Universität Jena in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2008, S. 89). Das Weltbild des Ptolemaeus hatte auch Weigel längst überwunden! Und Äußerungen Weigels gegen Galilei und Kepler sind nicht bekannt! Die ersten beiden Jahrgänge für 1667 und 1668 sind als Reprint 2008 bzw. 2009 neu herausgegeben worden. Vgl. Klaus-Dieter Herbst: Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 1.1 (1667) und Bd. 1.2 (1668). Bis wann genau Kirch bei Hevelius blieb, konnte nicht ermittelt werden. In einem Brief an den Astronomen Olaus Römer (1644–1710) nennt Kirch lediglich das Jahr: „Bey dem h[err]n Hevelio in Dantzig sahe ich Anno 1674 zwar die kostbaren Instrumenta: [...]“. Herbst, Korrespondenz (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 461. Siehe die Wiedergabe der handschriftlichen Notiz dazu in Herbst, Korrespondenz (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 102, Anmerkung 2 zu Brief Nr. 168. Herbst, Korrespondenz (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 12. Zu Kirch als Kalendermacher siehe ders.: Die Kalender von Gottfried Kirch, in: Beiträge zur Astronomiegeschichte, Frankfurt a.M. 2004, Bd. 7, S. 115–159. Beachte dazu die Entdeckung zahlreicher weiterer Exemplare, die aufgelistet sind in ders.: Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts, Jena 2008 sowie jetzt ders.: Zum 300. Todestag des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch, in: Jürgen Hamel (Hg.): Gottfried Kirch (1639–1710) und die Berliner Astronomie im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2010, S. 22–33, bes. S. 25–28. Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlaß Hevelius, C 1–12, n° 1775 (siehe die Wiedergabe des Beginns dieses Schreibens im Anhang, S. 34f.). Die Textlücke entspricht der leeren Stelle in
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Klaus-Dieter Herbst
nicht zu den Vorlesungsfächern von Weigel gehörte. Dennoch bat Weigel Hevelius um eine Stellenvermittlung für Schnitter. Über das Motiv bei Weigel beziehungsweise zur Beziehung zwischen diesem und Schnitter ist bislang nichts bekannt. Die ausführlichste Quelle zur Biographie Schnitters ist ein vierseitiger Lebenslauf,15 verfasst aus Anlass dessen Todes. Darin heißt es, dass er nach dem Besuch des Görlitzer Gymnasiums „Anno 1674. mit Ruhm auf die Universität Jena ziehen/ und daselbst dem Studio Juridico mit allem Fleiß nachstreben konte. Nachdem Er nun daselbst drey Jahr rühmlich zu gebracht/ begab er sich über Thoren und Dantzig nach der berühmten Academia Königsberg in Preußen/ und brachte seine Zeit daselbst/ unter den damahligen Herren Professoribus, ingleichen rühmlich und mit gutem Nutzen zu. Doch Anno 1677. kam Er/ unter göttlichem Geleite/ glücklich wiederum nach Hause.“16
Die Matrikel der Universitäten Jena und Königsberg weisen Schnitter nicht auf.17 Dagegen findet man in der Matrikel der Universität Leipzig folgenden Eintrag: „Schnitter, Tob. Görliz. dp. 16 gr. i S 1663.”18 Demnach wurde Schnitter bereits als Kind in Leipzig immatrikuliert. Auf Weigels Bitte bezüglich Schnitter ging Hevelius in seinem Brief von 1677 nur kurz ein: „Den Hr. Tobiam Schnittern, habe ich gerne, auf Meines Hochg. H. recommendation irgentwo beferdern wollen, aber weil beÿ vns gar wenig gelegenheit vorhanden, als hatt es nicht geschehen können: wo er nun geblieben weiß ich nicht, den er nicht wieder zu mir gekommen.“19
Wie dem Lebenslauf zu entnehmen ist, hatte Schnitter Danzig in Richtung Königsberg verlassen. Von dort wendete er sich noch 1677 in seine Heimatstadt. 1684 verließ Schnitter Görlitz und blieb bis 1694 in Dänemark, wo er als „Auditeur und Secretarius bey dem Herrn Commendanten und General-Major von Gevecken in Cronenburg“ sein Auskommen fand. Danach übernahm er den elterlichen Brauhof in Görlitz und starb 1734 in hohem Ansehen.
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dem Brief. Vermutlich hatte Weigel vergessen, den entsprechenden Namen zu ergänzen. An der juristischen Fakultät lehrten um 1675 z. B. die Professoren Rudolf Wilhelm Krause (1612–1689), Georg Adam Struve (1619–1692) und Ernst Friedrich Schröter (1621–1676). Samuel Großer: Das Leben im Sterben Gläubiger Christen/ wurde, Bey dem seligen Hintritt Des wayl. Hoch=Wohl=Edlen, Groß=Achtbahren und Rechts=Hoch=Wolgelahrten Herrn Tobiae Schnitters/ J. U. C. und Hochansehnlichen Alten Bürgers in Görlitz, [...] wohlmeinend erwogen [...], Görlitz 1734 [Exemplar der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften Görlitz, Sign.: Th XVI 1692]; vgl. auch Das rühmliche Andencken mit Lobgedichten auf Schnitter [Exemplar der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften Görlitz, Sign.: Th XVI 1956]. Großer, Leben (wie Anm. 15), n.p. Die Eintragung der im Dezember 1636 in Königsberg erfolgten Immatrikulation eines Tobias Schnitter bezieht sich auf den gleichnamigen Vater des hier behandelten Schnitter. Georg Erler (Hg.): Die Matrikel und die Promotionsverzeichnisse der Albertus-Universität zu Königsberg i.P. 1544–1829. Bd. 1: Die Immatrikulationen 1544–1656, Leipzig 1910, S. 376. Georg Erler (Hg.): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809. Als Personen- und Ortsregister bearbeitet und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt. II. Band. Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1634 bis zum Sommersemester 1709, Leipzig 1909, S. 399. Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlaß Hevelius, C 1–12, n° 1776 (vgl. auch die Wiedergabe dieses Schreibens im Anhang, S. 35f.).
Erhard Weigel und seine Empfehlungsschreiben an Johannes Hevelius
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ZUM KORRESPONDEZNETZ VON WEIGEL Stefan Kratochwil gebührt das Verdienst, die Briefe von und an den Jenaer Gelehrten Erhard Weigel erfasst und ein Verzeichnis davon veröffentlicht zu haben.20 Diesem Verzeichnis sind die hier angeführten drei Briefe hinzuzufügen. Der Briefwechsel mit Hevelius ist von besonderer Bedeutung, weil sich mit Weigel und Hevelius zwei Personen schrieben, die jeder für sich Zentrum spezifischer Korrespondenznetze waren: Hevelius in einem gelehrt-astronomischen Netz, Weigel in einem akademischhöfischen Netz. Die beiden Empfehlungsschreiben von Weigel demonstrieren, wie dieser seine akademische Stellung nutzte, um im Interesse einzelner Studenten bei einem außeruniversitär tätigen Gelehrten einzuwirken.
ANHANG Dok. Nr. 121
26. August/5. September 1673
Erhard Weigel an Johannes Hevelius WohlEdler, Vest vnd Hochgelahrter, Insonders Hochgeehrter Herr vnd geneigter Gönner Es hat Zeiger22 dieses, nebenst seiner privat Verrichtung, auch ein sonderlich Verlangen, Meinem h[ochgeehrten]h[err]n bey dieser seiner Reyse schuldigst aufzuwarten, alß dessen weldtbekanter Ruhme Ihme in vnsern Auditorijs alhier der billigkeit nach Höchstrühmlich zum öfftern vorgetragen worden. Er hat aber ohne einige Zeilen von meiner Wenigkeit nicht erscheinen wollen. Welches m[ein]h[ochgeehrter]h[err] im besten vermercken wird. Ich wünsche näher zu seyn, vnd was zum Aufnehmen der würklichen Gelahrsamkeit ich vnmaßgeblich concipirt, Dessen wissen Consilijs zu exponiren. Allein die Entlegenheit verhindert viel. Ich contentire mich vnterdessen mit dessen herrlichen Scriptis, vnd wolte wünschen, daß ich nur etwas weniges contribuiren könte. Muß mich aber mehrentheils nur mit den Mechanices exercitamentis behelffen, aus welchen die durch die Scholasticos so weit zurükgesetzte Philosophia realis am besten erbauet werden kan. Vbersende inzwischen etwas weniges, weil 20
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Stefan Kratochwil: Der Briefwechsel von Erhard Weigel, in: Klaus-Dieter Herbst, Stefan Kratochwil (Hg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 135–154. Zur Auflistung: http://www.erhard-weigel-gesellschaft.de/Verzeichnis-seines-Briefw.30.0.html, zuletzt abgerufen am 29.9.2011. Alle drei Schreiben befinden sich heute in der Bibliothek der Sternwarte Paris. Dorthin gelangte größtenteils der rund 2700 Briefe umfassende Nachlass des Astronomen Johannes Hevelius. Bei der Wiedergabe der Schreiben wird auf textkritische Anmerkungen verzichtet. Abkürzungen werden nur dann aufgelöst, wenn es für das Verständnis des Textes notwendig erscheint. Der Zeiger (Überbringer) dieses Briefes ist Gottfried Kirch. Das folgt zweifelsfrei aus dem Antwortbrief von Hevelius aus dem Jahr 1677. Dass der Begriff Zeiger im 17. Jahrhundert im Sinne des Überbringers (eines Briefes) verwendet wurde, belegen auch andere Briefstellen; vgl. Herbst, Korrespondenz (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 80, 250.
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Klaus-Dieter Herbst
das grose noch nicht fertig, vnd verbleibe nechst empfehlung desselben in Gottes gn[aden] Schutz Meines Hochgeehrten Gönners schuldiger diener ErhWeigelius, Jena den 26. Aug. 1673. Quelle: Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlass Hevelius, C 1–11, n° 1609 (hs. Ausfertigung). Dok. Nr. 2
4./14. Mai 1677
Erhard Weigel an Johannes Hevelius Wohl Edler, Vest vnd Hochgelahrter auch Hochweiser, Insonders Hochgeehrter Herr vnd Werther Gönner. Wir sind alhier nicht also glückseelich gewesen, daß wir den Cometen,23 welcher Die Oster Wochen vber frü vor der Sonnen aufgang Vnter der Andromeda soll erschienen seyn, Hetten beob-achten können. Habe Derowegen mich vnterstehen sollen vmb einige Nachricht vermittels mündlichen Berichts gegen vberbringern dieses (wo das schreiben zu beschwerlich fallen wolte). von meinen Hochgeneigten Gönner zu bitten, darneben aber auch besagten vberbringer, der eine Zeitlang alhier bey [. . . ] jura studiret,24 alß einen feinen Sittsamen Menschen, nahmens Tobias Schnitter LL. Stud.25 aus Schlesien dahin bestermassen zu recommendiren, ob etwa einige Condition in der Stadt Dantzig vor Ihn durch M[eines]H[ochgeehrten]H[err]n Hoch-Güttiges Wortt sich finden möchte. Welches ich nechst Ihn mit schuldigen Danck zuerkennen mir keine Vergessenheit stellen werde.[...]26 Verbleibe nechst empfehlung in Gottes Schutz Meines Hochgeneigten Gönners Dienstergebenster ErhWeigelius PP. 23 24 25 26
Komet C/1677 H1, beobachtet vom 17./27.4. bis 28.4./8.5. 1677. Dieser Komet wurde von Hevelius entdeckt. Vgl. Anm. 14. Legum Studiosus (Student der Gesetze). Im weiteren Verlauf des Briefes bittet Weigel darum, ein Päckchen mit einer kleinen Schrift Nicolaus Beckmanns (1634–1689) wider Samuel Pufendorf (1632–1694), das Tobias Schnitter bei sich hat, an Pufendorf weiterzusenden. Ferner berichtet Weigel ausführlich von seiner Bemühung, die gesamte Philosophie mit der Mathematik zu vereinigen und die Physik nach der Mechanik einzurichten.
Erhard Weigel und seine Empfehlungsschreiben an Johannes Hevelius
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Jena den 4. Maij 1677. Quelle: Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlass Hevelius, C 1–12, n° 1775 (hs. Ausfertigung). Dok. Nr. 3
2. Juli 1677
Johannes Hevelius an Erhard Weigel Edler, GroßAchtbahrer vnd Hochgeehrter Hr. Ich erinnere mich gar wol, das ich Meinem Hochg. Hr. noch eine antwort, insonderheit auf das schreiben,27 darinnen er mir den Hr. Kirchnern recommendiret hatte, schuldig bin; alldieweil mir aber das gedachte schreiben vnversehens von der handt gekommen, das ich nie nicht es wieder habe können, zu sehen bekommen, als habe ich biß zu dieser gelegenheit es versparen wollen. Bedancke mich fürs erste, das Mein Hr. schon zu vnterschiedenen mahlen mit schreiben mich ersuchen hatt, wünsche das ich hinwiederumb gelegenheit haben möchte solche angenehme freündtschafft auch mit der thatt zuerkennen, vnd wie das ich allezeit gefließen Meinem Hochg. Hr. zu dienen. Was den Cometen28 betrifft, wan vnd wie er erschienen vnd wie lange er von mir alhir zu Danzig seÿ observiret worden, wird aus beyliegende Epistel29 vngefehr zu sehen sein; das vbrige wird aus denen observationibus genawer deduciret werden. Den Hr. Tobiam Schnittern, habe ich gerne, auf Meines Hochg. H. recommendation irgentwo beferdern wollen, aber weil beÿ vns gar wenig gelegenheit vorhanden, als hatt es nicht geschehen können: wo er nun geblieben weiß ich nicht, den er nicht wieder zu mir gekommen. Den Hr. Kirchner den mir M. H. auch dazumahl recommendiret, habe ich zu der Zeit, so wie ers inständig auch suchte, gerne bey mir behalten wollen, vnd hatten zusamen contrahiret auf ein iar furs erst, liß sich zuanfangs an, als wan er wol lenger würde bleiben; meine gutte hoffnung aber hatt mich betrogen. den nach dem er etzliche wochen oder monate bey mir gewesen, hatt er vorgewandt er hette bey Königsberg einige schulden einzufordern, welches ich auch gerne concediret, in hoffnung er würde wieder kommen und seiner Zusage nachkommen aber er ist alsbaldt von da nach hause gereiset und nicht eins einen abscheidt von mir genommen noch einen eintzigen brieff an mich geschrieben,30 viel weniger sich etwa bedancket 27 28 29 30
Gemeint ist der Brief von Erhard Weigel an Johannes Hevelius vom 26.8./5.9.1673. Vgl. Anm. 23. Johannes Hevelius: Epistola ad Amicum De Cometa Anno MDCLXXVII Gedani observato, Danzig 1677. Hier irrte sich Hevelius. Kirch schrieb an seine Frau in einem Brief aus Königsberg (verfasst vor dem 2./12.2.1675): „Sonsten kann ich auch unberichtet nicht laßen, daß, da ich zu Gerdaun sahe, daß es mit meiner Erbschaft gar langsam und schwer hergehen wolte, ich an Seine WohlEdle Herrlichkeit, Tit. H. Joh. Hevelium geschrieben, und ihm vermeldet, daß es langsam herginge, und es sich ansehen ließe, daß ich gar wieder auff Guben müste, er solte in Gottes Nahmen an meine Stelle iemand anders an nehmen. Ich werde wol eine Weile hier zu Königsberg verbleiben, weiß aber nicht wie lange.“ (Herbst, Korrespondenz (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 6.) Daraus folgt zweifelsfrei, dass Kirch an Hevelius geschrieben hatte und für sein Fernbleiben eine Erklärung gab. Dieser Brief ist nicht überliefert.
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Klaus-Dieter Herbst
für die herberge; da ich ihm doch, wie er nicht anders wird sagen können alle ehre vnd freindtschafft erwiesen; hette er alsbaldt freÿ heraus gesaget das er eine frawe31 hette (wie ich hernach erfahren, vnd das er nur suchte eine zeitlang sich alhie aufzuhalten) ich hette ihn gerne freÿ, vmb meines Hochg. Hr. halbe, bey mir eine zeitlang behalten. Das er aber mir so etwas hatt dürffen auf den ermel binden da er ein anders hatt im sinne gehabet, hatt ihm für wahr nicht wol angestanden, das er Meinen Hoch. Hr. vnd mich so verleitet hatt. Wiewol mir wenig an seinen diensten ist gelegen gewesen, habe seiner gar wol entbehren können, vnd das was er beÿ mir verrichtet ich nicht einer bone wert halte. Im vbrigen gratulire ich Meinem Hochg. Hr. das er wieder fürgenommen die Physicam mit der Mechanica zuvereinigen. Zweiffele nicht daran, das Mein Hochg. Hr. daßelbige löbliche werck zum gewünschten ende wird vollerführen können, vnd sich als dan einen einigen Nahmen erwerben. Womit der Göttlichen obhutt trewlich empfohlen, verbleibende Meines Hochgeehr. Hr. Dienstgefließener Johan Hewelcke. In Danzig Ao 1677 den 2 Julij. St. n. Quelle: Bibliothèque de l’Observatoire Paris, Nachlaß Hevelius, C 1–12, n° 1776 (hs. Konzept)
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Maria Kirch, geborene Lang, in Lobenstein, seit 1667 mit Gottfried Kirch verheiratet.
Thomas Behme DIE WISSENSCHAFTSKONZEPTION VON ERHARD WEIGELS ANALYSIS ARISTOTELICA Die Analysis Aristotelica ex Euclide restituta von 1658 stellt Weigels erste größere selbständige Schrift zur Wissenschaftstheorie dar. Obgleich manche der dort vertretenen Positionen in seinen späteren Abhandlungen – vor allem der Philosophia Mathematica Theologia Naturalis Solida von 1693 – noch modifiziert und weiterentwickelt wurden, hatte die Schrift eine enorme Wirkung sowohl durch den Eindruck, den sie auf den jungen Leibniz hatte,1 als auch durch den Einfluss auf Samuel Pufendorf, dessen naturrechtliches Erstlingswerk Elementa Jurisprudentiae Universalis in seinem methodischen Aufbau der Wissenschaftskonzeption der Analysis Aristotelica folgt.2 Durch die universitätsinternen Auseinandersetzungen, die das Erscheinen dieser Schrift ausgelöst hat,3 stellt sie zudem ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der Salana dar. In dieser Schrift entwickelt Weigel zum ersten Mal auf umfassende Weise seine selbständige Lehre, die die geometrische Methode als die wahre Philosophie und universell gültiges Verfahren jedweder Wissenschaft begreift. Dies soll aber, wie schon der Titel zeigt, noch in engem Anschluss an den herrschenden Aristotelismus seiner Zeit erfolgen: Erklärtes Ziel der Schrift ist es, „die echte Methode des Wissens und die ursprüngliche Gestalt der wiederhergestellten Philosophie durch alle Fächer und Fakultäten im Grundriß“4 darzustellen. Dagegen wird die zeitgenössische Gestalt der Philosophie mit einem vom Einsturz bedrohten Bau verglichen, wobei als 1
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Über den Einfluss der Analysis Aristotelica auf den jungen Leibniz, der seinen Niederschlag vor allem in dessen Briefen an Jakob Thomasius von 1668/69 gefunden hat (Gottfried W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Zweite Reihe, Bd. 1, Darmstadt 1926, S. 10ff.) Konrad Moll: Der junge Leibniz. 3 Bände, bes. Bd. 1. Die wissenschaftstheoretische Problemstellung seines ersten Systementwurfs. Der Anschluß an Erhard Weigels Scientia generalis, Stuttgart-Bad Canstatt 1978; Peter Petersen: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, S. 349ff. Thomas Behme (Hg.): Samuel Pufendorf. Elementa Jurisprudentiae Universalis. (Gesammelte Werke 3. hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann), Berlin 1999, Einleitung Herausgeber, S. XIIff., Sachkommentar S. 172ff.; ders. (Hg.): Erhard Weigel, Analysis Aristotelica ex Euclide restituta (Clavis Pansophiae, hg. von Charles Lohr, Wilhelm Schmidt-Biggemann, 3,3). Stuttgart-Bad Cannstatt 2008, Einleitung Herausgeber, S. XXXII, LIVf. Dazu Edmund Spiess: Erhard Weigel, weiland Professor der Mathematik und Astronomie zu Jena, der Lehrer von Leibnitz und Pufendorf, Leipzig 1881, S. 12f., 64; Otto Knopf: Die Astronomie an der Universität Jena von der Gründung der Universität im Jahre 1558 bis zur Entpflichtung des Verfassers im Jahre 1927, Jena 1937, S. 33ff.; Werner Mägdefrau: Erhard Weigels Wirken in Jena (1653–1699) und seine Bedeutung für die deutsche und europäische Geistesgeschichte, in: Geschichte der Universität Jena. 1548/58–1958. Festgabe zum 400jährigen Universitätsjubiläum, Jena 1958, Bd. 1, S. 134; Moll, Leibniz (wie Anm. 1), S. 72f.; Behme, Pufendorf (wie Anm. 2), Einleitung, S. IX, XIIIf. So lautet der Untertitel der Schrift: „[...] Genuinum Sciendi modum, & Nativam restauratae Philosophiae faciem per omnes Disciplinas & Facultates ichnographicè depingens.“
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Ursache des Verfalls die Scholastik mit ihrer Autoritätsgebundenheit und ihrem Streit um den (vermeintlichen) Wortsinn der aristotelischen Schriften gesehen wird.5 Vor allem aber hat nach Weigel die scholastische Disputationsmethode einer Streitkultur an Schule und Universität Vorschub geleistet, die er für die konfessionelle Zerissenheit der Christenheit mitverantwortlich macht.6 Die Baumaschinen zur Reparatur der philosophischen Ruine („machinasque ad reparationem necessarias“) werden dagegen von Aristoteles selbst bereitgestellt in Gestalt der in seinen Analytiken entwickelten Schluss- und Beweislehre. Den Prototyp dazu hat Aristoteles nach Weigel in der Beweistechnik der griechischen Mathematik seiner Zeit weit entwickelt vorgefunden und nach dem Vorbild der geometrischen Analysis seine allgemeine Logik und Wissenschaftsmethodologie entwickelt.7 Zentrale Begriffe der Analytiken wie z.B. σχˆημα für (Schluss-)Figur oder συλλογισμ´ ος (Zusammenrechnung und logischer Schluss) seien der Mathematik seiner Zeit entlehnt. Auch bezeugten die vielen mathematischen Beispiele in der Analytiken, dass Aristoteles den mathematischen Beweis als Paradigma für den Beweis schlechthin verstanden habe.8 Da das Wissen um die mathematischen Grundlagen seines Denkens im „Dornengestrüpp der Kommentatoren“ verlorengegangen sei, müsse die Wiederherstellung der aristotelischen Philosophie unter Rückgriff auf die alten Mathematiker erfolgen, vor allem aber nach dem Leitfaden des Euklid, „jenes vertrauenswürdigsten [...] und hervorragendsten Ordners der Wissenschaften“.9 Der Gedanke, einen echten Aristoteles gegen den Aristotelismus der Scholastik auszuspielen und dessen Beweislehre mit dem geometrisch-mathematischen Methodenideal zu identifizieren, war im deutschen Protestantismus nicht neu. Einhundert Jahre vor Erhard Weigel bemühte sich Philipp Melanchthon vor dem Hintergrund der innerprotestantischen Auseinandersetzung mit den Wiedertäufern um eine stärkere Durchbildung der protestantischen Dogmatik, was ihn zu einem geschärften Methodenbewusstsein und zu einer verstärkten Hinwendung zur Philosophie führte.10 In 5 6
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Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Dedicatio, S. 8. Diesen Gedanken entwickelt Weigel vor allem in den Schriften Extractio Radicis, oder WurzlZug des so schlechten Christen-Staats, Jena 1689 und Grundmäßige Auflösung des militarProblematis, Warum doch der Türck den Christen nunmehr weichen müsse, Jena 1689. Siehe bes. ebd., Observ. V: „Und ist fürwar merckwürdig / daß die Christen eben so lang untereinander Krieg geführt / wie lang sie ihre Kinder gegeneinander / wiedereinander / künstlich und geziert / nachdrücklich / über Rednerisch / zu sprechen ohne Rechnung in den Schulen angewiesen / und die Alten gute Sprüche / in schönen Reden lieblich vorgesprochen / hertzig anzuhören / ohne darnach thun / gewehnet haben. Darumb Augustinus, welcher doch der beste unter den SprechMeistern bey den Heyden war / nach dem er sich bekehrt / so hefftig wieder die SprechKunst geprediget“. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Dedicatio, S. 8 und Prooemium, §14: „Et ut tùm temporis solos Geometras, ναλ´ υειν, i. e. causas & principia Propositionum indagare, neque prius inquirendo desinere, quàm ad primam causam & ultima ac immediata principia sit deventum, observavit, eâque ναλ´ υσει profundissimam mathematum scientiam è Naturae penetralibus feliciter erutam intellexit Aristoteles, ipse ut idem, quae singularis fuit ejus sagacitas, obtineret in omnibus, factâ mathematicarum rerum ναλ´ υσει quasi physicâ, geometricam hanc ν´ αλυσιν penitiùs inspexit, atque ita ex speciali generalem, h. e. logicam effecit“. Ebd., §12. Ebd., §18. Melanchthons Philosophieverständnis und die Forschungskontroverse um seine sog. antiphilo-
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seiner Oratio de Philosophia von 153611 betonte er den Nutzen der „freien Bildung“ („liberalis eruditio“) für die Kirche12 und warnte vor den Gefahren einer „inerudita theologia“, „in der die großen Dinge nicht deutlich ausgelegt werden“ und „in der nichts zusammenhängt“. Eine solche Theologie könne nur „unendliche Irrtümer“ hervorbringen, „und während jeder sein Trugbild verteidigt, entstehen Streit und Uneinigkeiten“. Durch Hass werde schließlich die ganze Religion zu Boden geworfen und entstünden Menschen mit profanem und epikureischem Geist.13 Die Theologie bedürfe deshalb der Methode, welche die Wahrheit auf einem geordneten und richtigen Weg sucht und offenbart.14 In seiner Dialektik bestimmt Melanchthon Methode als „einen Habitus, nämlich Wissenschaft, oder Kunst, die in sicherer Weise einen Weg erschließt, d.h. die gewissermaßen durch unwegsame und von Dornensträuchern verdeckte Örter, durch die Unordnung der Dinge, einen Weg findet und eröffnet und die zur vorgelegten [Materie] gehörigen Dinge auffindet und geordnet darlegt“.15
Ihr formales Beweismittel ist ein „Syllogismus, in dem wir entweder aus von Natur aus bekannten Prinzipien oder aus der allgemeinen Erfahrung oder aus einer Definition vom Untergeordneten, aufgrund richtiger Folgerung, eine notwendige und unveränderliche Schlussfolgerung ziehen, das heißt wir zeigen entweder, dass aus naheliegenden Ursachen eigentümliche Wirkungen folgen oder wir gehen genau andersherum vor“. Diese beiden Verfahren werden mit den beiden Wegen der geometrischen Beweisführung, der Synthesis als dem beweisenden Verfahren von den Prinzipien zu den Konklusionen, und der Analysis als der Rückführung von den Konklusionen zu den Prinzipien identifiziert.16 In seiner Praefatio in Geome-
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sophische Haltung in den frühen Jahren seiner Begegnung mit der Wittenberger Reformation können hier im Einzelnen nicht erörtert werden. Stattdessen sei verwiesen auf die neueste Darstellung durch Günther Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560) (= Erfurter theologische Studien 67), Leipzig 1995, zum Philosophieverständnis bes. S. 50ff. Philipp Melanchthon: De philosophia oratio, in: Robert Stupperich (Hg.): Melanchthons Werke in Auswahl, Bd. III. Humanistische Schriften, Gütersloh 1961, S. 88–95. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90f.: „Primum enim omnino Ilias malorum est inerudita Theologia. Est enim confusanea doctrina , in qua magnae res non explicantur diserte, miscentur ea quae oportebat seiungi, rursus illa quae natura coniungi postulat, distrabuntur: saepe pugnantia dicuntur, vicina arripiuntur pro veris ac propriis [...] Nihil in ea cohaeret, non initia, non progressiones, non exitus cerni possunt. Talis doctrina non potest non gignere infinitos errores, infinitam dissipationem, quia in tanta confusione alius aliud intelligit, et dum suum quisque somnium defendit, existant certamina et dissensiones. Interim conscientiae relinquuntur ambigentes. Et quia nullae Erynnes vehementius cruciant animum, quam haec dubitatio de religione, tandem odio quodam abiicitur universa religio, et fiunt mentes prophanae et Epicureae“. Ebd., S. 91. Philipp Melanchthon: Erotemata Dialectices, in: CR XIII, S. 513–752, bes. 573: „Methodus est habitus, videlicet scientia, seu ars, viam faciens certa ratione, id est, quae quasi per loca invia el obsita sentibus, per rerum confusionern, viam invenit et aperit, ac res ad propositum pertinentes, eruit ac ordine promit”. Ebd., S. 652: „Demonstratio est Syllogismus, in quo aut ex principiis natura notis, aut universali experientia, aut ex definitione de subsumto, bona consequentia, necessariam et immotam conclusionem extruimus, aut ex causis proximis effectus proprios sequi ostendimus, aut econtra procedimus. Geometris usitata nomina sunt, et notissima, compositio Synthesis, quae a priore
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triam von 153617 wird der geometrische Beweis als Modell für wissenschaftliches Beweisverfahren überhaupt in Anspruch genommen: Ohne Kenntnis der Geometrie könne niemand die zwingende Kraft von Beweisen begreifen und ein Meister der wissenschaftlichen Methode („artifex methodi“)18 werden. Für seine Identifikation des syllogistischen Beweisverfahrens mit den Verfahren der euklidischen Geometrie beruft Melanchthon sich ausdrücklich auf das Vorbild des Aristoteles.19 Obgleich er nicht als reiner Aristoteliker in Anspruch genommen werden kann, sondern aus vielen Quellen schöpft,20 liegt der Vorzug der aristotelischen Lehre für ihn darin, dass sie ein klares Methodenverständnis besitzt.21 Sie bietet eine einfache Lehre, deren erstes Streben darauf geht, nichts ohne Beweis zu behaupten.22 Damit zeigt sie sogleich moralische Wirkungen, die für Kirche und Gemeinwesen vorteilhaft sind, da die Beweisführung zu Sorgfalt und Bescheidenheit erzieht beziehungsweise die Geister dazu disponiert, nicht zu streiten, sondern gemeinsam die Wahrheit zu suchen.23 Dieser Gedanke begegnet uns auch bei Erhard Weigel in seiner Auffassung vom friedfertigen Charakter der Mathesis24 und vom tugendbildenden Einfluss des Mathematikunterrichts als Gegenbild zur scholastischen Streitkultur. Melanchthon hat bekanntlich auch eine Rolle im Gründungsprozess der Universität Jena gespielt. Auch wenn es den ernestinischen Fürsten nicht gelang, ihn als Lehrer an die neugegründete Einrichtung zu holen,25 so wurde der Lehrbetrieb der ersten Jahre maßgeblich von seinen Schülern Victorinus Strigel und Johannes Stigel bestritten.26 Von melanchthonischem Einfluss zeugen beispielsweise auch
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procedit. Econtra resolutio seu Analysis, quae a posteriore ad principia regreditur”. Zum Ganzen Frank, Philosophie (wie Anm. 10), S. 171ff. (Geometrisch-mathematisches Methodenideal: Synthesis und Analysis). Johannes Voegelin: Elementa Geometriae ex Euclide singulari prudentia collecta [...] Cum praefatione Philippi Melanchthonis, Wittenberg 1536. Praefatio abgedruckt in: CR III, S. 107– 114. Ebd., S. 108: „Deinde cum demonstrationes Geometricae maxime sint illustres, nemo sine aliqua conitione huius artis satis perspicit, quae sit vis demonstrationum; nemo sine ea erit artifex methodi“. Melanchthon, Erotemata (wie Anm. 15), S. 652f. Über Melanchthons sog. Eklektizismus und seine Rezeptionsmotive Frank, Philosophie (Anm. 10), S. 15–30, 69f., 174. Melanchthon, philosophia (wie Anm. 11), S. 93. Ebd., S. 94: „Mihi ad mores etiam conducere videtur, eligere sectam, quae studium habeat non rixandi, sed inquirendae veritatis, [...] At haec simplex philosophia, de qua dico, primum hoc studium habet, ne quid affirmet sine demonstratione, ita facile effugiet absurdas opiniones, quia hae non habent demonstrationes, sed tantum praestigiis sophisticis defendentur”. Ebd. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Prooemium, §8. Über die Hintergründe sowie die dynastisch-territorialpolitischen Motive der Universitätsneugründung Joachim Bauer: Von der Gründung einer Hohen Schule in „elenden und betrübten Zeiten“, in: ders., Dagmar Blaha, Helmut G. Walther (Hg.): Dokumente zur Frühgeschichte der Universität Jena 1548–1558 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 3.1), Weimar u.a. 2003, S. 31–88. Über Victorinus Strigel und Johannes Stigel Max Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt, Jena 1932, S. 8–14; Ernst Koch: Art. Victorinus
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noch die Statuten der Philosophischen Fakultät von 1591, die Melanchthons Lehrbücher als Grundlage für die Vorlesungen in Dialektik, Rhetorik, Ethik und Physik vorschreiben.27 Es mag daher auch kein Zufall sein, dass Weigel seine Analysis Aristotelica zuerst 1658 – anlässlich der Jahrhundertfeier der Erhebung Jenas zur Volluniversität – erscheinen ließ und damit sein philosophisches Reformprogramm in die Tradition des reformatorischen und humanistischen Geistes der Gründerzeit dieser Universität stellte. Zum Verständnis dieser Schrift ist eine kurze Betrachtung der aristotelischen Wissenschaftstheorie und ihres Verhältnisses zur euklidischen Methode notwendig: Wissenschaft oder wissenschaftliches Verstehen ist nach Aristoteles, gemäß den Zweiten Analytiken, die Erkenntnis eines Sachverhaltes πρˆ αγμα aus seinen Ursachen, wodurch er notwendig so ist „und [...] sich nicht anders verhalten kann“.28 Erworben wird diese Erkenntnis durch einen Beweis, das heißt einen Schluss aus Prämissen, die nicht beliebig gewählt, sondern notwendig, „wahre, erste, unmittelbare, bekanntere, frühere und ursächliche sind in Bezug auf die Konklusion“.29 Diese Notwendigkeit der Beweisprämissen besagt, dass in ihnen ein allgemeines Prädikat von der Gattung des Subjektes in jedem Einzelfall (κατ` α παντ` ος), an sich (καθ ατ` ο) und allgemeingültig (καθ ο ´λου) ausgesagt wird. Zum an sich (καθ ατ` ο) Ausgesagten gehört zum einen das, was der Gattung des Subjektes „in seiner Washeit (ν τ τ´ι στιν) zukommt, z.B. dem Dreieck die Linie, und der Linie der Punkt [...] und [...] in der Definition enthalten“ ist, zum anderen die sogenannten Propria, das heißt Eigenschaften eines Subjektes, in deren Definition das Subjekt enthalten ist (z.B. gerade und ungerade als Eigenschaften der Zahl, deren Definitionen die Zahl enthalten).30 Das allgemeingültig (καθ ο ´λου) Ausgesagte besagt über die beiden vorangegangenen Arten der Notwendigkeit hinaus, dass die Eigenschaft dem Subjekt als erstem (πρ´ ωτου) zukommt, so dass es ihm nach Wegnahme seiner spezifischen Merkmale nicht mehr zukäme31 (Beispiel: Die Winkelsumme von 180° kommt jedem gleichschenkligen Dreieck (scalenum) allgemein (κατ` α παντ` ος) zu, aber als erstem allgemein ( πρ´ ωτου καθ ο ´λου) nur dem Dreieck als Dreieck.32 ). Zu einem Beweis gehören nach Aristoteles dreierlei: 1. die zu beweisende Konklusion, die das einer Gattung an sich Zukommende betrifft, 2. die Axiome, aus denen der Beweis geführt wird und 3. die zugrundeliegende Gattung, von welcher der Beweis die Eigenschaften und die ihr an sich zukommenden Bestimmungen erschließt.33 Außer den Axiomen, die in allen Wissenschaften gelten, werden im Beweis auch wissenschaftsspezifische Prinzipien vorausgesetzt, nämlich die Was-Bestimmtheiten (Definitionen) von Gat-
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Strigel, in: TRE 32 (2001), S. 252–255; Thomas K. Kuhn: Art. Johannes Stigel, in: BBKL (1995), S. 1463. Statuta ac Leges Collegij Philosophici Facultatis Artium Academiae Jenensis, UAJ, Bestand A, Nr. 17, Prima Lex de Materia et Ordine Lectionum, Bl.64r+v. Aristoteles: Zweite Analytiken, I.2 (71b9–12). Ebd., 71b21f. Übersetzung nach Seidl (wie Anm. 29). Ebd., I.4 (73a34–b3). Übersetzung nach Seidl (wie Anm. 29). Ebd., 73b26ff. Ebd., I.5 (74a35–b4). Ebd., I.7.
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tung des Subjektes und Eigenschaften und die Dass-Bestimmtheit (Existenzannahme, υπ´ οθ εσις) der Gattung des Subjektes.34 Damit der Beweis das einer Gattung an sich Zukommende erschließt, müssen die unbeweisbaren Prinzipien in derselben Gattung liegen wie das aus ihnen bewiesene.35 Das heißt, es ist nicht möglich, im Beweis von einer Gattung in eine andere überzugehen, außer wenn die eine der anderen untergeordnet ist wie etwa die der Optik der der Geometrie.36 Da die Einheit einer Wissenschaft somit in der Einheit und einen Wesenheit der Wissenschaftsgattung gründet, gibt es aus aristotelischer Sicht keine Universalwissenschaft, sondern so viele Wissenschaften wie oberste Gattungen. Als Musterbeispiel einer axiomatisch-deduktiven Wissenschaft im aristotelischen Verständnis galt im Aristotelismus bis zum beginnenden 16. Jahrhundert das methodische Vorgehen Euklids in den Elementen, wo im Ausgang von Definitionen, Postulaten und Axiomen Lehrsätze bewiesen oder Aufgaben gelöst werden.37 Dass die in den Zweiten Analytiken gelehrte Ars demonstrandi in der euklidischen Geometrie praktisch angewandt werde und im Studium dieser Schrift am besten einzuüben sei, war, wie oben dargestellt, auch die Auffassung von Philipp Melanchthon. Mit der Neuauflage (1533) und ersten lateinischen Übersetzung (1560) von Proklos' Euklidkommentar und dem dadurch intensivierten Studium der euklidischen Geometrie wurde dagegen „eine differenzierte Auffassung der verschiedenen Beweismethoden gefördert“, die auch die Eigenarten der euklidischen Methode und ihre Unterschiede zur aristotelischen Wissenschaftstheorie stärker in den Blickpunkt treten ließ.38 In der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstand eine heftige Kontroverse um die Möglichkeit der Gleichsetzung von aristotelischer Apodeixis und mos geometricus.39 Neben der Frage, inwieweit geometrische Beweise syllogistische Form besitzen oder in eine solche gebracht werden können, ging die Diskussion vor allem darum, ob geometrische Beweise demonstrationes propter quid seien, das heißt Beweise apriori aus den gattungsspezifischen principia propria (die in der Definition (Washeit) von Subjekt und propria gründen). Schon Proklos hatte sich in seinem Euklidkommentar mit dieser Frage kritisch auseinandergesetzt und sie zum Teil negativ beantwortet: etwa für den Winkelsummensatz, der mit Hilfe des Außenwinkels beweist, dass die Summe der Innenwinkel zwei rechten Winkeln gleich ist. Der Außenwinkel sei aber weder ein Bestandteil der Definition des Dreiecks noch derjenigen einer seiner wesentlichen Eigenschaften.40 Nach Proklos stellt also dieser Beweis, nach den Maßstäben der aristotelischen Wissenschaftstheorie betrachtet, den methodisch verbotenen Übergang in eine andere Gattung (μετ´ αβασις ες λλο
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Ebd., I.2 (72a14–24). Ebd., I.28. Ebd., I.7 (75b14ff.). Hermann Schüling: Die Geschichte der axiomatischen Methode im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert (= Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, hg. von Heinz Heimsoeth, Dieter Henrich, Giorgio Tonelli), Hildesheim u.a. 1969, S. 41. Schüling, Geschichte (wie Anm. 37), S. 55. Ebd., S. 41ff. Procli Diadochi in Primum Euclidis Elementorum Librum Commentarii, hg. von Gottfried Friedlein, Leipzig 1871, Hildesheim 1967, Prop. I, probl. I, S. 206f.
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γ´ενος) dar.41 Von Denkern des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts wurde darüber hinaus angeführt,42 dass die mathematischen Eigenschaften in ihren Gegenständen in keinem Prioritätsrang des Abhängig-Seins stünden, weil die Quantität nicht von aktiven Prinzipien herrühre. Deshalb könne derselbe Lehrsatz durch verschiedene Prämissen bewiesen werden, und mehrere Lehrsätze könnten sich gegenseitig als Elemente dienen, wie schon Proklos festgestellt hatte.43 Dagegen sei in der aristotelischen Beweislehre die wahre causa formalis als Medium des Beweises (einer Eigenschaft) immer nur eine (so Piccolomini und Benedictus Pererius),44 und könne die Reihenfolge von Ursache und Verursachtem nicht umgekehrt werden.45 Das, was die Beweise der Mathematik, auch aus der Sicht antiker und mittelalterlicher Autoren, auszeichnet, ist die vom Zweifel befreite Einsicht oder Erkenntnisevidenz.46 Dieser Erkenntnisgewissheit kam aber in einer vom Aristotelismus bestimmten Wissenschaftsordnung gegenüber der objektiven Gewissheit, der certitudo objecti, ein geringerer Rang zu. Denn wissenschaftliches Verstehen ist nach Aristoteles – wie oben dargestellt – das diskursive Erkennen des notwendigen So- und nicht anders-Seins eines objektiven Sachverhalts. In seiner Metaphysik unterscheidet Aristoteles drei Disziplinen, die sich mit dem Notwendigen und Unveränderlichen befassen: die Mathematik, die Physik und die erste Philosophie beziehungsweise Theologie. Im Unterschied zur Physik, deren Gegenstand das zwar Abgetrennte (Selbständige), aber nicht Unbewegte ist, sowie der Mathematik, deren Gegenstand zwar unbewegt, aber nicht von den Sinnesdingen abgetrennt ist (sondern nur als abgetrennt betrachtet wird), handelt die erste Philosophie vom sowohl Abgetrennten als auch Unbewegten.47 Die ontologische Dignität ihres Gegenstandes begründete dementsprechend auch die Vorrangstellung der ersten Philosophie beziehungsweise Theologie vor den mathematischen Disziplinen in der Rangordnung der Wissenschaften bis zur beginnenden Neuzeit. In der Philosophie des 17. Jahrhunderts setzte sich dagegen mit der zunehmenden Gewichtung erkenntnistheoretischer Fragen eine Aufwertung der Erkenntnisgewissheit durch, die die Rangordnung der Wissenschaften zugunsten der Mathematik veränderte. Bekanntestes Beispiel ist Descartes, der in seinen Regulae ad Directionem Ingenii für „den richtigen Weg zur Wahrheit“ fordert, mit „keinem Gegenstand“ umzugehen, „über den er nicht eine den arithmetischen oder geometrischen Beweisen gleiche Gewissheit gewinnen kann“.48 Auch für Descartes ist wie für Aristoteles die notwendige Gültigkeit wissenschaftlicher Sätze unverzichtbares Charakteristikum jeglicher Wissenschaft. Allerdings ist der Gegenstand der 41 42
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Vgl. Anm. 36. Hier seien im Folgenden aus der umfangreichen und von Schüling, Geschichte (wie Anm. 37), S. 43–56 dargestellten Diskussion über das Verhältnis des geometrischen Beweises zur aristotelischen demonstratio propter quid nur einige wesentliche Aspekte angeführt. Procli Diadochi [...] Commentarii (wie Anm. 40), Prologus II, S. 72f. Schüling, Geschichte (wie Anm. 37), S. 45, 47. Aristoteles: Zweite Analytiken, II.16 (98b4–24). Schüling, Geschichte (wie Anm. 37), S. 76f. Aristoteles: Metaphysik, VI.1 (1026a10–16). René Descartes: Regulae ad Directionem Ingenii, in: Charles Adam, Paul Tannery (Hg.): Oeuvres de Descartes, Vol. X, S. 366. Hier zitiert nach der Übersetzung von Heinrich Springmeyer, Hamburg 1993, S. 13.
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Wissenschaft für Descartes nicht die Substanz, sondern etwas Respektives: nämlich notwendige Verknüpfungen, die Gegenstände prinzipiell irrtumsfreier Deduktionen werden können. Hierdurch werden „alle Dinge in gewissen Reihen geordnet [...], nicht zwar sofern man sie auf irgendeine Gattung des Seins bezieht, so wie die Philosophen sie in ihre Kategorien eingeteilt haben, sondern sofern die einen aus den anderen erkannt werden können“.49
Paradigma für diesen funktionalen Wissenschaftsbegriff ist vor allem die analytische Methode der Algebra, in der eine unbekannte Größe durch ihre Beziehungen zu bekannten, gegebenen Größen – in Gleichungen – ausgedrückt wird.50 Descartes' Idee einer mathesis universalis erwuchs denn auch aus Studien zu arithmetischen und geometrischen Problemlösungsverfahren. Vor allem aus der geometrischen Analysis, das heißt dem Finden einer Konstruktion, indem von einem bereits als gelöst vorausgesetzten Problem rückschreitend notwendige und hinreichende Bedingungen der angenommenen Lösung gesucht werden, konkretisierte sich bei ihm die Idee eines einheitlichen wissenschaftlichen Verfahrens, mit dem gewisse und wahre Erkenntnisse über beliebige Gegenstandsbereiche gefunden werden können.51 Genau dieses Projekt einer universell applizierbaren Wissenschaftsmethodik nach dem Modell der geometrischen Analysis sieht der frühe Weigel bereits durch Aristoteles in seinen Analytiken verwirklicht.52 Seine Zielsetzung einer Restitution dieses wahren Aristoteles aus dem Geist der Mathematik führt bereits in der ersten Sektion der Analysis Aristotelica über Definition und Subjekt des Beweises zu einer charakteristischen Transformation aristotelischer Grundbegriffe. Unter dem Subjekt des Beweises (subjectum demonstrationis), dessen Notwendigkeit als Bedingung für wissenschaftliche Aussagen gefordert wird, hat Aristoteles nach Weigel nicht das Substratum, die zugrundeliegende Gattung des Subjektes gemeint, sondern die notwendige Subjekt-Eigenschaft-Verbindung, die durch den beweisenden Syllogismus aufgezeigt werden soll.53 Wie für Descartes sind für Weigels Aristoteles nur notwendige Verknüpfungen, die Gegenstände prinzipiell irrtumsfreier Deduktionen werden können, legitime Wissenschaftsgegenstände. Sie sind dies allerdings nicht primär in Beziehung auf den erkennenden Verstand, „sofern die einen [Dinge] aus den anderen erkannt werden können“, wie für Descartes, sondern – wie Weigel sagt – als „Ens reale complexum â parte rei sic se habens, etiam nullo intellectu de eo cogitante“.54 „Ich sage also Verbundenes Sein und aussprechbarer Sachverhalt, nicht sprachlicher Ausdruck, damit klar wird, daß nicht die Rede, durch die gesagt wird, daß dieses jenem zukommt, soweit sie Rede ist. d.h. nicht die Bejahung und Verneinung des beweisenden Verstandes, sondern das verbundene Verhältnis der Dinge selbst, die durch die Rede so aussprechbar sind, oder 49 50
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Ebd., Regel 6,1, S. 381 (Übersetzung Springmeyer (wie Anm. 48), S. 31). Peter Schulthess: Die philosophische Reflexion auf die Methode, in: Friedrich Ueberweg (Hg.): Grundriß der Geschichte der Philosophie, S. 94; Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 1.1, Basel 1998, S. 62–120. Descartes, Regulae (wie Anm. 48), S. 376ff. (Anhang zu Regel IV); ders.: Discours de la méthode, II.11, in: Adam, Tannery (wie Anm. 48), Vol. VI. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Prooemium, §§11f., 14. Ebd., Sect. I, cap. II, §2. Ebd., cap. I, §5.
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vielmehr die Dinge selbst, die in der Natur unter Absehung von jeglicher Operation des Geistes so verbunden sind [...] das eigentliche Beweissubjekt darstellen, das gewußt und dessen Gewißheit und Wahrheit unzweifelhaft erkannt wird“.55
Entsprechend fasst Weigel auch den beweisenden Syllogismus als Abbild einer realen Relation im erkannten Objekt auf, die als „syllogismus realis“ den Archetypus des deduktiven Zusammenhangs der Begriffe bildet.56 Gleiches gilt für die Axiomata, die nicht nur Erkenntnisgründe der von ihnen abhängigen Theoremata, sondern als von Gott statuierte causae complexae auch die Seinsgründe der subjecta demonstrationis darstellen57 und dem menschlichen Geist als der „übriggebliebene Funke des göttlichen Bildes“58 innewohnen. Hintergrund für diesen Innatismus, der eine Isomorphie von Denk- und Wirklichkeitsstruktur hinsichtlich notwendiger Verhältnisse und Proportionen behauptet, ist die platonisch-pythagoreische Vorstellung eines geometrisierenden Gottes, der die Welt nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen hat. Sie gipfelt in Weigels Spätschriften, insbesondere der Philosophia mathematica von 1693, in der Bestimmung jedes endlichen Seins als „geometrischer Spur eines Gedankens Gottes“59 und in der Auffassung der Geschöpflichkeit als bloßes Gedachtsein beziehungsweise als Geltung (valor) Kraft eines göttlichen Setzungsaktes (impositio).60 Sie zeigt sich aber auch schon in der Analysis Aristotelica von 1658 in der Tendenz zur geometrisierenden Umdeutung aristotelischer Grundbegriffe wie etwa des Formbegriffes. Weigel versteht die Form des Naturkörpers nicht mehr dynamischentelechial als Ursprung der Bewegung in den Körpern, sondern als Determination der Materie durch den unbewegten Beweger zu einer bestimmten Species,61 wobei diese durch ihre bestimmte Lage, Figur und Bewegung der Teile gekennzeichnet ist.62 Für diese Deutung beruft Weigel sich auf Metaphysik VIII.2 (1042b12–15), ohne jedoch deutlich zu machen, dass Aristoteles an der genannten Stelle die atomistische Position Demokrits referiert. Einer materialistischen Reduktion der Form auf die Lage, Anordnung und Bewegung kleinster Materieteilchen entgeht Weigel freilich dadurch, dass er die geometrisch-figural verstandene Form des Naturkörpers platonisierend als Ektypus der reinen geometrischen Form begreift und damit ontologisch im reinen Raum der Ausdehnung verankert.63 55
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Ebd., cap. II, §14: „Dico autem Ens complexum & effatum enunciativum, non enunciationem: ut intelligatur non tàm orationem, quâ hoc illi dicitur competere, quatenus est oratio, h.e. non tàm affirmationem aut negationem mentis demonstrantis, quàm rerum ipsarum oratione sic enunciabilium habitudinem complexam, vel potiùs ipsas res in naturâ praecisâ omni mentis operatione sic complexas [...] esse genuinum demonstrationis subjectum quod scitur, cujusve certitudo & veritas indubitatò cognoscitur“. Ebd., cap. I, §3; Sect. III, Membr. I, cap. II, §2; dazu Wolfgang Röd: Erhard Weigels Lehre von den entia moralia, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), S. 81. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. II, cap. IX, §6. Ebd., §5. Erhard Weigel: Philosophia Mathematica, Theologia Naturalis Solida, Jena 1693, Sect. I, Def. VI, Coroll. I. Ebd., Def. VI. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. 5, §8. Ebd., §1. Ebd., cap. IV, §7.
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Wissenschaftsgegenstand für Weigel sind also Beziehungen, die Gegenstand einer notwendigen Erkenntnis werden können, wobei aber diese Erkenntnis als Teilhabe an der Seinsnotwendigkeit des Erkannten begriffen wird. Diesen immer noch als aristotelisch verstandenen Wissenschaftsbegriff hält er – entgegen der überlieferten peripatetischen Unterscheidung theoretischer, praktischer und poëtischer Disziplinen64 – für universell applizierbar. „Wir mahnen, daß vor allem unterschieden werden muß zwischen dem Subjekt des Beweises, d.h. dem zu beweisenden Satz, welcher notwendig wahr, gewiß, notwendig und theoretisch ist, und dem Subjekt des zu beweisenden Satzes. Gleich ob dieses [letztere] seiner Natur nach kontingent oder gänzlich unmöglich ist, ob es gemäß dem gewöhnlichen Lauf der Natur notwendig existiert oder schlechthin nicht [anders als] nicht sein kann, ebenso, ob es theoretisch ist oder praktisch, sofern es nur eine Affektion hat, die von ihm, wenn es existiert oder als existierend gesetzt wird, notwendig abhängt und anderswoher unzweifelhaft erkennbar ist, ist es durchaus eines Beweises teilhaftig“.65
Sowohl in den empirischen Naturwissenschaften als auch im Bereich des Handelns und Hervorbringens muss unterschieden werden „zwischen der Ausübung einer Operatio oder dem Sein von einem kontingenten Etwas und, wenn diese als seiend gesetzt sind, beider notwendigem Attribut“.66 Dagegen hängt die Ausübung oder Nichtausübung der operatio vom freien Willen ab und ist keines notwendigen Aufweises fähig.67 Aus diesem Grund ist für Weigel auch auf dem Feld der praktischen Philosophie eine scientia möglich, deren Sätze Theoremcharakter besitzen, insofern sie vom konkreten Handlungsprozess in individuellen Situationen absehen: nämlich als Normwissenschaft, die die moralischen Qualitäten abstrakt betrachteter Handlungsweisen aus naturrechtlichen Grundsätzen beweist.68 Dagegen ist das richtige Handeln in der konkreten Einzelsituation nicht wissenschaftlich beweisbar, sondern Gegenstand der prudentia, die außer der Norm auch der Vielzahl variierender Umstände Rechnung zu tragen hat.69 64 65
66 67 68
69
Aristoteles: Nikomachische Ethik, VI (1139b20–24,1140a20f., 1140b4–6). Ebd., Sect. I, cap. IV, §17: „[...] imprimis distinguendum esse monemus inter subjectum demonstrationis, h.e. enunciationem demonstrandam, quam veram, certam, necessariam & theoreticam esse necessum est vel maximè; & inter subjectum propositionis demonstrandae, quod, sive suâ naturâ contingens sit, sive prorsus impossibile, sive secundum ordinarium naturae cursum necessariò existat, sive absolutè non possit non esse, sive item theoreticum sit sive practicum, modò habeat affectionem â se dum est, aut esse ponitur, necessariò dependentem, & aliundè indubitatò cognoscibilem, demonstrationis omninò particeps est“. Ebd., §18: „Distinguendum autem hîc est, inter operationis exercitium aut rei contingentis esse, & inter utriusque, si ponatur esse, necessarium attributum”. Ebd. Ebd., §3: „Theorematum etiam rationem habent pleraeque propositiones Ethicae demonstrativae [...] Licet enim actione possit exprimi, quod iis continetur, v.g. cum demonstratur, neminem posse validè contrahere cum aliquo de eadem re, de qua cum altero jam contraxit, nisi hic jure suo cedat, aut simile quippiam; quia tamen hoc effatum dum ad demonstrandum proponitur ab actionis exercitione praescindit, nec eidem certum praescribit modum, aut necessarium subjungit effectum, sed affectionem saltem (injustitiam) ei, si fiat, inesse dicit, Theorematis naturam adhuc tuetur“. Ebd., Sect. III, Membr. II, cap. 7, §10.
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Mehr noch als um den Wissenschaftscharakter der Moralphilosophie geht es Weigel hier aber um eine Aufwertung von Teilen der artes, vor allem der artes notionales, im Wissenschaftssystem seiner Zeit. Hierher gehören neben der Logik auch Disziplinen, die seiner Mathematikprofessur oblagen, wie beispielsweise die praktische Rechenkunst (logistica), die Algebra (analysis speciosa) und die Geodäsie. Vor allem richtet er sich in diesem Zusammenhang gegen Jacopo Zabarella. Nach Zabarella ist die Logik, da sie es mit Begriffen zweiter Ordnung (secundae notiones) zu tun hat, deren Hervorbringung von menschlicher Willkür abhängt, keine Wissenschaft im aristotelischen Verständnis (als notwendiger Erkenntnis des Immeroder Zumeistseienden).70 Diese Einschätzung hält Weigel allein schon durch die genannte Unterscheidung von Subjekt des Beweises und Subjekt des zu beweisenden Satzes für entkräftet.71 Zwar hält Weigel an der aristotelischen Bestimmung der Logik (sowie entsprechend auch der anderen oben genannten notionalischen Disziplinen) als geistig-werkzeughafte Haltungen (artes notionales bzw. Anchinoeae) fest.72 Gleichwohl werden einige von diesen Disziplinen den Wissenschaften angenähert, da sie nicht nur ihre Anwendungsregeln auf exakte Theoreme der zugrundeliegenden Wissenschaften stützen, sondern auch sogenannte Beweise (demonstrationes, distinctionis gratiâ dictas Artificiales) komplexer aus einfachen Regeln anwenden.73 Methodisches Instrument der Wissenschaft ist für den Aristoteliker Weigel nach wie vor der Syllogismus. Sectio III der Analysis Aristotelica über die Praxis des Beweises oder Methode beginnt denn auch mit der Praxis des einzelnen, beweisenden Syllogismus. Dagegen gehört die für Platon zentrale Methode der Dihairesis, die einen (Art-)Begriff durch Einordnung unter ihn umfassende und bestimmende Oberbegriffe sowie der Aus- und Abgrenzung gegen andere Artbegriffe definiert,74 für ihn nur zum Vorfeld der Wissenschaft. Ihr Nutzen liegt allein in der Ordnung und Gliederung, die jedem Erkenntnisobjekt in der Gesamtordnung des Wissbaren seinen systematischen Ort zuweist.75 Die durch Genus und differentia specifica bestimmte Definitio essentialis bestimmt daher die Essenz einer res nur titelhalber.76 70 71
72
73 74 75
76
Jacopo Zabarella: De Natura Logicae (Jacobi Zabarellae Opera Logica, hg. von Wilhelm Risse, Hildesheim 1966), I, c. III–V. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. I, cap. IV, §20: „Undè non audiendus est Zabarella, quando in Logica demonstrationes dari negat ex eo, quod Aristoteles subjectum in scientiis velit esse necessarium, subjectum autem Logices (quod est Syllogismus) sit res in se contingens & â nostro dependeat arbitrio. Aristoteli enim de subjecto demonstrationis, non verò de subjecto enunciationis demonstrativae sic absolutè secundum exercitium spectato sermo est, nec esse potuit“. Ebd., Sect. III, Membr. II, cap. IX, §4: „[...] Artes notionales & internae, h.e. Anchinoeae, sint habitus cum rectâ ratione (circa res & actus notionales) effectivi, quô remediô maximus ille Religionis philosophicae scrupulus circa Logicae genus ex Scholasticorum conscientiâ facilè ut opinor excuti potest“. Ebd., cap. XIII, §47. Vgl. Art. Diairesis, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie 2, Basel 1972, Sp. 242ff. Erhard Weigel: Universi Corporis Pansophici Caput Summum, hg. von Thomas Behme (Clavis Pansophiae, hg. von Charles Lohr und Wilhelm Schmidt-Biggemann, 3,1), Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, Pantognosia, Sect. I, c. IV, §3. Ders., Analysis (wie Anm. 2), Sect. II, cap. IV, §2.
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Weigel übt scharfe Kritik am logischen Formalismus der Scholastik, der sich im Zusammenhang mit der Disputationsmethode vor allem zur sophistischen Täuschung des Gegners eigne.77 Für einen wissenschaftlichen Beweis sei die Rückführbarkeit auf eine der syllogistischen Figuren nur von untergeordneter Bedeutung, sofern nur der notwendige Zusammenhang der Begriffe gegeben ist, der die natura formalis des subjectum demonstrationis ausmacht.78 Auch spiele es für die Gültigkeit des Syllogismus keine Rolle, ob er mit wenigen oder vielen Sätzen (beziehungsweise Mittelbegriffen) vollzogen wird, sofern nur alles bruchlos zusammenhängt.79 So wie eine mehrfache Proportion immer noch eine Proportion sei, so auch ein mehrfacher Syllogismus immer noch ein Syllogismus.80 Der wahre Beweis werde auch nach Aristoteles „ν τ ψυχ non in externo sermone vel in spatio“ vollzogen.81 Ein „Philosoph, der lehren und nicht täuschen will“, sollte der natürlichen Logik folgen und zur Vermeidung terminologischer Zweideutigkeiten sich der „expositio per literas & diagrammata“,82 das heißt einer kalkülmäßigen Darstellung bedienen. Bei der definitio expositiva oder diagrammatica, die Begriffe in eindeutiger Weise durch Buchstaben ersetzt, ist zunächst an das Verfahren der !κθ εσις aus Aristoteles' Ersten Analytiken gedacht, das heißt der technischen Exposition der Begriffe aus den Prämissen eines Syllogismus mit Hilfe von Buchstaben, um ihre syllogistische Rangordnung zu verdeutlichen.83 Im selben Kontext zitiert Weigel aber das zeitgenössische Beispiel der analysis speciosa, das heißt der mit Buchstaben operierenden Algebra,84 die später bei seinem Schüler Leibniz zum Ausgangspunkt für die Entwicklung einer kalkülmäßig aufgebauten mathematischen Logik werden sollte.85 Nach Weigel stehen also die modernen Bestrebungen zu einer Kalkülisierung der Logik nicht im Widerspruch zur ursprünglichen Intention des Aristoteles, wohl aber zum erstarrten Formalismus der Scholastik. Mittels einer kalkülmäßigen Reduktion lassen sich auch hochkomplexe, mehrgliedrige Beweise, in ein handliches Format bringen.86 Als Beispiel führt Weigel den Beweis des Winkelsummensatzes des Euklid scholastico more und über mehrere Seiten erstreckend vor, um ihn mit der algebraischen Darstellung des englischen Mathematikers Isaac Barrow, die nur wenige Zeilen umfasst, zu kontrastieren.87 Die Praxis des Mehrfachsyllogismus bzw. der demonstratio continuata leitet über zum methodus universalis als Praxis der zu einer Disziplin verbundenen Beweise. Den Terminus disciplina führt Weigel – ähnlich wie Descartes in den Regulae –88 auf eine Übersetzung des griechischen μ´ αθ ησις zurück. Dieses Wort habe ursprünglich 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88
Ebd., Sect. III, Membr. I, cap. II, §12. Ebd., §13. Ebd., §6. Ebd., §7. Ebd., §4. Ebd., §12. Ebd., Sect. II, cap. III, §3; Sect. III, Membr. I, cap. II, §11. Zur ˝εκθ εδις bei Aristoteles S. Heinrich Maier: Die Syllogistik des Aristoteles, Tübingen 1900, II. Teil, I. Hälfte, S. 310ff. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. II, cap. III, §3. Kuno Lorenz: Art. Kalkül, in: Ritter, Wörterbuch (wie Anm. 74, Bd. 4, 1976), Sp. 672ff. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. I, cap. II, §13. Ebd., cap. III, §§12f. Descartes, Regulae (wie Anm. 48), Regula IV, S. 377.
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jegliche Wissenschaft bezeichnet, wobei, der Bedeutung des Verbums μανθ α ´νειν als lernen, erfahren entsprechend, der Akzent auf dem Wissenserwerb gelegen habe: „Scientiae [...] non nisi sciscitando, recordando, addiscendo, quod graecis est μανθ α ´νειν, primum sunt inventae“.89 Erst später sei die Einengung des Terminus auf die quantitativen Wissenschaften erfolgt, die als die „ältesten und gewissesten“ die μαθ η´σεις καθ ξ οχ`ην seien.90 Dagegen sei disciplina bei den Lateinern, die die von den Griechen überlieferten Wissenschaften für vollendet hielten und more scholastico weiterverbreiteten, zum ediscere verkommen.91 Ziel des Weigelschen Programms ist es nun, die disciplina in ihrer ursprünglichen, antiken Gestalt, nämlich als eine innovative, auf Wissenserwerb durch Beweis gerichtete μ´ αθ ησις wiederherzustellen. Weigel definiert disciplina als „[. . . ] Scientia [...] complexa, h.e. ex pluribus effatorum sub eodem genere contentorum demonstrationibus conflata (eine verbundene Wissenschaft, d.h. [eine,] die aus mehreren Beweisen von Sätzen, die unter derselben Gattung enthalten sind, zusammengeschmolzen ist)“.92
Er versteht diese also euklidisch als einen more geometrico aufgebauten Nexus von Sätzen. Auch wenn die Einschränkung „sub eodem genere contentorum“ immer noch auf den aristotelischen Wissenschaftsbegriff verweist, so wird diese Einschränkung relativiert durch die Tatsache, dass für Weigel Gattungen sowie überhaupt Allgemeinbegriffe nur vom Verstand gebildete notionalische Konstrukte und Stellvertreter für Einzeldinge („Entia [...] vicaria & notionalia“) sind.93 Ebenso wie die abstrakten Species nützlichkeitshalber unter allgemeinere und allgemeinste Gattungsbegriffe subsumierbar sind, so lassen sich auch die auf diese Gattungen bezogenen Scientiae (complexae) unter allgemeinere und allgemeinste unterordnen.94 Für diesen Integrationsprozess bilden auch die zehn aristotelischen Kategorien keine unüberschreitbare Schranke: Mit ihnen habe Aristoteles nicht die Klassen der Gattungen von Wissenschaftsgegenständen, die sich allein in der ersten Kategorie (der Substanz) finden, bestimmen wollen.95 Den eigentlichen Beweisgegenstand (subjectum demonstrationis) bilden allerdings nicht die Wissenschaftsgegenstände und ihre Gattungen, sondern die notwendigen Beziehungen zwischen ihnen und ihren Affektionen, deren Einteilung nach dem sacrus denarius oder irgendeiner anderen Zahl für Weigel von nachrangiger Bedeutung ist.96 Für die (mögliche) Reduktion aller Disziplinen auf eine Universaldisziplin, die nach Aristoteles unter anderem an der kategorialen Verschiedenheit alles Seienden eine unübersteigbare Grenze findet,97 aber auch für die weiteren Unterteilungen der Einzeldisziplinen je nach Konvenienz, gibt es für Weigel keine prinzipielle Grenze: 89 90 91 92 93 94 95 96 97
Weigel, Analysis wie (Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. I, §2. Ebd. Ebd., §3. Ebd. Weigel, Universi (wie Anm. 75), Pantognosia, Sect. I, cap. VI, §1. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. I, §5. Ebd., §6. Ebd., cap. XIII, §26. Aristoteles: Metaphysik, I.9 (992b18–993a10).
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Thomas Behme „Was den Methodus integralis [der Wissenschaft] anbelangt, d.h. die Lage und Ordnung enthaltener Teile, so macht es keinen Unterschied, ob alle Beweise verbunden dargelegt werden, oder ob die Disziplin gleichsam in bestimmte Glieder geteilt wird, von denen jedem seine Prinzipien, derer es für sich bedarf, vorangeschickt werden [...] , sofern nur die Glieder der Reihe nach so abgehandelt werden, daß die allgemeineren früher kommen und die spezielleren, die häufig auf jene ersteren Bezug nehmen, später. Abgesehen davon, daß die ganze Philosophie (welche gleichsam als eine Disziplin einer gleichsam allgemeinsten Gattung definiert werden könnte, nämlich als Wissenschaft vom Sein, nicht als solchem, oder soweit es Sein ist (wie die Metaphysik), sondern geradezu unbeschränkt, gemäß allem, was es hat, [..]. , d.h. gemäß allen Arten, mittelbaren und unmittelbaren Affektionen, und was auch immer diesbezüglich vorgestellt werden kann)“.98
Für Weigel ist die ganze Philosophie, die er als „Zusammenfassung [aller] auf natürliche Vernunft gegründeten Wissenschaften“ („scientiarum naturali ratione constitutarum [...] comprehensio“)99 versteht, durch ein sehr enges Band verknüpft („arctissimo foedere copulatae sunt“), sodass die späteren ohne die früheren nicht verstanden werden können.100 Deren innerer Aufbau oder methodus integralis zeichnet sich durch eine vom Allgemeinen zum Besonderen beziehungsweise vom Noetischen zum Sinnlichen und Veränderlichen absteigende Ordnung aus. An oberster Stelle steht die Philosophia prima, deren Gegenstand, das Sein, in Was-Sein (forma, idea) und Etwas-Sein (τ` ο #καστον, unum) unterschieden wird. Entsprechend teilt sich die erste Philosophie in die „Scientia Entis ut Ens est“ oder Metaphysik und die „Scientia [...] Entium quatenus Numeri sunt“ oder Arithmetik. Beide Disziplinen, deren Gegenstandsbereiche deckungsgleich alles Seiende umfassen, stellen die gemeinsame Basis für alle übrigen Wissenschaften und deren Beweise dar.101 Die bereits hier grundgelegte Unterscheidung einer qualitativen und einer quantitativen Erkenntnis, die Weigel in späteren Schriften als cognitio denominativa und cognitio aestimativa gegenüberstellt,102 pflanzt sich in allen übrigen Disziplinen, besonders aber der Naturphilosophie, als Unterscheidung der „principia [...] radicalia“ von Form und Materie fort.103 Weigel unterscheidet sieben Hauptgruppen der Philosophia Prima, Mathematica und Naturalis, der Artes Physicae, der Philosophia Moralis und Sermocinalis sowie der Artes Notionales, die er in Anschluss an die Sprüche Salomo's (9) als die „sieben Säulen der Weisheit“ bezeichnet.104 Diese gliedern sich 98
99 100 101 102 103 104
Weigel, Analysis Aristotelica, Sect. III, Membr. II, cap. XIII, §27: „Quod Integralem concernit methodum, h.e. situm & ordinem partium integralium, nihil interest sive omnes demonstrationes conjunctim exhibeantur, sive disciplina in certa quasi membra dividatur, quorum cuilibet sua quibus seorsim indiget principia praemittantur, [...] modò membra seriatim ita tradantur, ut universaliora prius, & particuliora, quae saepius ad illa provocant, posterius consistant. Ita praeterquam quod tota Philosophia, (quae tanquam una unius veluti generis universalissimi disciplina definiri posset, quod sit Scientia ( scil. à potiori) Entis, non ut sic, vel quatenus Ens est, (ut Metaphysica) sed illimitatè prorsus, secundum omne quod habet, [...], h.e. secundùm omnes species, & affectiones mediatas immediatas, & quicquid de eo concipi potest, )“. Ebd., cap. II, §5. Ebd., cap. X, §7. Ebd., cap. III. So z.B. in der Pantognosia (wie Anm. 75), Ad Lectorem. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. 5, §5. Ebd., cap. X, §7; dazu Wilhelm Hestermeyer: Paedagogia Mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Paderborn 1969,
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in die Bereiche der Philosophia immobilium und Philosophia mobilium. Zur Philosophia immobilium gehört außer den Disziplinen Metaphysik und Arithmetik auch die Philosophia mathematica oder Geometrie,105 welche den Übergang von der Prima Philosophia zum Reich des Werdens beziehungsweise des sinnlich Wahrnehmbaren vermittelt.106 All diese Disziplinen bilden innerhalb der naturalis Disciplinarum ordo als Theologia naturalis die „[classis] posterior & ordinaria“, der als „[classis] prior velut Extraordinaria“ die Theologia supernaturalis vorangestellt ist. Ebenso wie in der Theologia naturalis alle Disziplinen „arctissimo foedere copulatae sunt, adeò ut posteriores absque prioribus apprehendi perfectè nequaquam possint“, so bilden auch in der Theologia supernaturalis alle Glaubensartikel einen axiomatisch aufgebauten Nexus, der auf den durch die Schrift verbürgten heilsnotwendigen Wahrheiten fußt.107 Weigel sieht also in seiner aristotelisch-euklidischen Methode nicht nur die Universalmethode der Philosophie, sondern auch die der theologischen Dogmatik. In seiner Gesamtheit zielt der ordo disciplinarum auf eine, Erkennen und Handeln einschließende perfectio mentis humanae und gründet in einer Hexiologie: Nach Weigel fußt jede Disziplin, sei sie theoretisch, praktisch oder werkzeughaft ausgerichtet, auf den Habitus der Intelligentia, der Prinzipienerkenntnis und der Scientia, des schlüssigen Beweisens aus den Prinzipien sowie als Ergänzung der Meinung (Opinio) des nur Wahrscheinlichen oder noch nicht Bewiesenen.108 Alle drei Habitus machen – rein disziplinär betrachtet – in der theoretischen Philosophie die Sapientia, in der Moralphilosophie die Prudentia und in der Philologie (Philosophia Sermocinalis) die Peritia aus. Werden sie im Hinblick auf praktische Wirksamkeit („usualiter & simul effectivè“) betrachtet, als „Intelligentia principiorum operabilium“ und darauf gestützter „Scientia & opinio mediorum & procedendi modorum“, spricht man von Artes, Virtutes und Anchinoeae.109 Beide Aspekte zusammengenommen machen die Facultas aus – „die umfassend ausgebildete und theoretisch fundierte Fähigkeit und Geschicklichkeit zu praktischer Wirksamkeit“ (Hestermeyer)110 – ein Habitus, der nach Weigel den nicht nur gelehrten, sondern im Leben stehenden eruditus kennzeichnet. Die ganze Hexiologie bringt Weigel in die folgende schematische Darstellung111 :
S. 210f. Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. X, §7. Ebd., cap. IV, §8. Ebd., cap. X, §7. Ebd., cap. XIII, §45f. Gegenstand der Opinio sind nach Weigel „effata respectu nostri nondum scientifica (h.e. quorum causae necessariae nobis nondum innotescunt, esto quod à parte rei jam determinata sint haec omnia)” (Ebd., §37). 109 Ebd., §45f. 110 Hestermeyer, Mathematica (wie Anm. 104), S. 225f. 111 Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. XIII, §46. 105 106 107 108
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Facultas wird von Weigel sowohl habituell als auch institutionell (im Sinne von Fakultät) verstanden, da der Ordo disciplinarum die Ordnung der menschlichen Seele spiegelt, die in der Analysis Aristotelica noch trichotomisch gegliedert ist. Wie der Habitus, so soll auch die Institution (der Fakultät) außer der Wissenschaft die Anwendungsseite in Gestalt der zugehörigen praktischen Künste mit einschließen: Der „Facultas [...] Vegetativa“ entspricht die medizinische Fakultät, die auch die artes physicae unter Leitung der ars architectonica enthalten soll. Sie dient der Gesundheit und Bequemlichkeit des menschlichen Leibes und fußt auf der Philosophia naturalis. Der „Facultas [...] Sensitiva & Animalis“ entspricht die juristische Fakultät, die außer der Jurisprudenz alle „praxes morales“ unter Einschluss von Rhetorik und Dichtung („Oratoria & Poesis“) umfasst und auf der Philosophia moralis fußt.112 Der „Facultas [...] Rationalis & Spiritualis“ entspricht die theologische Fakultät. Sie hat den Weg zum ewigen Heil auf der Grundlage der Heiligen Schrift und unter dem Beistand des Heiligen Geistes, aber im Habitus der Wissenschaft zu weisen (Weigel spricht von „praxis theosophica“).113 Diese dritte Fakultät wurzelt in der Philosophia notionalis, in erster Linie der Logik und der Philologie.114 Wie jede Fakultät zu ihrer Vollendung nicht nur ihren Zweig der Philosophie, sondern die ganze Philosophie mit der Philosophia immobilium als Fundament voraussetzt, so stellt die „rerum immobilium contemplatio habitualis“ die fundamentalste Schicht der Seele und Quelle aller (habituellen) Facultates dar. Nur der ihr Teilhaftige erlangt die acquiescentia und „Mentis perfectio“, die in der „Gegenwart des göttlichen Numens“ liegt.115 112 Ebd., cap. XI, §§2f. Rhetorik und Dichtung sind aus Weigels Sicht notionalische Künste, die der Willensbeeinflussung dienen (Anchinoeae intentionales) und daher der Moralphilosophie untergeordnet (Ebd., cap. IX, §§22f.). 113 Das Wort theosophus verwendet Weigel an anderer Stelle, um die Haltung des gelehrten Universitätstheologen im Unterschied zum Pastor zu charakterisieren, wobei allein die philosophia den Unterschied ausmache (Ebd., cap. X, §§3ff.) 114 Ebd., cap. XI, §§2f. 115 Ebd., §§4f.
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Dieser fundamentalen Bedeutung der Philosophia immobilium, das heißt der Metaphysik, Arithmetik und Geometrie, entspricht ihre Stellung im zeitgenössischen Ordo disciplinarum keineswegs, wie Weigel kritisch anmerkt. Nicht nur ist ihr institutioneller Ort, die Artistenfakultät, schlechter gestellt als die drei Hauptfakultäten, für die sie nur ein allgemeines Propädeutikum darstellt. Er beklagt auch, dass sich ihr Lehrplan in einer Schrumpfversion der sieben freien Künste erschöpft mit den zu bloßem Wortwissen verkommenen Disziplinen des Trivium und den zu kaufmännischer Rechen- und praktischer Feldmesskunst degenerierten des Quadrivium. Diese Disziplinen würden zu Unrecht mit dem Wort der Philosophie belegt, obgleich sie nur Frucht und triviales Werkzeug der wahren Philosophie seien.116 Besonders beklagt er in diesem Zusammenhang das Los der mathematischen Fächer: Im Unterschied zu anderen Fächern wie etwa der Politik würden diese nur von einer Professur wahrgenommen, der zugleich eine Vielzahl von Fächern aus benachbarten Disziplinen aufgebürdet worden sei wie etwa aus der Philosophia naturalis Phoronomie, Statik, Mechanik und Architektur, aus der Philosophia moralis Geographie, Chronologie und das Fortifikationswesen (Polemica).117 Weigel gibt einen tabellarischen Überblick der zur Professio Mathematum gehörigen Fächer, die sich über alle Zweige der Philosophie erstrecken.118 Ihr gemeinsames Merkmal ist kein gemeinsamer Gegenstandsbereich („commune Subjectum“), sondern ein gemeinsamer Aspekt der (vom jeweiligen Wissenschaftsgegenstand zu beweisenden) Affektionen, nämlich ihre aestimativitas oder quantitas.119 Dieser Aspekt kann nach Weigel von keinem Wissenschaftsgegenstand ausgeschlossen werden. Denn quantitas dürfe nicht mit extensio gleichgesetzt werden, wie dies die Scholastik aufgrund einer Fehlinterpretation der aristotelischen Kategorienschrift getan habe,120 sondern müsse abstrakt verstanden werden als das Maß oder der Grad jedweder Qualität: „Quantitas [...] universalissimè patet & nihil aliud est, quam modus & determinatio, seu valor & aestimatio, cujuscunque praedicati“.121 Dieser quantitative Aspekt ist zugleich die wissenschaftliche Erkenntnisebene καθ ξ οχ`ην, so dass die mit der Mathematikprofessur verbundenen Fächer diejenigen Erkenntnisse aus allen Zweigen der Philosophie vereinen, die allein die für eine μ´ αθ ησις Wissenschaft oder konstitutive Gewissheit des Beweises besitzen.122 116 117 118 119
Ebd., §5. Ebd., §§7ff. Ebd., §10. Ebd., §12: „Quod autem soli Geometrae tanta Scientiarum, Sapientiarum, Artium, Prudentiarum, Intelligentiarum, Opinionum turma incumbat, factum est, non propter commune Subjectum [...] sed [...] propter affectionum de subjecto demonstrandarum communem aliquam rationem & considerandi modum frequentiùs hîc occurrentem, aestimativitatem puta seu quantitatem, sub quâ plurima spectantur dum ad demonstrandum adducuntur effata mathematica“. 120 Ebd., §15. Die scholastische Philosophie vestand unter quantitas nicht die abstrakte, meßbare oder gemessene Größe, sondern allein die räumliche Ausdehnung (corporeitas) in der umfassenden Bedeutung von mathematischer Dimensionalität und physikalischer Raumerfüllung. Siehe Anneliese Maier: Das Problem der Quantität und der räumlichen Ausdehnung, in: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie, Rom 1955, S. 141–223. 121 Weigel, Corporis (wie Anm. 75), Pantognosia, Sect. II, c. III, §1. 122 Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. XI, §18.
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Aufgrund des universellen Zuschnittes seines Fächerkonglomerates könne der Mathematicus dessen Eigenart weder begreifen noch anderen begreiflich machen, ohne zugleich in Nachbardisziplinen überzugreifen, die denselben Wissenschaftsgegenstand unter nichtmathematischem Aspekt thematisieren: „Unde nemo non intelligit Mathematicum, nisi Metaphysici pariter & Physici Regni penetret consilia, [...] hoc est nisi universalissimam Entis ut sic, & specialem corporis naturalis Scientiam consulat, & inde Provinciarum suarum adscititiarum indolem velut ex nativâ sede sciscitetur, Mathematum naturam nec ipsum intelligere nec aliis explicare dextrè posse“.123
Dies betont Weigel gleichsam in Antizipation des später gegen ihn erhobenen Vorwurfes der Philosophischen Fakultät, er würde mit seinen Lehrveranstaltungen in die Kompetenzen benachbarter Professuren übergreifen. Während die überlieferte trichotomische Fakultätsordnung in der Analysis Aristotelica noch weitgehend unangetastet bleibt, mündet Weigels Kritik an der minderen Stellung der Artistenfakultät und der mathematischen Fächer in späteren Schriften in weitergehende Reformvorschläge ein, die eine grundlegende Umgestaltung der bestehenden Universitäts- und Fakultätsordnung fordern. Gemeinsames Kennzeichen dieser späteren Entwürfe, die sich unter anderem im Wasserschatz von 1671, der Arithmetischen Beschreibung der Moral-Weißheit von Personen und Sachen von 1674 und im Conspectus sapientiae universae von 1695 finden, ist die Aufwertung der Artistenfakultät, die zum einen allgemeines Propädeutikum für alle Studenten bleibt, zum anderen mit den Disziplinen des aufgewerteten Quadriviums zu einer Art mathematischen Fakultät als vierter Hauptfakultät aufrücken soll. Deren Hauptaufgabe wird die Vermittlung der General-Weltweisheit oder Philosophie, deren Grundlagen in der Philosophia immobilium, und damit für Weigel vor allem in der Arithmetik und Geometrie zu suchen sind.124 Dieses Anliegen einer mathematisch und nationalsprachlich ausgerichteten Bildungsreform artikuliert sich auch im Schlusskapitel der Analysis Aristotelica über die Methode des Unterrichtens. Diese unterscheidet sich nach Weigel im Wesentlichen nicht von der richtigen wissenschaftlichen Praxis und soll die Lehrgegenstände in der Muttersprache sowie „in der [logischen] Reihenfolge“ behandeln, „in der“ sie „von Natur aus aufeinander folgen“: „Certum autem est, si quis ejus aetatis fuerit, ut naturali judicio, per conversationem civilem excitato potiùs quàm corrupto, perfectè possit uti, eum totam Philosophiam, linguâ familiari sic methodicè traditam, sub fideli manuductione Praeceptoris eadem serie felicissimè apprehendi posse, qua Naturae ductu Disciplinae se mutuò insequuntur“.125
Er beklagt das Vorherrschen der lateinischen philologisch-rhetorischen Bildung im deutschen Erziehungswesen, welche alle Kraft der Jugend über das zwanzigste Lebensjahr hinaus in Anspruch nehme, und fordert eine Rückkehr zu den Alten, die ihre Weisheit auch ohne derartige „progymnasmata“ erlangt hätten.126 123 Ebd., §17. 124 Hestermeyer, Mathematica (wie Anm. 104), S. 231ff.; Erhard Weigel: Arithmetische Beschreibung der Moral-Weißheit von Personen und Sachen, hg. von Thomas Behme (Clavis (wie Anm. 75), 3,2.). Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, Kap. IV, §§4ff. 125 Weigel, Analysis (wie Anm. 2), Sect. III, Membr. II, cap. XIV, §2. 126 Ebd., §§3f.
Stefan Kratochwil DER BEGRIFF MATHESIS BEI ERHARD WEIGEL Wenn man sich im Fall von Erhard Weigel die Frage stellt, ob es in seinem Werk leitende Begriffe gibt, dann muss man zunächst festellen, dass Weigel seine Werke teils in Lateinisch, teils in Deutsch verfasst und somit zwei verschiedensprachige Terminologien entwickelt hat. Da es wohl für ihn kein Kriterium gibt, wonach die eine Art von Problemen von ihm in Latein und die andere Art in Deutsch abgehandelt wird, ist Weigel somit auch interessant für solche Forscher, die die Herausbildung der deutschsprachigen Fachterminologie untersuchen. Doch zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage nach den für Weigels Werk leitenden Begriffen. Für einen Mathematikprofessor ist es nicht weiter verwunderlich, dass in seinen deutschsprachigen Werken die Worte Mathematik, mathematisch und so weiter oft verwendet werden. Vergleicht man damit die lateinischen Werke von Weigel, die sich mit einem ähnlichen Thema befassen, dann kann man feststellen, dass in diesem Kontext häufiger das Wort Mathesis von ihm gebraucht wird. Wären hier nicht eher mathematica oder scientia/disciplina mathematica zu erwarten gewesen – Wörter, die in der zeitgenössischen mathematischen Fachliteratur durchaus gebräuchlich waren? Ist Mathesis vielleicht dasselbe wie Mathematica? Mit dem Stellen dieser Frage, kommt man in Erklärungszwang. Denn wird sie bejaht, muss man erklären, warum dann zwei Begriffe für ein und denselben Sachverhalt verwendet werden. Und wird die Frage verneint, dann hat man den Bedeutungsunterschied deutlich zu benennen. Um dies zu entscheiden, soll zunächst untersucht werden, in welchen Bedeutungen der Begriff der Mathesis von der Antike bis ins 17. Jahrhundert hin gebraucht wurde. Daran anschließend wird erörtert, wie Weigel ihn verwendete und ob er begriffsgeschichtlich eigene Akzente gesetzt hat. Abschließend wird ein kurzer Ausblick in die Zeit nach Weigel gegeben.1
DIE VERWENDUNG DES BEGRIFFS DER MATHESIS BEI ANTIKEN AUTOREN Das altgriechische Substantiv μ´ ατησις stammt von dem Verb μαντ´ ανφ ab, das soviel wie lernen, erfahren oder forschen meint. Mathesis bedeutet demzufolge – wie man sich anhand eines einschlägigen Wörterbuchs klarmachen kann – soviel wie Lernen, Erlernen, Erkennen, Erkenntnis, Unterweisung beziehungsweise Unterricht. In dieser Bedeutung wird es gebraucht in Wendungen, wie beispielsweise σοι μ´ ατησις ον π´ αρα (du willst nicht lernen beziehungsweise du nimmst keine guten Lehren an) oder 1
In diesem Aufsatz können nur einige Aspekte der Begriffsgeschichte von Mathesis erörtert werden – diese vor allem fokussiert auf Weigel. Eine ausführliche Geschichte dieses Begriffs, die auch das hier ausgesparte Mittelalter mit berücksichtigt, bleibt Aufgabe einer weiteren Untersuchung.
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Stefan Kratochwil
auch μ´ ατησιν ποε´ισται περ´ι τινος (Notiz nehmen von etwas beziehungsweise sich Kenntnisse erwerben). Ein weiteres vom Verb ματητανφ abstammendes Substantiv ist ματεμα (das Gelernte oder die Lehre bzw. die Kenntnis, die Wissenschaft, die Kunde). Dieses Substantiv nun wird im Plural (ματ˜ηματα) zur Bezeichnung der Mathematik verwendet, nicht Mathesis. Frühe Belege für die Verwendung von Mathesis finden sich beispielsweise bei Hippokrates und Heraklit.2 Auch bei Platon gibt es mehrere Belegstellen für die Verwendung dieses Begriffs.3 So erörtert er beispielsweise im Dialog mit Protagoras die Frage, was bei der Handlung des Lesens als eine gute Praxis zu gelten habe. Was befähigt einen Menschen besonders bei einer solchen Handlung? Offenbar ist er zu einer solchen Handlung in der Lage, wenn er sie gut erlernt hat. Ebenfalls steht die Frage, wie die besondere Befähigung eines Arztes zu erlangen sei. Dies geschehe, so Platon, ebenfalls durch ein Erlernen. In beiden Fällen wird das im Originaltext verwendete ματησις mit Erlernen übersetzt. Ebenfalls im Protagoras findet sich eine Stelle, in der Platon über die Lernbarkeit der Tugend seine Meinung darstellt. Die Verschiedenheit der Meinungen zu diesem Thema werden auf die Verschiedenheit der Erwerbung, auf den Unterricht zurückgeführt.4 Aristoteles – um einen weiteren für Weigel wichtigen Referenzautor anzuführen – verwendet Mathesis5 oft in relativ praktischen Zusammenhängen. Dies soll an zwei Stellen der Metaphysik erläutert werden. So erörtert Aristoteles im ersten Buch, wie man zu einer Erkenntnis der Elemente (Prinzipien) des Seienden gelangen kann und führt den Gedankengang in eine Aporie. Da der Gedankengang deshalb stockt, sucht Aristoteles einen Ausweg in einer eher methodischen Überlegung. Er verlässt deshalb den ursprünglichen Gedankengang und beginnt über das richtige Denken zu reflektieren. Er schreibt: „Nun geschieht aber doch jede Erlernung (ματησις) durch ein vorhergehendes Wissen aller oder einiger Stücke, sowohl die Erlernung durch Beweis wie die durch Definition.“6 Nachdem sich Aristoteles also im unsicheren Gelände subtiler Gedankengänge scheinbar hoffnungslos verirrt hat, sucht er Orientierung, indem er sich auf das sichere Gebiet des Wissens um die Praxis des Lernens begibt. In diesem Kontext verwendet er also Mathesis. Ganz ähnlich ist es an einer Stelle in Buch 7, Kap. 3 der Metaphysik. Dort erörtert Aristoteles die vier Hauptbedeutungen des Begriffs Wesen. Wieder führt er einen Gedankengang in scheinbar unlösbare Schwierigkeiten, die er zunächst beiseiteschiebt, um durch eine Nebenbemerkung wieder sicheres Terrain zu gewinnen. Es heißt an dieser Stelle: „Das Lernen geht nämlich bei allen so vor sich, dass sie durch das seiner Natur nach weniger Erkenn-
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Aniello Montano: „Mathesis” e „noos” in Eraclito, in: Atti del Symposion Heracliteum 1981, a cura di L. Rosetti, vol. 1, Roma 1983, S. 129–138. Fridericus Astius: Lexicon Platonicum sive Vocum Platonicarum Index, Vol. II., Lipsiae 1836, S. 267f. Platon: Protagoras, 324a. Aristotelis Opera ex recensione Immanuelis Bekkeri, Volumen quintum: Index Aristotelicus ed. Hermannus Bonitz, Berolini MCMLXI, S. 441; François de Gandt: La “Mathesis” d’Aristote. Introduction aux ,Analytique Seconds’, in: Revue des Sciences Philosophiques et Theologiques 59 (1975), S. 564–600. Aristoteles: Metaphysik I, 992b 30.
Der Begriff Mathesis bei Erhard Weigel
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bare zu dem mehr Erkennbaren fortschreiten.“7 In ganz ähnlichem Sinn findet man Mathesis auch in der Physikvorlesung. Aristoteles gebraucht den Begriff also eher in einem methodischen, vielleicht sogar pädagogischen Sinne in der Bedeutung von Lernen beziehungsweise Wissenserwerb, wobei von ihm nicht unterschieden wird, ob ein folgernder oder ein benennender Wissenserwerb gemeint ist. Festzuhalten ist, dass bei Aristoteles Mathesis in Zusammenhängen verwendet wird, in denen nicht speziell von mathematischer Erkenntnis die Rede ist. Und umgekehrt gilt auch, dass da, wo er über die Mathematik spricht, nicht der Begriff der Mathesis gebraucht wird. Da aber später die beiden Begriffe der Mathesis und der Mathematik durchaus in einem engen Zusammenhang gebracht wurden, stellt sich die Frage, wann dieser Bedeutungswandel vonstattengegangen ist. Vermutlich ist dies mit der Übernahme von Mathesis in die lateinische Sprache passiert. Deshalb nun einige Anmerkungen zum Gebrauch dieses Wortes in der römischen Fachliteratur. Mathesis wird in der antiken lateinischen Literatur in zwei Bedeutungen gebraucht: 1. im Sinne von wissenschaftliche Disziplin, insofern sie sich der Zahlen bedient und 2. im Sinne von Astrologie. In der ersten Bedeutung wird der Begriff unter anderem von Prudentius und Cassiodor, also im 4. bis 6. nachchristlichen Jahrhundert verwendet. Besonders wichtig für die Geschichte des Begriffs Mathesis wird seine Verwendung im Werk von Firmicus Maternus, der etwa in der Mitte des 4. nachchristlichen Jahrhunderts lebte. Er verfasste ein Werk mit dem Titel Matheseos libri octo, das eine Einführung in die astrologischen Vorstellungen der damaligen Zeit beinhaltet. Es ist neben den Werken von Ptolemaios und Manilius zur Astronomie „das umfangreichste Handbuch der Astrologie, das wir aus dem Altertum haben.“8 Gegliedert ist es in acht Bücher, von denen im ersten vom Autor dargestellt wird, worin er die Berechtigung der Astrologie sieht. Die folgenden sieben Bücher sind nach der Ordnung und Zahl der Planeten angeordnet, das heißt Buch 2 zur Sonne, Buch 3 zum Mond und so weiter. Im einleitenden ersten Buch wird Mathesis zum ersten Mal in der Bedeutung von Astrologie verwendet. Die Ursachen für den Bedeutungswandel im Vergleich zur Bedeutung im Griechischen ist meines Erachtens bisher noch nicht untersucht worden, so dass hier nur Vermutungen geäußert werden können. Naheliegend wäre eine Verwechslung von Mathemata und Mathesis durch römische Autoren, die des Griechischen nicht mächtig waren. Doch dies ist nur eine Hypothese und bedarf der weiteren philologischen Untersuchung.
DER BEGRIFF DER MATHESIS IN DER FRÜHEN NEUZEIT Als mathesis universalis wird 1597 von Adrianus Romanus eine noch zu entwickelnde mathematische Grundwissenschaft bezeichnet. Der Herborner chiliastische Universalgelehrte Johann Heinrich Alsted verwendet in seiner Methodus admirandorum mathematicorum die Formulierung mathesis generalis für 7 8
Aristoteles: Metaphysik VII, 1029b 3. Franz Boll: Firmicus, in: Georg Wissowa (Hg.): Paulys Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, Zwölfter Halbband Euxantios bis Fornaces, Stuttgart, Weimar 1909, Sp. 2867.
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Stefan Kratochwil „eine Wissenschaft über Quantität im allgemeinen mit zwei Teilen, von welchen die ‚archelogia’ die principia essendi und die principia cognoscendi der Quantität untersucht, während die ‚pathologia’ die Affektionen der Quantität behandelt.“9
Rene Descartes verwendet in seinen Regulae ad directionem ingenii „den ausdruck M.[athesis] u.[niversalis] als Bezeichnung für die als Ideal aufgestellt allgemeine Mathematik, die sich auf die Ordnung und auf das Maß bezieht, unabhängig von der besonderen Materie, auf welche diese angewendet werden wie etwa Zahlen, Figuren, Sterne und Töne.“10
Doch nicht nur zur Formulierung von mathematischen, utopischen Projekten wird das Wort Mathesis verwendet, sondern auch in einem eher handgreiflich-praktischen Sinne. 1643 wird in Erfurt eine von Gerhard Maier verfasste und Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar gewidmete Mathesis militaris sive brevis ac methodica calculandi mensurandi fortificandi et castrametandi ratio (Militärische Mathesis oder kurze und wissenschaftliche Methode des Berechnens, Messens, Festungsbauens und Lagervermessens) herausgegeben. Bei dieser Schrift handelt es sich um eine elementare Einführung in die Kunst der Fortifikation, der einige Kapitel zur Elementarmathematik vorangeschickt worden sind. Letztlich läuft das Werk hinaus auf die Darstellung elementarmathematischen Wissens, insofern es bei militärischen Angelegenheiten Anwendung finden kann. Wenn man die zeitgenössischen philosophischen Nachschlagewerke zu Rate zieht, wird man nur selten fündig. Weder bei Goclenius11 noch bei Chauvin12 findet man einen Eintrag zu diesem Begriff. Anders bei Johann Micraelius,13 einem Philosophieprofessor an der Universität Stettin und Verfasser eines Lexicon philosophicum, in dem der Begriff der Mathesis von ihm sehr differenziert dargestellt wird. So unterscheidet Micraelius zwei Aspekte dieses Begriffs, je nachdem, ob man ihn generaliter (im Allgemeinen) oder specialiter (im Besonderen) betrachtet. Im allgemeinen Sinne aufgefasst steht Mathesis für jede Disziplin bzw. Kunst; im speziellen Sinne für die mathematischen Wissenschaften, die sich mit Beweisen, Prinzipien und Eigenschaften der Größen und Zahlen beschäftigt.14 1679 schließlich veröffentlich Samuel Reyher, Professor der Rechte und der Mathematik an der Universität Kiel, seine Mathesis mosaica, sive Loca Pentateuchi 9 10 11 12 13
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Railli Kauppi: Mathesis universalis, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5: L–Mn, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 938. Ebd.; Jürgen Mittelstrass: Die Idee einer Mathesis universalis bei Descartes, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 4 (1978), S. 177–192. Rodolphus Goclenius: Lexicon philosophicum quo tanquam clave philosophiae fores aperiuntur (Francofurti MDCXIII), Hildesheim, New York 1980. Stephanus Chauvin: Lexicon rationale sive Thesaurus philosophicus ordine alphabetico digestus, Rotterodami MDCXCII. Joh. Micraelii Lexicon philosophicum terminorum philosophis usitatorum ordine alphabetico sic digestorum, ut inde facile liceat cognosse, praesertim si tam latinus, quam graecus index praemissus non negligatur, quid in singulis disciplinis quomodo sit distinguendum et definiendum, Jenae [...] anno MDCLIII. „Mathesis generaliter sumitur, pro omni disciplina seu arte, adeoque ponitur inter tria principia, quae sunt φυσις ματησις ασκησις. Mathesis autem specialiter dicitur scientia mathematica, que explicat demonstrationes, principia & proprietates magnitudinum & numerorum.“ A.a.O., Sp. 625.
Der Begriff Mathesis bei Erhard Weigel
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Mathematica mathematice explicata. In dieser Schrift versucht Reyher mathematische Strukturen in dem zu sehen, wovon einige Bücher des Alten Testamentes handeln. Es ist eine seltsame und meines Erachtens wenig untersuchte Traditionslinie der Literatur, die mathematische Methoden einsetzen, um religiöse Texte verständlich zu machen. Zu dieser Art von Texten gehören ebenfalls die beiden gleich betitelten Schriften De usu matheseos in theologia von Georg Albrecht Hamberger, dem Nachfolger von Weigel als Mathematikprofessor an der Universität Jena, und von Johann Jakob Scheuchzer. Einen prominenten Vorläufer haben die Autoren dieser Texte in Galileo Galilei, der 1588 eine Vorlesung vor der Florentinischen Akademie über die Gestalt, Lage und Größe der in Dantes Göttlicher Komödie beschriebenen Hölle gehalten hat.15
DIE VERWENDUNG DES BEGRIFFS DER MATHESIS BEI WEIGEL Gelegentlich gebraucht Weigel die Redewendung „Mathesis non est de pane lucrando.“16 (Mit der Mathesis lässt sich kein Brot verdienen.) Hier ist Mathesis wohl die Bezeichnung für einen Beruf, gemeint ist damit bestimmt der Mathematiklehrer, der Weigel als professor matheseos ja auch war. Doch wichtiger sind die Äußerungen Weigels in seinen Schriften. So wird schon in seiner 1658 erschienenen wissenschaftstheoretischen Programmschrift Analysis Aristotelica ex Euclide restituta dieser Begriff verwendet. In der sectio tertia gibt Weigel eine Unterteilung der Mathesis in mathesis pura (reine Mathesis) und mathesis mixta (zusammengesetzte Mathesis) an und ordnet beiden Teilen eine Reihe von Disziplinen zu. Die mathesis pura umfasst zum einen die membra primae philosophiae, das heißt die Weisheit der Relata und Correlata, sowie die Arithmetik, desweiteren aber die vera mathesis, das heißt die Geometrie mit ihren Teildisziplinen. Die mathesis mixta hingegen umfasst 1. die Naturphilosophie (Bewegungslehre, Statik, Mechanik, Optik, Musik, Cosmik, Architektonik) und 2. die Moralphilosophie (Geographie, Chronologie, Polemica). Desweiteren gibt es noch einen dritten Bereich, die Accessoria (Anhänge), in denen beispielsweise die Astrologie, die Handlesekunst und die Kunst der Geheimschrift (Steganographia) untergebracht sind.17 Schon aus dieser Gliederung wird ersichtlich, dass Weigel Mathesis als einen disziplinenübergreifenden Ordnungsbegriff ansieht, 15
Erste Lektion vor der Florentinischen Akademie über die Gestalt, Lage und Größe von Dantes „Hölle“, in: Galileo Galilei: Schriften, Briefe, Dokumente, hg. von Anna Mudry, Band 1 Schriften, Berlin 1987, S. 50–67; vgl. dazu auch die Erörterung bei Durs Grünbein: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995, Frankfurt a.M. 1996, bes. S. 89– 104. 16 So etwa in: Kurtzer Bericht von der Mathematika, ediert in: Philosophia mathematica. Die Philosophie im Werk von Erhard Weigel, hg. von Stefan Kratochwil, Jena 2005, S. 123–137, Zitat auf S. 127. 17 Erhard Weigel: Werke III: Analysis Aristotelica ex Euclide restituta, hg. von Thomas Behme, Stuttgart-Bad Canstatt 2008, S. 181–186; vgl. auch die Übersicht bei Wilhelm Hestermeyer: Paedagogia mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Paderborn 1969, S. 217.
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der sowohl mathematische wie auch nichtmathematische Disziplinen umfasst. Doch welche Disziplinen er auswählt und welche er ausschließt, ist interessant. „Als Mathesis möchte Weigel [. . . ] nur den Bereich des ernsthaften Wissens verstehen. Disziplinen, die überhaupt nur mit Vermutungen und Einbildungen oder mit reiner Spekulation zu tun haben, schließt er aus.“18
In den 1671 erschienenen Theses philosophico-mathematicas, die Weigel mit seinem Schüler Christian Andreas Vinhold verfasst hat, finden sich eine ganze Reihe von Aussagen, die den Begriff der Mathesis näher zu bestimmen versuchen. Insbesondere der zweite Teil mit der Überschrift De matheseos natura ist ganz diesem Begriff gewidmet. Besonders zum Zusammenhang von Mathesis und Philosophie wird sich in mehreren Thesen geäußert. So beispielsweise in These 5: „Wenn die Mathesis einen Teil der Philosophie darstellt, wird die Philosophie überall den Titel einer Wissenschaft der göttlichen und menschlichen Dinge bewahren.“19 Da jedoch keine Definition des Begriffs vorangestellt wird, bleiben mehrere Thesen doch eher im vagen. In seiner Schrift Von der Vortrefflichkeit und Nutzbarkeit der mathematischen Philosophiae gegen der scholastischen und cartesianischen, die im gleichen Jahr wie die Philosophia mathematica erschienen ist und als historische Ergänzung dazu gelesen werden kann, stellt Weigel die Geschichte der Philosophie als Verfallsgeschichte dar. Der eigentliche Sündenfall des Denkens ist die Abkehr vom rechnenden Denken, das bei den alten Philosophen, wie Pythagoras und Anaxagoras noch geübt wurde. Insbesondere Aristoteles, Platonis exotericus discipulus, ist hier zu tadeln, der durch die Beschränkung auf rhetorische und dialektische Diskurse das eigentliche, das heißt rechnende Denken vernachlässigt hat – mit verheerenden Folgen. Denn ursprünglich war mathesis und philosophia eins, das heißt das richtige = rechnende Denken. Aristoteles hat das Denken auf das bloße Syllogisieren reduziert, dies ist eine unzulässige Verkürzung. Mathesis erscheint in dieser Schrift als die rechte Art des Denkens, die, wenn sie auf die allgemeinsten Gegenstände angewendet wird, sogar identisch mit der Philosophie werden kann. In der 1693 erschienenen Philosophia mathematica theologia naturalis solida beginnt Weigel mit einer Definition und bestimmt: „Mathesis ist die mächtige Wissenschaft von der Quantität der endlichen Dinge, der Kunst des Rechnens und der Klugheit, diese zum rechten Gebrauch anzuwenden.“20 Mit dieser Definition greift Weigel auf die aristotelische Habituslehre zurück, wie durch den Gebrauch der Begriffe scientia (Wissenschaft), ars (Kunst) und prudentia (Klugheit) deutlich wird. Die von Aristoteles gebrauchten Begriffe dienten ursprünglich zur Unterscheidung verschiedener theoretischer wie praktischer Verhaltensweisen des Menschen bezüglich betrachteter wie auch behandelter Dinge. Für Weigel schließen sich diese 18 19
20
Hestermeyer, Paedagogia (wie Anm. 17), S. 216. „5. Si Mathesis Philosophiae partem facit, Philosophia titulum Scientiae divinarum & humanarum ubique tuebitur.“ Erhard Weigel, Christ Andreas Vinhold: Theses philosophico-mathematicae, Jena 1671, n.p. “Mathesis est Scientia de Quantitate rerum finitarum, Arte computandi, & Prudentia eam [. . . ] ad usum dextre applicandi pollens.” Erhard Weigel: Philosophia mathematica theologia naturalis solida, Jena 1693, Prodromus S. 1.
Der Begriff Mathesis bei Erhard Weigel
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Verhaltensweisen nicht mehr aus. Angewandt auf die Mathesis muss er konstatieren, dass diese verschiedene Aspekte aufweist, die nicht unter einen der aristotelischen habitus allein zu subsumieren sind. Besonders prägnant wird dieses umfassende Verständnis von Mathesis in einer der letzten Schriften von Weigel formuliert, der Quartalischen Vorbereitung am Ende des mit dem 1699sten Jahr ablauffenden Siebenzenden Seculi. Auch hier beginnt Weigel mit einer Begriffsbestimmung und definiert einleitend: „Mathesis (ματηεσις) lateinisch Mathematica, zu teutsch die Mathematiq (gallice la Mathematique) von dem Lernen oder Lehren so genannt wird ohne allen Streit und Zweifel überall gar recht beschrieben dass sie sey Doctrina Quantitatis, teutsch die Lehre von Maaß und Weiß: das ist nicht eine blose Theorie die Sachen nur mit Nahmen obenhin zu nennen und mit Unterscheid an fühlbahren Beschaffenheiten sie zu kennen [. . . ] sondern Mathematica ist eine Wissenschafft und ursachmäßige Betrachtung Maas und Weiß in endschaftlichen Sachen das ist bey den Creaturen aus Ursachen richtig zu erkennen“21
Auch hier packt Weigel sein umfassendes Verständnis von Mathematik in die Bestimmung des Begriffs Mathesis, indem er fortfährt: „Wenn [. . . ] auch die Prax der Maaß und Weiß in Sachen und Ursachen darzu komt; so ist Mathesis dann zum (1.) eine Weißheit wenn sie derer Wercke Gottes ihre Maaß und Weiß tractirt; zum (2.) eine Klugheit wenn sie Maaß und Weiß der bürgerlichen Ordnungen und Handlungen tractirt“22 „Zum (3.) Wenn die Prax allein und ohne Theorie getriebenwird so ist Mathesis eine Kunst (est habitus cum recta ratione effectivus) das ist eine Fertigkeit bey der Ausrichtung eines Thuns und eines Wercks“23
Weigel weitet also den Begriff der Mathesis hier so aus, dass er alle Bestimmungsstücke, die ihm an der Mathematik wichtig sind (insbesondere der Zusammenhang von Theorie und Praxis), enthält. Ein so weit gefasster Begriff ist aber sehr unpräzise und weitere Betrachtungen werden dahin drängen, die einzelnen Aspekte durch separate Begriffe abzudecken.
DER BEGRIFF DER MATHESIS NACH WEIGEL Der Weigelschüler Gottfried Wilhelm Leibniz verwendet den Begriff Mathesis gelegentlich,24 wobei die Bedeutung sich ändert. In seiner Frühschrift de arte combinatoria folgt er durchaus noch der Auffassung, die Mathesis und Mathematik eng aneinander bindet.25 Später formuliert er dann das Projekt einer mathesis universalis, 21 22 23 24
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Erhard Weigel: Quartalische Vorbereitung Am Ende des mit dem 1699sten Jahr ablauffenden Siebenzenden Seculi, Jena o.J. (1699), §1. Ebd., §2. Ebd., §3. Vgl. dazu insbesondere die umfangreiche Darstellung bei Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. Leibniz und die Wiederentdeckung der formalen Logik im 19. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 25–63. „Mathesis enim (ut nunc nomen illud accipitur) accurate loquendo non est una disciplina, sed ex variis disciplinis decerptae particulae quantitatem subjecti in unaquaque tractantes, quae in unum propter cognationem merito coaluerunt.” Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Vierter Band, Berlin 1880, S. 35f.
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die bei ihm die Anwendung der Logik auf die Gegenstände der Mathematik bedeutet.26 Diese ist auch eine Kunst des Erfindens und des Beweisens in Bezug auf die Größen (ars inveniendi et judicandi circa quantitates) oder eine logica imaginationis, da die Gegenstände der Mathematik zum Bereich der Anschauung gezählt wurden. Die imaginatio bezieht sich aber sowohl auf die Quantität als auch auf die Qualität, diese gehört darum bei Leibniz auch zum Gegenstand der mathesis universalis. Wie so viele der Projekte von Leibniz blieb auch dieses ein schwer verständliches und letztlich nicht realisiertes. Christian Wolff schreibt in seinem Mathematischen Lexicon unter dem entsprechenden Stichwort lapidar: „Diese Mathesis universalis ist zur Zeit noch nicht erfunden.“27 In der darauffolgenden Zeit gerät der Begriff allmählich in den Hintergrund. Bei Johann Georg Walch, im Philosophischen Lexicon kann man lesen: „Mathesis, Hieß vor Zeiten die ganze dogmatische Philosophie, dahin des Sexti Empirici Werk gehört, das er wider die Mathematiker geschrieben. Jetzo ist sie eine Wissenschaft, alles auszumessen, was sich ausmessen lässet, oder wie man insgemein beschreibet, eine scientia quantitatum, eine Wissenschaft der Grössen, das ist aller derjenigen Dinge, die sich vergrössern, oder verkleinern lassen. Ein Mathematicus betrachtet die Quantität.“28
Walch steht auf der Grenze. Ihm selbst ist die historische Herkunft des Wortes noch bekannt, zugleich weiß er aber auch um dessen aktuelle Bedeutung, die identisch mit Mathematik ist. In Christian Wolffs Mathematischem Lexikon von 1716 wird diese Linie konsequent weitergeführt, wenn er lapidar schreibt: „Mathematik seu Mathesis“.29 Bei ihm fungiert das Wort versehen mit einem Attribut nur noch zur Bezeichnung von Teildisziplinen der Mathematik. In der Folgezeit wird das Wort gelegentlich noch verwendet, so bei Lorenz Oken, Bernard Bolzano und Edmund Husserl, um jeweilige für das bestimmte philosophische System wichtige Aspekte zu bezeichnen. Diese Verwendung des Wortes Mathesis bleibt aber vereinzelt und es wird dadurch keine Traditionslinie begründet. Außerdem steht dieser Gebrauch in der Regel nicht in der Tradition der bisherigen Verwendung und bleibt deshalb singulär. Mathesis wird auf diese Weise ein aussterbender Begriff, der nur noch gelegentlich reanimiert wird als Titel für Festschriften. Der Begriff der Mathesis erfährt also im Verlauf seiner Geschichte einige wichtige Veränderungen. Während er in der griechischen Literatur noch keine ausgeprägte fachterminologische Bedeutung hat, findet er Eingang in die lateinische Fachliteratur und wird dabei im mathematisch-astronomisch-astrologischen Bereich verwendet. Doch die Herkunft des Wortes in der Bedeutung von Lernen, Kenntnis et cetera gerät nicht in Vergessenheit. So kommt es, dass die Doppeldeutigkeit dieses Begriffes in der frühneuzeitlichen Fachliteratur zunehmend für Irritationen sorgt. Deshalb 26 27
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Elementa nova matheseos universalis, in: Opuscules et fragments inédits de Leibniz, hg. von Louis Couturat, Paris 1903, S. 348f. Christian Wolff: Mathematisches Lexikon, Darinnen die in allen Theilen der Mathematick üblichen Kunst=Wörter erkläret, und zur Historie der Mathematischen Wissenschaften dienliche Nachrichten ertheilet, Auch die Spuren wo iede Materie ausgeführet zu finden, angeführt werden, Leipzig 1716, Sp. 869. Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon. Mit einer kurzen kritischen Geschichte der Philosophie von Justus Christian Hennings, Band II, ND Hildesheim 1968, Sp. 66. Wolff, Lexikon (wie Anm. 27), Sp. 869.
Der Begriff Mathesis bei Erhard Weigel
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werden in der Folgezeit die verschiedenen Bedeutungsnuancen ausgelagert, wobei der eine Teil vom Begriff Mathematik, der andere Teil eher vom Begriff Methode absorbiert wird. Weigel verwendet das Wort noch in beiden Bedeutungen und steht somit auf dem halben Weg eines Prozesses, bei dem man die Ausdifferenzierung eines Begriffs beobachten kann, dessen beide Bedeutungen dann von anderen Begriffen übernommen werden.
Maarten Bullynck ANATOMIE DES BEWEISES – VERSUCH EINES MATHEMATIKHISTORISCHEN ZUGANGS ZU ERHARD WEIGEL In der Neuauflage von der Astronomiae Pars Sphaerica Methodo Euclidea Conscripta von 1688 (1. Auflage 1657) schreibt Erhard Weigel im Vorwort an den wohlwollenden Leser, dass die gedruckte Ordnung der Definitionen im 1. Buch und der Prinzipien im 2. Buch nicht die Ordnung des Unterrichtens bestimmen muss, sondern, dass Definitionen und Prinzipien auch in willkürlicher Reihenfolge memoriert werden können. Dies gelte jedoch nicht für das dritte Buch der Beweise, in dem die Ordnung kaum erfolgreich verändert werden kann.1 So bestimmt die Euklidische Methode zwar die Ordnung bei der Niederschrift des Wissens, doch nicht die Ordnung des Lehrens, allerdings mit der einen Ausnahme des mathematischen Beweises. Das kleine Wörtchen vix (kaum) in vix immutari deutet auf eine nicht allzu große, doch wichtige Veränderbarkeit bei der Ordnung des Beweises hin, die gerade von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis tief ins 17. Jahrhundert Thema heftiger wissenschaftsphilosophischer Auseinandersetzungen war. Verschiedene Stränge jener Auseinandersetzungen sind in Weigels Analysis Aristotelica ex Euclide restituta (1658) einbezogen und die Aufarbeitung dieser Stränge und damit die Einbettung von Erhard Weigels philosophischem Hauptwerk in den zeitgenössischen mathematikphilosophischen Kontext bildet die Absicht dieses Aufsatzes.
EUKLIDISCHER BEWEIS UND ARISTOTELISCHE LOGIK Im 16. Jahrhundert war die Inkommensurabilität der euklidischen Beweise mit der scholastischen, sich auf Aristoteles berufenden Logik und Methodik immer klarer zu Tage getreten und langsam Gegenstand philosophischer und wissenschaftlicher Debatten geworden. So dachte Petrus Ramus anfänglich noch, dass man „die 15 Bücher Euklids, da sie gleichsam mit einem einzigen Instrument der Logik zunächst zusammengestellt worden waren, sie auch daraufhin wieder auseinandergenommen werden könnten.“2 1
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Erhard Weigel: Astronomiae Pars Sphaerica Methodo Euclidea Conscripta, Jena 1688, Ad Lectorem B. „ne quis putet, eodem ordine, quo primi libri Definitiones, & secundi principia, conscripta prostant, in docendo precedendum esse; sed ut recordetur, arbitrarium esse Definitionem, ipsorumque principiorum, methodum doctrinalem; Demonstrationum autem Ordinem, quo tertium liber utitur, vix immutari cum fructu posse.“ Petri Rami professoris Regii, et Audomari Talaei Collectaneae Praefationes, Paris 1577, S. 520. „Quindecim Euclidis libri sunt, quos sicut uno Logicae organo contextos esse primum, sic eodem postea retexi posse cogitabam.“ Zitiert nach Johannes J. Verdonk: Petrus Ramus en de wiskunde, Assen 1966, S. 40.
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Maarten Bullynck
Bei der Lektüre des X. Buchs musste Ramus jedoch eingestehen, dass die Ordnung und Logik Euklids mit derjenigen des Aristoteles nicht gänzlich übereinzustimmen schien, und dass daher Neuordnungen notwendig würden. Dieses Problem wurde im 16. Jahrhundert in zwei miteinander verwandten Debatten ausgetragen. Erstens gab es die Zabarella-Piccolomini-Debatte über ordo und methodus, zweitens die sogenannte Quaestio de certitudine mathematicorum. Nach Meinung des Aristoteles-Kommentators Jacopo Zabarella (1533–1589) gab es eine klare Korrespondenz zwischen der Anordnung des Wissens (ordo) und der Methode zur Auffindung von Kenntnissen (methodus). Während beim ordo entweder vom Allgemeinen zum Spezifischen (compositio) oder vom Ziel zu den ersten Prinzipien (resolutio) vorgegangen werden könne, könne beim methodus parallel dazu von der Ursache zu den Wirkungen beziehungsweise von den Wirkungen zu den Ursachen gegangen werden. Im methodus gibt es demzufolge entsprechend der AristotelesLektüre Zabarellas zwei Beweiswege, nämlich die demonstratio quia (a priori; Gr. tou dioti) und die demonstratio propter quid (a posteriori; Gr. tou hoti), wobei letztere Art weniger vollkommen sei als die erstere.3 Für Zabarella waren diejenigen Beweise am vollkommensten (potissima), in denen beide Vorgehensweisen, die Findung der Ursachen über die Wirkungen und die Ableitung der Wirkungen aus den Ursachen, vereint wurden, die sogenannte regressus-Methode.4 Francesco Piccolomini (1520–1604) kritisierte Zabarellas Parallelisierung von Ordnung und Methode und behauptete, die (pädagogische) Ordnung der Lehre sei nicht von der Ordnung des Suchens und Findens bestimmt. Für die Ordnung der Lehre bevorzugte Francesco Piccolomini den Beweisweg von den ersten Prinzipien zu einem bestimmten Ziel.5 Diese Debatte aus den späteren Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ist mit der Diskussion um die Quaestio de certitudine mathematicorum, die einige Jahrzehnte früher begonnen hatte, auf das engste verbunden. 1547 hatte Alessandro Piccolomini (1508–1578, ein Neffe Francescos) einen Traktat mit dem Titel Commentarium de certitudine mathematicarum disciplinarum veröffentlicht, in dem er daran zweifelte, dass ein mathematischer Beweis nach euklidischer Art kausal sei und mithin nach aristotelischem Standard als beste Kodifizierung wissenschaftlichen Wissens gelten könne. Wie oben erwähnt, ist die demonstratio quia (Ableitung aus Ursachen) nach aristotelischer Regel die bessere und vollkommenere gegenüber der demonstratio propter quid; aber, wie Alessandro Piccolomini an Beispielen aus Euklid zeigt, ist der Kausalcharakter (beziehungsweise die kausale Reihenfolge der Argumente) man3 4
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Jacopo Zabarella: De Methodis, Lib. III Cap. I–IV. Opera Logica, Köln 1597, S. 223–231. Jacopo Zabarella: De Regressu, l.c., S. 479–496. Wesentlich in der Verbindung der resoluten und componierenden Methoden (zur Vermeidung eines logischen Zirkelschlusses) ist ein Zwischenschritt, die negotiatio intellectus, eine geistige Betrachtung und Nachvollziehung. Zabarellas regressus hat denWissenschaftlern des 16. Jahrhunderts erlaubt, Experiment und Erfahrung mit aristotelischer Methodik im Einklang zu bringen und stellt somit einen wichtigen Keim der modernen auf Empirie gegründeten Wissenschaft dar. Vgl. John H. Randall: The development of scientific method in the School of Padua, in: Journal for the History of Ideas 1 (2) (1940), S. 177–206, hier S. 196–202. Zur Zabarella-Piccolomini-Debatte Nicholas Jardine: Keeping Order in the School of Padua: Jacopo Zabarella and Francesco Piccolomini on the Offices of Philosophy, in: Daniel DiLiscia, Eckhard Kessler, Charlotte Methuen (Hg.): Method and Order in Renaissance Philosophy of Nature. The Aristotle Commentary Tradition, Ashgate 1997, S. 183–209.
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cher Beweise fragwürdig. So sind beispielsweise Beweise, die auf geometrischer Konstruktion fußen, oder aus einem Widerspruch abgeleitet werden, kaum als Kausalzusammenhang zu verstehen, da Konstruktion oder Kontradiktion nicht essentiell seien, sondern nur akzidentell (kontingent) zum Inhalt, zum Ziel des Beweises. Piccolominis Argumente wurden von seinen Schülern weiterentwickelt, unter anderem von Peyrera, der den extremsten Schluss aus Piccolominis Positionen zog, dass nämlich die Mathematik nach aristotelischem Standard gar keine Wissenschaft sei.6 Während die Debatte um die Sicherheit des mathematischen Wissens im 16. Jahrhundert eine Debatte zu sein scheint, ob denn die Mathematik (das heißt die euklidische Mathematik) Instrument und Sprache der Wissenschaft werden könne und damit die aristotelische Manier ablösen beziehungsweise komplementieren dürfe, so ändert die Debatte in ihrer Neuauflage um die Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Tonart und Farbe. Nicht so sehr, ob denn die Mathematik die Sprache der Wissenschaft werden könne, sondern welche Art der Mathematik die beste Sprache sei, die euklidisch-geometrische oder die algebraisch-arithmetische, scheint dann im Brennpunkt der Diskussion zu stehen. Die Neuauflage entspinnt sich in England zwischen John Wallis (1616–1703), Thomas Hobbes (1588–1679) und Isaac Barrow (1630– 1677). In seiner Mathesis universalis sive arithmeticum opus integrum (1657) hatte Wallis sich bemüht zu zeigen, dass sowohl die Geometrie als auch die Arithmetik Wissenschaften seien und beide überzeugende (potissima) Beweise zuließen. Wallis nahm dazu eine Umordnung der Begrifflichkeiten der spätscholastischen Beweistheorie vor und benutzte sie zur Klassifikation von Beweisen innerhalb der Mathematik. Nicht die Frage, ob ein Beweis eine Kausalstruktur aufweise, sondern wie der Beweisvorgang auf direktem beziehungsweise indirektem Wege erfolge, wird bei Wallis zum Prinzip seiner Einteilung der Beweise. Wallis` Einteilung, nach aufsteigendem Grad der Direktheit, lautet deshalb: per contradictionem, a posteriori (= tou hoti), a priori (= tou dioti). Im Prinzip, wie Wallis mittels der Auflistung von diesen drei Beweissorten für einen und denselben mathematischen Satz eindringlich nahelegt,7 lässt sich ein Beweis immer in einen auf direktem Wege umwandeln. Damit wird die Syntax des Beweises an und für sich zum Thema der Quaestio-Diskussion im 17. Jahrhundert.8 Hobbes und Barrow kritisierten die Einteilung bei Wallis obwohl beide sich ebenfalls dafür aussprechen, dass alle mathematischen Beweise tou dioti seien oder doch in solche umgewandelt werden könnten. Zur Begründung dieser These gehen beide Mathematiker-Philosophen auf die Lehre des Aristoteles von den vier Klassen von Ursachen zurück, nämlich die causa formalis, materialis, efficiens et finalis. Während Hobbes behauptet, tou hoti-Beweise können unter Berufung auf causa efficiens in tou dioti-Beweise umgewandelt werden, reduziert Barrow alle Kausalität innerhalb des mathematischen Beweises auf die causa formalis.9 6
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Paolo Mancosu: Aristotelian logic and euclidean mathematics. Seventeenth-century developments of the Quaestio de certitudine mathematicarum, in: Studies in the history and philosophy of science 23 (2) (1992), S. 241–265, hier S. 241–245 (mit Literaturverweisen in Anm. 2, S. 242). John Wallis: Mathesis Universalis sive, Arithmeticum opus Integrum, tum Numerosam Arithmeticam tum Speciosam complectens, London 1657, S. 12–14. Mancosu: l.c., S. 251–255. Ebd., S. 256–262.
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Als Weigel in seiner Abhandlung Analysis Aristotelica ex Euclide restituta (1658) das Problem des mathematischen Beweises behandelt, schaltet er sich in die jüngsten Entwicklungen innerhalb der laufenden Quaestio-Debatte ein.10 Dies betrifft verschiedene Punkte: Erstens, eine Wende zur Syntax des Beweises, und zweitens ein Aufgreifen der aristotelischen causae bei der Neuinterpretation des Kausalitätscharakters eines mathematischen Beweises. Weigels besonderer und neuer Beitrag zur Quaestio-Debatte liegt jedoch vor allem in der semiotischen Wendung, die er ihr gibt, nämlich in der Analyse eines Beweises als eine Struktur des Verweisens und Verbindens. Im Prooemium zur Analysis Aristotelica ex Euclide restituta knüpft Weigel auch an die Anfangsjahre der Quaestio-Debatte an, wie sie sich in Deutschland entwickelte. Hier verweist Weigel auf Ernst Soner (1573–1612) und Michael Piccart (1574–1620) (beide lehrten an der Universität Altdorf um 1600) und bemerkt, dass diese die mathematische Demonstration anzweifelten, und dass er nicht verstehen könne, wie man diese Position als Aristoteliker verteidigen könne.11 Soner und Piccart kommen nur Nebenrollen in dem Altdorfischen Pendant der internationalen Quaestio-Diskussion zu, in der Nicolaus Taurellus (1547–1606) und der Peripatetiker Philipp Scherb(ius) (1555–1605), dessen Schüler Soner und Piccart waren, die Hauptakteure waren.12 Die Debatte spielte sich zwischen (angeblichen) Ramisten und Aristotelikern ab. Man könnte auch sagen zwischen Philosophen, welche Logik und/oder Mathematik als bevorzugtes Werkzeug des Intellekts sahen, und Philosophen, welche die damalige Interpretation des Aristoteles und die Offenbarung per Autorität als einzige Quellen aller Kenntnisse anerkannten. Hieraus ergibt sich klar, dass Weigel ein ganzes Jahrhundert der Quaestio-Debatte in seinem Text mitdenkt und mitreflektiert.
ANATOMIE DER CAUSAE Der wichtigen Erörterung der Praxis des Beweisens (in Sectio III) geht bei Weigel am Schluss von Sectio II ein Kapitel mit dem Titel De Natura causarum Demonstrativarum, et ratione causandi voraus, in dem er seine Einteilung der mathematischen Beweise vorlegt. Hier paraphrasiert er die Unterteilung des Aristoteles der Bewei10
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Die genauen Verhältnisse zwischen Weigel und den englischen Mathematikern sowie den Italienern des 16. Jahrhunderts können an dieser Stelle nicht erörtert und nur etwa angedeutet werden. Weigel kannte Zabarellas Werk gut, und war allem Anschein nach von Hobbes Ausführungen gewichtig beeinflusst. Auch Barrow und Wallis werden gelegentlich zitiert (ich verdanke diesen Hinweis Thomas Behme, Berlin). Erhard Weigel: Analysis Aristotelica ex Euclide restituta, Genuinum Sciendi modum, & Nativam restauratae Philosophiae faciem per omnes Disciplinas & Facultates ichnographice depingens. Opus omnium facultatum Cultoribus ad solidam eruditionem summe necessarium, maxime proficuum, Jena 1658, Proemium, §16. Kritische Neuedition durch Thomas Behme (Clavis Pansophiae 3: Erhard Weigel: Werke III, Stuttgart-Bad Cannstatt 2008). Weigel verweist aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Äufsätze Soners (1572–1612) und Piccarts (1574–1620) in der erst 1644 in Nürnberg erschienenen Sammlung Philosophia Altdorfina, hg. von Johannes P. Felwinger. Vgl. dazu die Nachweise in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 21, Sachkomm. Anm. 29, S. 304. Vgl. auch Xaver Schmid: Nicolaus Taurellus, Erlangen 1860, S. 5–8, 24–26.
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se in tou dioti und tou hoti und listet auf, was alles in diese letzte Klasse fällt: a priori mit weiter entfernten Ursachen, a priori mit logisch gefolgerten Ursachen (a connexo), a posteriori, indirekte Beweise und Beweise ex absurdum.13 Weigel fährt fort, eigentlich gebe es keinen Beweis tou dioti in welcher Wissenschaft auch immer, mit Ausnahme des klassischen einfachen Syllogismus. Deswegen entwickelt er eine neue, detaillierte Klassifizierung der Beweise tou hoti. Erstens werden diese in drei species unterverteilt (a priori remoto, a connexo, a posteriori) und dann quasi über die zwei Geschlechter männlich und weiblich verteilt, nämlich ostensiva (direkt) und per impossibile (indirekt).14 Anders als etwa Hobbes und Barrow, zwingt Weigel nicht alle mathematischen Beweise in dieselbe kausale Struktur, von Ursache zur Wirkung per causa efficiens respektive formalis, sondern in der seiner Einteilung vorangehenden Diskussion hat Weigel eine subtile Ursachenanalyse vorgenommen, die der Variabilität in der Struktur eines Beweises gerecht wird. Wie üblich fängt die Analyse bei der Unterscheidung der vier einfachen Ursachen durch Aristoteles an,15 aber, wie Weigel schreibt, habe der Stagirit bei den komplexen Ursachen nicht dieselben Unterscheidungen vorgenommen, sondern seine Bemerkungen über komplexe Ursachen mit anderen Ausführungen vermischt.16 Deswegen geht Weigel ausführlich auf den Mechanismus ein, der hinter der komplexen Ursache steckt: „Denn wenn wir eine Sache genauestens abwiegen, sicher begreifen, muss man wenigstens abstrakt die Ursache der Emanation [das heißt Kern des Verursachens] durch eine Synekdoche (indem man den mittleren Begriff als Summe der beiden Prämissen nimmt [...]) so zusammenfassen als wäre sie einfach und mit einer Verkürzung auszudrücken. Für die Seite der Sache gilt dann, dass sie mit der komplexen Ursache vollständig übereinstimmt, wenn der Tropus ausgefüllt wird.“17
Das Ausfüllen des Tropus geschieht nicht willkürlich, sondern wird von der causa formalis dirigiert. Die reine Stellung innerhalb einer Verkettung bringt die Ursache in eine kausal notwendige Reihe: ratio causandi h.e. emittendi consistit formaliter in connecessitatione. Die Kausalität oder die Reihenfolge des Verursachens [beziehungweise Aussendens von (Ur-)Sachen] liegt formal in dem Zusammen-Nötig-Sein und -Werden. Der Intellekt schränkt sich aufgrund dieses Formalen ein, bei Beweisen dasjenige hinzuzufügen, was noch nötig ist, nämlich, das was bekannter und/oder früher bekannt ist.18 13 14 15 16 17
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Erhard Weigel: Analysis Aristotelica ex Euclide restituta, Sect. II Cap. 12 §31, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 147f. Ebd., Sect. II Cap. 12 §32, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 148. Erhard Weigel: Sect. II Cap. 12 §16 n., in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 140. Ebd., §20, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 142: „Aristoteles tamen [...] ita causas complexas a simplicibus non adeo curiose distinguit“. Ebd., §18, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 141: „Quod si vero rem accuratius perpendamus, certo deprehendemus, Causam Emanationis synechdocicha ratione (medium terminum pro utraque praemissarum sumendo [...]) instar simplicis abstractive saltem concipi & compendii gratia dici, a parte rei vero, si tropus compleatur, eam cum Causa complexa plane coincidere.“ Ebd., §19, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 142: „Et in hoc modo dicta Con-necessitatione causae demonstrativae formalitas & ratio causandi praecise consistit, quatenus a parte rei spectatur. Quatenus vero simul ad nostrum restringitur intellectum, quod in demonstrationis negotio fieri necessum est, additamentam aliquod respectivum huic formalitati superadditur, quod est, ut
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Weigel reduziert hier manches Problem aus der laufenden Quaestio auf einen semiotisch-psychologischen Mechanismus. Er geht von der alltäglichen Beobachtung aus, dass komplexe Sachen als eine einfache Sache (wie in einer Synekdoche, ein Teil für das Ganze) dargestellt werden können, und dass diese Verkürzung wieder zu einer komplexen entfaltet werden kann, solange nur der Geist sich den formalnötigen Zusammenhang wieder vergegenwärtigen kann. So fasst Weigel die causa formalis im Falle einer komplexen Ursache als causa connecessitans oder auch ponens auf.19 Die causa formalis ist eine syntaktisch zwingende Struktur, die Sachen zusammenbringt und deren Zusammenhang als nötig erweist. Obwohl eine komplexe Ursache formell ein einziges Bildungsgesetz hat, kann sie jedoch (per formeller Definition) verschiedene Ursachen zusammenbringen, die eben unterschiedlicher materialer Natur sein können. Deswegen entwickelt Weigel eine feingliedrige Struktur der komplexen Ursachen entsprechend der materia. Hier unterscheidet er zwei Hauptarten: Verstandesgründe (ratione intellectus) und Sachgründe (ratione rei).20 Weigels Klassifikation der causae materiales ratione intellectus lässt sich in ihren Unterverteilungen so vorstellen:
Unter den Verstandesgründen begreift Weigel die verschiedenen Arten von Aussagen, die in einem Beweis vorkommen beziehungsweise dazu benutzt werden können. Diese werden in Kapitel VIII bis X der Sectio II vorgestellt und stimmen mit den klassischen Kategorien (+/- Redeteilen) der Elemente Euklids überein. Es ist aus dem Schema ersichtlich, dass Weigel für den Beweisgang auch Einsichten aus der Erfahrung und aus dem Experiment, neben den klassischen Axiomata und Postulaten, eine wichtige Rolle zuschreibt.21
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connecessitans hoc principium eo quod connecessitatur notius sit & prius cognitum.” Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 142. Ebd., §25, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 144f. Dabei stellt das ratione intellectus eine annäherende Übersetzung von tou dioti ist (d.h. von der durch den Verstand untersuchten Sache), das ratione rei eine Übersetzung von tou hoti (d.h. von der Sache her )dar. Tatsächlich gehen in einen a-priori-Beweis eher Verstandesgründe ein, in einen a-posteriori-Beweis eher Sachgründe. Zu den Hypothesen Konrad Moll: Der junge Leibniz. Die wissenschaftstheoretische Problemstel-
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Unter dem materialen Sachgrund fallen nach Weigel zwei Typen: Erstens gibt es für ihn eine causa originationis, eine Ursache, an der sich die Sache selbst direkt (proxime) oder auch nur entfernt/beziehungsweise vermittelt (remota), mit nur minimalem Denkaufwand als Ursache zeigt.22 Ursache und Verursachtes fallen hier fast zusammen, nur deren (logische) Distanz ist unterschiedlich. So folgt aus „keine Lunge“ direkt „nicht atmen“, aus „kein Lebewesen“ vermittelt (über einen nicht explizierten Zwischenschlusssatz) „nicht atmen“. Und zweitens gibt es eine causa nudae positionis, an der sich nicht die Sache selbst zeigt, sondern bei der die Ursache aus ihrer Stellung im Beweis verständlich wird.23 Letztere und fundamentaler Typus der Ursache im mathematischen Beweis hat diese besondere Eigenschaft, dass das Verursachte früher als die Ursache liegt, da eine causa nudae positionis immer bekannteres und früheres Wissen aufruft. Diese Ursache aus der bloßen Stellung kann nach Weigel noch weiter differenziert werden, nämlich: sie kann mit anderen Ursachen logisch verbunden werden (connexum) oder in einer Reihe stehen (consequutivum); sie kann auch direkt (ostensive) oder indirekt (per impossibile) gezeigt werden.24 Mit diesem technischen Apparat kann Weigel jetzt tatsächlich alle Elemente in den euklidischen Beweisen als Ursachen klassifizieren und ihren Mechanismus und ihre Wirkung im Detail nachvollziehen. Aus der Taxonomie der causae ratione rei erhellt sich auch Weigels Klassifikation der Beweise. Bei ihm wie bei Wallis gilt die Direktheit des Beweisgangs als Klassifikationsprinzip, nur wird bei Weigel mittels der Nomenklatur der Sachgründe den Details der Beweisarchitektonik Rechnung getragen. Mit der Taxonomie der Verstandesgründe hingegen können aus Schlussketten abgeleitete Aussagen nach ihrer Wahrscheinlichkeit angeordnet werden (das heißt nach dem Umfang der Benutzung von sichern oder wahrscheinlichen Axiomen, von Postulaten und Hypothesen im Beweis). Zusammen bilden diese causae fast einen Maßstab der Mächtigkeit und Vollkommenheit des Beweises, machen ihn zur potissima demonstratio.
PRAXIS DES BEWEISES Mit Hilfe der aufgearbeiteten begrifflichen Apparatur Weigels ist zur Sectio III, der Praxis des Beweisens, zu kommen. Doch ist dafür eine andere Schöpfung aus der Quaestio-Debatte hinzuzunehmen. Es gab zwei paradigmatische Beispiele aus den Elementen Euklids, die in der Debatte immer wieder verwendet und interpretiert wurden. Es handelt sich um Satz 1 und Satz 32 aus Buch I der Elemente (kurz auch I.1 und I.32). Auch bei Weigel tauchen diese beiden klassischen topoi auf. Ein Verweis auf I.1 steht im 2. Kapitel de Syllogisatione Demonstrativa, wo Weigel erneut wiederholt, dass einfache Beweise nur selten vorkommen, die meisten
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lung seines ersten Systementwurfs. Der Anschluß an Erhard Weigels Scientia Generalis, Stuttgart 1978, S. 97–102. Erhard Weigel: Analysis, Sect. II Cap. 12 §28, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 145f. Sect. II Cap. 12 §29, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 146. Ebd., §30, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11, S. 147).
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hingegen syllogismus continuatus (Schlussketten) darstellen.25 Zur Illustration dieser These verweist Weigel explizit auf das Scholium zu I.1 in der Edition Christopher Clavius' (1537/38–1612) von Euklids Elementen.26 Es handelt sich um die Frage, wie man ein rechtwinkliges Dreieck auf einer Geraden konstruiert. Clavius schreibt, dass in den meisten Beweisen (wie exemplarisch in Euklids I.1) zweierlei zu beobachten sei: Einerseits die constructio, andererseits die demonstratio. Im Kontext der Quaestio-Debatte gelesen bedeutet das, dass Clavius hier unterstreicht, dass ein mathematischer Beweis manchmal tou hoti (mit Konstruktion), manchmal tou dioti (direkt, kausal) sein, im Prinzip jedoch immer kausal gelesen werden könne. Deswegen zeigt Clavius im Scholium, wie man den Beweis als einen vollständigen, kontinuierlichen Syllogismus, beginnend mit ersten Prinzipien ausformulieren kann. Zum Beweis von I. genügen ihm drei einfache Syllogismen.27 Unter dem Verweis auf Euklids I.1 geht Weigel auf das Problem ein, wie man sich zwei (oder mehr) verschiedene Beweise eines selbigen Satzes vorzustellen hat. Während andere Mathematiker-Philosophen sich überwiegend mit der Frage beschäftigten, wie man Beweisen mittels Umformung und/oder kausaler Interpretation einen Rang als potissimae verschaffen könne, entfaltet Weigel hier eine neue und innovative Problemstellung: Wie verhalten sich Beweise eines selben Satzes zueinander? Und wie kann man aus einer Reihe von Beweisen eines Satzes den potissima-Beweis finden? Anhand einer Analogie mit einer Proportionalreihe (zum Beispiel 2 zu 4, 4 zu 8, 8 zu 16 etc.) versucht Weigel diese Frage zu klären: „So ist es bei der Arbeit der kontinuierlichen Syllogisation28 mit den Syllogismen, die sehr exakt mit Proportionen übereinstimmen, d.h., die Syllogisation leitet denselben Schluss über manche Mittelsätze ab, und wie viele diese (Syllogisation) an Syllogismen auch in sich hat, ist sie doch eigentlich mit einem einzigen Syllogismus identisch, d.h., der Zusammenhang der leitenden Termini führt zu einem und demselben Schluss, und man kann aus dieser Syllogisation (oder Proportionenreihe), so lange man jeweils zwei zu zwei die Prämissen zusammenzählt, mehrere Zusammenhänge bilden.“29
So kann man den folgenden einfachen Syllogismus mit Proportionalzahlen ausdrücken: Petrus ist ein Mensch (2:4 wie 3:6); der Mensch ist ein Lebewesen (3:6 wie 4:8); also ist Petrus ein Lebewesen (2:4 wie 4:8). Wenn man eine längere Syllogisati25 26
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Ebd., Sect. III Mem. I Cap. 2 §6. Clavius nahm in seiner Edition Stellung gegen die Piccolomini-Anhänger, die die Sicherheit der mathematischen Beweise anzweifelten. Viele der Scholien in der Edition erörtern technische Punkte in der Beweisführung. Vgl. Peter Dear: „Jesuit mathematical science and the constitution of experience in the early seventeenth century“, in: Studies in History and Philosophy of Science, Part A 18 (2) (1987), S. 133–175, bes. S. 135–141. Christopher Clavius: Euclidis Elementorum Libri XV, Köln 159, S. 30. Mit Syllogisation ist eine längere Beweisführung gemeint, die aus mehreren, gereihten Syllogismen besteht. Sect. III Mem. I. Cap. 2 §7, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 162: „ita in negotio Syllogismorum, qui proportionibus exactissama proportione respondent, continuate syllogisatio, h.e. quae eandem conclusionem per plura medio colligit, quamvis & ipsa plures syllogismos includat, in singulari tamen syllogismo est, cum una sit identitas, h.e. cohaesio terminorum ad unam eademque conclusionem directorum, licet ex ea, si binae ac binae praemissae seorsim sumantur, plures cohaesiones particulares efformari queant“.
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on hat, so kann man aus der Proportionsreihe der Syllogisationsglieder einige Termini auswählen. Die Auswahl ist bis zu einem gewissen Grad beliebig, doch werden die Glieder der Auswahl immer in denselben Proportionen zueinander stehen (im Beispiel immer wie 1 zu 2). Um es mit der in der Proportionalreihe stets unterlegten musikalischen Metaphorik auszudrücken: Die Auswahl aus der Syllogisation wird immer in derselben Harmonik bleiben.30 Mit dem Verfahren der Syllogismenproportion hat Weigel den Keim einer Art von Arithmetisierung des Beweises entwickelt (fast 300 Jahre vor Kurt Gödel). Mit der Proportionalanalogie kann Weigel nun den ersten Schritt in der Beantwortung der Frage machen, wie sich Beweise eines selben Satzes zueinander verhalten. Denn, aufgrund der vorgeschlagenen Analyse und Arithmetisierung, folgt trivialerweise, dass es zu jedem Satz mehrere Beweise gibt. Aus einer Syllogisation lassen sich nämlich mehrfache Auswahlen vornehmen, die alle Beweise desselben Schlusses sind. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum es mehrere Beweise für einen Satz gibt. Um zu zeigen, wie ein Zirkelschluss (circulus sophisticus) funktioniert und wie es ihn zu vermeiden gilt, greift Weigel das spätscholastische Verfahren des regressus wieder auf. Dieser sei real und notwendig und bestehe aus einem Kreis, in welchem der erste Halbkreis a priori die Schlussfolgerung als sicher aufweist und der zweite Halbkreis a posteriori die Gründe des Beweises als wahr und notwendig zeigt.31 Beim Zirkelschluss hingegen ist der Grund eine Unbekannte, ein Nichts (Non-ens), und einen Beweis auf diesen Grundlagen zu bauen, wäre wie ohne Kreide oder Tafel mit dem Finger in der Luft schreiben und glauben, man hätte einen exakten Kreis gezeichnet.32 Aus dem regressus-Kreis des Beweisens folgt für Weigel aber auch, dass mehrere Beweise für einen Satz existieren, denn manchmal kann ein Beweis nur den a priori-Halbkreis, manchmal nur den a posteriori-Halbkreis und so weiter durchlaufen. 30
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Weigels Identifikation der syllogismi continuati mit Gliedern einer harmonischen Proportionenreihe muss auch Leibniz aufgefallen sein. Vgl. auch mit Konrad Molls Erörterung über die concatenata series und Harmonie bei Weigel und Leibniz. Konrad Moll: Zur Systemkonzeption von Leibniz, ihrer Stellung zu Platon und Aristoteles und ihren Vorläufern Johannes Kepler und Erhard Weigel, in: Stefan Kratochwil (Hg.): Philosophia mathematica. Die Philosophie im Werk von Erhard Weigel, Jena 2005, S. 65–102, hier S. 81–84. Sectio III Mem. I Cap. 2 §, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 168. „ut ejus quasi circumferentia [des regressus] nostro intellectui distincte & expresse ducta sit, h.e. Ut clarius ac ipsum centrum [...] innotescat, adeo ut sicut in priori semicircula, seu in prima demonstratione, causae conclusionis in se certae sunt absq; intuitu ipsius conclusionis tamquam centri: Ita vicissim in posteriori semicirculo non tantum haec ipsa conclusio, jam causae loco posita, aliunde etiam absque respectu ad praemissas sui causas certa sit & necessaria [...] obtinetur Regressus seu circulus demonstrativus.“ Als Beispiel des regressus führt Weigel im §16 einen von ihm erbrachten Beweis in der Astronomiae Pars Sphaerica Methodo Euclidea Conscripta an, nämlich Propositio XX und XXII (Pars III, S. 415–420). Es wäre interessant, Weigels Beweistheorie auf ihre Realisierung in der Astronomiae Pars Sphaerica Methodo Euclidea Conscripta hin zu analysieren. Weigel, Sectio III Mem. I Cap. 2 §18, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 168. „sicut si quis creta destitutus & tabula digito aerem quocunque modo feriat, & circulum exacte conspicuum se delineasse putet.“
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Unter Berufung auf Aristoteles führt Weigel einen weiteren zentralen Punkt in seiner Arbeit ein: Wenn es mehrere Beweise gibt (das heißt, wenn es eine Variabilität in den Beweisen gibt), welcher ist dann der bessere? Die Antwort lautet: Derjenige, der durch die wenigsten Mittelsätze abgearbeitet wird (per pauciora media absolvitur). Das heißt: Der kürzeste Beweis, wenigstens, solange der Verstand den formalen Weg nachverfolgen und begreifen kann, oder, solange die causa connecessitans dem Verstand einleuchtet.33 Jetzt, da Weigel die Variabilität des Beweisens theoretisch abgeleitet hat, holt er zur Exemplifizierung im Abschnitt De Methodo Particulari das andere Paradigma der Quaestio-Debatte hervor, den Satz I.32 Euklids, dass die drei Winkel eines Dreiecks zusammengenommen stets gleich zwei rechten Winkeln sind. Bei der Variabilität in den Beweisgängen gibt es nach Weigel zwei Hauptwege: entweder von einem zu beweisenden Satz per Substitution zu bekannteren und einfacheren Sachverhalten zu gehen, oder eben von bekannteren Prinzipien zu unbekannten, das heißt analytisch beziehungsweise synthetisch.34 Um die Variabilität vorzuführen, gibt Weigel von I.32 einen analytischen (§9), einen synthetischen (§10), und schließlich einen harmonischen Beweis (§11). Mit der Korrespondenz zwischen Syllogisation und einer Proportionenreihe in Gedanken kann man analytisch (16:8, 8:4, 4:2, 2:1) oder synthetisch (2:1, 4:2, 8:4, 16:8) als zwei in der Richtung entgegengesetzte Durchgänge durch die Proportionenreihe auffassen. Der harmonische Beweis ist dann der harmonische Akkord aus der Proportionenreihe, bei dem Zusammenhang der Sätze und Durchschaubarkeit der Ableitung am klarsten und verständlichsten hervorkommen und Gleichklang erzeugen.35 Mit diesen drei, ungefähr gleich langen Beweisen hört jedoch Weigels Auflistung von Beweisen für I.32 nicht auf, sondern er fährt mit zwei weiteren Beweisen fort. Zunächst führt er einen scholastischen Beweis mit vollständig entwickelten einfachen Syllogismen, der über fünf Seiten in aller Ausführlichkeit präsentiert wird (§12). Abschließend führt er folgenden Beweis zu I.32 (§13): „Dieses ganze Chaos von Syllogismen, die nach der scholastischen Manier mit pompösem Vokabular aufgeblasene Syllogismen sind, löst Isaac Barrow mit nur drei Zeilen so auf: Winkel C = c b c (a) & Wink. A = e b d (b) also c+a (c) =c b e + e b d (d). Aber c b d + c b a (e) = 2 rechte Winkel, also (f) c+a+c b a gleich 2 rechte Winkel. W.z.b.w.“36 33
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Weigel, Sect. III Mem. I Cap. 2 §9, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 163. Weigel geht also implizit davon aus (wie seine Arithmisierung zeigt), dass im Wesentlichen alle Beweise eines selbigen Satzes letzten Endes auf denselben (langen) Beweis zurückgeführt werden können. Abgesehen von der Tatsache, dass dies bei komplexen Beweisen in der Mathematik eine praktisch fast nicht umsetzbare Aufgabe wäre, folgt aus den Ergebnissen der mathematischen Logik des 20. Jahrhunderts, dass der Nachweis einer solchen Identität zwischen Beweisen zu den unlösbaren Problemen gehört. Weigel, Sectio III, Mem. I Cap. 3 §6, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 172f. Dabei ist zu beachten, dass Weigels harmonischer Beweis mit der Diskussion über den regressus zusammenhängt. Weigel, Sect. III Membr. I Cap. III §13, in: Behme, Werke III (wie Anm. 11), S. 179. „Totam hanc Syllogismorum turbam IS. Barrovius sic absolvit: Ang. C aequal. c b e. (a) & ang. a. aequal. e b d. (b) ergo c ¡ a (c) aequal. c b e. ¡e b d. (d) Sed c b d. ¡ c b a. (e) aequal. 2. Rect. ergo (f) c ¡a ¡ c b a. aequal. 2. Rect. Q.E.D. Triplo paucioribus lineis, quam in modo Scholastico sunt syllogismi, pomposo vocabulorum apparatu inflatissimi.“ Die geklammerten Lettern verweisen
Anatomie des Beweises – Versuch eines mathematikhistorischen Zugangs
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Die Herkunft der Beweise in §12 bzw. in §13 ist recht interessant, denn sie stammen beide aus Euklid-Editionen, die in der Quaestio-Debatte eine wohlartikulierte Meinung vertraten. Wie Weigel selbst angibt, kommt der symbolische 3-Zeilen-Beweis aus einem Werk Isaac Barrows, nämlich, Euclidis Elementorum Libri xv. breviter demonstrati (1655).37 In diesem Werk bringt Barrow, inspiriert von den Mathematikern William Oughtred (1575–1630) und Pierre Hérigone (1580–c.1643), den ganzen Euklid auf 180 Seiten unter Benutzung algebraischer Symbolik. Wie schon erwähnt, fasste Barrow alle Beweise als tou dioti auf, nämlich mit einer von der causa formalis bestimmten Struktur, oder anders gesagt, für Barrow beschäftigt die Mathematik sich mit der rein formalen Struktur der Kausalität. Mithin wird die Struktur des Beweises selbst zum Thema (und dessen Symbolisierung) und wird als inhaltliche Bedingung der mathematischen Struktur nur noch die Widerspruchsfreiheit gefordert, nicht die Entsprechung mit einem physischen oder psychischen Tatbestand.38 Obwohl Weigel für den Beweis in §12 keine Quelle angibt, ist dessen Provenienz unschwer auszumachen. Der Beweis kommt aus einer berüchtigten Euklid-Edition,39 die von Christian Herlin (†1562) und Conrad Dasypodius (1532–1600) stammt (1566). Beide Autoren waren Professoren am Straßburger Gymnasium, wo der Humanist Johann Sturm (1507–1589) nach den Ideen Philipp Melanchthons versuchte, den Unterricht zu reformieren und die Kenntnisse der Antike zu edieren. Dasypodius war mit einer lateinisch-griechischen Euklid-Edition beschäftigt. Die von Weigel herangezogene Edition ist jedoch eher als Ausgabe zu didaktischen Zwecken zu werten. In dieser von Herlin und Dasypodius besorgten Ausgabe werden die Beweise in Syllogismen zerlegt, und durch die Verbindung derselben (die Syllogisation), wird den Schülern gezeigt, wie ein Beweis nach aller logischen Schärfe daraus entsteht. Hieraus ist unmittelbar ersichtlich, dass Herlin und Dasypodius in der Quaestio-Debatte des 16. Jahrhunderts den Wissenschaftsanspruch des mathematischen Beweises bejahten und mit ihrem Buch belegen wollten, wie der Beweisgang als rein logische und aristotelisch korrekte Struktur entwickelt werden konnte.40 Mit diesen fünf Beweisen zu I.32 schließt Weigel seine Analyse des mathematischen Beweises ab, und versucht so eine Art von Synthese der Quaestio-Debatte auf Sätze oder Axiome bei Euklid, u.z.: (a) 31.1; (b) 29.1; (c) ax. 2; (d) ax. 19; (e) 13.1; (f) ax. 1. Isaac Barrow: Euclidis Elementorum Libri xv breviter demonstrati, London 1655, S. 25. Weigels Wiedergabe des Beweises weicht von dem originalen Barrows etwas ab. Statt der Figur B A C E D hat Weigel A C B E D, aber wichtiger in diesem Zusammenhang ist, wo bei Weigel „aequal“ steht, hat Barrow das Zeichen „=“, und für Weigels Zeichen „¡“ steht bei Barrow „+“. Vielleicht hatte Weigels Drucker die anderen Charaktere nicht zur Verfügung? („+“ und „=“ fehlen tatsächlich in der ganzen Analysis Aristotelica ex Euclide restituta) 38 Antoni Malet: Isaac Barrow on the Mathematization of Nature. Theological Voluntarism and the Rise of Geometrical Optics, in: Journal of the History of Ideas 58 (2) (1997), S. 265–287. 39 Euclides: Analyseis geometricae sex librorum Euclidis. Primi et quinti factae a Christiano Herlino, reliquae una cum commentariis, et scholiis perbrevibus in eosdem sex libros geometricos, a Cunrado Dasypodio, Strassburg 1566, 2. Ausg. 1571. 40 Massimo Mugnai hat das Herlin-Dasypodius-Buch und Piccolominis Quaestio de certitudine als die wichtigsten Beiträge zur Mathematikphilosophie des 16. Jahrhunderts bezeichnet. Vgl. Massimo Mugnai: Denken und Rechnen. Über die Beziehung zwischen Logik und Mathematik in der frühen Neuzeit, in: Günter Abel, Hans-Jürgen Engfer, Christoph Hubig (Hg.): Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, Berlin 2002, S. 85–100. 37
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Maarten Bullynck
von 1547 bis 1658.41 Zum einen bezieht er sich auf die alte Lösung des regressusProblems zur Versöhnung der analytischen und synthetischen Wege, zum anderen zeigt er klar, dass die extremen Lösungsvorschläge zur Syntax des Beweises einerseits in der Länge der Syllogisation bestehen, andererseits in der algebraischen Verkürzung. Bei Weigel begegnen sich also Elemente aus der Debatte des 16. Jahrhunderts (regressus) und Elemente der Sorge um die formale Syntax des Beweises, wie sie für das 17. Jahrhundert typisch sind. Durch seine subtile Taxonomie bei der Behandlung der causae complexae sowohl materialiter als auch formaliter kann Weigel die Diskussion nicht nur mit feineren Argumenten wieder aufnehmen, sondern eine Art von Synthese erreichen. Damit gelingt es ihm, für die Variabilität des Beweises zwei wichtige Dimensionen aufzudecken: zum einen die Reihenfolge der Argumente, zum anderen die Länge des Beweises. Darüber hinaus verbindet Weigel diese Dimensionen mit einem semiotisch-psychischen Apparat, denn der Verstand muss die Ausrichtungen der causa formalis nachverfolgen, und die Zeichen per synekdochem mit den entsprechenden Vorkenntnissen verbinden können.
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Dass diese Leistung Weigel wichtig war, ergibt sich aus dem Schlussbild der ganzen Analysis Aristotelica ex Euclide restitua, der geometrischen Figur zum Beweis vom I.32.
Stefan Wallentin „WEIGELIUS MIT SEINEN GRILLEN“ – ERHARD WEIGEL UND DIE UNIVERSITÄT JENA, DARGESTELLT ANHAND DER VISITATIONSAKTEN 1669–1696 Wissenschaftshistorische Aspekte dominieren zu Recht die Forschungen zu Erhard Weigel, der mit seinem Verständnis von der Mathematik als einer ganzheitlichen Wissenschaft und als Reformpädagoge weit über seine Zeit hinaus wirksam war.1 Dabei geraten jedoch nicht selten die unmittelbaren Lebens- und Wirkumstände aus dem Blick, innerhalb derer sich vielfältige Rückwirkungen auf sein Werk ergeben. Die Universität Jena, an der Weigel mehr als vierzig Jahre als Professor tätig war, muss hier an erster Stelle genannt werden. Es ist das Ziel dieses Beitrags, sich dezidiert Erhard Weigel als Mitglied der korporativ verfassten Jenaer Universität und als Kollege seiner Mitprofessoren zu widmen. Dabei steht sein schwieriges Verhältnis zu den übrigen Professoren im Vordergrund, aber es sollen auch seine für den Universitätsbetrieb wichtigen Nebenämter und Zusatzfunktionen betrachtet und somit Weigel aus einer eindeutig universitätsgeschichtlichen Perspektive in den Blick genommen werden. Der zugrunde liegende Quellenbestand besteht aus den bisher kaum beachteten Akten, welche während der landesherrlichen Visitationen entstanden.2 Deshalb ist zu Anfang eine kurze Einführung in das frühneuzeitliche Universitätsvisitationswesen am Beispiel der Salana nötig, mit der die Visitationsakten als ein besonderer Bestand charakterisiert und die daraus resultierenden Erkenntnismöglichkeiten umrissen werden. Im Anschluss daran sollen die Visitationen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Hinblick auf Erhard Weigel und seine Stellung innerhalb der Korporation untersucht werden. Mit Visitationen hat sich die historische Forschung bisher vor allem im Zusammenhang mit der Konfessionalisierung beschäftigt.3 Als Aufsichtsinstrument der 1
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Zur Forschungssituation Stefan Kratochwil: Desiderate der Forschungen zu Erhard Weigel, in: Rotraud Coriand, Ralf Koerrenz (Hg.): Salzmann, Stoy, Petersen und andere Reformen. Traditionen in der Thüringer Bildungslandschaft, Jena 2004, S. 9–21. Stefan Wallentin: Fürstliche Normen und akademische „Observanzen“. Die Verfassung der Universität Jena 1630–1730 (=Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, Bd. 27), Köln 2009. Ernst Walter Zeeden, Hansgeorg Molitor (Hg.): Die Visitation im Dienst der kirchlichen Reform, Münster 1977; ders., Peter Thaddäus Lang (Hg.): Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, Stuttgart 1984; Georg Müller: Visitationsakten als Geschichtsquelle, in: Deutsche Geschichtsblätter 8 (1907), S. 287–316, 16 (1915), S. 1–31, 17 (1916), S. 279–309. Jüngst zusammenfassend hierzu: Antje Flüchter: Konfessionalisierung in kulturalistischer Perspektive? Überlegungen am Beispiel der Herzogtümer Jülich-Berg, in: Barbara Stollberg-Rillinger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005, S. 225–252, S. 244f. Für Thüringen: Joachim Bauer: Reformation und ernestinischer Territorialstaat in Thüringen, in: Jürgen John (Hg.): Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Weimar 1994, S. 37–73.
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Stefan Wallentin
Kirchenobrigkeit waren sie als ein zugleich europäisches Phänomen bereits seit dem hohen Mittelalter bekannt.4 Im Zuge der Reformation ging das Visitationsrecht über Kirchen und Klöster zuerst in den protestantischen Territorien auf die Landesherren über und es kam zu einem Aufschwung des Visitationswesens, von dem nun auch die als geistliche Korporationen geltenden Universitäten erfasst wurden. Erstmals war dies bei der Universität Tübingen der Fall, an deren Beispiel sich später die sächsischen Fürsten orientierten.5 Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts waren im Reich Visitationen der Universitäten üblich und wurden schnell zu einem zentralen Instrument der landesherrlichen Universitätsaufsicht und -reform.6 Zuletzt hat sich William Clark methodisch mit frühneuzeitlichen Universitätsvisitationen auseinandergesetzt.7 Obzwar er einen kommunikationsgeschichtlichen Blickwinkel einnahm, kam er zu wichtigen Schlüssen. So seien Hochschulvisitationen eine charakteristische Erscheinung für das frühneuzeitliche Deutschland gewesen, aus denen eine Vielzahl von Initiativen zu größeren und kleineren Universitätsreformen hervorgegangen sind. Gleichwohl habe diese Rolle der Visitationen in der universitätsgeschichtlichen Forschung bisher kaum einen Niederschlag gefunden.8 Ihre ungeheure Menge an Akten sei bis heute weitgehend unbearbeitet.9 4
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Hubert Jedin: Einführung, in: Zeeden, Visitation (wie Anm. 3), S. 4–9; Rudolf Stichweh: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung, Frankfurt a.M. 1991, S. 373. Irene Pill-Rademacher: „... zu nutz und gutem der loblichen universitet“. Visitationen an der Universität Tübingen. Studien zur Interaktion zwischen Landesherr und Landesuniversität im 16. Jahrhundert, Tübingen 1993; Hans-Wolf Thümmel: Die Tübinger Universitätsverfassung im Zeitalter des Absolutismus, Tübingen 1975, S. 107; Ulrike Ludwig: Voraussetzungen, Bestimmungen und praktische Umsetzung der Universitätsreform des Jahres 1580 an der Alma mater Lipsiensis, in: Detlef Döring (Hg.): Universitätsgeschichte als Landesgeschichte. Die Universität Leipzig in ihren territorialgeschichtlichen Bezügen, Leipzig 2007, S. 85–104; Manfred Rudersdorf: Tübingen als Modell? Die Bedeutung Württembergs für die Vorgeschichte der kursächsischen Universitätsreform von 1580, in: Armin Kohnle, Frank Engehausen (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte, Stuttgart 2001, S. 67–85. Joachim Köhler: Die Universität zwischen Landesherr und Bischof. Recht, Anspruch und Praxis an der vorderösterreichischen Landesuniversität Freiburg (1550–1752), Wiesbaden 1980, S. 72ff.; Thümmel, Universitätsverfassungen (wie Anm. 5), S. 106ff.; Peter Baumgart: Universitätsautonomie und landesherrliche Gewalt im späten 16. Jahrhundert. Das Beispiel Helmstedt, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1974), S. 23–53, hier S. 35ff.; Arno Seifert: Statutenund Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt (1472–1586), Berlin 1971, S. 117f., 355; Fritz Hufen: Über das Verhältnis der deutschen Territorialstaaten zu ihren Landesuniversitäten im Alten Reich, Diss. München 1955, S. 60ff.; Dirk Alvermann: Greifswalder Universitätsreformen 1648–1815, in: ders., Nils Jörn, Jens Olesen, (Hg.): Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums, Berlin 2007, S. 69–104, bes. S. 70. William Clark: On the Ministerial Registers of Academic Visitations, in: ders., Peter Becker (Hg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essay on Academic and Bureaucratic Practices, Michigan 2001, S. 95–140, bes. S. 95–104. Jüngst zum Stellenwert von Visitationsakten für die Schulgeschichte Julia Sobotta: Der Erkenntniswert von Visitationsprotokollen für die Schulgeschichte, in: ZVThG, Bd. 59/60 (2006), S. 91–98. Clark, Registers (wie Anm. 7), S. 104.
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Dieser Befund trifft auf die Jenaer Universitätshistoriografie in ganzem Maße zu. Während der Tätigkeit Erhard Weigels wurde die Salana fünfmal förmlich visitiert – 1669, 1679, als kleinere Revisionen in den Jahren 1681 und 1686, und 1696. Nie wieder waren in der Frühen Neuzeit die Kontrollbemühungen der Höfe mittels Hochschulvisitationen intensiver als in diesem Zeitabschnitt, obwohl man dem im überarbeiteten Statut von 1569 postulierten Vorsatz, die Salana nach dem Tübinger Vorbild jährlich zu visitieren,10 nicht ansatzweise nahe gekommen war. Nach 1700 fand nur noch eine Visitation im Jahre 1766/67 statt, die aber bereits außerhalb des hier behandelten Zeitraums liegt und eine Reihe von Reformen und Reformversuchen einleitete, in deren Ergebnis dann das Statut von 1821 erlassen wurde.11 Mit dieser Visitationsdichte steht die Jenaer Universität exemplarisch für „eine Art zweiten Schub an Verdichtung der landesherrlichen Kontrolle über die Ausbildung der Studenten an den Universitäten“12 nach dem Dreißigjährigen Krieg und damit zugleich im Kreis der umliegenden mitteldeutschen Universitäten allein. Ausweislich der älteren Literatur fanden im gleichen Zeitraum in Wittenberg nur zwei Visitationen statt, 1665 und 1727, in Leipzig nur eine einzige 1658 und eine Revision im Jahre 1704.13 Eine Besonderheit der Salana war ihre Nutritorenstruktur. Seit der ersten Teilung des ernestinischen Gesamtgebietes von 1572 waren durchgängig mehrere Herzogtümer Träger der Jenaer Universität. Die Wirksamkeit dieses Umstands bei der Durchführung der Visitationen belegt erneut die enge Verbindung von Universitätsund Landesgeschichte. Die permanenten Veränderungen in der ernestinischen Territorialstruktur hatten zur Folge, dass die Hochschulvisitationen stets unter einer anderen territorialen Konstellation und damit auch in unterschiedlicher Besetzung vorgenommen wurden. Bei den betrachteten Visitationen ordnete jeder der beteiligten ernestinischen Höfe ein oder zwei seiner höchsten Beamten an die Universität ab. Diese sogenannten Visitationskommissare trafen zu einem vereinbarten Termin in Jena zusammen und untersuchten gemeinsam die Hochschule.14 Dabei wurden vor allem die Professoren, aber auch die universitären Bediensteten, mit vorbereiteten und zuvor von den Fürsten abgesegneten Fragenkatalogen konfrontiert. Die mit umfangreichen Vollmachten ausgestatteten Kommissare nahmen aber auch selbstständig Einsicht in die Akten der 10
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Pill-Rademacher, Visitationen (wie Anm. 5), S. 36, 297. Für die kursächsischen Universitäten wurde 1580 ebenfalls eine jährliche Visitation festgelegt. Vgl. Petra Blettermann: Die Universitätspolitik August des Starken 1694–1733, Köln 1990, S. 26. Gerhard Müller: Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena, Heidelberg 2006. Steffen Kublik: Die Wissenschaftspolitik der ernestinischen Höfe und die Universität Jena um 1800, Diss. Jena 2007. Anton Schindling: Universität und Verfassung in der Frühen Neuzeit, in: Hans-Jürgen Becker (Hg.): Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur (= Beiheft zu „Der Staat“ 15), Berlin 2003, S. 51–79, hier S. 61. Walter Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg, Halle 1917, S. 354, 519; Georg Müller: Die Visitationen der Universität Leipzig zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte XXVII (1906), S. 18–59; Blettermann, Universitätspolitik (wie Anm. 10), S. 27f., 32, 39. Eine erste visitationsähnliche Hochschuluntersuchung wurde 1566 vorgenommen. Vgl. Daniel Gehrt: Ernestinische Konfessionspolitik vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577, Diss. Jena 2007, S. 193.
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Die Nutritorenstruktur der Universität Jena (Grafik: S. Wallentin)
akademischen Selbstverwaltung, prüften die Wirtschaftsverwaltung der Universität, begutachteten ihren baulichen Zustand und schlichteten Streitfragen. An anderen protestantischen Universitäten verliefen die Untersuchungen nach einem ähnlichen Muster.15 Zu den Visitationsakten gehören mithin alle bei der Planung, Durchführung, Auswertung und dem Abschluss der Visitationen entstandenen Akten. Im Falle der Salana sind sie weitgehend erhalten geblieben. Das umfangreiche Material reicht von der im Kontext der wechselhaften ernestinischen Landesgeschichte oft schwierigen Konstituierung der Visitationskommissionen, über den Ablauf der Untersuchungen bis hin zu den abschließenden Visitationsdekreten. Während der Untersuchungen führten die Kommissare Protokolle, in denen alle Aussagen und Vorkommnisse genau vermerkt wurden. Zudem sind die von ihnen für ihre jeweiligen Höfe verfassten Zwischenberichte und die an die Kommissare verlangt oder unverlangt eingereichten Eingaben und Gutachten der Universitätsangehörigen wertvolle Quellen über die Vorgänge an der Hochschule. Letztere wurden unter der Rubrik Visitationsbeylagen zusammengefasst und sind ein Bestand mit einer eigenen Charakteristik. Die Beilagen wurden nicht bei jeder Visitation nach einheitlichen Kriterien angelegt, sondern sind ein von den jeweiligen Visitationskommissaren angelegtes Konvolut von Akten, die im Laufe der Visitation angefallen oder auf Befehl der Räte angefertigt worden waren. Sie enthalten daher nicht nur die Eingaben und Beschwerden der verschiedensten Universitätsangehörigen, sondern auch eine Reihe von Bestallungen der Bediensteten, Listen der Studenten, der Stipendiaten, des Universitätsvermögens und dergleichen mehr. Damit sind die Visitationsbeilagen nicht nur zu Fragen der Selbstverwaltung, sondern auch für eine Reihe von anderen universitäts- oder wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen äußerst aufschlussreich.16 15
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Clark, Registers (wie Anm. 7), S. 97–103; Blettermann, Universitätspolitik (wie Anm. 10), S. 28f.; Pill-Rademacher, Visitationen (wie Anm. 5), S. 36ff.; Hufen, Verhältnis (wie Anm. 6), S. 64. Auf diesen multifunktionalen Aspekt von Visitationsakten für die Forschung in europäischer
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Nach Abschluss der Untersuchungen wurden schließlich Visitationsberichte für die Höfe verfasst, in denen die Visitationskommissare die Ergebnisse ausführlich zusammenfassten und werteten. Das jeweilige Visitationsdekret wurde dann auf der Grundlage der Visitationsberichte von den Höfen ausgefertigt und an die Universität überschickt. Es muss deshalb sorgfältig getrennt werden zwischen dem von den Fürsten nach der eigentlichen Untersuchung erlassenen Visitationsdekret, mit dem die künftige Verfahrensweise obrigkeitlich festgelegt wurde, und den übrigen Visitationsakten, vor allem den Protokollen und Beilagen, welche die im Laufe der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse der Kommissare versammeln. Zur Vorsicht in erster Linie mit Visitationsprotokollen hat Hansgeorg Molitor am Beispiel von Kirchenvisitationen des 16. Jahrhunderts gemahnt, da in diesen Quellen nur Dinge erwähnt seien, nach denen die Obrigkeit gezielt gefragt habe und die vor allem darauf abzielten, „das Negative, Regelwidrige festzuhalten.“17 Seine Mahnung kann auch für die Untersuchung der akademischen Visitationsprotokolle des 17. und 18. Jahrhundert einige Gültigkeit beanspruchen. Jedoch ist zu beachten, dass es sich bei den visitierten Universitätsangehörigen um eine Gruppe von Personen handelte und nicht wie bei den Kirchenvisitationen um einzelne, zumeist mit nur einem Pfarrer besetzte Pfarreien. Die Professoren und Universitätsbediensteten traten den visitierenden Räten bei weitem nicht, wie es aus heutiger Perspektive vielleicht zu erwarten wäre, als eine homogene Gruppe entgegen, sondern versuchten oft ihre internen Auseinandersetzungen über die landesherrlichen Abgesandten auszutragen. Dadurch wurde jenen, und ist es über die Visitationsakten auch dem Universitätshistoriker, ein tiefer Einblick in die internen Abläufe und Konfliktlinien der Korporation möglich. Die Obrigkeit baute bewusst auf diese Schiedsrichterfunktion, indem sie jeden Professor nicht nur zu seiner, sondern auch zur Amtstätigkeit seiner Kollegen befragen ließ und die Kommissare bei Hochschulangehörigen auch außerhalb der offiziellen Untersuchung Informationen im Rahmen privatimer Hintergrundgespräche zu gewinnen suchten.18 Den Wert der Visitationsakten für die Universitätshistoriographie hat bereits August Tholuck in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkannt.19 Auch für Jena hat Georg Mentz schon 1927 auf sie als „eine außerordentlich wertvolle Quelle für die Ge-
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Perspektive verweist bereits Marc Vernand: Die französischen Visitationsberichte des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Zeeden, Kirche (wie Anm. 3), S. 36–75, S. 60; Stanislaw Liwak: Die kirchlichen Visitationsberichte in Polen vom Ende des 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Zeeden, Kirche (wie Anm. 3), S. 119–130, S. 130. Vgl. auch Wallentin, Normen (wie Anm. 2), S. 31ff. Hansgeorg Molitor: Die Generalvisitation von 1569/70 als Quelle für die Geschichte der katholischen Reform im Erzbistum Trier, in: Zeeden, Visitation (wie Anm. 3), S. 21–36, 30, 33. Clark, Registers (wie Anm. 7), S. 96. Die Rolle informeller Beziehungen zur Ergänzung formeller Verfahren betont auch Stefan Brakensiek: Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: ders., Heide Wunder (Hg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln 2005, S. 1–21, 14. August Tholuck: Vorgeschichte des Rationalismus. Bd. 1: Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts mit besonderer Beziehung auf die protestantisch-theologischen Fakultäten Deutschlands, nach handschriftlichen Quellen. 1. Abteilung: Die akademischen Zustände. 2. Abteilung: Die akademische Geschichte der deutschen, skandinavischen, niederländischen, schweizerischen Hohen Schulen, Halle 1853/1854, S. 23.
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schichte der Universität“20 hingewiesen. Trotzdem ist das Instrument der Visitationen bisher vergleichsweise wenig untersucht worden.21 Dies liegt wohl vor allem an der teilweise abschreckenden Umfänglichkeit der Visitationsbestände, die Herbert Koch am Beispiel Jenas als „dicke Bände umständlicher Eingaben, weitschweifiger Berichte, langatmiger Gutachten und giftiger Beschwerden“22 charakterisierte. Weil sie im Zuge einer landesherrlichen Aufsichtsmaßnahme entstanden, befinden sich die Akten nicht im Universitätsarchiv, sondern in den Staatsarchiven bei den Akten der jeweiligen Landesherrschaft. Analog zur Struktur der ernestinischen Fürstentümer sind die Visitationsbestände daher heute auf verschiedene Archive verstreut. Akten zur Universität Jena liegen in den Thüringischen Staatsarchiven in Altenburg, Coburg, Gotha, Meiningen und Weimar, wobei Weimar und Gotha für den hier betrachteten Zeitraum herausgehoben werden müssen. Die Menge der in einem Archiv heute vorhandenen Akten entspricht in etwa der Bedeutung des Fürstentums für die Salana, dessen Akten in ihm überliefert sind.
WEIGEL UND DIE UNIVERSITÄT JENA Die erste Visitation, bei der Erhard Weigel als Teil des Professorenkollegiums mit zu den Untersuchten gehörte, fand vom 15. März bis zum 8. April 1669 statt. Am 26. März war Weigel an der Reihe und wurde von den ernestinischen Räten nach dem in 13 Rubriken eingeteilten und insgesamt 335 Fragen umfassenden Katalog befragt. Aus dem ersten Fragenteil – „Und zwar soviel anfänglich sein des Professoris person betrifft“23 – verzeichnet das Protokoll auf die Frage nach seinem bisherigen Lebenslauf als Antwort Weigels: Er „Sey in der Pfarr Weyden gebohren, habe hernach sein Vater, da er Ao 1628 von dannen ins Elend vertrieben worden, sich zu Wonnsiedel aufgehalten, daselbst er Ao 1632 Wegmeister und, [. . . ], Schul- und Rechenmeister worden, undt sey Ao 1637 verstorben. Er habe sich in der Schule zu Wonnsiedel biß 1643 aufgehalten, daselbst sich sehr auf das Rechnen und Schreiben geleget, auch schon in selbiger Schulen an die 50 Thlr damit erworben, und zurück geleget. Von dannen sey er auf Halle kommen, alda er das Studium Mathematicum gepflogen. Anno 1648 wenn er auf Leipzigk kommen, [. . . ], alßbaldt in ersten Jahr Collegia Mathematica gehalten Ao 1650 sey er zu Leipzig Magister worden, habe disputirt praesidendo ehe seyn Jahr ausgewest, [. . . ], Ao 1652 sey er unvermuthet nach Hoffmanni Todt denominiret worden undt zu ausgangs des Jahres seine Vocation erlanget, da er Ao 1653 anhero gezogen”.24
Nach seiner Ankunft in Jena hat der junge Gelehrte, wie durch das Protokoll bestätigt wird, schnell eine beeindruckende Karriere gemacht und war von Herzog Wilhelm von Sachsen-Weimar zum Hofmathematiker ernannt worden, wofür er 100 Gulden an 20 21 22 23 24
Georg Mentz: Eine Visitation der Universität Jena vom Jahre 1696, in: Festschrift für Alexander Cartellieri, Weimar 1927, S. 77–88, hier S. 77. Notker Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, München 2003, S. 119. Herbert Koch: Deutsche Vorlesungen an der Thüringischen Landesuniversität im Jahre 1679, in: Thüringer Fähnlein 1935, S. 323–325, hier S. 323. ThStA Altenburg, 4534, Bl. 245v–246r. Ebd.
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zusätzlicher Besoldung erhielt.25 Zugleich war Weigel innerhalb der akademischen Selbstverwaltung teils aufgrund seiner mathematischen Kenntnisse, aber auch mit deutlicher Förderung der Weimarer Landesherrschaft in eine Reihe von Funktionen gelangt. So bekleidete er die Inspektur für die Universitätsgebäude und hat in dieser Funktion Mitte der 1650er Jahre eine Reihe von Umbaumaßnahmen an den Kollegiengebäuden eingeleitet, wozu nicht zuletzt die Einrichtung eines Observatoriums für seine eigenen Lehr- und Studienzwecke gehörte. Zugleich war er als Inspektor des Konviktoriums mit der Aufsicht über die Bediensteten der Speiseanstalt und ihre Alumni betraut. Hierfür wohnte er kostenfrei mit seiner Familie im Kollegienkomplex und durfte den im Eingangsbereich befindlichen Buchladen sowie einige Stuben vermieten.26 Zusätzlich war Weigel noch vom Weimarer Herzog zur Aufsichtsperson über die Weimarer Stipendiaten ernannt worden. Dass bedeutete, dass er deren Lebenswandel und Studienfleiß in Jena zu überwachen hatte und den Studenten bei Wohlverhalten Atteste ausstellte, auf deren Vorlage hin jene dann in Weimar ihr Stipendium ausgezahlt bekamen. Seine Lehrveranstaltungen waren nach Weigels eigener Aussage in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts gut frequentiert. So gab er zu Protokoll, er habe neulich ein Privatkollegium gehabt, „darinnen über 50 Studiosis“27 gewesen seien. Drei Privatkollegien, „alß Fortification, Astronomicum et Panto Mathematicum”, habe er kurz vor der Visitation beenden können. In seiner öffentlichen Vorlesung behandele er zur Zeit „Doctrinam de ratione et proportione”. Anfangs wären über 100 Zuhörer gekommen, als er jedoch angefangen habe zu rechnen, „verlohren sie sich baldt. Es were keine Lust zu diesem studio, und zwar am aller wenigsten bey denen von Adel, die es vor andern tractiren solten.“ Auch könne, so klagte er über die mangelhafte Vorbildung der Studenten, „unter 100 [...] – kaum Einer das 1 mahl 1 richtig.“ Demnächst, so Weigels Plan, werde er Geometrie lesen und kündigte zudem an, er wolle, „wenn er sein Hauß gebauet, in mehrern anweisung thun, wie man in einem Hause Oeconomice etwas anrichten und bauen könne, Alß zum Exempel mit dem Keller, daß man die Fäßer hinunter laßen undt nicht schroten dürffe, das Waßer in die Höhe undt obern Gemächer zu bringen u. Spritzwergk anzurichten, auf dem Dache in Feuersnöthen und dergleichen.”28
Auf die ausdrückliche, allen Professoren gestellte Frage der Kommissare, ob auch die aristotelischen Schriften gelehrt würden, gab er als Antwort, „in seiner Profession habe Aristoteles wenig zuschaffen”, da er nach den Statuten auf Euklid und Plinius gewiesen sei. Während seiner Befragung überreichte Weigel zudem den Visitationskommissaren zwei kurze Denkschriften.29 Im zwanzigseitigen Kurze[n] Bericht von der Mathematik legte er sein Verständnis von der Mathematik als akademischer Disziplin dar, 25
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Ebd., Bl. 246v. Vgl. zur Berufung Stefan Kratochwil: Die Berufung Erhard Weigels an die Universität Jena, in: Reinhard E. Schielicke, Klaus-Dieter Herbst, ders. (Hg.): Erhard Weigel – 1625–1699. Barocker Erzvater der deutschen Frühaufklärung, Beiträge des Kolloqiums anläßlich des 300. Todestages am 20. März 1999 in Jena, Thun, Frankfurt a.M. 1999, S. 91–103. ThStA Altenburg, 4534, Bl. 248r. Ebd., Bl. 247r. Vgl. auch ThHStA Weimar, A 5519, Bl. 166v. ThStA Altenburg, 4534, Bl. 262r. Jüngst ediert bei Stefan Kratochwil (Hg.): Philosophica mathematica. Die Philosophie im Werk von Erhard Weigel, Jena 2005, S. 123–138.
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die er mit ihren Teilgebieten der Mechanik, der Arithmetik und der Geometrie als Anwendungswissenschaft verstand, welcher bisher im Fakultätssystem nicht der ihr gebührende Platz eingeräumt worden sei. Denn die Mathematik ist, so Weigel weiter: „so wol als die Medicin ein absonderliches Haupt-Studium, weil es eben auch einen absonderlichen dem Gemeinen Wesen hochnüzlichen und notwendigen Zweck, nemlich der eußerlichen Leibes Nothdurft zuhelfen, vor sich hat, und keines Wegs als ein Hülffs-Studium und VorbereitungsLehr auff ein ander Haupt-Studium gerichtet ist, oder mit demselben concurrirt; so hat man ihr doch auf Teutschen Universitäten keine absonderliche Lehrzunft und Facultät allein eingeräumet.“30
Da mathematische Studien auch nach seiner Ansicht gemeinhin als wenig lukrativ angesehen wurden, forderte er öffentliche Ämter für mathematisch gebildete Universitätsabsolventen, bei denen sich etwa Handwerker oder Wegebaumeister in schwierigen Fragen ähnlich wie „die WundAerzte, Chirurgen, Apotheker, und dergleichen, bey dem StadtPhysico, [...], Rathes erholen könten.“31 Dem Kurze[n] Bericht von der Mathematik schloss Weigel einen „Unmaßgebliche[n] Vorschlag, wie dem Studio Mathematico zuhelffen, und des Landes Wohlfarth zubefördern“ sei, an. In ihm entwarf er einen Kursus mathematischer Lehrinhalte von den Trivialschulen bis hin zu den Universitäten.32 Auf ersteren wollte er bereits in den untersten Klassen das Einmaleins unterrichten lassen, da er aus dreißigjähriger Unterrichtspraxis wisse, dass Versäumnisse in der frühen Jugend im Erwachsenenalter kaum noch aufzuholen seien. In der nächsten Klasse sollten dann die Grundrechenarten folgen, und in der dritten die Erläuterung des Dreisatzes. Auf den Gymnasien könnten vor allem aus der Geometrie und Arithmetik analog zu den anderen philosophischen Disziplinen „zum wenigsten die vornehmsten Termini, Definitiones und gemeinsten Praecepta der Jugend bekannt gemachet“ werden. An die Universitäten wiederum sollte jede Stadt einige ihrer Kinder entsenden, um sie hernach in einem besoldeten Amt anzustellen, damit sie „derselben Stadt Wohlfarth in Defension und Bau-Sachen, Mühlen, Weg und Waßerleitung, meßungen, Handwercks-Verbeßerung und dergleichen, [...], beobachten mögen.“33 Besonders talentierte Studenten könnten zudem auch an ausländische Universitäten geschickt werden und anschließend an den fürstlichen Höfen zum Guten des ganzen Landes wirken. Die Mathematikprofessoren aber, so Weigel zum Schluss, müssten endlich eine der Wichtigkeit ihrer Disziplin angemessene Besoldung und auch Zugriff auf die nötigen Instrumente erhalten. Während Weigel demnach im Vergleich zu anderen Professoren durchaus guten Erfolg bei den Studenten hatte und es ihm auch nicht an Gunstbeweisen seitens der Herrschaft fehlte, so war er im Kreise seiner Professorenkollegen jedoch bereits in seinen ersten Jenaer Jahren erheblich unter Druck geraten. Ein in den Visitationsbeilagen von 1669 abschriftlich erhaltener Revers zwischen dem Mathematiker und den übrigen Professoren der Philosophischen Fakultät aus dem Jahre 1658 belegt, dass es bereits wenige Jahre nach dem Antritt seiner Professur öffentlichen Streit um Lehr-
30 31 32 33
ThStA Altenburg, 4537, Bl. 35v. Ebd., Bl. 38. Ebd., Bl. 45r–46r. Ebd., Bl. 45v.
„Weigelius mit seinen Grillen“ – Erhard Weigel und die Universität Jena
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fragen gegeben hatte.34 Stein des Anstoßes war Weigels in jenem Jahr veröffentlichte Schrift Analysis Aristotelica ex Euclide restituta, aufgrund derer seine Fakultätskollegen ihn des Eingriffs in ihre Lehrgebiete ziehen. Bei einer Anhörung der Parteien durch den Gesamtsenat konnte der Streit 1658 aber beigelegt werden. Weigel erklärte damals, er habe lediglich ein Buch mit mathematischen Demonstrationen verfassen, nicht aber in andere Disziplinen ein- und die Lehrweise seiner Kollegen angreifen wollen. Außerdem verpflichtete er sich, seinem Werk eine entsprechende Präfation voranzustellen, während seine Fakultätskollegen hingegen gelobten, friedfertig mit ihm umzugehen und weder ihn noch sein Buch in Disputationen oder anderweitig anzugreifen.35 Bei der Visitation 1669 zeigte sich nun jedoch, dass die Intention des Ausgleichs nicht gefruchtet hatte. Vor allem der Professor für Physik Kaspar Posner beschwerte sich während seiner Befragung vehement, dass Weigel in sein Lehrgebiet einfalle und außerdem „der Jugend selzame neuerliche principia inculire“,36 womit er sie von den aristotelischen Schriften abbringe. Auch die Examensprotokolle würden bezeugen, dass Weigel Bereiche der Physik, Metaphysik und Logik geprüft habe. Posner unterlegte dies mit verschriftlichten Gravamina, die er den Visitatoren nachträglich übergab.37 Weigel wiederum verteidigte sich während der Befragungen und auch durch ein nachträgliches Schreiben, in dem er Posner des Neides bezichtigte, denn er, Weigel, habe durch Fleiß „einen Beypfennig erwerben können“, während hingegen beim Physiker niemand die Kollegien besuche.38 Zugleich gestand er jedoch ein, dass ihn der augenscheinlich lang schwelende Konflikt in seinen wissenschaftlichen Möglichkeiten stark eingrenzte und auch psychisch stark belastete. „Weil Ihme solche Widersetzlichkeit sehr zu Gemüthe gehet, hat Er nolens volens bisher sich zurücke ziehen, und also viel disputationes zuhalten, oder sonst mehr nützliches vor sich heraus gehen zulaßen, bedencken tragen müssen“.39
Diese Klage verband Weigel deshalb zugleich mit einer Bitte um fürstlichen Schutz vor künftigen Attacken. Die Visitationskommissare ließen sich jedoch von keiner Partei gänzlich in den Dienst nehmen und wiesen die Streitenden mündlich an, sich künftig kollegial zu verhalten und bei ihren in den Statuten festgelegten Lehrgebieten zu bleiben. Weigel selbst wurde von ihnen noch einmal auf die Vereinbarung von 1658 aufmerksam gemacht.40 Mit diesem Schluss endete die Visitation von 1669 in dieser Angelegenheit. Bei der nächstfolgenden Hochschuluntersuchung zehn Jahre darauf zeigte sich schließlich, dass sich im Laufe des dazwischen liegenden Jahrzehnts der Konflikt nicht entspannt, sondern weiter verschärft hatte. Die bei der Visitation von 1679 zu Tage tretenden Gräben schienen nunmehr unüberbrückbar. Erneut wurden massive 34 35 36 37 38 39 40
ThStA Altenburg, Schönbergsche Sammlung, Nr. 36, Bl. 155r–156r. Ebd., Bl. 156r. ThHStA Weimar, A 5515, Bl. 234r–234v. ThStA Altenburg, 4537, Bl. 30r–32r. ThStA Altenburg, Schönbergsche Sammlung, Nr. 34, Bl. 542r. Ebd., Bl. 546v. ThHStA Weimar, A 5515, Bl. 234r.
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Vorwürfe nicht nur von Seiten seiner Fakultätskollegen, sondern auch von den Theologieprofessoren gegen Weigel erhoben. Ein Memorial der Philosophischen Fakultät an die Kommissare enthält eine lange Liste von Anschuldigungen, die mit Passagen aus Weigels Vorlesungen und Druckschriften belegt werden.41 Es ging dabei wiederum um Lehreingriffe, aber vor allem um das jenen zugrunde liegende ganzheitliche Disziplinverständnis Weigels, der, so der Vorwurf, als Mathematiker den Anspruch erhebe, Professor aller philosophischen Disziplinen zu sein. Das Schriftstück schließt mit der Bitte, dass durch die Visitatoren Weigel, der nun so viele Jahre zum Schaden der Jugend gewirkt habe, alle derartigen Einlassungen strengstens verboten werden sollten. Von den Theologen kam der Vorwurf, Weigel habe in seinen Kollegien „aus denen Principiis Arithmeticis das Mysterium Trinitatis“ demonstriert und „das Vater Unßer nach gewißen Zahlen und Tetractypher Art eingerichtet und Verkehrt“.42 Seinen geringen Rückhalt unter den Kollegen belegt etwa die Aussage des von den Auseinandersetzungen kaum berührten Mediziners August Heinrich Fasch, der auf die Frage, ob die Professoren ordnungsgemäß ihre Disziplinen lehrten, laut Visitationsprotokoll die Antwort gab, dies sei bei allen der Fall: „Es müste denn Weigelius mit seinen Grillen seyn.“43 Gerade der Vorwurf merkwürdiger religiöser Auffassungen wog in der Zeit des neu aufflammenden Synkretismusstreits, als an der konfessionellen Zuverlässigkeit einer Universität kein Zweifel zugelassen wurde,44 schwer und bewog die Kommissare, klar Stellung zu beziehen und die nun seit mehr als 25 Jahren schwelenden inneruniversitären Auseinandersetzungen um Weigels Lehrart mit einem Machtwort endgültig zu beenden. Sie ermahnten Weigel scharf und zwangen ihn, sich mit einer erniedrigenden Erklärung für seine Irrtümer zu entschuldigen und seine vollständige Niederlage schriftlich anzuerkennen. Seine umfangreichen Verteidigungsschriften, in denen er den Kommissaren sein Verständnis der Mathematik als akademischer Disziplin nochmals erklärte, sind außerdem angefüllt mit bitteren Klagen über seine Professorenkollegen, die seine Schüler verfolgten, im Alltag nicht mit ihm sprächen, ihn öffentlich angriffen und auf das reine Zählen und Messen beschränken wollten, während er sich bemühe, „den rechten Kern der Mathematic von den Schaln zu unterscheiden, und ihren Nutzen zu weisen.“45 Dies half Weigel jedoch nichts, er hatte offensichtlich seinen einstigen Rückhalt unter den Nutritoren verloren. Die Universitätsrevision von 1681, in deren Fragenkatalog ausdrücklich aufgenommen worden war, ob der Mathematikprofessor bei seinem Lehrgebiet geblieben sei, ergab dann, dass es seit der letzten Visitation diesbezüglich keinerlei Klagen mehr gegeben hatte.46 Damit liegt die Vermutung nahe, dass Weigels in den achtziger Jahren forciert vorangetriebener Ausbau seiner Tugendschule zumindest auch zum Teil von der Niederlage in den Lehrstreitigkeiten von 1679 bedingt war. Seine Auffas41 42 43 44
45 46
ThHStA Weimar, A 5519, Bl. 118r–131v. Ebd., Bl. 149r. Ebd. Karl Heussi: Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1953, S. 137f; Rudolf Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, Bd. II, Weimar 1947, S. 225f.; Wallentin, Normen (wie Anm. 2), S. 102. ThHStA Weimar, A 5519, Bl. 133r. Ebd., Bl. 370v–371r.
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sungen wie bisher im Rahmen seiner akademischen Lehrveranstaltungen zu vertreten war ihm verwehrt, weshalb folgerichtig der Rückzug in den privaten Raum erfolgte und er nun alle Kraft der in seinem Privathaus angesiedelten Reformschule widmete.47 Weigel selbst wurde 1681 nur im Hinblick auf seine Aufsichtsämter befragt. Dabei zeigte sich, dass er inzwischen seine Inspektorenämter auch nicht mehr in früherem Ausmaß versah. Es gab etwa keine Weimarer Stipendiaten mehr, auch das von fürstlichen Sonderzuwendungen weitgehend abhängige akademische Bauwesen lag darnieder.48 Jedoch wurde ihm von den Kommissaren der Auftrag erteilt, den Neubau des medizinischen Auditoriums zu projektieren und einen Kostenvoranschlag hierüber anzufertigen. Auch sollte er eine Liste aller mathematischen Instrumente anfertigen, die sich in seinem Besitz befanden, aber Eigentum der Universität waren. Die Universitätsrevision von 1681 war die letzte Universitätsaufsichtsmaßnahme, während der Weigel persönlich in Jena anwesend war. Bei der nachfolgenden Revision im August 1686 war Weigel dem Bericht der Kommissare zufolge nicht in Jena. Obwohl er nur für „wenige Wochen permission auf Nürnberg erlanget, so ist er doch von Weyhnachtn bis dato noch nicht zurück, und ist deßelben zurückkunft noch ungewiß.”49 Deshalb finden sich in den Akten kaum Informationen zu Weigel. Sein Rückzug aus den Verwaltungsämtern schien sich in den zurückliegenden Jahren weiter fortgesetzt zu haben. Er wohnte mit seiner Familie nicht mehr in der von den Kommissaren besichtigten Inspektorenwohnung im Kollegium, weshalb auch das darüberliegende Observatorium nicht mehr benutzt wurde und verfallen war. Seine Aufsicht über das Konvikt, die er nach wie vor ausübte, war nach Auskunft der übrigen Professoren weniger intensiv als in den Jahrzehnten davor. Dieser Eindruck und nicht zuletzt Weigels lange Abwesenheit im Untersuchungsjahr führten zu Überlegungen unter den Nutritoren, ihm dieses Amt zu entziehen und den Philosophen Johann Andreas Schmidt, dem Weigel interimsweise die Inspektur und mit ihr die Inspektorenwohnung übertragen hatte, als neuen Inspektor des Konvikts einzusetzen.50 Dieses Vorhaben konnte Weigel aber nachfolgend mit einem Verweis auf seine Bestallung abwehren. So wurde Schmidt vorerst nicht mit einer Bestallung versehen und Weigel behielt – hierum war es ihm vor allem gegangen – die an die Inspektur gebundenen Mieteinnahmen des Buchladens. Bei der großen zweieinhalbmonatigen Universitätsvisitation von 1696 war Weigel wiederum nicht in Jena. Auch schien seine Abwesenheit inzwischen permanent geworden zu sein, da er den Aussagen der übrigen Professoren zufolge in den zurückliegenden Jahren oft über längere Zeiträume hinweg nicht in der Saalestadt weilte.51 So erwähnt etwa der Mediziner Rudolph Wilhelm Krause einen längeren Aufenthalt Weigels in Dänemark.52 Sein Schüler Georg Albrecht Hamberger ver47 48 49 50
51 52
Vgl. Leonard Friedrich: Pädagogische Perspektiven zwischen Barock und Aufklärung. Die Pädagogik Erhard Weigels, in: Schielicke, Erzvater (wie Anm. 25), S. 39–68. ThHStA Weimar, Bl. 399v–401v. ThHStA Weimar, A 5525, Bl. 73v–74r. Hierzu auch Otto Knopf: Die Astronomie an der Universität Jena von der Gründung der Universität im Jahre 1558 bis zur Entpflichtung des Verfassers im Jahre 1927, Jena 1937, S. 67f.; ThHStA Weimar, A 5524, Bl. 303v, 304r–306r. ThHStA Weimar, A 5527, Bl. 118r. Ebd., Bl. 73r.
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trat Weigel inzwischen bereits dauerhaft auf der Professur, denn Hamberger wurde als Mathematikprofessor von den Visitationskommissaren wie selbstverständlich in die Untersuchung mit einbezogen und wie die übrigen Ordinarien befragt. Erhard Weigel spielte damit noch zu seinen Lebzeiten an seiner Jenaer Universität nur eine Nebenrolle. Es lässt sich damit zusammenfassen, dass mit Blick auf Weigels Stellung in der Universität Jena dem kometenhaften Aufstieg des jungen Gelehrten ein lang anhaltender und schleichender Niedergang folgte. Nach dem endgültigen Zerwürfnis mit seinen Professorenkollegen und der Niederlage in den internen Lehrstreitigkeiten 1679 scheint Weigel seine Auffassungen im Rahmen der akademischen Lehre weit vorsichtiger vertreten und schrittweise sein Haupttätigkeitsfeld auf den außeruniversitären Bereich verlegt zu haben, wie der Aufbau der Tugendschule und die vielfältigen auswärtigen Auftritte und Ehrungen belegen.53 In den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens hielt er sich über lange Zeiträume hinweg nicht mehr in Jena auf. Die Universität Jena, die ihn heute als einen ihrer herausragendsten Gelehrten rühmt, war Erhard Weigel damit eine oft recht ungastliche Heimstatt.
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Johann Dorschner: Erhard Weigel in seiner Zeit, in: Schielicke, Erzvater (wie Anm. 25), S. 11–37, hier S. 28.
Helmut G. Walther BEMERKUNGEN ZUR ROLLE DER MATHEMATIK ALS DISZIPLIN IM WISSENSCHAFTSBETRIEB DES 17. JAHRHUNDERTS AN DER ACADEMIA NORICA, ZU ERHARD WEIGEL UND ZU SEINEN IN ALTDORF LEHRENDEN SCHÜLERN RAHMENBEDINGUNGEN Bekanntlich gelang es dem Rat der Reichsstadt Nürnberg nach der Gründung eines Gymnasium illustre in Altdorf 1575, also einer Hohen Schule, auch im 17. Jahrhundert in mehreren Versuchen nicht, seine Hohe Schule mit einem Privileg des Kaisers in eine Volluniversität zu verwandeln. Erst 1696 war man mit dem Privileg Leopolds I. für ein Promotionsrecht in Theologie am Ziel.1 Welche Schwierigkeiten auf dem Schritt zur Volluniversität dabei zu überwinden waren, zeigt exemplarisch die Stellungnahme des Reichshofrats zum Antrag des Magistrats der Reichsstadt Straßburg von 1566, deren Gymnasium illustre als Hochschule durch ein kaiserliches Privileg aufwerten zu lassen: Der Reichshofrat erweiterte in seinem Gutachten für Kaiser Maximilian II. von 1566 die bestehende Typologie der Universitäten im Heiligen Römischen Reich ganz charakteristisch.2 Er schuf hier den Neologismus der semiuniversitas. Dies meinte nun nicht nur ein Partikularstudium älteren Typs im Gegensatz zum privilegierten studium generale, das sich durch humanistische Bildungsreformen und durch curriculare und didaktische Neuorientierungen an den studia humanitatis in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Form des Gymnasium illustre verändert hatte.3 Hier schuf das dem Gutachten des Reichshofrats folgende Maximiliansprivileg von 1566 einen speziellen auf die Reichsstädte zugeschnittenen Hochschultyp, der speziell auf die städtischen Bildungsbedürfnisse einging. Dieser neue Typus der Hochschule verzichtete auf die Gewährung der traditionellen Autonomie einer Rechtsgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, der sich ja im Begriff der universitas als Terminus für 1
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Überblick über die Entwicklung der Altdorfer Hohen Schule bei Anton Schindling: Straßburg und Altdorf – Zwei humanistische Hochschulgründungen von evangelischen freien Reichsstädten, in: Peter Baumgart, Notker Hammerstein (Hg.): Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (= Wolfenbütteler Forschungen 4), Nendeln 1978, 149–189. Für die Gründungsphase und eine Analyse der Binnen- und Sozialstruktur sowie der Lehrverhältnisse nun auf umfänglicher Quellenbasis Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623) (= Contubernium 54), Stuttgart 2000. Wien HHSTA, RHR, Prot,. Rer. Res XVI. Jh., vol. 27a, Bl. 221b. Dazu Schindling, Straßburg (wie Anm. 1), S. 158 mit Anm. 24. Zur Entwicklung der verschiedenen Hochschultypen seit dem Hochmittelalter in Westeuropa und im Reich Helmut G. Walther: Die Grundlagen der Universitäten im europäischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 63 (2009), 75–98.
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eine sich selbst verwaltende und personell ergänzende korporativrechtliche Einung ausdrückte. Mit der Einschränkung des universitas-Charakters wurde einerseits zwar der hohe wissenschaftliche Ausbildungsanspruch dieser Hochschule aufrechterhalten, andererseits ermöglichte sie nun eine strenge Kontrolle des Lehrbetriebs durch die städtische Obrigkeit, wie sie dem gerade in der Reformationsepoche gewachsenen Ordnungs- und Disziplinierungsanspruch gegenüber einer einheitlichen städtischen Bürgerschaft entsprach. Schon vor Jahren hat deshalb Anton Schindling darauf aufmerksam gemacht, dass die Entwicklung dieses neuen Hochschultyps nicht allein unter der Perspektive der zweifellos zunächst tonangebenden Schul- und Bildungsentwicklung im evangelischen Raum des Reiches gesehen werden dürfe.4 Wenn man die Etablierung der Jesuiten und ihres Schulsystems in Städten betrachte, könne man eigentlich genau die gleichen Rahmenbedingungen und Entwicklungen beobachten. Die Jesuiten verzichteten für die Ausbildungsziele ihres Schulsystems in der Regel auf eine Privilegierung in den Formen des traditionellen Universitätssystems, das eben von seiner traditionellen korporativen Autonomie seit dem Hochmittelalter geprägt war. Auch dort, wo jesuitische Hochschulen dann dennoch als Universitäten privilegiert wurden, lässt sich dafür zumeist ein besonderer Anlass nennen. Typisch scheint hier auch die Situation im Elsass zu sein, als die 1580 gegründete Jesuitenschule im bischöflich-katholischen Molsheim 1617 durch kaiserliche und päpstliche Privilegien zur Universität erhoben wurde. Faktisch wurde das für alle vier Fakultäten gültige Promotionsrecht nur in der Artisten- und Theologischen Fakultät genutzt. Auch das neu gegründete Dillingen stellt einen – hier nicht zu untersuchenden – Sonderfall dar. Heidelberg und Ingolstadt dagegen sind von den Jesuiten übernommene Traditionsuniversitäten. Die Etablierung der Jesuiten in Köln in der Artistenfakultät durch die Übernahme der Drei-Kronen-Burse stellt einen weiteren Sonderfall dar.5 Neben Melanchthons Anregungen im hessischen Fall, die bei der Etablierung einer neuen Hochschule durch Landgraf Philipp in Marburg schließlich zur Duldung und Anerkennung durch Karl V. als Universität, wenn auch ohne kaiserliches Privileg führten,6 war es auch in Nürnberg 1525 zur Errichtung eines solchen humanisti4 5
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Schindling, Straßburg (wie Anm. 1), S. 159. Ebd. S. 178ff.; Harald Dickerhof: Die katholische Gelehrtenschule des konfessionellen Zeitalters im Heiligen Römischen Reich, in: Wolfgang Reinhard Heinz Schilling (Hg.): Katholische Konfessionalisierung, Münster 1996; Theodor Kurrus: Die Jesuiten an der Universität Freiburg im Breisgau 1620–1773, 2 Bde. Freiburg i.B. 1963, S. 1977; Jean-Marie Valentin: Le Théâtre des Jésuites dans le pays de langue allemande (1554–1680), 3 Bde., Frankfurt a.M. u.a. 1978; Karl Erlinghagen: Katholische Bildung im Barock, Hannover 1972; Erich Meuthen: Kölner Universitätsgeschichte Bd. 1, Köln 1988; Notker Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte), München 2003; ders.: Die historische und bildungsgeschichtliche Physiognomie des konfessionellen Zeigtalters: in: ders. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. I: 15.–17. Jahrhundert, München 1996, S. 57–101. Vgl. auch das Urteil Schillings: „Die Jesuitenkollegien gehören somit zwar zum Lehranstaltstyp des gymnasium illustre, aber nicht zu dem der ,Semiuniversität‘“ (Schilling, Straßburg, Anm. 1, S. 196). Zur Marburger Entwicklung Helmut G. Walther: Die Gründung der Universität Jena im Rahmen der deutschen Universitätslandschaft des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 135 (1999), S. 101–121; ders.: Die lutherischen Universitäten Marburg und Jena im Vergleich, in: Heimat Thüringen, Jahrgang 17, Heft 4 (2010), S. 23–28.
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schen Gymnasium illustre als sogenannte Obere Schule gekommen, die freilich in Konkurrenz zu den weiter bestehenden städtischen Lateinschulen nicht reüssieren wollte.7 In Straßburg dagegen, das sich in seinem Reformationsansatz wie den damit verbundenen Bildungs- und Erziehungszielen sowohl vom Lutherthum in Wittenberg, dem philippistischen Humanismus, und wenig später auch der calvinistischen Ausrichtung unterschied, wählte man einen durch Martin Bucer als Reformator und vom Stattmeister Jakob Sturm gleichermaßen beeinflussten Weg zur Errichtung eines Gymnasiums, das durch den Antrag auf kaiserliche Privilegierung von 1566 zugleich als Hochschulzentrum reformatorischer Bildung nicht nur für den elsässischen, sondern auch im nordschweizer und pfälzischen Raum westlich des Rheins gedacht war.8 Dass schließlich die Straßburger von ihrer Vorstellung einer ohne traditionelle akademische Autonomie agierenden städtischen Hochschule abwichen und sie 1621 sich ihre Hochschule als normale Universität durch Ferdinand II. privilegieren ließen, erwies im Nachhinein, dass offensichtlich das vom aus Paris berufenen Ramisten Johannes Sturm für Straßburg konzipierte System eines nach humanistischen Grundsätzen von der Rhetorik und ihrer topologischen Wissenschaftsordnung gestalteten Curriculums und seiner didaktischen Umsetzung (methodus Sturmiana) letztlich dem Gewicht der aristotelisch-scholastischen von der Dialektik her bestimmten Topologie des Curriculums der Traditionsuniversitäten nicht gewachsen war.9 Altdorf als Zweitversuch des Rats der Reichsstadt Nürnberg im Jahre 1575, ein an reformatorischen städtischen Bildungsnormen ausgerichtetes Gymnasium illustre außerhalb der städtischen Mauern quasi in der Funktion als Landesherr in einem der vier Landstädtchen seines Territoriums zu errichten, blieb dagegen eine Sonderentwicklung, gerade wenn man in vergleichender Perspektive die Hochschulgründungen im evangelisch-reformatorischen wie im katholischen Bereich des Reichs betrachtet. Die Gleichzeitigkeit der Gymnasiengründungen in Straßburg und Nürnberg von 1525 war kein Zufall. Die Unterschiedlichkeit der dabei umgesetzten curricularen Vorstellungen einerseits von Philipp Melanchthon (in Nürnberg) und andererseits von Martin Bucer (in Straßburg) war freilich beides Mal Programm. Aber es kam natürlich auch auf die didaktische Umsetzung des Programms an, die für die Nürnberger Obere Schule jedoch letztlich ausblieb. Namen von renommierten Gelehrten als akademisches Aushängeschild reichten nicht. Das galt auch für die illustren Namen von Joachim Camerarius und des zunächst berufenen Eobanus Hessus. Nürnbergs neuem Gymnasium ließ sich dadurch nach außen nicht genügend Reputation und anhaltender Erfolg bescheren.10 Dazu trug sicherlich die Besonderheit der Stellung Nürnbergs innerhalb der evangelischen Reformationslandschaft bei. Der ausgeprägte Philippismus in der Stadt mit 7 8
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Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), S. 51ff. Zusammenfassend Schindling, Straßburg (wie Anm. 1), S. 150f; ausführlich ders.: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt – Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538 bis 1621 (= Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 77), Wiesbaden 1977. Schindling, Straßburg (wie Anm. 1), S. 151f. (Scheitern der methodus Sturmiana ); bislang unersetzt in seinem Wert bleibt Charles Schmidt: La vie et les travaux de Jean Sturm, premier recteur du Gymnase et de l’Académie de Strasbourg, Straßburg 1855 (Reprint 1970). Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), 51ff.
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seiner Ablehnung der Konkordienformel auch nach 1580 isolierte notwendigerweise auch das neugegründete Gymnasium in Altdorf. Der als erster Rektor berufene Schüler des Straßburgers Johannes Sturm Valentin Erythraeus scheiterte recht schnell.11 Der betonte Ramismus des als Mathematiker berufenen zweiten Rektors, Johann Thomas Freigius, erfuhr kräftigen Widerstand von Seiten der Theologen wie auch der Schulbehörde des Rates, der Scholarchen. Nach der verbesserten kaiserlichen Privilegierung von 1581 verboten die Scholarchen ausdrücklich die methodus docendi Ramea, woraufhin der Basler Mathematiker als Rektor zurücktrat.12 Die bislang durchaus ähnliche Institutionalisierung, einerseits der durch Präzeptoren geleiteten Lateinschulklassen als Propädeutikum und andererseits des öffentlichen Vorlesungsbetriebs von Professoren, in den Gymnasien von Straßburg und Altdorf versagte im Nürnberger Fall. Auch als man schon wenige Jahre nach der Altdorfer Gründung dann seit 1578 das praktizierte Propädeutikum der Lateinklassen einschränkte und dafür aufgrund des freilich im Vergleich zu Straßburg inzwischen minderen Kaiserprivilegs Rudolfs II. (mit dem nur für die Artistenfakultät bewilligten Promotionsrecht) den Vorlesungsbetrieb in Altdorf nun auf die insgesamt vierzehn eingerichteten Lehrstühle erweiterte und auch äußerlich nach Universitätsbrauch zu einem jährlich wechselnden gewählten Rektor überging, änderte dies nichts daran, dass die Altdorfer Hochschule im Privileg ausdrücklich in den nachrangigen Status einer Partikularschule verwiesen wurde. Ausdrücklich ließ Rudolf II. im Altdorfer Privileg vermerken, dass die „scola et gymnasium Norinbergensium privilegia et jura universalis Academiae“ nicht usurpieren dürfe.13 Trotz aller Überlegungen und Vorstöße von Seiten einzelner Altdorfer Professoren verzichtete der Nürnberger Rat in den Regierungszeiten Rudolfs II. (also bis 1612) und Matthias (1613–1619) auf weitere Verhandlungen zur Verbesserung des Privilegs am Kaiserhof.14 Erst nach dem in neuen Verhandlungen von Ferdinand II. schließlich erweiterten Privileg von Oktober 1622 durfte man in Altdorf nun wenigstens auch in Jura und Medizin, wenn 11 12 13
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Ebd. Schindling, Straßburg (wie Anm. 1), S. 186 mit Anm. 56;¸Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), S. 72f., 143ff., 193–204, 292ff. (Rolle von Freiges in Altdorf). Wien HHSTA, RHR, Conf. Priv. lat.Exped., Kart 9, Konv. 1, Nr. 2: Das Rudolfinische Privileg mit Ausstellungsdatum des Nov. 1578 ist hier in das Matthiassche vom 26.3.1613 inseriert (Bl. 7r–11r). Reichsvizekanzler Dr. Siegmund Viehäuser unterrichtete den Nürnberger Rat zum Jahresende 1578, dass der Altdorfer Vorlesungsbetrieb „intra terminos einer ParticularSchul“ zu verbleiben habe (StAN, Reichsst. Nbg. SIL 303, Nr. 204). Nach mühevollen Verhandlungen erreichten die Nürnberger 1579 eine Umformulierung des Privilegs, das nun den Partikularschulverweis nicht mehr enthielt, vielmehr die Nürnberger dazu verpflichdete, keine Volluniversität anzustreben. Das neue Privileg wurde gleichwohl wiederum auf das ursprüngliche Datum des 26.11.1578 ausgefertigt. Vgl. dazu Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), S. 73. Ich habe Herrn Dr. Ulrich Rasche (derzeit Wien) außerordentlich für die für mich unternommene Foliierung und Verzeichnung des die Altdorfer Hochschule betreffenden Aktes des RHR im HHSTA Wien zu danken. Herr Rasche stellte mir auch Fotoaufnahmen der dort archivierten Protokolle und Privilegienentwürfe zur Verfügung. Privilegbestätigungen durch Matthias vom 26.3.1613 (Wien, HHSTA RHH, Conf. Priv. lat. Exped., Kart 9, Konv. 1, Nr.2, Bl. 6r–13v) und Ferdinand II. (auf der Grundlage des Matthiasprivilegs) vom 23.4.1620 (ebd., Bl. 14r–23v). Nürnberger Überlieferung: StAN, Rst. Nbg. Kaiserprivilegien Nr. 715 (Matthias); Nr. 741 (Ferdinand II.). Dazu Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), S. 89–92.
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auch ausdrücklich nicht in Theologie promovieren, obwohl Altdorf schon seit Jahren über vier Theologieprofessuren verfügte.15 Aber Ferdinand II. lehnte es ausdrücklich ab, Nürnberg das gleiche Universitätsprivileg wie im Jahr noch zuvor Straßburg zu gewähren. Die Verschärfung der konfessionellen Gegensätze in den ersten Jahren nach 1618 und die von den Nürnbergern praktizierte relative Toleranz innerhalb des evangelisch-reformatorischen Spektrums machten die Absichten des Nürnberger Rats, den Status seiner semiuniversitas als eines privilegierten Gymnasium illustre (so Anton Schindling für einen entsprechenden Terminus nach Reichsrecht) zu verbessern, des Versuchs der Erhebung zur Volluniversität beim kaiserlichen Hof verdächtig. Die entsprechenden Ausführungen im Gutachten des Reichshofrats von September 1622 sprechen Bände! Altdorf blieb trotz des nun erstmaligen Verweises im Privileg von 1622 auf Rechtsvorbilder anderer deutscher Universitäten, nämlich Kölns, Wiens, Tübingens, Freiburgs und Ingolstadts, bis zur verspäteten Privilegierung als Volluniversität 1696 aus dem Blickwinkel des Kaiserhofs ein bloßes Gymnasium academicum sive universitas.16 Charakteristisch tauchen weder italienische Vorbilder auf (obwohl man in Nürnberg gerade auf die Juristenausbildung so großen Wert legte) und auch nicht die lutheranischen Universitäten Wittenberg, Jena und Helmstedt. Nürnberg hatte die unter dem reformfreudigen Maximilian II. gegebene Chance zur Gewährung des Privilegs einer Volluniversität verpasst, indem es sich zu sehr am Straßburger Vorbild orientierte, ohne dies doch letztlich nachahmen zu wollen. So musste sich der Nürnberger Rat 1623 nach neuen Verhandlungen in Wien und auf dem Reichstag von Regensburg endgültig mit dem Text des Privilegs vom Oktober 1622 begnügen, dafür 900 Goldgulden bezahlen, auch nur mit minderrangigen kaiserlichen Gesandten am 29. Juni 1623, dem Peter- und Paulstag, das Publikationsfest begehen und die diplomatischen Formen mit Dankschreiben an den kaiserlichen Hof wahren.17
INNERE ENTWICKLUNGSFAKTOREN DER ALTDORFER HOCHSCHULEN Immatrikulationszahlen Seit der Publikation der Altdorfer Matrikeln durch Elias von Steinmeyer 1912 kann die Frequenz des Gymnasium illustre und der Semi- beziehungsweise Dreivierteluniversität genauer betrachtet werden. Die durchschnittliche Neuimmatrikulation stagnierte zunächst auf recht niedrigem Niveau, erreichte aber nach der Mitte der 1580er Jahre die Hundert, so dass mit insgesamt 600 Immatrikulierten (das heißt Lateinschülern und Vorlesungsbesuchern) zu rechnen ist. Die von Artur Kreiner erstellten Kurven und ihre Auswertung zeigen eine Stabilisierung auf hohem Niveau, 15 16
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Wien, HHSTA, RHR, Priv. Ferdinands II vom 3.10.1622, Bl. 25r–29r, 31r–36v (Abschr.). Der Umschlag des Originals (Bl. 30v) registriert „Privilegium Altdorph. Creandi Doctores“. Nürnberger Gesuche von 1622 HHSTA, RHR, Bl. 38r–49v.; zur Nürnberger Überlieferung der Verhandlungen am Kaiserhof vgl. Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), S. 92–94. Gutachten des RHR. vom 23.9.1622, ebd., Bl. 50r–51v. (Siehe dazu die Abbildungen im Anhang!) Wien HHSTA, Priv. Ferdinands II vom 3.10.1622, Bl. 57r–70v (Verhandlungen und Entscheidungen des Hofs 1623). Aus Nürnberger Sicht Mährle, Academia (wie Anm. 1), 93–100.
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bevor erst nach 1625 im Dreißigjährigen Krieg ein dramatischer Einbruch erfolgt, der auch nach 1650 im langfristigen Durchschnitt nicht mehr ausgeglichen werden konnte. Die Zahl der Neuimmatrikulierten übersteigt nach 1700 beinahe niemals die 90er Grenze, wobei die Gründung der brandenburgisch-bayreuthischen Reformuniversität Erlangen 1743 einen neuen deutlichen Einschnitt markiert, der bis zur Aufhebung der Altdorfer Universität 1809 niemals wieder wettgemacht werden konnte. Zu Buche schlug für die Altdorfer Rekrutierung der Rückgang des traditionell starken Anteils der böhmischen Studenten im und nach dem Dreißigjährigen Krieg, dem sich nach der Errichtung Erlangens der Verlust auf der Seite der traditionellen fränkischen Klientel anschloss.18
Lehrkörperstruktur Solange die Lateinklassen in Altdorf beibehalten wurden, das heißt bevor sie nach 1623 in der nun als Universität privilegierten Hochschule aufgehoben wurden, existierten sie zunächst organisatorisch als völlig von der Hochschule getrennt. Für die Lateinschüler gab es vier Präzeptoren (professores classici), denen 14 professores publici an der Akademie gegenüberstanden, nämlich: 1 Orator, 1 Logiker, 1 Ethiker, 1 Mathematiker, 1 Historiker (Politik). Diesen 5 Professoren für die artes liberales standen 3 bis 4 Juristen, 2 Mediziner und 4 Theologen (je 2 für das Alte und das Neue Testament) gegenüber. Für die Theologen bestand aber eben bis 1696 (Privileg Leopolds I.)19 kein Promotionsrecht. Dies entsprach im Wesentlichen dem Lehrkörper einer mittelgroßen Universität wie etwa in Jena oder Helmstedt.20 Das Fehlen eines Orientalisten beziehungsweise Hebraisten verweist auf das Defizit des Promotionsrechts in der Theologischen Fakultät, obwohl etwa eine traditionelle lutheranische theologische Fakultät wie diejenige in Jena bis ins 19. Jahrhundert vergeblich die Besetzung eines 4. Lehrstuhls anmahnte.21
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Dazu jetzt ausführlich mit acht diagrammatischen Darstellungen Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), 77–88 (Phase von 1575 bis 1623). Für die nachfolgenden Phasen Artur Kreiner: Die jährlichen Neueinschreibungen an Gymnasium, Academie und Universität Altdorf von 1575–1809, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 37 (1940), 340–345 (Diagramme S. 342f.). Wien, HHSTA, Priv. Ferdinands II vom 3.10.1622, Bl. 93r–117v (Gesuche Nürnberg und Privileg Leopolds I.). Peter Baumgart: Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus, in: Alexander Patschovsky, Horst Rabe (Hg): Die Universität in Alteuropa, Konstanz 1994, S. 147–168. Hilde de Ridder-Symoens: Organisation und Ausstattung, in: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. II. Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996, S. 139–179. Zu den Jenaer Verhältnissen Karl Heussi: Geschiche der Theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1953.
Bemerkungen zur Rolle der Mathematik im Wissenschaftsbetrieb des 17. Jahrhunderts
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DIE ROLLE VON MATHEMATIK ALS EIGENSTÄNDIGER DISZIPLIN IN ALTDORF Die Frage nach der Rolle der Mathematik bei der Umformung des traditionellen scholastischen Aristotelismus seit dem 16. Jahrhundert wird in der jüngeren wissenschaftsgeschichtlichen Forschung noch immer hochkontrovers behandelt, wenn auch zunehmend ein Pluralismus von Aristotelismen schon seit der Hochscholastik konzediert wird.22 Welche unterschiedliche Rolle die Mathematik in den Wissenschaftslehren (insbesondere der Topik) einzelner Gelehrter und ihrer Schulen spielte, welche Rolle dabei das jeweilige Aristotelesbild spielte, wurde auch auf der Jenaer Tagung an den Beiträgen Olaf Breidbachs zu Athanasius Kircher, Thomas Behmes zu Erhard Weigel und Maarten Bullyncks zu den Kontroversen über die Wissenschaftlichkeit mathematischer Beweise seit dem 16. Jahrhundert und deren Rezeption durch Weigel und seine Schüler deutlich. Für die Altdorfer Verhältnisse ist dabei deutlich der wissenschaftshistorische Wandel in Mathematik als eigenständiger artistischer Disziplin bei einem Vergleich zwischen den noch dem Späthumanismus zuzurechnenden Mathematikern der Gründungsphase nach 1575 erkennbar, in welcher der über Straßburg und Basel importierte Pariser ramistische Aristotelismus bei den Professoren Freigius, zum Teil bei Glacian zunächst dominierte, dann nach 1580 als Wissenschaftsrichtung ausdrücklich verboten wurde.23 Nicolaus Öchslein (Taurellus, 1547–1606) griff mit mehreren Publikationen in die Kontroverse zwischen Ramisten und aristotelischen Scholastikern über den Kausalitätscharakter des mathematischen Beweises ein. Mit den beiden artistischen Professoren Michael Piccart (1574–1620) und Ernst Soner (1572–1612) lehrten dann zwei Schüler des traditionellen Aristotelikers Philipp Scherb (1555–1605), die – anders als ihr Lehrer – auf dem Gebiet der Wissenschaftslehre mit eigenen Lehrbüchern hervortraten und von Erhard Weigel in Jena aufmerksam rezipiert wurden. Mit den Berufungen von Weigelschülern nach Altdorf zeigte sich, welche Bedeutung innerhalb der Wissenschaftslehre dem von Weigel in seiner Jenaer Schrift von 1658 Analysis Aristotelica ex Eudlide restituta hervorgehobenen mathematischen Beweis zugeschrieben wurde.24 Weigels Zuwendung zur Mathematik war also alles andere als eine persönlichkeitsbedingte Besonderheit dieses Gelehrten oder gar eine Sonderentwicklung an der Universität Jena.25 Dies 22
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Vgl. dazu die Ergebnisse des Nijmwegener Kongresses von 1999 im Sammelband von Cees Leijenhorst, Christoph Lüthy, Johannes M.M.H. Thijssen (Hg.): The Dynamics of Aristotelian Natural Philosophy from Antiquity to the Seventeenth Century (= Medieval and Early Modern Science), Leiden-Boston-Köln 2002 (insbes. die Zusammenfasung von Lüthy, Leijenhorst und Thijssen: The tradition of Aristotelian Natural Philosophy. Two Theses and Seventeen Answers, S. 1–29). Die Entwicklung der Altdorfer Mathematik im 17. Jh. wurde zuletzt in der Regensburger Dissertation von Hans Gaab genauer untersucht: Hans Gaab: Der Altdorfer Mathematik- und Physikdozent Abdias Trew (1597–1669). Astronom, Astrologe, Kalendermacher und Theologe (= Acta Historica Astroniomiae 42), Frankfurt a.M. 2011. Erhard Weigel: Analysis Aristotelica ex Euclide restituta, hg. von Thomas Behme (Werke III = Clavis Pansophiae Bd. 3.3), Stuttgart-Bad Cannstatt 2008. Zur Rolle der Mathematik im Wissenschaftskonzept Weigels, jedoch zu einseitig auf die didaktische Umsetzung ausgerichtet, Wilhelm Hestermeyer: Paedagogia mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, zu-
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zeigt sich nicht zuletzt an der Ausrichtung und Wirksamkeit des als Wissenschaftsprogrammatiker hervorgetretenen Weigelschüler Johann Christoph Sturm, der 1669 nach Altdorf berufenen wurde.26 Als gebürtiger Hiltpoltsteiner war er Nürnberger Untertan. Trotz mehrerer Möglichkeiten zum Wechsel an andere Universitäten blieb der auch international durchaus bekannte Sturm doch auf seiner schlecht bezahlten Altdorfer Professur, die ihm immerhin beträchtliche Nebenverdienste durch das Kalendermachen mit Nürnberger Privileg ermöglichte.27 Physik und Mathematik wurden in Altdorf von einem einzigen Lehrstuhl bei den Artisten vertreten. Zwar hatte Johann Thomas Freig(ius) in seinem Lehrplan von 1577 keine naturphilosophischen Vorlesungen vorgesehen, hielt aber dennoch regelmäßig physikalische Vorlesungen. Er wollte aber – wenn auch ohne Erfolg – bei den Scholarchen und dem Nürnberger Rat 1578 dann einen eigenen Lehrstuhl für Physik eingerichtet wissen, da ihn die Leitungsfunktion des akademischen Gymnasium zu sehr beschäftige.28 Seit 1582 unterrichtete dann der geborene Württemberger Untertan (aus Mömpelgard) und zuvor in Basel lehrende Nicolaus Öchslein Physik und Naturphilosophie. Nach dem Lehrplan von 1582 sollte der Physiker alle Bereiche der Naturphilosophie behandeln und dabei sowohl auf die Schriften des Aristoteles als auch auf die Lehrbücher Melanchthons und des Johannes Velcurionus zurückgreifen. Letzteres scheint Taurellus vermieden zu haben.29 Im als semiuniversitas privilegierten Altdorf war es den Mathematikern dann freigestellt, auf welche modernen astronomischen Systeme sie sich stützen wollten. Kopernikus und Kepler wurden deshalb zum Gegenstand von Vorlesungen und Publikationen, auch wenn der 1576 berufene Johann Praetorius prinzipiell das heliozentrische Weltbild (vermutlich aus theologischen Gründen) ablehnte, jedoch Parteigänger der Gregorianischen Kalenderreform aus astronomischen Gründen war.30 Taurellus dagegen versuchte schon in seiner Basler Lehrzeit eine Versöhnung von Aristotelischer Metaphysik und christlicher Dogmatik, wie dies seine Schrift von 1596 ankündigte, und wollte eine Versöhnung im Verhältnis von philosophischer Erkenntnis zur theologischen Offenbarung erreichen, die ihn gegen die textnahe Interpretation der aristotelischen Schriften polemisieren ließ, wie sie auch in Altdorf von den hauptsächlich philologisch arbeitenden Professoren wie Scherb und Giphanius praktiziert wurde.31
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gleich ein Beigtrag zur Geschichte des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Paderborn 1969. Vgl. aber den Beitrag von Stefan Kratochwil in diesem Band. Hans Gaab, Pierre Leich, Günter Löffladt (Hg.): Johann Christoph Sturm (1635–1703) (= Acta Historica Astronomiae 22), Frankfurt a.M. 2004. Zur Bedeutung des Computus in der akademischen Lehre des 17. Jahrhunderts und zur Profession der Kalenderberechnungen durch Mathematikprofessoren wie Weigel und Sturm vgl. KlausDieter Herbst (Hg.): Eitelkeiten-Calender (Eitler-Werck-Calender) für das Jahr 1669 verfaßt von Aletohilus von Uranien [Johann Christoph Sturm] mit Beiträgen von Klaus-Dieter Herbst und Klaus Matthäus (= Acta Calendariographica. Kalenderreihen Bd. 2: Johann Christoph Sturm), [Nürnberg 1668] Jena 2010. Eine gute Vergleichsmöglichkeit zur astronomischen und kalendermacherischen Betätigung bietet nun für den Altdorfer Mathematiker Abdias Trew die Dissertation Gaabs (wie Anm. 23), bes. S. 369ff. Mährle, Academia Norica (wie Anm. 1), S. 343ff. Ebd., S. 345ff. Ebd., S. 361ff. Ebd., S. 346ff.
Bemerkungen zur Rolle der Mathematik im Wissenschaftsbetrieb des 17. Jahrhunderts
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Die Mathematik mit ihren Disziplinen Arithmetik, Geometrie sowie den Nebengebieten, Astronomie und Astrologie einschließlich der Musik stand seit dem Hochmittelalter nicht im Zentrum der Lehre der artistischen Fakultät. Auf Anwendung bezogene Mathematiker und Mechaniker genossen jedoch seit dem Spätmittelalter eine besondere Wertschätzung in der Reichsstadt Nürnberg. Wohl nicht zuletzt deshalb hatte man 1576 den zuvor in Wittenberg lehrenden, aber auch als praktischer Mechaniker in Nürnberg schon bekannten Johann Praetorius als Mathematikprofessor berufen. Er lehrte dort bis zu seinem Tode 1616 wohl sämtliche Teilgebiete seiner Disziplin auf hohem Niveau wie die von ihm verfassten Lehrbücher beweisen, wenn er sich auch im Unterschied zu Taurellus kaum mit wissenschaftssystematischen Fragen beschäftigte. Etwas anders verhielt es sich mit dem von 1636 bis zu seinem Tode 1669 in Altdorf als Professor der Mathematik und seit 1650 auch der Physik lehrenden Abdias Trew. Trew war in seiner Lehre wie seinen Schriften noch ein traditioneller Vertreter der traditionell auf Zahlenverhältnisse bezogenen Einzeldisziplinen der Quadriviums. So erklärt es sich, dass er in seinen Traktaten zur Musiktheorie das Problem des Pythagoreischen Kommas im Quintenzirkel praktisch mit einer „alleraccuratesten [musikalischen] Temperatur“ lösen wollte. Seine Entwürfe zur Lösung des Problems der Kalenderreform beruhten in Ablehnung vom kopernikanischen Modell der Gestirnsbewegungen auf an Tycho Brahes Modell orientierten astronomischen Vorstellungen.32 Die von Siegfried Freiherr von Scheurl schon vor gut einem halben Jahrhundert herausgearbeitete fehlende Profilierung Altdorfs in der Theologie erwies sich für die an die Hochschule berufenen Mathematiker und Physiker als recht gute Rahmenbedingung für die Entfaltung einer eigenständigen Wissenschaftsprogrammatik im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die Weigel noch im ausgehenden 17. Jahrhundert in Bezug auf die aristotelische Wissenschaftslehre mit den orthodoxen lutherischen Theologen in Jena hatte.33 Insbesondere schuf diese nachrangige Stellung der Theologen eine besondere Arbeitsatmosphäre für den 1669 berufenen Weigelschüler Johann Christoph Sturm. Sein von allen Altdorfer Professoren der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bislang wohl am gründlichsten untersuchtes wissenschaftliches Œuvre und seine akademische Lehre, die ihn auch als Hochschullehrer als einen auf dem Feld der Didaktik besonders Begabten ausweisen, lassen die Mathematik und Naturphilosophie Altdorfs zu dieser Zeit sich deutlich von der späthumanistischen Ausrichtung der Gründungsjahre abheben.34 Wolfgang Mährle hat sich vor einem Jahrzehnt bemüht, das besondere Profil des Gymnasium illustre und der Semiuniversität Altdorf in der Anfangsphase bis 1623 herauszuarbeiten und sah dabei akademische Lehre und das Werk der Professoren 32 33
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Ebd., S. 359f; zu Trew Gaab, Der Altdorfer (wie Anm. 27), 80ff., 116 ff. (Mathematik und Musik), 155ff. (Astronomie), 269ff. (Kalenderschriften). Siegfried Freiherr von Scheurl: Die theologische Fakultät Altdorf im Rahmen der werdenden Universität 1575–1623 (= Einzelarbeit aus der Kirchengeschichte Bayerns 23), Nürnberg 1949. Zusammenfassend zu Weigels Problemen jetzt Thomas Behme in der Einleitung seiner Edition von Weigels Analysis Aristotelica, IX u. der Beitr. Stefan Wallentins in diesem Band. Johann Christoph Sturm (wie Anm. 25), darin bes. die Beitr. v. Stefan Kratochwil, Michael Albrecht, Knut Radbruch und Ulreich G. Leinsle.
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noch typisch durch die Phase des Späthumanismus geprägt.35 Eine entsprechend gründliche Analyse für die folgenden Jahrzehnte bis ins beginnende 18. Jahrhundert steht noch aus und kann mit diesem Forschungsbericht auch nicht geleistet werden. Insbesondere scheint es dringend einer vergleichenden Untersuchung der wissenschaftlichen Entwicklung aller zu akademischen Ehren gelangten Weigelschüler zu bedürfen. Die bisherige Konzentration auf die Gestalt des seinerzeit sehr prominenten Johann Christoph Sturm resultiert zu sehr bei der Bewertung beider Gelehrter auf einer traditionellen Zumessung der wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung Weigels, zumindest wenn es um eine Systematisierung der wissenschaftlichen Entwicklungsrichtungen im 17 Jahrhundert geht. Der Terminus Frühaufklärung erweist sich angesichts der Pluralität im Spektrum der damaligen wissenschaftlichen Ausrichtungen eben selbst als bloßen Hilfsbegriff kaum als besonders hilfreich. So darf aller Anregungen zum Trotz, die Leibniz bei Weigel in Jena empfing, er wohl kaum unter die direkten Schüler Weigels gerechnet werden.36 Aber es stehen vergleichbare Untersuchungen zum Weiterwirken von Weigels Vorstellungen von einer Idea matheseos universae bei seinen direkten Schülern und zu deren Übertragung auf ganz andere Wissenschaftsdisziplinen zum Zwecke der Welterklärung aus: für den Astronomen und Kalendermacher Gottfried Kirch (1639–1710), für den Pädagogen und Realschul-Theoretiker Christoph Semler (1669–1740), für den Mathematiker Caspar Neumann (1648–1715), der auf den Gebieten der Bevölkerungsstatistik und Lebensversicherungsmathematik hervortrat, für den Nachfolger auf dem Jenaer Mathematik-Lehrstuhl Georg Albrecht Hamberger (1662–1716) und nicht zuletzt für den Ethiker und Theologen Johann Paul Hebenstreit (1664–1718).
35 36
Mährle, Academia (wie Anm. 1), 524–535. Vgl. Konrad Moll: Der junge Leibniz 1. Die wissenschaftstheoretische Problemstellung seines ersten Systementwurfs. Der Anschluß an Erhard Weigels Scientia generalis, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978.
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Gutachten des Reichshofrates für Ferdinand II. vom 23. September 1622, Wien HHStA,RHR, Conf. Priv. lat. Exped., Kart.9., fo. 50r.
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Gutachten des Reichshofrates für Ferdinand II. vom 23. September 1622, Wien HHStA,RHR, Conf. Priv. lat. Exped., Kart.9., fo. 50v.
Georg Steinberg DIE GRÜNDUNG DER UNIVERSITÄT HALLE 1694 UND DAS WISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS IHRES ERSTEN DOZENTEN CHRISTIAN THOMASIUS EINLEITUNG1 An der Ausstrahlungswirkung der 1694 gegründeten Universität Halle in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens hat Christian Thomasius bedeutenden Anteil.2 Geboren 1655, nimmt er im Alter von vierzehn Jahren das Studium der Philosophie in Leipzig auf, wechselt sodann über zur Jurisprudenz und schließt dieses Studium 1679 mit der Promotion an der Universität Frankfurt an der Oder ab. Zurückgekehrt nach Leipzig wirkt er dort kurze Zeit als Rechtsanwalt, sodann von 1680 bis 1690 an der dortigen Universität als Privatdozent. Am 10. März 1690 ergeht gegen ihn ein Lehrverbot, das, vor dem Hintergrund verschiedener Differenzen mit den theologischen Dozenten, auf eine Überschreitung der Lehrkompetenz gestützt wird: Thomasius habe die Heilige Schrift ausgelegt. Im selben Jahr wird Thomasius erster Dozent an der im Aufbau befindlichen Universität Halle, an der er bis zu seinem Tod 1728 wirkt, seit 1710 als Professor Primarius und Ordinarius.3 1
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Für kritische Anmerkungen zum Vortrag danke ich den Teilnehmern der Tagung Idea matheseos universae vom 21.11.2008 in Jena; für theologische und dogmengeschichtliche Hinweise Dr. theol. Julius Steinberg, Ewersbach. Die Auswertung der Literatur ist auf dem Stand März 2009. Grundlegend für die Geschichte der Universität Halle noch immer Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Erster Teil, Berlin 1894; Zweiter Teil, Berlin 1894. Vgl. des Weiteren Johann Christoph Hoffbauer: Geschichte der Universität zu Halle bis zum Jahre 1805, Halle 1805. Sowie Johann Christian Förster: Übersicht der Geschichte der Universität zu Halle in ihrem ersten Jahrhundert. Nach der bei Carl August Kümmel in Halle 1794 erschienenen ersten Auflage, bearb. und hg. von Regina Meyer, Günter Schenk, Halle 1998; (Kurz-)Überblicke bei Albrecht Timm: Die Universität Halle-Wittenberg. Herrschaft und Wissenschaft im Spiegel ihrer Geschichte, Frankfurt a.M. 1960; in sozialistischer Interpretation Hans Hübner (Hg.): Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1502–1977. Abriß, Halle 1977; vgl. auch den Sammelband 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg. Band II, Halle 1694–1817, Halle-Wittenberg 1817–1945, o.O. 1952; zur Nachkriegsgeschichte der Juristischen Fakultät jetzt eindrucksvoll Rolf Lieberwirth: Geschichte der Juristischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg nach 1945. Fakten und Erinnerungen, Köln u.a. 2008. Vgl. die biografischen Angaben bei Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2), S. 8–19; Max Fleischmann: Christian Thomasius, in: ders. (Hg.): Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk, Halle 1931, S. 1–248, hier S. 10–41; Werner Schmidt: Ein vergessener Rebell. Leben und Wirken des Christian Thomasius, München 1995; jeweils mit Verweisen auf Thomasius’ Berichte sowie die weiteren (vor allem universitären) Quellen; zu den politischen und persönlichen Hintergründen von Thomasius’ Wechsel von Leipzig nach Halle instruktiv Günter Jerouschek: Arbeit am Mythos. Thomasius und die Gründung der Universität Halle, in: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposion zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Hildesheim u.a. 2006, S. 311–325, hier S. 314–318;
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Mag er auch nicht im organisatorisch-institutionellen Sinn Gründungsvater der Universität gewesen sein, ganz im Gegenteil hochschulpolitisch wenig Durchsetzungsvermögen besessen haben, ihm insbesondere Samuel Stryk (1640–1710), dem zunächst Ordinariat und Direktorat übertragen wurden, „gleichsam vor die Nase gesetzt“ worden sein,4 so wird man Thomasius doch weiterhin im ideengeschichtlichen Sinne als ihren Gründungsvater ansehen dürfen, da vor allem seine (früh-)aufklärerischen Positionierungen schulbildend gewirkt haben und die Reform-Universität Halle zu einem in Preußen bedeutsamen geistigen Zentrum haben aufsteigen lassen. Nach wie vor kann die Vergegenwärtigung seiner philosophischen und juristischen Positionen Aufschluss über diejenigen ideengeschichtlichen Weichenstellungen geben, die am Ende des 17. Jahrhunderts fortschrittlich im aufklärerischen Sinne sind und das hohe Ansehen der Universität Halle in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens mitbewirkt haben. Vorliegend gilt das Hauptaugenmerk Thomasius’ Wissenschaftsverständnis, das (im Wechselspiel) auf die inhaltlichen Positionierungen in den Teildisziplinen eingewirkt hat, aber auch auf Thomasius’ Lehrpraxis. Zunächst seien – in der gebotenen Kürze – die (geistes-) geschichtlichen Rahmenbedingungen der Universitätsgründung in Halle skizziert.
HINTERGRÜNDE, UMSTÄNDE UND IMPULSE DER UNIVERSITÄTSGRÜNDUNG IN HALLE 1694 Die deutschen Universitäten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Im vierzehnten Jahrhundert entstehen die ersten Universitäten auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, denen im 15. bis 17. Jahrhundert zahlreiche Neugründungen folgen, so dass die Zahl im Jahr 1700 auf vierunddreißig angewachsen ist. Die Universitäten verdanken ihre Existenz durchweg landesherrlicher Initiative, sie sind institutionell und finanziell vom Landesfürsten abhängig und dienen der Heranbildung der landeseigenen Elite. Ihre Bedeutung als Zentren geistigen Lebens verstärkt sich zunächst im Zuge der wachsenden konfessionellen Gegensätze im sechzehnten Jahrhundert, indem sie den Landesfürsten zur konfessionellen Standortbestimmung dienen, woraus sich auch die große Zahl der Universitäten
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Günter Mühlpfordt: Die Rivalität zwischen Wettinern und Hohenzollern als Handlungsspielraum, Dienst- und Zensuralternative für Christian Thomasius und andere Autoren, in: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Gelehrter Bürger in Leipzig und Halle, Stuttgart u.a. 2008, S. 34–53; gegen den tradierten klischeehaften Antagonismus des fortschrittlichen Halle und angeblich rückwärtsgewandten Leipzig instruktiv Detlef Döring: Christian Thomasius und die Universität Leipzig am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Lück, Thomasius 2008, S. 71–97; zu Thomasius’ Jugend in Leipzig Siegfried Hoyer: Der junge Thomasius in Leipzig, in: Lück, Thomasius 2008, S. 54–70. Jerouschek, Arbeit (wie Anm. 3), S. 323–325, Zitat S. 322, der sich hier gegen Legendenbildungen vor allem basierend auf den Schilderungen von Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2) und Fleischmann, Thomasius (wie Anm. 3) wendet; vergleiche auch Mühlpfordt, Rivalität (wie Anm. 3), S. 46: „Eine Universität Halle wäre auch ohne Thomasius errichtet worden.“, der zugleich, S. 53, feststellt: „Christian Thomasius war Bahnbrecher der Halle-Leipziger Frühaufklärung“. Zum Wirken Stryks Näheres unten im Abschnitt Bündnis von Pietismus und Frühaufklärung.
Die Gründung der Universität Halle 1694 und Thomasius’ Wissenschaftsverständnis
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im territorial zersplitterten Reich erklärt. Allerdings folgt aus der spezifisch konfessionellen Ausrichtung auch, dass sich die Universitäten seit der Verschärfung des Glaubenskrieges in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegeneinander abschotten und an wissenschaftlicher Offenheit einbüßen.5 Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, der im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu einer weitgehenden Stagnation des universitären Lebens geführt hat, verharren die Universitäten in konfessioneller Abkapselung, wohingegen in der Territorial- und Reichspolitik konfessionelle Fragen allgemein allmählich in den Hintergrund treten beziehungsweise der Westfälische Friede eine tolerante Haltung der drei Konfessionen zueinander, des Katholizismus, des Luthertums und des Calvinismus, unumgänglich gemacht hat.6 Die Universitäten drohen, indem sie diese Entwicklung hin zu einem in der Tendenz letztlich säkularen Gesellschaftsverständnis nicht mitvollziehen, ins Abseits zu geraten, ebenso durch ihre Praxisferne sowie die sittliche Verrohung des universitären Lebens. Konkurrierend entstehen Ritterakademien, auf denen junge Adlige in der höfischen Lebensart gebildet werden.7
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Notker Hammerstein: Die Obrigkeiten und die Universitäten: ihr Verhältnis im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Ulrich Muhlack, Gerrit Walther (Hg.): Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte von Notker Hammerstein, Berlin 2000, S. 377–387; ders.: Universitäten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock, in: Muhlack, Res, S. 87–110, hier S. 92–95; vgl. auch den Sammelband von Peter Baumgart, Notker Hammerstein (Hg.): Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, Nendeln, Liechtenstein 1978; detaillierte Auflistung der europäischen Universitätsgründungen 1500–1800 bei Willem Frijhoff: Grundlagen, in: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa, Band II. Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996, S. 53– 102, hier S. 81–86; Überblick zur Universität im konfessionellen Zeitalter bei Peter Baumgart: Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus, in: ders. (Hg.): Universitäten im konfessionellen Zeitalter. Gesammelte Beiträge, Münster 2006, S. 5–30; Überblick zur Universität in der Frühen Neuzeit im Ganzen bei Wolfgang E.J. Weber: Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart 2002, S. 71–153; Hans-Albrecht Koch: Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution, Darmstadt 2008, S. 73–111. Etwa Gerhard Robbers: Religionsrechtliche Gehalte des Westfälischen Friedens. Wurzeln und Wirkungen, in: Meinhard Schröder (Hg.): 350 Jahre Westfälischer Friede. Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte, Berlin 1999, S. 71–81; Franz-Josef Jakobi: Zur religionsgeschichtlichen Bedeutung des Westfälischen Friedens, in: Schröder, Jahre, S. 83–98. Notker Hammerstein: Zur Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Muhlack, Res (wie Anm. 5), S. 11–42, hier S. 13–17; ders.: Universitäten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in: Muhlack, Res (wie Anm. 5), S. 93–99; vgl. auch Rudolf Lehmann (Hg.): Friedrich Paulsen. Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Leipzig 1919, S. 492–526; zur Reformgeschichte der katholischen Universitäten vor dem Hintergrund ihres „schwierige[n] Erbe[s] des konfessionellen Zeitalters“ Harald Dickerhof: Die katholischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation des 18. Jahrhunderts, in: Notker Hammerstein (Hg.): Universitäten und Aufklärung, Göttingen 1995, S. 21–47, Zitat S. 22; dazu auch Notker Hammerstein: Aufklärung und katholisches Reich. Untersuchungen zur Universitätsreform und Politik katholischer Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im 18. Jahrhundert, Berlin 1977.
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Die konfessions- und hochschulpolitische Situation in Preußen Die konfessionspolitische Situation in Preußen ist geprägt durch die Konvertierung des Kurfürsten Johann Sigismund (reg. 1608–1619) zum Calvinismus im Jahr 1613. Außenpolitische Folge ist, dass sich Preußen während des Dreißigjährigen Kriegs nicht vorbehaltlos in die Union, das Bündnis der evangelischen Reichsstände, einfügt, vielmehr unter Kurfürst Georg Wilhelm (reg. 1619–1640) mehrfach die Fronten wechselt; dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (reg. 1640–1688) gelingt es 1645 nicht, die Leitung des Corpus Evangelicorum zu übernehmen, was der dauerhaften Niederlage des politischen Calvinismus im Reich gleichkommt. Innenpolitisch bewirkt Johann Sigismunds Konversion, dass die weit überwiegende Mehrheit der Untertanen, dabei fast sämtliche Landstände, einem anderen Bekenntnis angehören als die Fürstenfamilie: dem lutherisch-orthodoxen. Die Politik des Kurfürsten, Schlüsselpositionen in der Verwaltung mit Reformierten zu besetzen, vermag dies nicht zu ändern, führt im Gegenteil zum Widerstand der Landstände. Georg Wilhelm kann den konfessionellen Konflikt im Land ebenso wenig beilegen, und auch der Große Kurfürst verschärft mit Maßnahmen wie einer pro-calvinistischen Ämterpolitik, der Unterwerfung orthodoxer Schriften unter die reformierte Zensur sowie schließlich auch der Ansiedlung Reformierter aus anderen Reichsteilen (Potsdamer Toleranzedikt von 1685) letztlich nur den Konflikt mit den Landständen.8 Sein Sohn Friedrich III. (reg. 1688–1713, seit 1701 als Friedrich I. König in Preußen),9 führt zunächst die skizzierte Politik fort, bemüht sich jedoch allmählich immer mehr um eine Versöhnung der beiden protestantischen Konfessionen. Dabei kommt ihm der Pietismus entgegen, eine im Schoß des Luthertums entstandene protestantische Frömmigkeitsbewegung. Sie stellt die persönliche Glaubenserfahrung über theoretische theologische Streitigkeiten und hat damit trotz aller bestehenden Konfliktfelder eine im Ganzen versöhnliche Tendenz, zugleich ist sie pro-territorialistisch ausgerichtet. Vor allem Philipp Jakob Spener (1635–1705), dem der Pietismus seine Verbreitung in Brandenburg-Preußen verdankt, wirbt für Gewissensfreiheit und religiöse Toleranz zwischen Reformierten und Lutheranern.10 8
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Dazu mit weiteren Nachweisen Peter-Michael Hahn: Calvinismus und Staatsbildung. Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: Meinrad Schaab (Hg.): Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993, S. 239–269; Klaus Deppermann: Pietismus und moderner Staat, in: Kurt Aland (Hg.): Pietismus und moderne Welt, Witten 1974, S. 75–98, hier S. 75–81; aus biografischem Blickwinkel Axel Gotthard: Zwischen Luthertum und Calvinismus (1598–1640), in: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., München 2000, S. 74–94, 321–323; Heinz Durchhardt: Friedrich Wilhelm, der Grosse Kurfürst (1640–1688), in: Kroll, Herrscher, S. 95–112, 323f. Zur Person nur – mit ausführlichen Nachweisen – Wolfgang Neugebauer: Friedrich III./I. (1688– 1713), in: Kroll, Herrscher (wie Anm. 8), S. 113–133, 324–327. Deppermann, Pietismus (wie Anm. 8), S. 81–98; zu den wesentlichen Glaubensaussagen sowie zur Geschichte des (älteren) Pietismus Kurzüberblick bei Bengt Hägglund: Geschichte der Theologie. Ein Abriß. Aus dem Schwedischen übersetzt von Alfred Otto Schwede, Gütersloh 1997, S. 252–260; ausführlich zur Geschichte: Martin Brecht (Hg.): Geschichte des Pietismus, Band 1. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993; Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971; Peter Schicketanz: Der Pietismus von 1675
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Bei Regierungsantritt Friedrichs III., der das Bildungssystem auszubauen plant, bestehen in Brandenburg-Preußen drei Universitäten: die vom Großen Kurfürsten 1755 gegründete reformierte Universität Duisburg, die Universität Frankfurt (Oder), die der Große Kurfürst gegen den Willen der Stände mit Professoren reformierten Bekenntnisses besetzt hat, und schließlich die Universität Königsberg, die auf Druck der Landstände lutherisch geblieben ist. Problematisch an dieser Konstellation muss es aus Sicht Friedrichs III. sein, dass die Mehrzahl der preußischen Studierwilligen weder bereit ist, im weit entfernten, außerhalb des Reichsgebiets liegenden Königsberg zu studieren noch an einer reformierten Universität. Als Alternativen bleiben die nahe gelegenen sächsischen Universitäten Wittenberg, Leipzig und Jena, die streng orthodox ausgerichtet sind und deren Absolventen, so die Befürchtung, nach ihrer Rückkehr nach Preußen konfessionellen Unfrieden stiften. Das Verbot Friedrichs III. für Bürger Brandenburgs, in Wittenberg zu studieren, kann dieses Problem allein nicht beheben; vielmehr besteht das Bedürfnis nach einer zentral gelegenen eigenen Universität, die, lutherisch und zugleich gemäßigt, die konfessionelle Versöhnung fördern kann.11
Aufnahme des Lehrbetriebs und Universitätsgründung in Halle Als Standort bietet sich Halle an. Die Stadt liegt zentral, dabei nahe den KonkurrenzUniversitäten Leipzig und Wittenberg; Halle ist Sitz der Provinzialbehörde des sächsischen Verwaltungsbezirks Magdeburg und Halberstadt, im Ganzen eine aufstrebende Stadt; die Infrastruktur der seit 1680 dort bestehenden Ritterakademie ist nutzbar; schließlich hat der vormals in Halle residierende Kardinal Albrecht (1490–1545) bereits 1531 die päpstlichen Privilegien für die geplante Errichtung einer (allerdings katholischen) Universität erwirkt, auf die zurückgegriffen werden kann.12
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bis 1800, Leipzig 2001, zum Einfluss Speners dort S. 46–67; dazu auch Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: ders., Geschichte, S. 281–390; eine umfassende systematische Darstellung bietet Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus, Band 4. Glaubenswelten und Lebenswelten, Göttingen 2004; siehe jetzt auch den Sammelband von Johannes Wallmann: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, hierin insbesondere: ders.: Preußentum und Pietismus, S. 362–394. Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2), S. 3–7; Hahn, Calvinismus (wie Anm. 8), S. 262f.; Hammerstein: Geschichte (wie Anm. 7), S. 12f., 18; Anton Schindling: Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung, in: Hammerstein, Geschichte (wie Anm. 7), S. 9–19, hier vor allem S. 16. Vgl. Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2), S. 4f., 37, 42, 45; der Text des päpstlichen Privilegs ist abgedruckt bei Schrader, Zweiter Teil (wie Anm. 2), S. 351–353 (= Anlage 1); vgl. auch Hoffbauer, Geschichte (wie Anm. 2), S. 5–10; Walter Rüegg: Europäische Städte und ihre Universitäten, in: Hans-Hermann Hartwich (Hg.): Universitätsjubiläum und Erneuerungsprozeß. Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im dreihundertsten Jahr ihres Bestehens 1994, Opladen 1995, S. 33–48, hier S. 34, 42f.; umfassend zu diesem Hintergrund jetzt Andrea Thiele: Im Spannungsfeld von Stadt und Staat – soziale und wirtschaftliche Aspekte des Transformationsprozesses Halles von der Residenz- zur Universitätsstadt, in: Lück, Thomasius 2008 (wie Anm. 3, 2008), S. 98–116; Jan Brademann, Residenzstadt und frühmoderner Staat. Überlegungen zum verfassungs- und kulturgeschichtlichen Hintergrund für die Gründung einer Universität in Halle, in: Lück, Thomasius, S. 117–140.
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Am 4. April 1690 erhält Christian Thomasius als erster Dozent in Halle seine Bestallung als Kurfürstlicher Rat sowie die Weisung, dort zwecks Aufbaus des universitären Lehrbetriebs philosophische und juristische Lehrveranstaltungen durchzuführen. Am Montag nach Trinitatis 1690 um 11.00 Uhr hält Thomasius in Halle seine erste Vorlesung.13 Weitere Dozenten nehmen in den folgenden Jahren die Lehrtätigkeit in Halle auf (Näheres im folgenden Abschnitt). 1693 wird das kaiserliche Privileg, das den Absolventen der juristischen Fakultät die Aussicht auf eine spätere Anstellung an Reichs- und kaiserlichen Gerichten eröffnet, mittelbar durch den Kaiser, unmittelbar durch den Landesfürsten erteilt, wie es dem Charakter der Universität als landesherrlicher Anstalt entspricht.14 Im selben Jahr wird die Juristische Fakultät Spruchkollegium, erhält also die renommierte Aufgabe, für die Gerichte der Umgebung juristische Sachverständigengutachten anzufertigen.15 Am 1. Juli 1694 schließlich wird die Universität Halle durch den persönlich anwesenden Kurfürsten Friedrich III. feierlich eröffnet – wobei die demonstrierte fürstliche Protektion nicht hindert, dass die Universität von Beginn an und dauerhaft mit Unterfinanzierung zu kämpfen hat. Im Ganzen verläuft die Gründung der Universität in traditionellen Bahnen,16 ebenso die Formulierung ihrer Statuten.17
Bündnis von Pietismus und Frühaufklärung Die Universität Halle steigt in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem bedeutenden wissenschaftlichen Zentrum auf, dem erst die nach ihrem Vorbild 1734 gegründete Reformuniversität Göttingen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
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Christian Thomasius: Primum Programma Halense de instituendis lectionibus publicis & privatis, Philosophicis & Juridicis. 1690. Occasione & scopus, item methodum harum lectionum. Invitatio Studiosorum, ut Halam veniant, in: ders.: Programmata Thomasiana et alia scripta similia breviora coniunctim edita, cum notis hinc inde de novo adiectis, Halle, Leipzig 1724, S. 101–117; ders.: Programma lectionis illas determinans. Defensio Momi & Zoili adversus Hypercritas & Pedantas, in: ders, Programmata, S. 118–124; zu Inskriptionszahlen und Quellenlage Fritz Juntke: Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Teil I (1690–1730), Halle 1960, Übersicht über die Immatrikulationszahlen dort nach S. 697; Auszug dazu bei Schrader, Zweiter Teil (wie Anm. 2), S. 458 f. (= Anlage 18); Abdruck der Bestallung dort S. 353 f. (=Anlage 2). Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2), S. 39, 45–47; Abdruck des Kaiserlichen Privilegs vom 19.10.1693 bei Schrader, Zweiter Teil (wie Anm. 2), S. 361–368 (= Anlage 7); zur Bedeutung auch Hammerstein, Geschichte (wie Anm. 7), S. 18f. Näheres zur Fakultät als Spruchkolleg bei Gertrud Schubart-Fikentscher: Hallesche Spruchpraxis. Consiliensammlungen Hallescher Gelehrter aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, Weimar 1960; Gerhard Buchda: Die hallische Juristenfakultät als Spruchkolleg 1693–1889, in: 250 Jahre Universität Halle – Streifzüge durch ihre Geschichte in Forschung und Lehre, Halle 1944, S. 119–131; Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2), S. 86–89. Zur Einweihung selbst Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2), S. 62–65, vgl. im Übrigen auch dort S. 73–102; Hoffbauer (wie Anm. 2), S. 21–63. Abdruck der Statuten der Friedrichs-Universität in Halle und ihrer Fakultäten vom 1.7.1694 bei Schrader, Zweiter Teil (wie Anm. 2), S. 381–438 (= Anlage 9); zu fortschrittlichen Zügen Hammerstein, Geschichte (wie Anm. 7), S. 18–26.
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allmählich den Rang abläuft.18 Die genannten günstigen Standortfaktoren treten als Ursachen für den Aufschwung der Universität Halle zurück hinter der wissenschaftlichen – und geistlichen – Ausstrahlungswirkung ihrer Dozenten. Bei aller im Hinblick auf solcherlei ideengeschichtliche Aussagen gebotenen Vorsicht wird man das temporäre Bündnis, das Pietismus und Frühaufklärung am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Halle eingehen, als wichtigste Ursache für den Erfolg dieser Universität benennen dürfen. Bereits die Ernennung des pietistisch und pro-absolutistisch geprägten Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) zum ersten Kanzler der Universität ist Programm. Entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der Professuren übt Philipp Jakob Spener aus, der über die erforderlichen Kontakte bei Hof verfügt. Auf seine Initiative hin wird insbesondere August Hermann Francke (1663–1727) als Professor für orientalische Sprachen berufen, der mit seinem in pietistisch-caritativem Geist errichteten Waisenhaus sowie weiteren Einrichtungen pädagogische Impulse setzt, die über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung finden. Die Theologen Joachim Justus Breithaupt (1658–1732), berufen 1691, und Paul Anton (1661–1730), berufen 1695, tragen ebenfalls zum Ruf Halles als wichtigsten Zentrums der pietistischen Theologie bei.19 Dass die juristische Fakultät von Anfang an zum Motor der Universität wird, verdankt sie neben Christian Thomasius vor allem dem seit 1692 in Halle lehrenden Samuel Stryk, dessen Herausstellung der Subsidiarität des römischen Rechts gegenüber dem deutschen für die Tradition des Usus modernus pandectarum als richtungweisend gilt.20 Genannt seien des Weiteren, als bedeutend auf dem Gebiet des Jus Publicum, Johann Peter von Ludewig (1688–1743), berufen 1694,21 sowie Nikolaus Hieronymus Gundling (1671–1729), berufen 1706, der für das Verhältnis von Fürst und Untertan zukunftsweisend die wechselseitige Verantwortung hervorhebt, mithin 18
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Allgemein zu den Universitätsgründungen in Halle, Göttingen und Erlangen Notker Hammerstein: Die Universitätsgründungen im Zeichen der Aufklärung, in: Baumgart, Universitäten (wie Anm. 5), S. 263–298; Überblick zum mitteldeutschen Umfeld bei Günter Mühlpfordt: Danksagung und Schlußbetrachtung. Mitteldeutsche Universitäten der Frühneuzeit auf dem Weg zur modernen Wissenschaft, in: Karlheinz Blaschke, Detlef Döring (Hg.): Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Günter Mühlpfordt, Stuttgart 2004, S. 261–327. Ausführlich zum Pietismus in Halle Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: ders., Geschichte (wie Anm. 10), S. 440–539; Schicketanz, Pietismus (wie Anm. 10), S. 88–113; vgl. auch Deppermann, Pietismus (wie Anm. 8), S. 90–95; Udo Sträter: Aufklärung und Pietismus – Das Beispiel Halle, in: Hammerstein, Universitäten (wie Anm. 7), S. 49–61; Erhard Selbmann: Die gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Pietismus hallischer Prägung, in: 450 Jahre (wie Anm. 2), S. 59–76; Hans Ahrbeck: Über die Erziehungs- und Unterrichtsreform A. H. Franckes und ihre Grundlagen, in: 450 Jahre (wie Anm. 2), S. 77–93. Dazu schon Ernst Landsberg: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Dritte Abtheilung, Erster Halbband, Text, München u.a. 1898, S. 64–70; überblicksartig zum ideengeschichtlichen Kontext mit Nachweisen Klaus Luig: Aufklärung und Privatrechtswissenschaft, in: Hammerstein, Universitäten (wie Anm. 7), S. 159–179. Zu Person und Bedeutung Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 169–204; Landsberg, Geschichte (wie Anm. 20), S. 117–122. Weitere Dozenten der ersten Stunde an der Juristischen Fakultät sind Johann Georg Simon (1636–1696), Heinrich Bode (1652–1720) und Johann Samuel Stryk (1668–1715).
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eine (wenn auch nicht rechtliche, so doch politische) Pflicht des Fürsten statuiert.22 Christian Wolff (1679–1754) schließlich, der seit 1706 in Halle Mathematik und Philosophie lehrt, prägt durch sein rationalistisches rechtsphilosophisches System nachhaltig die Wissenschaftstheorie im Ganzen.23 Das geistige Bündnis von Frühaufklärung und Pietismus in Halle gründet in dem gemeinsamen Bild des Menschen als eines freien Individuums (im territorialabsolutistischen Staat). Auch wenden sich Frühaufklärung und Pietismus gleichermaßen gegen die tradierte lutherisch-orthodoxe Wissenschaftsauffassung, nämlich jeweils auf der Basis einer (eigen-)erfahrungsorientierten wissenschaftlichen beziehungsweise geistlichen Erkenntnislehre, zudem übereinstimmend in der Absage an alle müßige Theorie zugunsten einer lebenspraktisch wirksamen (auch pädagogischen) Lehre, die geistlich auf Bekehrung und geänderte Lebensführung, ethisch auf die Hebung der Sitten zielt. Allerdings kommt es aufgrund inhaltlicher Differenzen und vor allem der streitbaren agierenden Charaktere auch immer wieder zu Konflikten, deren markanten Höhepunkt die seitens der Pietisten betriebene Verweisung Christian Wolffs aus Halle im Jahr 1723 bildet, der erst 1740 dorthin zurückkehrt, um einen Lehrstuhl für Natur- und Völkerrecht und Mathematik zu übernehmen.24
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Etwa Nikolaus Hieronymus Gundling: Politica seu prudentia civilis, Halle 1732; zur Interpretation Hinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, Bonn 1968, S. 104–108, 130–139, 166–170; ausführlich zu Person und Interpretation Daniela Fischer: Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729). Der Blick eines frühen Aufklärers auf die Obrigkeit, die Gesellschaft und die Gebildeten seiner Zeit, Trier 2003; des Weiteren Landsberg, Geschichte (wie Anm. 20), S. 122–125; Hammerstein, Jus (wie Anm. 21), S. 205–265; allgemein zur Bedeutung der Universität Halle für die deutsche Staatswissenschaft: dort S. 43–265; Hans Maier: Halle und die deutsche Staatswissenschaft, in: Hartwich, Universitätsjubiläum (wie Anm. 12), S. 65–84; überblicksartig zum ideengeschichtlichen Kontext Michael Stolleis: Jus publicum und Aufklärung, in: Hammerstein, Universitäten (wie Anm. 7), S. 181–190; umfassend zur „Reichspublizistik“ ders.: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band. Reichspublizistik und Polizeywissenschaft 1600–1800, München 1988, hier insbesondere S. 268–309. Vgl. nur Max Frischeisen-Köhler, Willy Moog: Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, Dritter Teil. Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts, Tübingen 1953, S. 448–466. Schrader, Erster Teil (wie Anm. 2), S. 122–126; Abdruck der königlichen Ordre an Wolff vom 8.11.1723 bei Schrader, Zweiter Teil (wie Anm. 2), S. 459 (= Anlage 19); zum Ganzen Walter Sparn: Philosophie, in: Lehmann, Geschichte (wie Anm. 10), S. 227–263, hier S. 229–249; Hinrichs, Preußentum (wie Anm. 10), S. 352–441; Sträter, Aufklärung (wie Anm. 19), S. 49 f., 58–61; Schicketanz, Pietismus (wie Anm. 10), S. 106 f.; Brecht, Francke (wie Anm. 19), S. 503–507.
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DAS WISSENSCHAFTS- UND LEHRVERSTÄNDNIS VON CHRISTIAN THOMASIUS Erkenntnistheorie Betrachtet man vor dem skizzierten historischen und ideengeschichtlichen Hintergrund Thomasius’ Wissenschafts- und Lehrverständnis, so ist als erstes von vier Charakteristika seine spezifische Erkenntnislehre herauszustellen. Für Thomasius steht, zumindest in seiner Selbstdarstellung, am Beginn seiner erkenntnistheoretischen Reflexionen ein persönlicher Emanzipationsprozess während seiner Studienzeit, nämlich eine Loslösung vom aristotelisch-mittelalterlichen Naturrecht zugunsten des frühneuzeitlichen Naturrechts des Hugo Grotius (1583–1645).25 Wenn Thomasius vor diesem Hintergrund allgemein die Überwindung des kritiklosen Glaubens an Überliefertes fordert, insbesondere die wissenschaftliche Autorität Aristoteles’ (384– 322 v. Chr.) bestreitet, so stellt er damit das mittelalterliche und frühneuzeitliche Wissenschaftsverständnis im Ganzen in Frage, das eben auf dieser Autorität fußt und das nicht auf Wissenszuwachs, nicht auf neue Erkenntnisse zielt, sondern auf Bewahrung und stets neue Durchformung des Bekannten.26 Die Vernunftlehre, wie Thomasius sie entwickelt, begreift die Vernunft demgegenüber nicht mehr als Instrument des Auffassens fixierter und ewiggültiger Wahrheiten, sondern der kritischen Reflexion des Tradierten und der Überwindung von Vorurteilen, die auf blindem Autoritätsglauben oder Übereilung beruhen; die Kunst der logischen Argumentation soll nicht mehr darin bestehen, formal richtig zu schließen, sondern praktisch relevante Erkenntnis zu gewinnen.27 25
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Christian Thomasius: Institutiones iurisprudentiae divinae, in Positiones succincte contractae, in quibus Hypotheses Illustris Pufendorffii circa doctrinam Juris Naturalis Apodictice demonstrantur et corroborantur, praecepta vero Juris Divini Positivi Universalis primum a Jure Naturali distincte secernentur, et perspicue explicantur, Halle 1688, Dissertatio Prooemialis, §§5–14; Bezugnahme auf Hugo Grotius: De Iure Belli ac Pacis libri tres, in quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur, Paris 1625. Zum Aristotelismus nur Wilhelm Schmidt-Biggemann: New Structures of Knowledge, in: Hilde de Ridder-Symoens (Hg.): A History of the University in Europe, Volume II. Universities in Early Modern Europe (1500–1800), Cambridge 1996, S. 489–530, hier vor allem S. 491–493. Christian Thomasius: Introductio ad Philosophiam aulicam, seu linea primae libri de prudentia cogitandi et ratiocinandi, ubi ostenditur media inter praeiudicia Cartesianorum, et ineptias Peripateticorum, veritatem inveniendi via, cum Ulr. Huberi oratione de Paedantismo, Leipzig 1688; ders.: Einleitung in die Vernunfft-Lehre/ Worinnen durch eine leichte/ und allen vernünfftigen Menschen/ waserley Standes oder Geschlechts sie seyn/ verständliche Manier der Weg gezeiget wird/ ohne die Syllogistica das wahre/ wahrscheinliche und falsche voneinander zu entscheiden/ und neue Warheiten zu erfinden, Halle 1691; ders.: Ausübung Der Vernunfft-Lehre, Oder: Kurtze/ deutliche und wohlgegründete Handgriffe/ wie man in seinem Kopffe aufräumen und sich zur Erforschung der Wahrheit geschickt machen; die erkandte Wahrheit andern beybringen; andere verstehen und auslegen, von anderer Meinungen urtheilen, und die Irrtümer geschicklich widerlegen solle. Worinnen allenthalben viel allgemeine heut zu Tage im Schwang gehende Irrthümer angezeiget und deutlich beantwortet werden., Halle 1691; zum historischen Zusammenhang grundlegend Werner Schneider: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart-Bad Cannstadt 1983; vgl. jetzt auch die kommentierte auszugsweise Herausgabe der thomasischen Schriften zur Logik in: Günter Schenk, Regina Meyer (Hg.):
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Für die Lehrpraxis ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Traditionell erfolgt der Unterricht an den Universitäten in der Form von Vorlesungen und Disputationen. In der Vorlesung liest der Dozent aus einem aristotelischen Standardwerk vor und erläutert dieses in aristotelischer Syllogistik als der charakteristischen scholastischen Argumentationsform. In der Disputation stellt der Disputant, unter dem Vorsitz des Dozenten als praeses, eine These vor, die der Opponent argumentativ zu entkräften sucht. Auch diese Lehrform dient der Reproduktion und Vertiefung des Stoffes, sowie der praktischen Einübung aristotelisch-dialektischer Argumentationskunst. Eine kritische Reflexion des Tradierten, die auf neue Erkenntnisse zielen könnte, ist dabei nicht intendiert.28 Dagegen sucht Thomasius, wie er erklärt, in seinen Vorlesungen gegensätzliche Auffassungen produktiv zu konfrontieren, und im Rahmen von Disputationen mit den Studenten das selbständige kritische Denken einzuüben.29 Das Verständnis der individuellen Vernunft als Mittel zur Erkenntnis durch (rationales) Schließen verbindet Thomasius mit einer epistemologisch empiristischen Anthropologie, nach der der Mensch Erkenntnisse sowohl in moralischer als auch in physischer Hinsicht zunächst sinnlich gewinne: Die Einzeldinge, die den Menschen umgeben, nehme er in erster Linie physisch wahr, erst dann bilde er sich mittels seines Verstandes einen abstrakten Begriff von ihnen, „nihil est in intellectu [...] quod non prius fuerit [...] in sensione humana“.30 Neben die Eigenerfahrung tritt die Frem-
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Psychologisch-juristische Richtung der Logik im 18. Jahrhundert in Halle. Thomasius, Buddeus, Sperlette, Schneider, Gundling, Heineccius, Halle 2008, S. 19–130. Zu den traditionellen Lehrinhalten und Unterrichtsformen Laurence Brockliss: Lehrpläne, in: Rüegg, Geschichte (wie Anm. 5), S. 451–494, hier S. 451–455; Helmut Coing: Die juristische Fakultät und ihr Lehrpropramm, in: ders. (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Zweiter Band. Neuere Zeit (1500–1800). Das Zeitalter des gemeinen Rechts, Erster Teilband. Wissenschaft, München 1977, S. 3–102, hier S. 47–53; zum Disputationswesen grundlegend Ewald Horn: Die Disputationen und Promotionen an den Deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1893; vgl. auch Filippo Ranieri: Juristische Universitätsdisputationen im 17. und 18. Jahrhundert. Zur Analyse des deutschen Autoren- und Händlermarktes, in: Erk Volkmar Heyen (Hg.): Historische Soziologie der Rechtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1986, S. 157–172. Etwa Christian Thomasius: Christian Thomasius eröffnet Der Studierenden Jugend Zu Leipzig In einem Discours Von den Mängeln derer heutigen Akademien, absonderlich aber der Jurisprudenz zwey Collegia Ein Disputatorium über seine Prudentiam ratiocinandi und ein Lectorum nach einer sonderbahren methode über die Institutiones Justinianeas. (1688), in: ders.: Allerhand bißher publicirte Kleine teutsche Schriften/ Mit Fleiß colligiret und zusammen getragen, Halle 1701, S. 195–232; vgl. dazu schon Gertrud Schubart-Fikentscher: Christian Thomasius. Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn der deutschen Aufklärung, Berlin 1977, S. 28–35. Christian Thomasius: Fundamenta Juris Naturae et gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernentur principia Honesti, Justi ac Decori cum adiuncta emendatione ad iste fundamenta, Institutionum Jurisprudentiae divinae. In usum Auditorii Thomasiani, Halle 1705, I 1, Zitat dort §23; zum – zunehmenden – sensualistischen Moment etwa Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 151–167; mit Bezug auf die erkenntnistheoretischen Passagen von Thomasius, Einleitung in die Vernunfft-Lehre (wie Anm. 27), und dabei den Antagonismus Empirismus – Rationalismus relativierend: Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, Paderborn u.a. 1996, S. 256–268; Luigi Cataldi Madonna: Die Konzeption der Vernunft bei Christian Thomasius. Ein Mittelweg zwischen Empirismus und Rationalismus, in: Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter
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derfahrung, das heißt die Gesamtheit der geschichtlich überlieferten Erkenntnisse. Dabei hat Thomasius aber nicht mehr die aristotelisch-mittelalterlichen Traditionen im Sinn, sondern die Geschichte einer jeden wissenschaftlichen Disziplin von ihren Anfängen, ausgehend von dem als historisch begriffenen Sündenfall und dem weiteren biblisch geoffenbarten Geschehen bis hin zum derzeitigen Zustand. Auch diese Positionierung führt zu wichtigen Impulsen für die Lehrpraxis, die Thomasius in seinem wichtigsten Lehrkonzept, dem Summarischen Entwurff Derer Grundlagen aus dem Jahr 1699,31 umsetzt. Jedes Wissensgebiet wird hier in zwei Abschnitten gelehrt, zunächst historisch, sodann systematisch. Plastisch begreift Thomasius Eigen- und Fremderfahrung als die zwei Augen menschlicher Erkenntnis.32
Der geschlossene Wissenskosmos Thomasius strebt von Beginn seiner Lehrtätigkeit an, möglichst den gesamten dem Menschen verfügbaren (und zugleich nutzbringenden) Wissenskosmos, und, solange er diesen noch nicht vollständig vorlesungsgerecht ausgearbeitet hat, wenigstens in in sich geschlossenen Teilen kompakt zu vermitteln. Bereits für seine ersten belegten Vorlesungen – über Grotius’ De Iure Belli ac Pacis 1680–81 und 1683–84 – hebt er hervor, die „fundamenta iuris universi“ gelehrt zu haben;33 1686 legt er ein Konzept vor, nach dem die Grundlagen der gesamten Rechtsgelehrtheit (Rechtsphilosophie; Privatrecht inklusive Strafrecht; Staatsrecht; Kirchenrecht) orientiert an Samuel Pufendorfs (1632–1694) De officio hominis vermittelt werden sollen.34 1689, noch in Leipzig, stellt Thomasius sodann sein erstes philosophisch-juristisches Gesamtstudienkonzept vor mit dem Titel: Christian Thomasius eröffnet Der Studierenden Jugend Einen Vorschlag/ wie er einen jungen Menschen/ der sich ernstlich fürgesetzt/ Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen/ und als ein honnet und galant homme zu leben/ binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie und singulis Jurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey.35 Im Sinne eines theoretischen Modells umreißt Thomasius den (gesamten) Kreis der Wissenschaften in seinem ersten rechtsphilosophischen Hauptwerk, den Institutiones Iurisprudentiae Divinae von 1688/89, als Tätigkeit des verstandesbezogenen (im Gegensatz zum willensbezogenen) menschlichen habitus. Dieser habitus kön31 32 33 34
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Horstmann (Hg.): Vernunftbegriffe in der Moderne, Stuttgart 1994, S. 153–174. Christian Thomasius: Summarischer Entwurff Derer Grundlehren/ Die einem Studioso Juris zu wissen/ und auff Universitäten zu lernen nöthig, Halle 1699. Näheres zu diesem Bild mit Nachweisen bei Georg Steinberg: Christian Thomasius als Naturrechtslehrer, Köln u.a. 2005, S. 29, 102, 161f. Thomasius: Institutiones (wie Anm. 25), Dissertatio Prooemialis §17. Ders.: Programma de lectionibus privatis super fundamentis Juris universi. 1686. Variorum consilia de methodo discendi Jurisprudentiam, in: ders.: Programmata (wie Anm. 13), S. 28–35; Bezug auf Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo, Lund 1673. Ders.: Christian Thomasius eröffnet Der Studierenden Jugend Einen Vorschlag/ wie er einen jungen Menschen/ der sich ernstlich fürgesetzt/ Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen/ und als ein honnet und galant homme zu leben/ binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie und singulis Jurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey (1689), in: ders., Schriften (wie Anm. 29), S. 233–270.
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Georg Steinberg
ne gegliedert werden in einen beschaulichen habitus, wonach der Mensch, mittels Ontologie, Metaphysik, Pneumatik („Geister-Lehre“), Physik und Mathematik, den Schöpfer und die Mitgeschöpfe betrachte, und in einen praktischen habitus, der die menschlichen Handlungen in der Gesellschaft (Politik) und in häuslichen Angelegenheiten (Ökonomie) zum Gegenstand habe, sowie auch in rechtlicher Hinsicht (Rechtslehre, unterteilt in prudentia legislatoria, prudentia consultatoria und schließlich gerichtliche Klugheit als Rechtsgelehrtheit im engeren Sinne).36 Zehn Jahre später, 1699, vermag Thomasius schließlich sein am besten durchgeformtes Gesamt-Vorlesungsprogramm vorzulegen, nämlich seinen 265seitigen Summarischen Entwurff Derer Grundlehren/ Die einem Studioso Juris zu wissen/ und auff Universitäten zu lernen nötig/ nach welchen D. Christian Thomasius künfftig/ so Gott will Lectiones privatissimas zu Halle/ in vier verschiedenen Collegiis anzustellen gesonnen ist. Gegenstand des artistisch-philosophischen Propädeutikum sind demzufolge, nach einer einführenden allgemeinen Weisheitslehre, die Grammatik (Fremdsprachen und Sprachtheorie, Poetik, Rhetorik und Oratorie), die Vernunftlehre im bereits skizzierten Sinne, die Metaphysik und Pneumatik, sodann die Sittenlehre, die Naturrechtslehre und schließlich die Lehre vom decorum als der „Wohlanständigkeit“. Gegenstand des sich anschließenden rechtswissenschaftlichen Studiums sind das Privat- (inklusive Straf-), Staats- und Kirchenrecht. Thomasius’ Anspruch allumfassender Wissensvermittlung wird, ebenso wie seine diesbezügliche Selbstüberschätzung, exemplarisch augenfällig, wenn er Metaphysik und Pneumatik zu lehren plant anhand des selbst verfassten Versuch von Wesen des Geistes oder Grund-Lehren/ so wohl zur natürlichen Wissenschaft/ als der SittenLehre. In welchen gezeiget wird, daß Licht und Lufft ein geistiges Wesen sey/ und alle Cörper aus Materie und Geist bestehen/ auch in der gantzen Natur eine anziehende Krafft/ in dem Menschen aber ein zweyfacher guter und böser Geist sey. Bereits der Titel macht deutlich, dass Thomasius hier den Stand der physikalischen Wissenschaft am Ende des siebzehnten Jahrhunderts nicht hinreichend kennt.37 Thomasius geht also, um dies zusammenzufassen, von einem geschlossenen Kosmos des derzeit verfügbaren Wissens aus. Dieser Kosmos ruht, wie insbesondere die zitierten Ausführungen in den Institutiones Jurisprudentiae Divinae zeigen, auf dem gemeinsamen Konsens über die christlichen Fundamente der Wissenschaft. Das Philosophiestudium soll dabei, im Zusammenspiel mit den anderen propädeutischen Fächern, auf das Studium eines der Hauptfächer, Theologie, Jurisprudenz oder Medizin, vorbereiten. Insofern denkt Thomasius traditionell.38 In zweierlei Hinsicht stellt 36 37
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Ders., Institutiones (wie Anm. 25), I 1 §§1–26. Ders.: Versuch von Wesen des Geistes oder Grund-Lehren/ so wohl zur natürlichen Wissenschaft/ als der Sitten-Lehre. In welchen gezeiget wird, daß Licht und Lufft ein geistiges Wesen sey/ und alle Cörper aus Materie und Geist bestehen/ auch in der gantzen Natur eine anziehende Krafft/ in dem Menschen aber ein zweyfacher guter und böser Geist sey, Halle 1699; zur Interpretation mit Nachweisen Kay Zenker: Vorwort, in: ders. (Hg.): Christian Thomasius, Versuch vom Wesen des Geistes, Hildesheim u.a. 2004, S. V–XLVIII; Thomas Ahnert, Religion and the Origins of the German Enlightenment. Faith and the Reform of Learning in the Thought of Christian Thomasius, New York 2006, S. 107–119. Zu Lehrtradition und Selbstverständnis der Artistenfakultät nur Brockliss, Lehrpläne (wie Anm. 28), S. 462–474.
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sich Thomasius jedoch, wie im Folgenden ausgeführt wird, gegen die Tradition: Zum einen zielt er darauf ab, die Rechtswissenschaft von theologischen Einflüssen und Implikationen zu befreien;39 zum anderen erhebt er die praktische Nutzbarkeit zum Bewertungsmaßstab einer jeden Wissenschaft.
Der Nutzengedanke Thomasius betont in seinen Schriften immer wieder, dass sich eine jede Wissenschaft an ihrem praktischen Nutzen messen lassen muss.40 Allgemein hebt Thomasius dies in den wissenschaftstheoretischen Ausführungen der Institutiones Jurisprudentiae Divinae hervor und argumentiert theologisch: „Hieher gehören allerhand Aussprüche ihres grossen Aristotelis, Die beschauliche (theoretische) Glückseligkeit sey edler als die thätige; Sie wäre mit grösserer Ergetzlichkeit vergesellschaffet/ als die thätige; Die beschauliche vereinigte den Menschen näher mit Gott/ als die thätige/ item: Die Klugheit dienete etlicher massen der Weißheit u.d.gl. An stat dieser Lappalien wollen wir es lieber mit dem Apostel Paulo halten/ welcher die Liebe so aus der Klugheit entspringet allen Beschaulichkeiten (oder Wissenschafft) vorzeucht.“41
Diese Forderung praktischer Nutzbarkeit der Wissenschaft konkretisiert Thomasius auch im Einzelnen, indem er im Summarischen Entwurff Derer Grundlehren das gesamte herkömmliche Propädeutikum entsprechend neu durchformt: Die Sprachlehre soll auf den Erwerb eines klaren und deutlichen Ausdrucksvermögens zielen;42 die Logik soll, als Vernunftlehre, nicht der Erlernung formal richtigen Schließens als Selbstzweck, sondern der Erkenntniserweiterung dienen.43 Die Ethik (Sittenlehre) soll nicht der konsequenzlosen Kontemplation, sondern der Charakterbesserung im christlichen Sinn dienen; Thomasius geht hierbei von einer fortschreitenden Verderbtheit der Menschen nach dem Sündenfall aus und lotet die Möglichkeiten einer intellektuellen Beherrschung der negativen Triebe Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust aus; zunehmend pessimistisch, sieht er den Menschen letztlich als der göttlichen Gna-
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Zur Theologie als traditioneller Leitwissenschaft nur Schmidt-Biggemann, Structures (wie Anm. 26), S. 500–509. Vgl. nur die programmatisch an den Anfang des Gesamtstudienprogramms gestellte These: Thomasius, Summarischer Entwurff Derer Grundlehren (wie Anm. 31), I 1 §3: „Daß die Weißheit nicht in blosser Erkäntnüß der Wahrheit bestehe/ ohne Betrachtung ob dieselbe nützlich sey/ oder nicht.“ Ders., Institutiones (wie Anm. 25), I 1 §§22–26, Zitat dort §§25 f. (nach der von Ephraim Gerhard besorgten und herausgegebenen Übersetzung Christian Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, in welchen die Grundsätze des natürl. Rechts nach denen von dem Freyherrn von Pufendorff gezeigten Lehrsätzen deutlich bewiesen/ weiter ausgearbeitet/ Und von den Einwürffen der Gegner desselben/ sonderlich Herrn D. Valentin Alberti befreyet/ Auch zugleich die Grundsätze der Göttlichen allgemeinen geoffenbarten Gesetze gezeiget werden, Halle 1709); vgl. ebd., Dissertatio Prooemialis §§35–37; entsprechende Aussagen des Paulus finden sich etwa in 1. Kor. 1, 22 f.; 13, 2 und 8–10; Kol. 2, 8; 3, 16–17; 1. Tim. 1, 4–7. Thomasius, Entwurff (wie Anm. 31), I 7–9. Ebd., I 10.
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Georg Steinberg
de bedürftig.44 Die Lehre des decorum, der Wohlanständigkeit, als eines zwischen rechtlichen und moralischen Normen befindlichen Verhaltenscodex, zielt, praktisch, auf einen höflichen und freundlichen zwischenmenschlichen Umgang.45 Damit insbesondere die Naturrechtslehre taugliche Grundlage einer geglückten Rechtslehre und -praxis sein kann,46 arbeitet Thomasius, vor allem in seinen Hauptwerken, den Institutiones iurisprudentiae divinae von 1688 und den Fundamenta Juris Naturae et gentium von 1705, sukzessive eine Scheidung des Rechts von der Moral(-theologie) heraus, wonach die Moral goldener Hintergrund des Rechts bleibt, im Übrigen aber dem Zugriff des weltlichen Gesetzgebers entzogen ist.47 Dieser Gedanke, als sein wohl bedeutsamster, ermöglicht Thomasius eine theoretisch wie praktisch wirkungsmächtige Stützung seiner Reformforderungen im Bereich des Rechts: Im – säkular hergeleiteten – Staatsrecht sollen, wobei Thomasius sich vor allem an Samuel Pufendorf orientiert, kirchliche, insbesondere päpstliche, aber auch die kaiserlichen Machtansprüche eingedämmt werden zugunsten einer stärkeren Stellung des Territorialfürsten. Dessen Machtfülle findet ihre Grenzen an der individuellen, nämlich moralischen Freiheit des Untertanen, insbesondere dessen freier Glaubenswahl. Ein bürgerliches Selbstverständnis, das Widerstandsrechte des Bürgers einschließen könnte, entwickelt Thomasius hier jedoch (noch) nicht.48 Im Privatrecht arbeitet er die praktische aktuelle Bedeutung deutschen Rechts im Gegensatz zum formal geltenden römischen Recht des Corpus iuris heraus. Ohne quellenkritisches Denken im heutigen Verständnis trägt er damit zu einer historisch kritischeren Sicht auf die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland bei.49 Im Strafrecht schließlich 44
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Ebd., I 14; Bezugnahme auf ders.: Von der Kunst Vernünftig und Tugendhaft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zugelangen; Oder Einleitung der Sittenlehre, Halle 1692; ders.: Von der Artzeney Wieder die unvernünftige Liebe, und der zuvor nöthigen Erkäntniß Sein Selbst. Oder: Ausübung der Sittenlehre, Halle 1696; zur Interpretation grundlegend Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim u.a. 1971. Thomasius, Entwurff (wie Anm. 31), I 16; dazu etwa Matthias Kaufmann: Das Decorum: Grundlage oder Folgeerscheinung des Rechts?, in: Lück, Thomasius (wie Anm. 3), S. 27–38; Klaus-Gert Lutterbeck: Das decorum Thomasii als Faktor sozialer Kohäsion oder: Systematische Strukturen im Denken eines Eklektikers, in: Manfred Beetz, Herbert Jaumann (Hg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext, Tübingen 2003, S. 77–102. Thomasius: Entwurff (wie Anm. 31), I 15; zur überkommenen Lehrtradition an der Juristischen Fakultät umfassend Coing, Fakultät (wie Anm. 28), S. 29–47; vgl. auch Brockliss, Lehrpläne (wie Anm. 28), S. 479–486. Grundlegend Schneiders, Naturrecht (wie Anm. 44), dort vor allem S. 258–289. Überblicke bei Hinrich Rüping: Christian Thomasius. Natürliches Strafrecht im absoluten Staat, in: Reiner Schulze, Thomas Vormbaum, Christine D. Schmidt, Nicola Willenberg (Hg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung, Münster 2008, S. 105– 114; Steinberg, Thomasius (wie Anm. 32), S. 188–195; zu Thomasius’ politischem Denken Martin Kühnel: Das politische Denken von Christian Thomasius. Staat, Gesellschaft, Bürger, Berlin 2001; Klaus-Gert Lutterbeck: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; instruktiv jetzt Ian Hunter: The Secularisation of the Confessionel State. The Political Thought of Christian Thomasius, Cambridge 2007. Grundlegend zu Thomasius’ Privatrecht sind die Arbeiten von Klaus Luig: Das Privatrecht von Christian Thomasius zwischen Absolutismus und Liberalismus, in: Werner Schneiders
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entfalten Thomasius’ Veröffentlichungen die bedeutsamste gesellschaftliche Wirkung. Aus dem rechtsphilosophischen Ansatz der Scheidung von Recht und Moral kann ein säkularisiertes, utilitaristisch auf Generalprävention gerichtetes Strafverständnis gefolgert werden, konkretisiert in dem Postulat, die Strafbarkeit der Ketzerei, vor allem der Hexerei abzuschaffen. Hingegen wendet sich Thomasius nicht gegen den frühneuzeitlichen Inquisitionsprozess als Ganzen, insbesondere nicht gegen dessen beweisrechtlichen integrativen Bestandteil, die Folter.50 Thomasius stellt diesen Nutzengedanken in einem solchen Maß ins Zentrum, dass dies zuweilen zu Lasten der theoretischen Geschlossenheit seiner Werke geht. Intentionaler Ausgangspunkt seiner Veröffentlichungen sind stets Mängel in der Lehroder Rechtsprechungspraxis, daneben auch persönlich-geistliche, im theoretischen Sinn jedenfalls heterogene Anliegen.51 Folgerichtig weist sein Denken pragmatischeklektizistische Züge auf52 und bleibt, entsprechend der veränderlichen Lebens- und Erlebnissituation von Thomasius selbst, einem steten Wandel unterworfen.53
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(Hg.): Christian Thomasius 1655–1728, Hamburg 1989, S. 148–172; ders.: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im Zeitalter der Aufklärung in der Sicht von Christian Thomasius, in: Norbert Horn (Hg.): Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, Band I, München 1982, S. 177–201; vgl. auch Bernd-Rüdiger Kern: Thomasius und das Deutsche Privatrecht, in: Lück, Thomasius (wie Anm. 3), S. 297–308; Überblick bei Steinberg, Thomasius (wie Anm. 32), S. 180–185, mit weiteren Nachweisen. Zum säkularen Strafverständnis nur Thomasius: Institutiones (wie Anm. 25), III 7 §§101 f., 129–140; ders., Fundamenta (wie Anm. 30), III 7 §§3–5; zur Ketzerei ders.: An Haeresis sit crimen?, Halle 1697; ders.: De iure Principis circa Haereticos, Halle 1712; zur Hexerei ders.: De Crimine Magiae – Von dem Verbrechen der Zauber- und Hexerey, Halle 1703; ders.: De origine ac progressu processus inquisitorii contra sagas – Vom Ursprung und Fortgang des Inquisitionsprocesses wider die Hexen, Halle 1729; dazu etwa Günter Jerouschek: Christian Thomasius, Halle und die Hexenverfolgungen, in: Juristische Schulung (1995), S. 576–581, hier S. 577f.; Gerd Schwerhoff: Aufgeklärter Traditionalismus – Christian Thomasius zu Hexenprozeß und Folter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Band 104 (1987), S. 247–260; zur Folter Christian Thomasius, Martin Bernhard: De Tortura ex foris Christianorum proscribenda, Halle 1742; zur Interpretation nur Wolfgang Ebner: Christian Thomasius und die Abschaffung der Folter, in: Helmut Coing (Hg.): Ius Commune (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt a.M., Band 4), Frankfurt a.M. 1972, S. 73–80, hier S. 77–80; Überblick zum Ganzen mit Nachweisen bei Steinberg, Thomasius (wie Anm. 32), S. 185–188. Für die Naturrechtslehre ist dieses Phänomen skizziert bei Georg Steinberg: Praxis und Theorie: Positives Recht im Naturrecht von Christian Thomasius, in: Lück, Thomasius 2006 (wie Anm. 3), S. 353–367. Etwa Michael Albrecht: Thomasius – kein Eklektiker?, in: Schneiders, Thomasius (wie Anm. 49), S. 73–94; Tim J. Hochstrasser: Natural Law Theories in the Early Enlightenment, Cambridge 2000, S. 121–129, mit weiteren Nachweisen. Dazu Steinberg, Thomasius (wie Anm. 32), S. 18f.
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Georg Steinberg
Die Lehrpraxis Thomasius’ Theorie ist also praxisorientiert.54 Daneben stellt aber Thomasius auch auf eine andere Weise einen besonderen Praxisbezug her,55 indem er seine wissenschaftstheoretischen Überzeugungen in der eigenen Lehrpraxis tatsächlich konsequent umzusetzen sucht. Wenn man bei der Stützung auf Thomasius’ eigene Darstellungen als Quellen eine gewisse Tendenz zur Selbststilisierung wird in Rechnung stellen müssen, so ist die Quellenlage doch insofern günstig, als sie, in verhältnismäßig großer Breite, eine, das Jahrzehnt in Leipzig (1680–1690) eingerechnet, fast fünfzig Jahre (bis 1728) währende Lehrtätigkeit umfasst; zudem lassen sich Thomasius’ Angaben in weiten Teilen insbesondere durch die erhaltenen Vorlesungsübersichten des Codex Lectionum im Detail verifizieren.56 Danach kann davon ausgegangen werden, dass Thomasius die praktische Umsetzung des theoretischen Programms nicht nur postuliert, sondern hinsichtlich seiner eigenen Lehrpraxis auch realisiert hat. Neben den bereits erwähnten neuen Lehrzielen für Vorlesungen und Disputationen im allgemeinen zeugen die Quellen von Thomasius’ Offenheit für neue Lehrformen, daneben überhaupt von seinem rhetorischdidaktischen Talent. Thomasius’ historische Wirkungsmacht entfaltet sich denn auch weniger über seine eigenen Werke, deren keines zu einem wissenschaftlichen Standardlehrwerk aufgerückt ist,57 als vielmehr über, dies darf man mutmaßen, seine einnehmende Persönlichkeit sowie seine zahlreichen Schüler. Diese tradieren Thoma54
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Etwa Michael Albrecht: Christian Thomasius. Der Begründer der deutschen Aufklärung und seine Philosophie, in: Lothar Kreimendahl (Hg.): Philosophen des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1999, S. 238–259, hier S. 240–249; Friedrich Vollhardt: „Die Finsternüß ist nunmehro vorbey“. Begründung und Selbstverständnis der Aufklärung im Werk von Christian Thomasius, in: ders. (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1977, S. 3–13; Werner Schneiders: Leibniz – Thomasius – Wolff. Die Anfänge der Aufklärung in Deutschland, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, Band 1, 17.–22. Juli 1972, Wiesbaden 1973, S. 105–121, hier S. 110–113; Jürgen Engfer: Erste Proklamation und erste Krise der Aufklärung in Deutschland, in: Schneiders, Thomasius (wie Anm. 49), S. 21–36, hier S. 21–23; Hinrich Rüping: Theorie und Praxis bei Christian Thomasius, in: Schneiders, Thomasius (wie Anm. 49), S. 137–147. Zu diesen verschiedenen Praxisbegriffen mit Nachweisen Steinberg, Thomasius (wie Anm. 32), S. 18–21. Codex Lectionum Annuarum in Regia Fridericiana Halensi habitarum ab Academiae inauguratione 1694 usque ad annum praesentem [1768] magna cum cura sumtibusque collectus a Friderico Arnoldo Bachmanno Notar. Publ. Caes. Jur. et Academiae Halensis Ministro. Zwei Bände. Der Codex ist in Teilen abgedruckt bei Fleischmann, Thomasius (wie Anm. 3), S. 195–214. Thomasius’ eigene Vorlesungsankündigungen sind vorwiegend in verschiedenen Sammelbänden erhalten: Thomasius, Schriften (wie Anm. 29); ders.: Außerlesene und in Deutsch noch nie gedruckte Schrifften, Halle 1705; ders.: Außerlesener Und dazu gehöriger Schrifften Zweyter Teil., Frankfurt a.M. u.a. 1714; ders.: Programmata Thomasiana (wie Anm. 13); Näheres zur Quellenlage bei Steinberg, Thomasius (wie Anm. 32), S. 10–17; tabellarische Übersicht über die nachgewiesenen von Thomasius gehaltenen Vorlesungen hier S. 201–214. So Horst Dreitzel: Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus. Thomasius und die Destruktion des frühneuzeitlichen Konfessionsstaates, in: Vollhardt, Thomasius (wie Anm. 54), S. 17–50, hier S. 22.
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sius’ zugleich aufgeklärt-naturrechtliches und territorial-absolutistisches Denken in Preußen und über die Grenzen Preußens hinaus.58
Schluss Wie politisch intendiert, vermag die Gründung der Universität Halle 1694 zu einer interkonfessionellen Entspannung in Preußen beizutragen, und Halle wird zu einem wichtigen wissenschaftlichen Zentrum Preußens. Wenn auch dieser Entwicklung äußerlich die bestehenden Standortfaktoren in Halle entgegenkommen, resultiert der Erfolg der Neugründung jedoch vor allem aus der ideengeschichtlich bedeutsamen Situation, dass sich in Halle (früh-)aufklärerische wissenschaftliche Impulse im Bündnis mit dem Pietismus entfalten können. Für das Wissenschafts- und Lehrverständnis von Thomasius, dem ersten Dozenten und ideengeschichtlichen Gründungsvater der Universität, ist zunächst das emanzipatorische Vertrauen in die eigene Vernunft, in die Möglichkeit der eigenverantwortlichen Überwindung tradierter Irrtümer, als charakteristisch und dabei spezifisch aufklärerisch zu nennen. Die Vorstellung eines erfassund darstellbaren Wissenskosmos, mit der (aufgeklärt-)enzyklopädisches Denken anklingen mag,59 verbindet Thomasius, wiederum spezifisch aufklärerisch,60 mit dem Postulat, alle Wissenschaft auf ihren praktischen Nutzen hin zu überprüfen und auszurichten. Die Umsetzung in die eigene Lehrpraxis rundet dieses Bestreben ab.
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Umfassend Rüping, Naturrechtslehre (wie Anm. 22); ders.: Christian Thomasius und seine Schule im Geistesleben des 18. Jahrhunderts, in: Heiner Lück (Hg.): Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposion für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 75. Geburtstags, Köln u.a. 1998, S. 127–136; allgemeiner Eckhart Hellmuth: Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985. Zur allgemeinen Entwicklung bis ins neunzehnte Jahrhundert nur Ulrich Dierse: Enzyklopädie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, Band 1: A–N, Hamburg 1999, S. 339–342, mit Nachweisen. Zum aufklärerischen Moment des Praxisbezugs etwa Vollhardt, Finsternüß (wie Anm. 54); Werner Schneiders: 300 Jahre Aufklärung in Deutschland, in: ders., Thomasius (wie Anm. 49), S. 1–20.
Detlef Döring DIE PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DER ALMA MATER LIPSIENSIS UM 1700 UND DIE ANFÄNGE DER MODERNEN UNIVERSITÄT Bekanntlich ist die Rolle der Universitäten umstritten, die sie im Prozess der Entstehung der modernen Wissenschaft einnahmen, der sich innerhalb der zwei Jahrhunderte von circa 1650 bis 1850 vollzog. Die vom Blick auf die westeuropäischen Entwicklungen bestimmte Forschung neigt von jeher dazu, die Bedeutung der Hochschulen zu marginalisieren. Es seien vor allem die Akademien gewesen, an denen sich die Heraufkunft der Moderne vollzog, weniger oder überhaupt nicht die ganz und gar konservativen Universitäten. Wenigstens für Deutschland trifft diese Annahme jedoch nicht zu, das heißt, den Hochschulen kam eine erhebliche, ja eine zentrale Bedeutung bei der Ausbildung der noch die Gegenwart bestimmenden Wissenschaften zu. Diese Feststellung ließe sich, wenigstens was die protestantischen Universitäten betrifft, fast flächendeckend beweisen, wenn auch in recht unterschiedlichem Grade.1 Im vorliegenden Beitrag soll es jedoch um die Frage gehen, ob und inwiefern eine konkrete Universität, nämlich die der Stadt Leipzig, innerhalb des Prozesses der Wandlung der Wissenschaftsauffassung und -praxis zu verorten ist. Die Frage nach dem Anteil der Hochschulen im Deutschen Reich an der Heraufkunft der modernen Wissenschaften kann nämlich nicht generell und pauschal beantwortet werden. Erforderlich ist die Beschäftigung mit den jeweils einzelnen Einrichtungen und zwar auf Grundlage fundierter und eingehender Quellenkenntnisse, wobei es hauptsächlich um die Erfassung und Auswertung des Lehrangebots und der Publikationstätigkeit der Dozenten geht. Ich nenne hier nur die besonders zentralen Stichworte Vorlesungsverzeichnisse und Dissertationen. An solchen Grundlagenarbeiten mangelt es eigentlich überall, auch bei der Alma mater Lipsiensis.2 Über die Situation der Wissenschaften an der Universität Leipzig um 1700 lässt sich nur schwer ein einigermaßen klares und zuverlässiges Bild gewinnen. Schon unter den Zeitgenossen differierten die Urteile beträchtlich. Im Jahre 1711 wurde auf Anordnung des Kurfürsten eine Befragung aller Professoren durchgeführt, in der diese sich über den Zustand ihrer Hochschule äußern sollen.3 Den Hintergrund für 1
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Detlef Döring: Universitätsprofessoren um 1700 an den protestantischen Universitäten im Reich und ihr Anteil an der Entwicklung der modernen Wissenschaften, in: Horst Carl, Friedrich Lenger (Hg.): Universalität in der Provinz. Die moderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten, Darmstadt 2009, S. 185–207. Zur Leipziger Universitätsgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert jetzt Detlef Döring: Anfänge der modernen Wissenschaften. Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform 1650–1830/31, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, Leipzig 2009, S. 516–771. Ich verweise zur Ergänzung meiner folgenden Ausführungen generell auf jene ausführliche Darstellung. UAL, Rep. I/I/33, Acta der von S. Königl. Maj [...] von ieden dero Herrn Professoren wegen des
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Detlef Döring
diese nicht gerade ungewöhnliche, aber doch eher selten durchgeführte Aktion bildete offenkundig die wachsende Konkurrenz der nahe benachbarten, erst vor wenigen Jahren gegründeten, im Kurfürstentum Brandenburg gelegenen Universität Halle. Generell schätzten die Professoren die Situation der eigenen Hochschule so ein, dass sie durchaus als florierende Einrichtung zu betrachten sei, jedoch kränkele sie an verschiedenen Mängeln. Über manche Probleme sind die Professoren einhelliger Auffassung, andere betrachten sie dagegen kontrovers. So wird die unverkennbare Anziehungskraft Halles auf die Studenten unter anderem damit begründet, dass dort in der Muttersprache unterrichtet werde, was implizit die Forderung bedeutet, auch in den Leipziger Hörsälen stärker Deutsch als Unterrichtssprache zuzulassen. Andere Befragte betrachten aber gerade die deutschen Übungen als besonders verderbliches Übel und beklagen in diesem Zusammenhang, dass an den Schulen keine solide studia religionis et humanitatis mehr betrieben würden, sondern nur die Modefächer Geschichte und Geographie und überhaupt alles das, was äußerlich ins Auge fällt. Gerade die zu geringe Präsenz moderner Disziplinen beziehungsweise der galanten Studien bildet wiederum in den Augen anderer Dozenten ein erhebliches Manko. Sie fordern Lehrangebote unter anderem in den Fächern Zeitgeschichte, Geographie, Heraldik, Naturrecht, Mathematik und Architektur. Dagegen könne man, so ihre Empfehlung, weniger nützliche Lehrstühle ohne jeden Schaden abschaffen. In der Vermittlung neuen Wissensstoffes und in einer jeden Abweichung von der etablierten Schulphilosophie erkennen einige andere Professoren wiederum die größten Gefahren: „Ist die licentz derer privat-legentium in Philosophia so groß, Dass die meisten nur auf novitäten bedacht sind, Und sonderlich in Metaphysicis et Moralibus ausländische andern religionen und Secten zugethane autores nach belieben zum fundament legen“.4
Werde im Land bekannt, dass in Leipzig in der Lehre schädliche principia vermittelt werden, würden christliche Eltern erhebliche Bedenken tragen, ihre Kinder an diese Universität zu schicken. Das sich aus der Aktenlektüre ergebende eher diffuse Bild lässt sich auch durch andere Aussagen von Zeitgenossen kaum in diese oder jene Richtung schärfen.5 Klagen über das Fehlen aller Möglichkeiten, neuere philosophische Strömungen kennenzulernen, und resignierende Feststellungen, es würden in der Philosophie nur noch heterodoxe Ideen unterrichtet, liegen nur wenige Jahre auseinander.6 Auch von dem vorliegenden Beitrag wird man keine klar umrissene Darstellung des Wissenschaftsverständnisses an der Universität Leipzig in der hier behandelten Epoche erwarten dürfen; dazu bedürfte es noch der mannigfachsten Vorarbeit. In der Hoffnung, zukünftigen Forschungen wenigstens einige Anregungen vermitteln zu können, möchte ich jedoch den Versuch unternehmen, sozusagen aus der Vogelschau einen Blick auf einige meines Erachtens mit Sicherheit zu konstatierende Tendenzen zu werfen, unter deren Entfaltung das bisherige Gesamtgefüge der
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Zustandes der Univ. erforderte Bedencken betr. 1711. Universitätsarchiv Leipzig, Rep.. I/I/33, A. D. 1711, Bl. 61. Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, 75, Bd. 4.), Leipzig 1999, S. 38ff. Döring, Philosophie (wie Anm. 5), S. 39 und 41.
Die Philosophische Fakultät der Alma mater Lipsiensis um 1700
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an der Universität vertretenen Disziplinen allmählich aber stetig eine Veränderung erfuhr. Dabei wird sich herausstellen, dass der Philosophischen Fakultät, der seit den mittelalterlichen Anfängen der Universität nur eine dienende Funktion gegenüber den höheren Fakultäten, insbesondere der Theologie, zugemessen worden war, in einem wachsenden Maße eine Schlüsselrolle zukam. Ihr Aufstieg bildet vielleicht die wichtigste und folgenreichste Tendenz innerhalb der Universitätsgeschichte jener Zeit.7 Angebracht erscheint noch folgende Vorbemerkung: Die Universität Leipzig in der Zeit um 1700 beziehungsweise in der Frühen Neuzeit überhaupt hat noch nie den ausgesprochenen Enthusiasmus der Historiographen zu entfachen vermocht.8 Ich erwähne als jüngeres Beispiel nur die ungleiche Behandlung der Universitäten Wittenberg, Leipzig und Jena in der vor wenigen Jahren erschienenen völligen Neubearbeitung des Ueberweg, des bekannten Handbuchs zur Philosophiegeschichte.9 Die Philosophie in Wittenberg (gemeint ist im Folgenden immer die allgemeine Darstellung) erhält durch den Autor Walter Sparn mehr als zwei Seiten zugeteilt, Jena knapp drei Seiten, Leipzig dagegen nur eine Dreiviertelseite. Dabei stand die Alma mater an der Pleiße, nimmt man nur die Inskriptionszahlen der Jahre 1701 bis 1710, dicht hinter Jena und Halle in der Frequenz der deutschen Universitäten an respektabler dritter Stelle.10 Die hohe Zahl der Studenten mag noch nicht unbedingt für das wissenschaftliche Niveau einer Hochschule bürgen, aber sie dokumentiert doch den Einfluss, den die jeweilige Einrichtung schier durch die Anzahl ihrer Abgänger auf das intellektuelle Leben der Zeit zu nehmen vermochte. In der Einschätzung der alles überstrahlenden Bedeutung der Neugründung in Halle ist sich die Forschung von jeher einig gewesen: Dort entstand die moderne Universität mit einem neuen Wissenschaftsbegriff, mit einer neuen Universitätspraxis, mit einem neuen Universitätsleben.11 August Hermann Francke und Christian Thomasius verleihen 7
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Zur Aufwertung der Philosophischen Fakultät Notker Hammerstein: Vom Rang der Wissenschaften. Zum Aufstieg der Philosophischen Fakultät, in: Armin Kohnle, Frank Engehausen (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 86–96. Ich würde den Beginn des Aufstiegs der ehemaligen Artistenfakultät allerdings bereits an das Ende des 17. Jahrhunderts setzen, nicht erst in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Döring, Anfänge (wie Anm. 2), S. 724f. Zur Geschichte der Philosophischen Fakultät überhaupt Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Band 1), Basel 1999. Zur Geschichte der Forschungen zur frühneuzeitlichen Leipziger Universität Detlef Döring: Die Universität Leipzig im Zeitalter der Aufklärung. Geschichte, Stand und Perspektiven der Forschung, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 413–461. Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie, hg. von Helmut Holzhey; ders., Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 516f. Die Zahlen lauten: Jena: 5.582, Halle: 5.542, Leipzig: 5.172. Franz Eulenburg: Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Berlin 1994, S. 162f. So Notker Hammerstein: Halles Ort in der deutschen Universitätslandschaft der Frühen Neuzeit, in: Günter Jerouschek, Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806), Hanau, Halle 1994, S. 18–29, hier S. 24.
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als Gründerfiguren der neuen Alma mater besonderen Glanz. Aber auch die Salana der Zeit um 1700 hatte schon immer eine gute Presse. Besonders das jahrzehntelange Wirken des Universalgenies Erhard Weigel adelt die Hochschule; die von ihm propagierte Bedeutung der Mathematik lässt ihn als Propheten kommender Entwicklungen erscheinen.12 Was aber lässt sich über die dritte große mitteldeutsche Universität jener Zeit sagen? Prägend für die protestantischen Universitäten insgesamt war das Ereignis der Reformation. Das gilt auch für die bereits im Mittelalter ins Leben gerufenen Einrichtungen, wie eben für die 1409 gegründete Hochschule Leipzig. Die Reformation wurde hier 1539 eingeführt, und einhundert Jahre später sah der Festredner, Theologieprofessor Jeremias Weber, in diesem Vorgang das eigentliche Grunddatum der Universitätsgeschichte. Erst jetzt gelangte die Hochschule nach seiner Auffassung zu ihrer wahren Bestimmung, denn zuvor war sie ganz dem Götzendienst und der Unwissenheit verfallen gewesen.13 So zählte die Universität Leipzig das gesamte 17. Jahrhundert über neben Wittenberg zu den ganz betont lutherisch geprägten Lehranstalten. Beispielsweise im Kampf gegen den einflussreichen und als äußerst bedrohlich empfundenen Helmstedter Synkretismus14 hatte sie in enger Verbindung mit der Leucorea die Fahne der reinen Lehre hochgehalten, und gegen Ende des Jahrhunderts stand sie in der Abwehrschlacht gegen den als neue Drohung empfundenen Pietismus ihren Mann. Mit Johann Benedikt Carpzov dem Jüngeren15 und mit Valentin Alberti verfügte die Theologische Fakultät in dieser Zeit über zwei Gelehrte, die weit über Leipzigs Grenzen hinaus sichtbar die lutherische Orthodoxie verteidigten, wider den Pietismus und wider den Tendenzen der aufkommenden Aufklärung. Beide starben jedoch Ende der neunziger Jahre und gemäßigtere Persönlichkeiten gewannen nun an Einfluss. Gemeint ist damit zuerst und vor allem Adam Rechenberg, der freilich schon vor seinem Einrücken in die Theologische Fakultät (1699) den Streit um den Pietismus zu dämpfen versuchte; immerhin war er ein Schwiegersohn Philipp Jacob Speners. Auswärtige Zeloten der orthodoxen Parteiung bemerkten diese irenische Orientierung wohl und zwar mit wachsendem Missfallen: „Wo die Hn Leipziger bey dieser Meße sich nicht mit etwas signalisiren, so weiß ich nicht, was ich von ihnen halten soll. Die guten Leute soltens wohl vorlieb nehmen, wann wir uns mit allen Phantasten herumb zancken, u. sie könnten stille sitzen u. dem Streit zuschauen.“16 12
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Reinhard A. Schielicke, Klaus Dieter Herbst, Stefan Kratochwil (Hg.): Erhard Weigel – 1625 bis 1699. Barocker Erzvater der deutschen Frühaufklärung. Beiträge des Kolloquiums anläßlich seines 300. Todestages am 20. März 1999 in Jena (= Acta historica astronomiae, Vol. 7), Frankfurt a.M. 1999. Detlef Döring: Der junge Leibniz und Leipzig. Eine Ausstellung zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz im Leipziger Alten Rathaus, Berlin 1996, S. 61. Zuletzt Inge Manger: Georg Calixts interkonfessionelle Kommunikation im Dienste des Kirchenfriedens, in: Jens Bruning, Ulrike Gleixner (Hg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810, Wolfenbüttel 2010, S. 52–57. Vgl. zu Carpzov neuerdings Stefan Michel, Andres Straßberger (Hg.): Eruditio-Confessio-Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699) (= Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, Band 12), Leipzig 2009. Zur Theologischen Fakultät vgl. den Aufsatz von Andreas Gössner: Lipsia vult expectari. Die Theologische Fakultät Leipzig zur Zeit Carpzovs (1684 bis 1699), S. 93–106. Universitätsbibliothek Greifswald, Ms 175, Bl. 132. August Pfeiffer an Johann Friedrich Mayer,
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Die Dresdner Regierung verbot bald jede Fortsetzung der für den Universitätsbesuch abträglichen pietistischen Streitereien. Der kurz darauf erfolgende Übertritt des Kurfürsten Friedrich August zum Katholizismus (1697) erschwerte zudem den Kampf an einer anderen den Leipziger Theologen sehr wichtigen Front. Die antirömische, beispielsweise von Alberti mit Eifer betriebene Polemik musste wenigstens um einiges zurückhaltender betrieben werden, und einige Jahre später hatte man zähneknirschend gar die Zulassung katholischer Messfeiern in der Stadt zu erdulden. 1711 befürchten daher einige der Theologieprofessoren sogar, dass diese Verhältnisse viele Eltern davon abhalten würden, ihre Kinder an die hiesige Universität zu schicken. Trotz dieser Entwicklungen, die das Austragen theologischer und konfessioneller Kontroversen mehr und mehr als unzeitgemäß erscheinen ließ, war gerade Leipzig der Ort einer der letzten großen, das gesamte Luthertum erschütternden theologischen Lehrstreitigkeiten. Gemeint ist der sogenannte Terministische Streit, in dem es um die subtile Frage ging, ob dem Menschen nur ein bemessener Zeitraum zur Buße und Bekehrung eingeräumt sei, oder ob er dazu noch bis zuletzt, das heißt bis auf dem Sterbebett Gelegenheit besitzt.17 Die Hauptkontrahenten sind die Leipziger Theologieprofessoren Adam Rechenberg, dem wir eben noch als Ireniker begegneten, und Thomas Ittig. Rechenberg, ein Sympathisant des Pietismus, vertritt die Auffassung, Gottes Heilswille sei nicht grenzenlos; der der lutherischen Orthodoxie verpflichtete Ittig bestreitet dies. Spätestens Ittigs Tod beendet jedoch die Auseinandersetzungen. In den kommenden Jahrzehnten schwindet überhaupt die bisherige Dominanz der Theologischen Fakultät im Gesamtgefüge der Universität; nur im Kampf gegen die Wolffsche Philosophie wird sie sich, letztendlich vergeblich, in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts nochmals zu spektakulären Aktionen aufzuraffen vermögen. Der Bedeutungsverlust der Theologischen Fakultät, die bisher eine durch die Reformation nochmals gefestigte und gesicherte gleichsam königliche Stellung innerhalb der Universität besessen hatte, ist freilich kein Leipziger Spezifikum; er lässt sich mehr oder minder bei allen protestantischen Universitäten verfolgen. Es ist nun bekanntlich die insbesondere von Notker Hammerstein vertretene und vielfach aufgegriffene These, die Theologie sei ab 1700 nach dem Vorbild Halles durch die Jurisprudenz als Leitwissenschaft verdrängt worden.18 In Leipzig ist dies, bei aller über
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Lübeck 17.4.1692. Mayer (ein gebürtiger Leipziger) und Pfeiffer kannten die Leipziger Verhältnisse aus eigener Anschauung. Vor allem Mayer war ein entschiedener, aber auch sehr umstrittener Vertreter der lutherischen Orthodoxie seiner Zeit. Welche Bedeutung diesem Streit zugemessen wurde, zeigt ein Blick in die große Darstellung der kirchlichen Streitigkeiten von Johann Georg Walch: Historische und theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 2. Band, Jena 1730, S. 851–992. Die Erzählung über diese Auseinandersetzungen nehmen also fast 150 Seiten in Anspruch. Vgl. jetzt Andreas Gössner: Der terministische Streit. Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung eines theologischen Konflikts an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, Tübingen 2011. „Die theologische Bevormundung der Wissenschaften wurde durchbrochen, an die Stelle der Theologie als universitäre Leitwissenschaft trat die Jurisprudenz. Die juristische Fakultät wurde die vornehmste und eigentlich erste.“ Notker Hammerstein: Die deutsche Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Ulrich Muhlack, Gerrit Walther (Hg.): Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Berlin 2000, S. 160–174, Zitat S. 163. Über die Philosophische Fakultät, über die sogleich zu sprechen sein wird, urteilt Hammerstein: „Im Grunde reagierte die Philosophische Fakultät auf das, was
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die Jahrhunderte währenden erheblichen Bedeutung der Jurisprudenz gerade an dieser Universität, ganz ausgesprochen nicht der Fall gewesen. Hier ist es die Philosophische Fakultät, die das Erbe der Theologie antritt.19 Ich möchte im Übrigen, um diese Frage nur zu streifen, bezweifeln, ob das ein ausgesprochenes Leipziger Proprium bedeutet. Die unter dem Dach der Philosophischen Fakultät zusammengeschlossenen Fächer befinden sich nach meinem Eindruck ab Ende des 17. Jahrhunderts allenthalben auf dem Vormarsch und drängen die Theologie zurück. Es sei hier auf Samuel Pufendorfs außerordentlich weit verbreitetes, erstmals 1672 erschienenes Hauptwerk De jure naturae et gentium verwiesen, das daher cum grano salis als ausgesprochener Ausdruck des Zeitgeistes begriffen werden kann. Pufendorf unterscheidet an einer Stelle seines Buches drei Formen beziehungsweise Ausrichtungen des Studiums: Nützliche Disziplinen sind die Morallehre, die Medizin und die Mathematik. Die eleganten Wissenschaften als zweite Gruppierung widmen sich unter anderem den Sprachen, der Geschichte, der Naturkunde, der Poesie. Es verbleiben die wertlosen (inanes) Studien, worunter Pufendorf im Wesentlichen die scholastische Barbarei und die Irrlehren des von ihm ohnehin verabscheuten Papstes begreift. Die Theologie wird in diesem System zwar nicht vergessen, jedoch mit der Feststellung, sie besäße einen ganz eigenen Wert (proprium pretium), wird sie, trotz aller rühmenden Beiworte, gleichsam aus den Kanon der Wissenschaften ausgeklammert oder wenigstens in einem gewissen Abstand abgeparkt.20 Die eleganten Studien, die nach ihrem Inhalt durchweg der Philosophischen Fakultät zuzurechnen sind, besitzen ihre Rechtfertigung im Wesen, in der Natur des Menschen und sind daher des höchsten Lobes würdig. Für die Pflege der cultura hominis, die in Pufendorfs System des Naturrechts von ihr verlangt wurde. Sie war nicht ihrerseits die bestimmende und aktive.“ Die Philosophische Fakultät habe daher noch nicht zum „Kanon der höheren Wissenschaften“ gezählt. Ebd., S. 164. 19 Hammerstein betont immerhin, dass in Leipzig stärker als an anderen Universitäten die Gleichstellung der Philosophischen gegenüber den höheren Fakultäten vorangeschritten sei. Vgl. Notker Hammerstein: Die Universität Leipzig im Zeichen der frühen Aufklärung, in: Wolfgang Martens (Hg.): Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Band 17), Heidelberg 1990, S. 125–140, hier S. 135. Vgl. auch den Abschnitt „Leipziger Eigentümlichkeiten“ in Hammersteins Darstellung der Universitäten in: ders., Ulrich Herrmann: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band II: Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 382f. Vgl. zur Rolle der Philosophischen Fakultät jedoch die in jeder Hinsicht grundlegende Arbeit von Markus Huttner: Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (= Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe A, Band 5), aus dem Nachlaß hg. von Ulrich von Hehl, Leipzig 2007. Der „Erklärungswert“, so Huttner, der „Vorstellung von einer vermeintlich impulsgebenden Rolle der Jurisprudenz bei der Erneuerung des überkommenen artistischen Fächerkanons“ sei für Leipzig „recht begrenzt“. Ebd., S. 225. Das Aufkommen solcher modernen, praktisch orientierten Disziplinen wie die Reichs- und Staatenkunde habe sich dort eben innerhalb der Philosophischen Fakultät vollzogen. 20 Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium, hg. von Frank Böhling, 1. Teil, Berlin 1998, S. 176. Zu diesem gesamten Themenbereich Hanspeter Marti: Das Bild des Gelehrten in Leipziger philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Hanspeter Marti, Detlef Döring (Hg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780, Basel 2004. Nach Martis Angabe wird die eben zitierte Passage aus Pufendorfs Werk in Leipziger Disputationen oft herangezogen. Ebd., S. 89.
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eine zentrale Bedeutung besitzt, kommt ihnen zwar nicht die tragende Funktion der nützlichen Wissenschaften zu, aber sie sind dennoch unverzichtbar. Damit wird der alten Artistenfakultät eine Dignität zugemessen, die sie deutlich über eine lediglich dienende Funktion heraushebt. Wenn also in einer Untersuchung zur Verfassung der Universität Leipzig, die nach 1764 geschrieben wurde, die Behauptung zu finden ist, die Philosophische Fakultät werde „von alten Zeiten“ her „mater aliarum facultatum“21 genannt, so kommt das vielleicht nicht von ungefähr, sondern ist Ausdruck der eben angedeuteten, bereits seit langer Zeit wirkenden Tendenzen. Hinter diesem Wechsel von der Theologie zur Philosophie als Leitwissenschaft steht jedoch, wenigstens in Leipzig, nur bedingt ein Antagonismus, sondern letztendlich auch ein Nebeneinander beziehungsweise Miteinander beider Disziplinen mit vielfältigen zwischen ihnen bestehenden Querverbindungen. Es ist bezeichnend, dass Valentin Alberti, der unbezwingbare Kämpfer gegen Pietismus und säkularisiertes Naturrecht, eigentlich Lehrstuhlinhaber an der Philosophischen Fakultät ist. Bei den Theologen ist er nur außerordentlicher Professor. Überhaupt begegnet man Alberti auf den überraschendsten Feldern. So ist er wohl der produktivste Autor des fünften Bandes der in die deutsche Literaturgeschichte eingegangenen Neukirchschen Lyriksammlung,22 wobei Albertis Dichtungen durchaus weltlichen Charakter tragen können; kein Pietist hätte sie seiner Feder zu entlocken vermocht.23 Auch Carpzov ist alles andere als ein Doktrinär theologischer Engstirnigkeit. Die Motivation seines Kampfes gegen den Pietismus bezieht er bemerkenswerterweise zu einem guten Teil aus der Befürchtung, dass „die freyen Künste und Wißenschafften auff Schulen und Academien niedergeschlagen“ würden, falls der Pietismus die Überhand gewinne.24 Damit reicht er durchaus einem Mann wie dem gerade erwähnten, im Vorfeld der Aufklärung anzusiedelnden Samuel Pufendorf die Hand, der einerseits einen Mann wie Spener stützt, andererseits in einem Gespräch mit Studenten die weltfeindliche Haltung vieler Pietisten tadelt: „Es wäre revera kein Pietismus sondern Ens rumoris: Was hin und wieder paßiret der Exceß mache kein Pietismus. e. g. dass in Leipzig etliche studiosi alte angefressene Collegia Metaphysica verbrand [...] den dass wäre ihrem unverstand zu zu schreiben: welch da sie gehöret ‚Ein Theologus müste von Jugend auff Erbar und heilig leben‘: sie der meinung worden: Man könte nicht heilig leben wo man nicht mit zerrissenen Kleidern und Mantel gienge.“25 21
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UAL, Rep. I/I/27: Visitation Decret 1658. Schon 1715 erklärt Johann Georg Walch in einer Leipziger Dissertation: „Philosophiam theologiae praeponimus, quia est antiquior theologia.“ Zitiert nach Marti, Bild (wie Anm. 19), S. 88. In der ersten Ausgabe des Bandes stammen 43 Prozent aller Gedichte von Alberti, in der zweiten stark überarbeiteten Ausgabe sind es nur noch 13 Prozent. Zu Alberti als Lyriker vgl. Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik, Bern, München 1971, S. 25–29. Wolfgang Miersemann: „Pietismus“ und „Teutsche Poëtery“. Zu einem Schlüsseltext des Poesieprofessors und „Sängers der Leipziger pietistischen Bewegung“ Joachim Feller (1638–1691), in: Rainer Lächele (Hg.): Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus, Tübingen 2001, S. 191–241, hier S. 219f. Zitiert nach Benedikt Carpzov: „Bedenken von der Pietisterei“, im Namen der Theolog. Fakultät Leipzig verf. und dem sächs. Landtag vorgelegt, Leipzig, 25.2.1692 (Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 01274, Bl. 234r–244v). Der Text erschien 1693 im Druck. Diese Äußerungen sind einem Gespräch entnommen, das Pufendorf kurz vor seinem Tod mit Rostocker Studenten geführt hatte. Vgl. Detlef Döring: Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie
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Nehmen wir das Großprojekt der Leipziger Universitätsgelehrsamkeit um 1700, die seit 1682 erscheinenden Acta Eruditorum, die gemeinhin mit der Aufklärung zumindest in einen Zusammenhang gebracht werden, so stoßen wir dort auf eine ganze Anzahl von Theologen als Mitarbeiter, darunter auch auf Alberti und Carpzov. Der produktivste Mitarbeiter der Acta überhaupt ist ein Theologe, nämlich Heinrich Pipping (mit 304 Rezensionen),26 später Oberhofprediger in Dresden.27 Wissenschaftlich bedeutsamer war der Theologe Gottfried Olearius, der gleichfalls und zwar in der Tradition seines Vaters Johannes größten Anteil an der Herausgabe der Acta nahm. Unter anderem in seiner Tätigkeit als Übersetzer der umfang- und einflussreichen Philosophiegeschichte des Thomas Stanley28 und von John Lockes berühmten Gedanken über die Erziehung zeigt er sich als ein Mann, der Brücken von der Theologie zur Philosophie schlägt. Nichts ist schließlich bezeichnender für das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zwischen den Theologen und den Mitgliedern der Philosophischen Fakultät als gemeinsame Vertreter einer Respublica litteraria als die Frontstellung, die Otto Mencke, Professor der Moralphilosophie und Herausgeber der Acta Eruditorum, gegen Christian Thomasius, also die Pionierfigur der deutschen Aufklärung, bezieht, nämlich weil dieser verstorbene ehrliche Theologen angegriffen hat. Dabei versteht sich Mencke als Sprecher der Leipziger Gelehrtenrepublik, die eben auch die Theologen mit Selbstverständlichkeit als die Ihrigen begreift: „Daher leicht zu erachten, wie dergleichen [...] unsern leuten gefallen müssen, undt wie es von unß aufgenommen werden dürfte, wan wir diesen Mann in denen Actis noch groß zu machen unß bemüheten.“29
Schreiten wir tiefer hinein in das Jahrhundert der Aufklärung, so erhebt sich vor uns die mächtige Gestalt Johann Augusts Ernestis. Er unterrichtete zuerst an der Thomasschule, lehrte dann an der Philosophischen Fakultät, um schließlich in die Theologische Fakultät überzutreten. Er gilt als einer der Begründer des Neuhumanismus, als bedeutender Klassischer Philologe und vor allem als einer der Schöpfer der profan-wissenschaftlichen Methode der Bibelerklärung. Die biblischen Schriften werden von Ernesti mit dem gleichen Handwerkszeug der Interpretation behandelt, wie die weltlichen Schriften der Antike. Das bedeutet die Einführung einer strikt rational begründeten Textinterpretation, die sich auf sichere und notwendige Prinzipien der Vernunft stützt und die zu untersuchenden Schriften ganz in ihrem historischen
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Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller (= Historische Forschungen, Band 49), Berlin 1992, S. 190–193, Zitat S. 191. Das Gespräch wurde durch den Studenten Carl Arnd aufgezeichnet. Augustinus Hubertus Laeven: The „Acta Eruditorum“ under the editorship of Otto Mencke (1644– 1707). The history of an international learned Journal between 1682 and 1707, Amsterdam 1990, S. 140. Ein fleißiger Rezensent ist auch Thomas Ittig, Rechenbergs orthodoxer Gegner im Terministischen Streit. Wolfgang Sommer: Die lutherischen Hofprediger in Dresden. Grundzüge ihrer Geschichte und Verkündigung im Kurfürstentum Sachsen, Stuttgart 2006, S. 249–261. Als Wissenschaftler ist Pipping ansonsten kaum hervorgetreten. Sie umfasst 1.200 Seiten im Quartformat. Zu diesem Werk Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte, Darmstadt 1990, S. 75–79. Mencke an Leibniz, 2.12.1693, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, 1. Reihe , 9. Band (1693), Berlin 1975, S. 637f.
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Kontext einordnet. Das wiederum erfordert die Einbeziehung solcher Fächer wie Archäologie und Kunstgeschichte. Diese Methode wird in den folgenden Jahrzehnten Verbreitung bei fast allen Theologischen Fakultäten an den protestantischen Universitäten finden. In Leipzig gelangt sie zu einer fast allmächtigen Stellung, trotz des Professors Christian August Crusius und der von ihm propagierten prophetischen Theologie.30 Andererseits ist auch Crusius ein Mann, der zuerst an der Philosophischen Fakultät lehrte, wo er ein Denksystem entwickelte, das immerhin auf Kant verweist. Die Erneuerung der Theologie im 18. Jahrhundert basiert also nicht in erster Linie auf Einflüssen, die von der Jurisprudenz ausgingen, wie die eingangs zitierte Forschung vermuten lässt, sondern auf Entwicklungen innerhalb der Philosophischen Fakultät. Überhaupt, die Debatten um Wesen und Aufgaben der Wissenschaft vollziehen sich in Leipzig vor allem innerhalb der Philosophischen Fakultät. Das lässt das dort entstandene und von Hanspeter Marti vor einigen Jahren wenigstens ansatzweise ausgewertete umfangreiche Dissertationsschriftum zum Gelehrsamkeitsverständnis deutlich erkennen.31 Ein immer wieder erwähnter Kritikpunkt bildet die bisherige Überbewertung der Memoria, die zur nutzlosen Vielwisserei ausarten kann. Durch die flankierende Betonung von Meditatio und Judicium wird die Memoria jetzt in neue Zusammenhänge gestellt. In ihrer Wirkung auf die frühe Aufklärung noch wichtiger ist die Vorurteilskritik, die Ablehnung des Praejudiciums. Sie ist in Leipzig bekanntlich mit besonderem Nachdruck von Christian Thomasius vertreten worden.32 Die Tatsache, dass sie auch nach seinem Verlassen Leipzigs dort zwar zeitweilig in den Hintergrund trat, bald aber wieder mit Nachdruck verfochten wird, belegt nochmals die Kritik an der verbreiteten, aber gleichwohl irrigen Auffassung, Thomasius sei aufgrund der von ihm vertretenen antiautoritären Haltung in der Stadt isoliert gewesen. So beteiligen sich Leipziger Gelehrte, das heißt fast durchweg Angehörige der Philosophischen Fakultät, bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts intensiv an der Querelle des Anciens et des Modernes.33 Für die Herausbildung des am Fortschrittsgedanken orientierten Geschichtsbildes der Neuzeit besitzt jene Debatte erhebliche Bedeutung; die Aufmerksamkeit, die sie inner- und außerhalb Frankreichs fand, war enorm. In Deutschland bildeten vor allem die Universitäten mit ihren Philosophischen Fakultäten Orte der Rezeption der Querelle. Die Leipziger bezogen 30
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Zum scharfen Gegensatz zwischen Crusius und Ernesti Detlef Döring: Der Leipziger Philosoph und Theologe Christian August Crusius in seinen letzten Lebensjahren, in: Laila Kais (Hg.): Das Daedalus-Prinzip. Ein Diskurs zur Montage und Demontage von Ideologien. Steffen Dietzsch zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 409–436. Marti, Bild (wie Anm. 20). Detlef Döring: Christian Thomasius und die Universität Leipzig am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Gelehrter Bürger in Leipzig und Halle (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, 81. Bd., 2. Heft), Stuttgart, Leipzig 2008 S. 71–97 (mit weiterführenden Literturangaben). Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981. Vor allem in den Leipziger Periodika wurde intensiv über den Verlauf des Streites berichtet. An Autoren treten u.a. Johann Friedrich Christ, Christian Fürchtegott Gellert, Johann Christoph Gottsched und dessen Frau Luise Adelgunde Victorie, Johann Erhard Kapp und Johann Jakob Reiske in Erscheinung. Sie gehörten alle der Philosophischen Fakultät an – ausgenommen der Frau Gottsched.
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eine vermittelnde, aber tendenziell eher die Autorität der Alten stützende Position. In einem gedanklichen Zusammenhang mit der Querelle-Diskussion steht die in vielen Dissertationen behandelte Frage nach der Einschätzung des Wertes der curiositas und der novitas, also zweier über die vorangegangenen Jahrhunderte hinweg eher negativ besetzter Begriffe. Fehlt es auch nicht an einer Kritik an der Neugier, so überwiegt eine utilitaristisch begründete Rechtfertigung der Pflege der curiositas, verbunden mit dem Lob des in den zurückliegenden Jahrhunderten vollzogenen wissenschaftlichen Fortschrittes. Alles in allem wird man urteilen können, und damit folge ich den Forschungsergebnissen von Hanspeter Marti, dass in Leipzig um 1700 innerhalb der Philosophischen Fakultät ein relativ weitgefasster freier rationaler Gedankenaustausch möglich war, der sich nicht explizit gegen theologische Prämissen wendete, aber doch von theologischen Bevormundungen frei war.34 Für die moderne Hochschule ist dieser Emanzipationsprozess schlechthin grundlegend geworden. Die Vorurteilskritik, um nochmals auf sie zurückzukommen, bereitete den Boden für eine am Ausgang des 17. Jahrhunderts aufkommende und weite Verbreitung findende philosophische Strömung oder Modetendenz, nämlich die der Eklektik.35 Leipzig bildete eine ihrer Zentralen. Die Eklektik lehnt eine Festlegung auf eine Lehre ab und wählt stattdessen aus allen philosophischen Strömungen dasjenige aus, was der Vernunft am eindeutigsten entspricht und hinreichend klar belegt werden kann; das Falsche verwirft sie. Eine, wenn man so will, Gründungsurkunden dieser Richtung ist in Leipzig, und dort an der Philosophischen Fakultät, verfasst worden, die Disputation De Philosophia Eclectica von Romanus Teller (erschienen 1674). Die von Thomasius vertretene und propagierte Eklektik ist also nicht erst durch ihn in Leipzig bekannt geworden, wie sie denn dort auch nach seinem Wechsel nach Halle weiter Bestand hat und im 18. Jahrhundert mit dem schon genannten Crusius einen ihrer Hauptvertreter aufzuweisen vermag.36 Der eben wenigstens angedeutete Entwicklungsprozess der Aufwertung der Philosophischen Fakultät gegenüber der Theologie bildet, das sei nochmals betont, ein zentrales Charakteristikum der Zeit. Wir wollen noch einen etwas genaueren Blick auf den Charakter dieser Emanzipation werfen. Welche Disziplinen innerhalb der Fakultät sind an diesem Prozess insbesondere beteiligt gewesen? Unsere Tagung steht unter anderem unter der Fragestellung, ob an den zu porträtierenden Universitäten nach dem Vorbild Erhard Weigels in Jena die Mathematik als das Leitbild der Wissenschaft propagiert worden ist. Leipzig hatte wenigstens von 1711 bis 1726 einen Weigel-Schüler, nämlich Ulrich Junius, als Professor der Mathematik.37 Dieser 34 35
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Marti, Bild (wie Anm. 20), S. 85. Horst Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der „eklektischen Philosophie“, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 281–343. Das Grundlagenwerk zum Thema bildet Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Zum Wirken der Thomasius-Schule in Leipzig Döring, Philosophie (wie Anm. 5), S. 102– 122. Die Vertreter dieser Schule wendeten die Vorurteilskritik jetzt gegen die herrschende Aufklärungsphilosophie, d.h. gegen die Leibniz-Wolffische Philosophie. Detlef Döring: Michael Gottlieb Hansch (1683–1749), Ulrich Junius (1670–1726) und der Versuch einer Edition der Werke und Briefe Johannes Keplers, in: Wolfgang R. Dick, Jürgen Hamel (Hg.): Beiträge zur Astronomiegeschichte (= Acta Historica Astronomiae, Vol. 5), Band 2,
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hat in der Tat, wohl in der Tradition seines Lehrers, die Mathematik als Mutter aller Wissenschaften verkündet, dabei genüge sie sich völlig selbst. Intensiv hat sich Junius mit dem Werk Johannes Keplers befasst, der ihm jedoch einzig und allein als Princeps Mathematicorum vor Augen steht; heute wird man bei Nennung dieses Namens zuerst an die Astronomie denken. Ich sehe jedoch nicht, dass Junius mit seinem Lobpreis der Mathematik in Leipzig Schule machen konnte. Zwar lebte ein zweiter bedeutender Mathematiker in der Stadt, Michael Gottlieb Hansch, aber dieser war mit Junius verfeindet und war vor allem ein Polyhistor fast vom Schlage eines Leibniz. Die Mathematik war ihm wichtig, aber sie bildete in seinen Augen nicht das schlechthinnige Zentrum der Wissenschaften. Ein wesentlich größeres Gewicht im Prozess der Aufwertung der Philosophischen Fakultät dürften in Leipzig die Philosophie im engeren Sinne und die klassische Philologie besessen haben. Auf die Philosophie ist bereits eingegangen worden. Auf dem Gebiet der Philologie genoss Leipzig seit der Zeit des Renaissancehumanismus ein hohes Ansehen.38 Von Leipzig her bezogen andere Universitäten und unzählige Gymnasien Lehrer der klassischen Sprachen; in den Leipziger Verlagen erschienen maßgebliche oder zumindest weite Verbreitung findende Textausgaben der antiken Autoren. Erwähnt wurde schon Ernesti als einer der großen Philologen des Jahrhunderts. Das Überlegenheitsgefühl der Mitglieder der Philosophischen Fakultät gerade gegenüber den Theologen wurzelte, so meine Auffassung, nicht zuletzt in der Überzeugung, mit der Philologie und der Philosophie über die eigentlichen Leitwissenschaften zu verfügen. Recht eindeutig bringt das Gottsched in einem Gespräch zum Ausdruck, das er mit einem Besucher aus der Schweiz führte: „Es wäre vortreflich, wenn alle junge leüte die ad theologiam aspiriren zu erst gute fundamenta in humanioribus und in der philosophie legten. Alles liegt nur daran. Fängt man nicht so an, so ist alles vergeben; würde die Theologi erst so gezogen, so würde man bald mit vernunfft die religion tractiren.“39
Die Forderung, die Vernunft müsse die Religion tractiren, bedeutet nichts anderes als den Herrschaftsanspruch der Philosophischen Fakultät, den Gottsched also schon 1738 formuliert, wenn auch in einem privaten Gespräch. Dieser Anspruch findet seine Begründung nicht in der Mathematik, aber auch nicht in der Jurisprudenz, sondern in den Geisteswissenschaften. Allerdings, ich muss das nochmals hervorheben, ist die Erschließung der wissenschaftlichen Produktion der Zeit gegenwärtig noch so unzulänglich, dass endgültige Feststellungen, soweit es diese überhaupt geben kann, nicht möglich sind. In einer Verbindung zur allgemeinen Aufwertung der Philosophischen Fakultät steht die immer deutlicher zu erkennende Ausweitung des in ihr angesiedelten Fä-
38 39
Thun, Frankfurt a.M. 1999 S. 80–121. Detlef Döring: Klassische Philologie, in: ders., Cecilie Hollberg (Hg.): Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften, Dresden 2009, S. 194–201. In einem anderen Gespräch mit dem gleichen Besucher konstatiert Gottsched: „In 50 jahren müßen sich die Theologi ergeben; sie mögen es machen wie sie wollen.“ Rüdiger Otto: Gesprächsprotkolle. Die Tagebuchaufzeichnungen des Schweizer Theologen Gabriel Hürner während seines Aufenthaltes in Leipzig im Mai 1738, in: Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch, S. 75–188, Zitat S. 152.
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Detlef Döring
cherkanons.40 Sie zieht sich über lange Jahrzehnte bis ins 19. Jahrhundert hin, und in ihrem Ergebnis steht schließlich die moderne Universität in all der Vielfalt der an ihr vertretenen wissenschaftlichen Disziplinen vor unseren Augen. Zwei Beobachtungen sind meines Erachtens dabei von besonderer Bedeutung. Die Einführung neuer Fächer in der Form eigenständiger Lehreinheiten stößt immer wieder auf Schwierigkeiten, auch wenn bestimmte Disziplinen eigentlich schon Anerkennung gefunden haben. Der Widerstand resultiert aber oft weniger aus einer Ablehnung neuer wissenschaftlicher Tendenzen, sondern hat ganz praktische, das heißt materielle Hintergründe. Zwei Beispiele mögen das belegen. Die Reaktion auf das Ansuchen des jungen Otto Rechenberg, ihm eine Professur über das Jus naturale zu erteilen, zeigt die klassischen Argumente, die in solchen Situationen angeführt werden: Es sei ja nicht so, dass das Naturrecht an der Universität nicht unterrichtet würde. Es werde vielmehr bereits von dem Professor für Moral und von anderen Doctoribus gelehrt. Dann sei Rechenberg für eine Professur doch viel zu jung. Viele an der Universität Lehrende würden schon viel länger unterrichten und hätten noch keine Professur, das heißt deren Ansprüche werden als dringender beurteilt. Als ganz bedenklich erscheint Rechenbergs Absicht, „von den beneficiis, so denen Professoribus ordinariis gewidmet“41 zu partizipieren. Gegenwärtig herrsche nämlich eine große Teuerungswelle, die es nicht gestatte, die Einkünfte der bereits etablierten Professoren zugunsten eines Neulings zu schmälern. Schließlich wird nicht vergessen, auf Rechenbergs gute Vermögenslage zu verweisen. Gemeint ist damit der Besitz seines Vater, des Theologieprofessors Adam Rechenberg, dessen Alleinerbe er ist.42 Auf einen anders gelagerten Fall stoßen wir bei einem gewissen Joachim Ernst Scheffler, der als Landbaumeister schon seit Jahren an der Universität Mathematik unterrichtet und jetzt in einem Schreiben an den Rektor Johannes Schmid um die Übertragung einer entsprechenden Professur ohne Bezahlung (absque Salario) ersucht. Die Universität wird um eine Stellungnahme gebeten und lehnt jenes Ansinnen glatt ab: Scheffler müsse doch wissen, dass es seit Fundation der Universität nicht möglich sei in cathedra superiori zu lehren, wenn man nicht zu de Magistri nostri zähle und sich durch Disputationen habilitiert hätte. Eine recht durchsichtige Ausrede bildet dann die Erklärung, es seien schon alle Stunden von früh bis abends mit Vorlesungen besetzt. Gewichtiger nach dem Gelehrsamkeitsverständnis der Zeit ist die Bemerkung, Scheffler sei nicht in der Lage, in lateinischer Sprache zu unterrichten, womit ihm unausgesprochen die Lehrbefähigung bestritten wird.43 Diese immer wieder zu beobachtenden Abwehrmaßnahmen gegen die Einrichtung neuer Lehrstühle vermag aber nicht die stetige Ausweitung und Ausdifferenzierung der Fächer zu verhindern. Das geschieht jedoch weniger in plakativer Art und Weise, sondern allmählich und sozusagen unter der Hand. So unterrichtete der 40
41 42 43
Walter Höflechner: Bemerkungen zur Differenzierung des Fächerkanons und zur Stellung der philosophischen Fakultäten im Übergang vom 18. auf das 19. Jahrhundert, in: Schwinges, Artisten (wie Anm. 7), S. 297–317. UAL, Rep. I/VIII/33, Acta Carl Otto Rechenbergen und die von ihm gesuchte Prof. Juris Naturae et Gentium betr. 1711, Bl. 2–3, Brief des Rektors an den Kurfürsten, 8. Mai 1711. Ebd. UAL, Rep.I/VIII/57, Acta die von Joachim Ernst Schefflern gesuchte Professionem Matheseos ordinariam betr. 1721.
Die Philosophische Fakultät der Alma mater Lipsiensis um 1700
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Physikprofessor Johann Christian Lehmann Grundlagen der Technikwissenschaft, insbesondere im Bereich des Montanwesens, mehr als ein halbes Jahrhundert bevor in Freiberg die bekannte Bergakademie gegründet wurde. Markus Huttner hat auf der Grundlage eingehender Quellenkenntnisse überzeugend nachgewiesen, dass Disziplinen wie das Jus publicum, die Reichs- und Staatenkunde in Leipzig vor allem innerhalb der Philosophischen Fakultät, und wohl nur im nachgesetzten Umfang bei den Juristen, angeboten wurden, und das bereits lange vor der Gründung der Universität Halle. Dabei erfolgte dieser Unterricht nicht in eigenständiger Form; er wurde vielmehr innerhalb der Lektionen entweder des Professors für Geschichte oder des Professors für Moralphilosophie angeboten. Die Lektüre antiker Historiker bot die Möglichkeit, zeitgeschichtliche Ereignisse einzubeziehen oder geographische Fragen zu berücksichtigen. Nicht ein Jurist, sondern der Ethikprofessor Otto Mencke hielt zuerst Vorlesungen zu Grotius‘ De jure belli et pacis. Vor allem im Bereich des Lehrstuhls für Geschichte vollzog sich die Einführung des Historia Litteraria, die freilich nicht im Sinne der heutigen Literaturgeschichte zu verstehen ist. Neue Lehrstoffe konnten aber auch in privaten Lehrveranstaltungen, die dem Dozenten relativ viel Freiheit bei der Themenwahl einräumten, vermittelt werden. Ähnliches gilt für die Extraordinariate, die in verstärkter Zahl allerdings erst nach 1700 aufkamen.44 Die verschiedentlichen Versuche der Juristen, Lehrangebote an der Philosophischen Fakultät untersagen zu lassen, die sie thematisch für sich selbst beanspruchten, scheiterten letztendlich allesamt. Bemerkenswert ist dabei ein 1677 unternommener, ebenfalls erfolgloser Vorstoß, Otto Mencke, also dem Professor für Moralphilosophie, eine Vorlesung über das Jus publicum (Reichsrecht) zu untersagen. Die Begründung des Antrages der Juristen lässt erkennen, dass die Leipziger Rechtslehrer das Jus publicum zu diesem Zeitpunkt noch als Teil des römischen Rechtes (Corpus Juris civilis) betrachteten,45 was wohl mehr als deutlich belegt, dass die Jurisprudenz in Leipzig nicht unbedingt an der Spitze der Entwicklung ihrer eigenen Disziplin stand und damit auch nicht in der Lage war, die Leitwissenschaft der Epoche abzugeben.46 Von Bedeutung wäre die Beantwortung der Frage, wie sich die Situation an den anderen Universitäten gestaltete. Dahinter steht das schon angesprochene grundsätzliche Problem, ob Halle tatsächlich als das verbindliche Modell für alle anderen deutschen Universitäten in ihrer Entwicklung in die Moderne anzusehen ist, so die fast einhellige Auffassung der neueren Forschung: „Überall wurde, wie bekannt, das Hallisch-Göttingische Modell zu kopieren gestrebt [...]. Eben das sicherte [...] der selten ausgedehnten, dicht gesäten Universitätslandschaft des Reichs neue Überlebenskraft und hohes Ansehen auch im Zeichen der Aufklärung.“47
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Huttner, Geschichte (wie Anm. 19), S. 95ff. Ebd., S. 222f. Das Jus publicum wurde bis 1710 fast ausschließlich an der Philosophischen Fakultät unterrichtet. Zu der im Vergleich zu Halle in Leipzig ganz anders orientierten Leipziger Jurisprudenz Hammerstein, Universität (wie Anm. 19), S. 128f. Ders.: Der Wandel der Wissenschaft-Hierarchie und das bürgerliche Selbstbewußtsein, in: Muhlack, Res (wie Anm. 18), S. 341–356, Zitat S. 344. Der Aufsatz erschien erstmals 1989.
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Detlef Döring
Vielleicht aber bot das Hallisch-Göttingische Modell nur eine von verschiedenen Möglichkeiten des Weges zur modernen Universität. Vielleicht bilden die Leipziger Verhältnisse keine nur an diesem Ort zu verfolgende „Eigentümlichkeiten“ (so Notker Hammerstein),48 sondern lassen sich mit jeweils spezifischen Abwandlungen auch bei anderen Universitäten beobachten? Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass um 1700 an der Universität Leipzig ein allmählich wirkender Prozess einsetzte, in dessen Ergebnis die Philosophische Fakultät eine leitende Stellung innerhalb des Gefüges der Wissenschaften erlangte. Das geschah nur zeitweise und bedingt in der Konfrontation mit der bisher vorherrschenden Theologie – vielmehr geschah es oft in Verbindung mit ihr. Die Philosophische Fakultät ist zugleich der Ort, an dem sich die meisten modernen wissenschaftlichen Fachdisziplinen herauszubilden begannen. Bis zu deren Etablierung als wirklich selbständige Lehreinheiten war oft ein langer Weg zu beschreiten. Am Beginn standen die alten, von der mittelalterlichen Universität übernommenen Disziplinen der sieben freien Künste. Auf verschiedenen Wegen erfolgt in ihrem Schoß die Geburt des Neuen.
48
Dass sich Leipzig letztendlich in die gleiche Richtung wie Halle entwickelte, nur eben aus anderen Voraussetzungen heraus und unter Anwendung anderer Methoden, hat übrigens Hammerstein selbst eingeräumt. Hammerstein, Universität (wie Anm. 18), S. 131f. Dagegen steht seine wenige Jahre später getroffene Feststellung, dass allein die nach dem Vorbild Halles reformierten Universitäten vom Impetus der Aufklärung getragen wurden. Vgl. Hammerstein, Ort (wie Anm. 11), S. 28f. „Die deutsche Universitätslandschaft wurde ‚hallisch göttingisch‘“, Ebd.
Personenverzeichnis Das Personenverzeichnis enthält die im Vorwort, in den Sachtexten, in den Dokumenten und ihren Überschriften sowie in den Fußnoten außerhalb rein bibliographischer Angaben genannten Namen. Attributiv verwendete Namen sind im Register nicht erfasst. Abweichende und ergänzende Namensteile sind in Klammern gesetzt. Alberti, Valentin, 113, 122, 123, 125, 126 Alsted, Johann Heinrich, 20, 23, 57 Anaxagoras, 60 Anton, Paul, 107 Arnd, Carl, 126 August Heinrich Fasch, 86 Barrow, Isaac, 48, 67–69, 74, 75 Beckmann, Nicolaus, 34 Behme, Thomas, 68, 95, 97 Benedictus Pererius, 43 Bode, Heinrich, 107 Bolzano, Bernard, 62 Brahe, Tycho, 30, 97 Breidbach, Olaf, 95 Breithaupt, Joachim Justus, 107 Bucer, Martin, 91 Bullynck, Maarten, 95 Camerarius, Joachim, 91 Carpzov, Johann Benedikt (der Jüngere), 122, 125, 126 Cassiodor, 57 Chauvin, Stephanus, 58 Christ, Johann Friedrich, 127 Clark, William, 78 Clavius, Christopher, 72 Crusius, Christian August, 127, 128 Dante Alighieri, 59 Darwin, Charles, 21 Dasypodius, Conrad, 75 Demokrit(os), 45 Descartes, René, 43, 44, 48, 58 Dicke, Klaus, 7
Fludd, Robert, 22 Francke, August Hermann, 107, 121 Freig, Johann Thomas, 92, 95, 96 Friedrich August, Kurfürst, 123 Friedrich I. König von Preußen (Friedrich III.), 104–106 Friedrich Wilhelm, Kurfürst, 104 Galilei, Galileo, 31, 59 Gellert, Christian Fürchtegott, 127 Georg Wilhelm, Kurfürst, 104 Giphanius, 96 Glacian, 95 Goclenius, Rodolphus, 58 Gödel, Kurt, 73 Gottsched, Johann Christoph, 127, 129 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie, 127 Grotius, Hugo, 109, 111, 131 Gundling, Nikolaus Hieronymus, 107 Hamberger, Georg Albrecht, 59, 87, 88, 98 Hammerstein, Notker, 123, 124, 132 Hansch, Gottlieb, 129 Hebenstreit, Johann Paul, 98 Heraklit (von Ephesos), 56 Herbst, Klaus-Dieter, 8 Hérigone, Pierre, 75 Herlin, Christian, 75 Hessus, Eobanus, 91 Hevelius, Johannes, 29–35 Hippokrates (von ?), 56 Hobbes, Thomas, 67–69 Husserl, Edmund, 62 Huttner, Markus, 124, 131
Ittig, Thomas, 123, 126 Ernesti, Johann Augusts, 126, 127, 129 Junius, Ulrich, 128, 129 Erythraeus, Valentin, 92 Euklid (von Alexandria), 38, 42, 48, 65, 66, 70– Kapp, Johann Erhard, 127 72, 74, 75, 83 Karl V., 90 Kepler, Johannes, 30, 31, 73, 96, 129 Ferdinand II., 91–94 Kirch, Gottfried, 29–31, 33, 35, 36, 98 Firmicus Maternus, Julius, 57
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Sach- und Personenverzeichnis
Kirch, Maria, 31, 36 Kircher, Athanasius, 13, 14, 16, 18–21, 23–28, 95 Koch, Herbert, 82 Kombinatorik, 16, 21, 23, 25, 26, 28 Kratochwil, Stefan, 33, 96 Krause, Rudolph (Rudolf) Wilhelm, 32, 87 Kreiner, Artur, 93 Lehmann, Johann Christian, 131 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 19, 22, 37, 61, 62, 73, 98, 129 Leopold I, 89, 94 Leppin, Volker, 7 Linné, Carl von, 14, 20 Locke, John, 126 Ludewig, Johann Peter von, 107 Lull, Raimund, 21–23 Mährle, Wolfgang, 97 Maier, Gerhard, 58 Manilius, Marcus, 57 Marti, Hanspeter, 124, 127, 128 Matthias, 92 Maurer, Michael, 7 Maximilian II., Kaiser, 89, 93 Melanchthon, Philipp, 38–42, 75, 90, 91, 96 Mencke, Otto, 126, 131 Mentz, Georg, 81 Micraelius, Johann, 58 Molitor, Hansgeorg, 81 Neumann, Caspar, 98 Öchslein, Nicolaus (Taurellus), 95, 96 Oken, Lorenz, 21, 62 Olearius, Gottfried, 126 Olearius, Johannes, 126 Oughtred, William, 75
Ranßleben, Christian, 30 Rasche, Ulrich, 92 Rechenberg, Adam, 122, 123, 126, 130 Rechenberg, Otto, 130 Reiske, Johann Jakob, 127 Reyher, Samuel, 58, 59 Römer, Olaus, 31 Romanus, Adrianus, 57 Rudolf II., 92 Scheffler, Joachim Ernst, 130 Scherb(ius), Philipp, 68, 95, 96 Scheuchzer, Johann Jakob, 59 Scheurl, Siegfried Freiherr von, 97 Schindling, Anton, 90, 93 Schmidt, Johann Andreas, 87 Schnitter, Tobias, 29, 31, 32, 34, 35 Schröter, Ernst Friedrich, 32 Seckendorff, Veit Ludwig von, 107 Semler, Christoph, 98 Shannon, Claude Elwood, 28 Sigismund, Johann, 104 Simon, Johann Georg, 107 Soner, Ernst, 68, 95 Sparn, Walter, 121 Spener, Philipp Jacob, 104, 107, 122, 125 Stanley, Thomas, 126 Steinmeyer, Elias von, 93 Stigel, Johannes, 40 Strigel, Victorinus, 40 Struve, Georg Adam, 32 Stryk, Samuel, 102, 107 Sturm, Jakob, 91 Sturm, Johann Christoph, 75, 91, 92, 96–98 Taurellus, Nicolaus, 68, 95–97 Tholuck, August, 81 Thomasius, Christian, 101, 102, 106–117, 121, 126–128 Thomasius, Jakob, 37
Peyrera, Benedictus, 67 Pfau, Werner, 7 Philipp in Marburg, Landgraf, 90 Velcurionus, Johannes, 96 Piccart, Michael, 68, 95 Viehäuser, Siegmund, 92 Piccolomini, Alessandro, 43, 66, 67, 75 Vinhold, Christian Andreas, 60 Piccolomini, Francesco, 66 Pipping, Heinrich, 126 Walch, Johann Georg, 62, 125 Platon, 47, 56 Wallentin, Stefan, 97 Posner, Kaspar, 85 Wallis, John, 67, 68, 71 Praetorius, Johann, 96, 97 Walther, Helmut G., 7 Proklos, 42, 43 Weaver, Warren, 28 Protagoras, 56 Weigel, Erhard, 7–10, 29–35, 37, 38, 40, 41, 44– Prudentius, 57 56, 59–61, 63, 65, 68–77, 79, 82–88, Ptolemaeus (Ptolemaios), 31, 57 95–98, 122, 128, 134 Pufendorf, Samuel, 34, 37, 109, 111, 114, 124, Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar, Herzog, 58, 82 125 Winkler, Michael, 7 Pythagoras, 60 Wolff, Christian, 62, 108 Wosegin, Georg, 31 Ramus, Petrus, 65, 66
Sachverzeichnis Acta Eruditorum, 126 Affektion, 46, 49, 50, 53, 58 Algebra, 44, 47, 48 Aristotelismus, 10, 37, 38, 42, 43, 95, 109 Astrologie, 57, 59, 97 Astronomie, 29, 37, 57, 87, 97, 129 Axiom, 22, 41, 42, 45, 70, 71, 75 Besoldung, 83, 84 Beweis, 38, 40–44, 46–51, 53, 56, 58, 62, 65–76, 95 Christus, 24 Disputation, 8, 85, 110, 116, 124, 128, 130 Dissertation, 95, 96, 119, 124, 125, 128 Disziplin, 9–11, 43, 46–51, 53, 54, 57–60, 83–86, 95, 97, 111, 120, 121, 124, 125, 128, 130–132 Dogmatik, 38, 51, 96 Eklektik, 128 Enzyklopädie, 20, 21, 23 Erkenntnis, 30, 41, 44, 46, 47, 50, 53, 55–57, 81, 96, 109–111, 133 Erkenntnistheorie, 109 Fakultät, 10, 32, 37, 41, 52, 54, 81, 84, 86, 90, 94, 97, 101, 106, 107, 121–129, 131, 132 Frühaufklärung, 9, 98, 102, 107, 108
Kausalität, 67, 69, 75 Konfession, 10, 103, 104 Konvikt, 83, 87 Korrespondenznetz, 33 Lehrangebot, 119, 120, 131 Lehrbetrieb, 9, 10, 40, 90, 105, 106 Lehrkörper, 94 Lehrpraxis, 102, 110, 111, 116, 117 Lehrstreitigkeit, 86, 88, 123 Leitwissenschaft, 10, 113, 123, 125, 129, 131 Logik, 22, 25, 26, 38, 47, 48, 52, 61, 62, 65, 66, 68, 74, 75, 85, 113 Materie, 39, 45, 50, 58, 62, 112 Mathematik, 10, 34, 37, 38, 43, 44, 50, 55–59, 61– 63, 67, 68, 74, 75, 77, 83, 84, 86, 95–97, 108, 112, 120, 122, 124, 128–130 Mathematikunterricht, 40 Mathesis, 40, 55–62, 67 Matrikel, 30, 32, 93 Metaphysik, 43, 45, 50, 51, 53, 56, 85, 96, 112 Methode, 13, 22, 37, 39–42, 44, 47, 51, 54, 58, 59, 63, 65, 66, 126, 127, 132 Moralphilosophie, 47, 51, 52, 59, 126, 131 Muttersprache, 54, 120 Naturphilosophie, 50, 59, 96, 97, 133 Naturrecht, 109, 120, 124, 125, 130 Netzwerktechnologie, 13 Nutritoren, 86, 87
Geometrie, 40, 42, 51, 53, 54, 59, 67, 83, 84, 97 Gott, 14, 15, 21–24, 26–28, 34, 35, 45, 61, 111– Observatorium, 83, 87 113, 123 Offenbarung, 27, 68, 96 Gymnasium, 75, 89, 91–93, 96, 97 Ordnung, 11, 13–15, 20–22, 24–26, 47, 50, 52, 57, 58, 61, 65, 66 Handlung, 15–17, 28, 56, 61, 112 Ordo, 52, 53 Hexiologie, 51 Philosophie, 7, 19, 25, 34, 37, 38, 43, 46, 50–54, Humanismus, 91 60, 62, 101, 103, 108, 111, 114, 120, Immatrikulationszahlen, 93, 106 123, 125, 126, 129 Information, 13–18, 27, 28, 81, 87 Physik, 34, 41, 43, 85, 96, 97, 112 Instrumente, 30, 84, 87 Pietismus, 102, 104, 107, 108, 117, 122, 123, 125 Privileg, 89, 90, 92–94, 96, 105, 106 Jurisprudenz, 52, 101, 110, 112, 123, 124, 127, Promotionsrecht, 89, 90, 92, 94 129, 131 Quaestio, 66–68, 70–72, 74, 75 Kalender, 31 Recht, 107, 114, 115, 131 Kalkül, 19, 26
136 Rechtslehre, 112, 114 Reformation, 39, 78, 122, 123 Reformuniversität, 94, 106 Reichsstadt, 89, 91, 97
Sach- und Personenverzeichnis
Wahrheit, 15, 19, 20, 22–25, 27, 39, 40, 43, 45, 51, 109, 113 Weisheit, 50, 54, 59 Welt, 15–28, 30, 45, 111 Weltbild, 17, 28, 31, 96 Scholastik, 38, 48, 53 Welterklärung, 7, 98 Späthumanismus, 95, 98 Weltrepräsentation, 15, 17 Sprache, 19, 23–26, 57, 67, 107, 124, 129, 130 Weltsystem, 30 Subjekt, 16, 27, 41, 42, 44, 46, 47 Wissen, 13, 15–19, 23–28, 38, 56, 71 Syllogismus, 39, 44, 45, 47, 48, 69, 72 Wissensarchitektur, 19 Wissenschaft, 8, 10, 13, 14, 25, 26, 28, 37–39, Theologie, 7, 26, 39, 43, 89, 93, 97, 107, 112, 113, 41–44, 47, 49, 50, 52, 53, 56, 58, 60– 121, 123–128, 132 62, 66, 67, 69, 77, 111–113, 117, 119, Tugendschule, 86, 88 123–125, 127–129, 132 Wissenschaftsauffassung, 9, 108, 119 Universalwissenschaft, 15, 18, 23, 24, 28, 42 Wissenschaftsbegriff, 44, 46, 49, 121 Universitätsbetrieb, 77 Wissenschaftsbetrieb, 7 Universitätsgründung, 102, 107 Wissenschaftsdisziplin, 9, 98 Universitätshistoriographie, 81 Wissenschaftskonzeption, 37 Universitätsrevision, 86, 87 Ursache, 38, 39, 41, 43, 57, 61, 66, 67, 69–71, Wissenschaftslehre, 25, 26, 95, 97 Wissenschaftsmethodik, 44 107 Wissenschaftspraxis, 10 Wissenschaftsprogrammatik, 96, 97 Vernunft, 50, 109, 110, 117, 126, 128, 129 Wissenschaftstheorie, 10, 37, 41, 42, 108 Verstand, 22, 44, 49, 70, 74, 76, 110 Wissenserwerb, 49, 57 Visitation, 77–80, 82, 83, 85, 86 Wissenskosmos, 111, 117 Visitationsakten, 77, 78, 80, 81 Vorlesung, 41, 59, 83, 86, 96, 106, 110, 111, 116, Wissensordnungssystem, 14 Wissensrepräsentation, 13, 19, 21 130, 131 Wissenssystem, 18, 19 Vorlesungsankündigung, 30, 116 Wissensvermittlung, 112 Vorlesungsprogramm, 112
DIE AUTOREN Dr. Thomas Behme ist Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Philosophie des 17. Jahrhunderts, Rechts- und Staatsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen unter anderem: Samuel von Pufendorf. Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 112), Göttingen 1995; Hg. von und Einleitung in: Erhard Weigel: Analysis Aristotelica ex Euclide restituta (Clavis Pansophiae 3,3), Stuttgart-Bad Cannstatt 2008. Prof. Dr. Dr. Olaf Breidbach ist Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des Museums Ernst-Haeckel-Haus und Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Naturwissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Theorie der Geschichte der Wissenschaft, Systemtheorie, Wissenschaftskultur um 1800, Wissenschaftspopularisierung, Naturphilosophie und Wissenschaftswahrnehmungen. Veröffentlichungen unter anderem: Goethes Naturverständnis, München 2011; Radikale Historisierung. Kulturelle Selbstversicherung im Postdarwinismus, Berlin 2011 Vom Ende des Ereignisses, Paderborn 2011. Dr. Maarten Bullynck ist Maître de conférences für Mathematikgeschichte an der Université Paris 8 (St.Denis). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Mathematikgeschichte, insbesondere im 18. Jahrhundert, Geschichte der Zahlentheorie und Geschichte des Computers und seiner Anwendung. Promotion mit der Arbeit: Vom Zeitalter der formalen Wissenschaften. Anleitung zur Verarbeitung von Erkenntnissen anno 1800 vermittelst einer parallelen Geschichte, Diss. Phil. Gent 2006 (MS). Prof. Dr. Detlef Döring ist Mitarbeiter an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Arbeitsstelle „Edition des Briefwechsels von Johann Christoph Gottsched“. Publikationen unter anderem: Anfänge der modernen Wissenschaften. Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform 1650–1830/31, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Band 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31. Leipzig 2009, S. 516–771; Stadt und Universität Leipzig. Beiträge zu einer 600-jährigen wechselvollen Geschichte, Leipzig 2010.
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Die Autoren
Dr. Klaus-Dieter Herbst bereitet derzeit mit Kollegen in Paris (Université de Versailles-St-Quentin und Bibliothèque de l’Observatoire), in Regensburg (Universität) und in Warschau (Instytut Historii Nauki Polskiej Akademii Nauk) die Edition der Korrespondenz des Astronomen Johannes Hevelius vor. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Astronomieund Instrumentengeschichte sowie das Kalenderwesen des 16.–18. Jahrhunderts. Veröffentlichungen unter anderem: gemeinsam mit Stefan Kratochwil (Hg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. u.a. 2009; Die Schreibkalender im Kontext der Frühaufklärung (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 2), Jena 2010. Stefan Kratochwil ist Lehrer für Mathematik und Physik. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Erhard Weigel und die Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts. Veröffentlichungen unter anderem: (Hg.): Philosophia mathematica. Die Philosophie im Werk von Erhard Weigel, Jena 2005; gemeinsam mit Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. u.a. 2009. Prof. Dr. Georg Steinberg ist Mitarbeiter am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität Köln. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das Strafprozessrecht, Steuerstrafrecht und neuere Strafrechtsgeschichte. Veröffentlichungen unter anderem: Christian Thomasius als Naturrechtslehrer, Köln u.a. 2005; Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit. Ein Ansatz zu einer allgemeinen Prozesslehre (= Juristische Abhandlungen Bd. 53), Frankfurt a.M. 2010. Prof. Dr. Helmut G. Walther war von 1994 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Universitätsgeschichte; Geistes- und Kulturgeschichte des Mittelalters, Beziehungen zwischen Abendland und Islam, Politische Ideengeschichte; Rezeption des Mittelalters in der Neuzeit. Dr. Stefan Wallentin ist derzeit in einem Wirtschaftsunternehmen tätig. Promotion mit der Arbeit: Normen und akademische „Observanzen“. Die Verfassung der Universität Jena 1630–1730 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, Bd. 27), Köln 2009.
Wege der Wissenschaft im Nationalsozialismus Dokumente zur Universität Jena, 1933–1945 Bearbeitet von Joachim Hendel, Uwe Hoßfeld, Jürgen John, Oliver Lemuth und Rüdiger Stutz Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena – Band 7
Die Jenaer Universität entwickelte sich während des Nationalsozialismus zu einer herausgehobenen, „rassekundlich ausgerichteten“ Forschungs- und Ausbildungsstätte. Zugleich wurde sie zu einer naturwissenschaftlichmedizinisch orientierten Forschungsuniversität ausgebaut. Dieser schon länger zurückreichende Profilwandel fand im netzwerkbildenden Konzept „kämpferischer Wissenschaft“ der NS-Zeit seine besondere Ausprägung. Die meisten Hochschullehrer stellten sich hier in der trügerischen Gewissheit des „Dienstes für Volk und Vaterland“ dem Regime zur Verfügung.
Joachim Hendel / Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Oliver Lemuth / Rüdiger Stutz (Bearb.) Wege der Wissenschaft im Nationalsozialismus 314 Seiten mit 15 Abbildungen auf 7 Tafeln. Kart. ISBN 978-3-515-09006-3
Der vorliegende Dokumentenband enthält Schlüsselquellen zu hochschulpolitischen Konzepten, universitären Vorgängen und Konflikten. .............................................................................
Aus der Presse „... vermittelt ein differenziertes und facettenreiches Bild der NS-Geschichte der Universität Jena und vermag darüber hinaus in mancherlei Hinsicht wichtige Anstöße für die Universiätsgeschichtsschreibung generell zu geben.“ Archiv für Sozialgeschichte
Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de
„Stellt alles Trennende zurück!“ Eine Quellenedition zum „Wartburgtreffen der Deutschen Studentenschaft Pfingsten 1948“ in Eisenach Herausgegeben von Jürgen John in Verbindung mit Christian Faludi Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena – Band 8
In der Tradition der Wartburgfeste von 1817 und 1848 trafen sich zu Pfingsten 1948 Studierende aus allen Besatzungszonen in Eisenach, um im Rahmen des 1848er Revolutionsjubiläums ein Bekenntnis zur „geistigen Einheit Deutschlands“ abzulegen. Das vom studentischen Zonenrat der SBZ angeregte und vom Jenaer Studentenrat organisierte Treffen gehörte zu einer ganzen Kette zonenübergreifender Versuche, wieder eine „Deutsche Studentenschaft“ zu gründen und den Teilungstendenzen entgegen zu wirken.
Jürgen John (Hg.) „Stellt alles Trennende zurück!“ 414 Seiten mit 22 Abbildungen. Kart. ISBN 978-3-515-09795-6
Mit 143 meist bislang unveröffentlichten Dokumenten bietet die Quellenedition Einblicke in Hintergründe, Vor- und Nachgeschichte dieses heute nahezu vergessenen Großereignisses. Im Mittelpunkt steht das vollständige Wortprotokoll der Eisenacher Reden und Vorträge. Darum gruppieren sich Dokumente zum zonen-, erinnerungs-, studenten- und universitätspolitischen Kontext der Jahre 1947 bis 1949. Zwei umfangreiche Aufsätze informieren über die strukturellen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen. Damit ermöglichen die Autoren neue Einblicke in die alliierte und zonale Bildungs- und Hochschulpolitik der ersten Nachkriegsjahre.
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Der Mathematiker Erhard Weigel (1625– 1699) gilt bisher als einer der bedeutendsten deutschen Vertreter der sog. „Frühaufklärung“. Dieser Band hinterfragt nun diesen traditionellen und deshalb allzu bequemen philosophiegeschichtlichen Begriff nach seiner Erklärungsfunktion innerhalb der modernen Wissenschaftsgeschichte. In komparatistischer Sicht auf die deutsche Universitätslandschaft nehmen die Beiträger den institutionellen Rahmen und seine konkreten Auswirkungen auf den Lehrbetrieb in den Blick, um
die Bedingungen des damaligen Wissenschaftsverständnisses und seiner Entwicklungsrichtungen zu untersuchen. Im Fokus stehen die Verwandlungen der aristotelischen Basis des Wissenschaftsverständnisses und was sich damalige Universitätslehrer als Autoren explizit (z.B. in Form wissenschaftstheoretischer Schriften und Lehrbücher) oder implizit (z.B. in Form der von ihnen praktizierten Wissenschaft) unter Wissenschaft vorgestellt und ihrem gelehrten Publikum vermittelt haben.
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ISBN 978-3-515-10194-3