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German Pages 198 Year 2003
Editionen der Iberoameriana Ediciones de Iberoamericaia Serie A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Citica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft / Lingüitica Serie C: Geschichte und Gesellschaft/ Histony Sociedad Serie D: Bibliographien / Bibliograas Herausgegeben von / Editado po: Walther L. Bernecker, Frauke Geweke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minncnann C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y ociedad, 8
Jochen Plötz
Hybridität und mestizaje bei Domingo Faustino Sarmiento und Fernando González Ochoa
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2003
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-89354-892-0 n2 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2003 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter Verwendung des Fotos:
Popayân (Kolumbien), Foto des Autors Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Umriß 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3
und Vorgehensweise der Untersuchung Soziobiologische Kategorien in der Bildung der Gesellschaftstheorie Auswahl und Eingrenzung des Gegenstandes Der Schriftsteller Domingo Faustino Sarmiento in seiner Zeit Der Schriftsteller Fernando González Ochoa in seiner Zeit Gemeinsame Traditionen: Bolivarismus in der Gesellschaftstheorie und Kreuzung von Stilen und Methoden in der Darstellungsweise Zur Methode
7 10 10 17 23 34 55 65
3. Domingo Faustino Sarmiento als Historiker und als politischer Schriftsteller....71 3.1 Grundlegende Argumentation von Conflicto y armonías de las razas en América 72 3.2 Mischung und Hybridität 79 3.3 Konsequenzen und Unentschiedenheiten bei Sarmiento 86 4. Fernando González Ochoa als Historiker und als politischer Schriftsteller 4.1 Werkübersicht 4.2 Weichenstellungen nach der Unabhängigkeit: Santander 4.3 Bekenntnisse und Ideale: Mi Simón Bolívar 4.4 Der Zugang zu Geschichte und Gegenwart als Gratwanderung: Mi Compadre und Los negroides 4.5 Politische Intervention als permanente Provokation und Kritik: Antioquia, Arengas políticas, El derecho a no obedecer (Una tesis). Estatuto de valorización. Nociones de izquierdismo und Los negroides 4.6 González über Mischung und Hybridität
92 99 110 119 134 149 160
5. Schlussbetrachtung 5.1 Parallelen und Differenzen bei Sarmiento und González 5.2 Ausblick: Homogenität, Ausgrenzung, Alternativen
173 173 179
Bibliographie 1. Domingo Faustino Sarmiento und Fernando González Ochoa 2. Weitere zeitgenössische und von Sarmiento und González zitierte Quellentexte 3. Literatur
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1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, in der lateinamerikanischen Geschichte der Gesellschaftstheorie die Behandlung des Themas der ethnischen Mischung und dabei die Probleme und Konsequenzen der Verwendung der Hybridität und einiger anderer soziobiologischer Kategorien zurückzuverfolgen. Indem sich die Arbeit darauf beschränkt, diese Untersuchung im wesentlichen an ausgewählten Texten von Domingo Faustino Sarmiento (1811-1888) und am theoretischen Werk von Fernando González Ochoa (1895-1964) durchzuführen, stellt sie durch diese Begrenzung zugleich klar, daß ihre Ergebnisse vor allem etwas über die intellektuellen Anstrengungen von Denkern der kreolischen Oberschicht aussagen, d. h. viel mehr Aufschlüsse über die subjektive und objektive Geschichte dieser Elite, ihres Selbstverständnisses und ihrer gesellschaftlichen Projekte, kurzum ihrer "Rasse" liefern werden als über die Geschichte der anderen "Rassen", aus derer aller fortwährenden Mischung die Gesellschaftsgeschichte in Lateinamerika besteht. 1 Während beim "Klassiker" Sarmiento paradigmatisch nachgewiesen werden soll, warum an bestimmten Stellen auf soziobiologische Kategorien zurückgegriffen wird und welche Probleme ihr Gebrauch aufwirft, geht es bei dem eigenwilligen "Authentizitäts-Denker" González darum, Ansätze und Umschlagspunkte dieser Kategorien für die vielfaltigen Neuinterpretationen und -Verwendungen auszumachen, die sie später erfahren werden. Nachgegangen werden soll insbesondere der Frage, welchen Stellenwert die Mischung der Ethnien bei diesen Denkern für die Projekte einer künftigen lateinamerikanischen Gesellschaftsverfassung einnimmt, wie sie 1
Natürlich muß man mit Bernd Gräfrath, stellvertretend für viele andere Wissenschaftler, anzweifeln, "ob sich einzelne Menschenrassen genetisch klar voneinander abgrenzen lassen" (Bernd Gräfrath, Evolutionäre Ethik? Philosophische Programme. Probleme und Perspektiven der Soziobiologie, Berlin 1997, S. 83). In jedem Falle wird davon ausgegegangen, daß es sich bei der Verwendung des Begriffes der Rasse immer um ein soziales und symbolisches Konstrukt handelt (Peter Wade), und genau das an dem gewählten, theoriegeschichtlichen Ausschnitt nachzuweisen, auch und gerade dort, wo die Akteure keine auf fragwürdigen Reinheitsvorstellungen beruhenden Abgrenzungen, sondern neutrale demographische Bezeichnungen beabsichtigen, ist das Ziel dieser Arbeit. Daß der Begriff, der der leichteren Lesbarkeit halber künftig nicht in Anführungsstriche gesetzt wird, gleich auf der ersten Seite gebraucht wird, soll die Leser für die Bandbreite des Problems sensibilisieren und aufnahmebereit machen für die universalistische Intention seiner Verwendung - auch diese zwei Beispiele wieder stellvertretend für unzählige weitere aus Lateinamerika - im Wappen der 1910 von dem Humanisten Justo Sierra gegründeten Autonomen Nationaluniversität Mexikos (Por mi raza hablará el espíritu) oder anläßlich des jährlich am 12. Oktober begangenen Día de la Raza. Die im Zuge der Fünfhundertjahrfeiern wieder entfachte und sich neu gruppierende indigene Bewegung nahm genau diese Symbolik zum Anlaß, demonstrativ die Feiern zu diesem Tage zurückzuweisen, da sein universalistischer Sinn fünfhundert Jahre lang mit Füßen getreten worden sei. "Por el contrario, conmemoraron (los indígenas del continente, J. P). los '500 años de muerte, robo, desprecio y violación' el día anterior, el 11 de octubre, el 'último día de la independencia de los pueblos de América'" (Walther L. Bernecker, "El renacimiento de lo indígena en América Latina: entre la resistencia y el resurgimiento étnico", in: Pérez Silier, Javier/Radkau García, Verena, Identidad en el imaginario nacional. Reescritura y enseñanza de la historia, Puebla 1998, S. 23).
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entworfen und welche Qualität der Hybridität dabei zugemessen wird. Dabei ist auch von Belang, von wem die Autoren sprechen, wenn sie von ihren lateinamerikanischen Gesellschaften sprechen. Nicht in deren eigenem geschichtlichen Werdegang besteht der Referenzcharakter der Angehörigen der indigenen und schwarzen Bevölkerungsgruppen, sondern darin, daß sie die durch ihre weißen Gegenüber seit der Kolonialzeit geschaffenen Anderen darstellen. Es werden viel weniger Informationen zu ihnen zutage gefördert als vielmehr, über den Bezug auf sie, Informationen in kritischer Absicht über die eigene weiße Oberschicht. In seiner Studie über den hispanoamerikanischen modernismo verglich der puertorricanische Kulturtheoretiker Julio Ramos diesen Zusammenhang mit der Dynamik der Projektion des (europäischen) Innen ins (orientalische) Außen, die Edward Said seiner Analyse des Orientalismus zugrundegelegt hatte. "Según Said podemos leer el discurso sobre el 'otro', no tanto en función de su referencialidad, sino como dispositivo de la constitución 'propia' del sujeto (europeo) que produce el discurso. El 'otro', en ese sentido, es un aspecto definitorio del imaginario europeo."2 Wenn mitunter die Diskrepanz auffallt zwischen der Unbestimmtheit, in der die behandelten Autoren Geschichte und Kultur der indigenen Völker belassen, und der Bestimmtheit, mit der sie sich negativ oder positiv auf sie beziehen und berufen, so entspricht dies der eingeschlagenen Argumentationslinie: Es geht den Autoren in erster Linie um die Kritik ihrer kreolischen Mitstreiter im politischen und ideologischen Diskurs. Als ein Ergebnis der Untersuchung wird die argumentative Nähe zwischen solcherart unbestimmt gelassenen Zielbündeln, wie sie die Authentizität des indianischen Wesens darstellt, und der Rechtfertigung der zu ihrer Durchsetzung angetretenen, autoritären politischen Entwicklungssysteme nachgewiesen. Die Rechtfertigung des Themas und der Auswahl des zu untersuchenden Textcorpus leitet sich ganz allgemein aus dem Anspruch her, mit der Erforschung der Aufnahme und Weiterentwicklung von Domingo Sarmiento durch Fernando González einen in der Erforschung der Geschichte des Diskurses des mestizaje kaum beachteten Zweig der Gesellschaftstheorie in Lateinamerika darzustellen. Indem sie die Heterogenität an den Ausgangspunkt ihrer sozialen und kulturellen Analysen stellten, erschienen die Mischgesellschaften, die sich in den Jahrhunderten nach der conquista gebildet hatten, immer auch unter dem Aspekt des mestizaje distal; von der Vision der im Hinblick auf die Ziele der civilización und der conciencia zum Scheitern verurteilten, der unmöglichen Gesellschaftsentwicklung bis hin zur Chance, die in der Anerkennung der eigenen Hybridität liegt, reichten die Formulierungen von Ausblicken. Mit dem Ausschnitt der Soziologiegeschichte, in dem die Verwendung soziobiologischer Kategorien und dabei insbesondere die Karriere des Begriffs der Hybridität untersucht werden soll, werden zugleich Querverbindungen zwischen zwei in vielen Ansätzen sehr unterschiedlichen Denkern freigelegt und durch die zutage geförderten Übereinstimmungen neue Perspektiven auf Traditionsbildungen innerhalb der Gesellschaftstheorie in Lateinamerika vorgeschlagen. Gegen die verbreitete These über Sarmiento als dem Dichter und Politiker, 2
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Julio Ramos, Desencuentros de la modernidad, Mexiko 1989, S. 22.
der in seinen Epen und Schriften die argentinische Kultur und das argentinische Wesen Uberhaupt erst erkannt und ihnen eine einheitliche Gestalt verliehen habe, wird eine andere Lesart seiner soziologischen Schriften ins Blickfeld gerückt.3 Diese versucht, die Widersprüchlichkeit in dem Buch über Konflikt und Harmonien der Rassen 4 herauszuarbeiten, die auch die erkenntnisleitende Fragestellung für Ramos' Interpretation des Facundo. Civilización y barbarie, des 1845 erschienenen, meistgelesenen und einflußreichsten Werks Sarmientos, war. Por un lado la visión del mundo oral de la tradición como aquello que había de eliminar si se deseaba modernizar (o 'civilizar': expandir la ciudad). Y, por otro, la visión de esa voluntad de ruptura como generadora de nuevos conflictos y ansiedades, sobre todo después que la tradición responde violentamente Diese Ambivalenz, die sich nicht auflösen läßt, drückte sich bei der Behandlung der Geschichte unter dem Aspekt des Zusammenlebens und der Vermischung der Rassen als Schwanken zwischen einem historisch-sozialen Erklärungsansatz ihres Verlaufes einerseits und einem auf soziobiologischen Konstanten fußenden andererseits aus. Als einer der ersten hatte Sarmiento die ethnische Dynamik als Schlüsselfrage fiir Soziologie und Philosophie der Geschichte Lateinamerikas aufgeworfen. Spätestens seit Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wird von indigenen Bewegungen gesprochen, die den Kampf um die Überwindung ihres Objektstatus und um die Erlangung einer Rolle als Akteure der Geschichte aufgenommen hätten.6 Zum Verständnis ihrer heutigen Interessenformulierungen leistet die Erforschung der Geschichte der Mischungs-, 3
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Vgl. stellvertretend für eine ganze Tradition in der Sekundärliteratur die Aufsätze von Alfredo Orgaz. "Sarmiento y Rosas son... los dos representantes genuinos de la argentinidad en sus luces y en sus sombras, algo así como la tesis y la antítesis de la vida nacional" (Alfredo Orgaz, Ensayos sarmientinos, Córdoba 1972, S. 17). Domingo Faustino Sarmiento, Conflicto y armonías de las razas en América, 2 Bände (Bde. 37 und 38 der Obras completas in 52 Bänden, Buenos Aires 1902-56), Buenos Aires 1953. Während der erste Band 1883 erschien, konnte der Autor für den zweiten Band 1888 nur noch die Einleitung verfassen, aber nicht mehr die Ausgabe besorgen. Die erste posthume Ausgabe mit einigen, für den zweiten Band vorgesehenen Texten erschien 1892 unter dem Titel Una república muerta. Vgl. das Vorwort der Herausgeber des zweiten Bandes, ebenda, S. 10. Ramos, a.a.O., S. 26. Vgl. Bernecker, a.a.O., S. 24. Rodolfo Stavenhagen spricht von "mehr als 400 identifizierbaren indianischen Gruppen mit einer Gesamtbevölkerung von knapp 40 Millionen, angefangen von zahlenmäßig sehr kleinen, fast ausgestorbenen Urwaldverbänden am Amazonas bis zu millionenstarken Bauernverbänden in den Anden" (Rodolfo Stavenhagen, "Indigene Völker: Neue Akteure in Lateinamerika", in: Utta von Gleich, Indigene Völker in Lateinamerika, Frankfurt/Main 1997, S. 16f.). Natürlich müssen die methodischen Probleme dieser Erhebungen betont werden. Nach Thomas W. Merrick kann als Erhebungsmerkmal für die indianische Bevölkerung die Sprache, für die schwarze Bevölkerung die Selbsteinschätzung herangezogen werden. Nach diesem Merkmal gab es um die Mitte des 20. Jhdts. und später einen schwarzen Bevölkerungsanteil von 6 % in Kolumbien, von 12,4 % in Kuba und von 11 % in Brasilien (vgl. Thomas W. Merrick, "The Population of Latin America 1930-90", in: Leslie Bethell (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. VI, Teil 1, Cambridge 1994, S. 28f.).
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Adaptations- und Partizipationstheorien, ihrer affirmativen und kritischen Ansätze einen Beitrag. Indem zu diesen Themen die Ansichten des im deutschen Sprachraum weithin unbekannten kolumbianischen Soziologen und Philosophen Fernando González vorgestellt werden, wird zugleich ein Licht auf die Rezeption Sarmientos in dem Kreis um González und José María Velasco Ibarra geworfen. Velasco Ibarra, einflußreicher Schriftsteller und Politiker Ecuadors, hatte mit seiner 1936 während seines kolumbianischen Exils in Medellin erschienenen Schrift "Conciencia o barbarie" Sarmientos Alternative bewußt im Sinne der individualistischeren Ausrichtung dieses Kreises, der sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den Staaten des früheren GroßKolumbiens herausbildete, gestellt. Angesichts einer in ihrer Totalität ausschließlich in der Fremdsprache vorliegenden Primärbibliographie lag es nahe, daß Reflexionen zu Sprachgeschichte, Bedeutungswandel, Sprachvergleichen und Obersetzungsproblemen den gesamten Gang der Erarbeitung begleiteten. Sie stellen keine von außen herangetragenen, instrumentellen Überlegungen dar, sondern sind integrale Bestandteile des Verstehensprozesses. Dies gilt um so mehr, als sich die Arbeit als Beitrag zur ideengeschichtlichen Erforschung des Mischungsdiskurses versteht, sie es also vorwiegend mit Texten und intertextuellen Bezügen, mit der Formulierung der Aufnahme, der Verwerfung und der Umwertung von Ideen zu tun hat.
2. Umriß und Vorgehensweise der Untersuchung In diesem Kapitel werden die behandelten Autoren kurz vorgestellt sowie auf Ergebnisse der Forschung hingewiesen, die sich in vergleichbarer Absicht mit ihnen beschäftigt. Damit ist zugleich der Ausschnitt der von Sarmiento und González bearbeiteten Themen umrissen, auf den sich diese Untersuchung erstreckt. In einem theoretischen Vorspann werden jedoch zunächst die Herkunft einiger zentraler soziobiologischer Kategorien geklärt, deren Nutzung für die Bildung von Gesellschaftstheorie zu ethnischen Zuschreibungen führt. Sodann werden die mit dieser Verwendung einhergehenden Sichtweisen und Verständnisformen von Realität näher erläutert. Der letzte Abschnitt begründet und expliziert die durchgeführten Lesarten der beiden Autoren. Ihr Interesse, das ethnographische Problembewußtsein der Autoren zu untersuchen und herauszufinden, ob diesen stellenweise die Überwindung der üblichen Arroganz, mit der in den jungen Republiken der Andere abgegrenzt wurde, gelang, oder besser, ob sie dafür Ansätze aufwiesen, ergibt sich aus der Dichotomie von Geschichte und Evolution.
2.1 Soziobiologische Kategorien in der Bildung der Gesellschaftstheorie Auf der Grundlage der Ausführungen von Bernd Gräfrath, Nancy Ley Stepan und Peter Wade werden Anwendungsformen soziobiologischer Kategorien der Rasse für soziale 10
Theorien und ihre Wirkungen auf deren Ergebnisse dargestellt. Die Darstellung erfolgt im Hinblick auf die Operationalisierung für die eigenen Textuntersuchungen. In seiner Arbeit über philosophische Programme, Probleme und Perspektiven der Soziobiologie umreißt Gräfrath das Programm einer "Kritik der biologischen Vernunft"7 und versteht seine Arbeit zugleich als einen Beitrag dazu. Diese Kritik erachtet er als notwendig, da mittels unzulässiger Reduktionismen und naturalistischer Fehlschlüsse aus der Soziobiologie evolutionäre Ethiken abgeleitet würden, allen voran die durch die Adaptation moderner Erkenntnisse aktualisierte und ungebrochen wirkmächtige, biologistische Fortschrittsvorstellung, weithin als Sozialdarwinismus bezeichnet. Gräfrath benutzt den Namen in kritischer Absicht zur Bezeichnung eines häufig nicht scharf abgegrenzten Theoriesammelsuriums, das sich in vielen seiner Ausprägungen nicht auf Darwin stützen kann und noch zu dessen Zeiten sich beispielsweise von ihm bekämpfte Annahmen Lamarcks einverleibte. Die verschiedenen Spielarten des Sozialdarwinismus eint das Axiom von der natürlichen Selektion als Grund und Triebfeder organischer Höherentwicklung. Hinter deren Wirken oder, besser gesagt, der Auslegung ihres vermeintlichen Wirkens, ließen sich leicht allerhand Baupläne, Gesamtziele und andere evolutionäre Sinnrichtungen entdecken, die nach jeweiligen politischen und ideologischen Bedarfslagen durchaus wechseln konnten. Lamarcks Grundthese vom vorgegebenen telos, auf das hin sich die Evolution zubewege, wurde von Charles Darwin zeit seines Lebens abgelehnt.8 Niemand wird den gewichtigen Beitrag leugnen wollen, den die Ergebnisse soziobiologischer Forschung zur Erklärung der Entstehung, Erhaltung und Ausbreitung von Geschichte und Kultur des Menschen als eines von einer physischen Umwelt bestimmten und auf Fortpflanzung angewiesenen Naturwesens beitragen können. Der Beantwortung der Frage nach der Wechselwirkung genetischer und historisch produzierter Faktoren auf die Ausgestaltung seiner Entwicklung wird dabei ganz besondere Bedeutung für die Zielrichtung und Gewichtung politischer Strategien und Aktionsprogramme beigemessen werden. Für die Analyse der unterschiedlichen Ansätze untersucht Gräfrath den Stellenwert und das Ausmaß der Autonomie kultureller Entwicklungen in ihnen. Dabei schälen sich zwei grundlegende Argumentationsstränge in seiner Kritik heraus. Der erste Argumentationsstrang bezieht sich auf alle Arten von teleologischen Konzepten, deren Urheber beanspruchen, sie unmittelbar der Evolution selber abgelesen zu haben. Dabei fuhrt Gräfrath aus, daß weder evolutions- noch soziobiologisch hinreichend das Kriterium für "Höhe" bestimmt werden könne, daß sich aber bestimmte historische Zustände, auf deren Bezeichnung als "hohe" man sich auf der Grundlage außerbiologischer, etwa moralischer Maßstäbe einigen könnte, gerade nicht natürlicher Selektion, sondern kultureller Weiterentwicklung verdankten. So strittig, weil noch wenig erforscht, die Beziehungen zwischen Kultur und Evolution im einzelnen seien, so entschieden müsse dagegen der für den Sozialdarwinismus charakteristische, normative Gehalt zurückgewiesen werden. Erstens gibt es für ihn weder empirisch noch theoretisch eine Basis, was an zahlreichen Beispielen einseitiger und irrtümlicher Bewertun7 8
Gräfrath, a.a.O., S. 56. Vgl. ebenda, S. 50f.
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gen von Entwicklungen überdeutlich wird, zweitens und grundsätzlich muß allererst philosophisch das Wie und das Worauf der Begründung einer normativen Ethik geklärt werden. Die sozialdarwinistische Umdeutung der fitness in ein Gesetz der Auslese der Tüchtigsten bestehe darin, daß dem darwinistischen Ansatz eine teleologische Deutung aufgepfropft wird, während das besondere Charakteristikum der Evolutionstheorie Darwins gegenüber ihren Vorläufern in der Zurückweisung der Vorstellung besteht, daß die Evolution zielgerichtet (etwa auf den Menschen oder einen 'Übermenschen' hin) verläuft.9
Daß darüber hinaus jede Ethik zuallererst sowohl das Verhältnis von Genesis und Geltung, von Sein und Sollen als auch den theorielogischen Status, den eine Gesellschaftstheorie dem Geschichtsverlauf, etwa als einzig denkbarem, als kontingentem oder als auch anders vorstellbarem zuerkennt, reflektieren muß, stellen im nachhinein die historischen, tragischen Ergebnisse derjenigen Ethiken besonders klar heraus, die die Unumgehbarkeit jener methodischen Selbstvergewisserung ignorierten, sich auf ungesicherte evolutionistische Annahmen gründeten und sich die Unterscheidung zwischen mehr und weniger wertem Leben anmaßten. Eng verbunden mit der Teleologiekritik ist Gräfraths anderer grundlegender Kritikstrang, der sich auf das sozialdarwinistische Selektionskonzept bezieht. "Auch wenn Anpassung eine wesentliche Kategorie der Evolutionstheorie ist, stellen doch gerade die Unvollkommenheiten (wie sie sich etwa in rudimentären Organen zeigen) ihren entscheidenden Beleg dar."10 Der Begründung dieser zentralen Gegenthese zum adaptionistischen, von Stephen Jay Gould im Anschluß an den aufgeklärt optimistischen, von der Teleologie und Vernunft überzeugten Lehrer Pangloss aus Voltaires Candide "Panglossismus" genannten Sozialdarwinismus, demzufolge alle gegenwärtigen Arten und Ausstattungen einzelner Organismen als optimale Anpassungsleistungen interpretiert werden, widmet Gräfrath weite Teile seiner Untersuchung. An unumkehrbaren Verzweigungen und "Abwegen" der Evolution und am wissenschaftstheoretisch komplexen Thema des Zufalls versucht er die Inadäquatheit des nomologischen und wertenden Dogmas der Anpassung nachzuweisen und dagegen die Aufgabe von Evolutionstheorie und Soziobiologie als die Darstellung der Geschichte der Abstammungen zu bestimmen, die im Einzelfall aposteriori jeweils die Wirkungen bestimmter Faktoren innerhalb bestimmter Entwicklungen beurteilen könne. Diese Untersuchungen führen natürlich weit über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus; der Zweck der kurzen und bruchstückhaften Darstellung einiger von Gräfraths Thesen bestand lediglich darin, jene paradigmatischen Denkmuster der Soziobiologie näher zu beleuchten, die für die biologische Umdeutung sozialer Mißstände verantwortlich sein könnten. Besonders ergiebig erwies sich dafür die Analyse der unterschwelligen oder expliziten, normativen Modelle der biologistischen Fortschrittsvorstellung und des ihr inhärenten Gradualitätsdogmas seines Verlaufs, für deren 9 10 12
Ebenda, S. 93. Ebenda, S. 45.
politische Brisanz Gräfrath wiederum Gould zitiert: "Von der Vorstellung, daß es in der Entwicklungsgeschichte einen Fortschritt gäbe, war es nur ein kleiner Schritt zu der Überzeugung, daß eine Rasse anderen überlegen sei."11 Wie die jeweilige soziobiologische Schule "die Doppelnatur des Menschen als Organismus und als Person"12 faßt und beurteilt, wird sie hinsichtlich der philosophischen und politischen Konsequenzen charakterisiert und von anderen Schulen abgegrenzt. Das Verhältnis von der auch in evolutionstheoretischen Kategorien beschreibbaren Genesis eines Zustandes zu seiner unterschiedlich auslegbaren, handlungssteuernden Geltung ist wesentlich für die Konzeption der Binnenstruktur jener Doppelnatur und im besonderen fiir den Freiheitsspielraum, der der "Person" eingeräumt wird. Es leitet unmittelbar über zur Problematik der Umfangsdifferenzierung von Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und Verantwortung des Individuums. Die Determinierung dieses Radius bestimmt zugleich auch Gestaltungsspielraum und Reichweite der Interessen der Individuen. Gräfraths Kritik aller teleologischen Ansätze der Evolution, und zwar sowohl hinsichtlich deren kategorialen Verständnisses als auch besonders hinsichtlich der politischen und ethischen Konsequenzen, die aus den gegensätzlichen Verständnissen der Evolution resultieren, fuhrt ihn zu einer deutlich personenbezogenen Konzeption des Interessenbegrififes. Interesse müsse immer aus den Existenzansprüchen der Einzelperson begründet werden können. Diese bilden den Bezugsrahmen auch für Programme und aus ihnen resultierende Maßnahmen, in denen es um Populationen und die Interessen ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Mitglieder gehe, z. B. Programme der Volkshygiene, da sich andernfalls notorische Gerechtigkeitsprobleme ergäben. "In jedem Falle ist es aber irreführend und falsch, von den 'Interessen' verschiedener Rassen zu sprechen. Nur Individuen haben Interessen."13 In ihrer Untersuchung über Rasse, Geschlecht und Nation in Lateinamerika zeichnet Nancy Leys Stepan die Rezeption und Weiterentwicklung verschiedener europäischer evolutionärer anthropologischer Lehren in Lateinamerika nach und verfolgt exemplarisch für Argentinien, Brasilien und Mexiko einige ihrer Anwendungen in politischen Programmen mit eugenischer Orientierung. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich bis fast zu den 1940er Jahren, also auch noch auf die Aktivitäten einiger, aus dem Panamerikanischen Eugenikkongreß 1934 in Buenos Aires hervorgegangenen Organisationen. Drei grundlegende Merkmale prägten ihren Ausführungen zufolge durchgehend die theoretische Rezeption dieser Lehren. Erstens stand das Interesse an der Verbreitung und Anwendung evolutionstheoretischer Lehren stets in Verbindung mit dem Wunsch, die eigene Gesellschaft zu definieren und geeignete Maßnahmen zu ihrer machtvollen Entfaltung zu ergreifen, bzw. die ihr im Wege stehenden Hindernisse zu erkennen und auszumerzen. Häufig stand dieses Interesse in engem Zusammenhang mit dem Prozeß der "Selbsterfindung" als Na11 12 13
Stephen Jay Gould, "Darwin's Dilemma. The Odysseus of Evolution", in: ders., Ever Since Darwin, S. 178, zitiert nach Gräfrath, a.aO„ S. 99. Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 83. S. dort und auf den folgenden Seiten auch die im obigen Text vor dem Zitat kurz resümierte Begründung des Interessenbegriffs von der Person her. 13
tion; in anderen Fällen bezog es sich aber auch auf größere Räume, auf die "kontinentale Gesellschaft" oder auf sich selbst als Teil der menschlichen Spezies.14 Sodann verstärkte sich in der Aufnahme und Weiterentwicklung jener Prozeß, auf den schon oben am Beispiel des Sozialdarwinismus hingewiesen wurde: Für die praktische Umsetzung und für die Weiterverbreitung wirksam wurden nicht die reinen Lehren der führenden und schulebildenden, europäischen Anthropologen. Wirksam wurden vielmehr interessegeleitete Umdeutungen und Kompilationen, Akzentuierungen und Auslassungen. Dies könne deutlich am Lamarckismus und Neolamarckismus gezeigt werden, der zur wissenschaftlichen und ideologischen Stützung durchaus gegensätzlicher Programme benutzt wurde. Zur Erklärung der gegenüber dem Darwinismus ungleich weiterreichenden Verbreitung der Theorien und Ansichten Lamarcks in Lateinamerika ist zunächst auf die traditionell an französischen Universitäten (oder zumindest durch Professoren, die ihrerseits dort studiert hatten) stattfindende Ausbildung der Ärzte hinzuweisen.15 Die regelrecht als antidarwinistische Reaktion erkennbare Welle des Neolamarckismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber interpretiert Stepan als Folge vornehmlich politisch-ideologischer Motive. Gegen die virulente Stigmatisierung aller nichteuropäischen, nichtnordischen und nichtreinen Rassen lieferte der Lamarckismus die schärferen Waffen, maß er doch mit seiner von Darwin bestrittenen Hypothese der Vererbbarkeit erworbener Merkmale dem menschlichen Gestaltungsspielraum viel höheres Gewicht bei. A Lamarckian style of evolution seemed a gentler, more harmonious and humane way ofperfecting nature than one based on Darwin's brutish struggle. To a neo-Lamarckian, natural selection might result in a weeding out of the unfit variations, but the inheritance of acquired characters was responsible for the origin of the fittest. Politically, neo-Lamarckian ideas justified the belief that human effort had meaning, that improvements acquired in an individual's lifetime could be handed on genetically, that progress could occur.16
Mit ihrer Teleologie fügten sich die Ideen Lamarcks viel besser in den Optimismus und das erwachende Selbstbewußtsein vieler geistiger Strömungen Lateinamerikas ein halbes Jahrhundert nach Erringung der politischen Unabhängigkeit ein. Für die weitere Entwicklung interessant ist dann aber gerade, daß dieselben Lehren Lamarcks über die Vererbung von Praktikern politisch ganz gegensätzlicher Positionen benutzt wurden: Sie dienten sowohl zur Legitimation sozial orientierter Programme der Volksgesundheit 14
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"Then, too, the region was involved in nationalist self-making, in which the setting of boundaries between self and other and the creation of identities were increasingly carried out by and through scientific and medical discourses" (Nancy Leys Stepan, The hour of Eugenics. Race, Gender and Nation in Latin America, Ithaca 1991, S. 7). Vgl. für Kolumbien Néstor Miranda Canal, "La medicina colombiana de la regeneración a los artos de la segunda guerra mundial", in: A. Mejía Tirado, Nueva historia de Colombia, Bd. IV, S. 257IT. Miranda Canal weist auch daraufhin, daß die die französische Schule ablösende Orientierung am nordamerikanischen Facharztmodell erst nach dem Zweiten Weltkrieg massiv wirksam wurde. Stepan, aa.0., S. 74.
und der Bereitstellung minimaler sanitärer und hygienischer Bedingungen mit höchstmöglicher Reichweite, als auch zur Begründung einer "harten" Eugenik, die zur Abwendung von Degeneration, Kriminalität, Alkoholismus und anderen sozialen Devianzen Ehen von genealogischen Ehefahigkeitszeugnissen abhängig machen wollte und in Einzelfällen auch vor dem Mittel der Zwangssterilisation nicht zurückschreckte. Als drittes Merkmal der Rezeption führt Stepan das Beharrungsvermögen bestimmter Denkmodelle an, das mit eugenisch-rassischen Kategorien gegeben ist. In diesem Sinne verlassen auch die meisten lateinamerikanischen Versionen des als antirassistisch geltenden Lamarckismus die soziobiologischen Erklärungsmuster nicht, sondern versehen sie allenfalls mit umgekehrten Vorzeichen. Einer der Kernpunkte war die Bewertung der Hybridisierung, die die lateinamerikanische Bevölkerungsentwicklung seit Jahrhunderten charakterisierte. Auf die Agrarwissenschaft angewendet begründete sie eine eigenständige Subdisziplin.17 Aus europäischer Sicht bildete sie den wesentlichen Grund für die fortwährende Degenerierung und die Minderwertigkeit Lateinamerikas. Auch bei vielen, dem Purismusdogma gegenüber kritisch eingestellten Anthropologen blieben Eurozentrismus und Ablehnung lateinamerikanischer Gesellschaften gleichwohl wirksam. Im Interesse der Übernahme von Forschungsergebnissen der Biologie, die die Üblichkeit und die guten Ergebnisse hybrider Kreuzungen nachwiesen, für die Anthropologie projizierte der von Sarmiento zitierte Paul Broca die menschlichen Rassen auf ein Band mit unterschiedlich weit voneinander entfernten Marken, die ihm die Unterscheidung von Nähe und Ferne erlaubte, die jene voneinander trenne. Eng verbundene Rassen konnten sich mischen und damit eugenische Ergebnisse erzielen, so nach Broca in der europäischen Geschichte geschehen, weit voneinander entfernte Rassen waren indes hierzu nicht fähig. Stepan resümiert: "Latin American intellectuals were only too prone to project onto themselves - or onto fractions of themselves, which served as their own 'others' - these negative judgements of the outside world."18 In Peter Wades Schlüssen aus seiner in den 1980er Jahren durchgeführten Untersuchung über Integration und Autonomie der schwarzen Bevölkerung in der Provinz Chocó und in Medellin finden sich Überlegungen, die zur Präzisierung des vielschichtigen Verhältnisses zwischen sozialen und biologischen Kategorien beitragen können. Wade betont zunächst die Historizität und Kulturgebundenheit physischer Merkmale und weist damit die deterministische Hypostase zurück, derzufolge es eine unvermittelte, reine physische Existenz gebe. "Clearly physical markers play a role in 'fixing' identity, but it is vital to recognize, that these physical markers are themselves historically constructed."19 Diese kulturvermittelte, normen- und interessenabhängige Konstruktion bezieht sich zunächst auf die Auswahl der Merkmale, also etwa auf Hautfarbe, Körpergröße, Kör17
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"His interest (das von Carlos Texeira Mendes, Professor an der Hochschule für Agrikultur in Piracicaba im zweiten Jahrzehnt des 20. Jhdts., J. P). in plant breeding may have explained his early adoption of Mendelism and the new science of hybridization" (ebenda, S. 96). Ebenda, S. 137. Peter Wade, Blackness and Race Mixture. The Dynamics of Racial Identity in Colombia, Baltimore 1993, S. 343.
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perumfang, Haarwuchs, Schädelform u.v.a.m. und belegt sie sodann mit den unterschiedlichsten Bewertungen. Die Arbeit des Soziologen bestehe in der Rekonstruktion des geschichtlich-ideologischen Prozesses, in dessen Verlauf physische Unterschiede den Status erlangten, soziale Zusammenhänge zu erklären. Racial discourse does have a naturalizing tendency, but this is not through the unmediated appropiation of natural facts to social ends; it is an effect of the social constitution of the realm of nature itself. People do not naturally find phenotypical difference a problem that has to be explained: the problem must arise within a certain social context that mediates the very perception of that difference and the ideas that it provokes.20 Nachdem prinzipiell die Historizität für die Kategorien aus beiden Diskursen, d. h. aus der ethnischen wie auch der sozialen Gesellschaftsbeschreibung, nachgewiesen wurde, können Hypothesen über deren Beziehungen untereinander aufgestellt werden. Sowohl für die begriffliche Herangehensweise der Analyse als auch für die programmatischpraktische Ausrichtung von Bewegungen, die bestimmte Ansprüche durchsetzen wollen, sind die Gewichtung und das wechselseitige Verhältnis beider Bereiche von zentraler Bedeutung. 21 Ethnische Stereotypen bezüglich des "Sozialverhaltens", der "Mentalität" und weiterer Charakteristika produzieren und reproduzieren sich mittels gesellschaftlicher Projektion und mittels ihrer Annahme oder Abgrenzung gegen sie seitens der betreffenden Gruppen; sie gewinnen ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Wade neigt dennoch der These zu, daß langfristig die materielle Basis der Klassenverhältnisse mehr Gewicht habe, ethnische Semantiken zu konstruieren und zu verändern als umgekehrt. Für die Analyse hingegen hält er das Interesse an der Entscheidung dieser Frage letztendlich für müßig und schlägt vor, bei der Interpretation von gesellschaftlichem Verhalten und von der Reflexion darüber in Texten und anderen Manifestationen von einer gewissen Autonomie beider Diskurse gegeneinander auszugehen. Für das Ziel der vorliegenden Arbeit, die Anwendung biologischer Kategorien in sozialen Zusammenhängen zu untersuchen, scheint dieser Ausgangspunkt sinnvoll. Wade gelangt auch zu der Schlußfolgerung, daß allein die Wiederaufwertung (reevaluating) des Hybriden noch nichts darüber aussagt, ob es für die heterogenen Gruppen der Gesellschaft mehr Raum zur Organisation ihrer kulturellen Identität und Möglichkeiten zur politischen Partizipation geben wird. Die Frage wird vielmehr bleiben, "whether misgenation will eventually produce racial indistinction and thus
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Ebenda, S. 344. "There is a great deal of ambivalence about race and ethnicity in Latin America, with many of the differentials associated with race being attributed instead to social and economic class" (Merrick, a.a.O., S. 27 - dies gilt freilich ebenso umgekehrt). "Las denominaciones de las diferentes campañas ("resistencia indígena" y "resistencia popular") que surgieron en la antesala del año 1992, ponen de manifiesto que entre estos grupos hay, por lo menos, dos tendencias: una de orientación más 'indígena', la otra de orientación más 'social' que comprende la oposición unitaria de todos los grupos oprimidos" (Bernecker, a.a.O., S. 22).
equality (within the confines of the class system) or whether blackness will persist in its subordinate position."22 Für die Beantwortung dieser Frage, und das heißt, für die Entscheidung zu einer ausgrenzenden (exclusivist) oder zu einer auf Koexistenz abzielenden Haltung wird die Trennschärfe der innerhalb der jeweiligen theoretischen Tradition verwandten Kategorien von hoher Bedeutung sein. 2.2 Auswahl und Eingrenzung des Gegenstandes Im Zuge der Polarisierung von Sichtweisen und Positionen zu den künftigen Perspektiven Lateinamerikas gegen Ende eines Jahrhunderts, das zwar die Unabhängigkeit, aber weder eine kontinentale Balance noch eine stabile innere demokratische Entwicklung gebracht hatte, rückte für manche Autoren eine zunehmend kritische Lesart Sarmientos in den Vordergrund. José Martí oder auch die von José Carlos Mariátegui und Víctor Raúl Haya de la Torre begründete Strömung fanden bei ihm keine Ansätze vor, die geeignet für eine alle Teile der Völker Lateinamerikas einbeziehende, demokratische Entwicklung aus den eigenen, gegebenen Bedingungen heraus gewesen wären. Ordnet man unter den zahlreichen wichtigen Bestandsaufnahmen am Ende jenes Jahrhunderts die diskursiven Gegensätze zwischen den Polen von Pessimismus und Optimismus an, so besetzen Sarmiento mit Alcides Arguedas (Un pueblo enfermo, 1909, Raza de bronce, 1919), Manuel González Prada (Páginas libres, 1894), César Zumeta (El continente enfermo, 1899) neben vielen anderen gewiß den Part des Pessimismus. Freilich ist dies nur eine und zudem sehr grobe von zahlreichen Positionsanordnungen, die als Interpretationsparameter der "Identitätskrise Lateinamerikas"23 möglich sind und jeweils andere Dimensionen zugunsten ihres Anordnungsmerkmals vernachlässigen. Unterscheidet man, Javier Ocampo López folgend, einen nacionalismo cultural de Hispanoamérica,24 den er als Oberbegriff einer Tendenz bestimmt, die sich gegen die Gefahren einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Expansion der USA für die lateinamerikanischen Länder, gegen einen einseitigen und expansiv ausgelegten monroeismo also, an der Einheit des Subkontinents und den gemeinsamen kulturellen Wurzeln im spanischen Humanismus orientiert, so werden Gemeinsamkeiten von "Optimisten" wie José Enrique Rodó mit "Pessimisten" wie dem kolumbianischen Konservativen Miguel Antonio Caro deutlich, während Sarmiento im nordamerikanischen Utilitarismus gerade ein Vorbild für das am Mangel an reformatorischem und reformerischem Geist leidende Lateinamerika sah. Seitdem eine solche Auslegung der Monroe-Doktrin nach dem Ersten Panamerikanischen Kongreß in Washington 1889 die Oberhand in der Strategie der nord22 23 24
Wade, a.a.O., S. 346. Ottmar Ette, "Rodó, Prospero und die Statue Ariels. Das literarische Projekt einer hispanoamerikanischen Moderne", in: José Enrique Rodó, Ariel, übersetzt, herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette, Mainz 1994, S. 196. Javier Ocampo López, Colombia en sus ideas. 3 Bde., Bogotá 1998-1999, Bd. 3, S. 922. 17
amerikanischen Politik gewonnen hatte, beruhte diese auf einer Art Arbeitsteilung, innerhalb derer der Doktrin die Rolle einer ideologisch-diplomatischen Legitimation zufiel, während die Wirtschaftspolitik entgegen früherer, mit bolivarischen Ansätzen vereinbarer Auslegungen sich ausschließlich in Nord-Süd-Richtung auf die ökonomische Durchdringung der lateinamerikanischen Staaten konzentrierte und den Schutzgedanken der Doktrin in das Ziel der Verdrängung der europäischen Konkurrenten uminterpretierte. Das Verhalten der USA im Krieg von 1898, das machtpolitische Ausnutzen seiner Ergebnisse und die Umstände der Abtrennung Panamas von Kolumbien 1903 stellten diese neue Auslegung unter Beweis, die durch den Corolario Roosevelt von 1904/1905, der auch territoriale Expansion und auf militärische Land- und Seebasen gestützte Interventionspolitik sanktionierte, erneut bekräftigt und radikalisiert wurde. Für viele lateinamerikanische Denker, deren Interesse an eigener Unabhängigkeit, Authentizität, Erkenntnis der eigenen Wurzeln und ähnlichem sie in erster Linie in ein kritisches Verhältnis zum spanischen Mutterland als der Repräsentantin der jahrhundertelangen kolonialen Unterdückung gebracht hatte, stellte sich nun das Überdenken der kontinentalen Beziehungen als vorrangiges Problem. "Allí, la intervención norteamericana agudizó la conciencia étnico-cultural hispanoamericana y tuvo por resultado una reformulación positiva, un cambio de signo de la polémica, colocando ahora 'lo latino' en el polo positivo del enjuiciamiento."25 Die Überschneidungen und Verwerfungen zwischen den unterschiedlichen Positionen gestalteten sich gerade entlang der Frage nach den durch die politischen Zentren repräsentierten und symbolisierten geistigen Traditionen so vielfältig, daß eindeutige Zuordnungen, etwa um das Gegensatzpaar "fortschrittlich-rückschrittlich", wenig sinnvoll erscheinen. Die Einschränkung der Erziehungs- und Bildungspolitik auf die Orientierung an einer technisch-ökonomischen Pragmatik lehnten die in der humanistisch-aufklärerischen Tradition geschulten Denker sicher ab. Als Verteidiger der nationalen Unabhängigkeit gegenüber den nordamerikanischen und europäischen Mächten war ihnen der positivistische Pragmatismus-Utilitarismus als deren Ideologie überdies suspekt. Auf der anderen Seite erkannte gerade eine positivistische Tradition wie die kolumbianische, die entscheidend durch Jeremy Bentham geprägt worden war, die Gestaltbarkeit des menschlichen Charakters durch Erziehung und allgemeine Umwelteinflüsse an, während der hispanisch-klassische Humanismus dort durch doktrinären, rassendiskriminierenden Elitismus beherrscht war. Das in der Philosophie zoologique Lamarcks für das Tierreich aufgestellte, vitalistische Postulat, die vermehrte Anwendung, beziehungsweise die konstante Nichtanwendung von Funktionen übertrügen sich auf die Ausformung der Art, hatten sich in ihren Interventionen in kulturelle, gattungsbezogene Debatten, in welchen auf lateinamerikanischer Seite der Terminus der Rasse älter als seine eugenische Begrenzung im Europa des 19. Jahrhunderts war, viele Lateinamerikaner zu eigen gemacht. Es kam zu Überschneidungen
25
18
Walther L. Bernecker, "El fin de siglo en el Río de la Plata. Intereses internacionales y reacciones latinoamericanas", in: Ette, Ottmar/Heydenreich, Titus, José Enrique Rodó y su tiempo. Cien años de 'Ariel', Frankfurt/M 2000, S. 38.
von Strömungen und zu Unschärfen zwischen kulturell-historischer und eben "eugenischer" Bestimmungen, die zu einem Gutteil im Begriff der "Rasse" selber lagen. Schließlich muß in diesem Zusammenhang der von der Forschung angewandten Zuordnungsmodelle noch mindestens ein weiteres Gegensatzpaar erwähnt werden: das zwischen "Universalisten" und "Amerikanisten", das freilich ebenso wie die vorgenannten heuristisch aufzufassen ist. Den Umstand, daß es sich der Sache nach auch hier um einen Scheinwiderspruch handelte, machte in Kolumbien besonders Cayetano Betancour deutlich. Er war 1945 maßgeblich an der Gründung des Instituto de Filosofía der Nationaluniversität und damit an der normalización der Philosophie als geisteswissenschaftlicher Disziplin beteiligt.26 Unter normalización verstand er indes nicht die routinierte Übernahme eines "normierten" Kanons philosophischer Schulen, sondern mehr eine in Lateinamerika noch zu erreichende methodische Strenge und Klarheit in der Disziplin. La filosofía que se cultiva en América aún no ha descubierto sus temas. Su temática está en latencia, y será necesario que un futuro historiador, de la estirpe de Dilthey, se encargue de recoger los hilos dispersos que perfilan nuestra actual concepción del mundo y nuestra metafísica... No es que no exista el tema americano, sino que el filósofo de América no lo ha hecho suyo, no pertenece a su mundo conceptual, no ha traspasado los umbrales de la conciencia filosófica. ... Aquellos (die Philosophen Amerikas, J. P.) son ante todo escritores que casualmente hacen filosofía. Algunos tocan la genialidad en atisbos ocasionales; pero son incapaces de una larga labor continuada que desarrolle y profundice el tema que lograron advertir en un instante fugaz... De este tipo humano, sin embargo, habrá de salir algún día el filósofo de América. Del otro lado, enfila la serie paciente y disciplinada de discípulos, sumisos a la voz del maestro, que todo lo esquematizan y a los cuales, sin embargo, he de confesarlo, poco debe el desarrollo de la filosofía. Hasta ahora no han explorado con la originalidad del pequeño genio, una veta viva de ningún sistema europeo?1
Gerade die Terminologie dieser Bestandsaufnahme (su temática está en latencia; und in besonders kritischer Absicht: atisbos ocasionales) rechtfertigt, sie als Würdigung des Werks von Fernando González zu lesen, das Betancour als einen seiner Ausgangspunkte nimmt. Jene normalización jedenfalls bestand sowohl für González wie auch fiir Betancour in erster Linie in einer Säkularisierung des Denkens.28 Sarmiento und González stammen aus den beiden Ländern, von denen ausgehend die Kriege zur Befreiung des Subkontinentes entfesselt wurden. Geographisch bilden sie
26
Vgl. Germán Marquínez Argote, Sobre filosofía española y latinoamericana, Bogotá 1987, S.
27
Cayetano Betancour, "La filosofía en América", in: Revista de las indias, 9. Jahrgang Nr. 83, Bogotá 1945, S. 229f. "Sospecho que en las anteriores condiciones hay que reconsiderar la teoría de la 'normalización' con que Francisco Romero designó el proceso de normalidad filosófica en Hispanoamérica, porque no fue idéntico el proceso en Colombia. En Colombia ese proceso fue el de la secularización" (Abel Naranjo Villegas, Einleitung zu: Cayetano Betancour, Sociología de la autenticidad y la simulación, Medellín 1988, S. 8).
28
185ff.
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seine beiden extremen Pole. Beide Schriftsteller gewinnen aus dieser Spannung von Parallelität und Distanz eine emphatische Herausforderung ftir ihr eigenes Schreiben. ... el 22 de mayo de 1810 se reunía el Cabildo de Cartagena de Indias en el Golfo de Méjico y creaba una Junta Provisoria para gobernar en nombre de Don Fernando VII, cautivo de Napoleón, mientras que el 22 de mayo de 1810 se reunía en Buenos Aires el Cabildo y creaba una Junta Provisoria que gobernaría el virreinato a nombre de Don Fernando VII, ahora cautivo de Napoleón. ¿Obraron de concierto ios colonos de un extremo a otro de la América? Casualidad sin duda que llegase a Buenos Aires tan retardada la noticia (die sich auf das bereits ein Jahr zurückliegende Ereignis der Gefangennahme Ferdinands VII. durch Napoleon beziehende Nachricht, J. P.) al mismo tiempo que llegaba igualmente retardada a Cartagena de Indias; pero el intento de aprovechar de la coyuntura, como la forma de hacerlo, sin estar los americanos de distintos puntos entendidos entre si, es el primer indicio de que el movimiento era producido por ideas generales, independientes de circunstancias locales, y sólo explicable por el sucesivo desarrollo de ideas que parten de orígenes comunes, históricos, lejanos.29
In seinem, der Jugend gewidmeten Buch über Francisco de Paula Santander spricht González immer wieder vom großen Land Argentinien oder vom großen argentinischen Volk, das allerdings Gefahr laufe, vom hydrozephalischen Buenos Aires erdrückt zu werden.30 In ihrem Begriff der Epoche der Unabhängigkeitserlangung orientiert sich die Arbeit an derjenigen neueren Tendenz in der historischen Forschung, die in dem Gesamtprozeß auch wesentlich das Moment der Folge der inneren Schwäche der Kolonialregimes erkennt und die vorherrschende Kontinuität in sozioökonomischer Hinsicht herausarbeitet. González' Buch über Francisco de Paula Santander, den späteren VizePräsidenten von Gran Colombia, behandelt das zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, d. h. die spanischen Versuche der Wiedergewinnung Neu-Granadas, das 1811 zum ersten Male seine Unabhängigkeit proklamiert hatte, zunächst also Domingo Monteverdes Interimsregime und dann den ab 1815 unter Pablo Morillo begonnenen Versuch der militärischen Rückeroberung, die reconquista, bis zum entscheidenden Sieg bei Boyacá 1819. González untersuchte vor allem die Differenzen, in die Bolívar mit den eigenen Gefolgsleuten der Unabhängigkeitsbewegung geriet, und beanspruchte, aus diesen Konflikten auch für seine Zeit noch gültige Erkenntnisgewinne ableiten zu können. Sein Abriß über die Geschichte Venezuelas seit der Unabhängigkeit (Mi compadré) und seine Polemiken gegen den formaldemokratischen, legalistischen, "politiklosen" Bogotaner Etatismus waren bemüht, ihre kritische Schärfe aus der Entfernung beider Entwicklungen, also sowohl der aus seiner Sicht diktatorischen Venezuelas wie der verantwortungslosen, verschwenderischen und fremde, ungeeignete Modelle imitierenden Kolumbiens von Bolivars kontinentalen Visionen zu beziehen. Historische Arbeiten
29 30
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Sarmiento, Conflicto y armonías I, a.a.0., S. 230f. Vgl. Fernando González, Santander, Medellín 1994, S. 21 und S. 58.
werden zur Kommentierung von González' Thesen herangezogen. 31 Sie zeigen einerseits Bolivars Befangenheit in diesen Widersprüchen, stellen andererseits aber auch den Umstand heraus, daß Bolívar in wesentlichen Punkten sehr viel weiterreichende Visionen als seine unmittelbaren Widersacher im Kampf um die Führung der Unabhängigkeitsbewegung hatte und tragen damit zum Verständnis der Tatsache bei, daß es seine Person ist, deren Wirkung als Identifikationsfokus und Mythos, der von durchaus heterogenen Bestrebungen gleichwohl erfolgreich reklamiert wird, bis heute ungebrochen ist.32 Sarmiento wird zu den ersten lateinamerikanischen politischen Denkern zu zählen sein, für die, ein gutes Vierteljahrhundert nach der Unabhängigkeit, zentrale demokratietheoretische Ansätze und politische Vorstellungen Bolivars wieder zu Bestandteilen ihres Bezugsrahmens wurden; in der besonderen Situation Kolumbiens konnte González die identifîkatorische Bezugnahme auf Bolívar als Mittel der Opposition gegen die Hegemonie des Santanderismus dienen. In mancherlei Hinsicht bildeten und bilden Argentinien und Kolumbien Extreme der lateinamerikanischen Entwicklung aus. Aus seiner Analyse ihrer geschichtlichen Wege und Traditionen zog González die Hoffnung auf ihre Entwicklungsfähigkeit und Veränderbarkeit, nicht immer so glühend optimistisch formuliert wie im Santanderbuch, in 31
32
So belegen wesentliche Kernaussagen aus Malcolm Deas' Artikel über Kolumbien, Ecuador und Venezuela ftlr den Zeitraum der letzten Jahrhundertwende González' Thesen. Zunächst betont Deas die Auseinanderentwicklung Kolumbiens und Venezuelas ("A Colombian visiting Venezuela in 1830 would have been aware that he was in a foreign country. In 1880 such a visitor would have been much more acutely aware that he was not at home." Malcolm Deas, Colombia, Ecuador and Venezuela 1880 - 1930", in: Bethel), Leslie, The Cambridge History of Latin America, Bd. V, Cambridge 1986, S. 644). Sodann pointiert auch Deas, wie die Präsidentenpersönlichkeiten diese Auseinanderentwicklung widerspiegeln: "It was government by civilian polemicists; Nuñez, Caro and Holguín were all argumentative, and would not have conceived of political life without argument in the press or in Congress. Contrast them with Guzmán Blanco or Joaquín Crespo, their contemporaries in Venezuela, and the difference is inmediately apparent. Their superficially rarefied disputes are in the clerical and legalistic tradition of Santa Fé de Bogotá, and ability in argument is essential to the most common sort of political carreer. Excessive argumentativeness might at times be damaging, as in the case of Caro, who would lapse into an irritable dogmatism" (ebenda, S. 646). Vgl. die für den aus Anlaß des 200-jährigen Geburtstages von Simón Bolívar in Caracas abgehaltenen Kongreß verfaßte Arbeit El comercio de La Guaira con las colonias extranjeras amigas y neutrales durante la coyuntura revolucionaria venezolana 1807-12 (abgedruckt im 3. Bd. der 1985 in Caracas erschienenen Kongreßdokumentation) und den Beitrag für den 2. Bd. des Handbuches der Geschichte Lateinamerikas von Manuel Lucena Salmoral sowie die 1971 in Bogotá erschienene Untersuchung Bolivar 1783-1983 von Indalecio Liévano Aguirre. Zur Übersicht über die neueren Forschungsrichtungen vgl. die Einleitung zum Band 2 des genannten Handbuches von Raymond Th. Buve und John R. Fisher Grundlinien der Geschichte Lateinamerikas 1760-1900, insb. S. 8 (Buve, Raymond Th. / Fisher, John R., Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2, Suttgart 1992). Daß gerade wegen seines immensen Symbolwertes Bolivars Name für alle möglichen Instrumentalisierungen taugt, macht Carlos Fernández Cuestas exemplarische Kritik der vom venezolanischen Präsidenten ausgerufenen, bolivarianischen Revolution deutlich (vgl. Carlos Fernández Cuesta, "Bolívar: 'El comodín' de una farsa", in: Venezuela analítica v. 31. 12. 2000, Caracas 2000). 21
dem die mexikanische Jugend als die "amerikanischste" in Amerika bezeichnet und die kolumbianische ihr an die Seite gestellt wird - offensichtlich eine Solidaritätsadresse für die jüngste politische und ideologische Entwicklung Mexikos.33 Eines der wesentlichen Orientierungsmodelle im Zuge lateinamerikanischer Identitätssuche um die letzte Jahrhundertwende war das Konzept des mestizaje, das die demographische Realität der Mischgesellschaften in Lateinamerika mittels der Umkehrung, teilweise auch der Aufhebung des europäischen rassistischen Diskurses aufzuwerten suchte, dabei aber allzu oft im oben nach Stepans Ausfuhrungen angedeuteten Sinne das soziobiologische Kategoriensystem beibehielt. Mitglieder des Athenäum-Kreises in Mexiko wie Antonio Caso, Pedro Henríquez Ureña und José Vasconcelos trugen in besonderem Maße zur Formulierung und Verbreitung dieses Konzeptes bei. González nimmt die durch Vasconcelos, der sich 1923 mit einem Brief an die Jugend Kolumbiens gewandt hatte, berühmt gewordene Terminologie der "kosmischen Rasse" auf. Welche Äußerungsformen das dem mestizaje-Konzept eigene Verhaftetbleiben an der Soziobiologie bei González findet, ist das besondere Erkenntnisinteresse des Teiles, der seine Schriften untersucht. Unter dem Gesichtspunkt des Stellenwerts von Kategorien wie raza, hibridez, mestizaje für Sarmiento und González werden ihre Diskurse über die Geschichtsabschnitte analysiert, nicht unter dem der Geschichtswissenschaft. Herangezogene historiographische Untersuchungen zu diesen Abschnitten dienen weder dem Auffüllen eines ereignisgeschichtlichen Hintergrundes noch dem Ziel der Bestätigung oder Widerlegung ihrer Thesen. Ihr Zweck besteht vielmehr darin, Sarmientos und González' eigenwillige Perspektiven deutlicher darstellen zu können. Für González wie auch für Sarmiento bestand eine Voraussetzung für die Einlösung ihrer Hoffnungen in der Überwindung jeglichen Regionalismus und in fernerer Zukunft auch der Nationalstaaten ihrer jeweiligen Epochen. Beide Autoren lebten diesen Internationalismus auch ganz praktisch und stilisierten gerne die Weitläufigkeit, die dadurch ihrem Denken zuteil werden konnte.34 Sie haben über ihre Reisen Prosatexte verfaßt, 33
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22
Vgl. González, a.a.O., S. 21. Wahrend sich in anderen Texten die Kritik an der Falschheit, der Verführ- und der Korrumpierbarkeit der lateinamerikanischen Eliten bisweilen zu einer wortgewaltigen Suada verdichtet, z. B. in Los Negroides, die kaum die Frage nach dem Woher einer Veränderung beantwortet, drückt sich im Bolivarbuch die Hoffnung aus, durch die Herstellung der Verbindung zwischen Gedanken Bolivars und aktuellen Befreiungs- und Aufbruchbewegungen - explizit wird zweimal Augusto César Sandino genannt (vgl. Fernando González, Mi Simón Bolívar, Medellín 1995, S. 177), im Teil der Auslegungen von Bolivars Schriften spielt die Terminologie deutlich auf José Enrique Rodó und José Vasconcelos an - einen Beitrag zum hispanischen Optimismus (Javier Ocampo López) zu leisten. Vgl. den Schluß des 2. Bandes von Conflicto y Armonías de las Razas, wo Sarmiento hervorhebt, daß er im Unterschied zu den meisten politischen Autoren nicht einem Land, sondern dreien zuzuordnen sei und die meisten anderen Ursprungsländer der von ihm weiterentwickelten Ideen immerhin bereist habe (vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías de las razas II, a.a.O., S. 403). Ähnlich González, wenn er in der Einleitung zu seinem Buch über Frankreich und Italien, El Hermafrodita dormido im Zwiegespräch mit seinem Alter ego Lucas Ochoa von seinen Erleuchtungen während der Besuche in französischen Kirchen erzählt (vgl. Fernanado González, El Hermafrodita dormido, Medellín 1994, S. 9f). Er vergleicht sich dann mit Jonas, der auf seine
und viele Kommentatoren sehen vor allem diejenigen, die sich auf die Reisen innerhalb ihrer Heimatländer beziehen, also Recuerdos de Provincia; Provinciano en Buenos Aires, Porteño en las Provincias, bzw. Viaje a pie als ihre gelungensten Texte überhaupt an. González läßt in der Geschichte von Peter und Rum, den zwei einsamen heimatlosen, "zur Freiheit der Vernunft gekommenen" Wanderern, deren sich über ihre Lektüre von Nietzsche, Verlaine und Mallarmé eine vage Nostalgie bemächtigt, den einen der beiden sagen: "Nos hicimos gitanos, o mejor, hicimos de nuestras almas senderos silenciosos, por donde pasaran todos los sueños. Comprendimos que lo mejor es vivir anegados en melancolía."35 Dennoch sollen diese, ebenso wie die Dramen und die über das gesamte Werk verstreuten, essayistischen Arbeiten nur herangezogen werden, insoweit sie sich unmittelbar auf das Thema beziehen. Den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden im wesentlichen die soziologischen und historischen Studien, das heißt also Conflicto y Armonías de las Razas, theoretische Ansätze des Facundo, die nach Sarmientos eigenen Worten der Rohentwurf zur im Hauptwerk entwickelten Geschichts- und Kulturtheorie sind, und das Kapitel über die USA der Viajes por Europa, Africa y América 18451847, da dort explizit und kontrastiv auf die spanische Kolonisierung Südamerikas Bezug genommen wird. Bei González handelt es sich um den Kern der in den 1930er Jahren erschienenen, historischen und politischen Schriften, um Mi Simón Bolívar, Santander, Los Negroides, Mi Compadre, Arengas Políticas, Nociones de izquierdismo und um die Zeitschrift Antioquia. 2.2.1 Der Schriftsteller Domingo Faustino Sarmiento in seiner Zeit In Argentinien sollte es nach der Mairevolution von 1810 mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bis im Laufe der drei aufeinanderfolgenden Präsidentschaften von Bartolomé Mitre (1862-1868), Domingo Faustino Sarmiento (1868-1874) und Nicolás Avellaneda (1874-1880) verfassungskonforme und rechtsstaatliche Grundzüge und Verfahrensformen das öffentliche Leben innerhalb eines einheitlichen Territoriums zu prägen begannen, wenngleich die Politikform der despotischen Herrschaft, der Anstachelung und Ausnutzung von Aufständen und Kriegen bis hin zum Mittel des Attentates auf den Gegner, durch welche die Entwicklung seit der Unabhängigkeit gekennzeichnet war, weiterhin eine verfugbare Option im Kampf um die Macht und in
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innere Stimme gehört habe, als er sich entgegen dem Willen Gottes zunächst nicht nach Ninive wandte, sondern eigene Wege beschritt. "... la ballena es símbolo, lo mismo que la tempestad" (ebenda, S. 10). Fernando González, Pensamientos de un viejo, ohne Orts- und Jahresangabe, S. 62. In einer der vielen Stellen, in denen Nietzsche die Figur des Wanderes stilisiert, heißt es: "Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fUhlen denn als Wanderer" (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzu Menschliches, in: Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 2, München 1980, S. 362f.). González hat bis zu seinem Tod immer wieder das Selbstbild des Reisenden ohne letztes Ziel bemüht, da es dieses gar nicht geben könne.
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ihrer Ausübung blieb. Die blutigen Aufstandsversuche von 1874, 1880 und 1890, in denen sich stets aufs neue die tiefVerwurzelten Uneinigkeiten über die Machtverteilung zwischen den Provinzen, der Hauptstadtprovinz und der Hauptstadt selber entluden, sowie Julio Argentino Rocas (1880-1886) Rückkehr zu autokratischen Regierungsformen bewiesen die Instabilität der errungenen verfassungskonformen Grundlagen. "In many ways, Argentine national unity remained more aspiration than a fact until the end ofthe 1870s."36 Félix Luna sieht die Errungenschaften dieser drei Präsidentschaften in dem entstehenden Wechselwirkungsprozeß von Rückbindung der Regierung an die Gesetze und einer wacheren, besser informierten und jene einfordernden Öffentlichkeit. Er zeigt dies an der Vorgeschichte der Konsultationen, die der Entscheidung für eine militärische Intervention in Entre Ríos nach der Ermordung Justo José Urquizas (1870) vorausgegangen war, aber auch daran, daß es nunmehr notwendig geworden sei, jeden Wahlbetrug und jede Gesetzesmißachtung entweder zu vertuschen oder zu rechtfertigen. Die Stärkung der jungen Institutionen des Nationalen Gerichtshofes und der Föderalen Obersten Richter in den Provinzen habe diesen Prozeß befestigt.37 Eingeleitet werden konnte dieser Prozeß mit der Wahl Mitres zum ersten Präsidenten der 1862 neuerlich geeinten, föderativen Republik Argentinien. Bis zu seiner Niederlage zehn Jahre zuvor bei Caseros hatte der Diktator Juan Manuel Rosas das Land nach innen autokratisch regiert und nach außen international isoliert. Unter seiner Ägide konnten die Provinzfiihrer, gestützt auf die Klasse der Großgrundbesitzer und Viehzüchter, einen erheblichen Machtzuwachs verzeichnen; die Kluft zwischen den Provinzen und Buenos Aires vertiefte sich zusehends. Mit der Anstiftung lokaler Aufstände, der Eskalation regionaler Konflikte und mit abenteuerlichen Land- und Seeblockaden trug er zur gewaltförmigen Bestimmtheit in der Austragung von Konflikten nach innen und in der Großregion wesentlich bei; diese hielt indes unvermindert auch nach seiner Absetzung an. Zehn Jahre dauerten die Kämpfe zwischen der Konföderation und den vor allem auf die Bevölkerung von Buenos Aires gestützten Unitariern, bis 1861 nach dem Sieg letzterer unter Mitres Führung über Urquiza in der Schlacht von Pavón der Einigungsprozeß in die Wege geleitet wurde, der Argentinien die im wesentlichen bis heute existierende Gestalt verlieh. Grundlage dieser Einigung war die 1853 nach Caseros in Santa Fé beschlossene Konstitution. Domingo Faustino Sarmiento, seit 1868 nach Mitre der zweite gewählte Präsident der Republik Argentinien, begann seine publizistische Laufbahn mit der Herausgabe der Zeitschrift El Zonda, benannt nach dem für die Gegend charakteristischen, föhnartigen Wind, nach der Rückkehr aus Chile in seine Heimatstadt San Juan und geriet infolge des rebellischen Tones gegen das Regime Rosas' (schon die erste Nummer enthielt mit La pirámide einen äußerst scharf geschriebenen Artikel) sogleich abermals in Konflikt mit den Behörden. 1831 hatte er wegen seiner Beteiligung an den Kämpfen gegen Juan Facundo Quiroga, den aufständischen Föderalisten aus La Rioja, emigrieren müssen. 36 37 24
Tulio Halperín Donghi, The Contemporary History of Latin America, Durham 1993, S. 136. Vgl. Félix Luna, Breve historia de los Argentinos, Buenos Aires 1993, S. 112f.
Nach den Zügen dieses siegreichen Abkömmlings "de aquellos países en que la fiera y el hombre se disputan el dominio de la naturaleza"38 entwarf er dann während seines zweiten Aufenthaltes in Chile mit Facundo. Civilización y barbarie emblematisch den Prototyp des caudillo und zeichnete in dieser "Biographie" des Juan Facundo Quiroga zugleich eines der Grundmuster des geschichtlichen Entwicklungsverlaufs des postkolonialen Lateinamerikas. "Facundo posee La Rioja como árbitro y dueño absoluto; no hay más voz que la suya, más interés que el suyo. Como no hay letras, no hay opiniones, y como no hay opiniones diversas, La Rioja es una máquina de guerra, que irá a donde la lleven."39 Sarmiento schließt unmittelbar an, daß Facundo in La Rioja nur besonders grausam und konsequent vollzogen hat, was andere Diktatoren Lateinamerikas in ihren Regionen gleichfalls taten: alles Rccht zu zerstören, um das eigene als absolut zu setzen. Nach den Streifzügen durch die Geographie Argentiniens und besonders der Pampa im ersten Teil entwirft die noveleske Lebensbeschreibung des gaucho zum einen das detailgetreue Bild des Landes aus der Epoche der auf die Unabhängigkeit folgenden Kriege um die Macht und der einbrechenden Anarchie, das erstmals tiefe Einblicke in die wilden, ländlichen Lebenswelten der Provinz, ihrer Organisationsmuster von Gesindel, Banden und Führern, ihrer Mentalitäten und ihrer unbedingten Frömmigkeit gewährt. Darüber hinaus gelingt der kritisch intendierten Lebensbeschreibung des Tyrannen nicht nur der Entwurf eines "negativen Gründungsepos", sondern eines der ersten und schulebildenden Beispiele für die Gattung der natur- und traditionsverbundenen, oftmals idealisierenden Schilderungen des Lebens in der amerikanischen Provinz, an der der Fortschritt vorbeizieht. Das Faszinosum liegt in der Gleichzeitigkeit der Schilderungen nicht nur der Eleganz in den untergehenden Provinzstädten, sondern auch von Szenen gänzlicher Naturunmittelbarkeit mit der nüchternen Erkenntnis, daß die Unabhängigkeitskriege zugleich den Krieg der die Städte umgebenden Wüsten gegen diese Inseln der Zivilisation entfesselt hatten und daß durch diesen Krieg die negativen und antizivilisatorischen Kräfte jenes Naturzustandes die Oberhand gewönnen und der Barbarei zu (zeitweiliger) Überlegenheit verhälfen. Der dritte Teil besteht aus einem groß angelegten Angriff auf die seit 1829 herrschende Diktatur Rosas'. 1852 nahm Sarmiento als offizieller Berichterstatter der siegreichen Truppen unter Urquiza an der entscheidenden Schlacht gegen den Diktator bei Caseros teil und veröffentlichte im gleichen Jahr den Bericht Campaña en el Ejército Grande aliado de Sud América. Die im Titel der "Biographie" adversativ formulierte Dichotomie beinhaltet jene von mündlicher und schriftlicher Kultur, von Zentralismus und Föderalismus, von modernem weltlichen und kolonial geprägtem religiösen Staat, von Aufklärung und Unbildung und von Bewunderung und Ablehnung gegenüber den USA und Europa. Die Kämpfe der Gegensatzpaare werden in den Schilderungen ausgetragen, ihre Interpretationsansätze und Leitbegriffe haben die amerikanische Geistesgeschichte nachhaltig beeinflußt. So beginnt die Wirkgeschichte des Textes und die Einbindung seiner kontroversen Auslegungen in die politische Auseinandersetzung um die 38 39
Sarmiento, Domingo Faustino, Facundo. Civilización y barbarie, Santiago de Chile 1845, S. 45. Ebenda, S. 62.
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argentinische Innen- und Außenpolitik schon bald nach der Veröffentlichung mit der berühmten Polemik von Juan Bautista Alberdi. Der Verfasser der Grundzüge der argentinischen Verfassung von 1853 wirft dem Autor des Facundo Verfälschungen und Erfindungen der Geschichte vor und schlägt von diesen, von ihm ausgemachten Eigenmächtigkeiten den Bogen zur Inkohärenz und Inkonsequenz des Politikers Sarmiento bei der Wahl der praktischen Mittel gegenüber seinen Gegnern. Er bezieht sich auf dessen Vorgehen gegen seinen Parteigänger aus der unitarischen Partei Urquiza und gegen Ricardo López Jordán, dessen seit Ende der 1860er Jahre wiederholt aus der Provinz Entre Ríos begonnenen Aufstände, in deren Verlauf Urquiza ermordet wurde, den Präsidenten Sarmiento zum Handeln und damit zur Entscheidung zwischen militärischen und zivilen Mitteln zwangen. Der spätere Autor des Crimen de la guerra kritisiert in seinen Cartas quillotanas das militärische Vorgehen Sarmientos, den Versuch des Ausmerzens von Gewalt durch Gewalt und stellt dies in Widerspruch zu dessen rechtsstaatlichen Positionen, mit denen er einst die Diktaturen Rosas' und Urquizas bekämpft habe. Der äußerst scharfe Ton der 1873 gegen den amtierenden Präsidenten vorgetragenen Polemik erklärt sich nur aus der Pragmatik der aktuellen politischen Auseinandersetzungen, sind doch die von beiden geteilten Grundpositionen zu Verfassung und Aufklärung weitgehend gleich. What it (der scharfe und polemische Ton der "Cartas quillotanas", J. P.) denounces, in many ways, is the gap Alberdi is observing between a way of decoding reality and the forms of political action which spring front it. In this particular instance, having quoted Sarmiento's text, he is not disagreeing with its conceptual ediflce as much as with its distance from the actions taken under its aegis.40
So liegt es nahe, angesichts Alberdis eigener, ausgiebiger und, von den Ergebnissen her geurteilt, gut zu rechtfertigender Anleihen bei der nordamerikanischen Verfassung von Philadelphia und bei den französischen Aufklärern seine Argumentation als wesentlich taktische zu lesen, wenn er bei seinem Kontrahenten einen Grund für dessen falsche Mittelwahl in dem durch die importierten Bücher und Ideen verstellten Blick auf die eigentlichen amerikanischen Charaktere und Verhältnisse ausmacht.41 Es zeigt indes, 40
41
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Diana Sorensen Goodrich, Facundo and the construction of the Argentine culture, Austin 1996, S. 80. Im dritten Kapitel dieser Arbeit, "The wiles of disputalion", arbeitet Sorensen unter Einbezug neuerer Erkenntnisse über die Eigenständigkeit von Texten und von Intertextualität die Einbindung dieser Polemik in das politische Geschehen heraus, die mit der Interpretation und Bewertung des im letzten Teil von Facundo verwendeten Begriffs des americanismo bis in die europäischen, d. h. in erster Linie in Frankreich und England geführten Debatten um die Ausdehnung des Engagements am Río de la Plata reichte. Der Bericht Ober die Auseinandersetzung zwischen Sarmiento und Alberdi folgt in wesentlichen ZQgen Sorensens Ausführungen. "Y el buen sentido en Sud América está más cerca de la realidad inmediata y palpitante, que de los libros que nos envía la Europa del siglo XIX, que será el siglo XX de Sud América. Así el gaucho argentino, el hacendado, el negociante, son más aptos para la política práctica que nuestros alumnos crudos de Quinet y Michelet, maestros que todos conocen, menos Sud América" (Juan Bautista Alberdi, Cartas quillotanas, Buenos Aires 1922, S. 59).
welche enorme Bedeutung in Lateinamerika schon damals das "Authentische", "Amerikanische" in der Bewertung der Diskurse gewann; mit dem Versuch, eine Darstellung und Erklärung der Kriegsanarchie der Epoche nach der Unabhängigkeit und der Inkommensurabilität aller regionalen, lokalen, indigenen Strukturen gegenüber staatlichem Regulierungsinteresse von diesen Themen her zu entfalten, bot Facundo Argumentationsfiguren an, auf die immer wieder und auch in höchst kritischer Absicht rekurriert wurde. Neben diesen soziologischen und historischen Schriften, die ungeachtet oder auch gerade wegen ihrer "Egolatrie" Traditionen begründeten und befestigten, begleitete Sarmiento auch seine pädagogischen Projekte stets durch theoretische Studien und Untersuchungen. Seine außerordentlichen Fähigkeiten als Lehrer und Vermittler grundlegender, handwerklicher, kaufmännischer und anderer spezieller Kenntnisse stellte er als Reformierer des Primarschulwesens in Chile, als Direktor des neugegründeten Schulamtes in Buenos Aires, als Förderer der beruflichen Ingenieursausbildung in seiner Heimatprovinz San Juan unter Beweis. Vor allem diesen Bemühungen ist geschuldet, daß in Argentinien seit 1884 die kostenlose allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde. Unter seiner Präsidentschaft wurden das Colegio Militar, die Escuela Naval, die Escuela Normal de Paraná und die Escuela de Ciencias y Matemática an der Nationaluniversität von Córdoba gegründet; besondere Anstrengungen wurden für die Einrichtungen von Grundschulen, für die Ausbildung des Lehrpersonals und die Erhöhung der Reichweite all dieser Maßnahmen in dem Flächenland aufgewandt. Für die Realisierung dieser ehrgeizigen Vorhaben waren an die hundert Lehrkräfte aus den USA angeworben worden.42 Unter seiner Ägide wurde auch die erste Volkszählung durchgeführt, die eine Analphabetenrate von 71 % ans Licht förderte. Der journalistischen Produktion blieb Sarmiento zeit seines Lebens treu; den Rahmen für die Identität von schreibendem Ich mit auf praktische Einflußnahme drängender Meinung und die Nähe zur Leserschaft garantierte dieses Kommunikationsmedium in hervorragender Weise. In Santiago de Chile gründete er die Zeitung El Nacional und war Mitarbeiter bei El Progreso und bei El Mercurio, letztere aus Valparaiso; 1869 und 1870 wurden in Buenos Aires die auch heute noch tonangebenden Zeitungen La Prensa und La Nación gegründet. Zur integralen Persönlichkeit Sarmiento gehörte aber auch der Handwerker, Landwirt und Unternehmer, der sich um die wirksamere Ausnutzung der örtlichen natürlichen Reichtümer, um die Verbesserung der Arbeitstechniken und ihren Anschluß an die internationale Entwicklung in den Minen, um die Einführung neuer Methoden bei der Schafzucht, um die Wiederbelebung der Anpflanzung von Korbweide und um den Ausbau von Infrastruktur und Verkehrswegen bemühte. Der Hinweis auf das autochthone Wissen und auf die für alle gesellschaftspolitische Strategiefindung unübergehbare Erfahrung der im Lande verwurzelten Menschen aus 42
"Within these limitations (die militärischen und polizeilichen Kosten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der allgegenwärtige Versuch der exportorientierten Viehzüchter und Großgrundbesitzer, steuerliche Abgaben zu vermeiden, J. P). the state spent its money on education and public works. Sarmiento, "the teacher-president", and his successors gave the country's public schools notable and sustainable support" (Halperin Donghi, a.a.O., S. 137).
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der Polemik mit Alberdi um Facundo antizipierte bereits die kritische LektUre um die vorige Jahrhundertwende, die die dem Titel ebenfalls unterlegte Dichotomie zwischen dem Recht der Eroberung und Aufklärung und dem indigenen Überleben aufgriff. Por eso el libro importado ha sido vencido en América por el hombre natural. Los hombres naturales han vencido a los letrados artificiales. El mestizo autóctono ha vencido al criollo exótico. No hay batalla entre la civilización y la barbarie, sino entre la falsa erudición y la naturaleza. El hombre natural es bueno, y acata y premia la inteligencia superior, mientras ésta no se vale de su sumisión para dañarle, o le ofende prescindiendo de él, que es cosa que no perdona el hombre natural, dispuesto a recobrar por la fuerza el respeto de quien le hiere la susceptibilidad o le perjudica su interés.43
Es fällt auf, daß José Martí in diesem 1891 in Mexiko veröffentlichten Essay bis hin zu den sprachlichen Bildern die Kritikfigur Alberdis übernahm. Sie wandte sich gegen den Sarmiento, der als Präsident 1872 die militärische Niederschlagung des charismatischen Indiofilhrers Calfiicurá zu verantworten hatte. Inwieweit unter seiner Ägide die Weichen für die Vernichtungsstrategie gestellt worden waren, die 1879 mit dem Eroberungsfeldzug unter dem zweimaligen späteren Präsidenten Julio A. Roca, der conquista del desierto, zur entscheidenden Niederlage der Indianer führte, kann hier ebenso wenig angemessen ausgeführt werden wie die Vorgeschichte von Eroberung, Vertreibung und Landraub, ohne die die Eskalation der Gewalt und die fortwährenden brutalen Überfälle von beiden Seiten im Süden nicht erklärbar sind. Die militärische Eindämmung oder auch Annullierung der Indianerterritorien hatten in dem mächtigen Verband der Viehzüchter und Schaffarmer, der seit der Unabhängigkeit noch erheblich an Einfluß hinzugewonnen hatte, einen starken Anwalt. Mit dem Diktum von Sarmientos Antiindigenismus ist für die Interpretation seiner Theorien erst dann etwas gewonnen, wenn in einem ersten Schritt Sarmientos Haltungen und Bewertungen vor seinem historischen Kontext hinterfragt und auf dieser Grundlage sodann tatsächlich vorhandene rassistische Stereotypen in ihrer ahistorischen Qualität freigelegt werden. Die Leistung Sarmientos besteht gerade in der Rückführung des desolaten Zustands der Indios auf die Vorgeschichte und den anhaltenden Kriegszustand. Jenseits dieser Analytik bevölkern dann auch die Hybriden Sarmientos Soziologie, die nur die negativen Mitgifte ihrer Entstehungslinien auf sich vereinigten und an Asozialität in einem rassistischen Aufwasch und typischerweise von keinerlei Kenntnis belastet nur noch von Eskimos und Australiern unterboten würden.44 Zur gleichen Auffassung und Würdigung des Werkes von Sarmiento gelangt Jaime Alazraki in seinem Aufsatz zum "Indigenismus Martis und Antiindigenismus Sarmientos". Der Titel läßt zunächst auf einen inkommensurablen Gegensatz zwischen beiden Denkern schließen, und Alazraki stellt die rassistischen Perhorreszierungen Sarmientos auch an den Anfang seiner Ausführungen, weist dann aber - vielleicht in noch nicht einmal ausreichendem Maße - auf Sarmientos Kritik am Zustand der Zivilisation, von deren Sieg durch die conquista in 43 44
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José Martí, "Nuestra América", in: J. Marti, Obras completas, Bd. 6, 2. Aufl. La Habana 1975 (1. Autt., La Habana, 1963-65), S. 17. Vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías I, aa.0., S. 56f.
nur höchst eingeschränkter Weise gesprochen werden könne, hin und kommt zu dem Schluß: Pero estos errores (die theoretischen Widersprüche und praktischen Verfehlungen gegen die indigene Bevölkerung, J. P.) son más bien los errores de una época; más aún, hoy los vemos nosotros como errores, pero no lo fueron en el momento histórico que a Sarmiento y a su generación les tocó actuar.45
Eine Modernisierung Sarmientos bestand in der Einbeziehung und Verpflichtung des Militärs zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung. Um den bildungs- und infrastrukturpolitischen Projekten, die die Gesellschaft zivilisieren sollten, die Möglichkeiten zur Festigung in der jungen argentinischen Gesellschaft zu geben, war die relative politische Stabilität eine ganz besondere Bedingung. "Die Verbindung von autokratischem Machtstreben und unablässiger Sorge um die Verbesserung des Erziehungswesens gab Sarmiento den Anstrich eines aufgeklärten Despoten."46 Vogel entwickelt diese Analyse unmittelbar an Sarmientos Vorgehen gegen López Jordán und seinem durch Dekrete geprägten Regierungsstil und folgt damit der Argumentation Alberdis. Für Sarmientos Kritiker stellten dessen Ausfuhrungen einen simplifizierenden und nicht mehr akzeptablen Dualismus dar; in ihren Augen repräsentierten sie die Rechtfertigung der Ausrottung der dem zivilisatorischen Projekt im Wege stehenden, eingeborenen Bevölkerung. Y sin embargo, el déspota omnipotente fue vencido por las fuerzas históricas cuyo exponente era el proscripto errante que como recuerdo de sus luchas nos ha legado el Facundo donde se describe magníficamente la pampa y donde se proclama la fórmula simplista de civilización o barbarie, excecrando a los caudillos, lo que revela falta de comprensión de la realidad argentina.47
Die Stichhaltigkeit des Vorwurfs seitens Alfredo L. Palacios', des regelmäßigen Mitarbeiters der in Mexiko erscheinenden Cuadernos americanos, über das mangelnde Verständnis der argentinischen Realität bei Sarmiento kann hier natürlich nicht beurteilt werden. Palacios wertet die Erfahrung der wilden Horden Facundos als Schlüsselerlebnis für das stürmische jugendliche Temperament Sarmientos, das ihn pauschal gegen die gauchos voreingenommen und so seinen Blick für die Wertschätzung der Beiträge eines Artigas, eines Güemes und anderer für die Befreiung Argentiniens dauerhaft getrübt habe. Aus der uneingeschränkten Ausgrenzung der Landbevölkerung aus seinem Fortschrittsmodell resultiere der simplifizierende und folglich unakzeptable Dualismus. Palacios verteidigt die lateinamerikanischen caudillos gegen den in seiner ver45 46 47
Jaime Alazraki, "El indigenismo de Martí y el antiindigenismo de Sarmiento", in: Cuadernos Americanos, Nr. 3/ 24. Jahrgang. Mexiko-Stadt 1965. S. 155. Hans Vogel, "Argentina, Uruguay, Paraguay 1830/52 - 1904/10", in: Buve/Fisher (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2, Stuttgart 1992, S. 700. Alfredo L. Palacios. "Civilización y barbarie. Dualismo simplista inaceptable", in: Cuadernos americanos, Nr. 4, 18. Jahrgang, Mexiko-Stadt 1959, S. 172.
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allgemeinernden Zuschreibung negativer Eigenschaften sicher unzulässigen und Stereotypen offenbarenden Vorwurf der cierta tintura asiática.** Hier geht es nur um das Aufzeigen der mannigfaltigen Frontlinien im Diskurs Ober den Facundo, mit dessen literarischer Überspitzung sein Autor allerdings ja gerade den allgemeinen, Ober die besondere historische Figur weit hinausweisenden Typ des tyrannischen, aufklärungsfeindlichen regionalen Führers beschreiben wollte. Palacios' Kritik wird später vor allem in der Hinsicht wiederaufgenommen werden, wo er als methodologisches Problem bei Sarmiento seine Aufgabe soziologischer zugunsten "natürlich gegebener, invariabler und geographischer" Kategorien entfaltet; an sie schließt sich die in dieser Arbeit geführte Kritik der Ersatzfunktion biologischer, ethnischer und demographischer Konstanten bei Sarmiento an, deren kritisierter methodologischer Stellenwert sehr gut vergleichbar mit Palacios' Argumentation ist. In seiner Studie Latinoamérica. Las ciudades y las ideas hebt José Luis Romero die Auseinandersetzung zwischen ländlicher und urbaner Welt hervor, die Facundo paradigmatisch gestaltet. Romero schreibt dort weiter: Gran parte de las observaciones y análisis que se hicieron sobre la sociedad latinoamericana por esta época giraron, precisamente, alrededor del tipo de poder de los caudillos carísmáticos. Dos argentinos, Juan Bautista Alberdi y Domingo Faustino Sarmiento, llevaron el análisis hasta el fondo de la cuestión, el primero en el Fragmento preliminar al estudio del derecho, de 1837, y el segundo en Facundo, de 1845. Fue evidente para ellos la representatividad de los caudillos con respecto a la nueva sociedad; su respuesta seria que era urgente modificar las condiciones de esta sociedad.*9
Die von Romero zuerkannte, materialistische Herangehensweise, die das Verhalten der Individuen auf deren historisch-gesellschaftliche Umstände zurückzuführen sucht, und die hier als soziologischer Ansatz im Unterschied zum soziobiologischen bezeichnet wird, blieb für den Literaten Sarmiento ebenso bestimmend wie der Einbezug des 48
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"La visión trágica de Juan Facundo en un temperamento de tormenta con anormalidades propias de su genio, como el del joven Sarmiento, explica, no justifica, su desdén por los indios y los gauchos, su odio a la montonera y su excecración a los caudillos, sin discriminación, que había de llevarlo a presentar como la clave de nuestras luchas, la fórmula de Civilización y barbarie, dualismo político, de simplismo inacepatble" (ebenda, S. 166). "Olvidaba que el gaucho argentino tenia una originalidad que le había permitido ser agente de grandes transformaciones. No tenía analogías ni con el árabe ni con el tártaro." Diese Kritik an Sarmiento setzt für die Schlagkraft ihrer Argumentation die Übereinstimmung mit dem kritisierten Diskurs darüber voraus, daß "Araber" und "Tartaren" jedenfalls fortschrittsfeindlich, antiaufklärerisch, autoritätshörig und dem Hierarchieprinzip von Horde und Führer ergeben seien. "Perduraba en el alma de Sarmiento la emoción que recibió cuando siendo adolescente vio a las huestes de Juan Facundo... Sarmiento excecró a los caudillos y a pesar de su genio no entendió la realida argentina, acaso porque perduraba en su pupila la visión de las huestes de Quiroga" (ebenda, S. 187, 188 und 193). José Luis Romero, Latinoamérica: las ciudades y las ideas, Medellín 1999 (l. Aufl. 1976), S. 244f. Das fünfte Kapitel dieser Untersuchung zur Urbanen Geschichte in Lateinamerika, "Las ciudades patricias", widmet sich auch der interurbanen Konkurrenz zwischen den alten Provinzhauptstädten und aufstrebenden, neuen Metropolen in der postkolonialen Epoche.
schreibenden Ichs uid die Stilisierung von dessen Emotionen als Appell an den Leser, der als Beteiligter, mitunter als Beschuldigter der beschriebenen Umstände angesprochen wird. Der \ufbau der Spannung zwischen der analytischen und der emotiven Ebene gehört zu der Charakteristika von Sarmientos Texten. Der Leser der Recuerdos de provincia lernt inerster Linie den stolzen Sohn einfacher Leute aus San Juan kennen, der, nicht ohne nostalgische Evokation besserer Zeiten der "aristocracia de patriotismo y buen talento", deren Dekadenz und Korruption brandmarkt. Im Unterschied zur früheren, gleichfalls autobiographischen Skizze Mi defensa, deren Ich sich an der Seite des liberalen und aifgeklärten Unternehmertums gegen die Tyrannei Rosas' sieht, stilisiert sich der Aitor in den Recuerdos auch als Advokat sozialen Ausgleichs und Ankläger sozialer Ungerechtigkeit, was ihm sogar den Vorwurf kommunistischer Umtriebe seitens Alberdis eintrug. Bul at the same tine he (D. F. Sarmiento, J. P.) would proclaim - amidst the universal exaltation of the individtal struggle for prosperity - his disdain for 'the path leading only to wealth' and his poor mat's solidarity with the poor, straining against the solidarity of the wealthy in their defense of pnperty. The story is told in Recuerdos de provincia.50
Gegenüber den bipolaren und sich ausschließenden Modellen der Wirklichkeitswahrnehmung, die die Sarmientolektüre um die letzte Jahrhundertwende hervorhob, betont die jüngere Forschung immer mehr die dialektischen Momente in seinen Gesellschaftsanalysen und -bewertungen und konzentriert sich zunehmend darauf, die beidseitige Präsenz des jeweils anteilnehmenden und um Fusion von Fiktion und Empirie bemühten Autors zt würdigen. Wenn Facundo Quiroga und sein Biograph nicht auch geistesverwandt gevesen wären, hätte nicht ein Text von solch dichter Beschreibung und ideologischer Nachwirkung entstehen können. Die Bedingung für dessen Herstellung bestanc zunächst in der Bereitschaft des Autors, ungeachtet seiner Werturteile und seirer Zielvorstellungen gesellschaftliche Befindlichkeiten zu beobachten und festzuhalten In der Historiographie Lateinamerikas forderte das Festhalten des flüchtigen, gesprochenen Wortes die ganz besondere Fertigkeit und Ausdrucksvielfalt des Chronisten ftlr die angemessene Übertragung in die schriftliche Form heraus, konnte er doch in wesentlichen Bereichen kaum mit schriftlichen Dokumenten und Archiven rechnen, sondern war auf die eigene sinnliche Wahrnehmung und die dichte Beschreibung und Wiedergabe der gehörten Überlieferungen angewiesen. "Oír, entonces, es la técnica de un ejercicio historiográfico." Dieser Satz mit seiner Hervorhebung vom Autor ist eines der Leitmotive von Julio Ramos' Sarmientolektüre. Nur den Anstrengungen dieser Wahrnehmung erschließt sich in den Manifestationen des Volkes das "konfuse Echo" der harten, rauhen Natur und der Überlebenskämpfe der Menschen in ihr. Zur ganzen V'ahrheit der lateinamerikanischen Geschichte gehört gleichermaßen diese irrationale Seile, deren Widerspruch zur Rationalität der zivilisatorischen Projekte
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Tulio Halperín D>nghi, "Sarmiento's Place ¡n Postrevolutionary Argentina", in: Halperín Donghi, Tulio /Jaksic Iván/Kirkpatrick, Gwen/Masiello, Francine, Sarmiento. Author of a Nation, Berkeley 1994, S.22. 31
nicht restlos aufgelöst werden kann. Der Geschichtsschreiber verleiht dieser Seite eine Stimme. "De ahí la ambigüedad fundamental en la representación del bárbaro."51 Ricardo Piglia weist den Dualismus ebenfalls als ungeeigneten Zugang zum Werk Sarmientos zurück und untersucht zu diesem Zweck die von Sarmiento verwandten textuellen Mittel. "Facundo is constructed within the tension between the discursive and the figurative character of meaning: according to where the emphasis is placed, one reads one thing or another."52 An dem bewußten Oszillieren zwischen Fiktion und Narration, das durch die Vermengung ästhetischer, enzyklopädischer und appellativer Textgattungselemente erzielt wird und wofür die direkte Wiedergabe von Diskussionen, Irrtümer und Übertreibungen in Kauf genommen werden, orientierten sich später zahlreiche lateinamerikanische Schriftsteller. Für Sarmiento war es die einzig geeignete Methode, seinem Ziel, "the great enigma that he endeavors to translate by deciphering the life of Facundo Quiroga"53, näherzukommen und das Phänomen des Diktators Rosas textlich zu fassen. Es ist genau dieses Dechiffrieren diskursiv inkommensurabler Welten, diese Absage an den Abbildrealismus und diese stilistische Eklektik, derentwegen Teresa de la Parra für Fernando González zur großen Novelistin und Chronistin Venezuelas im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde.54 Die vorliegende Arbeit bemüht sich, diese dialektischen Momente bei Sarmiento zu berücksichtigen, ihn als uneindeutigen Autor zu lesen und seine Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz als Ausdruck des historischen Erkenntnisstandes und seiner interessengeleiteten, subjektiven Wahrnehmung zu verstehen, überdies als den Versuch, die Gespaltenheit der Wirklichkeit festzuhalten. Sie wendet diese Lesart vor allem auf das "radikal pessimistische" (Tulio Halperin Donghi) Spätwerk Conflicto y armonías de las razas en América an. In the depth of his despair, in the void left by his loss of faith in the enligthened classes that had guided Spanish America in colonial times and whose restoration was to offer a point of
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Ramos, a.a.O., S. 26. Die Hauptthese von Ramos' SarmientolektOre besagt, daß bei Sarmiento sich keine der beiden dargestellten Dimensionen der lateinamerikanischen Geschichte auf die andere zurückführen lasse. So erklart er auch die trotz Sarmientos klarer politischer Parteinahme zweideutigen Äußerungen zu Urquiza und den Ereignissen von Caseros aus dem Bericht zum Feldzug. Ricardo Piglia, "Sarmiento the writer", in: Halperin Donghi, Tulio /Jaksic, Iván/Kirkpatrick, Gwen/Masiello, Francine, Sarmiento. Author of a Nation, a.a.O., S. 136. Ebenda, S. 132. Vgl. González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 145, oder González, Fernando, Mi compadre, Medellin 1994, S. 170. Zuletzt hat Karin Hopfe diese Eigenschaft an de la Parras großem Tagebuchbriefroman Ißgenia herausgearbeitet: "Este esbozo (die Beschreibung der Wäscherin Gregoria durch die Ich-Erzählerin Maria Eugenia, J. P). se concibe no como copia de una imagen real sino como traducción que reduce las expresiones corporales -gestos, mímica, sonidos- a categorías retóricas y gramáticas, facilitando así la (re)introducción de lo no-lingOistico en el corpus de la escritura" (Karin Hopfe, "'ingenia' de Teresa de la Parra", in: Gumía, Inke/Niemeyer, Katharina/Schlickers, Sabine/Paschen, Hans [Hg]., La modernidad (re)visitada. Literatura y cultura latinoamericana de los siglos XIXy XX, Berlin 2000, S. 234).
departure for the construction of a republican Spanish America, we can measure the depth of Sarmienlo's loyally to the political and cultural ideal of his youth.55
Über diese Überzeugungen hatte Halperin Donghi zuvor geschrieben, daß sie in der Zurückweisung der Differenz von arm und reich als dem Haupthindernis einer fortschrittlichen Entwicklung in Argentinien und der Lenkung des Augenmerks auf jene von archaisch und aufgeklärt bestünden, was die politische Einordnung Sarmientos schon ftir seine Zeitgenossen erschwert habe. Sarmiento sah sowohl solche aristokratischen sozialen Subsysteme, die im Schatten des Kolonialsystems ein gemeinsames, konfliktarmes und würdiges Auskommen reicher Patrizierfamilien und armer Gefolgschaft wesentlich auch aufgrund des Bildungsstandes ersterer möglich gemacht hatten, im Zuge der Befreiungskriege untergehen, zumal in seiner Heimatstadt San Juan, wie er auch des Aufstiegs typischer Urabhängigkeitsgewinnler gewahr werden mußte und am Beispiel der neureichen Viehzüchterklasse der Ostküste, deren Bildung dem rasanten Auftrieb ihres Reichtums nicht standhielt, ausmalte. Halperin Donghis Interpretation des Vermächtnisses aus dem Spätwerk kann im gleichen Sinne um das methodische Ideal aus Sarmientos Jugend erweitert werden, dessen Sichtweise zufolge Menschen durch ihre Bedingungen beeinflußt und diese Bedingungen gestaltbar sind, und das sich für die empirische Forschung als die historisch-soziologische Vorgehensweise bei der Auswertung erweist. Bildung und zivilisierter Humanismus sind dabei ftir den gestaltenden Willen des Individuums sehr viel erreichbarer als Reichtum. Inwieweit anläßlich der Frage der ethnischen Natur der Individuen die Höhe dieses 'politischen, kulturellen und methodischen Ideals' gehalten wurde, ist eines der erkenntnisleitenden Interessen dieser Untersuchung. Nueva Granada, pues, o los Estados de Colombia hoy, fue el centro civil de la revolución de ¡a independencia de aquel extremo, como Buenos Aires lo fue de éste; y siendo comunes las aspiraciones, debemos presentar primero el trabajo que allá se hace y los resultados que se obtienen, para hacer a nuestro turno el inventario de lo que aquí hicimos y cuanto alcanzamos en la misma empresa?6
Mit diesem Arbeitsprogramm leitete Sarmiento sein Kolumbien-Kapitel des Conflicto y Armonías-Werkes ein. Hier soll es zum zweiten Abschnitt dieses Kapitels, zum Abriß der Bedingungen, die González' Schriften prägten, überleiten und außerdem den Leser auf den ihm impliziten Hinweis auf die besondere, im zweiten, Sarmiento gewidmeten Kapitel dann im einzelnen ausgeführte Affinität und Sympathie, die dieser für die Geschichte im anderen Zipfel des Kontinentes empfand, aufmerksam machen. Zwischen der Unabhängigkeit und dem Moment, in dem Sarmiento dies schrieb, lag freilich mehr als ein halbes Jahrhundert blutiger Geschichte, geprägt von inner- und zwischenstaatlichen Kriegen, regionalen Auseinandersetzungen, gewaltsamen Machtergreifungen und in Argentinien außerdem einer jahrzehntelangen autokratischen Diktatur. 55 56
Halperin Donghi, a.aO., S. 30. Sarmiento, Conflicto y armonías /, a.a.O., S. 248.
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2.2.2 Der Schriftsteller Fernando González Ochoa in seiner Zeit The effort of unity had beert made and the expense met in exceptional times and unrepeated ways. Nostalgia for union was for some time expressed by a few utopians and a larger number of Bolivarian officers, and by some federal dissidents who opposed the new central authorities. In 1830, however, the realists of the hour were Generals Páez, Santander and Flores, who emerged as the respective rulers of Venezuela, New Granada and Ecuador.*1
Die Entwicklung nahm zunächst also einen Bolivars Zielen ganz entgegengesetzten Lauf. Die Teilung Groß-Kolumbiens erfolgte sofort, regionale Auseinandersetzungen und Bürgerkriege führten zu einer tiefgreifenden und beständigen Unsicherheit der Lebensbedingungen, nicht einmal in ihrer Konstitution führten die neuentstehenden Republiken die Abschaffung der Sklaverei, die erst gut zwanzig Jahre später ihr Bestandteil wurde. Die feindlichen Programme der kriegführenden Parteien bezogen sich immer auf die wichtigsten Themen Bolivars, auf Zentralismus gegen Föderalismus-Regionalismus und auf interregionale gegensätzliche Ansprüche. Zu den zwischenstaatlichen Kriegen zwischen Ecuador und Kolumbien hätte es in einem zentral regierten Groß-Kolumbien vielleicht keinen Anlaß gegeben, da hier die in sich verbundene und zusammengehörende andine Region Nordecuadors und Südwestkolumbiens durch die Staatsgründungen geteilt wurde. Sin embargo, esta apariencia (das institutionelle Erscheinungsbild der kolumbianischen Geschichte im 19. Jhdt., das vor allem durch die vergleichsweise geringe Zahl an Staatsstreichen entstehen kann, J. P.) no puede ocultar el hecho real de una violencia permanente manifestada en nueve grandes guerras civiles, dos internacionales con el Ecuador y decenas de revueltas regionales, especialmente durante el periodo federal.5*
In Kolumbien verlief die ideologische Scheidelinie der gegnerischen Bürgerkriegsparteien zwischen Liberalen und Konservativen; in diesem Konflikt instrumentalisiert und immer wieder zu einem Politikum ersten Ranges wurde die religiöse Frage. Grausamkeit und hartnäckige Wiederkehr der gewaltsamen Auseinandersetzungen können aber kaum durch die Unversöhnlichkeit der verschiedenen ideologischen Positionen erklärt werden. Die zunehmende Polarisierung zwischen den großen doktrinären Parteien, die Kolumbien das Jahrhundert mit dem "Krieg der tausend Tage" und dem folgenden Verlust von Panama abschließen ließ, weist auch auf Momente der quasireligiösen Bindekraft der beiden Parteien als orientierungsgebende Heimat hin, die nach dem Gefolgschaftsprinzip tiefe Spalte durch unter ganz ähnlichen Umständen lebende Teile der Landbevölkerung trieb. Auch der sicherheits- und gesellschaftspolitische Mißerfolg der Sieger der Auseinandersetzungen um die Macht nach Simón Bolívar, nämlich der seiner 57
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Malcolm Deas, "Venezuela, Colombia and Ecuador: the first half century of independence", in: Bethell, Leslie (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. Ill, Cambridge 1985, S. 508. Alvaro Tirado Mejía, "El estado y la política en el siglo XIX", in: Jaime Jaramillo Uribe, Manual de la historia de Colombia, Bd. II, Bogotá 1984, S. 365f.
Gegner, trug zur Sichffung der ungebrochenen Mobilisierungskraft des Bolivar'schen Vermächtnisses bei. Dit Idee der gemeinsamen weltpolitischen Vertretung und Stimme, die Bolivar immer aucl als Argument für sein Programm des politisch geeinten Großstaats anführte, erhielt zusätzlichen Auftrieb durch die sich befestigende Struktur der Hegemonie des nördli;hen Kontinents (und der nördlichen Erdhalbkugel): Bolivars Ideen werden heute nicht nur von den Bewahrern eines kollektiven Gedächtnisses an die geschichtliche Mögichkeit der Veränderung aus den intellektuellen Mittelschichten verteidigt, die gewissernaßen den zivilgesellschaftlichen Teil einer kritischen und politisch gemäßigten Öffeitlichkeit im Spektrum der sich auf Bolivar berufenden Kräfte repräsentieren, und für die naturgemäß die Ziele der Befreiungsbewegung vor zweihundert Jahren nicht zu idbologischen Kampfaufrufen taugen; bolivarianisch nennen sich auch gleichermaßen Gierrillafronten wie Regierungen, die einen tendenziellen Abbau von Demokratie nach iinen, Besetzung antinordamerikanischer Positionen und eine populistische Machtbasis erfolgreich miteinander verknüpfen. Die politischen Ideen des militärisch erfolgreichen Generals genießen das Privileg, bisher nie auf den Prüfstand der Geschichte haben sieigen zu müssen. Geschichtliche Tatsache bleibt indes, daß anstelle eines nach Ideen der griechischen Demokratie und der Aufklärung geordneten Staatsganzen59 vielmehr der Partikularismus zum beständigen Herd gewaltsam ausgetragener Konflikte im unabhängig gewordenen Lateinamerila wurde. Der extrem föderalistische Charakter beider neuer Verfassungen, der Kolumbiens und der Venezuelas, besiegelte den Sieg über Bolivar, erwies sich jedoch als zusätzliche Quelle lokaler und regionaler Unruhen und trug überdies zur Polarisierung cer feindlichen Kräfte bei, indem sich als ein weiterer unversöhnlicher ideologischer Geiensatz der zwischen Unitaristen und Föderalisten konstituierte. They (europäische tesucher Kolumbiens im 19. Jhdt., J. P.) underestimated the number of masterless men. Nor :ould they understand how local rivalries and antipathies, often of colonial origin, were caught w in new republican politics. Even had society been firmly in the control of a solidly established dite, which over much of the map was not the case, that elite would have found causes for fallng out within itself The better-known rivalries of city and city, province and province were ojen reproduced at less discernible levels, down to the veredas, the districts of the lowly municipii.60 59
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Die demokratietheontischen Überlegungen aus seiner Angosturarede, die, insoweit sie für gemeinsame Denkansätze Sarmientos und González' relevant sind, in Fußnoten zum nächsten Abschnitt angeführt werten, entfaltet Bolívar dort ausgehend von den ersten Demokratien in Athen, Sparta und Theben, vobei er zugleich die "melancholische" Botschaft von deren kurzer Dauer und ihren Grund - reben der strukturellen Verletzbarkeit jeder Demokratie - im historischen Fehlen eines starken Staates betont, woraus die entsprechende Lehre zu ziehen er sein Auditorium ermahnt. "La influencia de las ideas de Juan Locke en el establecimiento constitucional de los países bolivariams es manifiesta. No sólo por la lectura directa del filósofo inglés, sino, asimismo, a través de Voltaire, el principal introductor en Francia del empirismo 'lockiano'" (Ramón Zapata, Libros tue leyó el Libertador Simón Bolívar, Bogotá 1997, S. 104). Zapata weist Bolívars Lockerezepion, insbesondere der Epístola de tolerantia in religiösen Fragen, im einzelnen nach. Deas, a.a.O., S. 523.
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Deas' These ist, daß die ideologischen Gegensätze, das heißt in erster Linie also Republikanismus versus Konservatismus, Föderalismus versus Unitarismus und Säkularismus versus Klerikalismus, in ihrer konfliktscharenden und mobilisierenden Wirkung nicht Uberschätzt werden sollten, und daß als die treibenden und stets neu sich entflammenden Kräfte ganz wesentlich lokale und regionale Spannungen ausgemacht werden maßten, die durch die Rivalitäten der örtlichen caudillos immer wieder angefacht worden seien. Diese Dynamik sei durch den Verlauf der Unabhängigkeitskriege und der Folgezeit fatal begünstigt worden. Was letztlich den Ausschlag darüber gegeben habe, ob der Einzelne sich in den Reihen der Liberalen oder der Konservativen wiederfand, habe von vielen Zufällen und nicht zuletzt natürlich von traditionellen, persönlichen und hierarchisch strukturierten, lokalen Gefolgschaften abgehangen. "Desde la infancia puede pronosticarse quién será liberal o conservador, según camine vanidosa o hipócritamente",61 der zwei Eigenschaften, die in González' Sichtweise die beiden Seiten derselben vorherrschenden Haltung der Politiker dieser Parteien bilden. Dessenungeachtet erwarben diese Bindungen gerade in Kolumbien quasireligiösen Charakter und führten zu extremen Abgrenzungen. What decided a man, a family or a district to one current or faction or another was not simply determined - it cannot be said that merchants were liberáis, or landowners conservatives; all such simple generalizations are too easy to disprove, and a complete account has to be built on analysis of región, of family, of events, even on talent and inclination.62
Diese feindseligen Abgrenzungen spiegelten sich in Kolumbien, dem "Kompendium der Geschichte unserer Revolutionen" (Sarmiento) stets mit aller Schärfe in den ideologischen Auseinandersetzungen und den Kämpfen um Lehrinhalte, -pläne und -formen der
Universitäten und der nationalen Bildung allgemein widsn
De esta manera (gemäß der Geschichte der rasch aufeinander folgenden, kriegerischen Machtwechsel in Kolumbien, J. P.), el sentido y los propósitos de la educación en la Universidad seguían atados a la suerte militar de la disputa partidista, y el triunfador en los espacios bélicos terminaba por imponer a sangre y fuego sus modelos educativos, librando en las aulas una
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Femando González, Los Negroides. Ensayo sobre la Gran Colombia, Medellín, 5. Aufl 1995 (1. Aufl. ebenda 1936), S. 57. González verwendet die Begriffe, die eine pejorative soziobiologische Konnotation im herrschenden eugenischen Diskurs besitzen, in der provokativen Absicht, den Prozeß der Veränderung des realen Substrats jener Kritik anzustoßen, d. h. also kritikwürdige soziale Verhaltensweisen und Einstellungen, die fälschlicherweise durch eugenische Zusammenhänge erklärt werden, zu exponieren. Daneben verwendet er allerdings selber die gleichen Begriffe auch unkritisch: "En fin, yo sé que en Colombia todavía hay una fermentación de fanatismo, debido a los sedimentos negroides de que está depurándose la raza" (Fernando González, El derecho a no obedecer. Una tesis, herausgegeben und eingeleitet von Miguel Escobar Calle, Medellín, Neudruck 1998 der 4. Auflage von 1995 [1. Auflage Medellín 1919], S. 75). Deas, a.a.O., S. 530.
suerte de guerra ideològici contra un enemigo total que debería ser borrado de la faz de la tierra.6*
Was die materiellen Hintergründe der Bürgerkriege anbetrifft, arbeitet Tirado Mejía in erster Linie die Gegensätze zwischen Kirche und Staat bzw. Unternehmertum heraus. Seit der Zeit der Unabhänggkeitskriege wurde dieser Konflikt in Kolumbien immer mehr überlagert von dem zvischen einer am nordamerikanischen Modell orientierten utilitaristisch-positivistischei, und einer konservativ-klerikalen Position. Im Prozeß dieser Polarisierung nahmen db Vertreter der katholischen Kirche zunehmend doktrinäre und auch elitär-konservative Haltungen ein. Beispielhaft zeigt Tirado Mejía diese wechselhafte Entwicklung am Colegio San Bartolomé und an der Universität von Bogotá auf. Santander hatte unter Berufung auf das Patronat Einfluß auf den Lehrplan genommen und seinen Gefolgsmain Francisco Soto mit der Curriculumreform beauftragt. Dieser begrenzte den Lateiiunterricht und tauschte ihn gegen Englisch- und Französischuntericht aus; des weiteen wurde politische Ökonomie nach John B. Say und utilitaristische Philosophie nach Jffemy Bentham gelehrt. Infolge der von Bolívar gegen Santander gerichteten Maßnahnen ab 1828 wurde diese Tendenz zwar suspendiert, nach der Rückkehr Santanders ir die Präsidentschaft 1832-37 aber wieder aufgenommen. Doktrinarisms, Verhärtung ind Polarisierung kennzeichneten diesen Konflikt. Santander dekretierte Benthams Tiatados de legislación allen Bildungsanstalten des Landes, von den Grundschulen bis m den Universitäten als Pflichtlektüre. In den Worten José Eusebio Caros wurde alle Eiziehung zu geistiger Selbständigkeit in diesen Jahren preisgegeben, "cuando es 'el libro el que se ha apoderado de su (der Erziehung, J. P.) razón y la está tiranizando'".64 1843 erfolgte dann die ultrakonservative Reaktion durch den rigiden Studienplan Ospina Rodríguez', der die Erziehung und Ausbildung wieder aufs engste mit der religiösen Lnterweisung verknüpfte, römisches Recht, zugleich auch klassische und spanische Literatur und humanistische Philosophie wieder auf den Lehrplan setzte und dafür konstitutionelles Verwaltungs- und Versammlungsrecht von ihm strich. Muy cuerdo era procurar que ¡a educación moral y religiosa (tan descuidada desde ¡843) complementase la instruccón. Mas en la práctica del plan del doctor Ospina fueron las cosas demasiado lejos, a tal punta que se le dio a la Universidad de Bogotá un aspecto casi clerical.65
Die konfuse Politik der Liberalen hatte indes der kirchlichen Vormachtstellung in allen Bildungsbelangen nichts entgegenzusetzen. Die Kirche verfugte über riesige Ländereien und zahlreiche städtische Eesitztümer, über vielerlei Arten des Rechts an Steuererhebung (neben zahlreichen persönlichen auch über produktbezogene Abgaben wie den diezmos) und besaß das Moropol auf die Vermittlung von Bildung und Wissen. Sie hat63 64 65
Maria Teresa Uribe de Hincapié, "El espíritu de la Regeneración y el nuevo reglamento estudiantil", in: Uribe de H., María T. (Hg.), Universidad de Antioquia. Historia y presencia, Medellín 1998, S. 161 f. Vgl. Marquínez Argote, a.aO.. S. 145. José Eusebio Caro wurde nach ebenda, S. 153, zitiert. José María Samper, Historä de un alma, zitiert nach Tirado Mejía, a.a.O., S. 359. 37
te außerdem weitgehenden Rückhalt und Vertrauen in der Bevölkerung. In dem wechselhaften Kampf zwischen Staat und Kirche, der gerade auch durch wechselnde Koalitionen unter den die Kontrahenten jeweils unterstützenden, gesellschaftlichen Gruppierungen charakterisiert war, hatte zwar ein durchgehendes Motiv darin bestanden, die enorme wirtschaftliche Vormachtstellung der Kirche zu brechen. Die Trennung von Staat und Kirche wurde 1853 beschlossen. Die beiden wichtigsten wirtschaftlichen Säkularisierungsmaßnahmen waren die Abschaffung vieler Abgaben - hier konnten sich liberale Positionen vor allem mit dem Argument des negativen Preiseffektes infolge der diezmos und anderer Zinsabgaben für den Wettbewerb von Exportgütern auf dem Weltmarkt (Baumwolle, Indigo, Kaffee und Kakao) durchsetzen - und die desamortización de bienes de manos muertas, die allerdings lediglich zu einem Besitzerwechsel, dagegen aber zu keinerlei Strukturwandel oder -reform auf dem Lande führte.66 Der Rückzug vom Patronat brachte zwar eine Entlastung, da die Ämter jetzt nicht mehr vom Staat bezahlt wurden. Viele Kleriker aber gerieten in Bedrängnis, unter ihnen gerade auch zahlreiche, mit dem durch den Präsidenten José Hilario López Valdez 1849 begonnenen, liberalen Reformprojekt sympathisierende Geistliche. Und für die Entwicklung einer säkularen Republik schließlich hatte dieser Rückzug schwerwiegende und fatale Folgen, denn "al mismo tiempo, el Estado se privaba del control que pudiera ejercer sobre los clérigos en tanto fueran funcionarios."6 Strukturell wurde die Macht der Kirche weder in wirtschaftlicher noch in ideologischer Hinsicht fundamental angetastet. Beispiele für elitäre und reaktionäre Haltungen von Politikern, die ihre Religiosität offensiv in das Feld der Politik einbrachten, sind dann am Ende des Jahrhunderts, das innerhalb der Geschichte des Kampfes zwischen Staat und Kirche als die Epoche der regeneración bezeichnet wird, Rufino José Cuervo, den die infolge der Liberalisierung der Gesellschaft möglich gewordene Reibung mit der gente zafia schmerzte, Ignacio Gutiérrez Ponce, der die Aufhebung der Sklaverei (1851 unter José Hilario López Valdez) mit dem Hinweis auf die absolute Unwissenheit der Schwarzen rückgängig machen wollte,68 oder Miguel Antonio Caro, "who could lapse into an irritable dogmatism".69 Selber ein Pol im ungleichen politischen Kräftedreieck mit dem Militär und den schwachen Institutionen des republikanischen Staates, büßte die Kirche weitgehend ihre mögliche Vermittlerfunktion ein. In krassem parteilichen Gegensatz hierzu nutzte sie den Sieg der Konservativen zum zwiespältigen eigenen Vorteil, um die zaghaften liberalen Säkularisierungsmaßnahmen seit der Jahrhundertmitte rückgängig zu machen und ihr absolutes Monopol im Bildungssektor im Zuge dessen nationaler Zentralisierung zu 66
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"El más fundamental (unter den politischen Aspekten der Medida de la desamortización de bienes de manos muertas, d. h. der 1861 vom Präsidenten Tomás Cipriano de Mosquera begonnenen Nationalisierung kirchlichen Besitzes, J. P). fue que, a pesar de lo radical de la medida, ésta no transformó la estructura agraria del país, pues tan sólo se produjo un cambio de dueño y un paso de latifundio clerical al laico" (Tirado Mejía, a.a.O., S. 363). Ebenda, S. 362. Vgl. Tirado Mejía, der beide zitiert, a.a.O., S. 367. Malcolm Deas, "Colombia, Ecuador and Venezuela 1880 - 1930", in: Bethell, Leslie (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. V, Cambridge 1986, S. 646.
zementieren. Die Folgen der regeneración für die Geschichte der öffentlichen Bildung in Kolumbien charakterisiert Maria Teresa Uribe de Hincapié so: En el campo de la educación, ésta se centralizó; es decir, pasó a depender de la dirección de instrucción pública en la capital del país y se puso bajo la tutela de la Iglesia católica, que entró a controlar de manera directa los procesos educativos en todos sus niveles y modalidades. Por mandato del Concordato, ¡a educación religiosa volvió a ser obligatoria en las universidades, colegios y escuelas de todo el país y la jerarquía eclesiástica fue encargada de vigilar todo el proceso de enseñanza- aprendizaje, desde los textos, que deberían estudiarse hasta la vida cotidiana en las aulas de los establecimientos. A la luz de estos principios, se reformó de nuevo la instrucción pública en Colombia.70
Die weitgehende Abwesenheit einer Auseinandersetzung zwischen dem traditionalen kanonischen Transzendentalismus und den modernen, liberalen und diesseitig orientierten Strömungen des Positivismus und Utilitarismus und der Suche nach einer auf die Gegebenheiten und Aufgaben des Landes zugeschnittenen Synthese begünstigte eine dogmatische Verhärtung auf beiden Seiten und trug wesentlichen Anteil an der Zurückgebliebenheit des Bildungssystems und des Verharrens in Vorstadien einer aufgeklärten Gesellschaft. Wenn Tirado Mejía in seiner Zusammenfassung der Geschichte der kolumbianischen Kriege im 19. Jahrhundert, die in der Tat die Geschichte der Aufrechterhaltung ihrer Kontinuität war, vom Vorwand des religiösen Problems spricht,71 kommt er Deas' These von der Erheblichkeit außerideologischer Gründe und des aller Art regionaler Zusammenstöße und Aufstände begünstigenden, chaotischen Zustands zentralstaatlicher Institutionalität doch nahe. Beide stimmen in einer wesentlichen Charakterisierung der Entwicklung seit der Unabhängigkeit Uberein: es bildete sich kein Staat heraus, der, auf einen Apparat gestützt, Macht zentralisiert, politische Entscheidungen gebündelt und Verfahrensformen über wesentliche Belange seiner Bürger politisch-rechtlich wirkungsvoll institutionalisiert hätte. Deas spricht von der Abwesenheit des Politischen inmitten der durch gewaltsame Auseinandersetzungen und Anspruchsdurchsetzungen geprägten öffentlichen Unsicherheit und Unwägbarkeit einerseits und dem exzessiven Argumentieren und Disputieren in den Zirkeln der Parteiführer getreu der legalistischklerikalen Tradition von Santa Fé de Bogotá andererseits.72 Tirado Mejía arbeitet den engen Zusammenhang zwischen der Permanenz der Gewalt und der Kriege "con la quiebra del Estado colonial y el desbarajuste consecuente a la guerra, ante una burocracia no rehecha"73 heraus. Die Macht sei bei regionalen Oligarchien verblieben, an deren Herrschaftsmuster, der Indifferenz der Massen und ihrem Ausschluß von politischen Entscheidungen, sich nichts Grundlegendes geändert habe. In ihrer faktischen Oberho-
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Uribe de H.,a.a.O.,S. 160. "Como pretexto se esgrimió el 'problema religioso' debido a la enseñanza laica que algunos liberales querían implantar" (Tirado Mejía, a.a.0., S. 372). Vgl. Deas, a.a.0., S. 645f. Tirado Mejía, a.a.0., S. 366. 39
heit auch Ober die militärische Macht und der "descentralización de las guerras"74 muß sicherlich ein prägendes Strukturmoment der neueren kolumbianischen Geschichte gesehen werden. Auch Aline Helg sieht in den Beweggründen der Bauern, sich mit derart bedingungsloser Konsequenz der einen oder der anderen Partei anzuschließen (und weniger darin, warum deren führende Schichten die Kämpfe vom Zaum brachen) eine Schlüsselfrage für das Verständnis der kolumbianischen Geschichte, prägten die in hohem Maße gewaltförmigen Polarisierungen vor allem in ländlichen Gebieten doch auch das gesamte folgende 20. Jahrhundert. Aus ihren Ausführungen, die die sozialpsychologischen und identitätsbezogenen, in besonderem Maße Bindungen und Abgenzungen erzeugenden Mechanismen der hierarchischen Sozialstruktur betonen, wird die Notwendigkeit des Einbezugs dieser Dimensionen der Analyse der Konstitution von Macht- und Bezugsgruppen in Kolumbien besonders deutlich. Dem Umstand, daß sich trotz der enormen Entwicklungen und Modernisierungen der Wirtschaft dennoch kein angemessenes, durch staatliche Institutionen vermitteltes Gemeinwesen herauszubilden vermochte, mißt auch sie gleichermaßen hohe Bedeutung bei.73 New Granada had beert a mining colotty, not as spectacular as Mexico or Peru, but the leading gold producer in Spanish America and the equal to Brazil in the history of production in the Americas before the 1849 discoveries in California.76
Während die Goldablagerungen rund um Popayán und in der Provinz Chocó ausschließlich mittels Sklavenarbeit betrieben würfen, entstanden für die Ausbeutung der gehaltvollen Minen und der zahllosen, verstreuten Schürfplätze in Antioquia bereits vor der Unabhängigkeit auch Formen von auf selbständiger und auf Lohnarbeit basierenden Systemen. Gewaltige Sklavenströme aus Afrika erreichten Lateinamerika vor allem in Cartagena de Indias, von WO sie in erster Linie entweder näsh Norden in die zentralamerikanischen Häfen verschifft oder zur weiteren Verwendung in die Edelmetallminen der pazifischen Regionen Ecuadors und Kolumbiens verbracht wurden. González verdeutlicht die Dimensionen des menschlichen Elends:
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Ebenda, S. 372. Tirado Mejía gibt zahlreiche Beispiele für die Unentwickeltheit genuin politischer Machtansprüche. Machtansprache wurden aus militärischen Rängen, familiär-oligarchischem Kastenbewußtsein und wirtschaftlicher Potenz abgeleitet. José Maria Obando ist nicht der einzige, der sich an die Spitze einer Rebellion stellte, nachdem ihm MachtansprQche, die er aufgrund deren Bekämpfung erhoben hatte, verweigert worden waren (vgl. Tirado Mejía, a.a.O., S. 368). Vgl. Aline Helg, "Kolumbien", in: Bernecker, Walther LTTobler, Hans W. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3, Stuttgart 1996, S. 703-727. Sie betont, daß noch für die beiden rechts- und linkspopulistischen Kampagnen von Jorge Eliécer Gaitán und Laureano Gómez, die der abermaligen Spaltung des Landes in zwei BOrgerkriegsparteien nach 1949 vorausgingen, "der moralische Wiederaufbau des Staates" ein Hauptthema abgab (vgl. ebenda, S. 714). Deas, a.a.O., S. 654.
Posteriormente (nachdem de bis zum 17. Jahrhundert flämischen Handelshäusern konzedierten Sklavenhandelsrechte beeniet wurden, J. P.) se hicieron concesiones a genoveses y portugueses para la introducción de negros. Una sola compañía de Portugal se comprometió a suministrar diez mil toneladas, de mil stiscientos noventa y seis a mil sietecientos uno. V don Simón Bolívar, ascendiente del Libertador, obtuvo el privilegio para introducir por año cuatro mil toneladas de negros a Caracas.77
Die intensive Nachfrage nach afrikanischen Sklaven als Arbeitskräfte für die Minen und Schürfplätze in den Regionen Antioquias, des Chocos und Ecuadors sowie auf den Plantagen Venezuelas lenkte die Ströme und hatte nachhaltige Wirkung auf die demographische Zusammensetzung in diesen Gebieten. José Manuel Restrepo, der große Chronist der Unabhängigketsepoche, schätzte 72000 schwarze Sklaven und 400000 Mulatten in Venezuela, 50000 Schwarze afrikanischen Ursprungs in Ecuador und eine kumulierte Bevölkerung schwarzer Sklaven und Mulatten von 210000 in Kolumbien bei einer etwaigen Gesamtbevölterung der Kolonie um 1800 von 2 Millionen Menschen.78 Los negros, esclavos o libirtos, de ambos sexos, prestaban servicios de todo orden, desde los caseros en las ciudades y Us haciendas, hasta las labores de peonaje, vaquería, como cargueros, y sobre todo, en las petadas labores de la minería. Tenían asegurada la alimentación para reconstruir la energía perdda en el trabajo, pero carecían del salario y el amo tenía injerencia absoluta sobre su vida y atn sobre sus gustos. Los precios de los negros variaban según las condiciones demográficas ¿e edad, sexo, integridad física y otras minuciosamente establecidas en los mercados de compra y venta de ellos.79
Wie Luis Vidales später ausführt, nahm das Fliehen (cimarronaje) derartige Dimensionen an, daß dafür eine eigene Statistik begonnen wurde, zu deren Führung die Sklavenaufseher (amos) verpflichtet wurden. "El cimarronaje es la antesala de la abolición de la esclavitud."80 Während entsprechend der regional vorherrschenden, ethnischen Zusammensetzung das deklassierende und beleidigende Schimpfwort der sich als weiß begreifenden, kreolischen Oberschicht in Bogotá indio war, lautete aufgrund des hohen schwarzen Bevölkerungsanteils in den pazifischen Regionen sein Pendant in Medellin negro. Daher wählte González neben dem Gebrauch von "Mulatte" zur Benennung des empirisch vorherrschenden Menschentyps (mit all seinen Schwächen) die Bezeichnung
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González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 35. Vgl. Departamento Administrativo Nacional de Estadística (DANE), Los grupos étnicos de Colombia en el censo de 199}. Memorias, Bogotá, 1998, S. 15. Es erübrigt sich, auf den Annäherungscharakter der Zahlen José Manuel Restrepos, des Tucídides criollo (López de Mesa), sowie auf die allgemeine und ertebungsmethodische Problematik von Kategorien wie "Mulatte" hinzuweisen. In dem ausführlichen Teil über die Geschichte der Erfassung der ethnischen Gruppen in Kolumbien führt das DANE mehrere Erhebungen, Schätzungen und Daten anderen Ursprungs an, vergleicht, kommentier und korrigiert sie und kommt zu dem Schluß, Restrepos Zahlen und Verhältnisse im Großen und Ganzen als zutreffend zu präsentieren. Luis Vidales, Historia de le estadística en Colombia, Bogotá 1978, S. 35f. DANE, aa.0., S. 18. 41
des zukünftigen, großen Mulatten für seilen idealen Mischungstyp, mit der er die antioqueftische Mittel- und Oberklasse geziet zu provozieren wußte. Mit der Durchsetzung des oben erwähnten iystems des Nebeneinanders verschiedener Formen der Arbeitsorganisation nach ISO entstand in Antioquia ein Handelsbürgertum, das die Nachfrage nach Lebensmtteln aus den Minengebieten versorgte und sich dabei die auch durch die extrem schwerigen Transportwege bedingten, enormen Preisunterschiede der Güter zwischen ProdiKtions- und Verbrauchsort zunutze machte. Der Export der Edelmetalle, dessen Organsation in den Händen der einheimischen Handelsketten lag, sicherte den Geldzufluß. Das Zusammentreffen dieser Faktoren mit den, bedingt auch durch die komplizierte Tqjographie immer schon vorwiegend minifundistischen, agrarischen Produktions- und Besitzverhältnissen brachte ein ausgesprochen investitions- und produktivitätsorientietes Wirtschaftsverhalten hervor, das sich signifikant von dem kolonial-aristokratischei der reichen Großgrundbesitzerschicht im südwestlichen Caucatal und dem Gebiet runl um Popayän ebenso wie an der Atlantikküste unterschied. Die unter diesen rudimenär marktfÖrmigen Bedingungen entstandene antioqueflische Bourgeoisie kontrollierte zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Schiffahrt auf dem Magdalenafluß, hielt das TabJononopol in ihren Händen und besaß bis zur Jahrhundertwende auch die führenden Binkhäuser Kolumbiens. 81 Während die Erträge aus dem Export der landwirtschaftliche) Güter wie Baumwolle, Chinarinde, Edelhölzer und anderer tropischer Produkte weit linter den an sie für die Zeit nach der Unabhängigkeit geknüpften Erwartungen zirückblieben, hatten die in den oben angedeuteten Prozeß marktförmiger, produltiver Verwendung einfließenden Erträge aus der Edelmetallwirtschaft gegen Ende desJahrhunderts zu einem deutlichen Ausbau des kommerziellen Vorsprungs Antioquias fegenüber dem übrigen Land geführt. Der einsetzende Kaffeeboom hatte das Investitioiskapital noch einmal erheblich vergrößert; seit Beginn des 20. Jahrhunderts entstand im Vburrätal rund um Medellin als dem ersten wirtschaftlichen Großraum Kolumbiens die fonzeriträiiön eines modernen Industrieproletariats in der Textilindustrie.82 Immer wieler gab diese erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung, die sich entlang der colonizacim antioquefia im 19. Jahrhundert ins obere Caucatal hinauf weit nach Süden und Skiosten recht genau auch geographisch verfolgen läßt, Historikern und Sozialwisseischaftlern Anlaß zu Erklärungsmodellen für die Modernisierung vorwiegend bäuerlcher Gesellschaften bis hin zu psychologistischen und geschichtsmythologisiereiden Spekulationen über die baskischjildischen Ursprünge der Antioquefios. Solcle Überlegungen können als intertextuelle Lesarten kultureller Überlieferungen, Formerund Produkte in Einzelstudien aufschlußreich sein, taugen indes sicher nicht zur Enlärung wirtschaftlicher Entwicklung von ganzen Regionen. Auszugehen ist vielmehr x>n den geographischen, klimatischen und historisch entstandenen wirtschaftlich-sozialei Bedingungen, um die Geschichte der Situation Antioquias in Kolumbien zu Beginn les 20. Jahrhundets zu rekonstruieren. James Jerome Parsons faßt die isolierenden uid erschwerenden geographischen Bedin81 82
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Vgl. Frank Safford, Significación de los Antiqueños en el desarrollo económico Berkeley o. J„ S. 60-66. Vgl. Deas, a.a.0., S. 660.
colombiano,
gungen zusammmen, rekonstruiert die gewachsenen wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrer Unterschiedlichkeit zu vergleichbaren und angrenzenden Regionen und stellt dann Überlegungen dazu an, inwieweit ihr Zusammentreffen die Hervorbringung eines bestimmten puritanischen Konservatismus und einer markanten regionalkulturellen Folklore begünstigt haben. 83 D&bei muß berücksichtigt werden, daß es sich um die besondere Entwicklung des Jahrhanderts nach der Unabhängigkeit handelte, in dem, wie oben angedeutet, die Polarisierangen sich zwar extrem und immer wieder in Bürgerkriege ausbrechend, aber dennoch nicht unbedingt um die traditionellen, liberalen und konservativen Positionen gruppierten. The liberal governments of the sixties and seventies were subject to constant conservative criticism, both from the press and from the clergy, and from the example of the state of Antioquia peaceful, relatively prosperous, strongly governed catholic and conservative.84
Bestandteile des traditionellen antioquenischen Partikularismus waren neben der Rigidität auch die Aufgeschlossenheit und Ethik in Arbeits- und Sozialmoral und wirtschaftlichem Verhalten; daraus ergaben sich offenbar Vorbehalte gegenüber der Zentralregierung in Bogoti. While the richer settler; exploited the gravels and quartz ore bodies with their slave gangs, others went with pan and pickax as independent prospectors fmazamorreros/ Many of the Spaniards, as well as their nestizo offspring, were thus forced into productive labor for their own account. This situation give an early impetus to Antioquia's democratic tradition of work, which has contrasted sharply vith the class structure to the south and west where the Indian element has remained more numtrous,85
Eine tiefgreifende Integraion in den Weltmarkt erfolgte erst gegen Ende des Jahrhunderts durch den Kaffeebeom. Die Folgen bestanden unter anderem in einer engeren Bindung an die USA, die sich in politischen, ökonomischen und ideologischen Veränderungen niederschlug. 86 Eine nordamerikanische Finanzexpertenkommission unter der 83
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Vgl. James J. Parsons, riispanic Lands and Peoples, Boulder 1989, S. 51 und S. 59. In seiner Bibliographie gibt Parsms auch einen Überblick Uber die zahlreichen "antioqueflistischen" Interpretationsansätze. Vgl. insbesondere die Literaturangaben zu seinem Kapitel "Medellin Reconsidered", S. 139f. Deas, Venezuela, Colonbia and Elcuador: the First Half Century of Independence, a.a.O., S. 531. Parsons, a.a.O., S. 53. Der wichtigste politische Ausdruck der gestiegenen Abhängigkeit Kolumbiens von den USA war sicherlich die Abtretun; Panamas 1903. Aber auch in ideologischer wissenschaftspolitischer Hinsicht drückte sich db Orientierung an der nördlichen Macht im Einzug des Positivismus an den neugegründeten naturwissenschaftlichen Fakultäten und Hochschulen, z. B. der 1888 gegründeten Escuela de Minas in Medellin, aus. Der sich als "the Porfirio Diaz of Colombia" (Deas, Colombia, Ecuador and Venezuela 1880 - 1930, a.a.O., S. 650) darstellende Präsident General Rafael Reyes (1904 - 1910) versuchte, dessen autokratisch durchgesetzte Reformpolitik unter dem Dogma des Positivismus in Kolumbien zu kopieren.
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Leitung von Edwin Kemmerer wurde mit der Modernisierung der wirtschafte- und finanzpolitischen Verwaltung betraut; als Ergebnisse sind in erster Linie die Einrichtung einer Zentralbank, in welcher Funktion die Handelsbank in Antioquia bereits existiert hatte, und des volkwirtschaftlichen Rechnungswesens festzuhalten. Pedro Santana spricht von dem durch Klientelismus und Bürokratie unwirksam gebliebenen und an seiner eigentlichen Aufgabe des Infrastrukturausbaus gehinderten öffentlichen Sektor sowie den wie nie zuvor gesteigerten und eine dauerhafte Abhängigkeitsstruktur einleitenden Handels- und Investitionsbeziehungen zu den USA als den zwei prägenden Faktoren des kolumbianischen Wirtschaftsaufschwungs. 87 Das Zusammentreffen großer Geldflüsse ins Land, die vor allem aus der Kompensationszahlung für den Abtritt Panamas an die USA und der enormen Kreditaufnahme auf nationaler, departamentaler, lokaler und privater Ebene herrührten, mit einer zunächst dynamischen und wiederum an oberster Stelle in Antioquia, z. B. im Eisenbahnbau, deutlich hervortretenden, wirtschaftlichen Entwicklung verschaffte der zweiten und dritten Dekade den Beinamen "Tanz der Millionen". In retrospect this 'dance of the millions', 'prosperity through debt', has been criticized as an episode of national wastefulness, a despilfarro. Successive governments are said to have lacked the experience or the power to direct the investment of funds provided by over-eager American lenders. Ignorant provincial appetites had to be satisfied, andfew understood the difference between productive and unproductive investment or were troubled by the lack of any coherent nationalplan88
Kolumbien war eine Mischung aus Theokratie, Parteidiktatur und Demokratie, aus ländlicher Idylle und Erinnerung an die grausamen Kriege des 19. Jahrhunderts. Die Modernisierung wurde nicht in ihrer ganzen Bedeutung reflektiert und gestaltete sich dadurch ambivalent, denn der Industrialisierung entsprach kein moderner Staat, der sie zu verwalten, zu leiten und zu beherrschen wußte. Die alten politischen Strukturen blieben nach außen hin gleich und veränderten sich gleichsam unbesehen. Öffentlichkeitsstrukturen, die sich in legitimitätsschaffenden Debatten und Verfahrensformen ausdrücken würden, waren nur sehr rudimentär entwickelt; "seftorale" und "parroquiale" Formen beherrschten die Lebenswelten der Kolumbianer; die halbherzig angegangene Säkularisierung hatte die Kirche in einer dogmatischen Haltung erstarren lassen. Ohne Zweifel wird jede zusammenfassende Aussage über geschichtliche Epochen Kolumbiens durch den Umstand eingeschränkt, daß insgesamt die Geschichtsschreibung noch sehr mangelhaft und in keiner Weise der Größe des Landes angemessen ist.89 Daher soll 87
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Die umfassendsten Investitionen aus den USA flössen in die Petroleumförderung und -industrie sowie in den Bananenanbau auf hoher Stufenleiter. Diese beiden Sektoren waren in den 20er Jahren Schauplätze der ersten großen und gewaltförmigen Konfrontationen zwischen streikenden Arbeitern und gegen sie eingesetztem Militär (vgl. Pedro Santana, "Modernidad y democracia", in: Cárdenas, Miguel Eduardo, Modernidad y sociedad política en Colombia, Bogotá 1993, S. 266f.). Deas, aa.0., S. 658. Vgl. Helg, a.a.O., S. 703.
ein Gedicht León de Greiffs einen Eindruck vermitteln, wie ihn das im wirtschaftlichen Aufschwung begriffene Medellin auf Angehörige der heranwachsenden Generation ausüben konnte. Villa de la candelaria AJova, Tiza y Leo Vano el motivo desta prosa: nadaCosas de todo día. Sucesos banales. Gente necia, local y chata y roma. Gran tráfico en el marco de la plaza. Chismes. Catolicismo. Y una total inopia en los cerebros... Cual si todo se fincara en la riqueza, en menjurjes bursátiles y en un mayor volumen de la panza.
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In seiner "Trivialen Ballade der dreizehn partidas"91 stellt de Greiff in sieben selbstironischen Strophen und einem Epilog die "dekadente", "indiskrete", "unversöhnliche" Bohemien-Gruppe der panidas vor, deren bekannteste Mitglieder neben dem Dichter selbst Fernando González und der Karikaturist Ricardo Rendón waren. Mit ihrem provokativen Auftreten und ihrer Zeitschrift Panida, die 1915 in zehn Nummern erschien und unkonventionelle literarische Formen und Graphik-Text-Verbindungen präsentierte, war die Gruppe junger Künstler und Literaten angetreten, das antioqueñische Bürgertum aufzuschrecken. Con el deliberado propósito de distinguirse y de adehala escandalizar a beatas y señoritos burgueses, -diríamos mejor, que como genuinos descendientes del dios Pan, para sembrar pánico entre ellos...- usaban cachucha (gorra) y cachimba (pipa).91
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León de Greiff, Obra completa. Band l: Tergiversaciones. 1925. Libro de los signos, Bogotá 1985, S. 27. Vgl. ebenda, S. 61 ff. Die 1916 geschriebene Ballade druckte 1918 die in Barranquilla erscheinende Bohemienzeitschrift Voces ab. Javier Henao Hidrón, Fernando González, filósofo de la autenticidad, Medellin, 3. Aufl. 1964, S. 62.
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Dadurch, daß der angesehene Schriftsteller und Herausgeber der führenden liberalen Tageszeitung, des in Bogotá erscheinenden El Espectador, Fidel Cano 1916 die Einleitung fiir die Erstausgabe von González' Pensamientos de un viejo schrieb, fand der ponida und Rebell aus Medellin rasch Beachtung weit über die Provinzgrenzen hinaus. Cano hatte die schnörkellose, sich populärer Wendungen nicht um den Preis von Vereinfachungen, sondern mit dem Gewinn treffsicherer Charakterisierungen bedienende Sprache González' hervorgehoben und zugleich auf den "sabor a acíbar"93 seiner Befunde, Schlüsse und Ideen hingewiesen. Die "zu frühen", intensiven intellektuellen Exerzitien in Rechtswissenschaft und Philosophie und die "zu frühe", anverwandelnde Lektüre von Schopenhauer und Nietzsche, von Anatol France, José Enrique Rodó und Alfonso Castro hätten seiner Perspektive Bitterkeit und Pessimismus beigemischt.94 Estoy fatigado. Toda esa comedia de la vida me repugna. ¿Qué me importa el superhombre? ¿Seremos, acaso, más felices? No hay felicidad, si no hay dolor. ¿Seremos, acaso, más grandes? No hay grandeza, si no hay pequeñez. Todas esas palabras son engaños de la vida.9S
Vorausgegangen war eine Kritik der Idee des "Übermenschen"; auf den philosophischen Grundideen, deren Ausarbeitung González bemerkenswerterweise in seinem ersten Buch vorlegte, werden die späteren politischen Schriften und die Prosa aufbauen. Das Buch entstand während der Privatstudien, die sich der ketzerische jugendliche Rebell, der sich seinen Mund nicht verbieten ließ und als Sechzehnjähriger aus dem Jesuiten-Gymnasium San Ignacio relegiert worden war, selbst auferlegt hatte. Acht Jahre nach jener Relegation und drei Jahre nach Erscheinen der Pensamientos hatte der Doktorand der Rechtswissenschaft an der Päpstlichen Bolivarianischen Universität in Medellin den Titel seiner El derecho a no obedecer überschriebenen Dissertation ändern müssen - er wählte dann Una tesis-,96 um zur Promotion zugelassen zu werden. Nachdem anläßlich und in Folge des Kriegs der Tausend Tage die Universität von Antioquia zum letzten Mal zu militärischen Zwecken geschlossen und genutzt worden war, hatte sich die ideologisch-parteiliche Aufladung im folgenden Jahrzehnt leicht entspannt;97 die entscheidenden wissenschaftstheoretisch-konzeptionellen Debatten fanden nach wie vor zwischen traditionalen Transzendentalisten und anwendungsorientierten Positivisten statt, wobei die Positionen weniger doktrinär und apodiktisch als zehn Jahre zuvor oder gar zu den Hochzeiten der regeneración argumentierten. In einer 1901 gehaltenen, programmatischen Rede des "Führers der Republikaner", des damaligen Rektors der Universität von Antioquia und späteren Präsidenten Carlos E. Restrepo, kommt nach den unumgänglichen Zugeständnissen an die katholische Religion der Versuch der antitradi93 94 95 96 97
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Fidel Cano in seinem Vorwort zu Fernando González, Pensamientos de un viejo, a.a.O., S. 8. Vgl. ebenda, S. 11 und S. 15. Auf den Einfluß des Medelliner Arztes und liberalen Politikers Alfonso Castro wird später eingegangen. González, ebenda, S. 121. Fernando González, El derecho a no obedecer, a.a.O. Der Herausgeber Miguel Escobar Calle nahm den Bericht des Doktorvaters Victor Cock, in dem er die Arbeit gegen den Vorwurf der Verunglimpfung religiöser und sittlicher Grundsätze verteidigt, mit in den Band auf. Vgl. Uribe de H„ a.a.O., S. 162.
tionalistischen Umgestaltung, der allerdings nur in Ansätzen verwirklicht werden sollte, deutlich zum Ausdruck. Der Redner kommt nicht umhin, den klassischen Vorwurf anzuerkennen, daß der Sentimentalismus in der Wissenschaft und die pure Vorstellung in der Theorie in Kolumbien Begriff und Verständnis des Nützlichen und Nötigen zutieftst gestört hätten. Nach einem ernüchternden Überblick nach einem Jahrhundert Unabhängigkeit muß er feststellen, daß es von Ideologen, Weisen, Rechts- und Schriftgelehrten, Ärzten, die die Krankheiten in Kolumbien nicht kannten, in der hiesigen Geographie unbewanderten Naturwissenschaftlern nur so wimmele, während es an initiativen Praktikern aus Natur-, Rechts- und Geisteswissenschaften, die sich auf "cálculo, compás und nivel" verstünden, zutiefst mangele.98 González verbindet diese deutlich am angelsächsischen Modell orientierte Scholastikkritik eklektizistisch mit der aus Europa stammenden Kritik des Traditionalismus. Forschungen und Kommentare zu Fernando González konzentrierten sich bisher in erster Linie auf die Kritik des Schriftstellers an der nicht konsequent durchgeführten Trennung von Politik und Klerus, die gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts in dem die desamortización de bienes de manos muertas beendenden Handel zwischen dem Präsidenten Rafael Núñez und der katholischen Kirche schlagend deutlich wurde. Die Säkularisierung als der Anspruch, alle moralischen und ideologischen Systeme auf die Wirklichkeit zu beziehen und alle Idole und Autoritäten soweit zu stürzen, als sie einer kritischen Hinterfragung nicht standhalten, ohne die Hoffnung auf eine humane Religiosität aufzugeben, läßt sich als eines der zentralen Interessen González' durch sein ganzes Werk hindurch verfolgen. Núñez hatte der Kirche aufs neue die Organisation der Erziehung von der Primarschule bis zur Hochschulreife dafür übertragen, daß diese ihre Entschädigungsforderungen aus der desamortización moderater gestalte. Damit trug er den wirklichen Kräfteverhältnissen in Kolumbien Rechnung, dem Umstand nämlich, daß ökonomische Modernisierungsprojekte ohne die in festem Glauben zu "ihrer" Kirche stehenden Massen nicht durchzuführen waren. Erst dieser spezifische Rahmenverlauf einer Modernisierung und Industrialisierung bei gleichzeitigem Verzicht auf die Entwicklung von verfassungsstaatlichen öffentlichkeitsbasierten Strukturen und von einer diese stützenden Theorie und Philosophie macht González1 unbeirrbares Anprangern der Selbstaufgabe als Persönlichkeitsmerkmal und der Selbstauslieferung an den Klerus, einer Basis, auf der sich bequem gute Geschäfte machen lassen, verständlich. Por ejemplo, para Cristo, el pobre, en cuanto tal, era motivo de disciplina para los ricos; su caridad era asunto íntimo, motivación, escala; para los católicos, la caridad es social, negocio de viejas vanidosas, competencia de instituciones anónimas con la civilización de cocina y de
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Vgl. María Teresa Uribe de Hincapié, "El ideal universitario de Carlos E. Restrepo", in: Uribe de H., Universidad de Antioquia. Historia y presencia, a.a.O., S. 2llfT. Der Artikel enthält den vollständigen Abdruck der Rede Restrepos von 1901. 47
máquina de Europa. La oración, en Cristo es íntima, individual; para la católicos es función social. El verdadero Cristo no era de rebaño."
Die Rezeption des Philosophen der existenzialistischen Innenshau und Selbsterkenntnis, der vom europäischen Vitalismus und von Friedrich lietzsche inspiriert wurde und damit das Spektrum lateinamerikanischer, antidetermiiistisch orientierter Entgegnungen auf euro- und anglozentrierte biologistische Diskrimiiierungen erweiterte, ist durch wichtige Arbeiten belegt. Hinsichtlich der antipositivistschen Zielrichtung ist hier der direkte Kontakt mit Luis Eduardo López de Mesa und /elasco Ibarra und auch der Zusammenhang mit José Vasconcelos von Belang. Gonzdez* Entwurf einer überkonfessionellen Religiosität bildet eine untrennbare Einheit mitseiner Theorie des Selbstausdrucks, innerhalb dessen Formenbestands das Schreiben eiie privilegierte und daher besonders kritisch wahrzunehmende Position einnimmt. Dies vird in einer Passage Uber das Selbstverständnis der Zeitschrift Antioquia deutlich: Tampoco (ebensowenig wie bezahlte Anzeigen, J. P.) influirán deseo de pma, alabanza o censura; el arte no es otra cosa que manifestación de la conciencia; es diviro. Quien escribe para conseguir dinero, se llama comerciante; si honores, politico; si para cowencer, sofista; si para propagar doctrina u otra cosa, propagandista, etc. Quien escribe por exgencia de su espíritu, para manifestarse, así como pare el animal, es artista, vive divinamente. Dios se manifiesta en todo; la actividad divina es la manifestación: Deus sive natura 100
In der gleichen Forschungsrichtung haben andere Arbeiten den eigeiständigen Beitrag González' in der Tradition der religiösen Mystik des Zwiegesprächs und der Konfrontation von Individuum und höherem göttlichen Wesen hervorgeloben. Die Nominierung der Preisträger innerhalb der Ausschreibung für Forschuigsstipendien über Fernando González der Stadt Medellin von 1995 spiegelte dieses vorwiegende Interesse an dem Theologen González deutlich wider. Fabio Villegas Botero ("Fernando González teólogo") und Luis Javier Villegas ("Viajando hacia la intimidtd") konzentrierten sich in ihren Monographien ganz auf diesen Aspekt; vor allem letzterer, der zweite Preisträger, arbeitete insbesondere die Abkehr González' vom Manchäismus des Augustinus' und seinen Versuch, eine übergreifende Religiosität unter Einbezug hinduistischer und fernöstlicher Philosophie zu entwerfen, heraus. Dieses Interesse teilt González mit dem mexikanischen Athenäistenkreis. Im kolumbianischen Kontext des durch einen ganz besonders traditionalistischen Klerikalismus geprägien geistigen und öffentlichen Lebens lag es nahe, daß González' Bemühungen un die Konzeptualisierung einer überkonfessionellen Religiosität und die an mystische Traditionen der unmittelbaren Anschauung anknüpfende Introspektion als fiir jeden gangbaren Weg zu dieser Religiosität auf das vorrangige Interesse der Forscher stießen. Der Sieger des 99
González, Los negroides, a a O . , S. 19. Dieser erstmals 1936 erschienene 'Ensayo sobre la Gran Colombia" (Untertitel), in dessen Anhang der Autor Gedanken aus Genta \on 1932 aufnahm, zielt besonders auf die Kompatibilität der seit der zweiten Dekade beschleunigten Industrialisierung und der anhaltenden Rückständigkeit des geistigen Lebens in Kolumbien 100 Fernando González, Antioquia, Medellin 1997, S. 427.
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oben genannten Wettbewerbs, Germán Pinto Saavedra ("Fernando González y nosotros") versuchte denn auch, einen Zugang zu González über Walter Benjamins materialistische Mystik zu rekonstruieren. Die kritisch verwandte Metapher der Herde, des rebaño, spielt eine zentrale Rolle in González' Religositätskonzept, das von der Vorstellung getragen ist, daß erzwungener Glaube keiner sei und daher die Freiheit jedes einzelnen Glaubens gegen staatlich-klerikale Bevormundung verteidigt werden müsse González legte die Symbole des christlichen Glaubens als Medien der Selbstthematisierung freier Menschen aus; als freier könne jeder zu einer höheren Würde und Bildung gelangen. "Allí (in den musischen Anlagen jedes einzelnen, in Malerei, Religiosität, Musik, Redekunst, J. P.) es más evidente, que en las ciencias, que el hombre es aljibe, forma a través de la cual mana el Espíritu."101 Aus d e n existierenden Einzelreligionen läßt sich die Idee d e r Religion synthetisieren, die durch die Figur des Jesus 02 oder des Buddha symbolisiert werden kann und durch die Einzelwissenschaften nicht widerlegbar ist. Sie führten dazu, daß die Menschen die Religiosität verlören und mit dem profanierten Leben allein zurückblieben. Die Gruppe um Germán Marquínez Argote, die in den 1980er Jahren im Bogotaner Verlag "El Buho" und in der Reihe der Publikationen der Bogotaner Universität Santo Tomás zahlreiche Anthologien und Kommentarbände zu kolumbianischer und lateinamerikanischer Philosophie herausgab, stellt González als einen der wesentlichen kolumbianischen Philosophen der Überwindung der Neoscholastik an den Beginn des säkularen Denkens.103 Desde su comprensión de la vida, Fernando González fustigó sin piedad todas las manifestaciones de personajes históricos y del común de los mortales carentes o deficitarias de 101 Ebenda, S. 39. Es sei in diesem Zusammenhang auf den in der Zeitschrift Antioquia per Fortsetzung erschienenen Roman Don Benjamin jesuíta predicador und die kürzeren Prosastücke Pontius Pilatus envigadeño; Casiano, presbítero; El entierro de Valerio Suárez en San Jerónimo und Semana Santa en Envigado hingewiesen, die in brillanten Detailstudien Stimmungslagen, Zeitdeutungsmuster und soziale Verhaltensweisen der Kirchenleute aufzeichnen und an die picaresca mística vivencial española (Javier Henao Hidrón, der auch González' ironische Selbstbezeichnung als atisbador de entierros, de agonías y de mujeres kolportiert) anknüpfen. In seinem Vorwort zur ersten Buchausgabe von Don Benjamin versammelt der Herausgeber Miguel Escobar Calle Auszüge aus Kommentaren unter anderen von Ernesto Cardenal (S. XVI), und Thomton Wilder (S. Xllff.; Don Benjamín jesuíta predicador, herausgegeben und mit einem Vorwort von Miguel Escobar Calle, Medellin 1984). 102 González zitiert Dostojewski ("Dostoyewski: 'Si me probaron que Cristo era mentira, entre esa ciencia ('la ciencia') y Cristo, me quedaría con Cristo"' [Femando González, Libro de los viajes o de las presencias, Medellín 1959, S. 154]), um die Höherwertigkeit der überkonfessionellen Religiosität gegenüber einem empirisch verkürzten Materialismus zu unterstreichen. 103 Unter den zahlreichen Editionen der Gruppe sind neben Marquínez' Hauptwerk Sobre filosofía española y latinoamericana (erschienen 1987 im Verlag der Universität Santo Tomás) der von ihm mitherausgegebene Essayband {La filosofía en América Latina) sowie die siebenbändige Reihe über Themen der lateinamerikanischen Philosophie und die neunbändige Reihe Pensamiento Colombiano, alle im Buho-Verlag erschienen, hervorzuheben. Die Reihen umfassen Originaltexte und Kommentare.
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vida. La influencia de Fernando González en su tiempo fue grande a nivel critico y se extiende a nuestros días, a juzgar por las continuas ediciones de sus obras y por la cantidad de escritos sobre su personalidad y su pensamiento.104
In philosophiegeschichtlicher Hinsicht betont Marquínez Argote González' Insistieren auf der Unverzichtbakeit einer Metaphysik, um Geschichte und ZukunftsentwUrfe der lateinamerikanischen Gesellschaftsentwicklung beurteilen und bewerten zu können. Mit der bloßen, zudem unkritischen Übernahme bentham- und spencerscher, positivistischer Kritiken des herrschenden klerikalen Dogmatismus sei es nicht getan; dabei werde es sich aber um die Entwicklung von Anschauungs- und Verstandesbegriffen handeln müssen, die die lateinamerikanische physische Erfahrungswelt (Geschichte, Gesellschaft, Kultur, geographisches Ambiente) transzendierten. Die zwischen Santander, Vicente Azuero und Ezequiel Rojas auf der einen und mit Miguel Antonio Caro an der Spitze der anderen Seite geführte Debatte um Positivismus und Benthamismus war in eine doktrinäre unfruchtbare Sackgasse geraten. Mit dem Interesse, die erkenntniskritischen Errungenschaften einer Empiriehinterfragung in Lateinamerika weiterzuentwickeln und anzupassen, stehe er in einer etwa durch José Ingenieros vertretenen Tradition; seine nachhaltige Wirkung verdanke sich gerade der Radikalisierung des kritischen Instrumentariums, worin er sich von den meisten seiner Kollegen abgehoben habe. Indem er die Anerkennung der hybriden Abstammung zu einer entscheidenden Frage seiner Philosophie gemacht habe, sei ihm ein wesentlicher Beitrag zur Philosophie aus lateinamerikanischer Perspektive geglückt.105 Rafael Gutiérrez Girardot arbeitet in seiner Geschichte der Literatur Kolumbiens im 20. Jahrhundert vor allem die unterschiedliche Methodik heraus, deren sich die beiden zeitgenössischen Denker aus Antioquia, González und López de Mesa, in ihrem Kampf gegen den gleichen, übermächtigen Gegner, die Herrschaft der einer dogmatischen Orthodoxie verhafteten Kirche, bedienten. Hacia finales de la tercera década del presente siglo se inició un largo proceso de transformación de la sociedad señorial colombiana, ya anunciado por las primeras huelgas y acelerado por el florecimiento de! comercio cafetero, cuyas primeras y más perceptibles consecuencias consistieron en una difícil secularización (o si se quiere laicización) de Colombia. Esta secularización se manifestó en las obras de Luis López de Mesa y de Fernando González.106
In einer Gesellschaft, deren politische Institutionen dieser Kirche die Gestaltung praktisch aller Bildungseinrichtungen und somit die Deutungshoheit Uber die eigene Geschichte bewahrt hatten, vermochte das Verdikt der Häresie den Einfluß beider Denker marginal zu halten. López de Mesa stellte sich in seinem evolutionistischen Ansatz
104 Marquínez Argote, a.a.O., S. 30. 105 Die Ausführungen folgten im wesentlichen dem Kapitel "Hacia una metafísica desde Latinoamérica" (vgl. ebenda, S. 104ff.). 106 Rafael Gutiérrez Girardot, "La literatura colombiana del siglo XX", in: Jaramillo Uribe (Hg.), Manual de historia de Colombia, Bd. 3, Bogotá 1984, S. 477. 50
durchaus affirmativ zur kolumbianischen Geschichte; auch sein disziplinares Vorgehen konnte ihn freilich vor jenem Verdikt nicht bewahren. Todas estas consideraciones (über die Notwendigkeit der Gründung einer 'Universität als Seele der Nation', anstatt als 'Fabrik von Doktoren'gemäß der alten doktrinären Schule, J. P.) pueden chocar con la tradición, sobre todo en los pueblos de cultura milenaria. Mas países jóvenes, como los americanos, por ejemplo, deben darse el lujo de ensayar sus propias fuerzas y no seguir tan a pie juntillas la política tradicional. Es una verdad ineludible el que carecemos de una rica imaginación aún. En cuatro siglos no hemos inspirado una religión, una filosofía, un drama universal, un poema épico, ni en pintura un cuadro de composición original, ni en música una interpretación eminente de lo humano. Hasta hoy vivimos de prestado en grandes proporciones.107
In dem Traum von der volksaufklärenden Universität teilt López de Mesa ein Projekt mit seinem Freund und Kollegen González, das typischerweise bei beiden einen zentralen Stellenwert einnimmt; er gelangt zum gleichen Resultat wie González, wobei dieser gleichwohl López' empirischen Befund nicht gelten läßt, sondern den ihn erhebenden, selektiven Forscherblick selber als Resultat der Fremdabhängigkeit interpretieren möchte. In dieser Einseitigkeit wird López' Befund auch sicher nicht aufrechtzuerhalten sein; er wirft vielmehr ein Licht auf López' elitäre Tendenz, die die beiden Denker trotz immer wieder ähnlichen Positionen doch auch trennte. Es soll hier der Hinweis auf Jorge Isaacs' klassischen, 1867 erschienenen Roman Maria genügen. Die de facto-Zensur Miguel Antonio Caros erweist sich gerade am Beispiel von Isaacs besonders wirksam. Ebenso wie Isaacs' brillante, pionierhafte ethnologische Studie Estudio sobre las tribus indígenas del Magdalena Medio, antes Provincia de Santa Marta fielen auch andere Werke (durch veranlaßte Nichtverlegung) dieser Art Zensur zum Opfer.108
107 Luis López de Mesa, "La sociedad contemporánea", in: López de Mesa, La sociedad contemporánea y otros escritos, Bogotá 1937, S. 62, und Luis López de Mesa, De cómo se ha formado la nacionalidad colombiana, Medellín 1975, S. 26 108 Jorge Isaacs' (1837-95) schon erwähnte, auf eigenen Untersuchungen und frühen statistischen Erhebungen basierende Studie über die indigene Bevölkerung im nördlichen Magdalenagebiet, wurde Septemberl884 in der Nummer 45 des Bandes 8 der Zeitschrift Anales de la instrucción pública de los Estados Unidos de Colombia (S. 178-352) publiziert; später nur noch einmal 1951 im Bogotaner Verlag Iqueima. Ähnlich erging es anderen Texten von Isaacs wie El esclavo Pedro, der, 1895 veröffentlicht, nur noch einmal 1995 in der Zeitschrift Revista gris, Nr. 2, Band 3, im Juli 1995 publiziert wurde, oder der Chronik über die radikale Revolution in Antioquia, die erst 1982 nach über einhundert Jahren nach ihrer ersten und einzigen Veröffentlichung 1880 wieder zugänglich wurde. Nur der rasch den Ruf des Epos einer Epoche erlangende Roman Maria wurde seit seinem ersten Erscheinen 1867 ständig wieder aufgelegt. 51
Der offizielle geisteswissenschaftliche Betrieb war geprägt von einem konservativen Fundamentalismus, wie ihn Caro repräsentierte und offensiv verfocht, 109 war ausschließlich auf Traditionspflege bedacht und bestrebt, wissenschaftliche und philosophische Bezugnahmen auf den wirklichen Zustand der Gesellschaft von sich fernzuhalten. Pamphletisten und der Moderne zugewandte Autoren wie etwa José María Vargas Vila zogen ihm das "freiwillige" Exil vor.110 Heterodoxe Denker noch aus der nächsten Generation, die wie González sich diesen Vorgaben explizit nicht zu unterwerfen bereit waren, konnten von ihm weitgehend ignoriert werden. Dieser charakteristische Dualismus zwischen der verschulten Lehre in den akademischen Institutionen und einer außerhalb von ihnen stattfindenden Neuaneignung der Geschichte wurde erst seit den achtziger Jahren ansatzweise überwunden durch Arbeiten wie den hier zugrundegelegten, die selber aus philosophischen und literaturwissenschaftlichen Fakultäten kolumbianischer Universitäten stammen, oder auch durch Arbeiten über González nahestehende Autorinnen und Autoren wie Porfirio Barba Jacob, Gabriela Mistral, Teresa de la Parra und andere. "No la contradicción, sino la anarquía presidió su trabajo intelectual. Fernando González rompió con todas las convenciones de la literatura."1 1 Gutiérrez Girardot hebt bei González zum einen den subversiven Charakter seines Spiels mit den wissenschaftlichen Kategorien und seines Formeneklektizismus hervor, kritisiert zum andern aber zutiefst die ihm zufolge daraus resultierende Reduktion aufs nicht weiter begründete Ich, auf das gleichwohl bei González die Hauptlast der Begründung seiner Thesen falle. Dies habe vor allem in dem Kreis seiner Anhänger zu einer kritiklosen und damit letztendlich die Philosophie González' abstumpfenden Übernahme all seiner Äußerungen geführt. Während González selbst durch seine unermüdliche Vortragstätigkeit in den dreißiger Jahren und später durch seine exzentrische Persön-
109 Miguel Antono Caro kommt zweifelsohne eine SchlUsselrolle für die kolumbianische Geistesgeschichte seit Ende des 19. Jhdts. zu. In seiner Persönlichkeit vereinte er den aggressiven reaktionären Politiker, der als Führer der Nationalistischen Partei und Präsident vor dem Mittel des Bargerkrieges und der rücksichtslosen Eliminierung politischer Kontrahenten nicht zurückschreckte (vgl. die Schilderung von Caros Vorgehen in bezug auf den Krieg der Tausend Tage 1899-1902 und die Abtrennung Panamas von Kolumbien 1903 in: James Henderson, Modernization in Colombia, Gainesville 2001, S. 41-48; bezeichnenderweise nennt der Autor die ganze Epoche in Kolumbien nach Caros gleichermaßen konservativ-machtorientiertem Schüler Laureano Gómez The Laureano Gómez Years 1889-1965, so der Untertitel seines Buches) mit dem klassisch-humanistisch und katholisch-dogmatisch gebildeten Philologen und Übersetzer unter anderem der Aneas ins Spanische. 110 José Maria Vargas Vila zählt heute unbestritten zum Kanon der kolumbianischen Literatur. Er gilt als Schlüsselfigur an der Schwelle zur Moderne, was durch seine journalistische und prosaistische Produktivität aus Bogotá und später aus Barcelona, wo er 1933 starb, belegt ist. Henao Hidrón zitiert aus einem Brief von Vargas Vila an González vom 6. Juni 1932: "Tiene usted el vicio de pensar y la virtud de decir bellamente lo que piensa; un Pensador-Artista es un producto muy raro en nuestras latitudes; usted llena en plenitud este modelo; no he de ocultarle que lo que amo más en sus libros es el aire de polémica que se respira en ellos; ese hálito de combate, es vivificante y tonificado; vivir es combatir" (zit. nach Henao Hidrón, a.a.O., S. 17f.). 111 Gutiérrez Girardot, a.a.O., S. 481.
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lichkeit die Figur des vate glaubhaft darstellen konnte, sei der Kult um ihn bei seinen Gefolgsleuten zum Epigonentum herabgesunken."2 Eine besonders produktive Weiterentwicklung grundlegender Ideen von González hat Cayetano Betancour mit seiner Sociología de la autenticidad y la simulación113 vorgelegt. Nietzsches Aufforderung des "Werde, der Du bist!" hatte González zum Angelpunkt seiner Soziologie gemacht. Erst die Überwindung der Eitelkeit und des aus ihr resultierenden Hangs zur Simulation werde einen authentischen Selbstausdruck, allererste Bedingung befreienden Handelns, ermöglichen. Betancour, Gründungsmitglied des Instituto de Filosofía an der Nationaluniversität in Bogotá, wandelte González' Forderung nach historischer und biographischer Selbsterkenntnis für sich in die Fragestellung um, in welchen Formen die Selbstwerte praktiziert wurden und welche unterschiedlichen Wirkungen deren Darstellung auf das gesellschaftliche Leben hatte. Entlang dieses Erkenntnisinteresses skizzierte er im ersten Teil des Buches einen kurzen Abriß der Geschichte der axiologischen Systeme. Im zweiten Teil (Sociología de las virtudes y los vicios) wandte er dieses Erkenntnisinteresse dann in adversativ formulierten Themengruppen wie Dos regiones de Colombia: Antioquia y Bogotá, Conquista y colonia, La voluntad y la gana, La ciudad y el campo, Patriarcado y matriarcado114 und weiteren der kolumbianischen Wirklichkeit zu. Das Interesse am Subjekt, die Erkundung des Selbst als des möglichen Anderen hebt Juan Gustavo Cobo Borda in seinem Artikel zum Nadaismo im Manual de Literatura Colombiana hervor. Die Nadaisten, aufs Neue um Zeitschriftenprojekte herum in den kolumbianischen Metropolen wie eine Generation vorher die Modernen gruppiert und miteinander in einem Netzwerk verflochten, traten zu Beginn der sechziger Jahre als Bewegung oppositioneller und exzentrischer Schriftsteller hervor, die durch happeningartige Aktionen die auf dem geistigen Leben der Republik lastende Allianz von Klerus und den zwei politischen Parteien aufschrecken wollten und sich bewußt in die Tradition der poètes maudits stellten. Rimbauds Das Ich ist ein anderer galt ihnen im doppelten Sinne als Programm: zur Behauptung einer nicht zu vereinnahmenden Position gegen die Hegemonie von Klerus und Zweiparteiensystem und zur Akzeptanz von Fremdheit im eigenen Ich. Fernando González war einer der Schriftsteller, auf den sich die Bewegung berief; Gonzalo Arango, einer der nadaistischen Protagonisten, hatte das Vorwort zu einer Neuausgabe von Viaje a pie geschrieben. Wiederholt hatte er darauf hingewiesen, daß die Negativität des Nadaismus die Folge der kolumbianischen violencia sei, deren Greuel durch keine andere Begebenheit der jüngeren Zeitgeschichte
112 Vgl. Rafael Gutiérrez Girardot, "Devoto filósofo de Envigado", in: Boletín Bibliográfico, Jahrgang 27, Nr. 23, Bogotá 1990, S. 70. Der kritische Rezensent der González-Biographie von Henao Hidrón moniert, daß anstatt die theoretische Basis, nämlich seiner Auffassung nach Ortega y Gasset, als das Gerüst des biographierten Denkers darzustellen, die Hybris dessen Ichkults weitergetrieben werde. 113 Cayetano Betancour, Sociología de la autenticidad y la simulación. 1. Auflage, Bogotá 1955. 114 Vgl. ebenda, S. 63fF. 53
übertreffen werde." 3 Arangos Bewunderung galt besonders auch González" in diesen Zeiten totgeschwiegener Persönlichkeit und seiner eremitage."6 Pero fue en sus (von Fernando González, J. P.) primeras y más radicales enseñanzas -4o laico como espacio necesario para una cultura crítica- donde el Nadaismo se fortaleció; y en su singular religiosidad donde reconfirmó una de sus constantes: ese misticismo, vacuo y deletéreo, que no sabía dónde fijarse, hasta un punto tal que en 1968 Jaime Jaramillo Esco>bar (X-504) bien podía preguntarse si el Nadaismo no fue, en realidad, una escuela de místicos. De místicos degradados, bien entendido.117 Die Rezeption des Literaten González hat eine internationale Dimension in dem von Jean Paul Sartre und Thornton Wilder unterstützten Vorschlag fiir den Literaturnobelpreis 1955. 118 Die in den neunziger Jahren begonnene, leider allerdings kaum textkritische Neuausgabe seiner Schriften bezeugt ein wiedererwachtes Interesse, das sicher im Zusammenhang des zeithistorischen Anliegens der Aufarbeitung der jüngeren kolumbianischen Geschichte zu sehen ist. 119 In diesem Kontext der Rekonstruktion 115 Vgl. Juan Gustavo Cobo Borda, "El Nadaismo", in: Manual de la literatura colombiana, Bd. 2, Bogotá 1984, S. 206. Arango nimmt Bezug auf den Kongokrieg und Erschießungen von Abweichlern in Kuba. 116 "Fue un desposeído, un descolocado, un echado de todo. Renunció a todo para ser él mismo" (Gonzalo Arango über Femando González in: Arango, Todo es mío en el sentido que nada me pertenece, Bogotá, 4. Aufl. 1999 [1. Aufl. 1991], S. 253). 117 Cobo Borda, a.a.O., S. 208. Pseudonyme wie "X-504" und Titulierungen wie "HK III", das zweite Theaterstück Gonzalo Arangos, waren beliebt in der Gruppe und unterstreichen den dadaistischen Umgang mit der Sprache. Hervorzuheben sind die enorme Zeitschriftenproduktion der Gruppe, oft nur mit einer erschienenen Ausgabe, und ihr hoher Grad an Internationalität. In den Zeitschriften wurden nicht nur die Tradition, die verdammten Dichter, die Surrealisten, die ¿eaf-Generation und andere, sondern per Austausch auch lateinamerikanische Dichterkollegen wie Ernesto Cardenal, Vicente Huidobro, die Mufados aus Argentinien oder die Tzanticos aus Ecuador vorgestellt (vgl. ebenda, S. 211). Bis heute unaufgeklärt ist die Täterschaft des Schädelraubs aus González' Grab 1973, also neun Jahre nach seinem Tod (vgl. Henao Hidrón, a.a.O., S. 252ff.). 118 Vgl. "Fernando González. Eco internacional sobre su obra", in: Quimera, Edición latinoamericana Nr. 2/1989, Barcelona/Bogotá 1989, S. 46ff. 119 Dieser zweite große verlegerische Anlauf zur Herausgabe der Texte González' seitens der kirchlichen bolivarianischen und der staatlichen antioqueñischen Universitäten, der allerdings noch immer nicht alle Texte erfaßt hat (neben Prosatexten und Texten über Literatur fehlen so wichtige Werke wie Estatuto de valorización), bringt das Denken González' mit Sicherheit wieder in Diskurse, an denen eine größere Öffentlichkeit teilnimmt. In studentischen und intellektuellen Subkulturen, in Antioquia auch jenseits dieser Zirkel, wurden González' Texte indes stets gelesen, rezipiert und auf immer wieder neue Art und Weise einem um die Schaffung, Entwicklung und Verteidigung lateinamerikanischer Identität bemühten Diskurs anverwandelt. So die These des González-Biographen und -Forschers Javier Henao Hidrón in seinem Vortrag, den er im Kolloquium von Fray Carlos Arturo Díaz Rodríguez O. P., Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Bogotaner Santo Tomás Universität, ebendort am 21. März 2002 hielt. Er wies in diesem Zusammenhang auch auf die enorme und seit den Originalausgaben der 1930er und 40er Jahre nie unterbrochene Flut der zirkulierenden Raubdrucke von González' Texten hin. 54
alternativer Diskurse und der Wiederhörbarmachung isolierter Stimmen versteht sich William Ospinas Beschäftigung mit González. Auch im universitären Zusammenhang entstanden zuletzt wichtige größere Arbeiten.120 In diesem kurzen Überblick über Forschungsarbeiten zum Philosophen González sollten noch zwei keiner der behandelten Gruppen zuzuordnende Arbeiten genannt werden: Jorge Ordenes' ontologiekritische Untersuchung "El ser moral en las obras de Fernando González" und die kürzlich erschienene Studie von Juan Albeiro Foronda "La metafísica vivencial en Fernando González", die die Bezüge zu Heideggers Antipositivismus in "Sein und Zeit" zu dessen Begriff von Authentizität und Sich-Selbst-Verantwortlich-Sein untersucht. Die Aufgabenstellung dieser Arbeit, bei Sarmiento und González zu untersuchen, an welchen Punkten die soziologische Argumentationsfuhrung verlassen und an ihrer Stelle soziobiologische Kategorien eingeführt wurden, hat auch bei González keine der Studien eigens verfolgt. Daher kann auch bei González nicht ein einzelner Kommentar zum Ausgangspunkt genommen, vielmehr müssen auch hier verstreute Forschungsergebnisse herangezogen werden. 2.2.3 Gemeinsame Traditionen: Bolivarismus in der Gesellschaftstheorie und Kreuzung von Stilen und Methoden in der Darstellungsweise Das Kriterium für die Wahl dieser beiden Schriftsteller, für deren Theorien die historisch-soziale Tatsache der lateinamerikanischen Rassenmischung eine wesentliche Rolle spielte, war ihr gemeinsamer Ausgangspunkt der bolivarianischen Grundannahmen für die Unabhängigkeit Lateinamerikas und die (kritische) Bezugnahme González' auf Sarmiento, womit jener bewußt auf die dynamische, zu seiner Zeit (und heute noch viel mehr) eher verlorengegangene Beziehung zwischen Argentinien und Neu-Granada während der Epoche der Befreiungskriege anspielte. Keinen Zweifel lassen beide Autoren an ihrer affirmativen Bezugnahme auf Bolívar und ihrem Interesse, ihre Denkansätze auf der Grundlage der Ziele des Libertador weiterzuentwickeln. Sarmiento verlieh dieser Parteinahme symbolischen Charakter, indem er das Streitgespräch von Bolívar und San Martin von 1822 in Guyaquil zum Thema seiner Antrittsvorlesung bei der Aufnahme in die Académie Française wählte. Bolívars zeit seines Lebens geführter Kampf gegen den Regionalismus gewinnt ftir beide metonymische Bedeutung in ihren Argumentationen gegen Tyrannei und Provinzialismus, gegen caudillismo und die Verweigerung gegenüber weiterreichenden demokratischen und rechtsstaatlichen Projekten aus dem Interesse der Aufrechterhaltung lokaler Machthierarchien heraus. Bolívar wußte, daß die Frage des Verhältnisses und der Mischung unter den Rassen eine essentielle Frage ftir die künftige Demokratie in Lateinamerika bedeuten werde und zugleich wegen der tief eingefurchten Verletzungen und Ablehnungen besonders nachhaltigen Konfliktstoff berge. Jedes Unabhängigkeitsprojekt müsse sich mit der Schaf120 Hervorgehoben werden soll hier neben der bereits zitierten Arbeit von Diana Obregón Significación histórica y social de ¡a obra de Fernando González auch Norelia Garzóns soeben abgeschlossene und noch unveröffentlichte Studie Fernando González como novelista.
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fiing von Rahmenbedingungen zur ethnischen Integration beschäftigen, wenn es nicht zum Scheitern verurteilt sein solle. 1815 drückt Bolívar diesen Gedanken in Verbindung mit einer optimistischen Vision aus: De aquí me es permitido colegir que, habiendo una especie de independencia individual en estos inmensos países, no es probable que las facciones de razas diversas lleguen a constituirse de tal modo que una de ellas logre anonadar a las otras. La misma extensión, la misma abundancia, la misma variedad de colores da cierta neutralidad a las pretensiones, que vienen a hacerse casi nulas.121
Interpretationen von Texten von Bolívar und von San Martin sowie Bezugnahmen auf Schritte dieser und anderer Figuren aus der Zeit der Befreiungskriege werden in den Kapiteln zu Sarmiento und González selbst behandelt. Vier Grundannahmen, die die Achsen der bolivarianischen Tradition bilden, sollen hier dennoch kurz aufgeführt werden, denn das Selbstverständnis der beiden Schriftsteller in dieser Denktradition ist das Hauptargument für ihre Wahl. Bolívar entwickelt diese vier Eckpunkte 1819 in seiner berühmten Rede von Angostura. In dieser Rede, die eine Bestandsaufnahme der neuentstandenen Ausgangslage der Unabhängigkeitsbewegung darstellt, wurden die Erfahrungen der inneramerikanischen, sozial, geopolitisch und ethnisch geprägten Verwerfungen und die militärisch-strategischen Erfahrungen mit der reconquista, die sich jene Verwerfungen zunutze zu machen versuchte, systematisch ausgewertet. Zunächst verweist Bolívar auf die alten und jüngeren Demokratien Europas, die undenkbar wären ohne die geschichtlichen Erfahrungen, die ihre Völker im Durchlaufen der Epochen früherer autoritärer Gesellschaftsformationen machen konnten. Mangelnde geschichtliche Erfahrung und mangelnde, selbstaufgebaute Kommunikationsnetze untereinander seien die höchsten Barrieren bei der Errichtung der Demokratie. So gebe es praktisch keine erprobten Muster für das zivile Verhalten als Staatsvolk und seine Aufgaben als Entscheidungs- und Kontrollorgan. In der Tat blieben die Neuansätze im Verhältnis der cabildos zur Bevölkerung immer auf die munizipale Ebene beschränkt. Die weitgehende Abwesenheit eines Austausches unter den Völkern, die sehr deutlich den Zentralismus des Weltreiches widerspiegelte, begünstigte regionale und lokale Despotien aller Art. Hinzu trat die Unwissenheit und leichte Gewinnbarkeit der armen indigenen Bevölkerung, die keinerlei Erfahrung mit der Ausübung eigener Rechte hatte und während der gesamten Befreiungskriege sich immer wieder auf die Seite der Krone stellte oder unter regionalen Führern gegen Bolívar kämpfte. Die Bedingungen ihrer Bewußtseinsbildung stellen ein zentrales Thema für Sarmiento und González dar. Zweitens, beruhend auf dem angelsächsischen Konstitutionalismus und der Aufklärung, enthält die in der Angosturarede entfaltete Demokratietheorie eminent weitsichtige und moderne Elemente. Sie hebt die tiefe Verschiedenheit, die unter den Individuen von Natur aus in fast jeder Hinsicht herrsche, hervor und verfällt im nächsten Schritt genau nicht in den Fehler, nun mit der neuen, demokratischen Staatsform die Einebnung 121 Simón Bolívar,"Carta al editor de la Gaceta Real de Jamaica del septiembre de 1815", in: ders., Escritos políticos, Bogotá 1983, S. 42f.
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jener Unterschiede erstreben zu wollen. Es ist eine minimalistische Verfassungstheorie, die sich der strukturellen Begrenztheit ihres Hauptmittels, des Rechtssystems, bewußt ist und eine A h n u n g der Gefährlichkeit eines ideologischen Rechts aufscheinen läßt. Bolivars Argumentation gewinnt ihre Schärfe, indem sie den jeder Demokratie inhärenten Widerspruch, z w i s c h e n den in all ihren Persönlichkeitsmerkmalen s o unterschiedlichen Individuen politische Gleichheit herzustellen, herausstreicht. Er lehnt Versuche ab, in das Spiel dieser Unterschiede einzugreifen und nimmt in kauf, daß gegenüber dieser realen Ungleichheit die politische Gleichheit immer auch Fiktion, Zielwert bleiben wird, an den die Wirklichkeit allenfalls asymptotisch sich anzunähern v e r m ö g e n werde. Damit stellt er sich g e g e n die Tradition eines perfektionistischen Gestaltungswillens des gesellschaftlichen Z u s a m m e n l e b e n s , die die Demokratietheorie bis heute begleitet und d i e s e m D i l e m m a mit ideologischem, d. h. moralisch aus bestimmten, postulierten Zielszenarien heraus begründetem Recht b e g e g n e n will. 1 2 2 D i e Ausdifferenzierung der neu-
122 "He aquí (nach der ausführlichen Ausmalung der Unterschiede zwischen den Menschen und ihrem unterschiedlichen Gebrauch der Gaben, mit denen sie von der Natur ausgestattet wurden, J. P.) viene la distinción efectiva que se observa entre los individuos de la sociedad más liberalmente establecida. Si el principio de la igualdad política es generalmente reconocido, no lo es menos el de la desigualdad física y moral. La naturaleza hace a los hombres desiguales, en genio, temperamento, fuerzas y caracteres. Las leyes corrigen esta diferencia porque colocan el individuo en la sociedad para que la educación, la industria, las artes, los servicios, las virtudes, le dan una igualdad ficticia, propiamente llamada política y social" (Simón Bolívar, "Discurso de Angostura", in: ders., Escritos políticos, a.a.O., S. 60). Bolívar geht hier auch klar über San Martin hinaus, etwa wenn dieser in aristokratischem Sinne die Aufrechterhaltung von Rangunterschieden auch als Gesetzesaufgabe begreift. Aus der mit Bolívar geteilten Grundannahme, die für die Zurückweisung zeitgenössischer, aber unter unvergleichbaren Bedingungen gereifter Demokratiemodelle für beide wichtig war, zieht jener andere Schlüsse: "Creo que es necesario, que las constituciones que se den a los pueblos estén en armonía con su grado de instrucción, educación, hábitos y género de vida, y que no se les deben dar las mejores leyes, pero sí las más apropiadas a su carácter, manteniendo las barreras que separan las diferentes clases de la sociedad, para conservar la preponderancia de la clase instruida y que tiene que perder" (San Martín, zit. nach Liévano Aguirre, Indalecio, Bolívar 1783-1983, Bogotá 1971, S. 251). Die Auseinandersetzung zwischen den zwei Verfassungskonzeptionen war zu Bolivars Zeiten so entscheidend wie heute und drückt sich ganz aktuell in den Versuchen aus, bioethische Normen als Gesetze auszuarbeiten. Die von Bolívar festgestellte Unterschiedenheit als Grundeigenschaft der Moderne drückt sich heute in Gestalt der nicht abreißenden Kette der "Schismen der Moralen" (Emile Dürkheim) aus, deren Koexistenz nicht anders als durch juristischen EingrifTsminimalismus möglich ist. "Aus diesem Grunde hat die neuzeitlich-moderne Gesellschaft zwischen Recht und Moral, Legalität und Moralität unterschieden, und ein Bezug auf Ethik, der hinter diese Unterscheidung zurückginge, müßte sich mit Recht den Vorwurf eines Plädoyers für die Prämoderne zuziehen" (Ludger Honnefelder, "Wissenschaft und Ethik. Der Menschenrechtsgedanke als Grundlage einer europäischen Konsenses", in: Bildung und Wissenschaft, 2/98: Bioethik, Bonn 1998, S. 7). Ethische Normenbegründung für Wissenschaft und Politik operiere heute "unter der Bedingung einer immer schmaler werdenden Zone von Prinzipien, die als zustimmungsfähig unterstellt werden können" (L. Honnefelder, a.a.O., S. 8). Vgl. auch die Kritik der Ignorierung dieser Zusammenhänge beim Versuch, bioethische Normen als Gesetze auszuarbeiten bei Noberto Campagna "Von der Bioethik zum Biorecht - Demokra57
en politischen Verhältnisse könne die Unterschiedlichkeit der Orte in der Gesellschaft abmildern und ihren jeweiligen Zugang zu den immateriellen und materiellen Gütern egalitärer gestalten. Ihre Herausforderung bestehe andererseits gerade darin, daß innerhalb der durch sie neugeschaffenen, garantierten gesellschaftlichen Grundbedingungen jene individuelle Ungleichheit zu einer Quelle der Bereicherung und der Vielfalt werde.' 23 Drittens sei aus dem gleichen Grunde die Demokratie nicht nur die freieste, sondern auch die schwächste, anfälligste und am höchsten gefährdete aller Regierungsformen. Die kraft einer höheren Ordnung legitimierte Unterschiedlichkeit der Orte in der Gesellschaft sei zugleich das stabile Fundament vordemokratischer Staatsformen gewesen. 124 Die Demokratie dagegen, in der die Angleichung dieser Orte tendenziell zu- und die Prädetermination der Lebenschancen der Einzelnen tendenziell abnähmen, basiere auf der Leistung und Verantwortung ihrer Mitglieder und müsse beständig aktiv von unten getragen werden. Die Gefahr des Umschlags in Chaos und Anarchie sei ihr strukturell inhärent. Nach ihrer Geschichtlichkeit und nach den zentralen Überlegungen zu Problemen der Demokratie als der freiesten Staatsform sei schließlich als vierter und letzter Grundbaustein in der bolivarianischen Tradition die Überzeugung beider Denker genannt, daß die komplizierte Frage nach der eigenen Herkunft und Identität immer eine zentrale Rolle zu spielen habe. 125 Alle anderen Fragen, sowohl die nach der Geschichte wie die tietheoretische Übersetzungsprobleme", in: Mathias Kettner, Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt/M 2000, S. 282f. 123 "Es una inspiración eminentemente benéfica, la reunión de todas las clases en un estado, en que la diversidad se multiplicaba en razón de la propagación de la especie" (Bolívar, a.a.O., S. 60). 124 "Que se fortifique, pues, todo el sistema del Gobierno y que el equlibrio se establezca, de modo que no se pierda, y de modo que no sea su propia delicadeza, una causa de decadencia. Por lo mismo que ninguna forma de Gobierno es tan débil como la democracia, su estructura debe ser de mayor solidez; y sus instituciones consultarse para la estabilidad. Si no es asi, contemos con que se establece un ensayo de Gobierno, y no un sistema permanente: contemos con una Sociedad díscola, tumultuaría y anárquica y no con un establecimiento social, donde tengan su imperio la felicidad, la paz y la justicia" (ebenda, S. 69). 125 "Séame permitido llamar la atención del Congreso sobre una materia que puede ser de una importancia vital. Tengamos presente que nuestro pueblo no es el europeo, ni el americano del norte, que más bien es un compuesto de Africa y de América, que una emanación de la Europa; pues que hasta la España misma, deja de ser Europa por su sangre africana, por sus instituciones, y por su carácter. Es imposible asignar con propiedad, a qué familia humana pertenecemos. La mayor parte del indígena se ha aniquilado, el europeo se ha mezclado con el americano y con el afrícano, y éste se ha mezclado con el indio y con el europeo. Nacidos todos del seno de una misma madre, nuestros padres diferentes en origen y sangre, son extranjeros, y todos difieren visiblemente en la epidermis; esta desemejanza trae un reato de la mayor trascendencia" (ebenda, S. 59). Die fortwahrende weitere Vermischung der Rassen sieht Bolívar klar als Tendenz der Zukunft. Deshalb beruft er sich in Guayaquil unter anderem auf sie als Argument gegen die von San Martin propagierte, "exotische" Monarchie in der Diskussion um die richtige künftige Staatsform. "Ni nosotros, ni la generación que nos sucede verá el brillo de la República que estamos fundando. Yo considero a la América en crisálida; habrá una metamorfosis en la existencia 58
nach künftigen gesellschaftlichen Projekten, haben hier ihren Angelpunkt. Seit der "Entdeckung" und anschließenden Eroberung durch die Europäer vor 500 Jahren hat eine auffallige Mehrheit unter den theoretischen Ansätzen aus Lateinamerika quer durch alle Wissensgebiete stets die Spannung zwischen Fremd- und Selbstbestimmtheit mitreflektiert und teilweise zum eigenständigen Thema gemacht. Mit diesem Identitätsproblem korrelliert das Thema dieser Arbeit, indem sie die typische und bei Bolívar in klassischer Ausformung vorfindbare Koexistenz soziobiologischer, nach der rassischen Identität fragender Kategorien mit einem geschichtlich-sozialen Ansatz für die Deutung historisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit untersucht. Ausgehend von diesen Grundannahmen stimmen Sarmiento und González in einigen wesentlichen Punkten überein, wobei für beide das bolivarianische Projekt weit davon entfernt ist, verwirklicht zu sein. Als Vermächtnis zeige es den Weg, den die Geschichte in Südamerika im Hinblick auf die Befreiung seiner Gesellschaften erst noch finden muß; entsprechend kritisch fallen die Bestandsaufnahmen ihrer jeweiligen Gegenwarten bei beiden aus, die Kennzeichnung der vorgefundenen Mängel steht bei beiden im Vordergrund. Das wichtigste, beiden gemeinsame bolivarianische Motiv in ihren Beschreibungen dieses Weges ist die Ablehnung eines Regionalismus, den Nutznießer und lokale Führer zur Sicherung örtlicher Pfründe und Zementierung regionaler Machtstrukturen verteidigten. Dieser kritische Begriff des Regionalismus konnte sich ebenso sehr auf separatistische Bewegungen innerhalb der neuentstandenen Staaten wie auch auf Feindseligkeiten und Abgrenzungen zwischen diesen erstrecken. Im Sinne des bolivarischen Fernziels der Überwindung dieser Staaten ließe sich also auch von einer Ablehnung des Nationalismus sprechen, wobei der gegen Europa gerichtete Kontinentalismus weder immer scharf von nationalistischen noch von anti-nordamerikanischen Diskursen geschieden ist. Sarmientos wiederkehrende Appelle zur Überwindung des Nationalismus waren schon nicht mehr zeitgemäß, hatte doch der Ausgang des Paraguaykrieges 1865-1870 Argentinien eindeutig geschwächt, zudem von den anderen spanisch-amerikanischen Republiken isoliert und insgesamt die nationalen Selbstentwürfe der kriegführenden Staaten als auf mächtige Armeen gestützte, gegeneinander abgegrenzte Einheiten gestärkt.126 Der Krieg fue el producto muy complejo de un problema de equilibrio de poder en el Río de la Plata: de la megalomanía de Francisco Solano López, dictador del Paraguay; de las ansiedades expansiofísica de sus habitantes; al fin habrá una nueva casta de todas las castas que producirán la homogeneidad del pueblo. No detengamos la marcha del género humano con instituciones que son exóticas como he dicho a Ud., en la tierra virgen de América" (zit. nach dem Zeugnis von Rufino Guido, in: de la Puente Candamo, José, Obra gubernativa y epistolario de San Martín, 2 Bde. Lima 1976, Bd. 2, S. 177). Am Rande sei vermerkt, daß große Standbilder von Bolívar und von San Martin an zentralen Punkten in Bogotá und in Buenos Aires im 19. Jhdt. aufgestellt wurden, allerdings in beiden Fällen nicht vor den Regierungssitzen, d. h. also weder vor dem Palacio San Carlos, damals Regierungssitz in Bogotá, noch vor der Casa Rosada. 126 Vgl. Hans Vogel, "Argentinien, Uruguay, Paraguay 1830/1852-1904/1910", in: Buve/Fisher (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2, S. 697f.
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nistas del Brasil; de la debilidad de la República Oriental del Uruguay; y de las alianzas de Mitre y sus amigos, los colorados uruguayos. Todos estos factores derivaron en una guerra que duró cinco años y no produjo ningún beneficio al país (Argentinien, J. P.) en ningún sentido;
und stellte eine der großen Belastungen für Sarmientos Präsidentschaft dar. Ein anderes, uneingelöstes Motiv Bolivars, die schwierige Suche nach der eigenen Identität, ohne die die eigenständige demokratische Entwicklung des jungen Kontinents nicht glücken werde, wurde für González zum weiteren zentralen Ziel seiner Publikationen. Die These von der Verdrängung der eigenen Geschichte und den Anleihen bei externen Organisationsmustern als Plomben für das Selbstwertgefühl war bestimmend für sein Denken und dessen kontroverse Aufnahme.128 Schon im Prolog zum Werk Uber Rassenharmonie und -konflikte bemüht Sarmiento die griechische Säulenarchitektur, um an die Beständigkeit und Epochenunabhängigkeit großer Formen und Ideen zu erinnern, und bezieht sich dann auf einen gemeinsamen Weg Amerikas, obwohl doch beide Hälften im Moment ein so unterschiedliches Äußeres haben. Pero la América tiene otros vínculos que la llevan a un común destino, acelerando su paso los retardatarios a fin de que la América de uno y otro lado del suprimido istmo sea una facción nueva de la humanidad.129
González bezieht sich affirmativ auf Bolívar: "Crear una gran patria en América fue el ideal que apareció en él, al mismo tiempo que él apareció en brazos de su madre; un gobierno fuerte, central fue su método."130 Gegenüber dem bei beiden häufig unscharf und bisweilen mit "Staat" austauschbar verwendeten Begriff der nación betont patria die Gemeinsamkeit von Herkunft und politischen sowie kulturellen Interessen. Mit der Parteinahme für den Zentralismus, mit der sich beide auch in der politischen Debatte demonstrativ in die bolivarianische Tradi-
127 Luna, a.a.O., S. 116. 128 In dem Essay La franja amarilla gibt der bedeutende zeitgenössische Politikwissenschaftler William Ospina Buitrago den bekannten, selbst eine historische Konstellation spiegelnden Spott wieder, "que en Colombia los ricos quieren ser ingleses, los intelectuales quieren ser franceses, la clase media quiere ser norteamericana y los pobres quieren ser mexicanos." Wenig später, nach einer Kritik des Zweiparteiensystems, das seine, möglicherweise einstmals existente, dynamisierende und demokratische Funktion längst abgelegt habe und zum "doble partido liberal conservador cuyas dos cabezas siempre están en desacuerdo en las minucias mezquinas del reparto y siempre de acuerdo en la lógica general de la ambición y del saqueo" degeneriert sei, folgt ein Überblick über die Gegentradition in Kolumbien. Über González heißt ei da: "Ahí está la obra lúcida, original, audaz y profundamente comprometida con el país, del maestro Fernando González" (William Ospina Buitrago, El proyecto nacional y la franja amarilla, Vledellín o. J., S. 22f„ 27 u. 29). 129 Sarmiento, Conflicto y armonías I, a.aO., S. 21f. 130 González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 133.
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tion stellen, 131 beziehen sie sich nicht nur auf die umstrittene Methode, der Demokratie eingedenk ihrer Geburtsschwächen und ihrer Ungeschütztheiten mit nichtdemokratischen Instrumenten zum Durchbruch zu verhelfen, sondern auch auf die Vision einer kontinentalen Einheit. In ihrer Art, Sozialforschung zu betreiben, haben Sarmiento und González im Bemühen, die Heterogenität des Stoffes zu bewältigen, zu ähnlichen Formen gegriffen und dabei selbst hybride Texte geschaffen. Diese Benennung beansprucht nicht, den Begriff einer weiteren Textgattung zu entwerfen; vielmehr handelt es sich um eine offene, d. h. nicht endgültige und nicht begrenzende Bezeichnung der Sorte von Texten wie der zu behandelnden von Sarmiento und González, auf die zutrifft, was Julio Ramos fur die hibridez de la crónica ausführt. 132 Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt Ricardo Piglia in seiner Untersuchung Sarmientos unter der Fragestellung nach der Form von dessen Textproduktion. On the one hand, Facundo is the kernel of the state... on the other, it is the kernel of the Argentine novel. Possessing something of the prophetic and the utopic, it produces a mirage effect: within the vacuum of the desert, whatever one hopes to see shines as if real. The book is constructed between the novel and the state: anticipating and announcing them both, it stands between these two antagonistic forms. Facundo is neither José Mármol's Amalia nor Juan Bau131 Der programmatische und demonstrative Bolivarismus wird z. B. in Sarmientos Einleitung zur ersten Ausagbe des Facundo schlagend deutlich. Die aus der Einleitung von 184S stammende, nachfolgend zitierte Passage könnte sowohl ihrem Stil wie ihrer Emphase nach von beiden Autoren geschrieben worden sein; González zitiert sie in seinem Santanderbuch. "Pero si San Martín hubiese tenido que encabezar monotoneras, ser vencido aquí, para ir a reunir un grupo de llaneros por allá, lo habrían colgado a su segunda tentativa. El drama de Bolívar se compone, pues, de otros elementos de los que hasta hoy conocemos; es preciso poner antes las decoraciones y los trajes americanos, para mostrar en seguida el personaje. Bolívar es todavía un cuento forjado sobre datos ciertos; a Bolívar, el verdadero Bolívar, no lo conoce aún el mundo; y es muy probable que cuando lo traduzcan a su idioma natal, aparezca más sorprendente y más grande aún" (Sarmiento, Facundo, a.a.O., S. 6f; vgl. González, Santander, a.a.O., S. 22 und 59). 132 Vgl. Ramos, a.a.O., S. 12f. Mit der ungleichen und uneinheitlichen Modernisierung, mit der Abwesenheit eines arbeitsteiligen und differenzierten Kulturbetriebes nach europäischem Muster, der dort das hauptsächliche Produktions- und Reproduktionsfeld des Schrifstellers ausmacht, und mit der Omnipräsenz aller Publikationsformen, von der Zeitung über Zeitschriften, Bücher bis hin zu aller Art halböffentlichen Formen, die zu benutzen und auf deren Diskurse sich mehr oder weniger einzulassen der Schriftsteller in Lateinamerika gezwungen ist, begründet Ramos in erster Linie das von ihm als charakteristisch analysierte Spielen mit der Heterogenität der textlichen und disziplinbezogenen Formenwelt, das er exemplarisch an der Chronik entwickelt. Mit dieser Freiheit konnten Denken und Schreiben sich ihre Autonomie erobern und bewahren. "El análisis de las aporías irreductibles que hasta hoy ha confrontado la autonomización literaria quizás podría contribuir a explicar la heterogeneidad formal de la literatura latinoamericana, la proliferación, en su espacio, de formas híbridas que desbordan las categorías genéricas y funcionales canonizadas por la institución en otros contextos.... procederemos lateralmente, leyendo formas, como la crónica, donde la literatura representa, a veces ansiosamente, en el periódico, su encuentro y su lucha con los discursos tecnologizados y masiflcados de la modernidad" (ebenda, S. 12). 61
lista Alberdi's Bases: it is composed of the same but transformed material, like a crossbreed or a double form.133
Genau um diese transformierende Bearbeitung des Materials geht es, wenn das Merkmal der Stilkreuzung näher untersucht werden soll. Etwas später beschreibt Piglia dies so: "Its (des Charakters der crossbreeding, J. P.) basic traits are those of juxtaposition and the mixture of fragmented genres: we find simultaneously the essay, journalism, private correspondence, historical chronicles, and autobiography."134 Die Heteronomie des zu bearbeitenden Materials läßt es nicht zu, bei einem einzigen der herkömmlichen Stilkodices zu bleiben. Zugleich will auch Piglia nicht von einer neuen Stilgattung sprechen, sondern vielmehr von einem angemessenen Mittel, die Wahrheit der ungleichzeitigen und zerrissenen Segmente des bearbeiteten Gegenstandes auszudrücken. An den sozialkritischen und satirischen englischen Romanen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, an Dickens, Sterne, Swift und Swinburne, die das Zusammentreffen heterogener Klassen und Schichten in dem beengten Raum der neuentstehenden Großstädte thematisierten, entwickelt der russische Literaturhistoriker und -Soziologe Michail M. Bachtin das Hybride als zentrale Kategorie seiner Ästhetik. Die Ästhetik als die Formenlehre verwirkliche sich vollständig in der vom Menschen geschaffenen Kunst, der der unendliche Formenreichtum der Natur zum Vorbild diene. Daher entwickelt Bachtin seine Kategorien anhand der höchsten Stufen der Kunst, nicht ohne darauf zu verweisen, daß in den gegenüber diesen Konstrukionen unreineren und zugleich unendlich vielfältigeren Formen Natur und Mythos selber hybride Gegebenheiten ausbilden. Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei Sprachen, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen. Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale - kompositorische und syntaktische - Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes, oft gehört sogar ein- und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente.135 133 Piglia, a.a.O., S. 136. 134 Ebenda, S. 138. 135 Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/M 1979, S. 195; vgl. auch ebenda, 219ff. Das gesamte vierte Kapitel ist den hybriden Formen gewidmet. Als gelungenes Beispiel einer hybriden Konstruktion kann die Miniatur Un amanecer in González1 Bolivarbuch (González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 69) genannt werden. Daß sie ein Stück impressionistische Prosa, eine Aufzeichnung während eines frühmorgendlichen Spaziergangs durch Medellin innerhalb eines diskursiven Textes ist, hebt sie allein noch nicht so sehr hervor, da González häufig seine Reflexionen durch Protokolle der Vorgänge beim Reflektierenden begleitet. In Un amanecer vermischen sich aber auch zwei oder mehrere soziale Sprachen, wenn nacheinander von den Chauffeuren, die eine erotische Szene durch das halbgeöffnete Fenster eines Hauses am östlichen Rande des Parkes beobachten (wie der Autor selbst auch), dem Verkrüppelten, der, bevor diese öffnen, vor den Läden ein wenig saubermacht, und schließlich von Sokrateslektüre des
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In den Zeitschriften El Zonda und Antioquia haben Sarmiento bzw. González sich ihre unabhängigen Publikationsorgane und damit Foren zur Erprobung und Entwicklung dieser Form im Kontakt mit der interessierten Leserschaft geschaffen.136 Vielfaltigste Typen an Dokumenten und Quellen, wiedergegebene und direkte Reden Dritter, heterotopische Texte also wurden auch in die großen Werke montiert. Dazu gehörten Dekrete und Verlautbarungen ebensogut wie Fundstücke, z. B. die Küchenbestelliste eines einfachen Haushaltes in Bogotá zu Bolivars Zeiten oder die Aufzeichnungen des Augenzeugen einer synkretistischen Riten huldigenden Prozession in Córdoba. Auch die Anordnung ist oft nicht chronologisch, sondern assoziativ. Rekonstruktion historischer Denkformen der Protagonisten, Aufzeichnung gesicherter Fakten und eigene assoziative Kommentare verflechten sich zu einem engmaschigen Gewebe und ermöglichen großteils dichte Beschreibungen der Historie. Eine bevorzugte Form beider Schriftsteller ist der Aphorismus, der ihrem nicht-systematischen Vorgehen und ihrer Fähigkeit, in der genauen Beschreibung des Besonderen die weiterreichende Perspektive zu vermitteln, hervorragend entspricht. In Pensamientos de un viejo begründet González seine Wahl der aphoristischen Form bei Textanlässen, die auf die empathische Wahrnehmung des Lesers abzielen. Un aforismo solo puede comprenderlo el que lo haya vivido; un aforismo no enseña. Hace que el lector se descubra a si mismo. Si éste no tiene en la alforja de su experiencia el porqué, el alma de la sentencia, ésta es para él una cosa vacía.137
Der Aphorismus sei sowohl Frucht und Wesen einer intensiven Meditation, wie er auch zum Ziel habe, den Leser zum Meditieren anzuregen. González, für den die einfache, von allem klassizistischen Pomp gereinigte Sprache stets ein zentrales Anliegen war, gebraucht die Vokabel des Meditierens durchweg im Spannungsverhältnis zum nichterfaßten, nicht-durchdringenden polemisch auch mal mit rumiar bezeichnetem Reproduzieren und stellt sich damit in eine dem herrschenden Diskurs gegenüber kritische Tradition in Kolumbien, die sich bereits in José Eusebio Caro andeutet, wenn dieser über den "neuen herrschenden Geist" nach der Unabhängigkeit schreibt:
Abends zuvor die Rede ist. Den verschiedenen Sprachen sind voneinander differenzierte Grade an syntaktischer Komplexität und lexikalischen Registern zugeordnet: das erzählende Ich beschreibt das Paar hinter dem Fenster mit sehr genauen Adjektiven ("un hombre alto, barroso y cetrino"), die Reflexion kommt auf einen elementaren Gott zu sprechen und bedient sich ungewöhnlicher, reflexiver Konstruktionen ("En el amor se es todo sexo y en la ira se es todo puñal"). Der Verkrüppelte, el tullido wird mit regiolektischen Wendungen beschrieben: "Se arrastra gateando", und gerade die Beschreibung seiner Würde mündet überzeugend in den Sätze: "Da la impresión de ser igual a u n o. No se le trata como desgraciado" (alle Zitate s. ebenda). 136 Die Gründer und Direktoren der beiden Zeitschriften waren zugleich auch ihre nahezu einzigen Autoren. La Zonda, wegen der Sarmiento ins Exil nach Chile mußte, erschien nur 1839 und 1840. Antioquia erschien in 17 Nummern zwischen 1936 und 1945. 137 González, Pensamientos de un viejo, a.aO., S. 187.
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Raciocinar saben todos, meditar pocos. La razón es esclava del raciocinio; dadas las premisas es forzosa la consecuencia; sólo en la meditación de los principios la razón es de veras independiente y libre.138
In ihrem Bestreben, das Heteronome darzustellen und dem Anderen, dem Mischling, der im offiziellen Diskurs nicht aufgehoben ist, eine Stimme zu leihen, gelangen beide auch zu vergleichbaren Methoden, die ich phänomenologisch nenne. Den Hauptteil der behandelten Werke machen Beschreibungen und Zitierungen aus, sehr viel mehr als Deduktionen und theoretische Schlüsse. Detailfreude und Eklektizismus bestimmen das Vorgehen. Bei González tritt mit der von ihm selber als "emotiv" bezeichneten Methode der bewußte Einbezug des Standpunktes und der Voraussetzungen, der reflektierten wie der emotionellen, des Betrachters in die methodologische Reflexion hinzu. Gegenuber niemandem bemüht González sich um schärfere Abgrenzung als gegen den vorherrschenden Wissenschaftlertypus unter seinen Landsleuten, die ihr Wissen ausschließlich aus Büchern, vornehmlich europäischen, bezögen. Conocí, por ejemplo, al doctor Muñoz, el sabio, el que sabía las alturas todas de los Andes y la geología toda de Suramérica. Pues no había subido a la próxima colina ni había cavado un hoyo; todo estaba en su cuarto lleno de libros europeos. Todos son grandes historiadores y describen las batallas sin irlas a estudiar sobre el terreno.139
Was mitunter zunächst wie eine unangemessene Parenthese zum Ausdruck eigener Gefühlslagen anmutet, ist in Wahrheit das diszipliniert angefertigte Protokoll der Einstellungsveränderungen, die durch den Fortgang der Untersuchung hervorgerufen wurden und dadurch zugleich kontrolliert werden sollen. Dieses Verfahren erweist sich als fruchtbar sowohl, wenn es um die Konfrontation mit seinen eigenen Vorurteilen geht, z. B. gegen das Hybride anläßlich eines abgewiesenen Annäherungsversuches auf einem Platz in Caracas bei Studien zur Popularität Juan Vicente Gómez', als auch, wenn die eigenen Idealisierungen, etwa Simón Boltvars, im Zuge der Studien sich als so nicht länger haltbar erweisen.140 Mit der getroffenen fiel die Wahl denn auch auf zwei außer138 José Eusebio Caro, Sobre el principio utilitario, Bogotá 1842, zit. nach Marquínez. Sobre filosofia española y latinoamericana, a.a.O., S. 153. In Santander schreibt González dem in seinen Augen devoten Charakter des Protagonisten wiederholt das "Wiederkäuen" zu, sogar dann, wenn der strenge Pfarrer Omafla den jungen Francisco zu Unrecht eines Vergehens bezichtigt, es diesem aber dennoch opportun erscheint, den nicht zutreffenden Vorwurf zu wiederholen. Vgl. die Episode, in der Santander zu Unrecht eines unstatthaften Verhältnisses zur Köchin bezichtigt wird, das in Wirklichkeit der Pfarrer selbst ehedem pflegte, in: González, Santander, a.a.O., S. 67. 139 Fernando González, Don Mirócletes, Medellín 1932, S. 123. 140 Um seinen Gegenstand angemessen zur Darstellung bringen zu können, kommt - nach González der Historiker nicht umhin, zu versuchen, sich auch emotional in die Rolle des Zeitgenossen des betreffenden Ereignisses zu begeben. Dies ist ein Zugang, der den perspektivgebenden des später Geborenen und mehr Wissenden ergänzt. Damit diese Hineinversetzung in eine frühere Situation und infolgedessen deren vorübergehende Wiederbelebung für einen Moment erfolgreich sind, bedarf es einer autosuggestiven Anstrengung des Forschers (vgl. González, Santander, a.a.O., S.
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ordentlich originelle Denker, die der weiteren Entwicklung des Diskurses des mestizaje und des Hybriden wesentliche Anstöße gaben. 2.3 Zur Methode Für das oben näher umrissene Ziel, die Inhalte bestimmter Schriften zweier wichtiger Denker aus der bolivarianischen Tradition zu rekonstruieren und darzustellen und dabei ihre Behandlung des Problems der Rassenmischung und des Hybriden in den lateinamerikanischen Gesellschaften in den Vordergrund zu rücken, soll ein hermeneutisches Vorgehen befolgt werden. Der Ausgangspunkt der Autonomie der Texte, von denen zunächst jeder einzelne als eigener kleiner Mikrokosmos betrachtet wird, birgt den dem Erkenntniszuwachs dienenden Vorteil, ihn nicht immer schon als ein festes Programmelement in die Aussageabsicht seines Autors einzuordnen. Hermeneutik wird dabei nicht in dem Sinne einer allgemeinen Theorie der Geisteswissenschaften verstanden, die als philosophisches System darstellbar ist, sondern vielmehr als die aus den Anstrengungen der Theorie und Praxis der Übersetzung hervorgegangene Methode des um Verstehen bemühten Umgangs mit Texten. So wird in pragmatischem Sinne von Schleiermachers Dialektik, derzufolge die Sprache so sehr als Begrenzung der Subjektivität wirke, wie diese jene als kreative Energie individualisiere, ausgegangen und besonderes Augenmerk auf den Sprachgebrauch der Autoren gelegt. Wolfram Wilss, dessen Schriften in Deutschland den vielleicht wichtigsten Anstoß zur Emanzipation der Übersetzung von einer weitgehend der Beliebigkeit ausgesetzten und systematisch kaum erfaßbaren Praxis zu einer Verfahrensweise gaben, deren Schritte theoretisch begründet werden können und müssen, legte die Ideen der philosophischen Hermeneutik bei Schleiermacher und Gadamer in der Absicht einer Methodik des Textverständnisses aus. Bei der methodischen Fundierung der Analyse der Struktur des Textes als Gewebe aus bestimmten, wiederkehrenden Wörtern und Wendungen an bestimmten Stellen und der Analyse der Sorte des Textes ging es ihm stets darum, zwischen dieser formalisierbaren Methode und dem Gesamtverständnis als schöpferischem Akt keinen Widerspruch entstehen zu lassen. 31). In seiner Einleitung zu González' Buch über Juan Vicente Gómez, Mi compadre, das er nicht als Traktat zur politischen Moral, sondern als eine psychologische Rekonstruktion und als ein soziologisches Bild mit sporadischen, äußerst scharfen und intelligenten kritischen Reflexionen ankündigt (vgl. González, Mi Compadre, a.a.O., S. 11 f.), beschreibt der ecuadorianische Philosoph und fünfmalige Präsident José María Velasco 1 barra die Methode González': "El historiador moderno no se preocupa únicamente con ver el hecho objetivo y con entender lógicamente las causas y los efectos. Esto no basta. Hay que sentir el hecho. Hay que revivir el acontecimiento, lo pasado, pero revivirlo real e intensamente, es decir sentirlo, intuirlo emocionalmente. El historiador, el biógrafo tienen que reproducir en su interioridad y con una intensidad que sea vida, esas ráfagas de sentimientos, emociones y pasiones para que la pluma retrate bien el hecho y no se reduzca a formar caricaturas, a enunciar aprobaciones artificiosas o censuras irracionales. El historiador que siente, rinde homenaje a la justicia, infunde espíritu al acontecimiento y manda que el pasado se levante de la tumba para que aleccione el presente."
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Durch seine Unausschöpflichkeit stellt das Werk Fragen an das Leben und an seine Zeit: es stellt sie in Frage; doch eben nicht nur seine Zeit, sondern jede kommende, die sich zur Einlösung seines immer noch unvollendeten Sinnes aufrufen läßt. Da alle Deutung schöpferisch und alle Schöpfimg ein factum ex improvisio' ist, vermittelt jede divinatorische Lektüre ein Erlebnis von Freiheit.141 Aus diesen hermeneutischen Grundannahmen kann Wilss folgern, daß es, ebenso w i e verschiedene Deutungen, auch verschiedene gute Übersetzungen desselben Werkes geben kann. Die prinzipiell offene Anzahl an Deutungen ergibt sich aus dem sich immer wandelnden Horizont der Interpreten; es kann zu immer neuen "Verschmelzungen" mit den Horizonten des Werkes kommen. 142 Infolge des Einbezugs der (immer neuen) Voraussetzungen, die der Leser mitbringt, wird die Hermeneutik zu einer Weise, Auslegungshypothesen zu formulieren. Mit der Erhebung dieser Voraussetzungen zu einem Gegenstand des Erkenntnisprozesses selber ist die so verstandene, pragmatische Hermeneutik der Methode González' sehr nahe, der sich stets um die kritische Bewußtmachung und Reflexion der eigenen Vorurteile bemühte. Wilss argumentierte unermüdlich gegen den Anspruch auf Voraussetzungslosigkeit und entwickelte dagegen sein Konzept der hermeneutischen Erfahrung, für die die Selbstreflexion wesentlicher Bestand141 Manfred Frank, "Vieldeutigkeit und Ungleichzeitigkeit. Hermeneutische Fragen an eine Theorie des literarischen Textes",, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 57, München/Paderborn 1986, S. 29. 142 Vgl. Hans Georg Gadamer, Hermeneutik I und II: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1986. Der Autor kommt schon in der Einleitung auch auf methodische Probleme seines Konzepts der Horizontverschmelzung zu sprechen. Hier ist natürlich nicht der Ort, ausführlich auf sie einzugehen. Es soll lediglich noch einmal der innere und wesentliche Zusammenhang von Hermeneutik und Obersetzung, beide als kreative geistige Anstrengungen verstanden, hervorgehoben werden. Manfred Frank schreibt in seiner Einleitung zu Schleiermachers Hermeneutik und Kritik: "Was das andere betrifft, so behauptete Schleiermacher nicht nur nicht, daß die 'Divination' - als 'Erraten' - die Hermeneutik als positive Wissenschaft fundiere - 'Wir verzichten auf solche AllgemeingQltigkeit' - ; er sagt das Gegenteil: Das Ziel der technischen Interpretation (vollkommenes Verstehen des Stils) ist nur durch Annäherung zu erreichen... Individuelle Anschauung ist nicht nur niemals erschöpft, sondern auch immer noch der Berichtigung fähig... Im Grunde gebe die Individualität ihr Geheimnis nie ganz preis; darum das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will" (Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. und mit einer Einleitung von Manfred Frank, Frankfurt/M, 1977, S. 52). Vor dem Hintergrund dieser Auffassung des Verstehensprozesses als schöpferischen und unendlichen gewinnt die berühmte und vielzitierte Schleiermachersche Forderung, daß man eine Rede zunächst ebensogut und dann besser als ihr Urheber zu verstehen sich zu bemühen habe, ihren Sinn. Das "divinatorische Verfahren", das intuitive empathische Erfassen (engl.: to devine, frz.: deviner, span.: adivinar) hat in der modernen Übersetzungs- und insbesondere in der Dolmetschtheorie und -ausbildung seinen systematischen Ort. Und mancher Obersetzung kann ja glücken, einem Sinn deutlicher zum Ausdruck zu verhelfen als das Original. Dieser Umstand wird durch die philosophische Tradition der Beschäftigung mit dem Übersetzen gestützt, etwa in den noematischen Beziehungen bei Edmund Husserl oder in der Idee der reinen Sprache bei Walter Benjamin. 66
teil der komplexen Sinnrekonstruktion eines Ausgangstextes in einer Zielsprache und Zielkultur ist. Er (der literarische und der geisles- und sozialwissenschaftliche fachsprachliche Text, J. P.) kann durchaus so beschaffen sein, daß der Empfänger aufgrund einer anderen Welterfahrung ins Leere läuft, daß er Leerstellen ausfüllen. Ungesagtes oder nur Angedeutetes ergänzen muß, daß eine Kluft zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz bleibt.143
Wilss grenzt diese auf die Produktivität und Subjektivität des Empfänger-Lesers angewiesene "(Mit)Konstitution des literarischen Textes durch den Betrachter und seinen spezifischen Blickwinkel" zwar zunächst gegen "die pragmatische Diskursivität" ab, durch die das Autor-Leser-Verhältnis beim fachsprachlichen Text gekennzeichnet sei, schränkt dann aber diese Unterscheidung zwischen den Textsorten ein und ordnet den geistes- und sozialwissenschaftlichen, fachsprachlichen Texten explizit eine den literarischen Texten vergleichbare Zugangsform zu, da auch bei ihnen von "einer sachverhaltsbedingten Konvergenz zwischen den senderseitigen Textproduktionsbedingungen und den empfängerseitigen Textrezeptionsbdingungen" ebenfalls nicht umstandslos ausgegangen werden könne.144 Die Begründung für die getroffene Auswahl aus den Schriften der beiden Denker wurde oben schon gegeben; die methodischen Leitlinien sollen bei der Darstellung der Gegenstände der Autoren angewendet werden. Wenn dabei in den Abschnitten des vierten Kapitels zu González' philosophischen Ursprüngen in Hegel und Nietzsche die Begrenzung auf seine historischen und politischen Schriften aufgehoben wird, so war neben sachlichen Gesichtspunkten, die natürlich ebenso berechtigt für Sarmiento vorgebracht werden könnten, z. B. was dessen Beanspruchung der englischen Aufklärung für sein Denken anbetrifft, auch die Überlegung ausschlaggebend, daß ganz allgemein für den kolumbianischen Autor sehr viel mehr Nachholarbeit an Information und Interpretation zu leisten ist, weil die vorhandenen Konnotationen und Bezüge nicht immer als bekannt vorausgesetzt werden können. So ist in González' Zitierung des Nietzsche-Ausrufes Soy Europeo nicht nur der plakative Ausdruck von Sympathie mit der lateinamerikanischen Gegenbewegung gegen Positivismus und Utilitarismus zu sehen, die für diese vor allem in dem aggressiven nordamerikanischen Hegemonieanspruch und die ihm zur Seite stehende Rezeption von Herbert Spencer repräsentiert wa-
143 Wolfram Wilss, Übersetzungsfertigkeit. Annäherungen an einen komplexen, übersetzungspraktischen Begriff, Tübingen 1992, S. 127. 144 "In der Tat kann man vermutlich von einer kategorialen Trennung der beiden Textbereiche (des literarischen und des fachsprachlichen, J. P). nicht sprechen, weil einen die Textrealität rasch eines Besseren belehren würde und weil alle Texte Teilbeschreibungen der Bedingungen sind, unter denen wir leben" (Wilss, aa.0., S. 126). Vgl. auch die ausführliche Darstellung des Wilssschen Modells des hermeneutischen Verstehens als Einheit von Rezeption und "Sinngebung" bei Sigrid Kupsch-Losereit, "Kognitive Verstehensprozesse beim Übersetzen", in: Heidrun Gerzymisch-Arbogast u. a. (Hg.), Übersetzungswissenschaft im Umbruch. Festschrift für Wolfram Wilss zum 70. Geburtstag, Tübingen 1996, S. 226ff.
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ren;145 ebensowenig erschöpft sie sich in der Geißelung der nationalistischen Zerteilungen des Kontinents. Sie ist eine verdeckte Anspielung auf den 475. Essay aus dem 8. Hauptstück Ein Blick auf den Staat von Menschliches, Allzu Menschliches, in dem es heißt: Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Brief verkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Kultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nichtlandbesitzer, diese Umstände bringen notwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen mit sich, so daß aus ihnen allen, infolge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muß. Diesem Ziele wirkt jetzt bewußt oder unbewußt die Abschließung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen; dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholizismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Not- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Klassen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man dies einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die Tat an der Verschmelzung der Nationen arbeiten, wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Völker zu sein, mitzuhelfen vermögen.146
Das Bekenntnis zum Europäertum wird von Nietzsche in dem Aufsatz in erster Linie als scharfe Zurückweisung jeglicher Form von Rassismus entwickelt und weltoffen ausgeführt.147 Bei González wird also an manchen Stellen verdeckten Anspielungen148 im 145 González' dem nordamerikanischen und dem europaischen Ausland gegenüber kritische, aber zwischen beidem sehr wohl differenzierende Haltung verbietet angesichts der komplexen Beziehungen des Positivismus zur sozialen Liberalisierung, zum kapitalistischen Fortschritt und zur politischen Macht ohnedies seine schlichte Subsumierung unter einer der beiden Tendenzen. 146 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzu Menschliches, in: Nietzsche, a.a.O., S. 309f. Die programmatische Zitierung Nietzsches findet sich in Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 144, und steht dort neben der Hervorhebung der Arbeit Aristide Briands für die "Estados Unidos de Europa". Rubén Jaramillo Vêlez hat gezeigt, daß es im Kreis um den antioqueflischen Dichter Baldomero Sanin Cano eine Hegel- und Nietzsche-Rezeption gab, die sich auch auf frühe Kommentatoren wie Georg Brandes erstreckte, und die einen Einfluß auf junge oppositionelle Strömungen wie die panidas in Medellin ausübte (vgl. Jaramillo V., Rubén, "La influencia alemana en el surgimiento y desarrollo de la filosofía moderna en Colombia", in: Antei, Giorgio (Hg.), Presencias alemanas en Colombia, Bogotá 1998, S. 41f.). 147 Vgl. ausführlich zu Nietzsches Abscheu vor dem "verlogenen Rassenschwindel" und seinen Anschauungen über die künftige Mischung der Rassen und Nationen: Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M, 1992, S. 475ff. 148 Bachtin unterscheidet innerhalb seines Konzeptes des "zweistimmigen Wortes" zwischen der expliziten Reproduktion oder Benennung des fremden Wortes und der verdeckten Anspielung auf das fremde Wort in der eigenen Rede. Dieses Instrumentarium soll künftig verwandt werden bei der Darlegung von Bezügen zwischen Texten eines oder mehrer Autoren anstelle des unterschiedlich gebrauchten und zunehmend unscharfer werdenden Begriffs der Intertextualität (vgl. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostojewskis, München 1971, S. 222).
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Vergleich zu Sarmiento ausfuhrlicher nachgegegangen; das Gesamtziel der Arbeit bleibt aber, in den historischen Schriften beider Autoren den theoretischen Status der auf die Rassenmischung in den lateinamerikanischen Gesellschaften bezogenen Kategorien, besonders der Hybridität, d. h. die ihnen zugedachte Erklärungs- und Aussagekraft, zu untersuchen. Gemäß den methodischen Prämissen werden die Texte dabei als die Artikulationen und Verbreitungen, kurz als die öffentlichen Produktionen bestimmter Auffassungen und Bedürfnisse ihrer Autoren gelesen. Ihr Bezug auf die Wahrheit der Sache oder auf eine prädeterminierte Bedeutung der Begriffe steht nicht im Zentrum des Interesses. Die historischen Texte von Sarmiento und González werden als bewußt tendenziöse und parteiliche Schriften verstanden, in denen ihre Aussagen über die behandelten Vergangenheiten vor allem ihre kritischen Positionen gegenüber ihren Gegenwarten begründen helfen sollen. Unter diesem Aspekt soll die Darstellung ihrer Texte den Nachvollzug ihrer Forschungen und Gedankengänge erhellen. Wenn spätere historische Forschungen, die sich von den beiden Vordenkern haben anregen lassen, an einigen Stellen ebenfalls referiert werden, z. B. anläßlich bestimmter bevölkerungspolitischer Vor-stellungen Bolivars, so geschieht dies auch nicht in der Absicht, die Auffassungen jener zu "verifizieren", sondern die Probleme, denen sie bei ihren Forschungen begegneten, zu aktualisieren. Für die Geschichtswissenschaft sind die philosophischen Implikationen (der Kontroverse zwischen den an Karl Popper orientierten Internalisten und den an Thomas Kuhn orientierten Externalisten, J. P.) weniger gravierend, da hier nicht der Anspruch erhoben wird, eine objektive Erkenntnis von in der Natur (außerhalb der menschlichen Sphäre) liegenden Tatsachen und Zusammenhängen sei der Prüfstein von IVissenschaftlichkeit. Die Verschiedenheit der logischen Natur der Historie ergibt sich aus der allgemein bekannten Tatsache, daß ihre Theorien nicht experimentell (wohl aber empirisch) falsifizierbar sind. Ein Synkretismus oder Pragmatismus, der von Fall zu Fall zu entscheiden sucht, welche 'internen' und welche 'externen' Faktoren einen bestimmten Wandel besser oder schlechter erklären, wird hier erlaubt sein.149
Wahrheit wird dagegen Annäherungswert bleiben und kann als theoretisches Regulativ dienen. Die beabsichtigte Analyse kann den immanenten Argumentationsgang belegen, nicht die sachliche Richtigkeit der Texte, die hier als der Textsorte der Geschichtsschreibung angehörig rezipiert werden. De manera similar destaca también la conciencia de que la, por fuerza, limitada percepción que de la realidad presente posee el escritor genera una imagen del pasado que es ya una invención propia, una creación literaria y también una imagen de la corriente actualidad que deviene, necesariamente, una exégesis, arbitraria por principio.150
Die vorstehenden methodologischen Reflexionen legen nahe, nicht von dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Fiktion und Dokumentation auszugehen, sondern die Texte als den Untersuchungsgegenstand vor allem in ihrer Eigenschaft als symbolische 149 Christian Simon, Historiographie, Stuttgart 1996, S. 201. 150 Germán Pinto Saavedra, Fernando González y nosotros, Medellín 1995, S. 8.
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Repräsentationen zu betrachten, die untereinander mittels bestimmter Strukturen verknüpft sind. Symbolischer Sinn ist eo ipso unendlich. Wiederholt und insbesondere im berühmten Streit mit Valentin Aisina verteidigt Sarmiento seine Vermischungen und Polarisierungen von Fiktion und Daten unter Hinweis auf den "spontanen" Charakter seiner Arbeit, deren Material das Leben sei. Julio Ramos, von dessen SarmientoInterpretation methodisch ausgegangen wird, präzisiert in seiner Begründung für die Wahl Sarmientos als den typischen Vertreter für "los lugares tan híbridos de la escritura latinoamericana anterior al 80", daß es diesem gelang, neben den vielen Aufgaben, die er seinem Schreiben zuwies, von der Rekonstruktion der Geschichte bis zur Aufklärung des Staates, die Vielstimmigkeit des Wortes zu bewahren, indem er es dem Anderen, der Tradition und dem besonderen Wissen lieh, ohne seine verallgemeinernde Autorität zu beschädigen.151 Jede Auswahl hat etwas Willkürliches; auf den ersten Blick hebt sich das tertium comparationis der Schriften von Sarmiento und González nicht sofort ab. Indem Vergleiche aber ausschließlich entlang der Frage ausgeführt werden, mit welchen Bedeutungen die hybride Ethnizität in den Theoriegebäuden aufgeladen wird und welchen Einfluß soziobiologische Kategorien bei beiden auf ihre soziologische Theoriebildung hatten, wird dem Einwand Rechnung getragen und auch das dem Hinweis auf die Unterschiedlichkeit der beiden Autoren zugrundeliegende Argument entkräftet. Die Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Geschichte von Ideen und untersucht daher einen Ausschnitt aus dem Corpus von Texten, in denen diese Ideen aufgenommen, formuliert und interpretiert, schließlich um diese Neufindungen erweitert hinterlassen wurden. Gerade Sarmientos modernes Selbstverständnis als Schriftsteller rechtfertigt, folgerichtig seine noveleske Lebensgeschichte auch einmal tatsächlich außer Acht zu lassen. Kapitel drei und vier, die die Zusammenfassungen und Kommentierungen zum Corpus der Originalschriften enthalten, folgen demgemäß einem für beide Schriftsteller symmetrisch angeordneten Aufbau. Natürlich werden die Übereinstimmungen zwischen beiden Autoren besonders herausgearbeitet. Insgesamt können dabei die bearbeiteten Originaltexte indes nur kursorisch dargestellt werden. Angesichts der zunehmenden Verwendung des Begriffs hybrid in zahlreichen kultursoziologischen und -philosophischen Analysen der jüngsten Zeit, hinter der die Preisgabe der Hoffnung erkannt werden kann, in der Wirklichkeit die reinen Formen anzutreffen, muß sich der Ausblick auf ganz wenige Theoretiker dieser Richtungen beschränken. Als verdeckte Hinweise bei beiden Autoren waren Bezüge zu früheren und zeitgenössischen Denkern in den Kommentaren zu ihren Schriften bereits aufgezeigt worden. Wie das Differente erlebt, ausgehalten und einbezogen wurde, spielte für beide Denker eine ebenso große Rolle wie die durchschimmernden Homogenitätssehnsüchte. Nur oberflächlich werden Weiterentwicklungen gestreift wie etwa der Begriff der hybriden Kulturen bei Néstor García Canclini, mit dem einer neuen Blickrichtung zum Durchbruch verholfen wurde. Hybridität wurde zu einer Schlüsselkategorie der heutigen, von Massenmigration und der globalen Zirkulation von Waren, Dienstleistun151 Vgl. Ramos, a.a.O., S. 34. Von ebenda stammt auch das eingeschobene Zitat.
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gen, Zeichen und Informationen gekennzeichneten Gesellschaften; zu ihrer Beschreibung bedienen Autoren sich zunehmend hybrider Darstellungsformen. Die unübersehbare Karriere des Begriffes legt jedenfalls Forschungen über die Rolle, die sie in der Theoriegeschichte spielt, nahe und unterstreicht die Aktualität der Fragestellung.152 Die Einheit der Ausarbeitung wird darin gesehen, daß sie Verwendungen und Entwicklungen des Hybriden von Seiten einer sich selbst als bolivarianisch begreifenden Tradition analysiert, deren Fundus an Deutungs- und Projektangeboten bei weitem nicht ausgeschöpft ist.
3. Domingo Faustino Sarmiento als Historiker und als politischer Schriftsteller In seinem großen Werk über Konflikt und Harmonien der Rassen in Amerika als Prolog vorangestellten Brief vom Dezember 1882 an Frau Horace Mann, die Übersetzerin des Facundo ins Englische, zieht Sarmiento eine bittere Bilanz zum Fortschritt der lateinamerikanischen Staaten seit der Unabhängigkeit: "Es un hecho deplorable que aquellas repúblicas estén en condición menos próspera que las colonias que tienen esclavos como Cuba y Puerto Rico."153 Das Ziel der großangelegten Gesellschaftsgeschichte besteht darin, beizutragen zur Überwindung "des Hochmut(s) seiner (Lateinamerikas, J. P.) affektierten Nationalitäten",154 die natürlich nicht im Zurück zur Sklavenherrschaft bestehen kann, sondern zu ihrer Voraussetzung allererst das Studium der eigenen und der Geschichte der anderen Teile des Kontinents hat. Die Beschreibung und Diagnose der Lage dieses Kontinents und im besonderen seines eigenen Landes muß denkbar ungünstig ausfallen: Die Rassenunruhen hätten Mexiko wichtige nördliche Bezirke verlieren lassen, die sich unter Regierungen der USA und Frankreichs in aufblühende Staaten verwandelten. Durch Rassenerhebungen und durch die allgemeine Unruhe infolge verwilderter ländlicher Marodeure seien auch die im alten Vizekönigreich Buenos Aires zusammengefaßten Provinzen zerfallen. Separatistische Bewegungen unter gewalttätigen caudillos machten die Grenzen des Staatsgebiets und das zivile Leben im jungen Argentinien immer noch schwach. Infolge der Unterwürfigkeit und des Desinteresses der Quichua sei auch die frühere politische Einheit mit Hoch-Peru zerbrochen. Sarmiento ist Phänomenologe und beschreibt sowohl die politische, innere und äußere Unsicherheit als auch die nur schleppend in Gang kommende technische, wirtschaft152 Die von Garcia Canclinis Buch über die hybriden Kulturen mitausgelöste Diskursproduktion ist kaum noch übersehbar. Vgl. den von Elisabeth Bronfen herausgegebenen Sammelband Hybride Kulturen, Tübingen 1997. Die vorliegende Arbeit kann davon insoweit profitieren, als sie die Entstehungen der im neuen Diskurs betonten Angelpunkte um Ausgrenzung, um Optionen, die den Ausgegrenzten bleiben und um Wirkungen von Ungleichzeitigkeiten (vgl. Lothar Baier, Keine Zeit, München 2000, darin besonders seinen Aufsatz "Hybridzeit" über die Ungleichzeitigkeiten von Lebenswelten im multiethnischen Kanada) in der Theoriegeschichte aufspürt. 153 Sarmiento, Conflicto y armonías /, a.a.O., S. 16. 154 Ebenda, S. 14.
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liehe und soziale Entwicklung in ihren verschiedensten Facetten: kulturelle und religiöse Bräuche des Volkes, Kriegsverläufe, Episoden zur Verdeutlichung ihrer Eigenschaften, Debatten der Generäle und Politiker, Untersuchungsergebnisse über das Leben der Indios und in der Pampa, Dokumente zur Arbeit und zur sozialen Gemeinschaft in den Missionen der Jesuiten, Kultur- und Verwaltungsgeschichte des Staates und der Städte. Diese Phänomenologie so vielfältiger Bereiche des öffentlichen Lebens wird zur dichten Beschreibung eines Zeitalters. Jedem Gegenstand werden ausführliche Betrachtung und Beiträge zu geschichtlichen Bezügen gewidmet. Im Lichte einer Fortschrittstheorie der Zivilisation werden ausfuhrlich vergleichbare Entwicklungsstränge in Europa und Nordamerika verfolgt. "Para Sarmiento saber es descifrar el secreto de las analogías: la semejanza es la forma misteriosa, invisible, que hace visible el sentido. La cultura funciona sobre todo como un repertorio de ejemplos que pueden ser usados como términos de la comparación."155 Der jakobinische Terror, Kriege, Hungersnöte und soziales Elend werden als die Rückschläge der kontinentalen europäischen Zivilisation genau wahrgenommen und beschrieben. Von der jungen nordamerikanischen und, was die liberale Tradition anbetrifft, jedenfalls auch von der britischen Geschichte könne Argentinien dagegen vorbehaltlos lernen. Der Teil der politischen Programmatik ist indes klein und gründet sich bewußt auf die bolivarianischen Prinzipien. Das Erkenntnisinteresse Sarmientos liegt darin, durch die dichte, historisch-konkrete Untersuchung auf Antworten auf die Frage nach den Ursachen des als höchst defizitär empfundenen und beschriebenen Zustands Lateinamerikas zu stoßen; zusammengefaßt sei dieser von hoher Präsenz archaischer Formen im gesellschaftlichen Leben bestimmt, erschreckend statisch und ohne Initiative im aktuellen Vergleich zu Nordamerika. 3.1 Grundlegende Argumentation von Conflicto y armonías de las razas en América Tantas analogías y tan grandes disparidades, ..., me han hecho de tiempo atrás sospechar que hay otra cosa que meros errores de los gobernantes, y ambiciones desenfrenadas, sino como una tendencia general de los hechos a tomar una misma dirección en la española América, a causa de la conciencia política de los habitantes, como a causa de una inclinación Sudeste del vasto territorio que forma la Pampa, corren todos los ríos argentinos en esa dirección.156
Die gesellschaftlichen Verhältnisse formen diese Ursachen und Tendenzen, die hinter den individuellen Irrtümern stehen; jene Ursachen und Tendenzen bestehen für Sarmiento in erster Linie in der rassischen Zusammensetzung der argentinischen Bevölkerung und im auf der Geschichte der staatlichen und klerikalen Organisation lastenden spanischen Erbe. Den methodischen Anspruch auf ein geschichtlich-gesellschaftliches Verständnis dieser rassischen Zusammensetzung und somit die Zurück-
155 Ricardo Piglia, "Notas sobre Facundo", in: Punto de vista, 3. Jahrg., Nummer 8, 1980, S. 17. 156 Sarmiento, a.a.O., S. 18f.
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Weisung vermeintlich ihr innewohnender ahistorischer Determinanten erhebt der Autor gleich zu Beginn ganz unzweifelhaft; er muß sich an ihm messen lassen. Al hablar, pues, de los indios, por miserable que sea su existencia y limitado su poder intelectual, no olvidemos que estamos en presencia de nuestros padres prehistóricos, a quienes hemos detenido en sus peregrinaciones e interrumpido en su marcha casi sin accidente perturbador a través de los siglos.157
Um zu diesem gesellschaftlichen Kern der Phänomene durchzudringen, wendet Sarmiento ein Geschichts- und ein Evolutionsmodell an, die beide im folgenden kurz beschrieben werden. Léase en los tratados de geografía descriptiva que hay de par le monde tres formas de gobierno, monárquico, aristocrático y republicano, con sus variantes y cruzas, como hay tres razas principales, la blanca, la cobriza y la negra, y tres zonas, una caliente, otra templada y otra fría, aunque estas últimas estén divididas.158
Sarmiento versteht diese Dreifächerung als analytisches (und in seinen politischen und gesellschaftskritischen Stellungnahmen auch als normatives) Modell, das zum Verstehen der historischen Wirklichkeit herangezogen wird. Es erlaubt, das Stadium eines Zustands innerhalb der Entwicklung einer Gesellschaft zu bestimmen und ihn zu den Historien anderer Völker in Bezug zu setzen. Selbstredend verläuft keine wirkliche Entwicklung so modellhaft, wie sich die abstrakten Elemente klar gegeneinander unterschieden theoretisch beschreiben lassen. Das Modell ist vielmehr eine heuristische Konstruktion und hilft, die Besonderheiten, Kreuzungen, Verwerfungen und Rückschläge der tatsächlichen Entwicklung zu erkennen und zu beschreiben. Während die erste Trilogie ganz dem geschichtlichen Wandel zufällt, sind die geoklimatischen Bedingungen dagegen zwar gegeben, in ihrer Wirkung auf die Sozialität indes gleichermaßen wandelbar in Abhängigkeit von ihrer Fähigkeit, sich jenen anzupassen und sie sich zunutze zu machen. Was die mittlere Dimension, den unter vorgefundenen Bedingungen sich bestimmte Regierungs- und Verkehrsformen gebenden Menschentypus anbetrifft, so gilt auch für Sarmiento die charakteristische Unentschiedenheit zwischen der invarianten, biologischen Zuordnung der farbigen Rassen zu minderen zivilisatorischen Stufen einerseits und dem Vertrauen auf die Dynamik des der Zivilisation inhärenten Fortschrittsmodelles andererseits. Genau der Frage, welcher der beiden Bedingungskomplexe den bestimmenden Einfluß auf die Menschen ausübt, soll im weiteren nachgegangen werden. Dabei lautet die These, daß für die sich den so disparaten Phänomenen des gesellschaftlichen Lebens in und außerhalb Argentiniens zuwendenden Einzelanalysen das zivilisatorische Fortschrittsmodell gültig bleibt. Kollektive Verhaltensweisen indigener und anderer Bevölkerungsgruppen werden mit aus ihm gewonnenen Charakteristika bewertet.
157 Ebenda. S. 32. 158 Ebenda, S. 107.
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Der authentische Vertreter der in Argentinien herrschenden Gesellschaftsstruktur war der gaucho; alle ihre Charakteristika spiegelten sich in ihm. Er reproduzierte diese Struktur und profitierte von ihr. In ihm seien die Lebensformen der Indios, der kreolischen Viehdiebe und der Schmuggler eine verhängnisvolle Synthese eingegeangen. Casi nunca se encontraban ni noticias de su paradero, constituyendo los gauchos una población ambulante que no tenía paradero fijo y sólo se les veía en las pulperías y en las yerras, apartas u otras reuniones, en distintos puntos del país... El gaucho, pues, es por su naturaleza un individuo aislado y a caballo. La reunión de gauchos a caballo para obrar en masa, ha creado otra palabra, y es montonera, que no es pueblo, ni plebe, ni ciudadano, ni siervo, lo que debe tenerse presente cuando se introducen como elementos históricos.159
Mit sozialen Eigenschaften, die sich auf ihre Niederlassungs-, Arbeits- und Verkehrsformen beziehen, werden die gauchos beschrieben; erst mit ihnen gewinnen die Bezeichnungen montonera, caudillo, gaucho historisch-analytische Kontur. Die gauchos sind der Natur nach Einzelindividuen; ihr massiertes Auftreten formt die Rotten der montoneras. Ihre quer zum Zivilisationsfortschritt liegenden Eigenschaften sind es vor allem, die hartnäckig als retardierende Kräfte in der argentinischen Geschichte wirken: Als Nomaden haben sich die gauchos fdr Viehdiebstahl in ganz großem Maßstab prädestiniert; jede Art zivilen Gerichtswesens, das von Zugriff und Ansässigkeit, Terminen und klaren Zuständigkeiten abhängt, muß ihnen gegenüber völlig wirkungslos bleiben; Fehden werden durch blutige und nie endende Bandenkriege ausgetragen, mit denen sich regionale Streitigkeiten, oft durch die persönliche Konkurrenz der um Macht und Führung kämpfenden caudillos angestachelt, unentwirrbar vermengen; das soziale Leben innerhalb dieser Horden verhindert jede Chance auf geistige und kulturelle Entwicklung; Arbeits- und Reproduktionsformen, auf denen kommende Generationen aufbauen könnten, werden nicht geschaffen; vielmehr bietet sich neben Diebstahl und Plünderung der Schmuggel als dritte Einkommensquelle mit idealen und von keiner Obrigkeit kontrollierbaren Bedingungen an und wird reichlich genutzt. Als Ergebnis der Geschichtsironie bezeichnet Sarmiento einmal,160 daß erst die Schmuggelpraxis im Verein mit dem Hedonismus der Pfaffen die Einfuhr der Bücher William Robertsons, Voltaires und Rousseaus nach Argentinien ermöglichte: der Schmuggel kannte die verläßlichen Routen ebenso wie die angemessene Höhe der Bestechungsgelder, und die Zensoren drückten gerne ein Auge zu, wenn sie im Gegenzuge teures Mobiliar und andere Luxusgegenstände zollfrei einführen konnten. The "gaucho" was a product of race mixture; the components have been disputed, but there's no doubt that there were three races in the littoral, Indians, whites and blacks. But the term was used by contemporaries and by later historians in a wide sense to mean rural people in general. Greater precisión would distinguish between the sedentary rural dwellers working on the land for themselves or for a "patron" and the pure "gaucho", who was nomadic and independent,
159 Sarmiento, Conflicto y armonías II, a.a.0., S. 100. 160 Vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías I, a.a.0., S. 169.
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tied to no estate... And further refinement of terms would identify the "gaucho malo", who lived by violence and near delinquency and whom the state regarded as a criminal.161
Sarmientos Interesse besteht darin, zu zeigen, daß weder die Schwäche der spanischen Krone und der Vizekönige noch die der ersten Präsidenten der Republik für die Abtrennungen von Hoch-Peru, Paraguay und der banda oriental (dem späteren Uruguay) verantwortlich sind, sondern die Schwäche der Zivilisation, die die Bevölkerung in einem apathischen, rohen und von regionalen Führern und Diktatoren, von tétricas figuras (López de Mesa) wie dem Dr. Francia aus Paraguay162 oder den verblendeten Jesuiten manipulierbaren Zustand hielt. Den Anführer qualifizieren dabei weder Intelligenz noch besonderes Geschick, sondern die Tatsache, daß er die rohen und gemeinen Eigenschaften am wirkungsvollsten bündelt. Am Beispiel der Kampagnen José Gervasio Artigas'163 zeigt Sarmiento Züge eines antizivilisatorischen, antistädtischen Kultes auf. This (the nomadism of the gaucho, who had to sell his labour where he could or else he was recruited into armies or montoneros, J. P.) was partly an urban-rural division between the cultures; it was also a feature to the social structure.164
Diesem Geschichtsmodell, dessen höchste bisher erreichte Stufe in der republikanischen Demokratie besteht, von der aus zurückliegende Etappen sich rekonstruieren lassen, korrespondiert ein an Darwin orientiertes Evolutionsmodell.165 Gleichsam auf der Mik161 John Lynch, "The River Plate Republics from Independence to the Paraguayan War", in: Leslie Bethell, The Cambridge History of Latin America, Bd. 3, Cambridge 1985, S. 628. 162 "Produjo (die Hartnäckigkeit und der Fanatismus der jesuitischen Missionare, J. P). el espantoso despotismo del doctor Francia, representante laico del sistema indiojesuítico" (Sarmiento, a.a.O., S. 51). Die Diktatur José Gaspar Rodríguez de Francias von 1814-40, über die Augusto Roa Bastos 1974 den genialen Roman Yo el supremo vorlegte, vereint für Sarmiento in paradigmatischer Form kulturelle Rückständigkeit, Anstachelung des Hasses der Einheimischen auf die Weißen und die Begünstigung entwicklungshemmender und krimineller, wirtschaftlicher Bereicherung, also alle von ihm festgestellten Hauptübel Lateinamerikas. Immer wieder kommt er auf diese Entwicklung zu sprechen, den Despoten betitelt er ironisch stets nur mit el doctor Francia. 163 Nachdem Artigas nach früher militärischer Karriere bei den blandengues, dem Verteidigungsheer der Provinz Buenos Aires, sich hohen militärischen Ruhm als besonders mutiger Vaterlandsverteidiger gegen die englischen Invasionsversuche in Argentinien während des ersten Jahrzehntes des 19. Jahrhunderts erworben und an der Mairevolution von 1810 teilgenommen hatte, widersetzte er sich sofort danach allen buenarensischen Vormachtansprüchen und blieb fortan in dauernde, mehrseitige kriegerische Auseinandersetzungen von seiner Heimatregion Uruguay aus involviert, die sich allesamt durch außerordentliche Grausamkeit auszeichneten. Nach der Selbständigkeit der Banda Oriental 1828 fand er Zuflucht im paraguayischen Exil unter Francia. Wie Juan Facundo Quiroga verkörperte auch Artigas den typischen antizentralistischen Politiker, fest verwurzelt in den lokalen ländlichen Strukturen seiner Herkunftsregion und diese, die die despotische Machtausübung der lokalen caudillos hervorbrachten, "als Gesellschaftsmodell" mit allen Mitteln verteidigend. 164 Lynch, a.a.O., S. 628. 165 "... y ya se busca hasta la fisonomía de las antiguas razas en las provincias de cada nación, porque ahí están presentes en sus hijos los que las poblaron. Así en las instituciones y en las ideas"
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roebene der einzelnen Geschichtsverläufe beschreibt es die Dynamik von Blüte, Aufstieg und Zerfall. Am Beispiel des Römischen, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des spanischen Weltreiches wird dieses Modell ausgeführt. Naheliegenderweise nehmen die Untersuchungen zu letzterem den weitaus größten Raum der außerlateinamerikanischen Studien in Anspruch. Die Theorie des Fortlebens von Vergangenem im Gegenwärtigen verifiziert Sarmiento dabei in brillanten Einzeldarstellungen, etwa wenn er die Nichtbereitschaft, in der neuen Welt neue gesellschaftliche Projekte anzugehen, auf das wirkungsmächtige Trauma der spanischen Vertreibung und Verfolgung seiner Kulturgeber, der Mauren und Juden zurückfuhrt. Der Niedergang Spaniens begann für Sarmiento mit der Inquisition, und diese wiederum beweise den Einfluß des Islam auf die Kultur der Halbinsel. Felipe II es la concentración del principio mahometano español de la unidad de creencia. El, y no el Papa, funda la Inquisición; él, y no el Papa, emprende la persecución de las nuevas ideas de sus compatriotas los flamencos. Los gérmenes de la persecución religiosa estaban en toda la Europa cristiana; dentro del catolicismo mismo, en las leyes y en la tradición del imperio romano; pero en todas las otras naciones le faltó el enjebe mahometano, aquel mordente que se aplica primero a la fibra para que la tintura agarre. Sin Mahoma, no hay Inquisición en España.166 Und das Erbe der Intoleranz lastet seinerseits auf der Zivilisation Lateinamerikas. Um es zu erkennen und abzuschütteln, ist der Blick auf die nördliche Hemisphäre zu lenken, die unter Führung des disziplinierten, ökonomisch orientierten und liberal denkenden Geistes der Quäker kolonisiert wurde. Neben dem Geschichts- und dem Evolutionsmodell besteht das dritte, konstante Element der Methode Sarmientos' in der bolivarianischen Überzeugung, daß die optimale Nutzung der Ressourcen und Produktivkräfte, die Sicherstellung einer nachhaltigen konstitutionellen Entwicklung und die Behauptung einer dem Kontinent angemessenen und dienlichen Position auf der sich rasch umgestaltenden Bühne der politischen Weltmächte nur in der konsequenten Bekämpfung des Partikularismus auf allen Ebenen und im Anstreben großer politischer Einheiten liegen, mit dem Fernziel, daß diese irgendwann den gesamten Kontinent umspanne. Necesitó el resto de la América, y los otros virreinatos ya libertados, cristalizarse en héroes, como San Martin y Bolívar, para arrastrar tras sí a los habitantes del otro lado del Ecuador, con Bolívar, de la Línea con Santa Cruz y de la zona templada del Sur de este lado con San Martín y O'Higgins, para dar libertad a la que se mecía en hamacas, muelle y somnolientia tapada, que no se ve el sol sino a través de la niebla encendida por sus rayos. (Sarmiento, a.a.O., S. 139). Dem aufmerksamen Beobachter zeigen sich die Spuren des Vergangenen im Gegenwärtigen. Er kann sie zurückverfolgen. Die umgekehrte Richtung bleibt dem Wissenschaftler Sarmientos Auffassung zufolge verschlossen. 166 Ebenda, S. 138. 167 Ebenda, S. 247. Auf Limas reaktionäre Rolle im gesamten Verlauf der Unabhängigkeitskriege kommt Sarmiento wiederholt zu sprechen. Die zitierte Passage befindet sich am Schluß des Kapitels über die Inquisition in Lima.
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Hinter diesen Stand der Erforschung der eigenen Geschichte gibt es keinen Schritt zurück; alle von der Stadt, in der Bolívar als zambo beschimpft wurde und die nie die Sonne sieht, sondern ihr Licht nur durch den immer auf ihr liegenden, durch die Strahlen fahl erleuchteten Dunst wahrnimmt, ausgegangenen Reaktionsversuche waren schließlich zum Scheitern verurteilt. Politische und gesellschaftliche Wissenschaften müßten nun die Ideen der Befreier anwenden und weiterentwickeln. Estas ideas (die Idee eines Großstaates jenseits der kolonialen Grenzziehungen, J. P.) persiguieron a Bolívar también, y aunque ahora estén definidas las nacionalidades hispano-americanas que se hace cuesta arriba pensar en una América del Sur, por ejemplo, como la hay del Norte, pues el no estarlas entonces tan determinadas, explica la influencia que ejercieron recíprocamente los prohombres de aquellos tiempos.168
Für die geschichtsbewußten Denker Sarmiento und González kann es nach einem halben Jahrhundert und länger nach Bolivars Tod nicht mehr darum gehen, einen einheitlichen Großstaat, so wie dieser ihn sich noch erhofft hatte, anzustreben, war doch das Projekt der Nationalstaatenbildung auf der Basis gegenseitiger Abgrenzung in der nachbolivarianischen Epoche der Diktaturen und Bürgerkriege längst auf den Weg gebracht. Für beide, wie später exemplarisch an ihren jeweiligen Überlegungen zu Venezuela ausgeführt werden soll, ging es vielmehr darum, antidemokratischen Separatismus zu kritisieren und desgleichen den caudillismo, der sich antiliberaler Affekte und auch solcher gegen die weiße Rasse bediente. Bei Sarmiento mündeten die geopolitischen Überlegungen Bolivars nicht in eine ausgearbeitete und aktualisierte Fassung für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Hauptinteresse richtete sich auf die inneren Entwicklungen der entstehenden Nationen entlang den Koordinaten für die Synthese aus indigenem Erbe, hispanischer Kolonialgeschichte und der Tradition der universalen Freiheitsideen, die die Befreier aus der Abhängigkeit zu ziehen begonnen hatten. Bevor nach dieser methodologischen Einfuhrung in Sarmientos Werk seine theoretischen Schriften kurz dargestellt werden, sind noch seine Quellen zu erwähnen. Die Aufzeichnungen der Reisen, die die nordamerikanischen Forscher William H. Prescott und James Wilson nach Mexiko und Peru im 18. und Agassiz nach Brasilien im 19. Jahrhundert sowie der europäische Forscher Depons durch Venezuela unternommen hatten, sind ausführlich zitierte Quellen, in denen, dem Anschein nach zumindest, die Beobachter auch die Autoren sind. Als Hauptquelle für das zentrale Thema des Lebens in den Missionsstationen der Jesuiten dienen die Auswertungen der Reiseberichte von Glaubensbrüdern durch den italienischen Historiker Muratori. Den kritischen Blick auf Europa schärfte Sarmiento durch die Lektüre der Schriften Alexis de Tocquevilles, Hippolyte Taines und der History of civilization in England von Henry Thomas Buckle, die alle ebenfalls ausgiebig zitiert werden. Herangezogen werden des weiteren natürlich Dokumente des politischen und öffentlichen Lebens in Argentinien und anderen Ländern Südamerikas, Chroniken und häufig anonym verfasste Berichte und Erzählungen 168 Sarmiento, Conflicto y armonías II, a.a.O., S. 154.
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über Feste, Bräuche, Begebenheiten, Kriegsereignisse, Landschaften u.s.w., wodurch dem Autor ein unsystematisches, aber breitgefächertes Puzzlebild zur jüngeren argentinischen Geschichte gelingt, "...pero el autor no tenía credo político y fue a buscarlo en los campos de batalla de la guerra civil, que enseñan, en esta América, sobre todo, más que los libros de historia y política europea."169 Der enzyklopädisch gebildete Sarmiento wird nicht müde, immer wieder die Erfahrung und aktive Gestaltung des eigenen Lebens als wichtigsten Lehrmeister hervorzuheben. Dem "verrückten Sarmiento, der sich als permanentes Spektakel" inszeniert, wie ihn eine, freilich inhaltsleere, üble persönliche Nachrede seiner Gegner beschrieb, gelang es auch, ganz frisch die französische Übersetzung der Histoire du XIX siècle des in seinem eigenen Land bis heute weitgehend ignorierten und kaum verlegten radikalen Demokraten Georg Gervinus170 aufzutreiben. Dessen Zustandsbeschreibung wird von Sarmiento zustimmend zitiert und als Ausgangslage für die eigenen Untersuchungen herangezogen. Razón tenia, pues, Gervinius (Sarmiento gibt in allen Erwähnungen den Namen falsch wieder, J. P.) el historiador del siglo XIX de señalar 'el vasto abismo que separaba en esta América a los campeones de la libertad, generalmente hombres instruidos, de la masa de los indios y aun de la gran multitud de los criollos mestizos y campesinos), que estaba encadenada por el temor que le inspiraban el rey y la Iglesia. Una grande escisión desunió a toda la sociedad, a la cual vino a agregarse el odio que separaba a las castas y las razas, a las tribus y las clases, y además aquellos celos envidiosos de las diferentes localidades' .engrendados por la distancia, 'que fermentaban con más violencia que las que hemos notado en España misma'.111
Nach dieser Bestandsaufnahme können die Fragen formuliert werden, die die Untersuchungen zu Konflikt und Harmonie leiten werden. ¿Somos europeos? ¡Tantas caras cobrizas nos desmienten! ¿Somos indígenas? Sonrisas de desdén de nuestras blondas damas nos dan acaso la única respuesta. ¿Mixtos? Nadie quiere serlo, y hay millares que ni americanos ni argentinos querrían ser llamados.
169 Ebenda, S. 404. 170 Gervinus schlagt die nicht von allen zum Vormärz zahlenden deutschen Schriftstellern, die Uber die Vorgänge in Amerika schrieben, geteilte Richtung der kritischen, aber deutlichen Solidarität mit der Politik Simón Bolivars ein und vergleicht ihn mehrfach mit George Washington, wobei er die für Bolivar ungleich ungünstigere soziale Ausgangssituation ftlr die Befreiung hervorhebt (vgl. Gartz, Joachim, Liberale Illusionen, Unabhängigkeit und republikanischer Staatsbildungsprozeß im nördlichen Südamerika unter Simón Bolivar im Spiegel der deutschen Publizistik des Vormärz, Frankfurt-M, S. 120 u 197ff.). 171 Sarmiento, Conflicto y armonlas I, a.a.O., S. 176.
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¿Somos nación? Nación sin amalgama de materiales acumulados, sin ajuste ni cimiento? ¿Argentinos? Hasta dónde y desde cuándo, bueno es darse cuenta de ello.172
Diese Fragen sind keine theoretischen Beliebigkeiten, sondern drängende Lebens- und Überlebensfragen nach persönlicher und gesellschaftlicher Identität. Sie begegnen uns, immer wieder neu gestellt, den gesamten Text hindurch. "¿Somos indios o somos españoles? ¿Hemos dejado de serlo por llamarnos americanos?"173 3.2 Mischung und Hybridität Seine rassensoziologischen Überlegungen zur Geschichte Argentiniens, des südlichen und schließlich auch des gesamten Kontinents beginnt Sarmiento mit einem demographischem Überblick zu Argentinien, der durch die allgemeine Unterscheidung in kupferfarbene (cobriza), schwarze und weiße Rassen eingeleitet wird. Die größten der in viele Völker, Stämme und regionale Lebensgemeinschaften gegliederten, kupferfarbenen Rassen sind die Quichua mit peruanischem Ursprung im nordwestlichen Andenhochland, die Guarani im Zentrum und Pampa und Araukana im grenzenlosen Süden diesseits und jenseits der Kordillere. Über ihr Leben und ihre Sitten läßt Sarmiento ausschließlich Zeugen sprechen. Dabei bietet er schweres Geschütz auf, das heißt ausschließlich schärfste, sozialbiologische Verleumdungen der nichtweißen Rassen, die auch alle Stereotypen erfüllen, und läßt diese calumnia europea174 sich selbst entlarven. Ausgiebig kommentierend greift er selbst nur einmal ein, und dies höchst kritisch gegenüber dem einzigen entgegengesetzten Beispiel, der Glorifizierung der Araukaner im Epos von Ercilla. Auf diese Völker trafen die iberischen Eroberer, aus anderem Blickwinkel die europäischen Kolonisatoren des südlichen Kontinents genannt. Dieses Aufeinandertreffen einmal historisch gegeben, konnte für Sarmiento als politische Richtschnur für die neuentstehenden Gesellschaften Amerikas nur die europäische Entwicklung der Zivilisation auf ihrer liberalsten Stufe, in ihrer angelsächsischen Ausprägung, Bestand haben. Die 172 Ebenda, S. 23. 173 Ebenda, S. 151. 174 Ocampo López faßt unter diesen, von Antonello Gerbi in seinem 1960 in spanischer Übersetzung erschienenen Buch La disputa del nuevo mundo geprägten Begriff sowohl die auf soziale Verhältnisse wie auf die "natürliche" Umwelt und die "Natur" des amerikanischen Menschen sich beziehenden, kritischen Texte von Europäern zusammen, also sowohl Schriften von Hume und Voltaire wie solche von de Pauw und Buffon und Raynal (vgl. Ocampo López, Colombia en sus ideas, a.a.O., Bd. 1, S. 176ff. u. Bd. 3, S. 1079ff.). Mit ihren Stereotypisierungen über die unveränderlichen rassischen Eigenschaften der Amerikaner zählen die von Sarmiento angeführten Autoren sicher zur zweiten Kategorie. Soweit es sich um Analysen undemokratischer politischer oder auch doktrinärer und freiheitserstickender, religiöser Verhältnisse handelt, interessiert weder Sarmiento noch González das mögliche, Amerika verunglimpfende Moment darin, sondern nur die Kritik selber, die durchaus im gleichen ironischen Geiste aufgenommen und weiterentwickelt wird, wie an González' Auseinandersetzung mit Candide und Alzire deutlich wird.
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nächsten Beiträge gruppieren sich um das Thema der Geschichte und der Kultur Europas und der Stellung Spaniens darin. Wieder in Amerika bündeln sich die Stränge in detaillierte Beschreibungszyklen Uber das Leben in den jesuitischen Missionsstationen, über BUrgerkriegswirren zu Beginn der Republik und über Bräuche in der argentinischen Provinz. Außerdem werden Dokumente und Kommentare zu anderen lateinamerikanischen Ländern vorgestellt. Schließlich kontrastieren zu diesen, mit Ausnahme einiger freiheitlicher und konstitutioneller Errungenschaften von Buenos Aires und anderen argentinischen Großstädten und von Kolumbien, durchweg rohen und irrationalen Strukturen Lateinamerikas Szenen aus der nordamerikanischen Zivilisation und Dokumente aus dem dortigen öffentlichen Leben. Durch diese Anordnung wird deutlich, daß zivilisatorische und soziologisch benennbare Gründe für Lateinamerikas Rückständigkeit verantwortlich seien und daß für die Zukunft das undemokratische und feudale spanische Erbe abgeschüttelt werden müsse. Träger des dafür notwendigen Prozesses von (Selbst-)Aufklärung und Bildung sollten vor allem Einwanderer aus dem Norden und aus Europa sein, seine materielle Basis werde auch in deren Vermischung mit den Einheimischen bestehen. "'Ver a uno de los indios de la raza cobriza es haberlos visto a todos desde el Canadá hasta las Pampas'",175 dieser von Juan de Ulloa zitierten Aussage widerspricht die Vielgestaltigkeit der von Sarmiento aufgebotenen völkerkundlichen Texte, aber die aus ihr sprechende Haltung ihres Autors mag für die meisten Autoren dieser Texte gelten. Zunächst wird ein Querschnitt dieser Texte gegeben, der das Panorama eines Erdteils, zusammengesetzt aus entlegenen, unzugänglichen und untereinander kaum verbundenen Regionen, entstehen läßt; diese Regionen sind von halbwilden Stämmen besiedelt. Ausführlich wird aus den Aufzeichnungen seiner Reise durch "Terrafirma" von Depons176 zitiert, kürzer auch aus Erinnerungen der Nordamerikaner Wilson, Prescott und Pritchard durch Mexiko und Peru. Ein durchgängiges, primitives soziales Organisationsprinzip schält sich heraus. In blindem und ängstlichem Gehorsam sei das Volk dem alle nur denkbaren Privilegien genießenden Kaziken ergeben. Quelle der Macht seien die die allgemeine Apathie unterbrechenden, kriegerischen Auseinandersetzungen und die Jagd. Wirksam werde die Macht wiederum in erster Linie in Kriegs- und Notzeiten. Das extrem prästabilisierte, arbeits- und leistungsunabhängige Hierarchieprinzip reproduzie175 Sarmiento, a.a.O., S. 167. 176 Depons' Volks- und Menschenbeschreibungen bieten eine exemplarische Lektüre der Vermischung physischer, psychologischer und sozialer Beobachtungen und deren Verallgemeinerung. In einer tour de force geht es von Körperbaubeschreibungen der Indianer ("Ihre Glieder sind dick, muskulös, so daß man sie auch filr stark halten sollte, aber sie sind es nicht, denn die Arbeit ermüdet sie leicht" [Depons, Nachrichten von der General-Hauptmannschaft Caracas oder dem östlichen Teil der spanischen Provinz Terrafirme in Süd-Amerika, Weimar 1807, S. 91]) über Verhaltens- ("kleinherzige Feigheit", ebenda, S. 91) und Konsumgewohnheiten ("Die Indianer kennen kein größeres Vergnügen als sich zu betrinken und zu faulenzen", ebenda, S. 101) zur Erklärung ihres hartnäckigen Aberglaubens, gegen den allen Missionsbemühungen keine nachhaltigen Erfolge beschieden sein werden, und ihrer familiären Verhältnisse ("Man darf nur wissen, was flir schlechte Ehegatten sie sind, um sogleich zu vermuten, daß sie ebenso schlechte Väter sein werden", ebenda, S. 107).
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re sich bis in die kleinsten sozialen Einheiten, in Reinform ablesbar an den familiären Verhältnissen. Unter der Pyramidenspitze folge eine Gruppe von Anfuhrern, die sich diese Stellung durch ihre besondere dreiste Art zu stehlen und andere zu unterwerfen, hätten verschaffen können. Die gleichermaßen ausführlich zitierten argentinischen Chroniken von Bürgermeistern und Gerichtspräsidenten aus dem 18. Jahrhundert weisen die Indios als Freiwild aus, geben den Sklavenjägern Rechtsberatung und belegen die skrupellose Ausnutzung jener "Apathie" durch die Kolonisatoren bis hin zu Verschleppungen ganzer Volksstämme unter Inkaufnahme tausender menschlicher Opfer. All dies präsentiert Sarmiento als Dokumentation und beschränkt sich auf den lakonischen Kommentar: "Lo que se decora aquí con el nombre de guerra, es simplemente la caza de naturales como se hacía de caballos y de ganado cimarrón o alzado, para proveer a cada vecino, por su cuenta, de sirvientes, peones."177 Vernehmbar die eigene Stimme erhebt Sarmiento erst, wenn er europäische Darstellungen und Interventionen behandelt, die seinem Verständnis gemäß fatale Konsequenzen nach sich zogen. So zitiert er ausführlich aus dem Epos La Araucana von Alonso de Ercilla y Zúñiga, das seit dem 16. Jhdt. immer wieder für die Stilisierungen des unbezähmbaren Volkes der Araukaner herangezogen wurde und dem Geschichtsmythos und Selbstbild der Chilenen wichtige Fundamente lieferte. Die angeführten Zitate des Epos sollen allerdings der Dechiffrierung dienen, daß es sich bei den glorifizierten Charakterzügen eben um die der geographischen, klimatischen und nomadenhaft organisierten Lebenswelt der Araukaner geschuldeten, besonders wilden, brutalen und wirksamen Kriegstechniken handelte, die sich bei den Bolivien und Peru bevölkernden, viel länger schon seßhaften, außerdem durch die conquista brutal unterworfenenen Quichua nicht erhalten hatten. Zieht man zum Vergleich Andrés Bellos Kommentar zur Araucana von 1841 heran, so wird rasch deutlich, wie sehr das politische Interesse die Interpretation beeinflußt. Während Sarmiento den antizivilisatorischen Affekt kritisiert, hebt Bello die dadurch intendierte und berechtigte Kritik der spanischen Eroberer hervor, die sich im übrigen auch in Ton und Stil Ercillas ausdrücke, "llano, templado, natural, sin énfasis, sin oropeles retóricos, sin arcaísmos, sin trasposiciones artificiosas", wodurch die Araucana gerade die der Aeneis vergleichbaren Qualität des Entstehungsepos des chilenischen Volkes habe erlangen können.178 Für das Projekt des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika, das darin bestehe, die unabgeschlossene Befreiung voranzubringen und zu vollenden, seien aber genau diese Eigenschaften gerade nicht von Vorteil, ebensowenig wie europäische, aus der Sehnsucht nach Reinheit geborene Projektionen in Figuren wie Tupac Amaru, deren zwar helden177 Sarmiento, aa.O., S. 45. 178 Vgl. Andrés Bello, "La Araucana", in: Bello, Temas de crítica literaria, Caracas 1956 (Bd. 9 der Obras completas in 22 Bden., Caracas 1952-1969), S. 360ff. Mit seiner Arbeit über Juan de Castellanos' gewaltiges, aus 113 609 Versen bestehendes Poem Elegías de varones ilustres de indias, das er in der Provinz von Santa Fe de Bogotá im 16. Jahrhundert verfaßte, zeigte William Ospina, daß die hispanische Literatur- und Sprachgeschichtsforschung hier noch ein weites und wenig bearbeitetes Feld hat (vgl. William Ospina, Las auroras de sangre, Bogotá 1999).
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hañer, aber rückwärts gewandter Widerstand auch nichts zur Lösung der gegenwärtigen Fragen beitrügen. Mas no son las cualidades pugnativas de nuestros padres de estirpe araucana y nuestros conciudadanos chivilcoyanos, guaminies, tuyutenses, lo que nos interesa, sino su capacidad social; y a este respecto tenemos que ir a buscar entre los esquimales, o entre los indígenas de Australia, razas más atrasadas en la organización de la sociedad179 Auch der "übertriebenen Philantropie des Bischofs von Chiapa" 180 tritt Sarmiento entgegen und führt das schreckliche Elend der schwarzen Sklaven an, beginnend mit der Zerstörung der sozialen und moralischen Verhältnisse innerhalb ihrer Stämme in Afrika selbst. In seinen Beurteilungen bemüht sich Sarmiento, am Maßstab der Zivilisiertheit fordernden und Rohheit überwindenden Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens festzuhalten und stellt, durchaus provokativ, gegen all die Idealisierungen als einen Fortschritt, den er im privaten und sozialen Verhältnis der Geschlechter unter den Indios ausmachen kann, heraus: "¡Cuánto han ganado las mujeres indias con su arrimo y aun servidumbre de la raza europea!" 181 Am jüngsten, materialistisch-biologisch geprägten Diskurs zu diesen Themen in Europa interessieren ihn am meisten Indikatoren, die den Grad an Zivilisiertheit eines Gemeinwesens helfen aufzuklären. An Paul Brocas phrenologischen Untersuchungen interessiert ihn die Hypothese, die Gustave LeBon aus ihnen folgerte, daß nämlich nicht Schädelgröße, sondern die Spannweite zwischen unterschiedlichen, zu einer Zeit bei einem Volk vorkommenden Schädelgrößen und -formen etwas über dessen Zivilisationsgrad aussage. 182 Nach den Befunden über die rassischen Ursprünge der lateinamerikanischen Bevölkerung, unter ihnen ihre Erfindungen aus dem Blickwinkel der Anderen, kommt Sarmiento auf die Mischungen als der demographischen Realität des Argentiniens seiner Zeit zu sprechen. Iba a verse lo que producirla una mezcla de españoles puros, por elemento europeo, con una fuerte aspersión de raza negra, diluido el todo en una enorme masa de indígenas, hombres prehistóricos, de corta inteligencia, y casi los tres elementos sin práctica de las libertades políticas que constituyen el gobierno moderno.183 Angesichts derart ungünstiger rassischer Voraussetzungen für das Projekt der künftigen lateinamerikanischen Gesellschaften gewinnen Sarmientos eigene soziobiologischen Überzeugungen für einen Moment die Oberhand Uber den liberalen Pragmatismus. Den großen Vorteil der Homogenität der Amalgame der heutigen europäischen Völker, die in Jahrhunderten die Gallier, Römer, Sachsen, Normannen, Germanen, Langobarden etc., ja sogar die Araber und Sarrazenen natürlich ebenfalls durch Mischung hervor179 180 181 182 183 82
Sarmiento, a.&0., S. 56. Vgl. ebenda, S. 59. Ebenda, S. 58. Vgl. ebenda, S. 40. Ebenda, S. 61.
gebracht hätten, besäßen die in Lateinamerika sich mischenden Rassen nicht: die Homogenität der heutigen europäischen Völker verdanke sich der relativen Nähe all ihrer Vorfahren zur Urrasse, den Kaukasiern. Die Mischungen und die Mischungen der Mischungen in Lateinamerika brächten dagegen gänzlich hybride Ergebnisse hervor, für die gelte, daß sich in ihnen jeweils die ungünstigen und schwachen Elemente durchsetzten. Otra facción que deja una penosa impresión sobre el extranjero, es el carácter debilitado de la población. He hablado de esto antes. No es sólo la variedad de niños de todos colores. Con la mezcla de tres razas, parece como si toda claridad de tipos hubiese desaparecido, y el resultado es un compuesto indefinido, sin carácter ni expresión.Esta clase de híbrida, más marcada al norte, por cuanto se le añade el elemento indio, es muy numerosa en las grandes ciudades y en las grandes plantaciones.184
Eine für die vorliegende Fragestellung besonders ergiebige Quelle von Sarmiento ist die Journey in Brazil, das von dem bekannten schweizerischen Naturwissenschaftler Louis Agassiz und seiner Frau verfaßte, umfängliche Buch über eine Reise durch Brasilien 1866-1867. Den weitaus größten Teil machen Schilderungen der vielfältigen exotischen Natur mit ihren großartigen Schauspielen aus; spätere Aufarbeitungen der geologischen und geotektonischen Befunde in ihrem erdgeschichtlichen Zusammenhang von dem schon in Europa als Gletscherforscher berühmt gewordenen Agassiz sind in das in Tagebuchform vorgelegte Reisebuch einmontiert; die Beschreibungen pittoresker Volksfeste zeigen die gleiche Ergriffenheit des fremden Reisenden wie die Beobachtungen der bunten Welt der Tiere, Pflanzen und Steine. Selten verlassen die detailfreudigen Erlebnisaufzeichnungen die impressionistische Haltung der formbewußten respektvollen Reisenden und präsentieren Einschätzungen, Bewertungen und Vergleiche. Zu letzteren zählt der erste große Abschnitt über die Rassen,185 der durch die Schilderungen ruinöser menschlicher Behausungen und brutaler Formen des Strafvollzugs und der Rekrutierung, mithin Manifestationen der zweiten Natur also, eingeleitet wird. Nach dem ersten, von Sarmiento zitierten Absatz fahrt Agassiz wie folgt fort: It is not merely that the children are of every hue the variety of color in every society slavery prevails teils the same story of amalgamation of race; bul here this mixture of seems to have had a much more unfavorable influence on the physical development than United States. It is as if all clearness of type had been blurred, and the result is a Compound lacking character and expression. 6
where races in the vague
184 Louis Agassiz, zitiert nach ebenda, S. 64. 185 Es gibt zwei große Abschnitte, in denen unter natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive über die Rassen spekuliert wird in Agassiz' Buch, zunächst die das Kapitel über Manaos abschließenden Reflexionen, sodann der Anhang 5. Aus beiden zitiert Sarmiento im Laufe seines Buches. Vgl. Mrs. und Mr. Louis Agassiz, A Journey to Brazil, Boston 1871, S. 292-300 und S. 523- 532. 186 Agassiz, a.a.O.. S. 292. 83
Auf den folgenden Seiten versucht Agassiz, seine Beobachtungen der offenkundigen Degeneration der Hybriden187 mit allgemeinen abstammungstheoretischen und eugenischen Überlegungen in Übereinstimmung zu bringen. The child born of negro and white parents is neither black nor white, but a mulatto; the child born of white and Indian parents is neither white nor Indian, but a mameluco; the child born of negro and Indian parents is neither a negro nor an Indian, but a cafuzo; and the cafuzo, mameluco and mulatto share the peculiarities of both parents, just as the mule shares the characteristics of the horse and ass.188
Nach dieser Verdeutlichung des Vorgangs anhand eines Beispiels von Artenmischung bescheidet sich Agassiz dann später auf Vergleiche von Rassenmischung im Tierreich, um Problematik und Folgen der Kreuzung zwischen menschlichen Rassen hervorzuheben, wobei das von ihm gewählte Beispiel für sich sprechen mag. The natural result of an uninterrupted contact of half-breeds with one another is a class of men in which pure type fades away as completely as do all the good qualities, physical and moral, of the primitive races, engendring a mongrel crowd as repulsive as the mongrel dogs, which are apt to be their companions, and among which it is impossible to pick out a single specimen retaining the intelligence, the nobility, or the ajfectionateness of nature which makes the dog of pure type the favorite companion of civilized man.189
Ein zentrales Anliegen dieser Ausführungen Agassiz' besteht in dem Nachweis, daß es sich bei den hybriden Ergebnissen nicht um Grundformen einer neuen Rasse handelt. Auf einer abfallenden Linie von Degenerationsstufen können sie mit ihren Mischungen zwar den "negativen Erbinformationen" immer neuen Gestaltungsraum verleihen, aber "they retain the same liability to revert the original stock as is observed among all socalled varieties or breeds."190
187 Auch im Anhang breitet Agassiz emeut seine negativen EndrOcke der Hybriden aus und faßt sie im Sinne einer Typologie zusammen, wobei er wiederum von der gleichwertigen Basis der Kreuzung verschiedener Tierarten und verschiedener Menschenrassen ausgeht Interessant ist, daß jetzt in dieser Typologie auch "gelungene" Kreuzungen auftauchen. "Like distinct species among aimals, different races of men, when crossing, bring forth half-breeds; and the half-breeds between these different races differ greatly. The hybrid between White and Negroe, called Mulatto, is too well known to require further description. His features are handsome, his complexion clear, and his character confiding, but indolent. The hybrid between the Indian and Negroe, known under the name of Cafuzo, is quite different. His features have nothing of the delicacy of the Mulatto; his complexion is dark; his hair long, wiry and curly; and his character exhibits a happy combination between the jolly disposition of the Negro and the energetic enduring powers of the Indian. The hybrid between White and Indian, called Mameluco in Brazil,, is pallid, effeminate, feeble, lazy, and rather obstinate" (ebenda, S. 532). Habituelle, charakterliche wie physische Eigenschaften werden gleichermaßen als invariante Merkmale dieser Typen begriffen. 188 Ebenda, S. 297. 189 Ebenda, S. 298f. 190 Ebenda, S. 299. 84
Um seine Lehren, die Agassiz aus seinen an der Eugenik orientierten, rassensoziologischen Beobachtungen zieht, zu verdeutlichen, nimmt auch er den naiven Philanthropen aufs Korn: He (a mistaken philanthropy, J. P.) cannot deny the deterioration consequent upon an amalgamation of races, more widespread here than in any other country in the world, and which is rapidly effacing the best qualities of the white man, the negro and the Indian, leaving a mongrel nondescript type, deficient in physical and mental energy... Let us learn the double lesson open all the advantages of education to the negro, and give him every chance of success which culture gives to the man who knows how to use it; but respect the laws of nature, and let all our dealings with the black man lend to preserve, as far as possible, the distinctness of his national character, and the integrity of our own.191
Auch Alexander von Humboldt gait Agassiz als solch ein Philanthrop; seinem nüchternen Blick auf die Verfassung der menschlichen Spezies entpuppten sich dessen Visionen als reine Illusionen.192 Agassiz hält den USA zwar die größere Freiheit vor, die die Schwarzen in Brasilien genössen. Der Preis für diese größere Freiheit darf seiner Auffassung nach allerdings auf keinen Fall in den demographischen Entwicklungen bestehen, die er in Brasilien entdeckt und mit der dort herrschenden, größeren Liberalität in Verbindung bringt. Das Programm von Sarmientos Buch bleibt, zu zeigen, daß historische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen für die Entwicklung verantwortlich sind; deren außerordentliche Gewaltförmigkeit in Lateinamerika und die Tatsache, daß es regionale, brutale Führer für ihre rückwärts gerichteten, zerstörerischen Feldzüge immer wieder leicht hatten, genügend Banden und Anhänger zu finden, verdanke sich auch dem hybriden Charakter der Mischbevölkerung, der Gleichgültigkeit und Rohheit begünstige. Diese von Agassiz übernommene Bestandsaufnahme fällt durchaus hinter die an anderen Stellen erreichten Argumentationen zurück, wo die konsequent soziologische Fundierung der Begriffe, wie sie immer wieder als Anspruch formuliert wird, als Maßstab genommen werden kann. Sie ändert indes nichts an der Überzeugung, daß die Zukunft nur in Adaptation, Bildung und gelenkter Einwanderungspolitik liegen kann. Fast immer aber, wenn die Argumentation auf die hybriden Mischungen selber zu sprechen kommt, bleibt ihre Eigenschaft als Quelle besonderer, auch moralischer Degenerationen nicht unerwähnt, so z. B. deutlich in einem Kapitel des zweiten Bandes über Konstitutionalismus in Lateinamerika. Para mayor abundamiento (der heutigen Situation der indígenas in Lateinamerika, J. P.) los remitiremos en espíritu a Bolivia, Perú, y Méjico donde se conservan crudas las poblaciones in-
191 Ebenda, S. 293. 192 Nach einem Zitat Humboldts, in dem er die Vision eines die nördlichen und südlichen Flußsysteme Südamerikas verbindenden Kanalsystems inmitten einer aufstrebenden Wirtschaft skizziert, fährt Agassiz sarkastisch fort: "Such were the anticipations of Humboldt more than sixty years ago; and at this day the banks of the Rio Negro and the Cassiquiare are still as luxuriant and as desolate, as fertile and as uninhabited, as they were then" (ebenda, S. 342).
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dígenas, para estimar las observaciones que hacemos sobre la capacidad gubernativa de los pueblos sudamericanos, tales como los dejó la colonización española. En Bolivia hay millón y medio de habitantes, y otro tanto en el Perú, que conservan su traje, su idioma quichua o aimará, dando el enrolamiento en el ejército, ocasión para adquirir algunas frases españolas. De Méjico baste decir que de once millones de habitantes nueve son indios aztecas, y los mestizos, como los cholos, son una raza bastarda intermediaria que producen como lo observa Agassiz, degeneraciones morales, tanto como flsicas. En Méjico es el salteo en los caminos, industria nacional a que se consagran millares. Sábese que en Bolivia se cambian los gobiernos por el asesinato; y el Perú ha sucumbido en la anarquía, como Mendoza pereció en las llamas después del terrible terremoto que arrasó sus edificios.193
Mit Ausnahme des von einem Zeugen, wieder Agassiz, übernommenen Schlusses von der Rassenmischung auf moralischen Niedergang beschreibt Sarmiento die historische Wirklichkeit Lateinamerikas sehr sachlich und genau. Die Teilnahme an den Kriegen, den Unabhängigkeitskriegen ebenso wie den folgenden Bürgerkriegen, fungierte de facto als Weg für Indios zur Integration und bisweilen zum Aufstieg in der Welt der Weißen. In Kenntnis der soziale Unterschiede angleichenden Wirkung unter den einfachen Soldaten hatte Bolívar in der gezielten Rekrutierung der Indios auch ein Mittel zu deren wirtschaftlichen Besserstellung gesehen; für schwarze Sklaven hatte er sie konkret als Mittel zu deren Befreiung eingesetzt. Con la emancipación de las colonias, el indígena obtuvo una mejor posición, no tanto por la igualdad proclamada, sino por la importancia que al individuo daba la guerra que reclamaba brazos. Era una carga sin duda la que nuestros ejércitos hacían a los españoles, bajo las duras leyes de la disciplina militar, pero las guerras civiles hechas con las milicias de caballería, en las que es soldado y generalmente buen soldado el hombre del campo y de a caballo, el paisanaje indígena cobró ánimo, siendo adulado por sus jefes, no siempre más culto que él y muchas veces de su propia raza.194
3.3 Konsequenzen und Unentschiedenheiten bei Sarmiento Der europäischen Geschichte und der unterschiedlichen Art, wie sie die Historien Amerikas beeinflußte, widmete Sarmiento intensive Untersuchungen. Dabei überrascht sein Gesamturteil über die Geschichte Spaniens nicht und fällt erwartungsgemäß drastisch aus: "No miramos la Inquisición sino como institución política e intelectual, y bajo estas dos formas mató a la España y sus colonias..."195 Mit ihrer Außerkraftsetzung der Rechtsgrundsätze und der vernunftorientierten abendländischen Tradition habe sie das öffentliche Leben Lateinamerikas durch Tyrannei, Fanatismus und Ignoranz geprägt. 193 Sarniento, Conflicto y armonías II, a.a.O., S. 259f. 194 Ebenda. In dem Kapitel Ober die Bedeutung der berittenen Heere im ersten Band betont Sarmiento ebenfalls, daß die Teilnahme an den berittenen Heeren für den einzelnen Indio einen Akt der "Erhebung seines gedemütigten Geistes" darstelle, zunächst auch dann, wenn es auf der Seite der montoneras war (vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías /, a.a.O., S. 259f.). 195 Ebenda, S. 106.
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Die spanische Erblast sei durch das doppelte Trauma der kulturellen Eroberung der iberischen Halbinsel durch Juden und Mauren und ihrer Vertreibung und Unterdrückung charakterisiert. "Otra fue la suerte de los americanos indios y europeos durante la colonización";196 anders nämlich als das unglückliche Schicksal der zweieinhalb Millionen Hungerstoten innerhalb von nur zwei Jahrzehnten mitten im 19. Jahrhundert in Irland ("El hambre, pues, no es indígena de América"197), anders auch als das der ungezählten, an jedwedem Mangel Leidenden der Jahrhunderte des vorrevolutionären Frankreichs. Diesen Mangel konnte freilich als solchen nur erkennen, wer auch den unbegrenzten Luxus der feudalen Klasse im Blickwinkel hatte. Sarmiento las seine Quellen Quinet und Taine sehr kritisch und gewann ihnen die Erkenntnis ab, daß Barbarei das Aussehen des Elends und auch des nackten Terrors annehmen und mitten innerhalb der Zivilisation gedeihen könne. Im Nachvollzug von Taines Warnungen vor den Konsequenzen von Erosion und Zusammenbruch des alten Wertesystems gelingen Sarmiento scharfsichtige Analysen der Zivilisation, wenn er - an europäischen Entwicklungen - die Integrationsdefizite der säkularen Gesellschaften beobachtet. Sarmientos zentrales Motiv ist immer, den schädlichen und orientierungslosen Gang der lateinamerikanischen Geschichte seit der Unabhängigkeit aufzuzeigen und die politische Klasse von der Notwendigkeit zu überzeugen, mit dieser Geschichte zu brechen. All seine Beispiele, Episoden und Abschnitte aus der politischen und kulturellen Geschichte Europas gewinnen durchaus den Charakter von Lehrstücken zur Voranbringung jenes Motivs. Ihre Schärfe verdankt sich dabei vor allem Sarmientos außerordentlicher Fähigkeit, aktuelle Kritiken innerhalb des europäischen Diskurses bis zur Begriffswahl aufzunehmen und auf den lateinamerikanischen Gegenstand zu übertragen. So ist seine Darstellung der französischen Geschichte durchweg von zwei Interessen bestimmt: zum einen wird im Kontrast zu Spanien die Tradition der Aufklärung, der Enzyklopädisten und Rousseaus hervorgehoben und ihr Einfluß auf die nordamerikanische Verfassung beschrieben; zum anderen kommt Sarmiento immer wieder auf Chaos und Terror in der Revolutionsgeschichte zurück. Bereits in den vorrevolutionären Ständeversammlungen habe man sich nur noch überschrieen, Argumente hätten nicht mehr gezählt. Die Jakobiner werden als "fanatisch, neurotisch und halbwild"198 bezeichnet; darin erwiesen sie sich auch als dem romanisch geprägten Sozialcharakter zugehörig im Unterschied zum nüchternen anglikanischen. Die Nachunabhängigkeitsepoche in Lateinamerika zeige mehr als eine tragische Parallele zur blutigen Terrorzeit der Jakobiner. Die Sociedad Popular Restauradora übe als terroristisches Instrument der Diktatur Rosas' die Funktion einer Geheimpolizei aus und habe Exekutionen zu verantworten. Die Logik des Bandenflihrertums sei unter dem terror rosin endgültig zum allgemeinen Funktionsprinzip staatlicher und gesellschaftlicher Machtausübung geworden.1 196 197 198 199
Ebenda, S. 158. Ebenda, S. 159. Ebenda, S. 285. Sarmiento bemüht sich, die Rückschläge auf den verschiedensten Gebieten, die das Gemeinwesen durch Rosas' Diktatur erlitten hatte, herauszuarbeiten, gerade natürlich auch im Schulwesen
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Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Sarmiento zwischen der biologischrassischen und der soziologischen Erklärung der lateinamerikanischen Geschichte schwankte. Bisweilen rang er gleichsam um die Ableitung des so gewordenen Gesellschaftszustands aus der sozialen Struktur gegen die gängigere Erklärung aus rassischen, phänotypologischen Merkmalen. Indios, cuatreros criollos y contrabandistas dieron lugar a la creación de la palabra gaucho, cuando viven a caballo y vagan por los campos; pero la ciencia social no admite aquella clasificación cuando no corresponde a pueblo, plebe o siervo, para la explicación de los movimientos históricos.200
Immer wieder kreist Sarmientos Fragestellung darum, ob das gesellschaftliche Verhalten aus Geschichte und sozialer Gegenwart oder aus rassischen Naturdeterminanten zu erklären sei, worin die Anteile beider Komplexe an den Ursachen für die Handlungsentscheidungen der Menschen lägen und wie ihre Gewichte verteilt seien. Der Gegenstand, an den er seine Fragestellung herantrug, war in erster Linie das rohe, gesetzlose und demokratischen Fortschritt verhindernde Verhalten der von gesellschaftlichen Umwälzungen und Kriegen der indigenen und kreolischen Massen in einem seit Gedenken quasi staats- und rechtlosen Raum. Das die Fragestellung leitende Interesse war neben der theoretischen Erkenntnis die praktische Notwendigkeit, politische Maßnahmen gegen diesen Zustand zu ergreifen, Maßnahmen, die sich notwendigerweise an die Masse der Menschen richteten. An der europäischen Geschichte entwickelt er die SchlUssigkeit historischer Ableitungen, zeigt die entscheidenden Einflüsse der politischdemokratischen Erfahrungen, der Wirtschaft und Kommunikation fördernden Handelsbeziehungen, des nachhaltigen Einflusses auf geistige Freiheit und Selbständigkeit seitens der religiösen Systeme und weiterer Faktoren, um sodann die Unsinnigkeit von Behauptungen wie der folgenden nachzuweisen: "Se llega hoy häStä atribuir a la raza sajona una aptitud especial para el gobierno libre, que se complacen a negarle a la latina."201 Insofern sich natürliche und gesellschaftliche Bedingungen nicht starr gegenüberstehen, erbringen manche Auswertungen und Überlegungen der beiden Bände wertvolle Beiträge zu jener methodologischen Debatte, die von einem komplexen Bedingungsgefuge aus rassischen Zuschreibungen und klassen- und schichtenspezifischen Merkmalen ausgeht. Auf der Seite der natürlichen Bedingungen wird mitunter ein Begriff von gesellschaftlicher Natur erreicht, wenn in sie historisch gewordene Faktoren
als Sarmientos besonderes Anliegen (vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías II, a.a.O., S. 226f.). Vgl. zu der "Sociedad Popular Restauradora" auch John Lynch, a.a.O., S. 643. "Meanwhile in the provinces liberalism, like federalism, was oñen simply another name for caudillismo, and political party bosses soon became known as 'caudillos'" (ebenda, S. 656). 200 Sarmiento, ebenda, S. 99. 201 Sarmiento, Conflicto y armonías I, a.a.O., S. 107. 88
wie Ernährungs- und Bauweise miteingehen,202 wie auch in die sozialen Formen Idole und Stereotypen zurückgespiegelt werden und quasi-natürliche Idiosynkrasien entstehen lassen. Die geschichtlichen Einflüsse, die die Verrohung der Indios und anderer, von ihnen besonders betroffener Schichten, begünstigten, fugen sich zu einem fast hermetischen Bann zusammen. Ihre Vorgeschichte besteht in der Marginalität innerhalb der seit der conquista vom Kolonialregime bestimmten Entwicklungsgeschichte. Die außerstädtische Lebenswelt der Weiten war von permanenten regionalen Auseinandersetzungen, Plünderungen, Übergriffen auf Indianergemeinschaften und deren Gegenwehr beherrscht, die die Existenz von marodierenden Banden, Nomadentum und gegenseitiger Abgrenzung förderte. Der de facto seit der Unabhängigkeit andauernde Bürgerkriegszustand machte Zwangsrekrutierungen und die allgemeine Atmosphäre gänzlicher Unsicherheit zur Regel und bereitete die Indios auf keinerlei andere Praxis als die des Söldnertums vor. Sarmiento widmet diesen Zustandsschilderungen lange Passagen, vor allem am Beispiel der Kampagnen Artigas', der sich wahlweise als Föderalist oder als Führer der Indios bezeichnete und zu Recht sagen konnte: "Hablando Artigas de las terribles acusaciones de crueldad y barbarie que le hacían los diarios de Buenos Aires: 'A mí qué me importa -decía-; ¡como aquí nadie sabe leer!"203 Dabei ließ Sarmiento keinerlei Zweifel daran, daß dieses auf Führertum, Söldnerwesen, Grausamkeit, Verbrechen und konsequenter Vorenthaltung von Bildungsmöglichkeiten aufgebaute, sich selbst reproduzierende System auf alle ihm in gleichem Maße ausgelieferten Menschen gleich wirke, völlig unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Gezielt ihren negativen Einfluß auf die indigene Bevölkerung habe als ebenfalls gesellschaftlicher Faktor die ideologische Indoktrination der Jesuiten ausgeübt, der Sarmiento einen ähnlich großen Raum widmet. Unter der fatalen Doktrin eines utopischen Kommunismus hätten europäische Fanatiker auf dem riesigen Gebiet, das heute von Teilen Paraguays, Uruguays, Brasiliens und Argentiniens belegt ist, in den Missionsstationen ein "theokratisches Regiment"204 errichtet, das auf Verdummung, geistiger Unterwerfung, Zerstörung der Individualität, absoluter Kontrolle, Raub und Abschaffung des Eigentums und erbarmungslosem Schüren des Rassenhasses gegen die Weißen basiere. "Esta fruta de las misiones no tardó en madurar. Produjo el espantoso despotismo del doctor Francia, representante laico del sistema indiojesuítico."205 Jene verwilderten europäischen Elemente, die die denkbar schlechtesten, antichristlichen Vorbilder abgegeben hätten, zeigten ihrerseits deutlich, wie sehr Verrohung und Bereitschaft zur Anstachelung niederer Instinkte beim anderen die Folgen gesuchter oder schicksalhaft bedingt vorgefundener, jedenfalls aber in menschlicher Verblendung 202 Vgl. neben vielen weiteren Stellen: "La reproducción de la especie obedece en cada país a circunstancias peculiares, de clima, alimentación y poder físico" (Sarmiento, Conflicto y armonías II, a.a.O., S. 406). 203 Ebenda, S. 227. 204 Vgl. ebenda, S. 92. 205 Sarmiento, Conflicto y armonías /, a.a.O., S. 51.
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geschaffener Umstände seien und nicht in deren Abstammung lägen.206 An der nachhaltigen Wirkmächtigkeit der Missionen in weiten Segmenten der argentinischen indigenen Bevölkerung, die große Teile der verstreuten Massen aufgelöster Missionsstationen absorbierte, besteht für Sarmiento kein Zweifel, ebenso wenig wie daran, daß die besondere Rückständigkeit und des Despoten Francias utopia funesta in Paraguay direkt auf sie zurückzuführen seien. Schließlich hätten sie besonders willfährigen Nachschub für die Söldnerheere abgegeben. Diese Gemengelage negativer Einflußfaktoren vor allem auf die indigene Bevölkerung wurde wirksam in einer Gesellschaft, deren aufgeklärte, innovative, Bildung, Wissenschaft, Technik und Künste vorantreibende Kräfte durch die Inquisition und das Erbe der spanischen Rückständigkeit weitgehend lahmgelegt seien. Dagegen stehen die Rückgriffe auf die in der ethnischen Herkunft der Indianer und besonders der diversen rassischen Mischtypen wurzelnden, zur Barbarei neigenden Anlagen. Sie sind über die gesamte Studie zu Konflikt und Harmonien der Rassen verteilt und kommen besonders zum Tragen, wenn angesichts der Blutrünstigkeit und der offenbaren Aussichtslosigkeit eines Fortschritts in den Ereignissen die rationale, soziologische Analyse nicht mehr hinreichend erklärungsstark zu sein scheint. ¿Es tan perversa la naturaleza humana? pregunta el crítico, en presencia de aquella monotonía sangrienta que caracteriza esos horrores (die regionalen Kriege und separatistischen Bewegungen im Argentinien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, allen voran die Kampagnen Artigas', J. P ). Nuestra explicación satisface a esta pregunta. La naturaleza del hombre salvaje que encontraron los españoles, la de las indiadas medio domesticadas y apenas fijadas al suelo de la Banda Oriental, pues todavía andaban errantes algunas tribus a fines del pasado siglo, se presta a esos y peores excesos. Eran sargentos y cabos de aquellas chusmas estólidas, ignorantes y pobres las que ejecutaban tales depredaciones y tales actos de barbarie. Eran de estirpe oscura los capitanejos, eran indios, zambos y mulatos alzados los caudillos subalternos.201
Die schier unüberwindbaren Hürden, die das zivilisatorische Projekt in der Banda Oriental und in Säo Paulo vorfand, veranlaßten Sarmiento wiederholt zu Argumentationsfiguren, denenzufolge die Mischungen gestrandeter, zu Kriminalität und Bandentum neigender Europäer mit den wilden indigenen Bewohnern zu besonders ungünstigen, für den zivilisatorischen Fortschritt verlorenen Resultaten führten. Charakteristischerweise ließ er dafür wiederum Berichte, in erster Linie die Muratoris über die portugiesischen Mamelucken, sprechen. Bemerkenswert ist, daß das Zurücktreten aus einem bereits erreichten Stadium an Zivilisiertheit in die Wildheit diesen Schritt unwiderruflich zu machen scheint.208
206 Vgl. ebenda, S. 177ff., wo Sarmiento Reiseberichte zu den Missionsstationen von Muratoiri und anderen Europäern zitiert. 207 Sarmiento, Conflicto y armonías 11, a.a.O., S. 147 (Hervorhebung von Sarniento). 208 Vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías 1, a.a.O., S. 262f.
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Debe tenerse presente que sólo la Argentina, Chile, Uruguay y Colombia han organizado sistemas, aunque imperfectos y deficientes, de instrucción pública, y que en todos los demás Estados la ignorancia de las muchedumbres predomina como un rasgo general.209
Gegenüber dieser Bestandsaufnahme wird die Kolonisierung des nördlichen Teils des Kontinents als in jeder Hinsicht begünstigt und vorbildhaft hingestellt. El norteamericano es, pues, el anglosajón, exento de toda mezcla con razas inferiores en energía, conservadas sus tradiciones políticas, en que se degraden con la adopción de las ineptitudes de raza para el gobierno, que son orgánicas del hombre prehistórico, bravo como un oso gris, su compañero de vida en los bosques de Estados Unidos, amansado como una llama en ta vasta extensión del Perú, perezoso, sucio, ladrón como en las Pampas, y ebrio y cruel en todo el mundo, incluso en las antiguas Misiones, si no era hipócrita consumado, no obstante los idilios y consejas que esparcía por el mundo una sociedad de sabios, la cual daba ta tónica de los cantos que debía entonar la Orden en todas las lenguas para glorificación de Dios y su propio engrandecimiento.210
Unbeschwert vom idyllischen Irrglauben, Inquisition und Gegenreformation konnten sich die angelsächsischen Kolonisatoren also an ihr Werk begeben, eine auf Ordnung und Übersichtlichkeit gegründete und an wirtschaftlichem Erfolg als ihrem höchsten Wert orientierte Gesellschaft aufzubauen; die Vernichtungsfeldzüge gegen die Indianer im nördlichen Kontinent bleiben unerwähnt. Die fromme und nüchterne Weltzugewandtheit der Quäker, die Reformation von Calvin, Luther und Zwingli samt ihren theologischen Diskussionen2" und die angelsächsische Aufklärung mit ihrer umstandslosen Art, Rechte und Pflichten jedes Gesellschaftsmitglieds klar zu definieren und festzuhalten, kam ihnen dabei zugute. Das Ergebnis sei ein "aufgeklärter Föderalismus", die gelungene Balance von Zentralismus und Föderalismus. Aufgrund der skizzierten, höchst unterschiedlichen Vorgeschichten sei unterdessen eine direkte Übertragung des nordamerikanischen Modells auf Lateinamerika unmöglich geworden, weil an der Maxime festgehalten werden müsse, daß in einem künftigen Kontinent "serán gobernados todos por las leyes de su propia hechura."2I2 Aus der wirklichen Geschichte sei zu lernen, auch das, daß sie nicht die einzig denkbare sei. Sarmiento hielt immer daran fest, daß für die Gestaltung der künftigen Politik die zukunftsweisenden Ideen Bolivars, auch wenn die wirkliche Geschichte im ersten kurzen Jahrhundert seit Aufflammen der Unabhängigkeitskämpfe einen anderen Weg eingeschlagen habe, eine Orientierung unter Einbezug der gemachten Errungenschaften im Hinblick auf eine kontinentale Einheit darstellen.
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Sarmiento, Conflicto y armonías II, a.a.O., S. 243f. Sarmiento, Conflicto y armonías I, a.a.O., S. 210. Vgl. ebenda, S.213f. Ebenda, S. 201. Diesen Satz hob Sarmiento im Original kursiv hervor. Seine Aussage stelle eines der wesentlichen Kriterien für den Erfolg einer Verfassung dar, dessen Probleme er hier an der Durchsetzung der Verfassung von Pennsylvania diskutiert. 91
Unida de este modo (Sarmiento bezieht sich hier auf die seit den ersten Unabhängigkeilsbestrebungen im Süden des Kontinents existierenden Ideen einer argentinisch-chilenischen Konföderation, für die es bereits die Pläne eines Kongresses gegeben hatte, J. P.) la América, bajo un jefe capaz de conducir sus operaciones, habría bien pronto cambiado su aspecto de anarquía y con un gobierno regular y organizado, que habría en toda probabilidad sido la fundación de la grandeza de la América,213
4. Fernando González Ochoa als Historiker und als politischer Schriftsteller In der Geschichte der Sozialwissenschaften in Lateinamerika ist González jener Strömung am Übergang zum 20. Jahrhundert zuzurechnen, die trotz des von Bürgerkriegen, regionalen Fehden und caudillistischen Machtansprüchen geprägten, zu Ende gehenden Nachunabhängigkeitsjahrhunderts die Gründe für diese Misserfolgsgeschichte nicht in erster Linie in der wie auch immer entstandenen Mangelhaftigkeit der eigenen menschlichen Ressourcen vorfand, sondern in kontinentalen und globalen Abhängigkeitsverhältnissen, interner undemokratischer Machtausübung und Ausbeutung und der aus dieser Sicht fatalen Nachahmung ausländischer Modelle für alle Politikbereiche. González sah sich also jener Seite gegenüber, die durch Gustave LeBons und Herbert Spencers positivistische Soziologie inspiriert war und zu deren repräsentativsten Werken Alcides Arguedas' Pueblo enfermo (1909), Octavio Bunges Nuestra América (1903) und César Zumetas El continente enfermo (1899) zählen.214 Mit der Sichtweise der Unabhängigkeit als unvollendeten Projektes kam es zu einer neuerlichen Beschäftigung mit und affirmativen Bezugnahme auf Bolívar, deutlich etwa in Laureano Vallenilla Lanz' Caesarismo democrático. Estudios sobre las bases sociológicas de la constitución efectiva de Venezuela, die 1919 in Caracas erschienen waren. Die Schriften des venezolanischen Historikers und Beraters von Juan Vicente Gómez dienten González als wichtige Quellen für seine historischen Studien. Die Anknüpfung an Bolivars supranationale und antiregionalistische Visionen ist ein Hauptmotiv in seiner Kritik der liberalen und konservativen Regierungen an der Spitze der drei aus GroßKolumbien entstandenen Staaten, die allesamt aus der Tradition der antibolivarianischen Fraktionen am Ende der Unabhängigkeitskriege hervorgingen und Bolivars Ideen aus ihren Programmen gestrichen hatten. Mit seinen Geschichtsstudien wollte González das verschüttete Erbe der Ideen Bolivars und anderer wieder freilegen und die Wurzeln der von ihm als die Hauptübel seiner Gegenwart ausgemachten Denk- und Empfindungsweisen aufzeigen: die Verleugnung der eigenen Ursprünge in den indigenen Völkern, der daraus resultierende, kollektive Minderwertigkeitskomplex und die obsessive Imitationswut ausländischer Modelle, gepaart mit dem sozialpsychologischen Syndrom der inhaltslosen Eitelkeit (vanidad), das die Lern- und Selbstkritikfähigkeit untergrabe.
213 Sarmiento, Conflicto y armonías //, a.a.O., S. 154. 214 Vgl. Charles A. Hale, "Political and Social Ideas in Latin America, 1870-1930", in: Leslie Bethell (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. IV, Cambridge 1986, S. 399.
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Die Kritik der vanidad ist eine der zentralen Denkfiguren González', die im Zuge der Kommentierung und Kontextualiserung seiner Werke entfaltet werden wird. Seinem Essay über Großkolumbien stellt er eine kurze linguistische Vertiefung der vanidad voran, die sein Spiel mii der dialektischen Doppeldeutigkeit des Wortes antizipiert. Diese semantische Dialektik von Leere und Eitelkeit, die sich etymologisch auf den im Lateinischen ursprünglich auf die Bedeutung der "Leere" begrenzten Wortstamm zurückfuhren läßt, hat sich in der spanischen Sprachgeschichte über die Jahrhunderte hinweg entfaltet. Die Bedeutungserweiterung im Gebrauch von el vano als hombre frivolo verbürgt Joan Coraminas bei Mateo Alemán in der Vida del picaro Guzmán de Alfarache (um 1600); unter dem Lemma der vanidad des Wörterbuches der Real Academia de la lengua castellana steht erstmals in der 5. Ausgabe von 1817 ridicula y afectada, die Nominalphrase der persona vanidosa wird erst in seine 12. Ausgabe von 1884 aufgenommen.2 5 González benutzt den Begriff der vanidad, um den inneren Zusammenhang von Leere, vom Hang zur Nachahmung und vom Sozial verhalten der arroganten Eitelkeit in der lateinamerikanischen Kultur aufzuzeigen; und zwar als einen Zusammenhang, der sie in ihrem Bann hält und an der Entwicklung hindert. Sie verhindert den bewußten, authentischen und stolzen Selbstausdruck sowohl dessen substanzieller Voraussetzungen nach, indem sie nämlich den auszudrückenden Inhalt, die zur biographischen Identität gewordene Akzeptierung der eigenen Geschichte verleugnet, verstümmelt und vor sich selber verbirgt, als auch dessen Form nach, weil gleichermaßen Darstellungsnormen und ästhetische Prinzipien kopiert werden. Jener als dialektische Einheit von Identität und Manifestation gedachte Selbstausdruck ist die Voraussetzung für ein gesellschaftliches Handeln, das die den entstandenen Mischgesellschaften eigenen Kräfte angemessen zur Entfaltung bringen könnte. Egoencia y vanidad. Esta es vacio; aquella realidad. El vanidoso simula y sus manifestaciones o formas carean de ta gracia vital. El egoente, haga lo que hiciere, tiene la gracia de la lógica;
215 Vgl. González. Los Negroides, a.a.O., S. 1 lf., u. Joan Corominas, Diccionario crítico etimológico de la lenguc castellana, 4 Bde., Madrid 1954-57, Bd. 4, 1957. Das von der Real Academia de la Lengua Castellana 1726 bis 1739 in 6 Bänden herausgegebene Wörterbuch der Autoritäten vermerkt vanidoso ohne Erwähnung der Bedeutungsfacetten. Die neue Ausgabe des kritischen etymologischen Wörterbuches von Joan Corominas und José A. Pascual bringt geschichtlich keine wesentlichen Erweiterungen, sondern in erster Linie regiolektische Parallelbildungen wie z. B. vanearse 'a cabeza (Joan Corominas/José A. Pascual, Diccionario crítico etimológico de la lengua castellala, 6 Bde., Madrid 1980-91, Bd. 5, 1983). Am Rande sei vermerkt, daß Friedrich Kluge ein ähnliches Ineinanderspielen lexematischer und semantischer Entwicklung für das Wort Wahn acgibt: "Im Deutschen ist das Wort (mittelhochdeutsch, althochdeutsch, altsächsisch: wan - Hoffnung, Erwartung, J. P). nach der Dehnung in offener Silbe mit mittelhochdeutsch wan 'leer' zusammengefallen (s. wahn - leer unverständig mangelhaft, J. P), mit dem es sich in einigen Ableitungen auch semantisch berührte (eitler Wahn, Wahnsinn usw). Die Bedeutungen haben sich gegenseitig beeinflußt, worauf Wahn eine negative Komponenete bekam (Wahnsinn, Wihnwitz)" (Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin u. New York, 22. Aufl. 1989).
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haga lo que hiciere, ya vaya roto o sucio, nos enamora, porque la vida es lo que nos subyuga216
Das aus dem Eitelkeitskomplex hervorgehende Epigonentum führt zu einer grundlegenden Unsicherheit des Handelns, zu den fobias yfetichismos,217 die das öffentliche Leben und die gesellschaftlichen Umgangsformen in Lateinamerika prägen; dies gelte für Rechte wie für Linke. Im Fortgang des Essays diskutiert González verschiedene Einwände gegen sein Konzept des Eitelkeitskomplexes. So bestätigt er, daß die Nachahmung der Eltern durch die Kinder, der Lehrer durch die Schüler und auch der Reichen durch die Armen ein Grundprinzip philogenetischen wie ontogenetischen Lernens sei und daß man bei der Rekonstruktion der Form geschichtlichen Fortschritts, von dem stets nur a posteriori gesprochen werden könne, wie er durch große geistige und politische Führer wie Alexander, Christus, Cäsar oder Attila in Gang gebracht wurde, nicht umhin komme, von einer versklavenden (esclavizador) Wirkung auf die Massen 0rebaño) zu sprechen. Nach der erneuten Bestimmung seines Begriffs von Eitelkeit ("Hurto de cualidades para ser considerado socialmente"218) versucht er, mittels der in der Geschichte möglichen Unterscheidung zu Führern, die nicht auf die unterwürfige Gefolgschaft von Massen, nicht auf die christlich-apodiktische Seeleneroberung des "für mich oder gegen mich" aus gewesen seien - neben Buddha, Siddharta Gautama und Gandhi nennt González aus der westlichen Tradition Descartes, Pasteur, Einstein und führt den Gedanken der freiheitlichen und selbständigen Beziehung am Beispiel der Pasteur-Schüler Roux, Calmette und Roman aus - Kriterien für Freiheit, Förderung des Selbstausdrucks und Unterwerfung in der Politik zu entwickeln. Ein anderes als jenes Erkenntnisinteresse an den genannten historischen Personen, das diese nur als heroische Führer glorifizieren wolle, könne in der Beschäftigung mit ihnen selbstverständlich auch für die gegenwärtige Erziehung und Bildung emanzipatorische Bezüge klarmachen, was besonders an der einseitigen Instrumentalisierung der Christusfigur deutlich werde. Simón Bolívar wird als "Genie der Freiheit" bezeichnet, was sich gerade in diesem Abschnitt gegen die kritische Gedankenführung als ausgesprochene Hypostase abhebt. Die vanidad, der complejo colonial,™ ist als strukturelle soziale Kategorie konzipiert. Die Orientierung an ausländischen Mustern ist keine akzidentelle subjektive Verhaltensunsicherheit, sondern ein kollektiver Zwang, dem sich zunächst auch die Indios, so216 González, ebenda, S. 21. 217 Ebenda, S. 51. 218 Ebenda, S. 67. Die Erläuterung von González' Diskussion der Einwände folgt dem Abschnitt XXIV der Negroides, S. 67-72. 219 "En 'Los Negroides' examiné dramáticamente, o sea, partiendo de mi personita, eso que se llama vanidad, mentira, estar poseído por el demonio de querer ser otro, el complejo colonial, etc." (Femando González in seiner schriftlichen Antwort auf die schriftlichen Fragen, die ihm 1960 der Jesuitenpater Jaime Vélez Correa gestellt und deren Transkription sein Bruder in der Literaturbeilage des "El Colombiano" vom Sonntag, 30. April 1995, die Femando González gewidmet war, veröffentlicht hatte; vgl. El Colombiano, 30. April 1995, Literaturbeilage, S. 9, Medellin 1995).
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fern sie den marginalisierten gesellschaftlichen Status verlassen konnten, nicht entziehen können. Alle sind hijos del pecado,220 wobei pecado als kollektives Unbewußtes verstanden wird, das als historisches Resultat des coloniaje político, racial y literario alle Gesellschaftsmitglieder in seinem Bann hält. Diese Unentrinnbarkeit des sozialpsychologischen Erbes des Kolonialismus ist zugleich auch eine Ursache des Umstands, daß die Erhaltung und Entwicklung einer eigenständigen mestizischen Identität, in der die heterogenen Bevölkerungsteile Platz hätten, weder in der Konservierung der marginalen Enklaven noch in der Integration an den status quo zu finden sein wird. Es ist interessant, daß Sarmiento die vanidad als Kategorie zur Charakterisierung der argentinischen Nation und insbesondere der Mitglieder ihrer unteren Schichten positiv verwandte. Sie habe ihr Fundament in der intimen und nützlichen Kenntnis der unermeßlichen Natur und der Fähigkeit, in ihr zu überleben, was sich besonders an der Zähmung der wilden ungestümen Pferde erweise. Wenn dieser Stolz in seiner Dimension der Verachtung gegenüber den zu all diesem unfähigen Europäern auch mittelmäßig sei, so dürfe gerade nicht unterschätzt werden, "cuánto no habrá podido contribuir a la independencia de una parte de la América la arrogancia de estos gauchos argentinos, que nadie ha visto el sol mejor que ellos, ni el hombre sabio ni el poderoso".221 Demgegenüber benutzte Justo Sierra Méndez ganz ähnlich wie später González die vanidad ebenfalls als Kategorie zur kritischen Kennzeichnung der Lethargie und des Desinteresses an der Entwicklung eigener Originalität seitens der kreolischen Massen Mexikos. In dem erstmals 1900 veröffentlichten Text Etnografía y demografìa folgt einer kritischen Auseinandersetzung mit LeBon die Charakterisierung José María Morelos' als großen Mestizen und eines der energischsten Menschen der Geschichte Mexikos, daraufhin die Einschätzung, daß die mestizische Völkerfamilie Mexikos den dynamischen Faktor seiner Geschichte dargestellt und die Elemente, die sie befruchteten, in sich aufgenommen habe.222 Mit der Betonung des dynamischen und energischen Moments griff Sierra gezielt die Stereotypen insbesondere über die zentralamerikanischen Mestizen an. Die Erfolge der Geschichte seit der Unabhängigkeit bis zum erreichten Stand der Industrialisierung sei ihnen zu verdanken, während es sich beim Patriotismus der Kreolen mit wichtigen Ausnahmen um hochmütige Eitelkeit handele: Los criollos ricos, con marcadas excepciones, apenas educados intelectualmente, criados en el despego del trabajo encontrando en todos los vicios que facilita el servismo, desde tiempo in220 Vgl. González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 32. "Sobre todo en el suramerícano está latente el pecado del español que en noche calurosa empujó la puerta de la esclava negra y después se fue a rezar, y a poner aquella cara larga y atormentada de Felipe II" (ebenda). 221 Sarmiento, Facundo, aa.0., S. 19. Ebenda und auf der folgenden Seite stehen auch Sarmientos affirmative Ausführungen zur Bedeutung der vanidad. 222 Vgl. Justo Sierra Méndez, "Apuntes para un libro", in: Justo Sierra M., Evolución política del pueblo mexicano, Caracas 1977, S. 295f. Wie der Herausgeber Abelardo Villegas im Anhang der Ausgabe der Biblioteca Ayacucho, aus der zitiert wird, schreibt, wurde die Textsammlung zuerst 1900 unter dem Titel México, su evolución social veröffentlicht und später als Appendix zu ersten Ausgabe des Buches Evolución política del pueblo mexicano von 1948 unter dem Titel Apuntes para un libro erneut veröffentlicht (vgl. ebenda, S. 394).
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memorial establecido en las haciendas con diversos nombres, una satisfacción suficiente para su vida animal, y en las prácticas minuciosas del culto católico el ideal de sus aspiraciones morales, los criollos ricos han constituido una clase pasiva, en donde el dogma político ha sido la incapacidad radical del pueblo mexicano para gobernarse a sí mismo y la necesidad de una intervención, y en donde el amor por la patria mexicana es, cuando existe, un sentimiento de vanidad, no un afecto activo y profundo.215
Am Rande sei schließlich noch vermerkt, daß auch López de Mesa die vanidad als kritische, sozialanalytische Kategorie einsetzte. Wenn auch nicht in der umfassenderen Bedeutung der Beschreibung einer allgemeinen mentalen Befindlichkeit der ganzen Gesellschaft, so verweist dennoch López de Mesas Erwähnung der vanidad als einer die Kriminalität und die zunehmende öffentliche Unsicherheit und Unbehaustheit der Gesellschaft begünstigenden Disposition auf die gleichen Konnotationen der Eitelkeit, bei ihm speziell als Antrieb zur Bereicherung, und der Leere im Sinne des Mangels an Werten ftir eine soziale Handlungsorientierung.224 Dies ist um so erhellender, als gerade die Kriminalität eines der Standardargumente des sich auf die biologisch-eugenische Minderwertgkeit der Rasse gründenden Diskurses war. In seinen bisweilen vehementen Plädoyers gegen eine Politik der Zuwanderungsbegünstigung bediente sich González mitunter auch fremdenfeindlicher und umgekehrt rassistischer Diskurse. Der Fremde selbst ist freilich nie die Zielscheibe der Kritik, sondern die leere und eitle Attitüde seiner Landsleute, die jenem um allen Preis nachzuahmen trachteten; daneben natürlich ebenso die persönliche Bereicherung durch Verträge, die nationale volkswirtschaftliche Interessen benachteiligten. Gleichwohl herrschte für González nicht der geringste Zweifel bezüglich der globalen künftigen Entwicklung: Vendrá inmigración de todos los puertos, porque aquí hay tierra y riquezas y tendemos a la libertad, y se fundirán todos los organismos y aparecerá el verdadero hombre, el gran mulato adaptado. Se fundirán todas las religiones y aparecerá una gran unidad ideológica, unidad de amor y de conciencia.225
Kolumbiens Wirtschaft hatte nie die Anziehungs- und Nachfragekraft entfalten können, um seine Gesellschaft zu einer Einwanderungsgesellschaft zu machen. Im Zuge der forcierten Modernisierung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entspann sich zwar wieder einmal eine Debatte um eine offensive Immigrationspolitik nach argentinischem Vorbild, die aber, nicht zuletzt aufgrund der dort gemachten Erfahrungen der Einflußlosigkeit auf die Bevölkerungsströme, zu keinen klaren Konturen bezüglich einer künftigen demographischen Politik führte. Eine Gegenstimme gegen die Immigration
223 Sierra M., ebenda, S. 299. 224 Vgl. Luis Eduardo López de Mesa, "Del atraco y otros delitos", in: López de Mesa, La sociedad contemporánea, a.a.O., S. 188f. 225 González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 57.
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war 1910 auch von Roló erhoben worden, der vor dem Trugschluß einer quantitativen Erhöhung der Bevölkeungszahl auf die zivilisatorische Wirkung gewarnt hatte.226 Zu Beginn des 20. ahrhunderts setzte in Kolumbien eine Rezeption eugenischer Theorien ein, die eng \erbunden war mit der Beschäftigung mit Problemen der Volksgesundheit und dem noralischen Zustand der Gesellschaft sowie der Ausarbeitung hygienischer Programne seitens engagierter Ärzte und Politiker. Für Antioquia belegen dies unter anderen Sclriften wie El factor étnico von Luis Eduardo López de Mesa (1927), der 1930 in de- Zeitschrift der Universität von Antioquia abgedruckte Aufsatz von Laurentino Muñoz£/ certificado prenupcial en Colombia und die umfassende Praxis als liberaler Politiler, Arzt und Publizist von Alfonso Castro, für ganz Kolumbien vor allem die in der Bcgotaner Bibliothek Minerva verlegten Schriften von Jorge Bejarano, z. B. La delincuencia infantil en Colombia y la profilaxis del crimen (1929) und Higiene general (1932), deren Titel die oben genannten Beweggründe der erhöhten Aufmerksamkeit für dé biologische Evolution der Rasse unterstreichen.227 Es ist verbürgt, daß González sihon früh die Schriften von Alfonso Castro kennengelernt hatte;2 8 seine Ansichten varen denen von López de Mesa von der unfertigen, sich durch die Mischung der vers(hiedenen Ethnien erst langsam bildenden Nation nahe, wenn er auch jedes Pathos um (ie kolumbianische Nation als geschichtlich-politisches Ziel vermied. Interventionen wie dit des an LeBon und Gobineau geschulten, eugenisch orientierten Mediziners und Politilers Miguel Jiménez López hatten die Debatte in Kolumbien polarisiert. Der Neurdoge und Psychiater Jiménez López beabsichtigte, eine die gezielte Einwanderung zum Zweck der Verbesserung der eigenen Rasse befürwortende Bewegung zu entfachei. Er hatte dazu eine rege Öffentlichkeitsaktivität entfaltet, was neben Vorträgen vor alem in kurzen programmatischen Streitschriften, z. B. La locura en Colombia y sus caisas (1916), La inmigración amarilla a la América (1929) und seinem Hauptwerk vor 1920 Nuestras razas decaen. Algunos signos de degeneración colectiva en Colombiay en los países similares zum Ausdruck kam. Jiménez López führte die wirtschaftlicie Zurückgebliebenheit, die politische Isolation, die infolge der hohen Kinder- und Kraikheitssterblichkeit defiziente demographische Entwicklung, die häufige Untauglichkeit der männlichen Jugend für den Militärdienst, den Anstieg der Kriminalität, die Ausbietung der Geschlechtskrankheiten, den Alkoholmißbrauch (und nicht zufällig dabei dai als besonders primitiv geltenden cA/cAa-Konsum ins Visier nehmend) auf die eujenische Minderwertigkeit der indigenen Rasse zurück, deren ungünstige Dispositionen durch die Kreuzung mit ebenfalls minderwertigen Rassen wie den asiatischen sich noih verstärkten. Er verfocht offensiv eine Immigrationspolitik und warnte Politiker und Äzte nachdrücklich davor, den Anschluß an die moderne Eugenik
226 Vgl. Marga Graf, "Ei marcha a la sociedad moderna latinoamericana Los cuatro aspectos del americanismo de Roló", in: Ette, Ottmar/Heydenreich, Titus, José Enrique Rodó y su tiempo. Cien años de 'Ariel', Tankfurt/M 2000, S. 145. 227 Vgl. Miranda Canal, La.O. S. 257ff. 228 Vgl. die Einleitung Fdel Canos zu González, Pensamientos de un viejo, a.a.O.. S. 15.
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zu verlieren.229 "Harte" eugenische Maßnahmen wie Zwangssterilisierungen devianter Personen wurden in Kolumbien jedoch sogleich verworfen. Aber auch der von der durch Jiménez López vertretenen Richtung geforderte certificado médico prematrimonial konnte sich schließlich nicht durchsetzen, wofür zu erwartende Probleme aus den sozialen Beziehungen zwischen Ärzten und Patienten, Bedenken der Kirche, Nichtvereinbarkeit mit der die Privatsphäre schützenden Verfassung, Undurchführbarkeit und Unnötigkeit, die von Jiménez López selbst von Beginn an gebrauchte Sprache eines racismo cientifizado und die Nähe dieser eugenischen Programme zum aufsteigenden Faschismus in Europa angeführt werden. Greifbarstes praktisches Ergebnis der Beschäftigung mit der neuen Wissenschaft war 1938 die Gründung des Ministerio de Higiene y Previsión Social.23° In seiner nationalistisch gefärbten Anti-Einwanderungshaltung argumentierte González geschichtsmythologisierend mit der reichhaltigen und identitätsstiftenden Kraft der eigenen Genealogie und vermied eugenische Diskurse, die sich auch in Kolumbien deutlich in die Diskriminierungsstrategien gegen ethnische und populäre Kulturen eingefugt hatten. No hay necesidad de ninguna inmigración. La hay de caminos y unión entre las partes del continente. Las tierras se valorizan con las obras públicas; durante los gobiernos conservadores tales obras se hacían para valorar las fincas de los gamonales: por eso carecemos de vias troncales patrias y somos ricos en amagamientos de senderos,231
In den Geschichtsstudien und den zu überprüfenden Versuchen, sich von eurozentristischen diskriminatorischen Auffassungen zur Bedeutung der ethnischen Dynamik abzusetzen, spielt immer wieder das philosophisch-methodologische Problem des Verhältnisses von Determiniertheit und Freiheit eine entscheidende Rolle. Gegen den konservativen Fundamentalismus in Kolumbien, mit dessen Entstehung der Name des bisweilen zu einem irritable dogmatism neigenden Miguel Antonio Caro eng verbunden ist (Malcolm Deas), argumentierte der in einer Jesuitenschule erzogene und später eine 229 Vgl. zum Einfluß von Jiménez López und seinem Hauptwerk Nuestras razas decaen: Henderson, a.a.O., S. 85ff. Unter Berufung auf C. Solano berichtet Diana Obregón Torres aus der Geschichte des Kampfes gegen die Lepra in Kolumbien vom Diskurs über die besonders schwer (oder un-) heilbare Form der Lepra, an der die hybriden Elemente erkrankten, und die damit einmal mehr dem Kampf um die Volkshygiene im Wege stünden (vgl. Diana Obregón Torres, "Medicalización de la Lepra: una estrategia nacional", in: Universidad Nacional de Colombia, Dpto. de Historia, Anuario Colombiano de Historia Social y de Cultura, Bogotá 1997, S. 164). 230 Vgl. ebenda, S. 144ÍT. 231 González, Mi Compadre, a.a.O., S. 90f„ und Fernando González, Estatuto de valorización, Medellín 1942, S. 107. Aus zahlreichen Texten González' geht klar hervor, daß er natürlich wußte, daß der kolumbianische Gamonalismus nicht auf die Konservativen beschränkt war; die im Zitat vorgenommene Hervorhebung mag auf die parteipolitische Dynamik des Magistrats von Medellin Anfang der 1940er Jahre zurückzuführen sein, als dessen parteiloses, aber die Liberalen unterstützendes Mitglied González den Bewertungskodex zur Steuererhebung, den er auch als dessen Wertegrundlage verstanden wissen wollte, geschrieben hatte.
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Uberkonfessionelle Religiosität entwerfende González fiir die Säkularisierung der Gesellschaft. Zugleich setzte er sich von der szientifisch verbrämten, "modernen" Stigmatisierung der lateinamerikanischen Rasse ab und bemühte sich um historisch-kulturelle Ursachenbestimmung der ebenfalls konstatierten Mängel und folgte (auch in Sprachduktus und Emphase) darin dem Medelliner Arzt und Liberalen Alfonso Castro, der sich selbst intensiv mit den gravierenden Problemen der Volkshygiene, im besonderen der Geschlechtskrankheiten, beschäftigte. Graves problemas confrontamos en la hora presente: ojos ávidos escrutan nuestro destino; codicias voraces despierta nuestro suelo, y no es del caso, por lo tanto, ser nosotros mismos los que a los cuatro vientos lanzamos el enlabio de nuestra ruina moral y física. Si degenerados estamos, si suculenta presa de conquista somos, que sean los de afuera los que lo afirmen y lo prueben.
Das Vorhaben, Reflexionen über die multiethnische Hybridität des eigenen Volkes im Interesse ihrer Anerkennung, ihres Ausdrucks, ihrer identitätsstiftenden Kraft und der solidaridad ancestral233 zu fuhren, sah sich Gegenpositionen von ganz unterschiedlicher Natur und heterogenen Beweggründen gegenüber wieder. Die Auffassung, die von der rassisch determinierten Minderwertigkeit der indigenen und schwarzen Bevölkerung ausging, fand sich häufig in Union mit der Propagierung von "wissenschaftlich" bestimmter und ärztlicher Kontrolle unterworfener Hygiene, Prävention und Reproduktion und wurde von der Kirche bekämpft. González orientierte ebenso wie Castro dennoch seine grundlegende Ausrichtung fiir die Säkularisierung und gegen "prejuicios de origen religioso, como la superchería, la doble moral y el fanatismo doctrinario."234 4.1 Werkübersicht Die Figur Simón Bolívars hat zentrale Bedeutung fiir das gesamte Werk von Fernando González. Die Ergebnisse seiner Studien über die Zeit der Unabhängigkeitskriege und ihrer Folgen hat er in erster Linie in den Büchern "Mi Simón Bolívar" (1930) und "Santander" (1940) vorgelegt, jeweils zum hundertsten Todestag der beiden proceres. Taten und Schriften Bolívars repräsentieren fiir González den bisher mutigsten und vollkommensten Versuch, der Vision vom "neuen Kontinent" den Weg zur Verwirklichung zu bahnen. Das Kriegsziel habe nicht nur in der Unabhängigkeit von Spanien, sondern in der Schaffung des "Kontinents der Zukunft" bestanden: die Überwindung der von der 232 Alfonso Castro, Degeneración colombiana, Medellín 1920, S. 31. 233 Das erste Kapitel, "El ancestro", seines umfassenden Kompendiums zu González' Gesamtwerk widmet Alberto Restrepo der Bedeutung des Ursprungs in ihm. "Sin una cara visión de su (von González, J. P). posición y actitudes ante el problema ancestral, no resulta posible entender qué quería decir al repetir, incesantmente, que vivía, a la vez, la solidaridad ancestral y la lucha por la originalidad y el desnudamiento de los atavismos que encarnaron sus abuelos" (Alberto Restrepo, Para leerá Fernando González, Medellín 1997, S. 50). 234 Alfonso Castro, Lecturas para el pueblo. Enfermdedades venéreas, Medellín 1912, S. 78.
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Metropole etablierten, willkürlichen regionalen Grenzlinien, vor allem der audiencias,235 als Überwindung der Bedingungen, die dann den Operationsfeldern der caudillos, den Partikularismen aller couleur und auch dem lateinamerikanischen Nationalismus so fruchtbaren Nährboden bieten sollten. Die vorliegende Arbeit beginnt mit der am engsten den historischen Verwerfungen der Unabhängigkeitskriege in Neu-Granada folgenden Untersuchung über Santander, um sodann zu den mehr theoretischen Überlegungen vorzudringen, die in den anderen, im vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstandenen Texten überwiegen. Hauptanliegen dieser Schriften ist die Entmythisierung der beiden titelgebenden Figuren, um einer nüchternen Beschäftigung mit den Umständen, unter denen die Unabhängigkeit errungen wurde, und dem ihr folgenden, von gewaltförmigen Auseinandersetzungen und diktatorischen Regierungsformen geprägten Jahrhundert in den Nachfolgestaaten Groß-Kolumbiens den Weg freizumachen. In der Mythisierung beider Figuren stimmten die liberale und die konservative, bzw. nationale Partei überein, deren fanatisch und "quasireligiös" ausgetragene Konflikte die kolumbianische Geschichte des 19. Jahrhunderts beherrschend geprägt 236 und im "Krieg der tausend Tage" von 1899 - 1902 einen grausamen Höhepunkt gefunden hatten. Ha llegado el momento de bajar al Libertador del caballo de las esculturas encargadas por los caudillos tropicales y de montarlo en su muía orejona, porque en caballo no se pueden atravesar y recorrer los Andes. Bolívar lo usaba para entrar a las ciudades, y domaba potros en los llanos del Orinoco, pero en su obra larga y paciente fue acompañado de la muía. Es preciso acabar ya con el Bolívar del terrible juramento redactado por el doctor Manuel Uribe Angel;237 con el Bolívar de los que escriben por encargo de los presidentillos de las pequeñas repúblicas en que dividieron su gran obra,238 235 Vgl. Hans Joachim König, Auf dem Wege zur Nation - Nationalisms im Prozeß der Staats- und Nationenbildung Neu-Granadas, Wiesbaden 1988, S. 248. González' minutiöse, teilweise auch mit linguistischen Mitteln durchgeführte Analyse der Schriften Santanders legt zumindest noch weitere Blickpunkte auf die Gegensätze zwischen Bolívar und Santander nahe gegenüber dem einen, von König (vgl. ebenda, S. 246f) auf die Differenz von Militarismus und Zivilismus gerichteten. González zitiert die gleiche Stelle wie König aus dem Brief Bolivars an Santander, läßt aber für Santander Zivilismus nicht gelten. Santanders Rückzug auf Paragraphen gilt ihm vielmehr als fassadäre Argumentation, die nur dem Eigennutz diene und den Geist der Konstitution mit den Buchstaben der Gesetze erschlage (vgl. González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 216). 236 "Nicht der Staat, bzw. die Regierung, sondern die beiden Parteien verfügten also über das Monopol der Zwangsgewalt im damaligen Kolumbien" (Heinrich-W. Krumwiede, Politik und katholische Kirche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß - Tradition und Entwicklung in Kolumbien, Hamburg 1980, S. 240). 237 Manuel Uribe Angel war ein wichtiger Arzt und Schriftsteller im letzten Jahrhundert aus Antioquia, der mit historischen Essays über Medellin im Kontext der Entdeckung Lateinamerikas, zu Cervantes, mit dem Essay "Bolívar, poeta" und der 1881 der Medizinischen Gesellschaft von Bogotá gewidmeten Schrift "Medicina en Antioquia" hervorgetreten war. In dieser Schrift, die González' Widerspruch herausforderte, legt Uribe, darin ganz der begeisterte Zeuge der naturwissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit, seinen WissenschaftsbegrifT dar: "Decimos, pues, como expresión concreta: para las matemáticas, el cálculo para las ciencias físicas y experimentales el análisis y la experimentación; para las ciencias filosóficas, la lógica, y para las religiosas, 100
Es necesario haberse compenetrado con el estado social, espiritual y materia! de Suramérica durante los primeros años de ¡a revolución, para comprender el significado del 'Manifiesto de Cartagena'P9 Des weiteren ist die herausragende Rolle der methodologischen Selbstvergewisserung bei der Aufarbeitung und Darstellung der Forschungsergebnisse hervorzuheben. Deutung und (Neu-)Bewertung der Geschichte sind ein Jahrhundert später Fragen von höchster politischer Aktualität und Parteilichkeit. González' Ausfuhrungen werden von der Erkenntnis geleitet, daß als Geschichte immer das Bild entsteht, das sich die gegenwärtigen Generationen von ihrer Vergangenheit machen. Der Forscher selbst ist Erbe dessen, was er untersuchen will. Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt. 240 Der Gefahr der Zirkularität von Erkenntnis, vom "Kreis der Betrachtung"241 ist sich González bewußt: "El que aborda un objeto de conocimiento, se ve a si mismo en él; el universo es un espejo, nos devuelve nuestra imagen." 242 Die Tautologie der idealistischen Erkenntnis, deren Begriffe gemäß der ihnen eigenen, reinen Gedankenlogik am Schluß zur einfachen Einheit ihres Anfangs zurückkehren, will González durch den bewußten Einbezug der materiellen und kontroversen Interessen, die über Gesichtspunkt und Betrachtungsweise der Geschichte entscheiden, über-
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la fe... En ciencias filosóficas, las verdades adquiridas por medio de la lógica son mudables, y mudan con mayor frecuencia todavía. ¡Es tan fácil falsear el razonamiento!" (Manuel Uribe Angel, La medicina en Antioquia, Bogotá 1936, S. 78f.). Von da aus ist es nicht allzu weit zu einem Relativismus und zu einer Abwertung der Gültigkeit geisteswissenschaftlicher Aussagen. Diesem Debakel möchte Uribe mit dem Glauben begegnen ("La fe no perjudica la civilización", ebenda, S. 78), der Logik - mit Logik ist bei den theologisch und scholastisch gebildeten Denkern Hispanoamerikas stets die aktive Rolle der Kognition als synthetisierendes Urteilen im (besonders unterstrichenen) Unterschied zum bloßen Induzieren aus empirischen Tatsachen akzentuiert - traut er dessen Auflösung weniger zu: "Obsérvese bien que hablo de experimentación material, porque trato únicamente de cuestiones físicas, en cuya interpretación los principios de lógica general, si no inútiles, son por lo menos insuficientes" (ebenda, S. 83). González wendete sich gegen die strenge Aufteilung zwischen empirischen und logischen methodologischen Instrumentarien und gegen die relative Geringschätzung der Logik innerhalb dieser. Der "Positivismusstreit" um die Jahrhundertwende und zu Beginn dieses Jahrhunderts in Kolumbien hatte große Bedeutung auch für die Orientierung der vielen neugegründeten, bzw. reformierten Universitäten (vgl. für die Orientierung der Medizin: Diana Obregón, Struggling against leprosy: physicians, medecine and society in Colombia 1880 - 1940, Bogotá 1990). González, a.a.O., S. 132f. Ebenda, S. 146. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, "Wissenschaft der Logik", Bd. II, in: Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 6, Frankfurt/M 1969, S. 571. Vgl. ebenda, S. 567. González, a.a.O., S. 237. 101
winden. Für diejenigen Soziologen Lateinamerikas, die Hegels dialektische Methode in kritischer Absicht anwenden wollten, bot sich das endliche und höchst subjektive Bewußtsein ihres Entwicklers als privilegierter Gegenstand an. Sanftmut und Trieblosigkeit, Demut und kriechende Unterwürfigkeit gegen einen Kreolen und mehr noch gegen einen Europäer sind dort ("im Süden" des Kontinents, J. P.) der Hauptcharakter der Amerikaner, und es wird noch lange dauern, bis die Europäer dahin kommen, einiges Selbstgefühl in sie zu bringen.243
Den kritischen und schmerzlichen Befund teilt González mit Hegel, nicht dagegen seinen auf Gedeih und Verderb und in schlechter Endlichkeit allein von den Europäern abhängigen Verbesserungsvorschlag. Diese konkreten Betrachtungen, in denen sich auf geradezu verräterische Weise eurozentristische und rassistische Vorurteile gegen Lateinamerika durchsetzten,244 hielten González indes nicht davon ab, im Grunde stets auf Hegels Geschichtsverständnis epochenübergreifender determinierender Strukturen und Tendenzen zurückzugreifen. Den Aspekten, ob es sich bei der kolumbianischen Mischgesellschaft um ein heterogenes hybrides Gebilde oder um eine homogene Einheit handele, ob dieser Aspekt gegenüber der weißen Hegemonie überhaupt von Belang sei, ob zur Entwicklung nordamerikanische und europäische Hilfe forderlich sei, ob eine neuerliche Einheit unter den andinen (und im weiteren Verlauf lateinamerikanischen) Ländern angestrebt werden sollte und ähnlichen Fragen mißt González große Bedeutung bei. Immer wieder unterbrechen Selbstbefragungen, Selbstzweifel, kritische Betrachtungen von Einstellungen und Haltungen der Zeitgenossen den Fortgang der Texte mit dem Ziel, die eigenen und die fremden Interessen an der Vergegenwärtigung und Neuerfindung des prominenten geschichtlichen Gegenstandes auszuleuchten und ihren Einfluß auf die Ergebnisse der Beschäftigung mit ihm festzuhalten. Zur Veranschaulichung dieser Reflexionen spaltet sich González in einen ForscherAutor und ein Alter Ego auf, mit dem er in ein fiktives Zwiegespräch tritt. Wenn das Ziel der Arbeiten in der Schaffung eines tieferen und weiteren Bewußtseins über die eigenen Wurzeln und deren weitreichende Verästelungen besteht, müssen allererst das Bewußtsein und die Kontrolle des eigenen Vorgehens geschärft werden. Motive für die Forscherarbeit und deren schleppendes Vorankommen werden immer wieder mit dem Alter Ego Lucas Ochoa erörtert. Ein weiteres Alter Ego, der vornamenlose amigo Bolaños, tritt hinzu; es wird ein (selbst-)ironisches Spiel getrieben, um all die den
243 G.W.F. Hegel, "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", in: Hegel, a.a.O. Bd. 12, S. 108. 244 Karl Marx' Vorurteile und Geringschätzung der weltgeschichtlichen Bedeutung der lateinamerikanischen Entwicklung drückten sich in seiner militärisch-reduzierten Betrachtungsweise der Unabhängigkeitskämpfe aus. Das von Marx skizzierte Profil Bolivars beschränkte sich auf einen prinzipienlosen, beliebig militärische oder diktatorische Mittel in kauf nehmenden Politker, der an nichts mehr als der Macht interessiert ist (vgl. Karl Marx, "Bolivar y Ponte", in: Marx/Engels, Werke, Bd, 14, Berlin 1979, S. 229ff.). 102
Forschungsprozeß begleitenden Zweifel, etwa auch zur Bedeutung kommerzieller Motive als Antrieb wissenschaftlichen Arbeitens,245 abzubilden. Por eso he sacado afuera todas mis facultades críticas, personificándolas en el frío y dominador, en el dandy y asexual Bolaños. El, a toda hora, va detrás de mí, criticando y ordenando, burlándose a veces, pues Lucas, enamorado, mujerero, blando, amigo del gusto, hace mucho caso de las burlas de Bolaños.2*6
In den Gesprächen zwischen den drei Ichs werden auch Träume ernstgenommen und gedeutet. "Estoy en desacuerdo con los teólogos que sostienen que nada importan los sueños, pues son muestra de lo que es vigilia de cada uno."247 Die Alter Egos, Doppelgänger und Korrektivinstanzen Lucas Ochoa und der amigo Bolaños begleiten den Leser in anderen Werken González'. In ihrer Arbeit über Fernando González schreibt Diana Obregón zu dieser Auffächerung des Autors: "Lucas Ochoa es el nombre de un inmigrante vasco que se radicó en Antioquia en el siglo XVIII y fue tronco de una extensa familia de la cual desciende Fernando González."248 Javier Arango Ferrer betont, wie durch die Aufspaltung in zwei Hälften auch die Wirkung eines Dialogpartners in moralischen Fragen und ein inneres Korrektiv erzielt wird. Er zieht den Vergleich zur Technik Guillermo Valencias, in dessen Gedicht La razón de Don Quijote die literarische Figur sechsmal in prägenden Gestalten der kolumbianischen Geschichte wiederaufersteht und jedesmal mit dem Ich des Poeten kommuniziert. "En La razón de Don Quijote dialogan el manchego y el payanés - como dialogaba Fernando González con Lucas Ochoa, su otra mitad - sobre la venalidad que hoy lapida a los hombres y mañana se rinde a las estatuas."24' Für seine historische Untersuchungsmethode geht González von großen, zugrundeliegenden Strömungen aus, die die geschichtlichen Geschehnisse und das Leben der Menschen bestimmen. Im Rückblick lassen sich also durchaus strukturelle Entwicklungen rekonstruieren und die Entstehung späterer aus früheren Epochen erklären. Die grundlegenden Strukturen manifestieren sich indes nicht unmittelbar an der geschichtlichen Oberfläche, wie sie den Menschen erscheint; das geschichtliche Drama auf der Bühne dieser Oberfläche beschreibt vielmehr Sprünge und Zickzack-Linien. Auch über ein mögliches Gesamt-Telos der strukturellen Entwicklung möchte González sich nicht äußern. 245 246 247 248
Vgl. González, a.a.O., S. 243. Ebenda, S. 71. Ebenda, S. 74. Diana Obregón, Significación histórica y social de la obra de Fernando González, Bogotá 1981, S. 68, Fußnote 95. González' Biograph Henao Hidrón führt aus: "El apellido González (hijo de Gonzalo) había sido traído a la provincia de Antioquia, hacia 1680, por el asturiano don Juan González de Noriega y posteriormente a Envigado, por don Esteban González... Lucas de Ochoa Tirado, el tatarabuelo de Fernando González Ochoa -éste, en ocasiones, lo hace figurar como bisabuelo, quizá con el deliberado propósito de tener una perspectiva cercana de su más vivo retrato- es el personaje que a la manera de un sosias o alter ego figura en algunas de sus obras, principalmente en 'Mi Simón Bolívar' y el 'Libro de los viajes'" (Henao Hidrón, a.a.O., S. 37). 249 Javier Arango Ferrer, Raíz y desarrollo de la literatura colombiana, Bogotá 1965, S. 406.
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Todo lo que sucede estuvo latente en la realidad anterior y está grávido del futuro. El drama histórico es desarrollo, en zigzag, hacia el equilibrio divino, conjeturan unos, y en eterno retorno suponen otros. Los hombres intervienen en la historia como expresiones de la latencia, de lo que subyace y que brega por manifestarse,250 Die Punkte, die die Zickzack-Linie aneinanderreiht, sind keine zufällig verstreuten Phänomene, sondern offenbaren der historischen Analyse, die ihre Lage auf der Linie herausarbeitet, ihre Entstehung und logische Entwicklung. Darin offenbaren sie auch ihre Qualität, dem einzigen und substanziellen Gesamtsein anzugehören.
Los hombres individualmente apenas son encarnaciones de los actores impersonales de la historia. El que intente comprenderla necesita observar a esos millares de hombres que obran: leer sus cartas, oírles quejas y cantos, asistir a sus nacimientos, obras y muertes, y luego abstraer por orden de importancia comprensiva y actuante los instintos latencias sociales que representan. De otro modo no hay comprensión sino sensaciones de fenómenos dispersos en número indefinido.™ Mit dem Begriff der "Latenz" gelingt es González, die ontogenetischen und philogenetischen Dimensionen der menschlichen Geschichte zusammenzudenken. In der Differenz zur manifesten Erscheinung versteht er unter der latenten Sinnstruktur und zugleich dem verborgenen energetischen Potential die Willen, Ideen und Widersprüche als die eigentlichen geschichtlichen Triebkräfte. ¿Qué es historia? La ciencia que de una sucesión de hechos sociales induce la energía que en ellos mismos se manifiesta, y el futuro. Considera los hechos como índices de una voluntad. Es útil por futurista; emociona!, por adivina, estética, porque vivifica. Trabaja en las formas pasadas para prever las futuras. Festzuhalten ist, daß sich dem Historiker die Begebenheiten immer als gesellschaftliche darstellen, d. h. nie in einem künstlich isolierten Raum von Einzelakteuren denkbar sind. Herausragende geschichtliche Persönlichkeiten hätten Aspekte und Ausrichtung der latenten Grundlinien erkannt; ihr Handeln stelle gleichsam Schnittstellen dar, an denen jene aus dem Verborgenen herausträten. Mit einem ausdrucksvollen Bild umreißt González die Anwendung seiner Überlegungen zum abstufbaren Verhältnis der Menschen als historische Akteure zu den latenten Strukturen. ¿Quépanorama se nos ofrece desde esta altura? La actividad de Bolívar es el circulo grandioso del cóndor, dentro del cual vuelan otras aves de menor plumaje y, a pesar de que el círculo las
250 González, Santander, a.a.O., S. 13. 251 Ebenda, S. 78. 252 Ebenda, S. 30.
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comprende, revolotean en sentidos opuestos las unas de las otras. O bien, es como flechas que se dirigen al norte, al sur, al oriente ...pero que están dentro de la circunferencia.253 Die höchste Flugbahn verfolge bereits die Überwindung des Nationalismus und befindet sich damit auf dem amerikanischen Weg zur Befreiung. Mitstreiter und Konkurrenten Bolivars suchten dieses Ziel auf dem Weg über die Nationalstaaten zu erreichen; andere zögen aus der mit Bolívar geteilten Erkenntnis der "fehlenden Geschichtlichkeit" 2 5 4 und Reife 2 5 5 der amerikanischen Völker unterschiedliche Konsequenzen, etwa die Errich-
253 Ebenda, S. 14. 254 "Sólo la democracia, en mi concepto, es susceptible de una absoluta Libertad; pero, ¿cuál es el Gobierno Democrático que ha reunido a un tiempo poder, prosperidad y permanencia? ¿Y no se ha visto, por el contrario, la Aristocracia, la Monarquía cimentar grandes y poderosos Imperios por siglos y siglos? ¿Qué Gobierno más antiguo que el de China? ¿Qué República ha excedido en duración a la de Esparta, a la de Venecia? ¿El Imperio Romano no conquistó la tierra? ¿No tiene la Francia quatorce siglos de monarquía? ¿Quién es más grande que la Inglaterra? Estas Naciones, sin embargo, han sido o son Arictocracias y Monarquías" (Bolívar, a.a.O., S. 55). 255 Im Diskurs von Angostura geht Bolívar vom dreifachen Joch, das auf dem Volk Amerikas lastet, aus: der Unwissenheit, der Tyrannei und der schlechten Gewohnheiten (vgl. ebenda, 53J. Weitsichtig benennt Bolívar dieses Dilemma, das die Demokratie beständig Gefahr laufen läßt, in Despotie umzuschlagen, denn "ninguna forma de Gobierno es tan débil como la Democrática; su estructura debe ser de la mayor solidez" (ebenda, S. 69). Auf die grundsätzlichen, traditionsbildenden und ihren Urheber auf dieselbe Ebene wie Hobbes oder Montesquieu stellenden demokratietheoretischen Überlegungen wurde schon im Abschnitt 1.1.2 hingewiesen. Gegen das erkannte Dilemma rät Bolívar: "Tomemos de Esparta sus austeros establecimientos, y formando de estos tres manantiales una fuente de virtud, demos a nuestra República una cuarta potestad cuyo dominio sea la infancia y el corazón de los hombres, el espíritu público, las buenas costumbres y la moral Republicana Constituyamos este Areópago para que vele sobre la educación de los niños, sobre la institución nacional; para que purifique lo que se haya corrompido en la República; que acuse la ingratitud, el egoísmo, la frialdad del amor a la Patria, el ocio, la negligencia de los ciudadanos: que juzgue de los principios de corrupción, de los ejemplos perniciosos; debiendo corregir las costumbres con penas morales, como las Leyes castigan los delitos con penas aflictivas, y no solamente lo que choca contra ellas, sino lo que las burla; no solamente lo que las ataca, sino lo que las debilita; no solamente lo que viola la Constitución, sino lo que viola el respeto público. La jurisdicción de este Tribunal verdaderamente Santo, deberá ser efectiva con respecto a la educación y a la instrucción, y de opinión solamente en las penas y castigos" (ebenda, S. 73). Bolívar ist hier ganz der scharfsichtige Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft, deren mangelnde innere Kohäsion einer Gemeinschaft von vereinzelten Einzelnen er als eines ihrer strukturellen Probleme erkennt. Von dieser Erkenntnis muß der "Geist der Gesetze" (Montesquieu) ausgehen. Sehr klar weist er auf die Verschärfung der Gefahr hin, die besonders den amerikanischen Demokratien aus dem defizitären und prekären Zustand ihrer öffentlichen Sphären erwächst. Hier kann auf eine interessante Parallele zu San Martin verwiesen werden: "En un país que, habiendo sido bajo el sistema español el centro del despotismo y de la arbitrariedad, se han escaseado por una funesta política todos los recursos de la ilustración, prohibiendo la lectura de libros selectos y de estudio de las ciencias relativas a los derechos del hombre, un gobierno independiente debió facilitar desde sus primeros pasos, la adquisición de conocimientos útiles a todas las clases del estado... Convencido sin duda el Gobierno Español de que la ignorancia es la columna más firme del 105
tung einer Monarchie nach europäischem Vorbild. Sie flögen durcheinander und in alle Himmelsrichtungen, verließen mit ihren Kreisen dabei aber nicht den geschichtlichen Strom. Für wieder andere, und zu ihnen gehört für González Francisco de Paula Santander, hätten sich ihre partikularen Ziele so sehr verselbständigt, daß sie darüber hinaus keine Gesamtziele mehr verfolgten. Wie lang der Weg ist, den der geschichtliche Strom zurücklegen muß, um an bestimmten Gestaden menschlicher Emanzipation anzugelangen, wie sie aus heutiger Sicht, d. h. also nicht endgültig, formulierbar sind, und welche Untiefen es geben wird, weiß niemand zu sagen, ebenso wenig ist a priori ausgemacht, welche die hegemonialen im jeweiligen historischen Kräfteparallelogramm sind, die partikularistischen oder die visionären Kräfte. Der geschichtliche Strom ist also nicht nur rekonstruierbar, nur als so begriffener ermöglicht er dem Geschichtsschreiber interpretative Aussagen Uber die unendlich vielen Geschehnisse der Geschichte. Andererseits ist es nicht der geschichtsphilosophische Kältestrom Hegels, der Lateinamerikas Völkern die geschichtliche Mission auferlegte. Ihre Geschicke werden durch die subjektive Unwägbarkeit bestimmt, die der Arbeit an der geschichtlichen und gegenwärtigen Selbsterkenntnis zueigen ist. Los pueblos inconscientemente, le quitan lo impropio y le aumentan virtudes: es la obra lenta de purificación. En tal sentido la historia es mistificadora, pero mistificadora lógica y que responde a necesidades vitales del devenir. El pueblo va haciendo del héroe la imagen de lo que desea llegar a ser. en ella materializa su programa, encarna su futuro. Es el mismo génesis de los dioses, en escala menor. Dios es lo que nos falta y que anhelamos: es el hombre perfecto, el ideal en cada época de épocas. También el cielo es la morada en donde hallaremos lo que anhelamos, todo íntegro... o es Dios, pues, el creador del hombre, sino que éste crea a su imagen culminada a su Dios; y crea también su casa ideal, el Cielo, e inventa a su hombre político, el Heroe Nacional.256
Geschichte werde stets neu gemacht, in erster Linie dadurch, daß sich die Völker ihre Vergangenheit unaufhörlich neu erfänden. Es gebe keine objektive Vergangenheit; deren Vorgänge seien vielmehr immer wieder aufs Neue Umwertungen, Umdeutungen und Akzentverschiebungen ausgesetzt. Dabei diene diese Arbeit am Mythos der Ausbildung kollektiver Identität und könne im Resultat beides sein: Verschleierung und Aneignung der eigenen Geschichte. Entscheidend sei, daß die Legenden und Verzerrungen, die Glorifizierungen und Verteufelungen zumeist nicht im Sinne einer Priestertrugstheorie den bewußten Täuschungsabsichten bestimmter gesellschaftlicher despotismo, puso las más fuertes trabas a la ilustración del Americano, manteniendo su pensamiento encadenado para impedir que adquiriese el conocimiento de su dignidad. Semejante sistema era muy adecuado a su política; pero los gobiernos libres, que se han erigido sobre las ruinas de la tiranía, deben adoptar otro enteramente distinto, dejando seguir a los hombres y a los pueblos su natural impulso hacia la perfectibilidad. Facilitarles todos los medios de acrecentar el caudal de sus luces, y fomentar su civilización por medio de establecimientos útiles, es el deber de toda administración ilustrada" (San Martín 1821 in Lima, zit. nach de la Puente Candamo, José, Obra gubernativa y epistolario de San Martín, Bd. I, Lima 1976, S. 292ff.). 256 González, a.a.0., S. 20.
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Gruppen mit bestimmten Herrschaftsinteressen zugeschrieben werden könnten, sondern vielmehr als Stufen des Bewußtseins einer Gesellschaft über sich selbst und damit über ihre Herkunft zu erklären seien. Geschichtsbilder seien also prinzipiell wandelbar, könnten neue Einblicke in die Vergangenheit und damit auch neue Perspektiven für künftiges Handeln eröffnen. Natürlich griffen in diese Dynamik vorherrschender geschichtlicher Interpretationsmuster auch durch ganz unmittelbar von politischen Machtansprüchen bedingte Interessen an der Hegemonie über das gesellschaftlich vorherrschende Geschichtsbild ein, z. B. wenn es um die Herleitung und Legitimitätsanreicherung eines politischen Programms aus einer in diesem Sinne "neu erfundenen" Tradition gehe. González will mittels seiner Bücher in diese Dynamik eingreifen und gegen die Ausklammerungen und einseitigen Hervorhebungen in der offiziellen Deutung des Konflikts zwischen Bolívar und Santander, dem er die Bedeutung eines "Urkonflikts" bei der Entstehung der unabhängigen Staaten in Lateinamerika beimißt, ein neues Selbstbewußtsein begründen; deshalb richtet sich das Buch Santander auch programmatisch an die amerikanische Jugend. In einer der wesentlichen Fragestellungen seiner historischen Forschungen geht González der Beziehung zwischen unterschiedlichen lateinamerikanischen Unabhängigkeitskonzeptionen nach, wie sie vor allem durch Bolívar und San Martin repräsentiert wurden. Zu seinen Hauptquellen zählen also sowohl Dokumente aus dem nördlichen wie aus dem südlichen Teil des Subkontinents. Neben Texten von San Martin stützt er sich auf Arbeiten von Bartolomé Mitre und Domingo Faustino Sarmiento aus Argentinien. Die Quellenlage aus Neu-Granada kann auch ihrer Herkunft nach kritisch analysiert werden. Beide offiziellen Sekundärquellen der kolumbianischen Geschichte, Restrepo und Baraya, sind auch González' wichtigste Quellen. Er erhebt allerdings die Forderung, ihnen den Nimbus objektiver Zeugnisse, den man ihnen habe angedeihen lassen, zu nehmen und sie vielmehr als die Darstellungen von Zeitzeugen zu verstehen, die in das Geschehen verstrickt waren und ganz bestimmte und angebbare Interessen verfolgten. Dies verändert nicht ihren Wert, sondern ihre Lesart. Mittels der Dokumentation eines Teils des Briefwechsels zwischen José Manuel Restrepo und Santander wird das enge Vertrauensverhältnis der beiden und die Einflußnahme Santanders auf den Geschichtsschreiber, der ihm wiederholt für die Orientierungen und Überlassungen von Gesprächsprotokollen dankte, nachgewiesen. Bezüglich der Biographien Barayas wird als ein Beispiel für die Offenkundigkeit einer notwendig kritischen Lektüre das Beispiel der Glorifizierung seines Verwandten Antonio Barayas herausgegriffen, den Santander und Castillo, der Kommandant der in Cartagena stationierten Truppen, bei ihrem Versuch, Bolívar und Nariflo zu hintergehen, schon als Bolivars Nachfolger vorgesehen hatten. Dies sind nur Beispiele für González' Versuch, durch Gegenüberstellungen der genannten Hauptquellen mit den Tagebüchern O'Learys und Peru de Lacroix', dem Santander-Archiv und weiteren Dokumenten das Mosaik eines Geschichtsbildes zusammenzufügen, das natürlich seinerseits einen höchst parteiischen Blick auf die Geschichte nahelegt.257 Wenn überdies berücksichtigt wird, 257
González widmet der Diskussion der Quellen das Kapitel 11 des Santanderbuches (vgl. ebenda, S. 145 - 161; daraus stammen auch die angeführten Beispiele).
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daß die Chronisten der Umwälzungen in Lateinamerika mit ihren Veröffentlichungen in Europa gezielt um politische und materielle Unterstützung durch bestimmte Gruppen werben wollten, liegt es um so mehr auf der Hand, sich dieser Einflüsse bewußt zu sein. Restrepos Schilderungen der Ereignisse des Jahres 1816 in Bogotá bis zu den Exekutionen im Juni gehören sicherlich zu den ergreifendsten Passagen seiner Historia de la revolución en Colombia. González versäumt dennoch nicht, ihn gerade auch in bezug auf diese Passage zu kritisieren, weil er ungeachtet dieses Höhepunktes gegenrevolutionärer Grausamkeit durch den Führer der spanischen Wiedereroberungstruppen, den General Morillo, antivenezolanische Ressentiments der neogranadinischen Bevölkerung in den Vordergrund gerückt habe, und bezeichnet in diesem Zusammenhang Baraya und Restrepo als historiadores-pantallas }st Daß die Propaganda der Metropole des Mutterlandes gerade bei den einfachen Massen der venezolanischen Ebenen verfing, ist dagegen im Bolivarbuch ein wichtiger Gegenstand der Untersuchung.239 In seiner Rezension von Restrepos Revolutionsgeschichte in Kolumbien für den Repertorio Americano in London, der sie 1836 abdruckte, schrieb Andrés Bello zur gleichen Stelle über die Ereignisse in Bogotá 1816, und zwar mit dem Ziel, die gebührende Aufmerksamkeit für Restrepos Chronik in Europa und in Venezuela zu wecken, wie die Herausgeber betonen und damit die langen zitierten Passagen in der Besprechung begründen:2 Concluiremos observando que, aunque en relación de los hechos que precede parezca a algunos que el autor sale de los límites de aquella impasible neutralidad, que debe ser el carácter de la historia, y aun por eso se dijo que el historiador no debería tener religión, familia, ni patria; sin embargo de eso estamos convencidos de que los sentimientos patrióticos del señor Restrepo (¿y quién hubiera podido dejar de desahogarlos alguna vez, refiriendo tales (das Vorgehen Morillos in Bogotá 1816, J. P.) hechos?) en nada han perjudicado a la verdad.26*
Als Biograph erhebt González den Anspruch, Aufklärer und parteiischer Kommentator zugleich zu sein. In das Bolivarbuch sind das "Manifest von Cartagena", der "Brief aus Jamaica" und die "Rede von Angostura" komplett aufgenommen, mit Anmerkungen versehen und ausführlich kommentiert. Seine Bedeutung besteht nicht zuletzt in dieser editorischen Arbeit, durch die die Texte weiteren Leserkreisen zugänglich wurden. Für das Studium der Ereignisse wurden die wichtigen Zeitzeugen, "loyale" wie O'Leary und Peru de Lacroix, "neutrale" wie die Erinnerungen von Tomás Cipriano de Mosquera und "abschätzige" wie Decoudray Holstein und Jerónimo Espejo, rezipiert und auch bolivianische und peruanische Archive nach Panegyriken, diplomatischen und anderen Noten durchforstet. Gegenüber dem Bolivarbuch problematischer gerät sicher das über Santander. Zwar werden die historischen Texte ausführlich zitiert, allen voran 258 Vgl. ebenda, S. 159. 259 "Pero los mismos venezolanos vencieron a Bolívar en 1814 con José Tomás Boves" (González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 148). 260 Vgl. "Notiz der Herausgeber" in: Andrés Bellos '"Historia de la revolución en Colombia' por el señor José Manuel Restrepo. Comentario", in: Bello, Temas de historia y geografía, Caracas 1957 (Bd. 19 der Obras completas in 22 Bden., Caracas 1952-1969), S. 393. 261 Ebenda, S. 414f.
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Santander selbst aus dem von diesem vorbereiteten Archiv, im wesentlichen aus seinen Desavenencias und Apuntamientos, Briefen und Dekreten, dennoch ist im Fortgang des Buches der Kommentator immer weniger von dem Interpreten zu trennen, der es sich zur zermürbenden Aufgabe gemacht hat, gegen ein in hundert Jahren immer wieder erhärtetes Geschichtsbild und nationales Selbstverständnis anzuschreiben. Daneben versteht González sich auch als Portraitist der Epoche, die die Personen und Ereignisse hervorbrachte. Immer wieder werden Chroniken in den Textfortgang montiert, die Einblicke ins tägliche Leben ermöglichen. So erfahrt man, woraus eine Lieferung für die Küche eines einfachen Bogotáer Haushalts bestand und welche Entwicklung die Preise in den Zeiten der Unabhängigkeitskriege durchliefen. "Entré a oirlo, porque yo busco a Bolívar entre los hombres que quiso formar. Deseo buscarlo en los campos de Colombia, en los teatros, en las elecciones, manifestaciones, en los historiadores, escultores, periodistas."262 González bezeichnet seine Methode als emotiv und insistiert darauf, daß nichts von der Geschichte eines Volkes wisse, wer sich nie unter die Leute gemischt, ihr Alltagsleben beobachtet und sie nach ihren Ansichten und Bräuchen gefragt habe. Estoy en Venezuela, entre su gente y recuerdos, empapándome de ella, con una libreta en cada bolsillo. Los de la Academia de Historia me llaman el hombre de las libretas. Todo lo apunto, de amigos y de enemigos de Gómez, de guerrilleros y de hijos de proceres, de letrados y de rameras.261
Weder geht es darum, Anekdoten anzuhäufen, noch darum, apodiktisch und apriorisch geschichtliche Vorgänge in gut und böse abzuurteilen. Die Frage nach Schuldigen taugt als Titel ftir politische Propagandaschriften, die die Leidenschaften der Massen für ihre Ziele entfachen sollen. Dagegen stellt González die folgenden erkenntnisleitenden Fragen: "¿Por qué esa guerra?" und "¿Qué devenir urgía para que sucediera este hombre llamado Santander y qué porvenir nos revela acerca de la patria?"264 Um die Forschung entlang dieser erkenntnisleitenden Fragestellungen zu organisieren und zu dichten Beschreibungen des Weiterlebens von Geschichte in der Gegenwart zu gelangen, ist neben der Arbeit in Archiven fur den Forscher das bewußte Erleben seiner Mitmenschen integraler Bestandteil seines Erkenntnisprozesses. Schließlich wird natürlich auch die internationale Gegenwartsliteratur zu den Forschungsgegenständen, soweit zugänglich und bekannt, rezipiert. Mehrfach bezieht sich González kritisch auf die "noveleske" Bolivarbiographie Emil Ludwigs, besonders auf den in deren letztem Kapitel zum Spott ausgebeuteten Vergleich mit Napoleon, mit dem ihn zwar die beiden typische Ruhmbesessenheit verbinde, im Unterschied zu dem Bolívar aber nicht einmal eine Nation habe.265 Die Stoßrichtung der Kritik richtet sich aber 262 263 264 265
González. a.a.O., S. 232. González, Mi Compadre, a.a.O., S. 17. González, Santander, a.a.O., S. 14 u. S. 31. Auch der bekanntlich von Bolívar selber gezogene Vergleich mit Don Quijote wird bemüht, und es ist sicher weniger das "noveleske". durchaus mit Sympathie gezeichnete Portrait des in den letzten Monaten häufig delirierenden Bolivars. das González' Kritik entfachte, sondern Schlüsse
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wie stets gegen die südamerikanischen Zeitgenossen: anstatt in Bogotá, Caracas, Lima, Quito usw. systematische Forschung und Beschäftigung mit der eigenen Geschichte in Auftrag zu geben, werden traditionsgemäß ausländische Schriftsteller umworben und viel Geld für Übersetzungsrechte und anderes ausgegeben (so im Falle Ludwigs, der, des Spanischen unkundig, sich als Quelle im wesentlichen auf einen nordamerikanischen Geschichtswissenschaftler stützt, so auch im Falle der Vergabe für Skulpturaufträge an ausländische Bildhauer). 266 González hebt gegenüber Ludwig positiv Stefan Zweigs Texte zur südamerikanischen Geschichte als "ernsthafter und intellektueller" 267 hervor und erwähnt als eigene weitere Quellen in diesem Zusammenhang noch die Biographien von Mancini, Vaucaire und Marius André. 26 *
4.2 Weichenstellungen nach der Unabhängigkeit:
Santander
Si en la Constitución se encuentra el mal, el mal será. (Francisco de Paula Santander 1824 vor den Abgeordneten in Bogotá)269 Se nos presenta, en primer lugar, el problema del héroe nacional. ¿Cuál es su significado sociológico? Su papel es el de aglutinador de la nacionalidad cuyo dios es, ... es agrupar, fortalecer el grupo, crear la nacionalidad... El héroe nacional es necesario, es manifestación sociológica de este drama llamado historia.270 González verfolgte mit dieser Schrift zweierlei Absichten: neben dem Interesse an Veröffentlichung eines minoritären, ketzerischen Blickes auf die Entstehungszeit Groß-
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270 HO
wie "his whole life as a statesman and army commander was one uninterrupted series of troubles, and if, in his passion for posthume glory, he reverted to democracy again and again, that fact is far more astonishing than the fact that he should have at times abandoned it", die sich neben der lebensbeschreibendenden Prosa dem historischen Interesse des Lesers als analytische Aussagen anbieten (vgl. Emil Ludwig, The life of an idealist, London 1947, S. 271). Vgl. González, Mi S. Bolivar, a.a.O., S. 251 und: Adelaida Espinoza Mella, (Editora), Bogotá tiempo pasado, historia presente, Bogotá 2002, S. 16: "Cuando Sighinolfi asume la rectoría de la Escuela de Artes en 1887, el estímulo hacia los escultores nacionales es notable, pero la tendencia de la época se inclina a la contratación de artistas extranjeros para la representación de próceres. Estos artistas, desde sus talleres en Europa, representaban a los personajes sin tener más datos que esbozos pintados o hablados. Se da el caso de que la misma estatua era reproducida y vendida a diferentes países latinoamericanos como la representación de su prócer cambiándole únicamente el rostro." González, Santander, a.a.O., S. 31. Vgl. González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 233. Francisco de Paula Santander, zit. nach David Bushnell, El régimen de Santander en la Gran Colombia, Bogotá, 3. Aufl. 1985 (1. Aufl. in Englisch, Newark 1954), S. 96. Zu Santanders Buchstabengläubigkeit bei gleichzeitiger Abwesenheit eines eigens durchdachten Konzeptes siehe exemplarisch die unter 1.1.2.3 gemachten Ausführungen zu der von ihm befohlenen Einführung grundlegender Texte von Bentham und anderen Positivisten als Pflichtlektüre in allen Bildungsanstalten des Landes. González, Santander, a.a.O., S. 16f.
Kolumbiens und seiner Nachfolgestaaten will er mit treffsicheren persönlichen Charakterisierungen von Santander in kurzen Zügen seinen Zeitgenossen auch einen Spiegel deren wirtschaftlichen Egoismus' und sozialen Individualismus' vorhalten, die innerhalb des legalistischen Formalismus und des "notariellen Fetischismus der Stempel und Beglaubigungen" um so besser gediehen. Bedingt durch diese Zielsetzung geraten die Züge Santanders mitunter zur Karikatur der historischen Figur. Der geplante zweite Band wurde nicht mehr realisiert. Der erste, verwirklichte Teil des Santanderprojektes endet mit der kriegsentscheidenden Schlacht vom 7. August 1819 bei Boyacá und hat besonders die Kriegswirren der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand. Kurz zeichnet González den Werdegang des jungen Santander nach. Zentrale Figur für seinen Werdegang, "die Wiege und Studien bewachte",271 war sein Onkel Nicolás Mauricio Santander, ein Priester, der ihm im Alter von 13 Jahren ein Stipendium für das Seminar San Bartolomé in Bogotá verschaffte. Fünf Jahre später, in der Examensvorbereitung im Juli 1810, brachen die Kriegswirren aus, die zur patria boba (1810-16) führten, und erzwangen eine verkürzte Prüfungsprozedur in Praktischem Recht unter dem Catedrático de Derecho real, Emigdio Benitez. Analysematerial für González sind Erinnerungen und Aufzeichnungen von Santander, seine Verteidigungsrede vor dem Kongreß,2 außerdem Historien und Chroniken. González schildert das intellektuelle Gepräge, die pädagogische Methodik: "Hay que fingir con vocación, actitudes compungidas, devotas... La confesión, como práctica rutinaria que nos conquista el aprecio social, convierte al hombre en simulador: aprende a ejecutar y a tapar el acto con la actitud. Pervierte la conciencia",273 und das Selbstverständnis des Seminars San Bartolomé als führende Institution konservativer sozialer Initiation. Er betont das Nebeneinander von Dogmatik und Rabulistik und skizziert den Typus von Rechtsverdreher, der sein Handeln durch einen legalistischen Formalismus absichere, dem aber Geist und Philosophie der Gesetze nichts bedeuteten. Se obedece las leyes, pero no se las cumple, mit der scheinbar widersprüchlichen Formel ist diese noch immer vorherrschende Haltung zum Rechtsstaat treffend beschrieben. Für den Sozialcharakter, der von dieser Schule geprägt wurde, gilt die Devise: Si no puedes ser casto, ¡sé cautoZ274 Die generell konservative und einseitige Ausrichtung des Erziehungs- und Ausbildungssystems betont Hans Vogel auch für Argentinien.275 Die These, daß Santander gleichsam prototypisch diese Laufbahn durchmessen, damit ein auch für das Kolumbien seiner Zeit unvermindert erfolgreiches Karrieremodell vorgegeben und nachhaltig formbildend auf "die 'politische Kultur'... wie sie 'Staat' als poli271 Ebenda, S. 35f. 272 Santander, "Su defensa ante el congreso", in: Nariño, A., Santander, F. d. P., Arboleda, J., Su defensa ante el congreso, Bogotá 1936, S. 76-122. 273 González, a.a.O., S. 42. 274 Ebenda, S. 67. 275 "Es gab viele Anwälte, doch wären Ingenieure und Techniker vielleicht nützlicher gewesen" (Vogel, a.a.O., S. 706).
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tisches Konstrukt hervorbringt, ...auf das Ensemble der meist nicht mehr hinterfragten und daher selbstverständlich maßgebenden politischen Denk-, Rede- und Verhaltensmuster"276 eingewirkt habe, versucht González durch Gegenüberstellungen der Notizen Santanders mit seinen tatsächlichen Schritten zu verteidigen, wobei ihn insbesondere die Verklausulierungen auf sprachlicher Ebene interessieren. Stellvertretend für die vielen detaillierten Ausführungen seien hier einige der Episoden zu Beginn des Jahres 1812 in Bogotá wiedergegeben, im Verlaufe deren Schilderungen auch eine Revision González' bezüglich seiner früheren, vorwiegend kritischen Bewertung der Figur Nariños deutlich wird.277 Im Zuge des Aufstiegs der Provinzgeneräle kam es zu einer ähnlichen Konkurrenzsituation wie in Venezuela: zu den alten kamen neue, selbsternannte Distrikte (z. B. Pore) hinzu, alle pochten auf ihre unabhängigen, souveränen Rechte278 gegen die Zentralgewalt, repräsentiert durch den Senatspräsidenten Antonio Narifio. Der Precursor*19, wie ihn die lateinamerikanische Historiographie betitelt, war in seiner Zeitschrift La Bagatela, deren 38 Nummern zwischen dem 14. Juli 1811 (das bewußt gewählte Datum stieg in Frankreich selbst erst nach der Staatskrise 1877 zum Nationalfeiertag auf) und dem 12. April 1812 einen großen Leserkreis erreichten, gegen die Zerstückelung Neu-Granadas, für die Notwendigkeit der militärischen Verteidigung seiner Grenzen und für die Einheit der Führung und einer liberalen Gesetzgebung eingetreten. "Más parece nuestra revolución un pleito sobre tierras que una
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Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S. 19. Im Bolivarbuch wurden noch Nariños anfängliche Praxisfeindschaft und sein Versuch, durch demonstrierte ReumUtigkeit seiner Verurteilung zu entgehen, in den Vordergrund gestellt (vgl. González, Mi S.Bolívar, a.a.O., S. 146: "Por ejemplo, para el gran Narifto no existía sino Bogotá, y en Bogotá su cuarto para comentar, enredar y leer... Tradujo un folleto que fue trascendental, pero se arrepintió de ello ante sus jueces"). Im Santanderbuch empfiehlt González der Jugend seiner Zeit, Antonio Nariflo zu studieren, denn in ihm fánden sie einen würdigen Gründervater (vgl. González, Santander, a.a.O., S. 83). 278 Vgl. Javier Ocampo López, "El Proceso político, militar y social de la independencia", in: Manual de Historia de Colombia, Bd. 2, Bogotá 1984, S. 96ff. 279 Vorläufer, die durch ihr Handeln entscheidend zum späteren Ausbruch der Unabhängigkeitskriege beitrugen, z. T. auch noch selbst an ihnen teilnahmen, waren natürlich mehrere Personen; im Unterschied zum Libertador können also verschiedene Personen gemeint sein. Wenn sie von el grupo de precursores spricht, meint die Historiographie Neu-Granadas normalerweise republikanisch engagierte Persönlichkeiten aus der botanischen Expedition unter Leitung José Celestino Mutis', also neben diesem Eloy Valenzuela, Francisco Antonio Zea, Jorge Tadeo Lozano, Sinforoso Mutis, José Félix de Restrepo, Miguel Pombo, Joaquín Camacho, Francisco José de Caldas, Pedro Fermín de Vargas und deren Vertraute wie eben Antonio Nariflo oder auch die Naturmaler Javier Matiz, Antonio García u. a. Den Kern der Gruppe grenzt Enrique Santos Molano so ein: "Por eso Pedro Fermín de Vargas, Antonio Narifio, José María Lozano, José Caicedo y Sinforoso Mutis ocupan diversos cargos directivos y se enfrentan a una Real Audiencia que mira con justificado recelo la incipiente formación de una clase dirigente criolla, inexistente hasta entonces, y que es, en fin de cuentas, el propósito buscado a conciencia por Nariño y sus compañeros desde 1789" (Enrique Santos Molano, "Antonio Nariño", in: Texto y Contexto Nr. 36, Bogotá 1998, S. 73).
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transformación política para recuperar la libertad" (Antonio Nariño in La Bagatela).280 Mit viel Pomp veranstalteten die Miliärs für den Brigadier Antonio Baraya am 10. Januar 1812 auf dem zentralen Platz in Bogotá ein Schauspiel, das an römische Triumphzüge erinnerte; eine die Freiheit verkörpernde Puppe wurde aufgezogen, anschließend gab es Volkstanz. Politisch richtete sich die Kundgebung gegen Nariño und stellte eine der vielen populären, von der Allianz aus Generälen, Provinzgouverneuren und "jurisperitos" organisierten Aktionen dar, bis diese im Dezember 1812 in Ventaquemada Nariño absetzen konnte. Santander marschierte mit im Zug. Von seinem Mentor und Förderer Nicolás Mauricio Santander für die Teilnahme an diesem schäbigen, überdies blasphemischen Mummenschanz zur Rechenschaft gezogen, verteidigte Santander sich damit, daß ihm doch der Onkel selber geraten habe, die Militärkunst zu erlernen. Zu dieser Zeit schon Leutnant, stimmte Santander in der Versammlung hoher Militärs in Sogamoso in die Tiraden "gegen den Tyrannen" ein. Jahre später in seinen Erinnerungen {Apuntamientos) - Nariño gehörte längst zu den unbestrittenen Helden der Unabhängigkeit281 - äußerte Santander sich so zu der Episode: Me tocó ser oficial de esta ultima columna, que Nariño encargó al general Baraya. El desagrado que los pueblos mostraban en lo general por la privación de su gobierno propio y su incorporación a Santafé... Creo que decidieron a Baraya y a los oficiales de su columna anegar obediencia al Presidente Nariño. Yo era el último oficial y firmé el acto como secretario... Mi grado y mi posición me inhibían de haber provocado o sugerido el acto: cedía a la voz y mandato de los jefes, dejándoles la debida responsabilidad. Poco después Bolívar desconoció la autoridad de su jefe, Labatut,282
In seiner Interpretation der Passage weist González auf folgende Merkmale hin: Ziel der Ausführung ist offenbar, Verantwortung für eine nicht leugbare Tatsache abzustreiten. Als Argumente dafür werden bemüht, erstens, daß der Autor keine ausreichenden Kenntnisse der Hintergründe haben konnte, zweitens, daß die rechtliche Situation seiner Umstände (hier der Grad seiner Position) ihm keine andere Wahl ließ und drittens die Berufung auf eine höhere Autorität, die sich selber der gleichen Verfehlung schuldig machte: Bolívar ignorierte wenig später die Anordnungen von Labatut, ebenso wie er selbst die seines Vorgesetzten Nariño ignoriert hatte. David Bushneil, einer antisantandereanischen Voreingenommenheit gewiß unverdächtig, untersuchte die Entwicklung des konfliktiven Verhältnisses zwischen Santander und Nariño durch das kommende Jahrzehnt hindurch. Nach der errungenen Unabhängigkeit bis zum Kongreß von 280 Antonio Nariño, zit. nach González, a.a.O., S. 81. 281 Antonio Nariño wurde zweimal rehabilitiert. Nachdem er 1794 Los Derechos del Hombre - seine eigene Übersetzung - veröffentlicht hatte und deswegen sein Besitz konfisziert und er zu 10 Jahren Kerkerhaft in Afrika verurteilt worden war, welcher Strafe er sich durch Flucht nach Frankreich entziehen konnte, konnte er vor Ausrufung der ersten Republik aus dem Exil zurückkehren und spielte in ihr dann eine aktive Rolle auf Seiten der "Zentralisten". Bolívar selber setzte ihn als Präsidenten des Kongresses von Cúcuta 1821 ein. Von den Provinzgenerälen entmachtet, zog er sich aus der Politik zurück; er starb 1823 in Villa de Leiva. 282 Francisco de Paula Santander, zit. nach González, a.a.O., S. 93.
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Cúcuta 1821 wurde entlang seiner Austragung maßgeblich die Besetzung der Machtpositionen in Bogotá unter dem abwesenden Bolívar entschieden. Doppelzüngigkeit und Opportunismus als systematisch eingesetzte Mittel des Hombre de las Leyes in dieser persönlichen Machtauseinandersetzung werden auch in Bushnells Schilderungen deutlich: Santander se dirigió en términos muy amables al Precursor mientras estuvo en Cúcuta, le devolvió una propiedad suya confiscada por los españoles en 1794, y le concedió una parte de las propiedades de los Jesuítas como pago por salarios atrasados. Sin embargo, al escribirle a Bolívar, lo previno para que estuviera en guardia frente a Nariño, como ante un peligroso rival y profetizó que su retorno a la vida política sólo crearía problemas.2*3
Zentrales Merkmal dieser Charaktermaske dieses Typus' von Machtpolitiker ist die Vermeidung jedes offenen Beziehens einer Position, jedes offenen Sich-Bekennens zu einer klaren Haltung. González führt Santanders Verteidigung vor einem Ausschuß an, der mit der Aufklärung des Verbleibs einer umstrittenen Kreditnahme von England 1824 befaßt war. Santander war zu dieser Zeit mit allen exekutiven Befugnissen ausgestatteter Vizepräsident, schob aber vor dem Ausschuß alle Verantwortung dem Finanzsekretär Castillo zu.284 In der Öffentlichkeit sich hinter Gesetzen, Verordnungen und fehlenden Beweisen der Gegenseite Verstecken und im Verborgenen konspirativ und intrigant Machenschaften Einfädeln seien die zwei Seiten dieser Art Logenpolitik, die González für Santander schon über zehn Jahre vor dem Attentat auf Bolívar behauptet; die engen Kontakte zu den später als Attentäter überführten Verschwörern Luis Vargas Tejada, Florentino González, Francisco Soto, Vicente Azuero und anderen, die González in seiner polemischen Art Santander eher unterstellt als belegt, sind mittlerweile von der Forschung bestätigt.285 González vergleicht Santanders zielstrebiges Verhalten mit der Art, wie Cesare Borgia seine Morde in Sinigaglia an Vitello Vitelozzo und Gravina Orsini plante und durchführte. Er beschreibt Santanders anbiedernde Applause für Páez 1816 und seine gleich darauf begonnenen Intrigen gegen ihn in Casanare, geeignet, das schwierige Verhältnis zwischen Venezolanern und Neogranadinern, eines der Nervenzentren der 283 Bushneil, a.a.O., S. 83. 284 Vgl. González, a.a.O., S. 89. 285 Liévano Aguirre, dessen Forschungsergebnisse zur Figur Bolivars in seiner Zeit heute von allen Richtungen zu Ausgangspunkten genommen werden, formuliert vorsichtig den Konsens zum Attentat vom 25. Sept. 1828, auf den sich die heutige Forschung einigen kann: "No bien se tomó la decisión de eliminar a Bolívar, ella fue consultada, en términos vagos, con el general Santander, quien se opuso a ella por juzgarla contraproducente para su partido. Así lo manifestó en repetidas ocasiones a los conjurados y cuando, días después, se dio cuenta de que le iba a ser imposible detenerlos, les manifestó que de ninguna manera intentaran semejante locura antes de su partida para los Estados Unidos, en desempeño de la misión diplomática que le había sido ofrecida por el gobierno. Su culpabilidad en el atentado contra la vida de Bolívar, que durante un siglo se ha discutido por los historiadores, se circunscribe, pues, al previo y vago conocimiento de la preparación del mismo y a no haber formulado la denuncia correspondiente" (Liévano Aguirre, a.a.O., S. 483). 114
Bolívar'schen Unabhängigkeitspolitik, noch mehr zu komplizieren, oder auch sein geheucheltes Mitgefühl für den ermordeten Mariano París.286 Nebeneinander in konfliktreichen Beziehungen lebend sind die aus dem Zerfall des alten Vizekönigreichs NeuGranada hervorgegangenen Einzelstaaten unendlich weit von Bolivars kontinentaler Vision entfernt. Als besonders fatal stellt sich für González das Verhältnis zwischen Venezuela und Kolumbien dar; die Weichen für diese ungünstige Entwicklung sieht er durch die Abgrenzungspolitik zur Zeit der Unabhängigkeitskriege gestellt, deren entschiedenster Vertreter Santander war. "Nosotros sabemos cómo nacen el Diablo y las nacionalidades: el Diablo es el Dios de los vecinos, y la frontera psíquica son los contrastes, los odios." 287 Diese Interpretation wird auch durch Santanders entschiedenen Rückgriff auf die noch 1810 verstärkt vom spanischen Kolonialregime ausgegebene Doktrin des uti possidetis nach 1830 als Führer der Liberalen im neuen Kolumbien gestützt. Die Doktrin hatte durch erleichterten Zugang zu Landbesitz weitere Kreise an die Krone binden und zugleich die koloniale Verwaltungsstruktur stärken sollen. Ihre tiefe Verwurzelung in der ökonomischen Organisation der Provinzen hatte den Sieg Uber alle bolivaristischen Visionen davongetragen; der ausschließliche Verkehr zwischen Provinzen und Metropole hatte die Entwicklung der wechselseitigen Interessen unter den Provinzen und die ihrer Kommunikationswege untereinander sowie jegliche ins Gewicht fallende sozioökonomische Integration verhindert. En 14 de este mes (September 1833, J. P.) se firmó en Bogotá, por los señores Pombo y Michelena, un tratado de amistad, alianza, comercio, navegación y límites entre la Nueva Granada y Venezuela... Sancionóse el principio en cuanto a limites del 'uti possidetis de 18I0'.2**
286 Auch die Darstellung José Manuel Restrepos läßt erheblichen Zweifel an der Version, daß Mariano París beim Verfolg gegenrevolutionärer Machenschaften erschossen worden sei. Vielmehr hat er sich für die Unabhängigkeit eingesetzt. "La familia de París, altamente ofendida por la muerte de Mariano, publicó por la imprenta varios papeles en que aseguraba que éste había sido asesinado por órdenes expresas de la autoridad gubernativa, y que era falsa la fuga y demás que se alegaba para justificarla. Estos papeles encendieron una polémica acre, en que aparecieron biografías nada favorables, así al muerto como a los vivos que escribían. El Cachaco, nuevo periódico liberal, cuyo primer núcleo se había publicado en 27 de mayo anterior, sostenía con acrimonia la legalidad de la conducta del gobierno en estas circunstancias. El presidente Santander, según la voz pública, era una de los redactores, unido a sus amigos políticos los jóvenes abogados Florentino González y Lorenzo María Lleras" (José Manuel Restrepo, Historia de la Nueva Granada, Bogotá 1936, S. 108). Der Santander gegenüber üblicherweise loyale Geschichtsschreiber muß hier wegen der Wichtigkeit der Familie Paris und ihrer Rolle im Unabhängigkeitsprozeß erstens den Vorfall überhaupt relativ ausführlich schildern und kann auch zweitens nicht umhin, Santanders aktive Beteiligung an der Manipulation der öffentlichen Meinung zum Mord an Mariano Paris zu erwähnen. Er schränkt diesen Umstand lediglich dadurch ein, daß "der öffentlichen Stimme nach" (also nicht "bewiesenermaßen") Santander unter den Verfassern des regierungsfreundlichen, es mit der Wahrheit nicht so genau nehmenden Artikels sei. 287 González, aa.O„ S. 14. 288 Restrepo. a.a.O., S. 131. 115
Ebenso wie Sarmiento die den Entwicklungsprozeß Argentiniens sabotierende Wirkung dieser Doktrin, die den separatistischen und usurpatorischen Bestrebungen eine legitimatorische Grundlage verlieh, hervorhob,289 so betonte Ocampo López die Bedeutung des Rückgriffs auf sie für die Auflösung Groß-Kolumbiens: "Se proyectó la doctrina del 'Uti possidetis juris' de 1810, mediante la cual se respetó la validez de los límites administrativos coloniales para la debilitación de las fronteras entre los nuevos Estados nacionales que surgieron después de la independencia."290 Die wirtschaftlichen und politischen Probleme Groß-Kolumbiens wurden nur auf die Ebene der Kleinstaaten verlagert, von welchen jetzt in der Tat jede einzelne, unabhängige Republik, arm an Arbeitskräften und Kapital, sich aus noch ungünstigeren Ausgangsbedingungen in die internationalen Austauschbeziehungen einbringen mußte. Die Gelegenheit zur interregionalen Kooperation und Arbeitsteilung war vertan; stärker als zuvor grenzten sich Märkte und Produktionsbereiche gegeneinander ab, was sich durch Grenzen, unterschiedliche Währungen und Zölle weiter verstärkte. In dem Teil über die außereuropäischen Entwicklungen des modernen Staates spricht Wolfgang Reinhard von Hybridbildungen,291 Kreuzungen von europäischer Staatlichkeit mit einheimischer politischer Kultur, denn Kultur lasse sich sehr viel schwerer exportieren und verpflanzen als ein auf Macht gestütztes Verwaltungssystem. Entlang den Kriterien von Stabilität und Leistungen für das Gemeinwesen kann durchaus zwischen gelungenen und weniger gelungenen Hybridisierungen unterschieden werden, so seine These. Der "frühbürokratischen Herrschaft" stand in Lateinamerika auf der kulturellen Seite ein zerklüftetes Gelände gegenüber, gekennzeichnet durch Rechtlosigkeit und Ausklammerung der einheimischen Indiobevölkerung. Die Hoffnungen, auf kolonialem Boden politische Ordnungsvorstellungen zu verwirklichen, die in der Metropole nicht durchsetzbar waren, mußten sich als Illusion herausstellen. Die Autonomiebestrebungen Ecuadors und Venezuelas brachten keine alternativen Formen zum caudillismo hervor; die Chance zur Erarbeitung und Entfaltung gemeinsamer Positionen war vorerst durch die Erübrigung gemeinsamer politischer Vertretungen vergeben. Charismatische Führer mit regionaler Basis spielten die ausschlaggebende politische Rolle. Es war nicht gelungen, eine neue, konsensfähige Autorität an die Stelle der spanischen Krone zu setzen. Die angestrengte Suche nach nationaler Identität kann als verzweifelter Versuch gedeutet werden, mit politischer Desintegration zurechtzukommen. Die Staatsbildung mußte hier der Nationbildung vorangehen.292
289 "Pero el vándalo (Sarmiento bezieht sich direkt auf Artigas, des von ihm prototypisch gezeichneten, regional istischen, antirepublikanischen caudillos) no entiende de patrias con límites definidos, sino que pide e 'uti possidetis', Banda Oriental y Occidental y además Santa Fé y Córdoba, mientras reconozcan la autoridad del libertador de pueblos" (Sarmiento, Conflicto y armonías II, a.a.O., S. 164). 290 Ocampo L„ Col. en sus ideas, Bd. 2, a.a.O., S. 646. 291 Vgl. Reinhard, a.a.O., S. 482. 292 Ebenda, S. 488. 116
In seinen Kommentaren zu den Textstellen weist González immer wieder auf die geschickten, zeitlich und der manipulatorischen Intensität nach stets präzise abgestimmten Einflußnahmen auf die öffentliche Meinung hin und stellt Santanders ins Extreme getriebene Kanzleisprache als besonders probates Mittel zu desem Zweck heraus. "Acción fue aquesta que aunque no original en sus circunstancias, mereció de mí el debido aprecio", mit diesen Worten kommentiert Santander zehn Jahre später in seinen Desavenencias die Episode vom September 1819 in Bogotá, in der Bolívar die ihm vom Volk angetragene "Zivilkrone" ablehnt, sie dann zuerst Anzoátegui aufsetzt, sie ihm wieder abnimmt, sie Santander aufsetzt und schließlich ins Volk zurückwirft. Geht es González auch in erster Linie um den Entwurf von Santanders Psychogramm als einem Paradigma für das Koordinatensystem des erfolgreichen Politikerprofils in Kolumbien, so werden doch auch Hinweise auf die historischen Umfelder gegeben, die die Figuren der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriege hervorbrachten. Am Ende einer geographisch-historischen tour d'horizon von Patagonien nordwärts in NeuGranada angelangt, werden erneut die beiden Nachbarländer gegenübergestellt: El encierro (González bezieht sich auf die Unzugänglichkeit der kolumbianischen Anden) trae el rumiar de prejuicios, susceptibilidades, ordenanzas, juicios de apeo, sensibilidad a la jurisdicción, es decir, el amor a la jurisprudencia, el escudo de la ley. Este es el estudio diario de los seminarios. El clero tiene por misión sujetar: indulgencias, dispensas, y al morir, Jesús me ampare. Jesús te ampare... En los valles de Guaire y del Aragua, vecinos al mar y a las islas se establecen los nobles negreros y se enriquecen: cacaotales, y ganado en los llanos. Allí el criollo es rico, dueño de millares de esclavos, y viaja a Europa. En Nueva Granada es pequeño funcionario, escriba y jurisperito. En Caracas, el criollo está excitado por el clima suave y por el ocio; es la tierra de los pardos y tercerones. Los granadinos tienen agotamiento libresco; apenas si, los sábados, furtivamente fabrican mulatos con las sobras. En el Perú, el Potosí, el pan de plata: marqueses, condes, ladrones, esclavos. Oro y esclavos llamolo el Libertador,293
Als der "autoritäre Charakter", der sich Gelüsten nur selten und heimlich hingebe und das strebsame Mehren des eigenen Reichtums über kühne Zukunftsvisionen stelle, sei Santander der typische Abkömmling des Landes der fruchtbaren, engen und abgeschlossenen Hochtäler, in die sich wenige fremde Personen und Ideen verirrten. Er sei der Mann der Gemarkungen und Abgrenzungen - innerer und äußerer. In den lateinamerikanischen Binnennationalismen sieht González das Grundübel und die Ursache der geistigen, ökonomischen und politischen Zurückgebliebenheit des Kontinents; zugleich sei ihnen das Ausbleiben einer den eigenen Gegebenheiten und Voraussetzungen angemessenen, "authentischen" Entwicklung geschuldet. Im Dienste der Erhaltung des status quo der Herrschenden feiere die offizielle Historiographie die Juan José Flores, Bernardo O'Higgins, José de San Martín, Francisco de Paula Santander. "Ya no vemos en América sino héroes nacionales y cada vez más befada, más robada, la figura histórica del libertador."294
293 González, a.a.O., S. 55. 294 Ebenda, S. 19. 117
Im geschichtlichen Prozeß, der, wie oben angedeutet, in der Hervorbringung und Ausdifferenzierung sozialer Strukturen besteht, die von latenten zu manifesten Existenzformen drängen, kann der Krieg kraft seines Zwangs zur Polarisierung diesen Drang auch befördern. So habe der lange Unabhängigkeitskrieg in Neu-Granada zur Spaltung der kreolischen Oberschicht, zu mehr vertikaler Durchlässigkeit und zur ethnischen Neugruppierung der bestimmenden sozialen Schichten geführt. Dies freilich nicht naturwüchsig aus sich selbst heraus, sondern deshalb, weil vor allem Bolívar durch die guerra a muerte und den unerbittlichen Kampf um die Einbindung der farbigen Sklaven in die republikanische Seite die weiße Bevölkerung zur politischen (Neu-) Definition der eigenen Position gezwungen und die Weichen zugunsten einer auch vertikal rassisch durchmischteren Gesellschaft gestellt habe. "Si a la Nueva Granada no hubiese venido Morillo, habría quedado mandando la oligarquía de los criollos jurisperitos de los colegios del Rosario y San Bartolomé."293 Zwar war gerade dieser Schmelztiegel der Rassen eine der Ursachen für die Unruhen des Jahrhunderts nach Bolívar; ebenso sei einzuräumen, daß das "Rede-, Denk- und Verhaltensmuster" jener Seminare bestimmend für die politische Klasse geblieben sei. Aber es sei nicht umsonst in diesen Staaten auch natürlichen Söhnen des Volkes, d. h. nicht nur Weißen gelungen, Präsident zu werden. González nennt José Hilario López Valdez, Mariano Ospina Rodríguez und Marco Fidel Suárez.296 Er gelangt zu einer sehr radikalen Einschätzung: Pero hoy tenemos que Colombia y Venezuela presentan poblaciones completamente suramericanas, compactas, sin oligarquías raciales. Argentina y Chile quedaron bajo la bota férrea de pretendidos nobles y progresaron económicamente. Pero sucede que hoy no tienen tipo humano propio, que sus pueblos son parias, sujetos a Europa por intermedio de sus noblezas corrompidas. El porvenir, indudablemente, es de Colombia y Venezuela.291
Vor allem Bartolomé Mitre und Domingo Faustino Sarmiento werden als Zeugen aus dem "großen, aber hydrozephalischen" Argentinien zum Fehlen eines authentisch amerikanischen Konzepts bei San Martin und zum Nachholbedarf an Forschung und Richtigstellung bei Simón Bolívar zitiert. In dem Abschnitt Uber Kolumbien, in dem er ebenfalls die Leistungen von José Hilario López Valdez neben denen Obandos hervorhebt,298 stellt auch Sarmiento als die Schwäche des Emanzipationsprozesses im Norden den Hang heraus, alle Verfahrensänderungen sogleich in Systeme kodifizieren und institutionalisieren zu wollen und dabei allzu oft den eigenen parteilichen Vorteil im Auge zu haben, obwohl doch das Rechtssystem parteiunabhängig der Gemeinschaft zu dienen habe. 295 Ebenda, S. 57. 296 Den drei von González erwähnten Präsidenten (López Valdez 1849-53, Ospina Rodríguez 185761 und Suárez 1918-21) sind ihre antioqueñische Herkunft und ihr liberaler Ruf gemein. 297 Ebenda, S. 57f. 298 Vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías /, a.a.O., S. 255. José María Obando war von 1831-1832 Vizepräsident. 118
Cuenta Nueva Granada con dos millones y medio de habitantes, y de aquel prurito de cambiar los sistemas, de mejorarlos y de asociar el triunfo de un partido a una reforma en las instituciones, ha debido producirse lo que ya se ha notado en los veinte años que lleva de práctica la última Constitución y tiempo trascurrido desde 1810, y es el grande interés del pueblo por darse instituciones libres, y los progresos que ha venido haciendo el conocimiento general de las doctrinas de la ciencia constitucional.299
Für González ist diese unbeirrbare Hartnäckigkeit, alles zu formalisieren und für jede wirkliche Situation einen Präzedenzfall zu konstruieren, in den "notariellen Fetischismus" umgeschlagen und hat sich gegenüber dem freien Gestaltungswillen des Volkes als Hindernis aufgebaut. Deshalb unterscheidet er zwischen dem Volk, das verheißungsvoll, demokratisch, die ethnische Differenz tolerierend und von gleicher Art unter allen seinen Mitgliedern sei, und der neogranadinischen Hülle, die dieses bedecke, unmündig halte und ersticke. Nur diese letztere, nicht aber das Volk repräsentiere Santander,300 den, nebenher bemerkt, Sarmiento in seinem gesamten, sehr emphatisch geschriebenen Abschnitt über die Fortschritte in Kolumbien, insbesondere jene in Sprach-, Rechts- und Politikwissenschaft und -praxis, seit der Unabhängigkeit mit keinem Wort erwähnt. González interpretiert die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in Argentinien und Chile vor dem Hintergrund jener nicht eingelösten Artikulations- und Emanzipationsversprechen aus der Form, wie diese Länder die Unabhängigkeit erlangten, in Argentinien stets zusätzlich überlagert vom Konflikt zwischen Metropole und Provinzen. Hipólito Irigoyen und Julio Roca und der Dichter Manuel Gálvez versuchten in Argentinien, die Sache des Volkes, und das heißt, gerade auch der gauchos, wieder ins Zentrum des öffentlichen Interesses zu rücken, der chilenische Politiker Alessandri, Hoffnungsträger zunächst, habe sich während seiner zweiten Präsidentschaft der Santiagoer Aristokratie unterworfen.
4.3 Bekenntnisse und Ideale: Mi Simón Bolívar Resulta, así, que Bolívar fue el que cumplió uno de los actos más trascendentales en la humanidad, lo cual se reconocerá cuando en los siglos se realicen los hechos. Se dirá entonces que el Libertador creó y dio carácter a uno de los capítulos más complicados y preñados de consecuencias en el desarrollo del hombre hacia su fin, que es la conciencia universal.301
Simón Bolívar habe im Hegel'schen Sinne im weltgeschichtlichen Augenblick gehandelt. Dank dieser Übereinstimmung mit objektiven historischen Konstellationen hätten die Geschehnisse zu Beginn des letzten Jahrhunderts Lateinamerika um einen qualitativen Sprung vorankommen können.302 Das Gewebe der traditionellen Beziehungen in299 Ebenda, S. 253. 300 Vgl. González, a.a.O., S. 17. 301 González, Mi S. Bolívar, S. 57. 302 An Hegel erinnert die Denkfigur, daß in manchen Individuen und Tür manche Zeitabschnitte die weltgeschichtlichen Tendenzen sich verkörpern und besonders deutlich zum Ausdruck gelangen. 119
nerhalb der Klassen und Schichten Lateinamerikas und ihrer vielfältigen, ökonomischen, ideologischen und sozialen Bindungen zur spanischen Metropole hatte zunehmend an Stabilität verloren und sich zum Ende des 18. Jahrhunderts in ein höchst explosives soziopolitisches Gebilde verwandelt. Gleichwohl blieben die Erinnerungen und Hinweise auf drei Jahrhunderte fester und friedlicher Strukturen dank der Obhut unter der spanischen Krone ein immer wieder mobilisiertes und nicht leichthin wegwischbares Argument der Unabhängigkeitsgegner. Die historische Leistung Bolivars bestehe nun in einer durchweg verfolgbaren Orientierung seiner Handlungen um eine historische Idee, der Unterordnung gerade auch militärischer Entscheidungen unter diese Ziele. Drei der von González angeführten Argumente zur Stützung seiner These, daß für Bolívar immer ein Primat des Politischen bestand, seien hier kurz hervorgehoben: der Verzicht auf die ihm angetragene Präsidentschaft 1815 in Tunja (da zu diesem Zeitpunkt, angesichts der tiefen Zerklüftung der antispanischen Kräfte, seine Person diese noch mehr polarisiert und also das Gegenteil bewirkt hätte von dem, woran er aller Inopportunität zum Trotz festhielt, an der Vision des geeinten Amerikas), die Deklarationenen der guerra a muerte303 und die Versöhnungsaufrufe an Soldaten und Generäle der feindlichen spanischen Reihen, die besonders nach 1820 immer lauter werden. Nach dieser kurzen Einführung in González' Beschäftigung mit Bolívar sollen drei Komplexe näher betrachtet werden, denen sein besonderes Interesse galt. Diese sind erstens die Verschärfung der Gegensätze in Venezuela und Nueva Granada und Bolivars Reaktion auf sie, zweitens die Dynamik von revolutionären und gegenrevolutionären Bewegungen im Unabhängigkeitsprozeß und drittens erneut die Spannung zwischen Zentralismus und Föderalismus. Das so entstehende Bolivarbild war durch die allgemeine Kanonisierung schon nicht mehr abgedeckt. "Porque soy partidario de la Re-
Er sprach von Amerika als dem "Land der Zukunft, in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten, etwa im Streite von Nord- und Südamerika, die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll" (G. W. F. Hegel, "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte", in: Hegel, a.a.O., Bd. 12, 1970, S. 114), übte sich aber in größter Zurückhaltung, was Prophezeiungen anbetraf, "denn wir haben es nach der Seite der Geschichte mit dem zu tun, was gewesen ist und mit dem, was ist in der Philosophie aber mit dem, was weder nur gewesen ist noch erst nur sein wird, sondern mit dem was ist und ewig ist mit der Vernunft, und damit haben wir zur Genüge zu tun" (ebenda). 303 1813 in Venezuela und 1824 in Peru hatte Bolívar jeweils die guerra a muerte ausgerufen, um die Allianz von königstreuen oder jedenfalls zur Verteidigung der Krone bereiten Kreolen und Spaniern aufzubrechen und damit die Hegemonie unter den Kreolen zu gewinnen. John Lynch und Gerhard Masur beurteilen gleichermaßen diese Strategie als entscheidend für den Ausgang der Unabhängigkeitskriege. Vgl. John Lynch, "Más allá de la revolución. Bolívar y el ascenso de pardocracia", in: Congreso bicentenario. Bd. 3, S. 222. Masur betont, daß Bolívar immer den Einfluß der weltpolitischen Entwicklung auf die Befreiung Amerikas berücksichtigte und seine Strategie danach abstimmte. "Cuando su decreto (das erste zum guerra a muerte, J. P.) fue publicado en 1813, el dominio de Napoleón se aproximaba a su fin y España estaba otra vez en vías de convertirse en una nación independiente. Con el apoyo de la Iglesia, Venezuela podía muy bien haber sido la cabeza del puente para la reconquista de las colonias" (Gerhard Masur, Simón Bolívar, Cali 1999, S. 147). 120
forma, aquellos colombianos que vienen conmigo quieren arrojarme al mar. Y porque en la cama les quito a las muchachas el escapulario." 04 Angesichts der lateinamerikaweit geteilten Inthronisierung Bolívars besteht das oberste Interesse des Querdenkers darin, auf die Mythenbildung zur Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse und auf Lücken und Einseitigkeiten des offiziellen Bolivarbildes hinzuweisen. So wird der Bildungsweg des schwierigen Kindes (die Mutter gab den kleinen Simón schon mit drei Jahren außer hause anderen Erzieherinnen und Erziehern zur Obhut) und des aufsässigen Jugendlichen gerne vergessen. González schrieb gegen eine intellektuelle Atmosphäre an, die unter anderem davon geprägt war, daß in den zwanziger Jahren, auch als Reaktion auf fortschrittliche pädagogische Missionen aus Europa, der Staat sich von allen Verantwortlichkeiten in der Bildungspolitik zurückzog und diese der Kirche anvertraute, einer zeitgemäßen Säkularisierung also diametral entgegenarbeitete. Der Bedeutung reformatorischer und aufklärerischer Quellen in Bolívars Bildungskarriere wird große Bedeutung beigemessen. González erwähnt die (geringere) Bedeutung von Andrés Bello und die große Bedeutung von Simón Rodríguez, der wegen einer angeblichen Beteiligung an einer Verschwörung gegen den Staat 1797 Venezuela hatte verlassen müssen, als Lehrer und die einflußreichen Lektüren von Plutarchs Vidas paralelas, Voltaires Candide und Rousseaus Emile. Natürlich erwähnt er die Bekanntschaft mit Bonpland und Humboldt. Aber er leistet nicht jenem Gründungsmythos des kongenialen Duos von Staatsmann und Wissenschaftler, dem "zweiten Entdecker Amerikas" (Simón Bolívar) Vorschub,305 sondern weist vielmehr auf Parallelen im Begriff des Kosmischen, des Ausgehens von der unzertrennlichen Einheit von Mensch und Natur auch für den Befreiungsbegriff hin und hebt Humboldts skeptische Haltung gegenüber der kreolischen Elite hervor, von diesem in erster Linie an deren Ungleichbehandlung der Angehörigen anderer Rassen festgemacht. Auch dem komplizierten Prozeß von zunächst Anziehung und Faszination und später entschiedener Ablehnung gegenüber Francisco Miranda wird die gebührende Aufmerksamkeit entgegengebracht. 304 González, a.a.O., S. 24. 305 "Bis 1814 aber bezogen sich zunächst Liberale beider Seiten auf das Werk Alexander von Humboldts: Sowohl in den Cortes von Cádiz wie auch im großen Werk von José Guerra wurde der Deutsche zitiert; nach 1821 waren es die 'konservativen' Liberalen der 'südamerikanischen Freistaaten', die 'ihren Humboldt' mit 'ihrem Befreier' in Apologien oder Festschriften verbannten oder ihnen Denkmale errichteten" (Michael Zeuske, "Alexander von Humboldt und das Problem der Transformation in Spanisch-Amerika", in: Schröter, B./Zeuske, M., Alexander von Humboldt und das neue Geschichtsbild von Lateinamerika, Leipzig 1992, S. 167). José Guerra, dessen Briefe eines Amerikaners an den Spanier 1811-12 in London erschienen waren, hebt vor allem Humboldts wirklichkeitsgetreue Schilderung der Sklaven- und Zwangsarbeitsverhältnisse und der unmenschlichen Abgabenordnung, denen die Indios ausgeliefert waren, gegen die beschönigenden Darstellungen spanischer Abgeordneter hervor. "El Diputado Feliu se exaltó contra Humboldt creyendo universal su aserción de que ya no existía la mita o envió forzado de los Indios al trabajo de las minas: y que estas no son tan mortíferas" (Servando Teresa de Mier, Cartas de un americano 1811-12, Mexiko-Stadt 1976, S. 146). Calvillo legt in seiner Einleitung der Ausgabe die Identität des Briefeschreibers als der 1763 in Mexiko-Stadt geborene Sohn von Joaquín Mier y Noriega und Antonia Guerra dar. 121
Durch die Betonung der Differenz in strategischen Fragen und der von Bolívar zurückgewiesenen Empfehlung Mirandas, die Schriften Montecucolis zu studieren, gewinnt die Beschreibung dieser Auseinandersetzung den wünschenswert sachlichen Ton, wenngleich sich mit der spöttischen Charakterisierung Mirandas als metódico y afrancesado ein Mangel an Sensibilität in der Ausdrucksweise zugunsten des populären Effekts bemerkbar macht.306 Die historische Stärke des Nationalstaates erklärt die Dauerhaftigkeit dieser Wortschöpfung, die zunächst spanische Sympathisanten mit der französischen Revolution verunglimpfen sollte und als abwertende Bezeichnung von etwas fremd Gewordenem, im Verdacht des Verrats Stehendem ihre Lebendigkeit bewahren konnte. Im Sinne der gleichen Evokation des xenophobischen Affekts verwendet auch Sarmiento das Eigenschaftswort afrancesado™1 Der Konflikt mit Francisco Miranda gewinnt zentrale Bedeutung ftir das Bolivar-Bild. Nietzscheanisch wird er als einer dargestellt, der eine eindeutige Entscheidung, die des anderen Ruin bedeuten werde, heraufbeschwört. Ihr historischer Ausgang zugunsten Bolivars wird auch mit solchen publikumswirksamen Ausdrücken gerechtfertigt und gefeiert. Mindestens ebenso problematisch ist freilich die Ausblendung dieses Konfliktes im Dienste eines harmonischen Geschichtsverlaufs und nationalen Gründungsmythos.308 Außerordentlich wichtig auch für diese Revolution war der "Beitrag" (wenn man im Sinne einer "List der Vernunft" diesen positiven Begriff wählen kann) der Metropolenmacht zu ihrer Ablösung selber. Der schreiende Widerspruch zwischen der sprichwörtlichen, ostentativ zur Schau getragenen Dekadenz der Königsfamilie María Luisa und Carlos IV und dem traditionellen tugendhaften Wertegebäude alter kreolischer Familien, das ja gerade auf das Fundament der Bindung an die Krone gegründet war und von dort seine Legitimität bezog, darf in seiner subjektiven Wirkung als Entzauberung und Ernüchterung nicht unterschätzt werden. Zugespitzt wurde diese Verunsicherung für amerikanische Europareisende durch das Verhalten ihrer Landsleute im Metropolenland selber: das falsche Geflecht von Opportunismus, Intrigen und Desinteresse an ihrem Ämterauftrag reproduzierten und steigerten diese, indem sie um das Monarchenpaar eine eigene Art corte (Indalecio Liévano Aguirre) formten. Die Ideen der Aufklärung fanden in Amerika ihre konsequenteren Anhänger und führten zuerst dort, nicht in Spanien, zum politischen Durchbruch. Typische Organisationsformen der Aufklärung und des politischen Republikanismus, die Bildungs- und Debattierzirkel wie die Sociedad Patriótica für die erste venezolanische Republik, die Sociedad Económica de Amigos del País in Quito und die patriotischen und geographischen Gesellschaften in Neu-Granada, die zu Gründungen von Schulen und Zeitungsredaktionen und zur 306 Vgl. González, a.a.O., S. 134. 307 "De Francia se reunieron algunos fondos, y se emprendió una campaña a órdenes del general Miranda, que así se llamaba aquel aventurero" (Sarmiento, a.a.O., S. 233). Sarmiento benutzt "afrancesado" außerdem als Bezeichnung seiner Kritik des Exports der spanisch-französischen und der innerspanischen Konflikte zwischen den Prinzipien der Tradition' und der 'liberalen Erneuerung' nach Lateinamerika, der sich zuungunsten der dortigen Unabhängigkeitsbewegung auswirke (vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías II, a.a.O., S. 81 ff.). 308 Vgl. J. L. Salcedo-Bastardo, Simón Bolívar, Percha 1978, S. 115ff.
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Durchführung von Expeditionen führten309 und deren Protagonisten ihr Engagement am 8. Juni 1816 in Bogotá unter Morillo mit dem Leben bezahlten, hatten entscheidenden Anteil am schließlichen Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung. Als Hintergrund freilich muß der innerhalb der um 1800 bestehenden Weltordnung und insbesondere innerhalb der auf Bluts-, Sprach- und Religionsbanden beruhenden Gesellschaftsordnung des spanischen Weltreiches nicht mehr lösbare Widerspruch zwischen amerikanischen Kolonien und spanischem Mutterland gesehen werden. Striktes Verbot des Handels mit anderen Mächten und deren Kolonien, also Nachbarländern (noch 1799 per königlichem Dekret erneuert), reglementatorisch auf Minimalniveau gehaltene Preise für koloniale Produkte auf spanischen Märkten, wachsende staatliche Beteiligungen an allen Exporten aus den Kolonien nach Spanien und erdrückende Steuern waren einige der anachronistischen Maßnahmen, mit denen Spanien den direkten und freien Austausch zwischen Kolonien und europäischen Ländern mit ihren prosperierenden, großteils durch die in jenen selbst geförderten Edelmetalle stimulierten Manufakturen unterband und auf die Schmuggelrouten verwies. Als auf den wachsenden Druck der Handelsfreiheit fordernden Kreolen diese Restriktionen 1807 (bis 1812) aufgehoben werden mußten, kam es zu einer Verdreifachung des Handels; die USA und andere Kolonien rückten als Handelspartner gleichauf mit Spanien.310 Die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Austausches bestand dabei in beiden Richtungen: Spanien konnte auch nicht, oder nicht ausreichend, den Bedarf der Kolonien an dringend benötigten Waren und Ausrüstungsgegenständen decken.311 Der enormen Belebung der Wirtschaft begegnete Monteverde als Führer der Reaktion am Beginn der reconquista nach dem Sturz der ersten Republik mit absolut untauglichen Repressalien, die die theoretische Unbedarftheit und die Unfähigkeit Spaniens, auf die politischen und ökonomischen Herausforderungen der Zeit angemessen zu reagieren, widerspiegeln. Su (de Monteverde, J. P.) primera intransigencia fue con el papel moneda, que los republicanos trataron de mantener vigente en la capitulación, pero lo declaró ilegal y sin ningún valor, de lo que vino a resultar la ruina de numerosos mercaderes, e incluso de muchos comerciantes, ya que habla circulado profusamente como medio de pago en los últimos meses de la República. Su segunda medida inoportuna fue embargar los buques norteamericanos que se encontraban en la Guaira, y confiscar sus cargamentos, pues se trataba de una ayuda económica para los damnificados por el terremoto, que el Congreso habla otorgado generosamente. (Das hinderte im übrigen den als Demagogen ungleich begabteren Monteverde nicht daran, das "Werk der
309 Vgl. König, a.a.O., S. 48 u. S. 56. 310 Lucena Salmoral, "El comercio de la Guaira con las colonias extranjeras amigas y neutrales durante la coyuntura revolucionaria venezolana 1807-1812". in: Congreso bicentenario, Bd. 3, S. 119ff.; ebenso auch: Arcila Farias, "El comercio de la provincia de Caracas con los dominios españoles y naciones europeas y sus dominios americanos 1783-93", in: Congreso bicentenario, Bd. 1, S. 216ff. 311 Vgl. Depons, a.a.O., S. 231ff. 123
Natur" wirkungsvoll als Strafe für die Ungläubigen auszugeben.312) Luego Monteverde suprimió todas las rebajas de derechos y libertades otorgadas por los republicanos... y colocó el comercio caraqueño noya en la situación de 1809, sino en la de 1805... Monteverde se lanzó más tarde a las de proscripciones y destierros, sin entender que aquello hundiría aún más al régimen español, pues los políticos eran precisamente los que poseían las fuentes económicas de Venezuela, que necesitaba para la recuperación... En enero 1813 decretó la expulsión del país de todos los extranjeros, sin discriminación de clases, ni sexos, y se marcharon definitivamente Scott, Lowry y Watson (die letzten, noch präsenten und mächtigen nordamerikanischen, bzw. britischen Großhändler, J. P.) m
Die komplizierte Gemengelage aus wirtschaftlicher Unfreiheit, politischer Instabilität und den zunehmenden Anzeichen der tiefen Krise der spanischen Metropole spitzte die Situation der Kreolen zu, die nach einem Worte Alexander von Humboldts lieber gewisse Rechte gar nicht bekommen, als sie mit anderen teilen wollten.314 Grundsätzlich kann festgehalten werden, daß von ihrer Mehrheit die wirtschaftliche Handlungsfreiheit ohne die politischen und sozialen Ansprüche, formuliert in der Französischen Revolution, angestrebt wurde. Paul Butel stellt für die französische Handelsbourgeoisie der Antillen fest, daß diese angesichts des durch die Handelsfreiheit enorm intensivierten Wettbewerbs 1815 sogar für die Rückkehr zum protektionistischen System votierten.315 Natürliche Verbündete der Kreolen für ihr Streben nach mehr ökonomischen Freiheiten und den für diese nötigen politischen Maßnahmen, einschließlich einer Entmachtung der in Amerika residierenden Spanier, waren also in erster Linie Kreise des Spanien kritisch bis feindlich gegenüber eingestellten Auslands; ein Ausdruck der vielfältigen Bemühungen in diese Richtung war auch die Reise der venezolanischen Delegation nach England 1809, an der Bolívar teilnahm. Solange die Unabhängigkeitsbewegung nicht auch ein soziales Projekt zentral in ihrem Programm verankerte, konnte es keine nachhaltige gemeinsame Interessenkonstellation zwischen Kreolen und pardos, Schwarzen und Indios geben. Gerade die Verwerfungen in den Verhaltensmustern dieser Gruppen untereinander verliehen den gesamten lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriegen das Gepräge eines mehrseitigen Bürgerkrieges, das sie vergleichbar mit der typischen Dynamik anderer großer politischer Umwälzungen machte: wie z. B. 1793 in der Vendée wandten sich die am gesellschaftlichen Reichtum am wenigsten 312 "Bolívar, con sus esclavos, recoge heridos, sudoroso y sucio, levantando ruinas; sombrío al ver que al sentimineto popular de la independencia, en gestación apenas, también se lo tragó la tierra, envuelto en negras sotanas de frailes españoles, impertinentes y patones. Al llegar a la Plaza Mayor, y dirigiéndose a él, un fraile grita: '¡De rodillas desgraciados! Ha llegado la hora de que os arrepintiérais. El brazo divino de la justicia pesa sobre vuestras cabezas, porque habéis injurado la majestad del Altísimo, al poder del más virtuoso de los monarcas, vuestro amo y señor, Fernando Vil...'" (González, Santander, a.a.O., S. 105/ Liévano (S. 79f.) und Salcedo-Bastardo (S. 1 ISf.) präsentieren im gleichen Sinne Chroniken über die Situation nach dem verheerenden Erdbeben 1812. 313 Salmoral, a.a.O., S. 207ff. 314 Vgl. Alexander von Humboldt, Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, München 1992, S. 69. 315 Paul Butel, "Tradiciones y cambios en los tráficos atlánticos y franceses de 1780 - 1830", in: Congreso bicentenario, Bd. I, S. 342.
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teilhabenden Klassen und Schichten gegen die revolutionäre Bewegung für den politischen Umsturz und kämpften auf Seiten der alten, angegriffenen Macht. Immer häufiger war es zu Aufständen der Sklaven gekommen, der erste große wurde 1795 registriert; unter der ersten Republik in Venezuela hatten sie neue Parolen und benannten ihre Gegner: "¡Viva Fernando VII! ¡Viva la religión católica! ¡Muera la independencia!", riefen pardos, Schwarze und Spanier in Valencia 1812, im gleichen Jahr machte sich ein Zug schwarzer Sklaven aus Barlovento, mit der Parole ¡ Viva el rey! auf zur Hauptstadt; "¡Las tierras de los blancos para los pardos!", riefen die Soldaten von Boves in den llanos. Die montoneras in Argentinien verhinderten die Einsetzung eines Königs, die von den mächtigen Kreisen in Buenos Aires und den Logenbrüdern der nach dem legendären Araucanerführer benannten Loge von Lautaro als sozialpolitisch nicht riskante Maßnahme gegen Spanien gedacht war; schließlich konnte die erbitterte Verteidigung von Spaniens stärkster Bastion in Lateinamerika, des Vizekönigreichs von Peru, durch die Indiomassen der sierra erheblich verstärkt und verlängert werden. Natürlich handelte es sich bei den in diesen widersprüchlichen Bewegungen zustandekommenden Koalitionen um höchst brüchige Gebilde. Gelang den Spaniern in Venezuela die Niederringung der ersten Republik mit Hilfe der marginalisierten und entwurzelten Massen vor allem deshalb, weil sie selber keine soziale Klasse mit von direkter Ausbeutung und Unterdrückung formbestimmten Beziehungen zu diesen bildeten, sondern als eine in das gesellschaftliche Leben viel weniger integrierte politische Kaste bezeichnet werden konnten, so zerbrach diese Allianz sofort nach der Kapitulation der Republik und wich nunmehr der Unterstützung der Reaktion durch weite Kreise der verunsicherten und desorientierten Kreolen. Bolívar hatte die destruktiven Kräfte infolge einer Entfesselung der rassischen Ressentiments erkannt (in erster Linie durch die Erfahrung mit den eigenen Generälen, Piar, Bermúdez, Mariflo u. a.) und war bestrebt, diese durch eine soziale Ausrichtung der antispanischen Koalition zu verhindern. Los americanos, en el sistema español que está en vigor, y quizá con mayor fuerza que nunca, no ocupan otro lugar en la sociedad que el de siervos propios para el trabajo, y cuando más el de simple consumidores; y aun esta polarte coartada con restricciones chocantes; tales son las prohibiciones del cultivo de frutos de Europa, el estanco de las producciones que el Rey monopoliza, el impedimento de las fábricas que la misma península no posee, los privilegios exclusivos del comercio hasta de los objetos de primera calidad, las trabas entre provincias y provincias americanas, para que no se traten, entiendan ni negocien; en fin, ¿quiere Ud. saber cuál era nuestro destino? Los campos para cultivar el añil, la grana, el café, la caña, el cacao y el algodón, las llanuras solitarias para criar ganados, los desiertos para cazar las bestias feroces, las entrañas de la tierra para excavar el oro que no puede saciar a esa nación avarienta. Tan negativo era nuestro estado que no encuentro semejante en ninguna otra asociación civilizada, por más que recorro la serie de las edades y la política de todas las naciones. Pretender que un país tan felizmente constituido, extenso, rico y populoso, sea meramente pasivo. ¿No es un ultraje y una violación de los derechos de ¡a humanidad?316
316 Bolívar, a.a.O., S. 27. 125
Wenn sich hier vielleicht auch nicht schon eine Kritik des ricardianischen Antiirerkantilismus im Sinne der Theorie von Dependenz und ungleichem Tausch entdecken läßt317, so geht doch die Kritik an Spanien im Jamaicabrief weit über eine Klage über die Abhängigkeit hinaus und richtet sich genau gegen die Tatsache, daß die Metropole ein passives und zur Passivität verdammendes Land sin manufacturas, sin produccioms territoriales, sin arte, sin ciencia, sin política ist. Das Interesse an der Vereinigung der lateinamerikanischen Staaten ist auch das ganz realistische an einer Blockbildung, um sich als Neuling auf dem sich herausbildenden Weltmarkt besser behaupten zu können. Im gleichen Sinne hatte Bolívar sich in Panama 1826 für ein gemeinsam von Mexiko, Guatemala und Groß-Kolumbien gebildetes Heer als Sicherheitsgarantie für die Region ausgesprochen. Unmittelbar nach der Souveränitätserklärung der neuen Republik in Venezuela löste diese sich auch schon in viele auseinanderstrebende Gebiete auf. Jede größere Stadt beanspruchte, unter geschickter Ausnutzung der gegen den Moloch Caracas gerichteten Ressentiments, Zentrum eines eigenen unabhängigen Staates zu werden, und zementierte damit die lokale Autoritätspersonen begünstigende, koloniale Struktur. In den lokalen Verwaltungsorganen selbst, in den cabildos, allerdings hatten sich gerade auch Ansätze ziviler städtischer Kultur herausgebildet. Domingo Sarmiento schrieb zur Bedeutung der cabildos, aus denen nach Andrés Bello der erste Ruf nach Unabhängigkeit erschallte: "AI rescate de las comunas en Francia se debe la civilización moderna; a los Cabildos la conservación en América de las formas civilizadas que traían nuestros padres, y perdieran en el contacto con la barbarie sin la existencia de los cabildos."318 Gemeinsam mit den zentrifugalen regionalistischen Tendenzen, die die Reichweite zentralstaatlicher konstitutioneller Projekte verringerten, stellte dann aber die Unwägbarkeit der lokalen Machtzentren während der gesamten Kriegszeit ein Hindernis für das Ziel der Unabhängigkeit dar. Und auch die erreichte Unabhängigkeit änderte an diesem personenbezogenen, vertikalen, mit leistungsprinzipbasierten Ents:heidungsabläufen wenig kompatiblen, gesellschaftlichen Strukturmuster kaum etwas. Das Geflecht aus regionalen Größen, in denen jeweils die Fäden der ökonomischen, Dolitischen und militärischen Machtausübung zusammenliefen, unter den traditionell:n Werten prosperidad-sociedad-autoridad, erwies sich sowohl allen Wellen gewaltsamer Raubund Plünderungszüge als auch verfassungsbezogenen, zentralstaatlichen Projekten gegenüber in seiner Widerstandsfähigkeit als überlegen. Dies mehr noch in Venezuela als in Neu-Granada, dessen Bevölkerung einen klar dominierenden Anteil von "blancos" aufwies. Die Bevölkerungsstruktur Venezuelas war ganz besonders dadurch gekenn317 Die Möglichkeit eines solchen Interpretationsansatzes diskutiert Tomás Enrique Cirillo Batalla (vgl. ders., "La economía mundial en el mundo de Simón Bolívar", in: Congreso licentenario, Bd. 1. S. 408). 318 Sarmiento, Conflicto y armonías de las razas /, a.a.O., S. 77. Vgl. zur Bedeutung Jer cabildos auch König, a.a.O.» S. 36fT„ und den sehr erhellenden Aufsatz von Enrique Santos Molano Antonio Nariño über die uneinheitliche Haltung der Verwaltungsorgane der cabildos ind der Real Audienca und der daraus sich ergebenden und geschickt genutzten Möglichkeit, Kele zwischen alcaldes, oidor und dem Vizekönig selber zu treiben (vgl. Santos Molano, a.a.O. S. *lf.).
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zeichnet, daß die rassisch und sozial definierten Kasten scharf gegeneinander abgegrenzt und ihre Schranken fast unüberwindbar waren. Liévano stellt eine Beziehung her zwischen der von ihm so bezeichneten Kastengesellschaft Venezuelas einerseits und der in sich durchlässigeren Gesellschaft Neu-Granadas andererseits zu den unterschiedlichen Kriegsverläufen in beiden Ländern, insbesondere zu der Tatsache, daß es in NeuGranada nicht zur Allianz der ärmsten Schichten mit den Spaniern kam.319 Félix Luna stellt für Argentinien die gleiche Konstanz auch auf der personalen Ebene fest.320 Privilegien wie das Wahlrecht, der Zugang zu Institutionen der höheren Bildung für die Kinder, Mobilität und andere ehemals standesgemäß verbürgte Rechte verwandelten sich in ökonomisch-sozial bedingte Möglichkeiten. Im übrigen wiesen die durch die Unabhängigkeitskriege ausgelösten Prozesse der Desintegration und der ungleichen Koalitionsbildungen zur Verteidigung der Krone von Beginn an in Argentinien zahlreiche Parallelen zum Norden auf. "Todos estos factores de disgregación empezaron a operar en cuanto terminó la autoridad española. El nuevo estado de cosas favoreció la aparición de caudillos militares."321 Meditemos en que este continente estaba sumido en la ignorancia y la anarquía. Los mismos venezolanos eran los soldados de Monteverde. Cada provincia de la Nueva Granada se regía por un grupo de teólogos nebulosos, pues a los americanos no se les permitía aprender sino dogmática. No existía conciencia de patria: Cundinamarca tenía un gobierno; había un congreso de provincias federales en Tunja, y Cartagena tenía su gobierno propio y estaba incomunicada, rodeada por los españoles.
Fernando González, zu dessen Arbeit an der Entmythisierung Bolivars der Hinweis auf die zentrale Bedeutung der stetigen Auseinandersetzung mit (potenziellen) Mitstreitern des "Befreiers" gehört, hebt für die Verschränkung der Kampagnen von Venezuela und Neu-Granada die Debatte mit Camilo Torres hervor, einem Anhänger des Föderalismus. Die Einheit dieser Kampagnen stieß bei den mächtigsten republikanischen Generälen auf keine Sympathie, "el Libertador tuvo que luchar con los espíritus pequeños, tales como Manuel del Castillo y Francisco de Paula Santander, que a sus ideas universales oponían el regionalismo y la envidia."323 So ist es kein unglücklicher Zufall, sondern Ausdruck der Gemengelage widersprüchlicher Interessen, wenn sich ehemalige Mit319 "En la Nueva Granada, por el contrario, el continuo y creciente proceso de mestización propiciado por la ausencia de un agresivo concepto de casta, determinó la existencia de un tipo humano en evolución racial todavía no asimilada... la independencia encontró en ella una opinión más homogénea que le permitió aportar la mayoría del material humano para las tropas libertadoras" (Liévano, a.a.O., S. 93; vgl. auch seine Ausführungen über Caracas zur Jahrhundertwende, ebenda, S. 9). 320 "Por supuesto, la gente que se reunía (in den 1813 neugeschaffenen, repräsentativen Organen, die die Vertreter für Buenos Aires bestimmten, J. P) era del mismo tipo de la que, en la época colonial, habría participado de los cabildos abiertos" (Félix Luna, Breve historia de los argentinos, Buenos Aires 1993, S. 70). 321 Ebenda, S. 64f. 322 González. a.aO., S. 145. 323 Ebenda, S. 146f. 127
Streiter in die gefährlichsten Gegner und Hindernisse verwandelten, imnur dann nämlich, wenn ihr Interesse an der Konservierung ihrer mit feudaler Allgewalt ausgeübten, despotischen Territorialmacht mit Bolivars Strategie in Konflikt geriet. Das starre feudale System, das jedem einen Platz in der Gesellschaftspyramide zuwies und beanspruchte, von der Geburt bis zur Erbfolge alle Situationen von überindividuellem Interesse zu regeln, wurde von den spanischen Eroberern in Amerika - häufig nicht im Sinne der Krone - auf die Weißen, auf die in Amerika geborenen Weißen, auf die Mischlinge, die Indios, die schwarzen Sklaven, die cuarterones, quinterones etc. je unterschiedlich angewandt und führte zu einem komplizierten und extrem ungleichen Geflecht von Privilegien und Einschränkungen. Der Zentralstaat sollte vor allem die Reichweite der einheitlichen Verfassung garantieren, zu deren Grundelementen gegen Ende der zweiten Dekade die Abschaffung der Sklaverei und die politische Gleichheit der Rassen gehörte. Dieses politische Primat bildete die Richtschnur für Bolivars Entscheidungen; so erklärte sich die Wendung nach NeuGranada nach errungenem militärischen Sieg in Venezuela, desgleichen die Ablehnung des gemeinsamen militärischen Vorgehens mit San Martin angesichts unterschiedlicher postkolonialer Projekte. Die Beschäftigung mit Bolívar in der erklärten Absicht, den gesellschaftlichen und politischen status quo ihrer Zeit zu kritisieren, führte um die Jahrhundertwende bei verschiedenen hispanischen Autoren zu Hervorhebungen bestimmter Überlegungen bei Bolívar, die in seiner offiziellen Lesart als Befreier und Staatsgründer verlorengegangen oder zu reiner Rhetorik verkommen waren. Die historisch bedingten Hindernisse bei der Bildung gesellschaftlicher Bündnisse und deren fortwährende Brüchigkeit sowie das vielschichtige Problem der Spannung zwischen unmittelbaren und übergreifenden Interessen, zwischen lokalen Verfahrensgewohnheiten und staatlicher Verfassung, zwischen Föderalismus und Zentralismus bildeten auch für José Martí (Nuestra América, 1891), César Zumeta (El continente enfermo, 1899) oder auch José Enrique Rodó (Ariel, 1900) zentrale Motive in ihren Untersuchungen. Bei González können wir von einem Forschungsprogramm sprechen, von dem sich dann später große Arbeiten über Bolívar und seine Zeit (Indalecio Liévano Aguirre, John Lynch, Kurt Masur, Ramón Zapata usw.) leiten ließen. Die politische Schärfe bei González selbst lag zunächst in der Entmythisierung der Person, deren auratische Unberührbarkeit eine sachliche Auseinandersetzung mit Bezug zur Lage ein Jahrhundert später erschwert hatte, sodann in der parteilichen Akzentuierung des scharfen Gegensatzes zu Francisco de Paula Santander, den die offizielle kolumbianische Geschichtsschreibung als Staatsgründer und Ordnungsgaranten feiert, den González dagegen in Anspielung auf Rodó als den Calibán für Bolívar charakterisierte.324 Das politische Interesse González', eine Geschichtsschreibung anzuregen, die sich nicht auf die Glorifizierung der stattgefundenen Geschichte als der einzig denkbaren beschränkte, sondern der Möglichkeitssinn durch das Studium von Ideen, die sich (noch) nicht durchzusetzen 324 Vgl. ebenda, S. 147. Calibán ist in Rodós Ariel in Anlehnung an Shakespeares "The Tempest" und Renans "Caliban" der Gegenspieler Prósperos. Gegen dessen Optimismus repräsentiert jener utilitaristischen Krämergeist. 128
vermochten, schulen könnte, drückte sich in seiner Widmung von Mi Simón Bolívar an den Mayor Santander y General Páez aus. Zusammen mit Juan José Flores, "Santanders compadre", repräsentierten sie die antibolivaristischen Kräfte, deren Separatismus die Realgeschichte bis heute bestimmte. Páez and his friends held Venezuela, lo the exclusion of many a returning Bolivarian officer and of other meritorious patriot careers. General Santander, who was the first to see that assiduous electoral-machine building and sectarian journalism were the roads to power in New Granada, was a man of many enemies, lay, clerical and military, and who kept his enmities in good repair. General Flores was not even an ecuadorian, and the colour of many of his troops did not blend with that of the sierra populace. All three had made their reputations in the wars, but these reputations were not unrivalled or ¡incontroverted325
In der Debatte um die Verfassung von Cúcuta vom August 1821 zeichneten sich die Differenzen zwischen Bolívar und Santander schon ab. Santander zeigte kein weiteres Interesse an neuerlichen Befreiungsfeldzügen, bei denen das ökonomisch und sozial entwickelte Kernhochland Neu-Granadas an wirtschaftlicher Macht und Wohlstand verlieren könnte. Diese Überlegungen waren die Basis seines Regionalismus, Komplement zu seinem panamericanismo auf Grundlage der Erklärung des Kabinetts von James Monroe 1823, die dann bei der Haltung zum Panama-Kongreß zum offenen Widerspruch zu Bolívar führten. "En aquellos tiempos de montoneras errantes y dispersas, de poblaciones separadas y cuyas rivalidades y desconocimiento mutuo eran instigados por el régimen colonial, para evitar, precisamente, el nacimiento de espíritu por la patria."326 Patria hat die durchweg positive Konnotation eines kollektiven und historischen Selbstbewußtseins, zu dessen Grundelement aber nicht das Selbstverständnis als nación (häufig im Sinne von "Staat", manchmal, begrifflich ungenau, aber auch austauschbar mit patria verwendet), sondern vielmehr das der Zugehörigkeit zu den amerikanischen Völkern zählt. Es ist interessant, daß in diesen Diskursen der Begriff des regionalismo den semantischen Bereich der lokalen, nicht verfassungmäßigen Despotie besetzte. "Bolívar concibió u n a nacionalidad y la formó en luchas más terribles contra los americanos que contra los españoles; concibió u n ejército y lo formó."327 Für das Projekt des Gran Colombia gab es letzten Endes kein gesellschaftliches Bündnis, dessen Interessen es aufgenommen und zukunftsträchtig formuliert hätte. Die Strömung des kritischen Bolivarismus seit Ende des letzten Jahrhunderts knüpfte in erster Linie an die Überzeugung Bolivars an, daß Amerika nicht den europäischen Weg über die Na325
Deas, Venezuela, Colombia and Ecuador: the First Half-Century of Independence, a.a.O., S. 517. Im Santanderbuch widmet González Flores, dem vor allem während seiner zweiten Amtszeit 1839-45 immer autokratischer regierenden, ersten Präsidenten Ecuadors einen kritischen Artikel, in dem er ihn als compadre Santanders bezeichnet (vgl. González, Santander, a.a.O., S. 28). William Ospina hebt das originelle und verwurzelte Denken González hervor, das einen neuen Blick auf die amerikanische Geschichte eröffne. 326 González, Mi S. Bolivar, a.a.O., S. 143. 327 Ebenda, S. 146.
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tion in die Moderne gehen sollte und zweitens, daß die politische Selbst- und Fremdwahrnehmung über Kategorien der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Kaste, zu einer Ethnie, bzw. zu einer durch rassische Kriterien bestimmten Gemeinschaft ein bedeutendes Hindernis für egalitäre Differenzierungsprozesse der Völker in Lateinamerika darstellt. Aufgrund der Sorge, an die Macht gekommen, würden die pardos als selber rassisch stigmatisierte Ethnie eine schlimmere Diskriminierungspolitik als die weißen mantuanos und hacenderos betreiben, stützte sich Bolívar in Venezuela nur teilweise und sehr vorsichtig auf sie, obwohl sie sowohl die größte als zu Teilen auch die ökonomisch dynamischste Bevölkerungsschicht darstellte. Igualdad ante la ley, seguridad de derechos civiles, no fueron suficientes para los pardos. Como lo expresó Bolívar, ellos querían igualdad absoluta de oportunidades. Y ello era sólo el primer paso. Luego, advirtió, ellos demandarían acceso político, y más que ello, poder político conducente a un liderazgo sobre los blancos.
Genau diese Dynamik suchte Bolívar zu vermeiden. So ist es durchaus programmatisch zu verstehen, wenn Bolívar im gesamten Jamaicabrief die Ebene der sozioökonomischen Bestimmung seiner Begriffe und Analysen nie verläßt. Nur auf ihr läßt sich das an der Befreiung orientierte Interesse rational formulieren und ein ihm entsprechendes Handeln begründen. Daß für die Verwerfungen und Entfesselungen der wirklichen Fraktionierungen, Gruppierungen und marodierenden Anhängerschaften auch ganz andere als diese objektiven Interessenlagen ausschlaggebend sein können, hatte Bolívar in den Kampagnen Boves', die den Auseinandersetzungen eine extrem blutigere und gewalttätigere Form verliehen hatten, in aller Deutlichkeit erkannt. En los primeros años de la independencia se buscaban hombres y el primer mérito era ser valiente. De todas las clases eran buenos, con tal de que peleasen con brío. A nadie se podía recompensar con dinero, porque no lo había; sólo se podían dar grados militares para estimular el entusiasmo y premiar las hazañas. Asi es que hombres de todas las castas se hallan hoy entre nuestros generales, jefes y oficiales, y ¡a mayor parte de ellos no tienen otro mérito que el valor brutal que ha sido útil a la República, haber matado muchos españoles y haberse hecho temibles. Negros, zambos, mulatos, blancos, hombres de todas las clases, que en el día, en medio de ta paz, son un obstáculo para el orden y la tranquilidad. Pero fue un mal • 329 necesario.
Bolívar hatte große Hoffnungen auf den Abbau von Kastenschranken durch das Engagement im Militär gesetzt und dort auch mit Landverteilungen als erste Schritte zu einer Bodenreform begonnen, was auch Sarmiento schon hervorgehoben hatte. Die unauflösliche Einheit des leuchtenden neuen Projektes der Menschenrechte mit dem Problem der ethnischen und sozialen Unterdrückung in Neu-Granada sah vor Bolívar am klarsten 328 John Lynch, "Más allá de la revolución. Bolívar y el ascenso de la pardocracia", in: Congreso bicentenario, Bd. 3, S. 229. 329 Simón Bolívar an Perú de Lacroix, zit. nach González, a. a. O., S. 211.
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vielleicht Pedro Fermín de Vargas, der zur Gruppe der precursores um Antonio Nariño zählte. "Una revolución política que no es otra cosa que la repercusión de los Derechos del Hombre, debe hacerse exclusivamente por el pueblo." Für Fermín de Vargas war aber die Durchsetzung der Gültigkeit der Menschenrechte für alle Teile des Volkes, also gerade für die Indios, an deren Integration in das betriebliche und wirtschaftliche Leben geknüpft. Dadurch könnten sie habituelle Defizite überwinden und sich in den Stand versetzen, von den formal zugesprochenen Menschenrechten auch tatsächlich Gebrauch zu machen.330 Um die beim Forscher selbst angeregten Reflexionen miteinzubeziehen, notiert González aktuelle politische Ereignisse, die einen Bezug zum Gegenstand haben. So wird der Tod Stresemanns festgehalten,331 das Wirken Briands hervorgehoben, daran anschließend an Nietzsches Eintreten für ein geeintes Europa gegen rassistische und religiöse Ressentiments erinnert und an Ernest Renans Forderung für das bewußte Eintreten für christlich-universalistische Werte angeknüpft. Einen anderen assoziativen Strang bilden die positiven Bezugnahmen auf Gandhis Unabhängigkeitskampf. Angesichts des ungebrochen positiven Gebrauchs von nación in der politischen Programm- und Parolenbildung (bei [Selbst-JBezeichnungen wie ELN - Ejército de Liberación Nacional, Kolumbien - oder EZLN - Ejército Zapatista de Liberación Nacional, Mexiko - wird die beabsichtigte neutrale Verwendung des Lexems der nación besonders deutlich) besteht ein wichtiger Anregungspunkt für die künftige Forschung sicherlich im Augenmerk auf González' Unterstreichung, daß Bolívar in der Übernahme des Konzeptes einzelner Nationen von Beginn an eine Begrenzung seiner Vorstellung für die Emanzipation der Kolonien sah. In der historischen Wirklichkeit hingegen ist die Attraktivität des Nationenkonzeptes ungebrochen, sprachpolitisch hält es die semantische Position des geeinten Volkes besetzt (Colombia, año cero [von Javier Sanín in der Literaturbeilage von El Tiempo, 17. Dezember 95]: "Lo único válido es tratar de rehacer la nación a partir de una revolución ética; Unir es movilizar las energías, más allá de la guerra y de las posiciones ideológicas, más allá de la izquierda o la derecha, del liberalismo o del conservatismo, para el rescate de la nación" - und das wenige Sätze später, nachdem das ehemalige Jugoslawien als abschreckendes Lehrbeispiel der Geschichte für die Greuel eines entfesselten Nationalismus hingestellt wurde), und es scheint sich für die Verbrämung regionalpolitischer Modernisierungskonflikte mit absehbar sehr großen sozialen Auswirkungen nach wie vor an erster Stelle anzubieten. Dies zeigen die kolumbianischvenezolanischen Konflikte der letzten zwei Jahrhunderte, die allesamt als Hintergrund soziale Auseinandersetzungen hatten, die ungeachtet ihrer Parallelität auf beiden Staatsgebieten im propagandistisch-demagogischen Diskurs mobilisierungswirksam als Konflikte dargestellt werden konnten, die die Verteidigung der nationalen Rechte zum Hintergund hätten. 330 Vgl. Pedro Fermín de Vargas, Pensamientos políticos sobre la agricultura, comercio y minas de este Reino. Zitiert wurde aus seinen Notas nach: Ocampo L., Col. en sus ideas. Bd. I, a.a.O., S. 322; vgl. auch Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, Frankfurt/M 1988. S. 22f. 331 Vgl. González, a.a.O., S. 99. 131
Als vorläufige Zwischenbilanz zu González' komparatistischen und analytischen Überlegungen zu den zwei Schlüsselfiguren der Unabhängigkeitskriege im nördlichen Teil des Subkontinents kann zweierlei festgehalten werden: Während zwei für die wesentlichen und gegensätzlichen Strömungen und Konzepte der Unabhängigkeit repräsentative Figuren (in González1 Sinne, daß sie schon als Personen gesamtgesellschaftlich noch vorwiegend latente Tendenzen verkörperten), deutlich und scharf voneinander abgehoben dargestellt werden, bleibt die Antwort auf die Frage nach dem Warum der nachhaltigen Hegemonie der durch Santander repräsentierten Strömung eher unbefriedigend. Denken und Handeln beider Personen werden aus ihren Bildungsbiographien heraus erklärt; diese stehen in gesellschaftlich vermittelten, geistesgeschichtlichen Tradionen; schließlich wird deutlich, worin das Besondere beider Charaktere bestand, dessentwegen sie zu den Repräsentanten einer Epoche wurden. La ley para él (Santander, J. P.) es mampara,332 während die herausragenden Protagonisten der Befreiungskriege von Camilo Torres über Brion, Petion, San Martin bis zu Peñalver bei all deren Unterschiedlichkeit doch darin übereinkamen, "que únicamente en Bolívar estaba la independencia";333 diese Gegenüberstellung wird innerhalb des gonzalistischen Systems durchaus stringent geführt. Psychologische Dispositive der Machtausübung werden deutlich umrissen. Auf ihrem historisch-gesellschaftlichen Aktionsfeld trugen sie bei zu den Resultaten, die, darin mit González' Einschätzungen durchaus übereinstimmend, Ocampo López so formuliert: La delimitación del espacio de los nuevos Estados nacionales, respetando las fronteras de las antiguas divisiones político-administrativas, dio surgimiento a la fuerza geopolítica del nacionalismo regional... Un problema que aparece en Hispanoamérica en el siglo XIX cuando surgieron los Estados nacionales, es la falta de unidad nacional... La fuerza que lleva a la integración de los elementos nacionales y a insistir en las realidades y lazos de la nacionalidad, es el nacionalismo que se fortaleció en el siglo XIX, llamado en la Historia de Hispanoamérica, el siglo de la Consolidación Nacional, aún cuando ésta no se hubiese realizado.334
Bei González macht den Preis der psychologischen Feinzeichnung vielleicht ein analytischer Ahistorismus aus. So gerät der Aufruf an seine Zeitgenossen bisweilen zum schieren Appell an deren bessere Einsicht, die solange Hypostase bleiben wird, solange die Begründung einer Entwicklung hin zu diesen Einsichten für das wirkliche vorherrschende Bewußtsein nicht historisch gesellschaftlich aufgezeigt werden kann. Angesichts der Vorherrschaft des "Eitelkeitskomplexes", der zugleich Inferioritätskomplex ist und unter dessen Bann die bewußten und affektiven Denk- und Wahrnehmungsmuster der Mehrheit seiner Zeitgenossen stehen, sieht González seine wesentliche Aufgabe in der Förderung eines authentischen Selbstbewußtseins, das dieses Selbst als das mit enormen Möglichkeiten ausgestattete, historisch gewordene Sein in Südamerika begreift. Diese conciencia ist Voraussetzung für die Erkenntnis der eigenen 332 González, Santander, a.a.O., S. 206. 333 González, Mi S. Bolívar, a.a.0., S. 146. 334 Ocampo L., Col. en sus ideas, Bd. II, a.a.0., S. 646f. 132
Interessen in der Welt und die Orientierung des Handelns an ihnen. Als Fähigkeit zur rationalen Durchdringung der Welt bildet sie zunächst die Instanzenebene, auf der das Individuum die Widersprüche und Reibungen mit der Objektivität wahrnimmt.335 Als entwicklungsfähiges Medium der Bewußtwerdung gestaltet sie außerdem die Empfindungen der Schönheit der Natur und die Erkenntnis ihrer Einheit. Sie ist die in sich differenzierte Einheit des kognoszitiv, sensitiv und moralisch-regulativ begriffenen, menschlichen Selbst, nicht als statischer Entität, sondern mit der Möglichkeit ausgestattet, sich in der Entfaltung seiner drei Dimensionen auf der Stufenleiter zu erhöhen, deren höchste, als dem Menschen unerreichbare Zielprojektion gedachte, siebte Stufe die conciencia cósmica ist. Pero no seguiré sin manifestaros que la disciplina de ¡a acción, con ser muy buena, lo es menos que la disciplina de la meditación, para llegar a la conciencia cósmica, último grado conocido por mí... ¡Hay muchos más, pero me están vedados aún!
Bedingung dieser Entwicklung ist die wiederum als Bund Verstandes- und gefühlsmäßiger Bestimmungen gedachte Gewißheit, Teil des großartigen und erhabenen Flusses der Natur zu sein. Der Gedanke der conciencia als Teil der universellen oder auch kosmischen "All-Seele" baut auf der Naturphilosophie des von González mehrfach genannten Ralph Waldo Emerson auf, der als Bezeichnung einer seiner höchsten Instanzen den "universellen Geist" (universal spirit) wählte. Die Verbindung zu Emerson wird neben vielen anderen Bereichen besonders an der Wassermetaphorik deutlich, auf die beide in ihren Aufrufen an das Individuum, sich der es umgebenden und seiner eigenen Natur gewahr zu werden, immer wieder rekurrieren. Die beiden Zitate stehen ftir viele, in denen die Autoren das Wasser als Sinnbild für den Kreislauf der Zeit, des Lebens und des Lernens verstehen. Nirgends in der Natur gibt es eine Absperrvorrichtung, eine Scheidewand, einen Schnittpunkt, sondern ein und dasselbe Lebensblut strömt ununterbrochen seinen endlosen Kreislauf durch alle Menschen, so wie die Wasser der Erde alle ein Meer bilden und, recht besehen, eine einzige Ebbe und Flut haben. Vivir con el cosmos. Por ejemplo, el agua: que el niño hunda las manos en ella, y medite las sensaciones; que se sumerja en el remanso y en la corriente y medite; que la perciba correr a causa de su apego a la tierra, deslizarse en busca del recóndito centro terrestre. ¡Eso es amor! Que siga su curso durante hortas, oyendo sus rumores o rugidos; que se penetre de su labor aplanadora, fecundante. El maestro monologará así acerca del ciclo del agua: '¡El ciclo del agua me conmujeve! Del gran depósito salado la levanta el sol y el viento la lleva sobre las montañas. Se enfría y cae para humedecer la tierra y aplanarla. Vuelve al mar. ¿No es una cir-
335
"Tan grande es la armonía que desapareció la conciencia que no es otra cosa que la percepción de contradicciones y roces" (González, Viaje a pie, a.a.O., S. 108). Die Harmonie mit der Natur, die sich den Wandernden im Caucatal mitteilte, überdeckte hier die rationale Dimension der conciencia, die bei ihnen zum Zeitpunkt des vorübergehenden Verlassens der städtischen Zivilisation die biographisch vorherrschende gewesen war. 336 González, Mi S. Bolívar, S. 124. 133
culación más enérgica y viva que la de nuestra sangre. También circulan la luz, el calor, la electricidad, el magnetismo y el pensamiento.*37
Der postulative Charakter der Zielvorstellungen und die geringe Bestimmtheit im Aufzeigen gangbarer Wege dorthin ermöglichen im Rückblick, die Tragik historischer Figuren wie Bolívar, dessen kontinentale Visionen überall an die begrenzten Horizonte seiner Mitstreiter stoßen mußten, scharf zu umreißen; für die Gegenwart verleihen sie den Analysen einen pessimistischen Tenor. Hybridität, Mulattenexistenz, Inferioritätskomplex und weitere Kategorien werden zunächst in kritischer Absicht zur Beschreibung des existenten Mangelzustands verwandt. Eine kontinentale Politik und ein kollektiver Bewußtwerdungsprozeß können den Umschlag einleiten, den bestehenden Zustand Uberwinden und die in ihm latent vorhandenen Anlagen zu sich selbst kommen lassen. Im Stile der Moralistik sind die Texte mit der Absicht pessimistisch gehalten, zu warnen und beizutragen, daß die negativen Befunde sich nicht verstärken. Positive Visionen werden nie als Zielvorstellungen umrissen, auf die die Geschichte, als Entelechie gedacht, sich mit Notwendigkeit zubewegte. Die Anstrengungen der Menschen auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung bergen vielmehr in jedem Moment die Gefahr des Scheiterns in sich. Davon geben für González Bolívar und Santander historische Beispiele ab. 4.4 Der Zugang zu Geschichte und Gegenwart als Gratwanderung: Mi compadre und Los Negroides Auch der dritte große Text über die Geschichte nach den Unabhängigkeitskriegen im nördlichen Subkontinent, "Mi Compadre", weist wieder die Eigentümlichkeiten auf, die sich aus der für González typischen Aufschlüsselung von Epochen und ihren Tendenzen für die sie prägenden Sozialcharaktere ergeben. Aufs neue sind ihnen gestochen scharfe Portraits der historischen Akteure und Beschreibungen der Entstehung von Moden, Stilen und Sichtweisen zu verdanken; zugleich bergen sie die Gefahr der ahistorischen Psychologisierung, genauer, der Reduzierung von geschichtlichem Wandel unterworfener Komplexität auf invariante, volkspsychologische Charaktere. Die prosopographische Methodik des von González vorgelegten Geschichtsabrisses brachte darüber hinaus mit sich, daß die künftigen, aber auch schon für Gómez' Diktatur entscheidenden Dimensionen des neuen wichtigsten Handelsgutes Venezuelas, des Erdöls, 337 Ralph Waldo Emerson, "Die All-Seele", in: Emerson, Die Natur. Ausgewählte Essays, Stuttgart 1990, S. 200, und González, a.a.O., S. 127. Natürlich verwendet González das Verb concienciar. An dessen Stelle durchläuft heute in Kolumbien (im öffentlichen, im journalistischen, im universitären und in anderen Diskursen) concientizar die Karriere eines regelrechten Modewortes. Trotzdem ist es zu jung, als daß es schon in Maria Moliner (21. Aufl. 98), in der Real Academia de la lengua española (21. Aufl. 1992), ja nicht einmal im Nuevo Diccionario de Colombianismos 93 aufgeführt wäre (vgl. Günther Haensch/Reinhold Wemer, Nuevo Diccionario de Americanismos, Bd. 1: Nuevo Diccionario de Colombianismos, Bogotá 1993). Dagegen führt es das Wörterbuch des aktuellen Spanisch von 1999 auf (vgl. Olimpia Andrés, Gabino Ramos, Manuel Seco, Diccionario del español actual, Madrid 1999). 134
nicht erkannt wurden.338 In seinem Prolog zur ersten Ausgabe in Lateinamerika von 1936 charakterisierte José María Velasco Ibarra das Werk als psychologischen Nachvollzug und soziologische Studie, das mit kritischen und messerscharfen Überlegungen durchsetzt sei, und würdigte ausdrücklich, daß González schließlich ganz selbständig zu einem höchst kritischen Portrait des "benemérito" General Gómez gefunden habe.339 In klaren knappen Zügen erzählt González die wechselhafte Geschichte Venezuelas vom Aufstieg und Ruin des General Páez, seinen drei Präsidentschaften, deren letzte von 1862-1863 González als Diktatur bezeichnet, bis zur Ära Gómez. Mühelos skizziert er die revolutionären Wirren zwischen godos, wie die Kolumbianer mit pejorativer Konnotation die Konservativen nennen, und Liberalen und die vergeblichen Versuche der Präsidenten, in dem von der übermächtigen europäischen Attraktivität für die eigene aufstrebende Elite und dem ins Land drängenden ausländischen Kapital überlagerten Kampf um die einheitliche Verfassung Venezuelas eine politische Linie zu finden. Aufgehängt ist die Chronik an knappen Charakteristiken der Präsidentenfiguren, doch läßt der Autor keinen Zweifel daran aufkommen, daß bei all der psychologischen Feinzeichnung auch der persönlichen Motivlagen ihr Handlungsspielraum durch die historischen Entwicklungslinien klar begrenzt ist. No olvidemos que somos aficionados de la filosofia y que para nosotros no existen el bien ni el mal. Eso es para los moralistas. Para nosotros existen hechos que forman el complejo evolución. Desde tal punto de vista, todo lo que sucede tenia que suceder, era necesario. Todos los hechos están determinados por los precedentes y determinan a los que siguen, y la finalidad es la conciencia absoluta.1*0
Aufs neue wird das an Hegel geschulte Geschichtsverständnis deutlich. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit González die methodische Balance hält zwischen Subjektivismus und Determinismus, wie er etwa im Zitat anklingt und gegen den González andererseits vehement antritt, soweit er in ihm die Verächtlichmachung Lateinamerikas auf der Grundlage einer Rassenlehre LeBonscher Provenienz ausmacht. Die unverhohlene Bewertungslinie des Autors scheidet die Kopisten und Nachahmer der europäischen Vorbilder, die "se quedan con los vestidos ajenos" von jenen Staatslenkern, die sich in erster Linie gegenüber den Mitbewohnern ihres Kontinents verantwortlich fühlten. Ein patriotischer Nationalismus wird gegen einen davon unterschiedenen gestellt, der nur als ideologischer Mantel der eigenen Bereicherung diene. Das logische Problem der Inkompatibilität einer Politik des Nationalismus mit einer globalen Ordnungsperspektive zwischen alter und neuer Welt entfaltet González
338 Vgl. Miquel Izard, "Venezuela", in: Bernecker, Walther L./Tobler, Hans Werner (Hg.). Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3, Stuttgart 1996, S. 668f. 339 Mi compadre erschien zuerst 1934 bei Editorial Juventud in Barcelona Velasco Ibarra schrieb seinen Prolog zur ersten lateinamerikanischen Ausgabe von 1936 bei Bedout in Medellin; er wurde in die hier verwandte Ausgabe aufgenommen (vgl. González, Mi compadre, a. a.a.O.. S. 9fF.). 340 Ebenda, S. 41 f.
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am Scheitern des bürgerlichen Idealismus, sinnfällig geworden in der polylateralen Kriegserklärung unter den europäischen Völkern zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mientras saco en limpio este libro escrito en la casa natal del Libertador, unos nacionalismos bárbaros destruyen a Europa. Mussolini encierra en su península una población fecunda y hambreada, para hacer la guerra; los alemanes, pueblo de pajes, pronuncian este juramiento: 'Yo juro a Adolfo Hitler eterna fidelidad; a él y a los jefes que designe juro obedecerles sin reserva. ' Francia se reúne alrededor del sueldo, moneda mohosa, que es su columna vertebral. Los liberales parlamentarios se estaban robando el sueldo... Tocad esta moneda y tendréis una revolución. Se compactan alrededor del nacionalismo chillón de la Acción francesa- '¡Viva Cristo Rey! ¡ Viva el rey! ¡A bajo los extranjeros! ¡ Todos son métèques! ' etc.341
Zwar ist die Suche nach dem eigenständigen Weg für die junge Republik nach González das erste Beurteilungskriterium fiir seine Präsidenten, wozu seine Zurückweisung imitierter politischer Modelle ebenso wie die Infragestellung der Kopie französischer Lebensweisen und Moden in der feinen caraqueñischen Gesellschaft zu zählen ist, gleichwohl ist es aber auch nicht der Nationalismus europäischer Provenienz, den der Autor als Mittel zur Stärkung der Eigenständigkeit empfiehlt. Cipriano Castro (18991908) dient ihm als deutlichste venezolanische Inkarnation des tugendlosen, morbiden und zugleich ungezügelten Nationalismus des Typs der späteren europäischen Diktaturen von Mussolini und Hitler. In die Zeit des letzten Herrschers vor Gómez' Diktatur fielen zahlreiche, "Revolutionen" genannte Erhebungen und Verschwörungen konkurrierender, um die Macht kämpfender Interessengruppen. Die aufwendige und zugleich völlig konzeptionslose Regierungsweise Castros, durchgeführt von seinen gänzlich unabhängig von ihrer Qualifikation ausgewählten Gefolgsleuten, hatten Venezuela in sich bekriegende regionale Territorien zerfallen und zugleich die Staatsschuld derart anschwellen lassen, daß die europäischen Gläubigerstaaten 1902 eine Blockade der Küste Venezuelas durchführten. 342 Das in sich zunächst rein formale Kriterium der Ablehnung importierter, nicht-lateinamerikanischer Modelle für Politik
341 Ebenda, S. 161 f. 342 Vgl. zur Charakterisierung Cipriano Castros und seiner Zeit González, a.a.O., S. 142, und Izard, a.a.O., S. 664. Zur Blockade schreibt Waither L. Bernecker: "La situación estaba ya por sí bastante tensa, cuando en diciembre de 1902, después de prolongados preparativos, Alemania realizó primero con Gran Bretaña y más tarde también con Italia, una expedición punitiva contra Venezuela, que durante algún tiempo se habla mostrado incapaz de pagar sus deudas; además habían llegado repetidas veces noticias a Alemania sobre préstamos forzosos, saqueos y confiscación de propiedades alemanas en Venezuela La verdadera dimensión del conflicto se puede desprender del hecho que Alemania intentó, por medio del establecimiento de un control financiero, ejercer influencia duradera sobre el estado venezolano. Este intento pudo ser frustrado por la diplomacia estadounidense. La violenta reacción de Washington llevó a una derrota diplomática de Alemania" (Bemecker, El fin de siglo en el Rio de la Plata, a.aO., S. 26). Es ist interessant, daß González trotz dieser Tatsachen die Intervention von Roosevelt und Brown angesichts der chaotischen Situation Venezuelas als notwendig und hilfreich betrachtete, unter anderem mit dem Hinweis, daß die europäischen Blockademächte sich der letzten revoluciones unter Matos und Riera bedienen wollten (vgl. González, a a O . , S. 115ff.).
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und Gesellschaft erhält als inhaltliche Bestimmung die historisch konkrete Ablehnung der aggressiven europäischen Nationalismen. Im Gegenzug zeigt sich dies an González' Hervorhebungen derjenigen politischen Akte in der Geschichte Venezuelas, die ein besonderes Gespür für die mit Kolumbien geteilte, gemeinsame Geschichte erkennen ließen.343 Daneben richtet sich der kritische Stachel dieses Kriteriums gegen jene Haltung der lateinamerikanischen Staatslenker, deren unkritische Importbereitschaft bezüglich ausländischer Vorbilder ihre Geringschätzung der Fähigkeiten der eigenen Völker ausdrückt. Der knapp halbjährige Studienaufenthalt González' in Caracas 1931-1932344 erbrachte besonders günstige Bedingungen für die von ihm so genannte "emotive" Methode, d. h. für die Verbindung der unmittelbaren empirischen Anschauung mit Sekundärstudien. Der "Mann mit den Kladden" (hombre de las libretas), der seine Verfahrensweise selber mit "Erspähen und Ausforschen" (atisbar) umschrieb, war sich der Gefahr fehlender Vermitteltheit infolge der Nähe zum Untersuchungsgegenstand durchaus bewußt. Für das beabsichtigte Portrait wäre es fatal gewesen, die Chancen der unmittelbaren Nähe ungenutzt zu lassen; entscheidend war, sich des dafür zu zahlenden Preises immer bewußt zu sein. Esta conversación (eines der zahlreichen Gespräche zwischen Gómez und seinen Beratern, an denen González teilnahm und die er anschließend aufzeichnete, in diesem ging es um Erlebnisse aus Gómez' Zeit als Offizier unter Cipriano Castro, J. P.) la reconstruyo en mi pieza de hotel. Las observaciones son hechas aquí. Allá nome di cuenta de nada; desde que entré, me cubrió (Gómez, J. P.) de fluido y memanejó a su antojo. ¡A todos los asistentes! Nos entristecía, nos alegraba, nos llevaba ytraia. Yo sentía un gran amor por él. Está mucho más adelantado que yo. Podríadefenderme, cerrándome, no mirándolo, etc.; pero entonces no lograría el conocimiento que busco. Voy a adoptar este método: Dejarme llevar por él; abrírmele, y luego, lejos, objetivarlo y analizar. En este terreno, le ganaré.345
Eingedenk "der überdurchschnittlichen Schläue und Intelligenz" von Gómez, 346 die bei González als die gegenüber seinen hitzköpfigen und ungeschickten Vorgängern und Gegnern besonders auffallende, eiskalte ("frioo") Fähigkeit des Abwartens und Kalkulierens erscheint, der ungewöhnlichen Gegenwärtigkeit der ständig möglichen Vereinnahmung also, und um der Studie die gebotene Objektivität zu verleihen, wurde die folgende Selbstverständlichkeit zur gefährdeten Maxime: "El método exige documentarse con los alejados del poder, cuando se trata de hombre que aún vive."347
343 Vgl. z. B. die Schilderung des Besuches bei Gómez' Rechtsberater Urdaneta Carrillo, der das Anknüpfen an präkolumbische und neugranadinische gemeinsame Traditionen zu seinem persönlichen Anliegen gemacht hatte (vgl. González, Mi Compadre, a.a.O., S. 239). 344 Im Oktober 1931 wurde González' fünfter Sohn in Medellin geboren. Gómez übernahm die Patenschaft, woraus sich der Buchtitel erklärt (vgl. Henao Hidrón, a.a.O., S. 101). 345 González, a.a.O., S. 208. 346 Izard, a.a.O., S. 671. 347 González. a.a.O., S. 180.
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Als Quellen dienten González Vicente Lecuna, Historiograph, Ingenieur und FinanzWissenschaftler, und Laureano Vallenilla Lanz, Soziologe und Historiograph, deren beider Einfluß auf den intellektuellen Diskurs, gerade auch der "Modernen" über Venezuela nicht unterschätzt werden darf. Sonia Mattalia weist für Teresa de la Parra, die Autorin der Ifigenia, des großen Romans über die sociedad medio moderna y medio colonial (Francis de Miomandre)348 des Venezuelas der 1920er Jahre den Einfluß durch Positionen von Vallenilla Lanz nach.349 De la Parra und González waren freundschaftlich verbunden;350 sowohl in Ifigenia als auch in Mi Compadre werden ähnliche Geschichten über die Verbindungen der Familien Aristeigueta und Bolívar erzählt,351 die allesamt auf die von Lecuna zusammengestellten und herausgegebenen Chroniken zurückgehen dürften.352 Izards Äußerungen zufolge gingen von Vallenilla Lanz sowohl "durchaus innovative Elemente" für die Historiographie aus, als man in ihm auch den "Panegyriker des Patriarchen" auszumachen habe. 53 348 Die Gesellschaftscharakteristik stammt aus de Miomandres Nachwort zur Ausgabe von Ifigenia bei Anaya und Mario Muchnik von 1992; vgl. Francis de Miomandre, "Abras más sobre Ifigenia", in: Teresa de la Parra, Ifigenia, Madrid 1992, S. 627. De Miomandre hatte Fernando González und Teresa de la Parra ins Französische übersetzt. 349 Die Herausgeberin dieser Ausgabe von Ifigenia, Sonia Mattalia hat die zahlreichen Gespräche der Romanfiguren über die Geschichte Venezuelas mit den Texten von Vallenilla Lanz verglichen. In den Gesprächen wird de la Parras Ansicht, beim Unabhängigkeitskrieg habe es sich um einen Bürgerkrieg gehandelt, deutlich. Olmedo, eine Figur aus Ifigenia vertritt diese Position mit wörtlich von Vallenilla Lanz übernommenen Diskursen. "De igual modo la idea de un gobierno fuerte que garantice el orden social frente a la anarquía disolvente de los enfrentamientos caudillistas y de casta aparece con claridad expuesta en 'El gendarme necesario' del mismo autor (cap. VII), publicado en El Cojo Ilustrado, en 1911" (Sonia Mattalia, Notas criticas sobre la novela, in: ebenda, S. 644). 350 González erwähnt Teresa de la Parra im Gómez-Buch als seine Freundin in einem Abschnitt, in dem er sich über die FeinfUhligkeit und Schönheit der caraqeñas ausläßt (vgl. González, a.a.O., S. 170). Im Buch hat der Abschnitt die Funktion, dieser Grazie die eigene Unbeholfenheit gegenüberzustellen. 351 Die Aristeiguetas waren eine Familie aus der gehobensten aristokratischen Schicht Venezuelas, eine Familie der mantuanos - so bezeichnet "por el privilegio concedido a sus mujeres de usar 'manto"' (Liévano, a.a.O., S. 57). Die Mutter Bolívars war eine Aristeigueta. Beim Tischgespräch der Alonsos in Ifigenia wird über amoröse Verbindungen Bollvars zu einer Aristeigueta spekuliert (vgl. de la Parra, a.a.O., S. 291f.). González betont auch die weitere Rolle der Aristeiguetas für Guzmán Blanco (vgl. González, a.a.O., S. 67). 352 González hebt das große Verdienst Lecunas als kritischer Herausgeber und Publizist von Páez' Campañas de Apure und anderer Originalquellen hervor (vgl. ebenda, S. 29). "Descubrir, evocar todo eso, alrededor de Bolívar, sin literatura, sin afán pintoresco, es lo que quisiera ¿pero cómo librarme de la literatura, de la de antes y de la de ahora, futuristas, minoristas, etc.? todo este carnaval que nos ciega y que nos aturde y en donde para mayor desorientación entre la nube de la equivocación y de cursilería, se encuentran de pronto fuertes y grandes talentos que nos atraen sin llegar enteramente a convertirnos: en qué mal momento hemos nacido" (Teresa de la Parra in einem Brief an Vicente Lecuna von 1930, zit. nach Mattalia, S., "Introducción", in: de la Parra, a.a.O., S. 22). 353 Vgl. Izard, a.a.O., S. 660 u . S . 671.
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Die große geschichtliche Tendenz in Lateinamerika bestehe in dem Weg zu sich selbst, zur Übereinstimmung mit seinen autochthonen Gegebenheiten, zu einem Zustand der Authentizität. Diese Entwicklung folge indes einem über den anderen Umweg, verlaufe über Revolutionen und Bürgerkriege und sei leidvoll und grausam. Zum geschichtlichen Subjekt werde dennoch nur, wer die große Tendenz erkenne und sich in den Dienst ihres noch latenten Verlaufs stelle. Die hegelsche Methodik der Geschichtsinterpretation ist unverkennbar. Geschichtsmächtig sind Epochen, Wenden und Personen, die die Entwicklung auf dem Weg zum mit sich selbst identischen Zustand voranbringen. Dessen inhaltliche Bestimmung wird freilich im wesentlichen ex negativo vollzogen, als Für oder Wider in der Haltung zu ausländischen, in erster Linie europäischen Modellen. Der Gestaltungsspielraum des Subjekts ist begrenzt und klar durch die Qualität seines Verhältnisses zu den geschichtlichen Kräften determiniert. Un hombre no sirve sino cuando está en relación con las fuerzas que presiden a la evolución. Un blanco no sirve en Suramérica; tampoco un negro; tampoco un mulato. Tiene que tener la sangre india en sus venas, porque ella es la aclimatada, ella es Ia que posee ¡a sabiduría de nuestro continente. Muy bueno ir al extranjero, pero conservando sus raíces allá en la patria. Nadie es grande si no se eleva desde su pueblo y gente}5*
So werden die Perioden, in die González den geschichtlichen Verlauf einteilt, auch weitgehend unabhängig von den in ihnen dominierenden Personen analysiert. Por ejemplo, ni Santander, ni Páez separaron a Colombia y Venezuela; fueron los representativos de las tendencias separatistas. Los dos pueblos no podían estar unidos políticamente; la prueba está en las formas en que se manifestaron después: Allá, en gobiernos de abogados dirigidos por obispos; acá en dominación de caudillos.355
Die föderalen Bürgerkriege, die die Präsidentschaften von Páez prägten und mit dem Sieg der Föderalisten 1864 endeten, hätten die Entmachtung der mantuanos vollzogen und den Triumph der pardocracia besiegelt. Als ein Erbe und ein "gravísimo mal" habe Páez die aus konservativen Elementen gebildeten Milizen hinterlassen. In jedem Dorf präsent mit zu hause gehüteten Waffen hätten sie eine wesentliche Voraussetzung des ununterbrochenen Dauerzustands des Guerrilla-Krieges in Venezuela von den Unabhängigkeitskriegen bis zur Diktatur Gómez' gebildet. Die mit einer Unterbechung insgesamt fünfzehnjährige Diktatur Guzmán Blancos (1870-1877 und 1879-1884) stelle einen Wendepunkt dar. In Guzmán Blanco machte González den Prototyp des "dogmatischen Liberalen" aus. Er folgte der "ästhetischen" Kritik Sarmientos an Guzmán Blancos Führerkult, seinem Exzeß der sich selber zugelegten Auszeichnungen ("el ilustre Americano" neben vielen anderen) und der ihn abbildenden Statuen, "que infestan todas las plazas" (Sarmiento) und die den schlechten Geschmack bezeugen
354 González, a.a.O.. S. 96. 355 Ebenda, S. 42. 139
(González).356 Zwar sei ihm infolge seiner geschickten Spaltungspolitik gegenüber den guerrilleros und der anschließenden Einbindung einiger ihrer Führer (und der Exekution der anderen) eine temporäre Beruhigung des andauernden Kriegszustandes und außerdem eine Ankurbelung wirtschaftlicher Aktivität gelungen, der Preis dafür bestehe aber in: Progreso material por medio de concesiones y de capital extranjero. Guzmán casi entrega a Venezuela. (Es folgen Beispiele der Eisenbahnkonzessionen und andere.) En tales contratos exigía una participación para él. Fueron contratos mal hechos, en general, sin estudio, nada más que por el afán de hacer obras de progreso y que le dejaran provecho. (Es folgen einige Beispiele der persönlichen Bereicherung Guzmán Blancos.)
Nach Guzmán Blanco fiel das Land sofort wieder in den anarchischen Zustand der Bürgerkriege zurück. Die auf ihn folgenden Präsidenten stellen filr González die Agonie des Liberalismus dar, wenn auch das folgenlose Zwischenspiel Rojas Paúls von 18881890, des "verdadero gobierno liberal en Venezuela"358, keineswegs unerwähnt bleibt. Joaquín Crespo, Ignacio Andrade und allen voran Cipriano Castro waren dann aber Symptome, Produkte und Verschlimmerer einer "época de verdadera descomposición."359 Castro, der einmal mit Caligula, an anderen Stellen mit Hitler und Mussolini verglichen wird, sei der Protagonist eines barbarischen Nationalismus gewesen, eines nervösen, verletzenden und impulsiven Nationalismus. González widmet der Ruinierung des Staatsapparates und des öffentlichen Haushalts durch unfähige Funktionsträger unter Castro und seiner abenteuerlichen Brüskierung ausländischer Vertragspartner ausfuhrliche Analysen; in einem besonderen Kapitel weist er die Stützung Castros durch die kolumbianische liberale Partei unter Olaya Herrera nach. So erscheint Gómez dann als Politiker, der diesen Abstieg, der durch die Kopie eines europäischen Modells in dessen völligem Verfallsstadium gekennzeichnet war, aufzuhalten und umzukehren vermochte. ¿Qué sucede en toda Suramérica y en Venezuela hasta la llegada de Juan Vicente Gómez? Que han gobernado los blancos y los mulatos, con métodos e ideas europeas deformadas. Nuestro continente ha sido y es un mal amplificador de los estertores de la Europa en decadencia.360 356 In der Einleitung zum ersten Band von Conflicto y armonías montiert Sarmiento in bekannter Weise eine ganze Reihe von Lobpreisungen Guzmán Blancos aus der venezolanischen Presse, drückt seine eigen Ansicht nur durch die einleitenden Worte zu diesem Abschnitt, daß dies in der Heimat Bolívars, Paéz' und Andrés Bellos geschehe, und durch die Wortwahl (infestan, Statuen; más fácil fechoría, Diskurse) aus und enthält sich bis auf das abschließende Wort "Carácter frenológico de Guzmán Blanco" des eigenen Kommentars (vgl. Sarmiento, Conflicto y armonías /, S. I2f.). González' Charakerisierung Guzmán Blancos findet sich auf den Seiten 68fT. im Gómezbuch, wo auch gegen Guzmán Blanco wieder mit der Bezeichnung afrancesado der antieuropäische Affekt geschürt wird. 357 González, a.a.O., S. 70. 358 Ebenda, S. 81. 359 Ebenda, S. 94. 360 Ebenda, S. 91. 140
González weist auf die absolut gewaltfreie Machtübernahme Gómez' hin, der durch seine andin-indigenen Wurzeln die idealen Voraussetzungen mitbringe, die ganz besonders durch Rassenabgrenzung und -diskriminierung bestimmte venezolanische Gesellschaft zu befrieden. Gómez habe zielsicher und rasch die wichtigsten politischen Schritte vollzogen, die die chaotische Hinterlassenschaft erforderlich gemacht hätten: Entwaffnung des Volkes, Verringerung des Heeres, Auflegen eines nationalen Arbeitsprogrammes öffentlicher Bauvorhaben auf der Basis eines Arbeitsdienstes fiir Vagabunden, Ankurbelung der privaten Wirtschaft, Einbindung der guerrilleros in diese Projekte, Amnestie für politische Gefangene, Ansätze zu einem sozialen Sicherungssystem auf korporativer Grundlage ("cuadros sociales"), Sanierung der öffentlichen Haushalte, Modernisierung der Nationalbank unter Lecuna, Abzahlungsbeginn und Umschuldungsregelung für die verheerenden Auslandsschulden, Einbeziehung weiterer führender Intellektueller (neben den schon genannten Historikern erwähnt González Vicente Dávila, Luis Correa, Gil Fortoul, Luis Sucre und Manuel Segundo Sánchez) in die Modernisierung der Gesellschaft und Schaffung eines geschichtsbewußten, auf Bolívar zurückgehenden Selbstbildes der venezolanischen Gesellschaft.361 Leicht macht es González sich nicht bei seiner Suche nach einem Urteil über Gómez' Regime. Er stellt seinen Eindrücken über das öffentliche Leben und die Diskurse der venezolanischen Gesellschaft, die er bei seinen Streifzügen durch Caracas und seinen zahlreichen Gesprächen mit maßgeblichen intellektuellen Persönlichkeiten362 gewinnen konnte ("Resumen. No manda el sacerdote. Manda una voluntad fuerte, que se siente por todas partes, que presta importancia a los funcionarios. En el ambiente se respira a Gómez. Hay unidad en el tipo humano"),363 die nicht von der Hand zu weisenden, mit obrigkeitsstaatlichen Mitteln erzielten Errungenschaften gegenüber: Aquí nada valia la vida humana y mucho menos la animal y vegetal: Consiguió desarmar al pueblo con penas durísimas. Hace tres meses que estoy en Venezuela y no ha sucedido ni un homicidio.36*
Zu seinen Erkenntnissen zählen darüber hinaus auch Beobachtungen wie diese: "Percibo el aura de Venezuela: Es de casa de ejercicios de jesuítas. Silencio. Siento que la gente quisiera guerrillas y discursos y que no pueden; tienen miedo a una voluntad de hierro."365
361
362
363 364 365
Vgl. ebenda, S. 152-161. Izard konstatiert die gleichen Maßnahmen Gómez' zu Beginn seiner Diktatur (vgl. Izard, a.a.O., S. 664) und hebt besonders das Werk Gil Fortouls hervor (vgl. ebenda, S. 660). González konnte während seiner Recherchen in Caracas unter anderen Tomás Meri, die Militärs Tobias Uribe und Guillermo Willet, den Priester Borges und Antonio Pimentel befragen. Die Begegnungen dokumentiert er in seinem Buch. González, a.a.O., S. 172. Ebenda, S. 209. Ebenda, S. 174.
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Trotz seiner offenkundigen Sympathie für die Ziele der "Entwicklungsdiktatur" unter Gómez tauchen die Befunde der auf Angst, Schrecken, und der erzwungenen Entscheidung zwischen Arbeitsdienst und Einkerkerung gegründeten Herrschaft immer wieder in den Untersuchungsberichten auf. In den zoomorphen Vergleichen wird diese Ambivalenz besonders deutlich. Es una leonera con el domador adentro. Gómez oculta. Quiere ocultar a todos, su gran capacidad para castigar. Es un ángel y es una tigra parida.366
Eingedenk eines zurückliegenden Jahrhunderts der blutigen Bürgerkriege, die die Identifizierung mit einem Uberindividuellen Ganzen praktisch verunmöglichten, ist die feststellende Beobachtung "Orden, limpieza. Todos son solidarios con Gómez." zuvörderst die Anerkennung einer Befriedungsleistung; das Problem bestand in der Art und Weise, wie diese erreicht wurden: "El látigo es la forma en que aparece la egoencia."367 Die unverhohlene Kritik am autokratischen Herrscher führte zum Verbot des Buches in Venezuela und zum Fall in Ungnade für den Autor. Henao Hidróns Darstellung der Zensurbegründung macht deutlich, wie sehr sich das Gómez-Regime getroffen fühlte.368 Ungeachtet dessen erhebt sich die Frage, ob González, eingedenk seiner doch emphatischen Rede vom nacionalismo ilustrado, der sich dank Gómez' Unbeirrbarkeit Bahn brechen konnte, "seiner Maske" (Miquel Izard) aufgesessen ist. "Tal gobierno (von Gómez, J. P.) no se parece a los europeos; es autóctono. Métodos nuevos; verdadera similación de lo extranjero; nacionalismo ilustrado."369 Es gab schließlich auch zeitgenössische Gesichtspunkte, die von einem gleichfalls kritischen Gesichtspunkt gegenüber naturwüchsiger regionaler Machtausübung aus zu einer negativen Bewertung Gómez' gelangten, die sich also auch in die bolivarianische Tradition einordneten: Dentro de esta realidad permanece integro el mundo de barbarie que tan sagazmente denunció Sarmiento en su Facundo en el que reina el derecho pero gobierna el gamonal, que puede llamarse Rosas o Gómez -en el plano de los tiranos nacionales-, o Rodríguez o Amenavar y Roldán, en el terreno de las tiranías lugareñas de Umay o Sunchu. Este hecho, justamente, sirve para demostrar cómo no andaba descaminado el valetudinario Vallenilla Lanz al sentar su tesis 366 Ebenda, S. 203. 367 Ebenda, S. 172. 368 Vgl. Henao Hidrón, a.a.O., S. 104f. Gegenüber den Diktaturen, dem zentralen Thema von Mi compadre, stand für den Autor die Einheit von Geschriebenem und Vertretenem als Haltung außer Frage. 1932, zwei Jahre vor der Erstveröffentlichung von Mi compadre im Editorial Juventud in Barcelona, war er nach einer Haus- und BQrodurchsuchung aufgrund regiemfeindlicher Äußerungen seines Konsulpostens in Genua enthoben und des Landes verwiesen worden (vgl. ebenda, S. 117f.). "Deportación de la Italia de Mussolini, condena y execración generales en Colombia, lo suficientes como parar mantenerlo alejado de la nómina casi por el resto de su vida y hacerle, de ésta y de otras suertes, bastante difícil la subsistencia material" (Pinto Saavedra, a.a.O., S. 58). 369 González, a.a.O., S. 91. 142
sobre que Latinoamérica vive dentro de una democracia cesarista, y exhibe el cáncer que corre la organización democrática; el cáncer del gamonalismo, para usar la calificación de José Carlos Mariátegui.370
Mit zunehmender Detailliertheit seiner Bilder aus der venezolanischen Gesellschaft wird auch der strukturelle Widerspruch der Entwicklungsdiktatur immer deutlicher, die sich vor allem den aufgeklärten Bürgern als Einschränkung ihrer Freiheitsrechte darstellt. Die Schlüsse und Bewertungen gegen Ende des Buches fallen denn auch gedämpfter als die Vorgriffe auf Gómez' Regime aus, die in die Schilderung seiner Vorgeschichte montiert waren und das Ende des politischen Niederganges und der permanenten Bürgerkriege markierten. So kann das Ende des Buches, die Schilderung eines Hahnenkampfes, Gómez unter den Zuschauern, als literarischer Kunstgriff gewertet werden: alle Umstehenden werden wiederholend variieren, was Gómez vorgeben wird, ganz gleich, ob er zum Mitleid mit dem armen Tier aufrufen oder zu noch mehr Kampfeslust anspornen wird. Auf das immergleiche, blutige, gegenseitige Sich-Töten der Tiere aber hat er keinerlei Einfluß. An anderer stelle heißt es: "Bolívar, hombre etéreo, y Gómez, diabólico, entendiendo por eso que su plano de vida era con las fuerzas elementales, telúricas. Bolívar era cósmico."371 Unzweifelhaft stellt Gómez für González einen Wendepunkt nicht nur für die Geschichte Venezuelas dar, sondern ist auch Voraussetzung für das viel größere, bolivarianische Ziel der Wiedererrichtung Groß-Kolumbiens und schließlich der Vereinigung aller lateinamerikanischen Staaten; die Gewähr dafür biete die authentische Repräsentation der Wurzeln des lateinamerikanischen Menschen in Gómez, der zu gleichen Anteilen indigener und weißer Herkunft sei und mit "10 % schwarzem Blut"3 2 die angemessene Proportion aufweise. Dies bewahre ihn vor den Entwicklungen der von Haß, Macht- und Geldgier getriebenen "Mussolinis, Hitlers, Leguías, Machados etc."373 Das Motiv der sich ergänzenden und benötigenden drei Teile des ehemaligen Neu-Granadas, Ecuador, Kolumbien und Venezuela, das sich überall in González' Werk findet, ist themabedingt besonders präsent im Gómezbuch. Si queremos hacer algo, hay que mezclar a Colombia y Venezuela. En las montañas está el misticismo, las facultades para las ciencias morales y para el arte filosófico, de que carece
370 Antonio García, "La novela del indio y su valor social", in: Revista de las Indias, Nr. 32 (Dez. 1941 - Febr. 1942), 15. Jahrgang; Bogotá 1942, S. 32f. 371 González, Los negroides. a.a.O., S. 15. Mit der Bezeichnung Bolívars als "ätherischem Menschen" spielt González auf das zu Bolívars Zeiten in Europa als Freiheitsmetapher gebrauchte Bild des Äthers an: in physischem Sinne ist der Äther Urgrund und Bedingung allen Seins; als Symbol der Höhe, der Klarheit und der Reinheit spornt er den Menschen zu höchster Disziplin und zum Über-sich-selbst-Hinauswachsen an. 372 Vgl. ebenda. 373 González. Mi Compadre, a.a.O., S. 164.
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Venezuela. Esta suministrará el valor, la egoencia, su facultad para las artes realistas, espíritu de mando}1*
González läßt keinen Zweifel daran, daß Gómez seit dem Beginn seiner politischen Laufbahn bis zu seiner Gegenwart diese Rolle desjenigen Herrschers verkörpere, der, erhaben über jeden Lokalismus, jene Einheit nicht aus den Augen verloren habe. Das Kazikentum und der caudillismo herrschten als die Form der Machtausübung und -kontrolle in Venezuela bis zum Präsidenten herauf. González widmet den Kämpfen Gómez'als Offizier gegen die chaotischen revoluciones seit der Jahrhundertwende breiten Raum und stellt ihn darin als Retter der Einheit dar, die durch die Gefahr, daß Venezuela erneut in den Bürgerkrieg versänke, gefährdet war. In Kolumbien war der gamonalismo, der infolge der mit ihm assoziierten unrechtmäßigen Willkür eine pejorative Konnotation besitzt,3 5 nicht in gleichem Grade vorherrschend. In mehreren Staaten der Hemisphäre kam es nach einem knappen Jahrhundert der Bürgerkriege, die sich nach der errungenen Unabhängigkeit nicht nachhaltig beruhigt hatten, zu Diktaturen. Wegen ihrer Leistung bei der Pazifizierung der gewalttätig-anarchischen Zustände hatten sich die Diktatoren zunächst breiten Kredit bei der Bevölkerung erworben. Maßgebliche intellektuelle Kreise setzten Hoffnungen auf sie als Modernisierer und Entwickler einer nationalen, und das heißt in erster Linie: nicht regionalistischen und partikularistischen, Auslegung der Verfassung. Mexikos Präsident und Diktator Porfirio Díaz war sicher die geschichtsmächtigste Verkörperung dieses Typs von "Entwicklungsdiktatur."376 Kolumbien nahm nicht diesen Weg; Präsident Rafael Reyes erklärte Porfirio Díaz zu seinem Vorbild, konnte aber nicht entfernt an dessen Leistung und Einfluß anschließen. Auch für ihre Sichtweise der Diktaturen Díaz" und Gómez' macht der Vergleich mit Justo Sierra wiederum die Gemeinsamkeiten der beiden Denker deutlich, die in ihren Bewertungen Bolivars Gedanken der tiranía activa folgen. Auch bei Sierra finden sich die panegyrischen Elogen, die einen feierlichen Ton
374 Ebenda, S. 194. Malcolm Deas gelangt bei seiner Charakterisierung der unterschiedlichen Politikstile in Kolumbien und Venezuela zu ganz ähnlichen Gegenüberstellungen zwischen den Extremen der Realpolitik der Tat und des exzessiven Argumentierens in der santaferenischen Tradition (vgl. Deas, Colombia, Ecuador and Venezuela ¡880 -1930, a.a.O., S. 646). 375 Das neue Wörterbuch der Kolumbianismen klassifiziert das Lemma gamonal als verächtlich und charakterisiert die damit benannte Person als jene, die in Dörfern und Bezirken übermächtigen Einfluß in der politischen Verwaltung ausüben. Daher besteht die auf einer nach dem Gefolgschaftsprinzip organisierten, gesellschaftlichen Basis fußenden Machtausübungsform des gamonalismo im unmäßigen Einfluß persönlicher Machthaber auf das Gemeinwesen (vgl. GQnther Haensch/Reinhold Werner, Nuevo Diccionario de Colombianismos, a.a.O., S. 194f.). 376 Tulio Halperin Donghi interpretiert auch die Präsidentschaft Julio A. Rocas in Argentinien gemäß diesem Modell. "Much as in Mexico, triumphant liberalism quickly evolved into authoritarian developmentalism in the last quarter of the nineteenth century" (Halperin Donghi, The Contemporary History of Latin America, a.a.O., S. 136). 144
anstimmen;377 sie sollen gleichwohl vernachlässigt werden. Hingegen lassen sich drei sachlich parallele Gedankenstränge unterscheiden. Beide Autoren sind bestrebt, die von ihnen gerechtfertigten Diktaturen als einzige Auswege für die sonst unrettbar im Chaos der Bürgerkriege versinkenden Länder darzustellen. Als solche seien sie Stadien in der Entwicklung des Liberalismus, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika noch viel zu schwach zur Selbstregulierung gewesen sei. Auch in Mexiko sei das schlimmste Übel der Bürgerkrieg gewesen, der alle sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsansätze im Keime erstickt habe. "A raíz de la desaparición del estado legal, parecía imposible la vuelta a un régimen normal; todos, lo repetimos, fiaban en la energía, en el ascendiente, en la rectitud del caudillo triunfante."" 8 Neben der politischen Pazifizierung der Länder auch mittels geschickter Einbindung regionalistischer Führer habe die Leistung beider Präsidenten in erster Linie in der Schaffung gesicherter und günstiger Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entfaltung einer nationalen Bourgeoisie bestanden. Dazu war die Herstellung der Solvenz der Staatsbanken und die Bedienung ausländischer Schulden unerläßlich. Das ausländische Engagement stieg unter beiden Präsidenten erheblich. Gerade im besonders delikaten Verhältnis zu den USA hätten die beiden caudillos geopolitisches Geschick bewiesen. Das Eigeninteresse der USA an stabilen Verhältnissen in beiden Ländern, die im venezolanischen Falle auch unter einer fortgesetzten abenteuerlichen Konfrontation mit Europa gelitten hätten, bzw. in noch weitere Ferne gerückt wären, klug ausnutzend, habe man sich unter eigens mitbestimmten Bedingungen Investitionen des nördlichen Nachbarn geöffnet.379 Schließlich leitet auch Sierra Díaz' Größe und Überzeugungskraft aus dem Umstand her, daß Díaz kraft seiner eigenen Herkunft authentisch die gesellschaftliche Wirklichkeit der Rassenmischung widerspiegele. Diese konstatiert Sierra zunächst als den Entwicklungsgang Mexikos: La división de razas, que parece compilar esta clasificación (Sierra schickte dieser ethnischen Analyse eine bittere Bilanz der kulturell-ideologischen Entwicklung der kreolischen plebe intelectual seit den Tagen der conquista voraus, J. P.), en realidad ve neutralizando su influencia sobre el retardo de la evolución social, porque se ha formado entre la raza conquistada y la indígena una zona cada día más amplia de proporciones mezcladas que, como hemos solido afirmar, son la verdadera familia nacional.
377 "Sin desperdiciar un día ni descuidar una oportunidad, hacia allá ha marchado durante veinticinco años el presidente Díaz; ha fundado la religión política de la paz" (Justo Sierra Méndez, Evolución política del pueblo mexicano, Caracas 1977, S. 282). 378 Ebenda 379 Vgl. Sierra, ebenda, S. 285, und González, Mi Compadre, a.a.O., S. 115f. 145
Diese ethnischen Bestimmungen geben den herkömmlichen soziopolitischen einen neuen Sinn und überlagern sie. Der Person gewordene Ausdruck dieser zukunftsweisenden Tendenz der solcherart neu interpretierten gesellschaftlichen Zusammensetzung war der Diktator: Ejército, clero, reliquias reaccionarias; liberales, reformistas, sociólogos, jacobinos, y, bajo el aspecto social, capitalistas y obreros, tanto en el orden intelectual como en el económico, formaron el núcleo de un partido que, como era natural, como sucederá siempre, tomó por común denominador un nombre, una personalidad: Porfirio Díaz.
Sierra versteht die Authentizität des Ausdrucks der ethnischen Verfaßtheit der mexikanischen Gesellschaft in der Figur von Díaz in ähnlich biologistisch-invariantem Sinne wie González, wenn dieser in der authentischen Proportion in der Genealogie Gómez' sowohl die Bedingung als auch die Rechtfertigung seines Erfolges ausmacht. Gerade in den Zügen, die die an europäischen psychologischen Modellen orientierten Charakterisierungen von Díaz als Langsamkeit und geringe Fähigkeit zu logischem Schlußfolgern ausmachen, wie z. B. Carlos Octavio Bunges Charakterisierung, erkennt Sierra dessen Stärke, weil diese Wesenszüge den Volkscharakter wahrhaftig widerspiegeln, ohne die negativen Konsequenzen mitzumachen. El producto verdadero de Suramérica será 45 % indio; 45 % blanco y 10% negro. Esto último lo necesitamos para la capacidad de impertinencia. De ahí que sea un deber para los gestores en Suramérica cuidar como de cosa sagrada de las tribus indígenas. ...No hay necesidad de ninguna inmigración. La hay de caminos y unión entre las partes del continente.... Con el general Juan Vicente Gómez aparece el primer gobierno de tipo suramericano: 45 % aborigen; 45 % blanco y 10% negro. La resolución es rápida, la deliberación sucede a este primer acto de voluntad, y esta deliberación interior es lenta y laboriosa, y suele atenuar, modificar, nulificar a veces la resolución primera. De las consecuencias de esta conformación de espíritu, que es propia quizás de todos los individuos de la familia mezclada a que pertenecemos la mayoría de los mexicanos, provienen las imputaciones de maquiavelismo o perfidia política (engañar para persuadir, dividir para gobernar) que se le han dirigido.390
In dem fünfmal zum Präsidenten Ecuadors gewählten José María Velasco Ibarra (18931979) hat González in einem Teil seines Essays über Groß-Kolumbien, Los Negroides, einen dritten lateinamerikanischen Politiker portraitiert, der ihmzufolge zu den rühmlichen Ausnahmen unter den "Nachahmern" zu zählen ist; zugleich hat er mit ihm wiederum eine Politikerpersönlichkeit gewählt, deren zentralisierende und autokratische Züge der Machtausübung auch heftige Kritik hervorriefen, so daß auch seine Bewertung ftir die Entwicklung Ecuadors in der Forschung kontrovers ausfällt.
380 González, a.a.O., S. 90f., und Sierra, a.a.O. S. 283f. Sierra bezieht sich auf die erwähnte Charakterisierung Díaz1 durch Bunge unmittelbar vor dem letzten seiner drei zitierten Abschnitte.
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Velasco ¡barra es el primer hombre de acción que ha querido realizar el sueño bolivariano de libertar el alma popular. Es el primer demócrata que ha tenido la Gran-Colombia. Comienzan a entenderlo, sobre todo el pueblo: pero la casta explotadora de estos países le ha declarado mi guerra a muerte.
In der Tat überwarf sich der eigenwillige Politiker Velasco Ibarra immer wieder mit herrschenden Kreisen der Oligarchie Ecuadors, dessen Nachunabhängigkeitsgeschichte nach Malcolm Deas im Vergleich zu Kolumbien und Venezuela durch einen "extremen Konservatismus" gekennzeichnet war.382 Gewaltsam wurde bereits seine erste Präsidentschaft beendet, über die Enrique Ayala Mora schreibt: "Once in office 1934 Velasco Ibarra led an active but disorganized government, which was orientaded fundamentally towards the construction of public works."383 Die Vergrößerung der wirtschaftlichen Macht des Staates und die Ankurbelung und Vergabe öffentlicher Projekte in Verkehrsinfrastruktur und Bildungswesen blieben tragende Pfeiler von Velasco Ibarras Programm. Diese Politik trug zugleich zur Stabilität seiner Massenbasis bei. Insgesamt viermal wurde er von Militärs gestürzt, zweimal im Anschluß daran auch des Landes verwiesen, so gleich zwei Jahre nach seinem ersten Amtsantritt. Mit dem "Krieg auf Leben und Tod" bezieht González sich auf den Kampf um die Agrarreform in Ecuador, die dort in Anbetracht der im latifundistisch strukturierten Landwirtschaftssektor herrschenden, de facto der Leibeigenschaft vergleichbaren Abhängigkeit der Landarbeiter, des Systems der huasipungos, eine der zentralen innenpolitischen Fragen war. Velasco Ibarra bemühte sich als Präsident mehrfach erfolglos um diese Reform, die sich in erster Linie auf die Lebensverhältnisse der rechtlosen Indiomassen ausgewirkt hätte. Er versuchte dabei, das Reformprojekt auch mit diktatorischen Mitteln durchzusetzen, scheiterte indes wiederholt in diesem Bemühen und wurde 1935, 1947, 1961 und 1972 jeweils durch Gruppen aus dem Militär gestürzt. 1961 konnte das erste Agrarreformgesetz unter Velasco Ibarra 1964 verabschiedet werden. Nach León Bieber geschah dies freilich zu einem Zeitpunkt, zu dem im Zuge des enormen Aufschwungs des überwiegend nach modernen kapitalistischen Methoden betriebenen Bananensektors und der damit vor sich gegangenen, beschäftigungswirtschaftlichen Verlagerungen der von diesem Gesetz betroffene Bereich längst nicht mehr die Bedeutung wie fünfundzwanzig Jahre zuvor hatte. Diese Verlagerungen führten zu dramatischen Freisetzungen von Landarbeitermassen, die ohne sichere Perspektive nach Quito und in die Städte an der Küste strömten, und die die erstaunlich anhaltende und stabile Basis des Velasquismo bildeten, der als organisierte populistische Bewegung 1932 gegründet worden war und mit der anderen mächtigen populistischen Strömung, der Concentración de Fuerzas Populares für Jahrzehnte die stärksten Bewegungen unter den Massen in Ecuador formte. Das folgende Zitat aus Biebers Darstel-
381 González, Los Negroides, a.a.O., S. 45. 382 Vgl. Deas, Colombia, Ecuador and Venezuela 1880 - 1930, a.a.O., S. 643. 383 Enrique Ayala Mora, "Ecuador since 1930", in: Bethell (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. VIII, Cambridge 1991, S. 695. 147
lung der ecuadorianischen Geschichte des 20. Jahrhunderts bezieht sich auf beide Bewegungen, die häufig gemeinsam auftraten. Mit ihrer Polemik gegen die .korrupte Oligarchie', ihren nationalistischen Parolen und ihrer inhaltlich niemals genau bestimmten Forderung nach einer partizipativen Demokratie suchten und fanden sie ihre soziale Basis im Kleinbürgertum an der Käste und unter der wachsenden Masse städtischer Randgruppen dieser Region.
Wenig später hebt Bieber die kontroverse Behandlung des Populismus Velasco Ibarras in der ecuadorianischen Historiographie ausdrücklich hervor. Für den Zeitgenossen González besteht kein Zweifel im Vorbildcharakter Velasco Ibarras für die kolumbianischen Politiker. Ninguno (wie Velasco ¡barra, J. P.) tan amado por el obrero, el campesino, el indio de su tierra; ninguno tan odiado y calumniado por los políticos formalistas que oprimen al Ecuador. Lo aman porque es y será el realizador de la cultura ecuatoriana, el libertador del pueblo, y lo odian, porque su doctrina va contra la vanidad.**5
Erneut fallt die Inkaufnahme von Zwangsmitteln im Sinne der Entwicklungsdiktatur zur Erreichung des Ziels der Freiheit und des authentischen Ausdrucks des Volkes auf, solange dessen Kräfte und Eigenschaften noch im Zustand der Latenz verharrten. Demokratietheoretische Überlegungen werden zwar angestellt ("En los gobiernos fuertes sufre mucho el individuo ya superior que no necesita que lo gobiernen"386). In ihrer Schärfe aber werden sie gegen den europäischen Faschismus gerichtet, gegen den nolens volens die Existenz der Monroe-Doktrin als Schutz angesichts der Schwäche Lateinamerikas begrüßt wird. Auch Passagen aus Machiavells Discursi, in denen die Diktatur des geschulten Einzelwillens als Konsequenz seiner Überlegungen Umrisse erhält, werden affirmativ zitiert und mit solchen aus Bolívars Manifiesto de Cartagena verglichen, während etwa Justo Sierra sich gegen Bezüge zwischen Porfirio Díaz' Politik und Machiavells Theorien verwahren möchte.387 Der "Nationalismus der Authentizität", der die Selbstverleugnung, erzwungen so sehr wie übernommen, der eigenen Kräfte der lateinamerikanischen Völker aufbrechen wollte, erwies sich in seinen Beurteilungen der wirklichen politischen Vorgänge auf dem Kontinent ein ums andere Mal als anfällig für autokratische und obrigkeitsstaatliche Praktiken, wie sie die europäischen Nationalismen angewandt hatten, obwohl doch vehement gegen sie polemisiert wurde. Der mesti384 León E. Bieber, "Ecuador", in: Bernecker/Tobler (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3, Stuttgart 1996, S. 744. Den vor dem Zitat im Text genannten Daten zu Velasco Ibarras Stürzen als jeweils gewählter Präsident kann, um die instabile Situation der ecuadorianischen Demokratie zu verdeutlichen, hinzugefügt werden, daß es allein von 1928 bis 1948 27 Regierungen in Ecuador gab (vgl. ebenda, S. 743). 385 González, a.a.O., S. 50. 386 González, Mi Compadre, a.a.O., S. 185. 387 Vgl. González, Mi S. Bolivar, a.a.O., S. 131 f., und Justo Sierra, Evolución política del pueblo mexicano, a.a.O., S. 284.
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zische Mensch, der große Mulatte oder die kosmische Rasse schienen ein allzu vages historisches Subjekt vorzustellen, und tiefgreifende demokratische Sicherheiten waren andererseits nicht ausreichend konzipiert, um gegen selbsternannte Vertreter dieses Subjekts Kontrollfunktionen ausüben zu können. Dieses Dilemma wird auch im folgenden Zitat aus Velasco Ibarras Conciencia o barbarie deutlich, das das politische Denken dieser Strömung paradigmatisch ausdrückt: Es relativa la moral del político. Allí en donde hay conciencia cívica, en donde se respeta la patria, se honra la dignidad nacional, se busca concienzudamente el triunfo del derecho, p. ej. en Francia, en Inglaterra, en Colombia, en la Argentina, la defensa de los intereses de la especie exige determinada actitud en los hombres de gobierno. Las fórmulas representativas pueden ser aplicadas con toda la amplitud que el ambiente moral lo permite. En países en donde inspira el odio y flota la desmoralización más desenfrenada, al extremo de que por odio a un hombre puede sacrificarse el honor nacional y la vida del pueblo, la de los gobernantes tiene que inspirarse por un criterio más severo de convivencia humana,388
4.5 Politische Intervention als permanente Provokation und Kritik: Antioquia, Arengas políticas, El derecho a no obedecer (Una tesis), Estatuto de valorización, Nociones de izquierdismo und Los negroides Wie für die Philosophie gilt Ähnliches auch für die politische Theorie González': Grundthemen und -motive wurden schon in den frühen Schriften entworfen. Daher soll González' Dissertation El derecho a no obedecer von 1918 in ihren für die späteren politischen Aktivitäten richtungsweisenden Entwürfen hier anfangs kurz rekonstruiert werden. Ihr Anspruch bestand in einer Entgegnung auf die Absicht kolumbianischer und anderer lateinamerikanischer Regierungen, gegenwärtiger und früherer, mittels fiskalpolitischer Gesetze und anderer Maßnahmen den Gang der Wirtschaft und damit die Entwicklung des nationalen Reichtums bestimmen zu können. Diese Absicht entbehre aller theoretischen Grundlagen, sei schlecht empirischer Dezisionismus oder purer Voluntarismus und gebe damit die politische Lenkung letztendlich aus den eigenen in die Hände der jeweils Stärksten. Nach der Philippika in diesem Sinne erfolgt sodann eine kurze Skizzierung der wirklichen Grundlagen jener Prozesse: wie für die Natur, i. e. die Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt die Gesetze der Evolution gälten, so richte sich die wirtschaftliche Entwicklung nach den Determinanten der Arbeitsteilung.389 Dieser gelte es seitens der Politik, günstige Entwicklungsbedingungen zu verschaffen, die Produktion im Einklang mit den ambientalen Voraussetzungen zu erhöhen, die Arbeitskraft besser auszubilden, keinerlei Sinn dagegen habe es, ihre Gesetze aushebeln zu wollen. Den theoretischen Hauptteil (Kap. IX - XV) widmete González der historischen Entwicklung der Arbeitsteilung; er setzte sich ausführlich mit
388 José María Velasco Ibarra, Conciencia o barbarie, Medellín 1936, S. 19f. 389 Vgl. Kapitel XV: "La evolución de los organismos no es otra cosa que la división del trabajo" (González, El derecho a o obedecer, a.a.O., S. 69fF.). 149
Kritiken auseinander. Die ökonomische Begründung ihrer Unausweichlichkeit wird über die Arbeitswerttheorie gefiihrt: Sentadas estas definiciones podemos afirmar, que una riqueza no tiene más valor que el trabajo en ella encerrada... A causa de la libre concurrencia, el valor de las riquezas tiende a medirse y se mide por el trabajo en ellas empleado}90
Geeignete historische Formen der Arbeit bestünden beispielsweise in kooperativ organisierter Produktion. Dann könne die ökonomisch unausweichliche Beschleunigung der Arbeitsteilung ihre emanzipatorischen Potentiale für das Individuum entfalten und die Bedingungen für Spencers Freiheitsvorstellungen schaffen. 391 In jedem Falle aber hätten der Staat und wirtschaftliche Verbände die Freiheit und die Würde des Individuums zu achten: "Octava y última y resumen de todas (der allgemeinen Ideen, J. P.): En ningún caso se puede sacrificar al individuo en bien de la comunidad."392 Der Wert des Individuums sei ein Wert an sich und ergebe sich aus einem universellen humanen Verständnis. Er könne weder aus der Evolution noch aus dem historischen Materialismus abgeleitet werden. Cesare Lombroso wird mit einer Fabel über die Ratten im Original zitiert und übersetzt; die Fabel endet mit dem Sinnspruch: "Inútil querer con leyes especiales torcer el curso de los acontecimientos."393 Lombroso hatte mit seiner Anwendung der Vererbungslehre auf die Kriminologie große Aufmerksamkeit erfahren. Mit der These von den kriminellen als angeborenen Dispositionen unterstützte er die Sichtweise, daß sozial relevante Verhaltensweisen in der natürlichen Anlage des Menschen gründeten und folglich mit dieser auch vererbbar seien. Die Prädisposition bestimmter Gruppen fUr kriminelles Verhalten sei eugenisch als ein Symptom der Dekadenz der Rasse zu verstehen. Die bisherige Unauslöschbarkeit des Verbrechens nutzte Lombroso sehr erfolgreich zu Evidenzbeweisen seiner Thesen. González zitierte ihn hier als Bestätigung für seine Sichtweise von der sozialen Bestimmtheit individuellen Handelns, dessen Bahnen eben nicht einfach durch ideologisch bestimmte Gesetze änderbar seien. Fernando Ortiz wandte Lombrosos Erklärungsmodell in den 1920er Jahren auf die Kriminalität im multiethnischen Kuba an.394 Die offizielle Religion unterwerfe sich dem blinden Kollektivismus:
390 Ebenda, S. 47f. 391 Vgl. ebenda, Kap. XI, S. 57ff.: "De cómo la división del trabajo acaba con el fanatismo", und S. 74. 392 Ebenda, S. 40. 393 Ebenda, S. 34. 394 Vgl. Fernando Ortiz, Orbita de Fernando Ortiz, Havanna 1973, S. 182f., wo er auf seine frühe Entwicklung zurückblickt, als er nicht nur, ganz apologetisch Lombroso folgend, die Entwicklung der Kriminalität auf Kuba in engen Zusammenhang mit der ethnischen Situation brachte, sondern sich auch des Vorworts von Lombroso zu einer Obersetzung rühmt. Vgl. zum Einfluß Lombrosos auf soziale Bewegungen: Richard Cleminson, Anarchism, Science and Sex. Eugenics in Eastern Spain, 1900-1937, Frankfurt/M 2000, S. 196ff.).
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La religión se pone del lado de la tesis colectivista, del lado de la tesis gregaria, porque la interesa que el individuo permanezca estacionario, y que las modificaciones evolutivas no hagan nacer la necesidad de modificaciones en la ley moral: ese es el origen del socialismo católico. La religión quiere anular al individuo, que es una bestia indómita, y por eso predica la estatolatría.395
Die Dichotomie von Determinismus und Individualismus blieb ein zentrales Thema im gesamten Werk González', es wurde später sicher mit weniger ontogenetischem Opimismus behandelt. In jedem Falle kennzeichnete das gegen erzwungene Kollektivierung, gegen den gregarismo, gleich welcher couleur, gewendete Motiv immer González' theoretische und praktische Interessen. Sicher auch unter dem lebendigen Eindruck des Ersten Weltkrieges wird eine direkte Ableitungsline von Staatssozialismus über Nationalismus zum Krieg in der frühen Arbeit entworfen; die in der Denkfigur enthaltenen antinationalistischen und pazifistischen Motive sollten prägend für das weitere Werk bleiben. Im Jahrzehnt, das dem Aufstand in Bogotá vom 8. April 1948, dem sogenannten bogotazo, vorausging, war González führend in der Gruppe LAIN (La izquierda nacional) beteiligt, die eine Reformierung des Liberalismus von der Basis aus erreichen wollte. Sie wurde von so einflußreichen Politikern in- und außerhalb der liberalen Partei wie Darío Echandia, Jorge Eliécer Gaitán, Alejandro López, Armando Solano, Eduardo Vallejo unterstützt.396 Die Gruppe hatte sich an verschiedenen lokalen Wahlen im Departament Antioquia und Caldas beteiligt und Sitze im Landesparlament (Asamblea) und in Stadträten (Concejos) erringen können; González war zeitweilig im Magistrat der Städte Manizales und Medellin tätig. In der Eigenschaft als Zivilrichter in Medellin verfaßte er 1942 ein neues Estatuto de valorización;397 als programmatische Texte dienten der Gruppe die ebenfalls aus González' Feder stammenden, 1936-1937 als 23 Artikel einer regelmäßigen Kolumne in der Bogotaner Zeitung El diario nacional erschienenen Nociones de izquierdismo sowie die Arengas políticas von 1945. In erster Linie ist in den arengas dem Anspruch gemäß, den überparteilichen Republikanismus und die rebeldía cívica zu stärken, von Entstehungsbedingungen und Bekämpfungsmöglichkeiten der violencias die Rede. Den Ursprüngen der irrtümlichen Hoffnung, gewaltförmig soziale Konflikte und Ansprüche (ein)lösen zu können, wird nachgespürt. Wiederum wird die Hinnahme der eigenen Ohnmacht, deren Kehrseite das Wiederkäuen fremder politischer Rezepte sei, verantwortlich für das mangelnde Vertrauen in sich selbst und das herrschende Mißtrauen in den nächsten gemacht. Diese gäben das Fundament ab für Drohungen und Gewalt, von denen das öffentliche Leben bestimmt werde und die auch für den schleppenden Gang der wirtschaftlichen Enwicklung verantwortlich seien, ebenso wie für die Bereitschaft, sich in Falangen
395 González, a.a.O., S. 40f. 396 Vgl. Fernando González, Nociones de izquierdismo, Medellin 2000, S. 47 u. S. 63. 397 Vgl. Miguel Escobar Calles einleitende Chronik zu Fernando González, Arengas políticas, Medellin 1997, S. 6ff. 151
einzuordnen. González versucht, von dieser Mentalitätsanalyse einen Bogen zu ökonomischen Programmen zu spannen: Apenas leemos tres cuadernos forasteros de economía, nos da por hablar de cooperativas, cuando ni siquiera cooperamos con la mujer, en el hogar. No está mal que hablemos de cooperativas, pero mucho que comencemos por Cooperativa Municipal de Consumo, gerenciada por un 'doctor'. ¿En dónde está aquí la vanidad? En que el hilo comienza por el principio, por cooperación de producción; luego, cuando hay qué consumir, nace la otra. Amamos el libro y odiamos la tierra natal. Nos avergonzamos de nuestro padre arriero y azadonero. El libro santo es el gran enemigo de Suramérica. El libro es santo, cuando es para consultar nuestras dudas, las que nacen de la acción. Pero aquí, el libro es para adornarse.399
Wiederum wendet sich die Stoßrichtung gegen die nachgebeteten politischen Programme und die jerga fastidiosa ihrer gleichermaßen kopierten Begründungen. Ab und an erscheinen González' Überlegungen in ihrer Hermetik wie ein Vorgriff späterer Dependenztheoretiker, wobei sie den Akzent auf die intellektuelle Abhängigkeit legen. Im Unterschied zu jenen interessiert González allerdings in erster Linie die "hausgemachte" und stets aufs neue reproduzierte Disposition zu der abhängigen Rolle. Einen Teil davon stellen ihmzufolge die unzähligen administrativen Unzulänglichkeiten dar, denen in grotesker Wirkungslosigkeit die endlosen, in ausgefeilter Kanzleisprache abgefaßten Regeln, Anwendungsvorschriften, Ausnahmebestimmungen, Zusatzanordnungen u.s.w. gegenüberstünden, die den gesamten kolumbianischen Rechts- und Verwaltungsapparat bestimmen. Als Mitglied des Magistrats von Medellin legte González Ende der 1930er Jahre einen erstaunlichen Text vor, der am 6. Dezember 1941 vom Juristischen Rat der Stadt Medellin als Estatuto de impuesto de valorización angenommen und ein Jahr später unter dem Titel "Estatuto de valorización" von der Munizipalität publiziert wurde. Zum einen beanspruchte das Buch, den Verantwortlichen für Steuererhebung und -Verteilung Operabilität und Transparenz für ihr Vorgehen an die Hand zu geben. Dafür griff der Autor zu in seiner damaligen Umgebung so ungewöhnlichen Mitteln wie einem Flußdiagramm zur Darstellung der Abläufe bei einer öffentlichen Auftragsvergabe399 und versuchte, den Regelapparat insgesamt zu generalisieren und zu minimalisieren, da gerade die unzähligen Zusatzund Ausnahmebestimmungen Abläufe lähmten und der Rabulistik Tür und Tor öffneten, sei es doch prinzipiell ausgeschlossen, für jeden besonderen Sachverhalt eine Anwendungsregel bereitzuhalten. Zum anderen bemühte er sich im theoretischen Teil klarzumachen, daß Werte und Preise aus sozialen Zusammenhängen entstünden, also keineswegs willkürlich festsetzbar seien400 und daß, was allgemein für das Funktionieren eines Gemeinwesens entscheidend sei, die Partizipation und das Vertrauen seiner Mitglieder, ganz besonders für das Steuersystem gelte, weil Steuern eo
398 González, a.a.O., S. 48. 399 Vgl. González, Estatuto de valorización, a.a.O., S. 50. 400 "Valores y precios son entes sociales" (ebenda, S. 109, vgl. auch die folgenden Ausführungen). 152
ipso unpopuläre Politikmittel seien. 401 Seinem innovativen Impuls für die Vereinfachung und Transparenz der Verfahrensformen, von dem die zahlreichen Erzählungen, darunter Anekdoten salomonischer Schiedssprüche aus seiner Zeit als Zivilrichter, beredtes Zeugnis abgeben, 402 steht eine Wirtschaftstheorie gegenüber, die an den Erscheinungsformen der sozialen Widersprüche ansetzt. In der modernen Unternehmensform der Sociedad Anónima wird mehr als ihre wirtschaftliche Bedeutung ihre anthropologische Wirkung zugunsten der Vereinzelung und Verkümmerung des Individuums untersucht,403 auch bei der Kritik des Kredit- und Leihwesens stehen dessen psychologisch-moralische Ausdrucksformen im Vordergrund: El crédito ha reemplazado al diablo en su papel moralizador. El joven pragmatista tiembla y palidece ante la perspectiva de perder et crédito, como temblaba y palidecía la monja hermosa después de abrazar a su amante por sobre los muros del convento, ante la perspectiva del rabo prensil del diablo.404 In der politischen Programmatik der LAIN und den politischen Äußerungen bei ihren öffentlichen Auftritten und den individuellen von González 405 wurde das Vermächtnis des radikalen und sozial ausgelegten Liberalismus von Rafael Uribe Uribe reklamiert; es gab auch unmittelbare Nachbarschaft zu gewerkschaftlichen und sozialistischen Positionen. Der Autor der Arengas und der Nociones de izquierdismo bemühte sich, den irrationalen Antisozialismus zu zerstreuen und die gängige Argumentation zu zerstreuen, die in der Diskreditierung der Idee des Kommunismus und der marxistischen Gesellschaftsanalyse mit dem Hinweis auf sowjetischen Autoritarismus bestand, zu entkräften. 406 Seine Aufgabe der Verfassung eines Statuts für die Steuererhebung und Güter401 "Mientras el público no tenga fe, no se recaudarán bien el impuesto, y no lo tendrá sino al darle debida separación al patrimonio de cada obra; y hay que separar esos fondos de los comunes municipales" (ebenda, S. 124). 402 Henao Hidrón stellt einige Fallbeschreibungen und Urteile aus González' Amtszeit zusammen und weist auf Studien aus der Rechtsprechung, die sich unter anderen mit seinen Entscheidungen befassen. Im folgenden eine von Henao Hidrón angeführte Anekdote: "En otra oportunidad en que debía resolver la adjudicación de una herencia en la cual el difunto -el de cujus de los abogados- había consignado en su testamento que partes de sus bienes se distribuirían entre los benditas Animas del Purgatorio y el Niño Jesús de Praga, dispuso lo siguiente en la sentencia: 'Las Animas del Purgatorio acreditarán su personería jurídica y en cuanto al Niño Jesús de Praga, su herencia le será entregada tan pronto cumpla la mayoría de edad... Entretanto, pasen los bienes a los herederos reconocidos en este proceso'" (Henao Hidrón, a.a.O., S. 77f.; in Fußnote 5, Seite 78, kommentiert er Sekundärliteratur). 403 Vgl. ebenda, S. 114. 404 González, Viaje a pie, a.a.O.. S. 23. 405 In den dreißiger Jahren hielt González etliche Vorträge in Barranquilla, Bogotá, Honda, Manizales, Maracay und Medellin, die ein ausführliches und kontroverses Echo in der Presse fanden. Vgl. die Studie zu González' Vortragsreisen und ihrem Echo von Sara Lina González Flórez: Fernando González Ochoa, buhonero del espíritu, Medellín 1990. 406 "¿Y Rafael Uribe Uribe? Hachazos en la cabeza hermosa (der berühmte liberale Reformer Uribe Uribe war am 15. Oktober 1914 von zwei fanatisierten Anhängern der Konservativen in Bogotá
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bewertung verstand González in erster Linie praktisch. Die Empfehlungen sollten gut begründet und vermittelbar sein. Erfüllten sie diese Kriterien, konnten mit ihrer Aussprechung auch Denkanstöße verbunden werden. So finden sich in der trockenen Materie der Bewertung von Ländereien und des Aufteilungsschlüssels von Kosten für ein Bewässerungssystem Erkenntnisse wie die folgende: "El porvenir está en la expropiación de tierras no explotadas aún y en prepararlas para el trabajo comunal y dirigido. (Ley de riego y desecación)."407 Die Zeitschrift Antioquia erschien in siebzehn Nummern zwischen 1936 und 1945 und wirkte als Spiegel dessen, was in Kolumbien geredet, gedacht, getuschelt und geschrieben wurde und hatte daneben Kolumnen, in denen regelmäßig Entwicklungen in den faschistischen Staaten Europas und andere internationale Ereignisse kommentiert wurden. Dreizehn Ausgaben erschienen regelmäßig bis November 1939; nach einer durch finanzielle Umstände erzwungenen Pause gab es 1945 einen neuen Versuch mit vier Ausgaben. Der alleinige Autor und Kompilator Fernando González versammelte die verschiedenartigsten Texttypen, literarische, essayistische und enzyklopädische, in der Zeitschrift. Die besondere, mit jeder der dreizehn ersten Nummern mehr Textraum beanspruchende Aufmerksamkeit, die Antioquia der Chronik des Aufstiegs des Totalitarismus in Europa, der Expansion Mussolinis in Afrika und der ratlosen Starre der anderen europäischen Staaten und der USA widmete, spiegelte dessen zentrale Bedeutung in González' gesellschaftstheoretischen Überlegungen als die Konsequenz des Nationalismus und als die Zerstörung der Freiheit des Individuums wider. In der Rubrik Panorama de la vida en el exterior der Zeitschrift stehen die unmittelbaren Ereignisse der Annexion Äthiopiens und ihre Rechtfertigung als Triumph der christlichen Zivilisation durch den Papst im Mittelpunkt. In der ersten Ausgabe nach Kriegsausbruch, vor dem immer wieder gewarnt worden war, in der Nummer zwölf vom Oktober 1939, findet sich der geradezu verzweifelte Appell: La guerra. Señor Hitler, como matanza de hombres, cada vez nos repugna más. A usted le gusta, porque usted es invertido activo y su pueblo, que tiene grandes cualidades, tiene el defecto de la pasividad. Pueblo valiente, pero cuando se siente castigado por detrás.40®
mit Axthieben erschlagen worden. Vgl. die genaue Schilderung des Mordes und seiner Umstände bei Julián Uribe Uribe, Memorias, Bogotá 1994, S. 163ff.), pero hace veinticinco aflos que el Partido Liberal vive, consume la sustancia que legó" (González, Arengas políticas, a.a.O., S. 26). "¡Que Rafael Uribe Uribe, sobrio, duro, pensador y ejecutor, nos dará el triunfo!" (Ebenda, S. 51). "Comunismo es vocablo que pertenece a la conciencia del alma humana; no es lo mismo que el régimen que hay en Rusia" (González, Nociones de izquierdismo, a.a.O., S. 9). "Los mismos que se llaman izquierdistas creen generalmente que la verdad se halla en un libro de Marx y que el régimen soviético es definitivo. En Marx hay proposiciones, que indican su grado evolutivo, y no más, y el régimen soviético es una experiencia, una estructura en que se manifiesta la conciencia rusa" (ebenda, S. 65). 407 González, Estatuto de valorización, a.a.O., S. 114. 408 González, Antioquia, a.a.O., S. 482.
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Sogleich kommt er erneut auf den rücksichtslosen Hochstapler Mussolini und seine Rückendeckung durch die Kirche zu sprechen. González wollte sich nie mit der wohlfeilen Kritik ferner Totalitarismen begnügen, sondern hatte sich immer wieder auf kolumbianische Sympathiebekundungen für Mussolini bezogen. Unter anderem agitierte er gegen die Gruppe militanter Jugendlicher, die sich 1936 unter dem Namen Haz godo formiert hatte. 09 Im September 1939 hob er die politische Rolle der Zeitschrift auch im Kontext von LAIN deutlicher hervor: Somos pues anarquistas sumisos a la conciencia únicamente. Esta nos dice que podemos beneficiciar a los jóvenes, mostrándoles el camino de la libertad, ahora cuando el mundo se somete a dictaduras, azotes del espíritu, como Mussolini, Hitler, Stalin y Franco. En tal sentido, esta revista será de acción.410
Kaum ein anderes Thema zeigt so prägnant González' Zurückweisung aller Arten von trügerischen Konsensen um der Bequemlichkeit willen wie sein unbeirrbares Interesse am Fall des mutmaßlichen Entführers und Mörders von Lindberghs Sohn, des in New York 1936 auf dem elektrischen Stuhl hingerichteten, deutschen Schreiners Bruno Hauptmann. Sein Interesse ist die Agitation gegen die Todesstrafe, darüber hinaus die Anklage der Falschheit und Hypokresie der Justiz, die ein Opfer gefunden habe, an dem das grausame Exempel der Rache statuiert werden solle. Hauptmann wurde bewacht, um einen Selbstmord zu verhindern. Trotz aller Zweifel und Eingaben wurde die Exekution zwar mehrfach aufgeschoben, aber dennoch schließlich unter dem Druck des allgemeinen Hasses, der freilich auf allen Ebenen kräftig geschürt worden war, durchgeführt.411 Das Beispiel von Charles Lindbergh war alles andere als zufallig gewählt: an ihm konnte die offenbar mühelose Vereinbarkeit von höchster technischer Kompetenz und Anwendungsbereitschaft mit den niedersten und unbarmherzig eingeforderten menschlichen Instinkten zugespitzt verdeutlicht werden. Mit der Hinrichtung habe das Volk seinem Helden eine Ehre erwiesen und sich dadurch selber erhöht. Nicht um die 409 Vgl. den Artikel "El haz godo" aus der Nr. 6 der Zeitschrift Antioquia von 1936 ebenda, S. 244. Er endet mit dem emphatischen Aufruf an die Jugend, diesen Verführungen zu entfliehen, die aus Haß und religiösem Fanatismus geboren seien und ihre Aufwertung durch die europäische Imitation gewönnen. In der Tat bot der zunehmend sich verschärfende Antagonismus zwischen Liberalen und Konservativen, innerhalb dessen der konservative Politiker Laureano Gómez immer häufiger mit offener Gewaltanwendung drohte, einen günstigen Nährboden für die Formationjugendlicher gewaltbereiter Gruppen. 410 Ebenda, S. 427. 411 "Much of early writing on this topic was sensationalistic" (Robert Muccigrosso, Research Guide to American Historical Biography, 3 Bde, Washington 1988, Bd. 2, S. 947). Muccigrosso führt aus, daß die mediale Produktion über Bruno Hauptmann, die ihn zum Monster erklärte, bereits während des Prozesses kaum übersehbar war. Die seriöse kriminalwissenschaftliche und juristische Debatte halte indes bis heute an. Zuletzt sei insbesondere die prozeßverlaufsentscheidende Funktion von Hauptmanns Bild in der Öffentlichkeit herausgearbeitet worden. Muccigrosso hebt in seiner ausfuhrlich kommentierten Bibliographie Ludovic H. C. Kennedies 198S erschienene Untersuchung The Airman and the Carpenter: The Lindbergh Kidnapping and the Framing of Richard Bruno Hauptmann hervor (vgl. ebenda, S. 949f.).
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Person Lindberghs, der sich mit dieser Blutrache auf eine Stufe mit dem Verbrecher gestellt habe, ging es González, sondern um die Persistenz dieser inhumanen Einstellungen in den mächtigen Gesellschaften Nordamerikas und Europas, deren technische Organisationsstruktur die Menschen abgestumpft habe. Er schließt die letzte Kolumne zum Fall Hauptmann nach der Exekution: "Estados Unidos es país de todo. En general, primitivo y muy rico; maquinista y cruel, idealista y humano, infantil y millonario. Su conciencia va muy atrás de su confort. El progreso maquinista realizado allí, perturbó al mundo."412 Zwischen dieser gesellschaftlichen Konformität, der es auch in ihrer Justiz nicht um Gerechtigkeit, sondern um die entlastende Bestrafung gleichgeschalteter Feindbilder gehe, und der Gleichschaltung durch die faschistische Regierung schlug González einen Bogen. Wenn er in der dem Kommentar zum Fall Hauptmann in der Nummer zwei der Zeitschrift vom April 1936 vorausgehenden Kolumne schrieb: "Esta es la civilización que van a llevar a Etiopia, la 'civilización cristiana"',413 bezog er sich auf die gleiche, durch die offizielle Kirche abgesegnete Selbstgerechtigkeit, mit der diese modernen Gesellschaften ihre Feinde auslöschten. Ihr Gemeinsames bestehe in den instintos gregarios als Triebfeder der gleichgerichteten Handlungen; der einzelne individuelle Denker gehe in ihnen unter. Wenn auch in Kolumbien die Todesstrafe bis auf die Episode ihrer Wiedereinführung unter der ersten Präsidentschaft Rafael Núñez', die im übrigen die Wirksamkeit ihrer Indienstnahme für alle möglichen Arten politischer Ablenkungsmanöver gut demonstriert,414 seit den Tagen der Unabhängigkeit abgeschafft ist, wird das Thema anläßlich schlimmer Verbrechen immer wieder kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert. Der Mut in der unpopulären Haltung der querdenkerischen Zeitschrift, die wie Karl Kraus' "Fackel" immer den unbequemsten Weg ging, erinnert hier auch an Theodor Lessings Reportagenserie über den gut zehn Jahre vorher stattgefundenen Prozeß gegen den Massenmörder Fritz Haarmann. Beide nahmen die geradezu hysterischen Reaktionen der Öffentlichkeit zum Anlaß, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, der ihre Angst, Abwehr, ihre Wünsche nach Bestrafung und Ausrottung und ihre Sensationsgier abbildete.415 Ähnlichkeiten zu Kraus' sprachmächtiger Zeitschrift gehen aber durchaus noch weiter. Die Konglomerate negativer Eigenschaften, von dem sich die beiden Autoren jeweils nie ausnahmen, wurden so sehr mit landestypischen Eigenheiten ausgestattet, daß sich die Einheimischen in ihnen immer noch als etwas Besonderes erkennen können, wenn auch nur im negativen. Die Kernargumentation der Faschismuskritik wird aber auch in der Zeitschrift Antioquia entlang des Widerspruchs zwischen Individuum und moderner kapitalistischer Industriegesellschaft geführt. 412 González, a.a.O., S. 83. 413 Ebenda, S. 80. 414 Vgl. Tirado Mejía, a.a.O., S. 378. González erwähnt das letzte antioquenische Opfer dieser Episode, das 1902 gehängt wurde (vgl. González, a.a.O., S. 83). Die Funktion des populistischen Ablenkungsmanövers, für die die Deabtte um die Wiedereinführung der Todesstrafe entfacht wurde, war jüngst, unter der Präsidentschaft Samper Pizanos 1994-1998 emeut überdeutlich. 415 Vgl. Theodor Lessing, Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs, München 1995, S. 51ff.
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Ante el hecho de la producción moderna, maquinista, ante las riñas entre capital y trabajo, la esencia del fascismo, que capital y trabajo estén bajo la autoridad suprema del Estado, tiene una gran vitalidad. Mussolini se colocó por encima de sindicatos, de todos los sindicatos de obreros y patrones. Ahí está la fuerza del fascismo. En eso es indestructible hoy y vencerá hoy.416
Angesichts der Zerstörung der Individualität, der massenhaften Verrohung der Wahrnehmungskraft des Einzelnen für Unrecht und der Entfesselung expansiver Eroberungskräfte fuhrt González seine Kritik des Faschismus als Anwalt der Freiheit des Individuums gegen den Staat. Bestärkt durch den Nationalsozialismus hat er seine abwertende Konnotation des Begriffs "sozial" beibehalten. In seiner Terminologie ist dessen Semantik nahe der vermassenden Abstumpfung positioniert; ihr Gegenstück ist die intersubjektive Gegenseitigkeit, die mutualidad. Por ejemplo, si el hombre tiene por fin formar un Estado conquistador, entonces la cultura se compondrá de métodos apropiados para hacer obedientes, máquinas guerreras y productoras. Ta! sucede en Alemania y tal sucede ahora en Italia y Rusia. En tal caso se evitará la compasión, la limosna las relaciones de individuo a individuo.Caridad, religión, arte, ciencia, todo será social.411
Die maschinelle Massenfertigung werde auch die Form der Erziehung und Ausbildung der Menschen bestimmen. Nicht Förderung der Individualität, sondern im Gegenteil die Zurichtung gemäß einem einheitlichen Modell sei das Ideal des Faschismus. Diese Kritik bemüht sich nicht um die Differenzierung sozioökonomischer Strukturen. Ihre Stoßrichtung bezieht sie aus ihrer Überzeugung, daß in den Bedingungen des freien Ausdrucks und der ungehinderten Entfaltung des Einzelnen der Schlüssel für die freie Entwicklung der Gesellschaft liege. Mit dieser antideterministischen, zugleich ahistorischen Totalitarismuskritik, die sich an der Zerstörung kultureller Errungenschaften in den Fähigkeiten des Einzelnen wie Originalität, Initiative, Nächstenliebe und Schönheitssinn festmacht, steht González wiederum den Auffassungen der mexikanischen Athenäisten sehr nahe. Auch der Einfluß von soziologischen Gesichtspunkten, unter denen die modernen Gesellschaften im Hinblick auf ihre Bestimmtheit durch das Auftreten großer und gleichförmiger Massen betrachtet wurden, wird in González' immer wieder gebrauchten Bildern der "civilización-máquina" und des "rebaño" deutlich.418 González' von der Zerstörung des Subjekts ausgehende Faschismuskritik veranlaßte ihn zu keinem Zeitpunkt zu einer Unterschätzung von dessen aggressiver Macht und der Verführung, an dieser teilhaben zu wollen. Angesichts des italienischen Afrikafeldzugs und der deutschen Aufrüstung entwirft er das Szenario einer auch überseeischen Expansion, wobei er ihre Möglichkeiten und die sie vertretenden Fraktionen falsch einschätzt. Eine sicherlich realistische Einschätzung ist dagegen das Verständnis der 416 González, a.aO., S. 76. Die Kolumne stammt aus dem Jahre 1936. 417 González, Los Negroides. a.a.O., S. 95. 418 Vgl. ebenda, S. 71.
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Monroe-Doktrin als Stabilitätsfaktor für die Hemisphäre, zumal der südliche Halbkontinent in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht in der Lage sei, seine Sicherheit aus eigener Kraft zu garantieren. Die deeskalierende Funktion, die von der mit der Anwendung der Monroe-Doktrin gerechtfertigten Politik der USA ausging, hatte González in seiner Analyse der durch die abenteuerliche Politik des venezolanischen Präsidenten Cipriano Castro heraufbeschworenen, internationalen Krise deutlich gemacht. Ebenso wenig seien ein Vierteljahrhundert später die lateinamerikanischen Regierungen genügend selbstbewußt und ausgerüstet, um einer faschistischen Bedrohung zu widerstehen. Insofern sei die Monroe-Doktrin ein Krückstock, den die herrschende politische Klasse Lateinamerikas brauche. Die vehement vorgebrachte Kritik der in den 1920er Jahren massiv ansteigenden und sich mit dem industriell betriebenen Bananenanbau, der Petroleumförderung und dem Bankenwesen auf wirtschaftliche Kernbereiche erstreckenden, nordamerikanischen Aktivität in Kolumbien, die in erster Linie eine Kritik der mangelnden Wahrnehmung kolumbianischer Interessen durch die Regierungen in den entsprechenden Abkommen war,419 hinderte González nicht am Eintreten für die Monroe-Doktrin, ungeachtet der Hintanstellung und Indienstnahme des Schutzgedankens infolge ihrer Umdeutung durch den Corolario Roosevelt. Am Vorabend des panamerikanischen Kongresses 1936 in Buenos Aires nahm er in Kolumbien damit die Gegenposition zu Laureano Gómez' antinordamerikanistischer Position ein.420 Einen Hebel zur Förderung der Einheit der vier bolivarianischen Länder sah González in der Gründung einer Universität Groß-Kolumbiens. Ihr Curriculum sollte neben Lehre und Forschung auch Berufsausbildung umfassen, so daß unter den Studierenden auch Arbeiter seien. Der Austausch von Lehrenden und Studierenden stellte eines ihrer Grundprinzipien dar.421 Im Unterschied zu den Richtlinien des früheren Ministerio de Instrucción Pública, dem heutigen Ministerio de Educación Pública, das damit indes nur seinen Namen gewechselt habe, seinen Vorstellungen zur Methode, die auf Homogenisierung, Einübung in feste Verhaltensregeln und Ausstattung mit normierten 419 Die Kritik am "Ausverkauf' lateinamerikanischer Interessen ist fester Bestandteil des Diskurses Ober die mangelnde Authentizität dieser Länder (vgl. González, Mi Compadre, a.a.O., S. 119f., Los Negroides, a.a.O., S. 53, ebenda, S. 83 u. a.); in den Negroides wird auch auf die Fälle von Bestechlichkeit verwiesen. Die ungleiche Verteilung der Ergebnisse aus den nordamerikanischen Aktivitäten in Kolumbien und Venezuela im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wird durch die Forschung bestätigt. Vgl. Santana Rodríguez, Modernidad y democracia, a.a.O., S. 267, der dort zusammenfaßt: "Entre 1913 y 1926 el comercio internacional con los Estados Unidos creció significativamente y con él la dependencia colombiana con relación a la metropolí del norte", und Malcolm Deas, Colombia, Ecuador y Venezuela 1880 - 1930, a.a.O., S. 657, der speziell zum "Petroleumboom" dort resümiert: "Petroleum created few jobs, paid little tax, and the profits mostly went abroad." 420 "El deber de la Conferencia Americana en Buenos Aires es, en primer lugar, asegurar al Continente de la amenaza en que vive desde el atentado contra Etiopia" (González, a.a.O., S. 111). Vgl. zum Antinordamerikanismus von Laureano Gómez: James Henderson, Modernization in Colombia, a.a.O., S. 272f. 421 Vgl. González, a.a.O., S. 91.
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Sichtweisen der zu Erziehenden abziele, aber treu geblieben sei, "aquí (in der Universität Groß-Kolumbiens, J. P.) se trata de cultivar la individualidad, de crear las personalidades individuales y raciales." 422 Die fächerübergreifende Propädeutik soll den die befreiende Selbsterkenntnis lähmenden und das Epigonentum fördernden Illegitimitätskomplex auflösen, indem Informationen über die präkolumbische Zeit und des weiteren über Leistungen der lateinamerikanischen Völker in technischer, zivilisatorischer und künstlerischer Hinsicht vermittelt werden und so ein anderes, nicht mehr eurozentristisches Weltbild entsteht. Dies soll die Auszubildenden befähigen, die mangelnde Vertretung der lateinamerikanischen Interessen seitens der Machthaber kritisch zu erkennen. Selbstredend bedarf es zu solcherart Neusituierung der Wissenschaften enormer Forschungsanstrengungen. Zur Vermeidung "umgekehrter" Indoktrination, z. B. "amerozentristischer", wie es den athenäistischen Bildungskonzeptionen, die hier Vorbildcharakter hatten, vorgeworfen wurde, bedürfte es freilich der Reflexion auf die Bedingungen, unter denen Wissenschaft betrieben wird. In der oben zitierten Wendung González' zur Erziehungsmethodik, in der die zu unterschiedlichen pädagogischen Themen aufgenommenen Fäden zusammenlaufen, fallt wiederum auf, daß zwischen "individuell" und "rassisch" kein Widerspruch gesehen wird. Der Begriff wird abermals im Sinne der Gattung aller Menschen verwandt. González war bemüht, die Säkularisierung des Bildungssektors zu verteidigen und weiterzuführen, ohne damit Inhalte und Methodik zugleich vollständig unter das utilitaristische Primat zu subsumieren. Die musische, individuelle und nichtleistungsorientierte Methodik sollte didaktisches Prinzip unter weltlicher Verwaltung sein. "Que los maestros no enseñen a los niños, sino que los instiguen a la manifestación. Cada ser humano y cada pueblo tiene su método propio, así como cada fuente tiene su cauce aun antes de manar." 423 Bis zu den gebrauchten Bildern hin fällt in Wendungen wie dieser der Einfluß der Reformpädagogik auf, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Kolumbien durch die "Deutsche Mission" bekannt gemacht worden war. Als Gesamtprojekt scheiterte sie zwar, in einzelnen Personen und in wichtigen Ideen blieb sie dennoch seitdem in pädagogischen Reformprojekten und Diskursen in Kolumbien präsent. 424
422 Ebenda, S. 73. 423 Ebenda, S. 39. 424 "La 'Revista de Instrucción Pública' remplazó los 'Anales de Instrucción Pública', pero siguió publicando artículos biográficos de Pestalozzi, Froebel y otros educadores modernos e informes sobre la marcha de educación en Alemania, Austria y Francia" (Jaime Jaramillo Uribe, "El proceso de la educación", in: Manual de la historia de Colombia, Bd. 3. a.a.O., S. 280). Wenig später beschreibt Jaramillo Uribe das nachhaltige Wirken der deutschen Pädagogen Franziska Radke und Julius Siebers in Tunja, heute Sitz einer einflußreichen staatlichen Pädagogischen Universität, in den 1920er und 30er Jahren (vgl. ebenda, S. 285). 159
4.6 González Uber Mischung und Hybridität Todo ser híbrido es promesa y pésima realidad.*15
Dieser Satz ist für González These und Theorieprogramm in einem, denn er erlaubt ihm sowohl, nach Hegel'schem Muster aus den zur Zeit nur latenten Anlagen in den Menschen Lateinamerikas die Entwicklung zum Gran Mulato abzuleiten, als er auch keinen Zweifel Uber die Beurteilung seiner Gegenwart läßt. "Mulatte" war (und ist) das im Westen Kolumbiens geläufige, abschätzige und abwertende Schimpfwort, das zugleich den Zusammenhang zwischen der negativen Eigenschaft und rassisch niederem und unreinem Ursprung herstellt. Unabhängig davon aber, welche Beleidigung in welcher Gegend fiir die Diskriminierung gefunden wurde, ob cholo, indio, mameluco, negro oder zambo, ausschlaggebend bleibt fíir González der Anspruch an die Angehörigen seiner Klasse, diesen Anderen als einen Teil der eigenen Genealogie anzuerkennen. Dies setzt eine Wirklichkeitswahrnehmung voraus, die die Spannung von identidad homogénea - alteridad (heute gerne mit einer gewissen neologistischen Bemühtheit otredad genannt) auszuhalten vermag. Es ist aufschlußreich, daß González zur Ausleuchtung seines Verständnisses des hybriden Bevölkerungsstands in Lateinamerika im Bolivarbuch gleich zu Beginn ausfuhrlich auf Herbert George Wells' "theologische Groteske", den 1896 erschienenen Roman Die Insel des Dr. Moreau zu sprechen kommt. Das makaber-abschreckende Szenario der menschlich-tierischen Zwitterwesen, ZUchtungsergebnis des freien Laufs, den der wegen seiner Tierversuche aus Groß-Britannien ausgewiesene Doktor seiner sadistischen Phantasie auf der SUdsee-Insel lassen konnte, diente González zum einen als Versinnbildlichung der Tragik des Menschen in Lateinamerika. Ebenso wie die Inselbewohner haben sie ihre evolutionäre animalische Herkunft und ihre Hybridität nicht harmonisch mit sich selbst in Übereinstimmung bringen können, ihr Menschsein noch nicht errungen. Esta isla desierta era una humanidad triste; cada monstruo llevaba el peso de su animalidad peculiar. Se reunían a recitar los mandamientos morales que les daba el profesor Moreau, pero al anochecer iban como sombras a la selva, perseguidos por los deseos de su animalidad.*26
Aber auch die doppelte Brechung der Romanperspektive wird im zitierten Ausschnitt aus González' Kommentar deutlich: der Hintergrund der verwirrenden Unfähigkeit, die sich beim gegen Ende doch noch glücklich nach Groß-Britannien zurückgekehrten IchErzähler einstellt, die Inselerinnerungen von den neuen "zivilen" Erfahrungen eindeutig auseinanderzuhalten, besteht in der allgemeinen (d. h. nicht auf die fiktive SUdseeinsel beschränkten) Nichtannahme des Naturseins des Menschen. An einer anderen Stelle vergleicht González das zaudernde und schwankende Verhalten der Mulatten während
425 González, a.a.O., S. 82. 426 González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 31.
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der Unabhängigkeitskriege mit den schier unüberwindlichen Hemmungen und Ängsten, die die Inselbewohner gegenüber ihrem Zuchtmeister verspürten.427 Bei aller Schärfe der Nahaufnahmen von gesellschaftlichen Befindlichkeiten, die González immer wieder gelingen, bedient er sich dabei auch vieler gängiger pejorativer Stereotypen. Einerseits hat Hybridität als Wiege des neuen Menschen die kreative Kraft, aus der reziproken Durchdringung der unterschiedlichen Kontexte, die auf jene heterogene Mischung eingehenden Elemente mitbringen, eine neue Ausdrucksqualität hervorzubringen, etwa das Caracas der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts; andererseits setzt sich der herrschende Diskurs des Hybriden besonders deutlich an den Stellen durch, in denen die pésima realidad so unzulänglich gerade infolge von soziobiologischen Eigenschaften wie Schwäche, Anfälligkeit gegenüber negativen Einflüssen wie Alkohol, ungesunder Ernährung etc., physiologischem Mangel an Rhythmik des Blutkreislaufes und Neigung zu Hirnhautirritationen, die allesamt Unruhe und Oberflächlichkeit im sozialen Zusammenleben förderten, erscheint.428 Die postulative Polemik ersetzt an diesen Stellen die soziale Analyse. Ebenso wie bei Sarmiento fallen auch bei González Beschreibung und Diagnose der ökonomischen, sozialen und bewußtseinsbezogenen Lage der Indios denkbar ungünstig aus. ¿ Tienen personalidad los indios americanos? La tienen completamente reconcentrada humillada; caminan agachados, embrujados, entristecidos celularmente, los ojos alertados por el miedo. Tipos de vencidos. Pero no imitan, no desean parecerse a sus amos, no se prostituyen. Poseen un orgullo prometedor. El lector puede visitar a Boyacá o Cundinamarca; por allá, los únicos indios imitadores son Olaya Herrera y Armando Solano. Pues bien, Ecuador es la parte de la Gran Colombia en donde el indio está latente en su gran individualidad.429
Der historische Zustand der indigenen Bevölkerung ist empörend. Gebückt, eingeschüchtert und trist vermittelten sie den Eindruck von Besiegten. Ihre Kraft sei nur latent vorhanden; gleichwohl bewahrten sie entscheidende kulturelle Güter: sie wiesen Assimilation stets von sich und erhielten damit ihre Verheißung aufrecht. Indem er die Geschichtlichkeit der gegenwärtigen Demütigung der Indios betonte, verwahrte sich 427 Vgl. ebenda, S. 147f. 428 Diana Obregón weist anhand der Leprabekämpfungspolitik in Kolumbien um die Wende zum 20. Jahrhundert nach, daß die Genealogie der Lepra mit ethnischer Vermischung, mit Unreinheit und hybrider Schwäche in Verbindung gebracht wurde. Aus dieser eugenischen Unreinheit der Rasse gehe eine besonders heimtückische Art der Lepra hervor. Sie beschreibt, wie mit solchen Argumenten eine strenge Quarantänepolitik gegenüber Erkrankten begründet wurde und eine offene weiße Rassendiskriminierungspolitik gerechtfertigt werden sollte. Daß damit eine aus einem offensichtlich rassistischen Diskurs heraus gewählte Medizinpolitik verfolgt wurde, die der wirklichen Bekämpfung der Krankheit keineswegs dienlich war, brachten erst spätere immunologische Forschungsergebnisse über die höchstwahrscheinlich nicht ansteckende Lepra zutage (vgl. Diana Obregón, "Debates sobre la Lepra: Médicos y pacientes interpretan lo universal y lo local", in: Obregón [Hg.], Culturas científicas y saberes locales, Bogotá 2000, S. I78f.). 429 González, Los negroides, a.a.O., S. 26. 161
González zugleich gegen eine euphemistische Beschreibung ihrer Lage. Ihr kulturelles Erbe müsse jetzt von der ganzen Gesellschaft angenommen und wiederbelebt werden. Die Polemik gegen Armando Solano, der im gleichen Atemzug mit dem vielkritisierten Präsidenten Olaya Herrera genannt wird, richtete sich gegen einen Indigenismus, der den Wert und die Aufgabe der indigenen Bevölkerung in ihrem unersetzbaren Beitrag zur kolumbianischen Nation, zur colombianidad sah. Auffällig ist die Analogie zu Sarmientos Polemik gegen die Glorifizierung der Unbezähmbarkeit der südchilenischen indigenen Bevölkerung in La Araucana von Ercilla y Zúñiga, die für ihn nur die Projizierung eigens empfundenen Überdrußes an der Zivilisation in den Fremden darstellte, der sich in Wahrheit durch Primitivität auszeichne. Andererseits gelangte Solano in seinem ebenfalls soziopsychologisch angelegten Hauptwerk Melancolía de la Raza Indígena zu durchaus vergleichbaren Befunden, und auch diese Polemik charakterisiert González vermutlich selber am treffendsten, wenn er in seinem Lebensrückblick 1959 schreibt: "Me insulto a mí mismo en los prójimos."430 Die Notwendigkeit dafür, daß Vertreter der indigenen Bevölkerung die Geschicke der jungen Staaten des unabhängigen Kontinents tonangebend mitbestimmten, ergab sich für González in erster Linie aus der Verwurzeltheit, Angepaßtheit und Kenntnis des Lebensraums seitens der Indios. Der Beweis für die Notwendigkeit einer privilegierten Position fiir die Indios innerhalb der künftigen Volksvertretungen in Lateinamerika war für González in ihrer Unbeugsamkeit, in ihrer Nichtassimilierbarkeit und in ihrer Verletzbarkeit gegeben. Die Verbundenheit mit elementaren natürlichen Formen machte zugleich Stärke wie auch Angreifbarkeit der indigenen Bevölkerung aus. Der unermeßliche Schatz ihrer Erfahrungen werde mißachtet und instrumentalisiert. Weder Weiße noch Schwarze fänden zu dieser autochthonen Anpassung; vielmehr behielten beide ihre gewohnheitsmäßige Selbstschmeichelei, Dickköpfigkeit und Lethargie bei. Aquél (el blanco europeo, J. P), naturalmente; éste (el negro, J. P), con exasperación meníngea. El cruce de blanco y negro da un producto amplificador, exagerado y falso. El mulato promete mucho y nada cumple, es jactancioso, impertinente y perdido para el acto, a causa de tanta palabra. Tiene la pereza del negro y la jactancia del blanco. El mulato no sirve...**1
Während hier mulato in der geläufigen Bezeichnung des Abkömmlings einer Kreuzung von Angehörigen der weißen und der schwarzen Rasse benutzt wird, ist in González' Terminologie der gran mulato ein übergeordneter und insoweit transzendenter Begriff, als er den anzustrebenden und in Südamerika anstrebbaren, idealen, aber noch nicht existenten Menschentypus bezeichnet. Abschnitte wie der zuletzt zitierte zeigen überdeutlich die Problematik des mestizaje-Ansatzes auch in der Ausprägung bei González und lassen Zweifel an der Tragfähigkeit einer Theorie aufkommen, die lediglich andere soziobiologische Kategorien (zum Teil überdies dieselben wie die des angefeindeten europäischen Denkens) entwirft, auf ihre konsequente Kritik fíir die Konzeptualisierung der soziologischen Theoriekonstitution indes verzichtet. Als 430 González, El libro de los viajes y de las presencias, a.a.0., S. 52f. 431 González, Mi Compadre, aa.0., S. 90.
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Instrumentarium der Kritik der herrschenden Politikmuster und ihrer Ignoranz der eigenen Herkunft und Identität bewahren González' Kategorien ihre Schärfe. Más aún, en las condiciones peculiares dejadas por el desbarate apocalíptico de las culturas americanas, la civilización de masas irrumpe y liquida con la mayor facilidad las formas culturales híbridas que recién empezaban a aflorar, exterminando 'ab ovo' la posibilidad de surgimiento del individuo suramericano. El resultado, por supuesto, hombres masa, seres apenas 'parecidos al hombre', que no comprenden y, ni siquiera dejan de comprender 'los motivos íntimos de su conducta', los 'fines interiores' de su obrar, que sólo caminan -el caminar es una metáfora de los afanes de la existencia- cuando van para la oficina, cuando vienen del mercado.*32
Nur in der Erkenntnis und dem Ausdruck seiner Hybridität könne der Bewohner Südamerikas zum Individuum werden und die amorphe Massenexistenz überwinden. In den Bildern aus Viaje a pie, die Pinto Saavedra in diesem Zitat anfuhrt, scheint González' romantische Kapitalismuskritik durch, die sich auf die deformierten, entindividualisierten Verhaltensformen der Menschen, nicht aber auf die sie bedingenden Strukturen bezieht. Der positive Gegenentwurf des gran mulato indes, den González allerdings wohlweislich nicht extensiv ausfuhrt, läuft Gefahr, die konkreten Einzelnen unter seine Normen zu subsumieren. Zunächst sollen aber González' Begriffsverwendungen expliziert und seine Wertungen nachvollzogen werden. Sólo la sangre india es suramericana y ella dará consistencia al tipo futuro de nuestro continente, a quien llamo el gran mulato. ¡En este continente aparecerá el gran mulato! En este horno en que se funden las razas hay indicios ya de que aparecerá el tipo armonioso; hay promesas iniciales del perfeccionamiento.433
Die Geschichte der Kolonisierung ist die lange Geschichte einer tiefgreifenden Entzweiung zwischen den Bewohnern des Kontinentes und dessen Natur.434 Angeschmiegt an sie, angepaßt an ihren Rhythmus und in Einklang mit ihrer Schönheit hätten sie gelebt, das Wissen um deren Eigentümlichkeiten und Tücken zum Teil bewahren können. González betont Empathie und Intuition als Quellen dieses Wissens, das die Mysterien der beseelten und unbeseelten Natur nicht durch intellektuelle Durchdringung entzaubern will. "Así es nuestra brujería india; no la de Charcot, manos tensas, ojiabierta, violenta, bárbara."435 Die facultad racial des Indio ist für González ein holistischer Begriff, der Vermögen des Einzelnen wie der Gemeinschaft umfaßt. An der behutsamen Benutzung der Augen, 432 Pinto Saavedra, a.a.O., S. 23f. 433 González, a.a.O., S. 167, und Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 30. 434 Die Entzweiung mit der Natur als Selbstentzweiung des Naturwesens Mensch ist die deutlich an Emersons Naturidealismus angelehnte Beschreibung der Geschichte der Kolonisierung auf philosophischer Ebene. Gegen Ende seines Essays "Die Natur" resümiert Emerson: "Der Welt fehlt die Einheit, und sie liegt zertrümmert und als ungeordneter Haufen da, weil der Mensch mit sich selbst zerfallen ist" (Emerson, "Die Natur", in: Emerson. a.a.O., S. 140). 435 González. Mi Compadre, a.a.O., S. 231.
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des "Spiegels der Seele", und am zurückhaltenden Einsatz des auf den anderen gehefteten Blickes macht er wichtige Unterschiede zwischen dem Umgang des Europäers und des Indios mit ihren Gegenübern fest. Der Indio sende keine Blicke wie Nadelstiche aus und vermeide es, sein Gegenüber zu fixieren und diesen damit in eine verkrampfte Abwehrhaltung zu versetzen. Um seine verletzende und bloßstellende Kraft wissend hüte der Indio seinen Blick, wie der Tiger seine Krallen einziehe. Er reiße die Augen nicht weit und wild auf, zugleich besäßen sie aber die Fähigkeit des Verweilens und strahlten die große Macht der Ruhe aus. Womöglich die höchste Emphase schlägt González in einem Aufruf an den idealisierten Indio als Vater Südamerikas an, der nur im gedachten Zwiegespräch, nicht aber in der Wirklichkeit zu finden ist. Die Stelle findet sich in dem Abschnitt des Gómezbuches, in dem der Höhepunkt des Chaos und der blutigen Zusammenstöße, der sogenannten revoluciones in Venezuela geschildert wird, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts drohten, dieses Land in eine gänzlich ausweglose Situation zu bringen. Als Einschub in die Darstellung der überall im Lande aufflackernden regionalen Erhebungen scheint die Anrufung gleichsam den Autor nicht an seinem Gegenstand verzweifeln lassen zu sollen. Insofern seine Begriffe die Gegenwart beschreiben, beschreiben sie zu überwindende Zustände der gesellschaftlichen Formationen; das gilt für Verhältnisse ebenso wie für die vorfindliche Existenzweise des Mulatten und des Weißen. Erneut fällt das Bild vom ziellosen Hin- und Herlaufen auf: Padres de Suramérica, caciques que recorristeis nuestros ríos y que sabíais coger el pescado sin violencia, ¡protegedme! Indios que sabíais vadear los ríos. Indios silenciosos que mirabais de soslayo al efluvio que emana de los ojos y de todo el cuerpo humano para conocer las intenciones, ayudadme. Indios silenciosos y sufridos que sabíais curar con las plantas de Suramérica; que ablandabais el oro, que oíais los ruidos lejanos en ¡a selva... Padres míos, que estabais unidos a Suramérica y a su Dios como la pulpa del coco a su envoltura, libradme del mulato y del blanco que no saben de dónde vienen y para dónde van.
Innige Erfahrungen mit Indios in intakt gebliebenen Verhältnissen konnte González - er spricht von "Initiation" - auf seiner Wanderung von Medellin nach Buenaventura machen, aus der der berühmte Prosatext Viaje a pie hervorgegangen war. Außerdem erwähnt er die intensive Beziehung zu einem schamanistischen Heiler aus Urabá, der sich El Indio Ladino y Armonioso nannte.437 Neben vielerlei Hinweisen auf dessen umfassende Kenntnisse natürlicher Wirkstoffe und Rezepturen hebt González immer wieder das im Einklang mit natürlichen Rhythmen und Kreisläufen stehende, mit jenem 436 Ebenda, S. 12lf. 437 Vgl. ebenda, S. 204. Bei der Selbstbezeichnung mit ladino handelt es sich um eine interessante sprachpolitische Umdrehung der negativen Konnotation des Hinterlistigen und der Scharlatanerie, die das Adjektiv in Kolumbien besitzt. Vgl. auch: "Según los médicos, el paciente era desconfiado o ladino, no sólo ponía en duda la autoridad y el prestigio del profesional sino que podía fácilmente perjudicarlos" (Diana Obregón Torres, Medicalización de la Lepra: una estrategia nacional, a.a.O., S. 161).
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der Weißen inkompatible und von diesen als Phlegma mißverstandene Zeitgefühl der Indios hervor. Der Tod als zum großen Kreislauf des Lebens gehörendes Element ist einer der großen Verluste, der dem pragmatistischen und linearen Zeitempfinden der Weißen zum Opfer fiel. González hält die auch aus diesen Weisheiten gespeisten Lehren seiner auf individuelle Erkenntnis und Bewußtheit als Voraussetzung zu freieren gesellschaftlichen Verhältnissen abzielenden Philosophie für kommensurabel mit seinen Reflexionen zur Geschichte Groß-Kolumbiens und flicht sie immer wieder in den Text über Gómez ein: ¡No penetramos! Dios está escondido detrás de las zarzas. ¡Metámonos! No importa que salgamos desgarrados. El fin es aumentar la conciencia: Que lleguemos a ser unos viejecitos arrugados y con una gran protuberancia que casi se adivine a través de la piel; que la muerte sea nuestro propio parto.
Entlang der Engfuhrungen seines Mischungskonzeptes liegen auch bei González stets aufs neue soziobiologische und soziohistorische Gewichtungen gleichsam im Wettstreit miteinander. Porque es evidente que sólo et hombre futuro de Suramérica, mezcla de todas las razas, puede tener la conciencia de todos los instintos humanos, la conciencia universal. El suramericano será el hombre completo. Suramérica será la cuna del Gran Mulato,439
Hier belaufen sich die Bedingungen der conciencia universal auf einen eugenischen Reduktionismus. Solcherart begrenzte Begrifflichkeit führt dann zu Messungsversuchen idealer, den Gegebenheiten Lateinamerikas angepaßter, genealogischer Mischproportionen. Die Mechanik des siebenstufigen "Bewußtseinsmessers" und der prozentualen Angabe der idealen Blutanteile spiegeln den Biologismus wider, der den von González verwandten Kategorien auch inhärent ist. González' Interesse an einer Parodie auf den Meßfetischismus der Phrenologen, Anthropometer und vieler anderer darf nicht verkannt werden.440 Im Hinblick auf seine aufklärerische Absicht und seinen pädagogischen Impetus hielt González das Kontinuum des fortschreitenden Bewußtseins aber 438 Ebenda, S. 197. 439 González, Los negroides, a.a.O., S. 23f. 440 Vgl. z. B. Beatriz Urías Horcasitas, die mehrfach von den "mediciones antropométricas" spricht, mit denen Ärzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Mexiko begannen, die Bevölkerung zu vermessen, um so eine objektive Grundlage für die Feststellung von Normalität und Abweichung zu gewinnen (vgl. Beatriz Urías Horcasitas, "Eugenesia e ideas sobre las razas en México, 19301950", in: Historia y grafía. Nr. 17, 7. Jg., Mexiko-Stadt 2001, S. 175f.). Ebenda, S. 185fT„ beschreibt sie die insbesondere sich auf Francis Galton berufende Strömung, die beanspruchte, eine evaluación antropométrica de la población vorzunehmen. Galton, der 1883 als erster den Terminus eugenics verwandte, legte die Überlegungen seines Vetters Charles Darwin einseitig im Hinblick auf die evolutionäre Auslese der Stärksten aus und diente vielen späteren eugenischen Programmen als theoretische Grundlage (vgl. zum Einfluß Francis Galtons auf Bewegungen des 20. Jahrhunderts mit "negativen" und "sozialen" eugenischen Programmatiken: Cleminson, a.a.O.. S. 42ff.). 165
auch für kommensurabel mit einer definierten Stufeneinteilung. Ascender en conciencia galt ihm als der Weg, den jeder Mitbürger idealerweise beschreiten können sollte. Die Selbsteinstuñing und die Identifikation von Mängeln und LUcken waren Schritte dazu.441 Die Kehrseite dieses mes/jzq/e-Diskurses, dessen Kennzeichen die erbliche Festgelegtheit und soziale Unbeeinflußbarkeit ist, ist mit den negativen Stereotypen beschriftet. In der literarischen Kolumne der Nummer fünf von Antioquia, die sich erst äußerst kritisch mit hochtrabender und zugleich nichtssagender Sprache am Beispiel offizieller Bekanntmachungen der Stadt Medellin und Kommentare der Tageszeitung El Espectador beschäftigt, wird dieser Hang zur Verklausulierung inhaltlicher Leere mit der umstandslosen Gleichsetzung "pues los americanos son híbridos, o sea falsos" erklärt. Der Fehler, einen unangemessenen, spanischen und italienischen bello estilo kopieren zu wollen, räche sich dergestalt, daß man "como todo imitador, sólo logra copiar el defecto."442 Daneben finden sich unzählige Beispiele (selbst)ironischer Verwendungen der Hybridität vor allem in den Prosatexten. Zur Gestaltung der Gegenwärtigkeit des Mystischen und des Religiösen in der antioqueñischen Lebenswelt bedient sich der Roman über den Jesuiten Benjamin wiederholt des Stilmittels, direkt die Gedanken der Protagonisten, zum Beispiel die kirchlicher Würdenträger beim Abhalten einer Messe, wiederzugeben. Nachdem sich ihm während der Sonntagsmesse die antioqueñische Idiosynkrasie von der hohen und wirkmächtigen Präsenz jüdischer Erbanteile aufs neue bestätigt zu haben schien, dachte Nepomuceno Jiménez, als nach der Messe die Bäuerinnen durcheinanderliefen, die hohen Brüste halb mit feinen Tüchern bedeckt: "Antioquia tiene sus secretos, como los hebreos; por ejemplo, antioqueña que se une a bogotano no concibe de él: hay disparidad de especies; parece que Dios impide esta hibridación."443 In dem Panoptikum der vielen großen und kleinen Glauben, das dieser Roman auffaltet, wird besonders anschaulich, daß die Kontinuitäten und Diskontinuitäten nebeneinader existieren und nicht aufeinander reduzierbar sind. In der antioqueñischen menschlichen Komödie ist die Rede von der Schwester des mulattischen Novizen Nolasquito, des kleinen Nolasco, was sich gleichwohl zum Leidwesen des Priesters auch leicht auf seine Hemden beziehen ließe, die Rede, deren merkwürdiges Verhalten die Familie sogar einen Psychiater aufsuchen läßt. Der Umstand des Unfertigen, erst noch zu sich selbst kommen Müssenden, wirkt sich hier günstig fìlr das Sorgenkind aus: Lo cierto del caso es que le (der Schwester Nolasquitos, J. P.) dio por asomarse a la ventana a hacer gestos a los transeúntes. De ahí se colige que más bien era boba; además, a priori puede afirmarse que era boba y no loca, pues Suramérica no ha pasado aún la bobada.444
441 Vgl. González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 92f. (die siebte, kosmische Bewußtseinsstufe bleibt dem verborgenen, doch allgegenwärtigen Gott vorbehalten), und González, Mi Compadre, a.a.O., S. 90: "El producto verdadero de Suramérica será 45% indio; 45 % blanco y 10 % negro. Esto último lo necesitamos para la capacidad de impertinencia " 442 Vgl. González, Antioquia, aa.0., S. 180f. 443 González, Don Benjamín jesuíta predicador, Medellín 1995, S. 146. 444 Ebenda, S. 192.
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Dem teilnehmenden Beobachter in der modernen Metropole Caracas stellt sich ihre Polykontexturalität deutlich dar. Gedanken im mittäglichen Gedränge schweifen über die Gleichzeitigkeit der Eigenschaften, die dem Fremden besonders auffallen: die caraqueños seien zu sehr Ilaneros, um Gott zu spüren; sie besäßen die erstaunliche Tugend, ungläubig und dominant zu sein; im Stimmengewirr hört man neben dem Spanischen ebenso gut Englisch wie Französisch. González treibt eine gedankenverlorene Konversation mit seiner Nachbarin im Bus, angezogen von deren schwarzen Augen, und begleitet sie zu ihrem Haus, das sie betritt, um ihn dann, aus dem Fenster schauend, mit "Good bye" zu verabschieden. Wenn daraufhin der über sich selbst verärgerte Flaneur zu sich sagt, "Mulata, híbrida pretenciosa, dominadora", scheint die moderne, kulturelle Bestimmung der Hybridität durch, die den Protagonisten die Möglichkeit einer eigenständigen Erfahrungsverarbeitung und eines Selbstbewußtseins bietet. Sie haben sich moderne, städtische Umgangsformen und traditionale, wertvermittelte Verhaltensweisen spielerisch zu eigen gemacht. Die anschließende Reflexion des Autors unterstreicht die Differenz, die sich in der Figur dieser flüchtigen Bekanntschaft manifestiert: "Luego comprendí cómo el origen de los insultos contra un pueblo puede estar en el desprecio de una mujercita divorciada de hace un mes. ¡Y nos creemos filósofos y observadores!"445 In dieser Szene kennzeichnet das Spiel mit den klischeebeladenen Projektionen der Gesellschaft, die durch die während des Gesprächs im Bus fallengelassene Bemerkung über die nicht lange zurückliegende Scheidung zusätzliche Nahrung erhalten, den Autostereotypen und den beiden zugrundeliegenden, materiellen Substraten die unruhige, hybride Persönlichkeit. Ihre Logik bleibt dem beunruhigten Erzähler verschlossen, der nur die Inkompatibilität zu seiner Logik konstatieren kann und, dieser folgend, über die Residuen der dem Volk angetanen Verletzungen nachsinnt. Zwischen Biologie und Geschichte zerfließen bei González die Grenzen immer wieder. Die aus konstitutioneller Schwäche und Anfälligkeit resultierende Hypochondrie und Defizienz können historisiert und empfunden, der Schritt aus dem Bann ins Bewußtsein getan, aus schicksalshafter Krankheit kann ein bewußtes Leiden werden, das nach den Ursachen dieses Zustands sucht. "Todo híbrido es enfermo. El híbrido sufre."446 Verlauf und Resultate der schon mehrfach erwähnten antioqueñischen Siedlungsbewegung dienten González als Beispiel für synthetisierende Verschmelzungsprozesse, bei denen ungünstige Eigenschaften, die die sich mischenden Bevölkerungsgruppen mitgebracht hätten, in den neu geschaffenen Verhältnissen überwunden worden 447 seien. In Lateinamerika, der großen Bühne dieses historischen Dramas der Rassenverschmelzung und der Herauskristallisation jenes Typs, der die einzelnen Begrenzungen 445 González. Mi Compadre, a.a.O., S. 187. Die Beschreibung der Szene, die hier kommentiert wird, beginnt ebenda, S. 185. 446 González, Los negroides. a.a.O., S. 85. 447 Vgl. ebenda, S. 46.
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einst hinter sich lassen werde, übe Venezuela eine Katalysatorfunktion für diesen Prozeß aus. Bolívar verfolgte systematisch die Politik der pluriethnischen Durchmischung seiner Heere. González rekonstruiert genau die riskante Gratwanderung, die Bolívar mit seiner Politik beschritt: die Politik der höchstmöglichen Teilnahme der negros, mestizos, mulatos y zambos sollte stets dem Politikziel der Unabhängigkeit untergeordnet bleiben. Die Kampagnen von Boves, Padilla, Piar und anderen caudillos vor allem aus den llanos zeigten, wie leicht und rasch die entfesselten Aufstände der entrechtetsten, der nicht-weißen Teile der Bevölkerung in - manipulierbare Rassenkriege gegen die albocracia umschlagen konnten. Die guerra a muerte war der vom Standpunkt dieses Politikziels erfolgreiche Schachzug um den kriegsentscheidenden Gewinn der Mehrheit der nicht-weißen Massen. Bolivars tiefsitzende Sorge über eine ihrerseits ethnisch bestimmte pardocracia konnte dieser Erfolg freilich nicht zerstreuen. "¿Bolívar quiso este triunfo de los mulatos? (Entiendo por mulato todo individuo de sangre mezclada). Este fue uno de los elementos de su tragedia."448 John Lynch, der ebenfalls die These vertritt, ausschlaggebend fiir Bolivars Entscheidung flir die guerra a muerte sei sein Interesse an der Verhinderung eines entfesselten Rassenkrieges gewesen, schreibt im gleichen Zusammenhang: Al tomar estas decisiones de vida o de muerte (die von Bolívar angeordneten Exekutionen der weißen Anführer der antirepublikanischen, mit in erster Linie aus pardos bestehenden Söldnerheeren durchgeführten Erhebungen, namentlich werden hier Padilla und Mariño erwähnt, J. P.), Bolívar no ejercía el poder aislado de las presiones políticas; respondía a intereses y expectativas, porque aun como dictador tenía que representar ciertos sectores de la sociedad. Bolívar fue hasta cierto punto un prisionero de su ambiente. Donde se diferenció del resto de su clase fue en su conocimiento de las verdaderas limitaciones de la independencia.M9
In der Erkenntnis dieser "wahrhaften Beschränktheiten" des Unabhängigkeitsprozesses, und das heißt also, der Resistenz der Dynamik ethnisch bestimmter Diskriminierung und des durch sie hervorgerufenen Hasses gegenüber politischen und sozialen Strukturänderungen, besteht für die Autoren demnach ein wesentliches Moment von Bolivars Tragik. González läßt an dieser Stelle die durch Briefe belegte Episode folgen, derzufolge Bolívar schließlich gegen den erbitterten Widerstand seiner Familie, einer familia típicamente mantuana, seine Nichte zur Heirat mit dem mestizischen General Laureando Silva bewegen konnte, was ihm auch im persönlichen Umkreis die Zuschreibung der Verrücktheit eintrug. Die mezcla de todas las razas ist zunächst die unumgängliche Voraussetzung dafür, daß die heterogenen, marginalen und depravierten Elemente der Gesellschaft Bedingungen zu ihrer Entwicklung finden. Diese Elemente sind in erster Linie die indigene und schwarze Bevölkerung, hinzu kommen Angehörige einer von großer sozioökonomischer Unsicherheit betroffenen Mittelschicht, die mit der Entwicklung der Städte Bogotá, Cali, Caracas, Guayaquil und Medellin und der sie umgebenden Industrien seit der 448 Ebenda,S. 52. 449 John Lynch, Más allá de la revolución: Bolívar y el ascenso de la pardocracia, a.aO., S. 235.
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Jahrhundertwende deutlich angewachsen war. Hybridität kann die Verschmelzung der Elemente befördern, die dann auch neue Qualitäten im sozialen Zusammenleben hervorbringt. Das sind für González immer auch Bedingungen, die dazu beitragen, die aus dem Eitelkeitskomplex heraus gegen sich und andere gerichteten Repressionen zu überwinden und zu unterlassen. Die Inkommensurabilität der Elemente gibt in Lateinamerika die Hybridation als die angepaßte Gestaltungsform ihrer Verbindung vor. Sie dient der Entwicklung der Fähigkeit des Individuums, sich zu erkennen und auszudrücken. In der Hinderung an dieser Selbsterkenntnis, die sich durch die Verinnerlichung der sie rechtfertigenden Ideologie noch verstärkte, lag ein Ankerpunkt der Unterdrückung und Abhängigkeit von Kulturen und Gesellschaften Lateinamerikas seit der conquista. Selbsterkenntnis bei González meint dabei stets die Anerkennung der eigenen historischen Wurzeln, die aus ganz unterschiedlichen Strängen bestehen. Diese Fasern und Stränge sind in machtbestimmten, soziohistorischen Verhältnissen mit- und gegeneinander verwachsen, bei den betroffenen Gruppen haben sie sich in Gewohnheiten, Zuschreibungen und Stereotypen sedimentiert; heute sind sie kulturell zu begreifen. Die zukunftsträchtige Anverwandlung und Umsetzung ihrer Genealogie bestehen für die Lateinamerikaner in erster Linie in der Erkenntnis, daß in allen Enwicklungsstadien jenes Wurzelwerks immer wieder fremde, andere, inkompatible Elemente seinem Wachstum hinzuflossen. Ein historisch und kulturell vermittelter Begriff von Selbsterkenntnis setzt seine Erforschung und Verbreitung voraus. In der Begründung des Statutes für die Universidad Grancolombiana heißt es: Pero este complejo (der Komplex, der sich für die lebende Generalion aus dem Umstand ergibt, die Abstammung nicht eindeutig klären zu können, der infolgedessen zu Geschichtskonstruktionen, Ursprungsmythen und Überkompensationen von Illegitimitätsgefühlen führt, und den González für ein allgemeines sozialpsychologisches Phänomen hält, J. P.) es terrible en Suramérica. Nuestra individualidad está apachurrada, a causa de estos hechos. lo. En cuanto negros, somos esclavos, propiedades de europeos, fuimos prostituidos. 2o. En cuanto indios, fuimos descubiertos, convertidos; discutieron, 'si teníamos alma'; rompieron nuestros dioses; nos prostituyeron moral, religiosa, científicamente. 3o. En cuanto españoles, somos criollos, sin poder 'probar la pureza de sangre'. 4o. Lo peor: Que somos mezcla de las tres sangres; ocultamos como un pecado a nuestros ascendientes negros e indios. Somos seres que se avergüenzan de sus madres, o sea, los seres más depreciables que pueda haber en el mundo. En redalidad, tal mezcla es un bien, pero en la conciencia tenemos la sensación del pecado. Vivimos, obramos, sentimos el complejo de la ilegitimidad. Por eso el suramericanismo simula europeísmo; por eso es dilapidador, prometedor, incapaz: Porque tiene vergüenza del negro y del indio.
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Wenig später wird unter den wichtigsten Zielen der Universität genannt, daß "mediante la cultura practicada en esta Universidad, el grancolombiano manifieste su individualidad mulata desfachatadamente".4S0 Als sein vitalistisches Element umfaßt González' Begriff der Selbsterkenntnis aber auch die psychologische Entdeckung des Selbst. So beginnen die Negroides mit dem Bekenntnis des Autors, daß dieser selbst eine ganz typische, lateinamerikanische Sozialisation durchlaufen habe: "Crecí con los jesuítas; fui encarnación de inhibiciones y embolias; no fui nadie; vivía de lo ajeno: Vivía con los Reverendos Padres."431 Es folgt in kurzen Zügen die Beschreibung des eigenen weiteren Erfahrungsweges, der über die strikte Antithese und die absolute Negation, über den unversöhnlichen Protest und die Relegation vom Colegio San Bartolomé, über die vollständige Entblößung von allen fremden Hüllen zu einer Erkenntnis seiner Selbst und schließlich auch zu einem höheren Verhältnis zur Religion führte. In dem Buch El remordimiento. Problemas de teología moral beschrieb González mittels der Selbstanalyse eingehend eigene als typische Konflikte und als Ergebnisse der katholischen Erziehungskultur in Lateinamerika.452 In González' Modell des Weges zum emanzipatorischen Handeln steht die Selbsterkenntnis am Beginn; sie ist dessen Voraussetzung. Daher exerziert er sie als methodische Selbstvergewisserung immer wieder vor und bedient sich dabei oft literarischer Vorbilder als Medium und Spiegel. Im Bolivarbuch sind es getade die Fremdheit und die schlechten Erfahrungen Kunigundes in bezug auf die Lateinamerikaner, die den Blick auf die eigene, fließende und wechselhafte, sowohl in kultureller wie in historischer Hinsicht hybride Identität freilegen. Ironischerweise gibt in der berühmten Paraguay-Episode des Candide die desventurada Cunegunda dem (noch) in sie verliebten Candide, dem die Einfalt in seinen Namen eingeschrieben ist, einmal mehr Anlaß, die optimistischen und teleologischen Lehren seines ersten Lehrmeisters Pangloss zutiefst infrage stellen zu müssen. Der vorfindliche Zustand der Rassenmischung ist keinerlei Idyll, genau deswegen muß er erforscht werden. "Es que somos complejos, un ensayo de la mezcla de todas las razas y en nosotros están latentes todas las supersticiones y tormentos místicos."453 Nicht immer erreichte González einen so hochkomplexen Begriff vom Wechselspiel zwischen der Evolution der Gattung und dem Einzelnen wie in seinem großen Essay über Sigmund Freud und die Psychoanalyse. Er schrieb diese Abhandlung für die Nummer dreizehn der Zeitschrift Antioquia, die im November 1939 erschien und aus 450 González, a a O . , S. 96f. 451 Ebenda, S. 17f. 452 '"Ley: el remordimiento produce propósitos, modificaciones' y 'El dolor es acicate. Sentir remordimiento equivale a odiarse, a estar descontento', teoriza Fernando González Ochoa en su estupendo libro 'El Remordimiento', cuya lectura tanta falta sigue haciendo al pueblo colombiano" (Octavio Hernández Jiménez, "Leyendas caldenses", in: Nueva revista colombiana de folclor, Bd. 5, Nr. 18, 12. Jahrgang 1998, S. 41). Hernández Jiménez orientiert seine Interpretation der von mestizischen Teufeln und gespensterhaften Nonnen bevölkerten, caldensischen Legenden unter anderem an González' Beobachtungen über die katholische Mentalität. 453 González, Mi S. Bolívar, a.a.O., S. 56. Die Interpretation der Episode beginnt ebenda, S. 54.
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Anlaß von Freuds Tod im September zuvor ihn auch auf dem Titelblatt portraitierte. Die Psychoanalyse, sowohl als Theorie wie auch als Technik, spielte für ein Konzept, in dessen Mittelpunkt die conciencia stand, naturgemäß immer eine bedeutende Rolle. Grund für González, über einen Nachruf für den großen Aufklärer hinaus den Anlaß auch für die Verfassung eines knappen Kompendiums einiger seiner wichtigsten Erkenntnisse zu nutzen, "fue el ver que tales insultos (die zu erwartenden, aus Anlaß von Freuds Tod in Südamerika bereits erschienenen, J. P.) se hacían en nombre del cristianismo católico, o mejor, usurpando ese nombre."454 Das Kompendium beinhaltet die Theorie des Unbewußten, die psychoanalytische Therapie, die Traum- und die verschiedenen Triebtheorien, Freuds Engagement für den Frieden, einen der vielen Gründe, die ihm die erbitterte Feindschaft des Faschismus eintrug, und einige Kunst- und Mytheninterpretationen. Der Essay schließt mit einem tour d'horizon entlang der anachronistischen und seiner Aufgabe der Seelsorge hinderlichen Sexualfeindschaft des Klerus und stellt dieser Schizophrenie das wissenschaftliche Ethos Freuds gegenüber, der unbeirrt und unvoreingenommen geforscht habe, conditio sine qua non aller wissenschaftlichen Erkenntnis von Wirklichkeit.455 El origen del psicoanálisis y demás teorías freudianas lo hallamos en la doctrina del epifenomenismo. Esta es una doctrina psicológica que nació a causa del progreso fisiológico. Ambos fenómenos ocurrieron en estos últimos cincuenta años. Observaron que la conciencia no alumbra sino la cima de los sucesos anímicos, o mejor, que la vida consciente no comprende sino el último proceso de los hechos íntimos.4*6
Entlang dieses Gedankens, der Freud neben Darwin in die Tradition der großen Entzauberer anthropozentrischer Allmachtstheorien stellt, entfaltet González seine Darstellung. Er beschreibt die Theorie des Unbewußten als eines Bereiches innerhalb eines dynamischen Begriffs der individuellen und kollektiven Psyche und als einer das schließliche Handeln wesentlich entscheidenden Kraft. Die Handlungsverläufe lassen sich ohne dessen Erforschung nicht verstehen. Dieses Unbewußte wird nun nicht philogenetisch verkürzt (und damit den kulturanalytischen Aspekt in Freuds Denken verkennend) als lediglich unbekannter Faktor im Entstehungsgefuge des Handelns eines Individuums begriffen, sondern als Ablagerungsstätte der Träume, der Irrtümer und der Illusionen früherer Generationen. Enttäuschungen und vorantreibende Hoffnungen haben sich darin ebenso eingegraben wie die Spuren der Evolution und des Triebschicksals des einzelnen.
454 González, Antioquia, a.a.O., S. 512. 455 "La ciencia tiene periodos de análisis, de investigación analítica hecha con gran entusiasmo por visionarios, que trabajan sobre hipótesis y tiene periodos de síntesis, que suceden siempre a los de análisis, y durante los cuales la mente valora y ordena los descubrimientos hechos en varias ramas del saber" (ebenda, S. 513). 456 Ebenda, S. 505. 171
Tales complejos se componen de instintos, deseos, pasiones y reacciones. Ese subconsciente pugna por manifestarse y se manifiesta, ya en actos aprobados, ora en sueños, ora en actos indirectos, disfrazados como fobias, manías, errores, lapsus etc. En otras palabras, la vida externa o actos son índices de los complejos ancestrales que componen el subconsciente.*57
Auslegungen wie diese wiesen deutlich Uber die in Kolumbien herrschende, positivistische Psychologie in der Tradition von Bentham und Spencer (und zugleich über viele andere Stellen im eigenen Werk) hinaus, denen das manifeste Verhalten als die entscheidende Erkenntnisinstanz galt, und bereiteten ein historisch-kulturelles und vielschichtiges Verständnis von Identität vor. González insistierte auf der evolutiven und kulturellen Historizität des Unbewußten, dessen Entdeckung er als klare Folge der vorausgegangenen Wissenschaftsrevolutionen in Biologie und Zoologie interpretierte. En cuanto al subconsciente, allí está acumulado todo el acervo hereditario de la escala animal; allí bullen, como infinito larvado, todos los instintos vitales, no sólo los del reino animal, sino también los del mineral. Esta noción del subconsciente es un verdadero aporte darwiniano. Sin Lamarcky sin Darwin no se puede concebir el subconsciente tal como hoy lo hacemos.*}i
Das Bedürfnis, in den neuen Wissenschaften eine einheitliche Weltsicht zu konstituieren, läßt sich in solchen Sätzen durchaus feststellen; ein telos, etwa im Sinne Lamarcks, aber kommt nicht mehr infrage; vielmehr nimmt González den Kerngedanken der Entzauberung wieder auf, wenn er ihre Ergebnisse bildlich faßt: "Yace (der Mensch, J. P.) sobre el esferoide terrestre, sin providencia, sin ayuda de Dios. Parece un pingüino, pájaro manco; tiene alas, pero engañosas e incipientes."459 Jene Ausprägung von Vervollkommnung, wie sie seit Francis Galton und den von Emst Haeckel inspirierten Monistenbünden in Europa zunehmend die eugenischen Diskurse beherrschte und als das mit mejoramiento und perfeccionamiento umrissene Ziel auch ideologisch lateinamerikanische Immigrationsprogramme stützte, wies González stets von sich. Er empfahl den Biologen vielmehr, die moderne evolutionäre Wirklichkeit in Lateinamerika zu studieren, die nicht in "sich gleichenden Formen", sondern in Hybridität bestehe. En Suramérica se ven narices, ojos, frentes, labios que son profundas simas, volcanes, desiertos, tempestades, perversiones; casi todo es monstruoso. Hay tanta variedad de formas y tan bruscas, tan sin acabado y armonía, que el biólogo no puede menos de pensar que aquí existe el porvenir y existe una antiestética realidad.*60
Neben solchen karikaturhaft-ironischen Zeichnungen griff González einerseits in seinen zahllosen, knappen und luziden Gesellschaftsbildern immer wieder auf stereotypische Konnotationen soziobiologischer Begriffe, gerade auch der Hybridität, zurück. 457 458 459 460 172
Ebenda, S. 509. Ebenda, S. 508. Ebenda, S. 509. González, Los negroides, aa.0., S. 81.
Seine Verwendung der Hybridität warf andererseits zugleich die Frage auf, ob sie ein Weg ist, auf dem die Muster der Wahrnehmung und Anerkennung des Anderen gefördert werden. Seither erproben dies kultursoziologische Theorieansätze an immer mehr Gegenstandsbereichen. Kamen sie in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch vorwiegend aus der lateinamerikanischen Geistesgeschichte, in der der eo ipso zwischen ethnischer und kultureller Ausprägung oszillierende mestizaje immer eine zentrale Rolle spielte, so wird seit einem Vierteljahrhundert später die kulturelle Hybridisierung weltweit als soziologisches Erkenntnisinstrument immer wieder neu erfunden und erprobt. Wie von den Lateinamerikanern exemplarisch vorgeführt, umgreift seine Umfangslogik ebenso die Form der Erkenntnis und der Darstellung wie auch die Heterogenität und Indvidualität der in ihren Gegenstand eingehenden Elemente. Das Ende des künftigen Entwicklungsweges der Hybridität ist vorerst nicht absehbar.
5. Schlußbetrachtung In zwei kurzen Abschnitten sollen am Ende nochmals die Kernaussagen der beiden Autoren nachvollzogen und die Kritik der soziobiologischen Kategorien anhand zentraler Passagen überprüft werden. Der zweite Abschnitt streift mit einem Blick den Vorschein auf spätere Umwertungen, den der Gang der Untersuchung im nachhinein in einigen Denkfiguren ausmachen kann. 5.1 Parallelen und Differenzen bei Sarmiento und González In seinen eingehendsten Schilderungen des Lebens der indigenen Bevölkerung wird zugleich auch Sarmientos tiefe Ambivalenz zwischen der Einflußkraft der sozialen Organisation zwischenmenschlicher Verhältnisse auf deren moralisch-zivilisatorische Qualität und Entwicklungsfähigkeit einerseits und der Beharrlichkeit (negativer) anthropologischer Konstanten andererseits am deutlichsten. Sie ließe sich auch als die Unentschiedenheit und nicht endgültige Entscheidbarkeit zwischen Hoffnung und Resignation darstellen. Fuera de las cacerías y la guerra, no hay autoridad alguna que evite las querellas y los robos entre unos y otros. Cada familia arma su toldo a una legua o más de distancia de la de su vecino, lo que pasa por precaución de guerra, para no ser sorprendidos; pero es además medida de buena vecindad, a fin de apartar las ocasiones de reyertas y de robos, de venganzas y renco-
461 Sarmiento, a.a.O., S. 57. Sarmiento stützt sich hier auf das 1870 erschienene Buch Una excursión a los indios ranqueles von Lucio Víctor Mansilla, der dies in erklärter Gegenabsicht zum Ansatz des Facundo aus der Sicht der Indianer verstanden wissen wollte und mit der öffentlichen Erinnerung seiner Kritiker "que la constitución quiere que todos los que nazcan bajo nuestro cielo tengan iguales posibilidades de ganar su pan cotdiano" gerade bei Sarmiento Zustimmung erzielen mußte.
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Für die Familie gilt, daß der Vater nicht einmal Autorität beansprucht, geschweige denn diese für Erziehungsaufgaben einsetzte; auf der Ebene direkter zwischenmenschlicher Regungen ist für den Fremden höchste Vorsicht immer dann angebracht, wenn sich ihm einzelne Indios scheinbar freundlich nähern. Über dieses Inferno von gewaltsam ausgetragenen Streitigkeiten, von Mißtrauen, Mißgunst, Haß und Rache des Lebens in der südlichen pampa läßt sich zusammenfassend kein treffenderer Satz sagen als: "No hay juez de paz instituido; no hay comandante del campo, ni guardia de policía. Todo está abandonado al sentimiento de la propia conservación."442 So sehr den Araukanern und dem Ranquele-Volk ebenso wie der wilden Natur, in der sie leben, die Immergleichheit von Gewalt und Gegengewalt eingeschrieben scheint, so unversehens beschreibt der Autor gesellschaftlich-geschichtlich induzierten Fortschritt im weiteren Verlauf seiner Skizzierung des Geschicks jener Regionen. Zunächst mißt er den Grad des Fortschritts an dem der sukzessive errungenen Seßhaftigkeit und der Bewältigung der mit ihr sich einstellenden Kulturaufgaben. Sodann fielen im Zuge dieser Veränderungen vor allem den Frauen sozialisierende und organisierende Verantwortungsaufgaben zu, deren Übernahme zugleich eine ferne Emanzipationsperspektive gegenüber den häuslichen Despoten eröffne, die überdies durch den langsamen Kontakt mit europäischen Kulturen nur Verstärkung erhalten werde. Schließlich wird erneut auf das Doppelgesicht der Kriege verwiesen, die auch den Kontakt der Indios mit anderen einfachen Bevölkerungsschichten in den Heeren förderten.463 In der Produktivität dieser Frauen, in ihren all den geschilderten Widrigkeiten zum Trotz erbrachten Leistungen und handwerklichen Gütern erscheint im Ansatz eine eigenständige Qualität, die auf höherer Stufenleiter als die im Facundo romantisch geschilderte Durchsetzungskraft der Menschen in der Wildnis steht. Der tipo bastardo, sin fisonomía, deficiente de energía física y elemental als Quintessenz des Ergebnisses der ethnischen Mischungsprozesse läßt indes keinen Zweifel an seiner Eigenschaft, als Hemmnis allen zivilisatorischen Fortschritt zu erschweren, wenn auch Sarmiento wie üblich dessen Beschreibung seinen Quellen überantwortet. Alfredo Palacios macht die Dualität des angelsächsisch determinierten Zivilisationsund Fortschrittsbegriffs und der argentinisch-lateinamerikanischen Natur zum Ausgangspunkt seiner Kritik an Sarmiento. Die "simplicidad de estos conceptos considerados antagónicos"464 bemüht er sich, in verschiedenen typischen Begriffskonstellationen Sarmientos nachzuweisen: in der unilateralidad inaceptable, mit der er den Konflikt zwischen Unitarismus und Föderalismus als den Kampf von Buenos Aires um "Zivilisation, Industrie und europäischer Immigration" gegen die koloniale Nostalgie in Eintracht mit caudillistischem Terror der Provinzen beschreibe, die in einer Hypostasierung des Widerspruchs von Stadt und Land gipfele. Dieser drücke sich im Gegensatz zwischen den ländlichen Menschen und Strukturen, den wilden Horden, den gauchos, den montoneras also, die sich allzu leicht für jedwede Söldnerdienste anheuern ließen und 462 Ebenda, S. 58. 463 Vgl. ebenda, S. 58f. 464 Palacios, a.a.O., S. 185.
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schon auch mal mit Arabern, Australiern und Tartaren verglichen werden, zum Urbanen Hort des Fortschritts aus. Insbesondere untersucht Palacios die Isotopie der solcherart soziokulturell determinierten, nichtstädtischen Elemente mit den geographischen Gegebenheiten. La figura del caudillo riojano aparece descrita por Sarmiento, surgiendo del medio geográfico. Lo considera una manifestación de la vida argentina expresada por las peculiaridades del terreno. Es ur. producto de la fatalidad geográfica. Siendo lo que fue -dice Sarmiento- no por un accidente de su carácter, sino por antecedentes inevitables y ajenos a su voluntad.465
Palacios geht aber über diese Konstatierung einer undialektischen Dualität im Denken Sarmientos hinaus und sucht nach ihren Gründen. Dabei formuliert er für den Facundo wortwörtlich, was auch hier als These für die Interpretation des Buches über den Konflikt und die Harmonien der Rassen aufgestellt werden soll: die Abwesenheit des Soziologen466 an neuralgischen Punkten seiner Ausfuhrungen. Wie die unbehauste Natur neben Schlangen, Panthern, Leoparden auch die Anlage zum caudillo im menschlichen Charakter hervorbrachte und ihr zum Durchbruch verhalf, so besetzt die Fatalität rassisch zuzuordnender, negativer Konstanten die Lücke beim verzweifelten Versuch, den Kreislauf der Gewalt zu erklären. Die Kritik an González' Ausführungen zur ethnischen Mischung und zu seinen Zukunftsausblicken für deren Ergebnis zielt in die gleiche Richtung. Sozialpsychologische Stereotypen, die ethnisch zugeordnet werden und im Kern ahistorisch sind, setzen sich an entscheidenden Punkten der Gedankenführung durch. Zum einen kennzeichnen die Kategorien, mit denen der Vermischungsprozeß beschrieben wird, die historisch entstandene Realität in kritischer Absicht. Sie stellen die Ergebnisse der gewaltsamen Entzweiung der Bewohner des Kontinents von ihrer Natur fest: Demütigung der indigenen Bevölkerung, Versklavung und Unterdrückung der aus Afrika importierten Arbeitskräfte, Selbstverleugnung der Kreolen. "¡Qué enemiga de sí misma es aquí la vida!",467 lautet folgerichtig die Diagnose des entstandenen, mit sich selbst entzweiten Gesellschaftszustandes und bereitet die in Denkfiguren Nietzsches geführte Kritik vor. Die Kritik des Christentums, die den Menschen anstiftet, heuchlerisch vor sich selbst seinen Leib und seine Sinnlichkeit zu verleugnen, wird in seinem erzwungenen Verdrängungszusammenhang anilog der des complejo colonial entfaltet. Nur im Plural, nur von den Religionen wird als einer symbolischen Leistung der Menschen, Leitlinien und anzustrebende Ideale zu entwerfen, gesprochen. Las primeras moradas del superhombre scheinen in cer mühsamen Disziplinierung der Rasse, sich zum zweibeinigen Gang aufzurichten, scion durch, wenngleich der Mensch animal rationale bleiben wird. "Bolívar 465 Ebenda, S. 189. Hervorhebungen vom Autor. 466 "De ahí