Hinkehr zu Gott: "Buße" im evangelisch-reformierten Gottesdienst 9783788731595, 9783429043193, 3788731591

»Buße« wie auch »Sünde« sind in den Ohren vieler Menschen Reizworte. Damit verbinden sich häufig Vorstellungen von Unter

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German Pages 280 [292] Year 2017

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Hinkehr zu Gott: "Buße" im evangelisch-reformierten Gottesdienst
 9783788731595, 9783429043193, 3788731591

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Evangelisch-katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt

Herausgegeben von Alexander Deeg / Erich Garhammer / Benedikt Kranemann / Michael Meyer-Blanck

Band 4 Baschera Hinkehr zu Gott

Luca Baschera

Hinkehr zu Gott »Buße« im evangelisch-reformierten Gottesdienst

Vandenhoeck & Ruprecht / Echter Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3159-5 ISBN 978-3-429-04319-3 (Echter Verlag) Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Christian Moser, Zürich Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier

Pierangelo Baschera (1942–2014) genitori dilectissimo

Vorwort

Der vorliegende Band stellt die überarbeitete Fassung einer Arbeit dar, die im Herbstsemester 2015 unter demselben Titel von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich als Habilitationsschrift angenommen wurde. Danken möchte ich zunächst Herrn Prof. Dr. Ralph Kunz, der als äußerst offener und großzügiger theologischer Gesprächspartner die Entstehung dieser Studie mit zahlreichen inspirierenden Anregungen begleitet hat. Mein Dank gilt gleichermaßen dem Leiter des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte der Universität Zürich, Prof. Dr. Peter Opitz, sowie dessen Mitarbeitenden. Das Institut, an dem ich bereits seit etlichen Jahren als Wissenschaftlicher Mitarbeiter wirken darf, entwickelte sich für mich nicht zuletzt aufgrund der kollegialen Atmosphäre und der dort entstandenen Freundschaften gleichsam zur »akademischen Heimat«. Gedankt sei ferner den Herausgebern der Evangelisch-katholischen Studien zu Gottesdienst und Predigt für die Aufnahme des Manuskripts in dieser Reihe und namentlich Herrn Prof. Dr. Michael MeyerBlanck, der besagte Aufnahme anregte. Mein größter Dank gilt schließlich meiner Ehefrau Anya sowie meinen Eltern Laura und Pierangelo für ihre Liebe und stetige Unterstüzung. Leider kann allerdings mein Vater, der kurz vor Abschluss der Arbeit plötzlich verstarb, ihre Publikation nicht mehr erleben. Seinem Andenken sei dieses Buch gewidmet. Winterthur, im Herbst 2016

Luca Baschera

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Die Krise der Praxis liturgischer Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Debatten in der Fachliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Chancen einer Wiedergewinnung? Ziel und Anlage der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Motivation und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 2

I.

Das anthropologisch-expressive Verständnis des kirchlichen Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 8 11

1. Die Natur des christlichen »Kultus« nach Schleiermacher 1.1 Grundsätzliche Expressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Akzidentelle Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 »Kultus« als menschliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 »Kultus« als εÆ νε ργεια des frommen Bewusstseins . . . . . 2. Gottesdienst, »Performanz« und das Erbe Schleiermachers 2.1 Expressiv-energetisches Gottesdienstverständnis heute 2.2 Der Gottesdienst als grundsätzlich expressive »Performanz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 29

II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis . . .

30

1. Kirchlicher Gottesdienst als pneumatisch-formatives Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die »Methodist Connection«: Stanley Hauerwas, Donald Saliers und William Willimon über Liturgie und Charakterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Der Zusammenhang von Charakterbildung, »story« und Gemeinschaftspraktiken . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Liturgie und Charakterbildung bei Saliers und Willimon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Liturgische Praxis als »Schlüssel zur christlichen Ethik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 14 16 20 23 24

31 31 31 33 36

X

Inhalt

1.2 Weitere Impulse und Ergänzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Bernd Wannenwetsch: Gottesdienst als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.1 Der Gottesdienst als Grundlage der »homologen« Identität der Christenbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.2 Der Gottesdienst als immer aktuell bleibender »Beginn« christlicher Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.3 Die stete Angewiesenheit der Kirche auf den Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 38

.

39

.

42

.

43

1.2.2 James K. A. Smith: Gottesdienst als göttliche Pädagogik des Verlangens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Philosophisch-theologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2 Intentionalität, Verlangen und Imagination . . . . . . . . . . . 1.2.2.3 Liturgien als formative Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.4 Christliche Liturgie vs. säkulare Liturgien . . . . . . . . . . .

45 45 50 53 54

1.2.2.5 Christliche Liturgie als Ort des heiligenden Handelns Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 58

... ... 2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im kirchlichen Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Gottesdienst als pneumatisches Geschehen . . . . . . . 2.1.1 Handeln Gottes, Handeln des Menschen und deren »Ineinander«: Peter Brunner . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Gottes Wirken in Liturgie und Sakrament bei Gerardus van der Leeuw . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die Selbstvergegenwärtigung Gottes im Gottesdienst: Manfred Josuttis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Theologische Modelle des Zusammenwirkens von Gott und Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 »Nous prions comme par sa bouche«: Das Zusammenwirken von Gott und Mensch im Gottesdienst nach Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Gottesdienst als Kommunikationsereignis des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Pneumatisch-formative κι νησις . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 74

III. Die Wirklichkeit des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

1. Die Realität der Heiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Pneumatische Christusgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Freiheit zum Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die »habituelle« Gerechtigkeit der Wiedergeborenen 2. Die zweifache »Inchoativität« der Heiligung . . . . . . . . . . . .

76 77 82 85 88

59 60 60 62 64 65 66

Inhalt

XI

IV. Der metanoetische Kern des Gottesdienstes: Die Umkehrliturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

1. Historisches zur »Buße« im reformierten Gottesdienst . . . . . 1.1 Die »Offene Schuld« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das »Confiteor« und dessen Modifikationen . . . . . . . . . 1.3 Die neue Deutung des »Bußteils« im reformierten Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die reformierte Umkehrliturgie am Beispiel des Genfer/Straßburger Formulars von 1542 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Besinnung auf die eigene Sündhaftigkeit . . . . . . . . 2.1.2 Exkurs: Was ist »Sünde«? Eine reformierte Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.1 Die Anfänge reformierter Hamartiologie und deren Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2 Weiterführung: Abraham Kuyper (1837–1920) und sein Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.3 Jenseits der Theologie: Der Einfluss reformierter Hamartiologie auf die »Reformational Philosophy« . . . . . . . . 2.1.2.4 Die Spezifizität reformierter Hamartiologie . . . . . . . . . .

94 95 99 103 103 106 106 110

. 111 . 114

. . 2.2 Epiklese: Die Bitte um »droicte penitence« . . . . . . . . . . 2.3 Doxologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Zuspruch der Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Bundeserneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gottesdienst als Ort der μετα νοια . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119 122 122 129 129 132 136

V. Der Vollzug der Umkehrliturgie – Materialliturgische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Liturgie der deutschsprachigen Schweiz . . . . . . . . . 1.2 Die »Reformierte Liturgie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das »Evangelische Gottesdienstbuch« . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Weg« und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Liturgie der deutschsprachigen Schweiz . . . . . . . . . 2.1.1 Sündenbekenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Gnadenzusprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Ausgeformte Bußformulare . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die »Reformierte Liturgie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Eingangsgebete zum allgemeinen Gebrauch . . . . . 2.2.2 Eingangsgebete zum Kirchenjahr . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Eingangsgebete zu Themen und Anlässen . . . . . . .

142 144 145 146 147 148 148 151 153 153 156 158 159 161

XII 2.3 Das »Evangelische Gottesdienstbuch« . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Vorbereitungsgebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Bußgebete mit Kyrie und Gloria . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Eingangsgebete (Grundform II) . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Offene Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Gemeinsame Beichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Bekenntnis der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Epiklese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Gnadenzuspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Bundeserneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das »Zeremoniale« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Akteure und Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Stille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Gebärden und Körperhaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unentbehrlichkeit der Form und Interdependenz von Form und Inhalt im liturgischen Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

162 162 164 165 166 167 168 168 171 172 174 175 176 179 182 186 193

Anhang A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Anhang B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Anhang C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. Abgekürzt zitierte Liturgiesammlungen, Gesangbücher, Reihen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige liturgische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antike, Mittelalterliche und frühneuzeitliche Schriften . . . . . 4. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 262 263 265

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Einleitung

1. Die Krise der Praxis liturgischer Buße »Wir glauben, dass das Bekenntnis der Sünden so notwendig ist, dass es keinen Gottesdienst gibt, bei dem es nicht öffentlich vor Gott geschieht.«1 So schrieb Johann Baptist Ott (1661–1744), Zürcher Pfarrer, Hebräisch-Professor am Carolinum und später Archidiakon am Großmünster, in einer 1702 erschienenen Neubearbeitung von De ritibus et institutis ecclesiae Tigurinae des früheren Antistes Ludwig Lavater (1527–1586). Ähnliche Aussagen aus Schriften Bullingers und Calvins bestätigen, dass die Präsenz eines liturgischen »Bußakts« im evangelisch-reformierten Gottesdienst seit der Reformation für ebenso selbstverständlich wie unerlässlich gehalten wurde.2 Diese Praxis blieb auch in den folgenden zwei Jahrhunderten erhalten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich allerdings die Tendenz beobachten, das Sündenbekenntnis in andere Gebete zu integrieren, gewöhnlich in jene vor oder nach der Predigt, sodass es kein eigenständiges liturgisches Stück mehr darstellte und in der Folgezeit »ein kaum beachtetes Aschenbrödeldasein« führte.3 Während das Bekenntnis der Sünde zudem anfangs einen festen Bestandteil etwa des Eingangsgebets bildete, begann man später, es als optional zu betrachten. So enthielt die Zürcher Liturgie aus dem Jahr 1855 noch ein einziges »Gebet vor der Predigt« für den Sonntagsgottesdienst, das mit einem Sündenbekenntnis einsetzte,4 und auch nach der Revision von 1868, bei der weitere zwei Gebete hinzugefügt wurden, fand sich in jedem 1

Lavater/Ott, Gebräuche, 71. Vgl. CHP, Kap. 14 (Hildebrandt/Zimmermann 64): »Ebenso billigen wir besonders das […] allgemeine und öffentliche schriftgemäße Sündenbekenntnis [generalem et publicam illam peccatorum confessionem], wie es in der Kirche und in gottesdienstlichen Versammlungen gesprochen zu werden pflegt«; Calvin, Institutio 3.4.11 (Weber 407): »Wir nehmen auch tatsächlich wahr, daß bei wohlgeordneten Kirchen mit viel Frucht die Sitte herrscht, daß der Diener an den einzelnen Sonntagen in seinem und des Volkes Namen ein formuliertes Sündenbekenntnis [formula confessionis] ausspricht, in dem er alle der Ungerechtigkeit zeiht und den Herrn um Vergebung bittet.« 3 Kellerhals, Geschichte, 263. 4 Gebete für die evangelisch-reformirte Kirche des Kantons Zürich (1855), 3–5. 2

2

Einleitung

ein Bekenntnis der Sünde.5 Im neuen, 1916 erschienenen und drei Bände umfassenden Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche des Kantons Zürich war ein Sündenbekenntnis indessen nur noch in 11 der insgesamt 22 vorgeschlagenen »Anfangsgebete« vorhanden.6 Dafür fanden sich im ersten Band vier »Sündenbekenntnisse«, die den Gebeten, die kein solches Bekenntnis enthielten, fakultativ vorgesetzt werden konnten.7 Diese Tendenz, die liturgische Buße als ein bestenfalls möglicher und jedenfalls verzichtbarer Aspekt des Eingangsgebets zu betrachten, fand schließlich Bestätigung in der für die weitere liturgische Entwicklung in der deutschsprachigen Schweiz sehr einflussreichen Zürcher Gottesdienstordnung von 1965. Dort heißt es in Bezug auf das »Psalmgebet«, das den Kern der Anbetung (des zweiten »Schrittes« des Predigtgottesdienstes) ausmacht und das erste durch die Liturgin/den Liturgen gesprochene Gebet darstellt: »Anfang und Schluß werden gewöhnlich von Psalmworten gebildet. Der Mittelteil kann sowohl weitere Psalmworte des Dankes und Lobpreises enthalten als auch ein Glaubens- oder Sündenbekenntnis.«8 Angesichts dieser Entwicklungen ist es kaum überraschend, dass die deutschschweizerische Liturgiekommission zeitgleich mit der Veröffentlichung des ersten Bandes ihrer »Liturgie« (Lit I) auch eine kleine Erklärung zum dort wiedereingeführten Bußteil erscheinen ließ:9 Es war offensichtlich notwendig geworden, die Schweizer Kirchen an die eigene liturgische Tradition zu erinnern. Trotz der Anregungen in Lit I und ihrer Aufnahme im Reformierten Gesangbuch von 1998, in dem unter anderem auch eine Gottesdienstordnung »mit Bußteil« wiedergegeben wird,10 ist bezüglich der heutigen Situation in den deutschschweizerischen reformierten Kirchen jedoch festzuhalten, dass »die allgemeine und verbindliche Form des regelmässigen Schuldbekenntnisses in der Gemeinde, gegebenenfalls mit Absolution […], eindeutig verloren gegangen« ist.11 2. Die Debatten in der Fachliteratur Wurde die Tradition der liturgischen Buße im außerschweizerischen deutschsprachigen Raum – und zwar sowohl unter Reformierten als auch im lutherischen und unierten Kontext – in unterschiedlichen For5 6 7 8 9 10 11

Liturgie für die evangelisch-reformirte Kirche des Kantons Zürich (1868), 3–7. Kirchenbuch Zürich (1916), Bd. 1, 11–27 (Nr. 2 f.; 6; 9; 12 f.; 15–18; 22). A. a. O., 8f. Zürcher Gottesdienstordnung, 19 (Hervorhebung, LB). Vgl. Kellerhals, Sündenbekenntnis. RG 152. Bürki, Bekenntnis der Sünde, 66.

2. Die Debatten in der Fachliteratur

3

men weitergeführt, so kann das Verhältnis zu dieser Praxis durchaus als gespalten beschrieben werden. Einerseits stehen »Sünde« und »Buße« im Zentrum zahlreicher neuerer Publikationen, die sie sowohl fächerübergreifend (oder gar interdisziplinär)12 wie auch in spezifisch praktisch-theologischer Perspektive reflektieren13 und damit von einem andauernden Interesse an den genannten Themata zeugen.14 Andererseits scheinen gerade die Präsenz eines Bußakts im Gottesdienst sowie dessen tradierte Formen am meisten umstritten zu sein. So fordert etwa Klaus-Peter Jörns einen gänzlichen »Abschied« von einer liturgischen Praxis, bei der die Gemeinde Gott um Vergebung bittet und sein Gnadenwort empfängt, und empfiehlt stattdessen eine grundsätzliche Reinterpretation der »Offenen Schuld« im Sinne eines gegenseitigen Geständnisses der Schuld – nicht der »Sünde« als grundsätzlicher Befindlichkeit der gefallenen Kreatur – und einer ebenso gegenseitigen Lossprechung unter den Gemeindegliedern.15 Deutlich weniger radikal nimmt sich die Kritik Michael Klessmanns 12

Vgl. Brandt et al., Sünde; Gräb/Laube, Der menschliche Makel; Härle/Preul, Sünde; Lasogga/Hahn, Gegenwärtige Herausforderungen; Hoping/Schulz, Unheilvolles Erbe?; Meyer-Blanck et al., Sündenpredigt. 13 Vgl. die Arbeiten Peter Zimmerlings zur Beichte als seelsorgliche Praxis (Zimmerling, Studienbuch Beichte; ders., Evangelische Beichte heute; ders., Beichte) sowie den Sammelband Block/Eschmann, Peccatum magnificare, in dem die Relevanz des Sündenthemas für jedes Handlungsfeld der Praktischen Theologie reflektiert wird. 14 Besonders erwähnenswert ist der Versuch Johannes Blocks, im Anschluss an Christian Möller den »Komplex der Sünde« gerade zum »methodologischen Kriterium der Praktischen Theologie« zu erheben (Block, Krisis; vgl. auch ders., Erfahrung, 31–42). Block zufolge kann die Praktische Theologie nur insofern einen spezifischen Beitrag zur Erfahrungsforschung leisten, als sie »ihren Gegenstandsbereich, die Konkretion des Menschen, mit der Erfahrung des Sünderseins präzisiert« (Block, Krisis, 203). Wenn erkannt wird, dass sich Sünde aus jener »Ausflucht aus der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit« ergibt (a. a. O., 197), die nicht zuletzt durch die »Denkmodelle« einer zwar an der Konkretion von Theorien, aber nicht an der »Konkretion des Menschen« interessierten Wissenschaft gefördert wird (ebd., 201), dann sollte die Reflexion auf die Erfahrung der Sünde im Lichte des Evangeliums nicht ohne methodologische Konsequenzen für die Praktische Theologie bleiben. Im Zentrum ihrer Arbeit stünde nicht mehr die Sorge darum, etwa im Sinne des Modells der »Kommunikation des Evangeliums« zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln (ebd., 200). Es käme vielmehr »auf eine Praxis an, die die Selbstkommunikation des Evangeliums [vgl. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, 110–113] eröffnet, auf dass sich der Mensch in dem finde, was ihn wie ein animal relationale von außen trägt. Dann wäre die Praxis der Praktischen Theologie transparent für die Selbsttätigkeit des Evangeliums, das keiner Vermittlung oder Übersetzung bedarf, weil es seine eigene Erfahrung in sich trägt« (Block, Krisis, 203). 15 Jörns’ liturgischer Entwurf ist abgedruckt in: Deeg et al., Angewiesen auf Gottes Gnade, 129–134. Vgl. auch den diesbezüglichen Austausch zwischen Jörns und Wolfgang Ratzmann (Jörns/Ratzmann, Eine neue Liturgie im Gespräch) sowie Jörns, Plädoyer.

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Einleitung

aus, der die Bedeutung der liturgischen Buße keineswegs in Frage stellt und dennoch für eine Revision der Sprache tradierter Sündenbekenntnisse plädiert. Denn diese förderten – so Klessman – »nicht die Selbsteinsicht, sie laden nicht dazu ein, dass Menschen sich selbst realistischer wahrnehmen und erkennen, sondern lösen Beschämung aus, die wiederum Abwehr und Verleugnung provoziert«.16 Gleichzeitig wird vonseiten anderer festgestellt, dass ausgerechnet die in den letzten Jahrzehnten unternommenen Versuche, die liturgische Rede von der Sünde zu revidieren bzw. zu aktualisieren, die Bedeutung von »Sünde« häufig nicht greifbarer machen, sondern verfälschen.17 Es fehlt allerdings auch nicht an Theologen, die sich für ein Festhalten an traditionellen Formen der gottesdienstlichen »Beichte« einsetzen, die etwa Thomas Böttrich gar als »unaufgebbaren Bestandteil des lutherischen Gottesdienstes« betrachtet.18 Für Böttrich ist also eine liturgische Sequenz (die »Gemeinsame Beichte« vor dem Abendmahl bzw. die »Offene Schuld« im Zusammenhang mit den Fürbitten19) der Ort, an dem Sünde und Vergebung im Gottesdienst ihre dichteste Thematisierung erleben sollten. Eine Alternative dazu bietet Johannes Block. Auch er betrachtet die Rede von der Sünde als wesentlichen Aspekt des Gottesdienstes, plädiert aber im Gegensatz zu Böttrich dafür, sie nicht in einer liturgischen Sequenz, sondern in der Predigt zu verorten.20 Schließlich ist es interessant zu beobachten, dass die Praxis gottesdienstlicher Buße auch unter römisch-katholischen Liturgikern immer wieder zur Debatte steht, d. h. in einem Kontext, in dem jene Praxis ein relativ neues Phänomen darstellt. Denn anders als in den evangelischen Kirchen fand ein allgemeiner, die ganze Gottesdienstgemeinde involvierender actus paenitantialis erst anlässlich der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils Eingang in die Messliturgie.21 Zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Debatte bestehen sowohl Überschneidungen als auch Differenzen. Erstere zeigen sich auf materialliturgischer Ebene und betreffen solche Fragen wie jene nach der adäquaten Verortung liturgischer Buße im Ganzen der Liturgie (im Eingangsteil oder am Ende des Wortgottesdienstes), Klessmann, »Ich armer, elender, sündiger Mensch …«, 163. Vgl. Lachmann, Liturgische Rede, 125: »Der wiederkehrende Versuch, durch menschliche Negativerfahrungen das Theologoumenon ›Sünde‹ greifbar zu machen, scheitert in der Regel in einer Gleichsetzung von Sünde mit Leid und schließlich von Sündenbekenntnis mit einer Klage.« Siehe auch Nüchtern, Sündenerfahrung, 133–135. 18 Böttrich, Beichte, 109. Vgl. auch ders., Schuld bekennen. 19 Böttrich, Schuld bekennen, 247. 20 Vgl. Block, Ein Sünder werden; ders., Indikativisch; ders., Rede von Sünde, bes. 371–378. 21 Meyer, Eucharistie, 336. 16 17

3. Chancen einer Wiedergewinnung? Ziel und Anlage der Studie

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nach deren Häufigkeit (allsonntäglich oder nicht) und Gestalt.22 Während die Diskussion in diesem Kontext in ähnlichen Bahnen verläuft und zur Herauskristallisierung ähnlicher Optionen führt, bedingen die theologischen Differenzen, dass auf fundamentalliturgischer Ebene häufig andere Fragen im Vordergrund stehen. So bekommt vor dem Hintergrund römisch-katholischer Sakramententheologie etwa die Frage nach der »sakramentalen« Qualität liturgischer Buße und deren Verhältnis zum Bußsakrament (Beichte)23 eine Brisanz, die dem evangelischen Kontext fremd bleibt. 3. Chancen einer Wiedergewinnung? Ziel und Anlage der Studie Das beobachtete Schwinden der liturgischen Buße im deutschschweizerischen reformierten Kontext und die Skepsis prominenter evangelischer Theologen gegenüber diesem Aspekt der liturgischen Tradition werfen die berechtigte Frage auf, ob überhaupt Chancen zu dessen Wiedergewinnung bestehen. Die Beantwortung dieser Frage hängt aber eng mit der einer anderen zusammen: Worin gründen eigentlich die angesprochenen, tiefliegenden Schwierigkeiten mit der liturgischen Buße in ihren unterschiedlichen Ausformungen? An dieser Stelle könnte etwa auf den allgemeinen Verdacht hingewiesen werden, unter dem in der Moderne der Begriff »Sünde« und deren Benutzer als »Feinde des schönen Lebens« zu stehen kamen;24 oder man könnte das verbreitete (und häufig kirchlich selbstverschuldete) Missverständnis der Buße als Selbstkasteiung und -erniedrigung für die Ablehnung liturgischer Buße verantwortlich machen. In beiden Fällen bestünde die Hauptquelle der ablehnenden Haltung gegenüber liturgischen Konkretionen dessen, was traditionell »Buße« genannt wird, in einem mangelnden Verständnis dafür, was in genuin evangelischer Perspektive αë μαρτι α und μετα νοια bedeuten. Somit wäre es die Aufgabe der Theologen, solche Missverständnisse zu korrigieren, sodass die Weichen für eine Wiedergewinnung der entsprechenden liturgischen Praxis gestellt werden könnten. Die Wurzeln der oben angesprochenen »Schwierigkeiten« liegen jedoch – so eine zentrale These der vorliegenden Studie – nicht so sehr in einer fehlgeleiteten Interpretation der theologischen Kategorien »Sünde« und »Buße«, sondern primär in einem bestimmten Verständnis der liturgischen Praxis im Allgemeinen. 22

Vgl. Heinz, Sondertradition; ders., Bußritus; Jilek, Eröffnung; Kleinheyer, Eröffnung. 23 Vgl. zur Debatte Stuflesser, Sakrament, 25; Meßner, Überlegungen, 227; ders., Feiern, 212 f. 24 Vgl. etwa Schulze, Sünde.

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Einleitung

Es besteht in der heutigen deutschsprachigen evangelischen Liturgik die Tendenz, im Gefolge Schleiermachers den Gottesdienst in erster Linie als Ausdruckshandeln der feiernden Menschen zu verstehen. Entsprechend einem solchen anthropologisch-expressiven Gottesdienstverständnis spiegle sich im Gottesdienst das wider, was die Menschen »innerlich« bewegt: Er sei eine »Bühne«, auf der sie ihre Befindlichkeit anhand »religiöser« Symbole »darstellen«. Deshalb müsse auch umgekehrt gelten, dass das, was in dieser Befindlichkeit keinen Platz hat, im Gottesdienst auch nicht zum Vorschein kommen könne.25 Dies bedeutet in Bezug auf die Bußliturgie, dass sie nur insofern im Gottesdienst Platz haben könnte, als in ihr ein Aspekt des »religiösen Bewusstseins« der Gottesdienst feiernden Menschen zum Ausdruck käme. Wenn es nun aber der Fall ist, dass sich die Gottesdienstteilnehmenden weitgehend von der Vorstellung entfremdet haben, dass sie »sündhaft« seien (unabhängig davon, ob dies im Sinne der Sünde als »Tat« oder als »Macht« verstanden wird),26 dann liegt nach diesem Argumentationsmuster der Schluss nahe, dass so etwas wie ein Bekenntnis der eigenen »Sünde« im Gottesdienst keine ersichtliche Berechtigung mehr haben kann. Dass auch »religiöse« Menschen von sich aus kein Sündenbewusstsein haben, stellt jedoch kein bloß historisch gewachsenes Phänomen dar. In spezifisch theologischer Hinsicht und im Horizont einer evangelischen Hamartiologie gilt es vielmehr anzuerkennen, dass Selbstgerechtigkeit wesentlich zum postlapsarischen Zustand des Menschen gehört: Die Sünde erweist sich als solche unter anderem dadurch, dass sie sich auf diese Weise subtil verdeckt.27 Daraus folgt, dass, insofern 25

Diese Sicht auf die liturgische Handlung kann als besondere Konkretion jenes »Expressivismus« betrachtet werden, der etwa nach Charles Taylor eine in der Romantik initiierte, aber bis heute aktuelle und für die westliche Kultur prägende geistige Bewegung darstellt (vgl. Taylor, Sources, 374; 376). Allerdings ist nach Taylor zwischen »romantischem« und »post-romantischem« (d.h. heutigem) Expressivismus zu unterscheiden. Denn für die romantischen Expressivisten sollte im Selbstausdruck des Menschen doch der Erfahrung einer höheren Wirklichkeit Ausdruck verschafft werden, während der heutige Expressivismus – den Taylor auch »exklusiven Humanismus« nennt (vgl. Taylor, Secular Age, 18) – von einer grundsätzlichen und nicht hinterfragten »inhaltlichen Selbstbezüglichkeit des Selbstausdrucks« (Schlette, Selbstverwirklichung, 96) ausgeht. 26 Vgl. Zimmerling, »Gott ist einsam geworden«, 254–256. 27 Vgl. Rawls, Brief Inquiry, 201 f.: »For righteousness so easily cloaks the sin of selfrighteousness, and of this greater sin was the Pharisee guilty [vgl. Lk 18,10–14]. This kind of egotism, which is sin in the face of all that is good, is the most dangerous and the most poisonous. As Whale puts it: ›There is no sin so subtly dangerous as the selfsufficiency of the morally religious man‹ [John S. Whale, Christian Doctrine, Cambridge 1941, 39]. This subtlety of sin enables it to corrupt the best, as well as the worst, that is in us.« Siehe auch Zimmerling, »Gott ist einsam geworden«, 258; Gestrich, »Erbsünde«, 168–172; KD IV/2, 468.

3. Chancen einer Wiedergewinnung? Ziel und Anlage der Studie

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der Gottesdienst primär als menschliches, expressives Handeln verstanden wird, die liturgische Buße früher oder später als Fremdkörper im gottesdienstlichen Geschehen empfunden werden muss. Der erste Schritt hin zu einer Wiedergewinnung der liturgischen Bußpraxis wird daher notwendigerweise in einer Problematisierung dieses vorherrschenden Gottesdienstverständnisses bestehen müssen. Denn erst vor dem Hintergrund einer alternativen, pneumatisch-formativen Sicht auf die Liturgie wird es überhaupt möglich sein, den Sinn liturgischer Buße im kirchlichen Gottesdienst sowie im Zusammenhang mit dem gesamten Glaubensleben aus evangelisch-reformierter Perspektive zu verstehen. So wird im ersten Kapitel das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis ausgehend von dessen prominentestem Vertreter, Friedrich Schleiermacher, angesprochen und analysiert, während das zweite Kapitel unter Berufung auf zahlreiche Autoren, die sowohl die formative Kraft der Liturgie wie auch die Priorität göttlichen Handelns in ihr betont haben, für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis plädiert. Kapitel 3 skizziert das evangelisch-reformierte Verständnis der »Heiligung«. Diese stellt nämlich jenen grundsätzlich inchoativen Erneuerungsprozess dar, welcher das gesamte Leben der Christenmenschen umfasst und vor dessen Hintergrund es erst möglich ist, die formative Bedeutung liturgischer Praxis zu begreifen. Um Letztere zu erläutern, wird im vierten Kapitel eine spezifische Sequenz aus der Genfer/Straßburger Liturgie von 1542 ausgelegt. Diese stellt ein typisches Beispiel von evangelisch-reformierter Buß- bzw. »Umkehrliturgie« dar: Entlang der vier Schritte von Bekenntnis, Epiklese, Gnadenzuspruch und Bundeserneuerung wird die Gemeinde im Selbstverständnis als zugleich Sünderin und Begnadigte eingeübt und dabei auf Gott den Schöpfer und Erlöser re-orientiert (μετα νοια). Die Analyse wird verdeutlichen, dass gerade in einer solchen angesichts der grundsätzlichen Inchoativität der Heiligung stets notwendigen ReOrientierung auf Gott hin die formative Wirkung der Umkehrliturgie sowie – von ihr aus gesehen – des gesamten Gottesdienstes besteht. In diesem Sinn bilden die Annahme eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses und die Wiedergewinnung der Umkehrliturgie gleichsam zwei Seiten derselben Medaille. Denn gerade an der Umkehrliturgie wird die Qualität jener formativen Wirkung deutlich, die gemäß einem pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnis der Liturgie als Ganzer eigen ist. Im Blick auf eine solche Wiedergewinnung stellen sich aber nicht nur fundamental-, sondern auch materialliturgische Fragen. Deshalb wendet sich das fünfte und letzte Kapitel dem Vollzug der Umkehrliturgie zu. Vor dem Hintergrund der im vierten Kapitel gewonnenen Einsich-

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Einleitung

ten werden bestehende Formulare gesichtet, die sich für deutschsprachige evangelisch-reformierte Liturginnen und Liturgen als Referenzgrößen anbieten. Diese werden unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert: Nicht nur die Stellung der liturgischen Buße im Rahmen des Gottesdienstes sowie ihr »Weg« und Inhalt kommen dabei zur Sprache, sondern auch Fragen des »Zeremoniale« (Akteure und Rollen, Gesang, Stille, Gebärden und Körperhaltungen). Um die Nachvollziehbarkeit der Argumentation zu fördern und die Lektüre durch zu viele Zitate nicht zu erschweren, wurden alle liturgischen Texte, auf die sich die Analysen beziehen, in drei Anhängen wiedergegeben. 4. Motivation und Methode Wie aus der obigen Skizze der vorliegenden Studie hoffentlich deutlich wurde, gründet das Plädoyer für eine Wiedergewinnung der Umkehrliturgie für den evangelisch-reformierten Sonntagsgottesdienst nicht so sehr im bloßen Wunsch, einem Stück reformierter liturgischer Tradition wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr geht es auf die These zurück, dass in der liturgischen Buße wirkliche Hinkehr zu Gott (conversio ad Deum), d. h. Re-Orientierung auf jenen Gott hin geschieht, der uns durch seine Zuwendung radikal um-orientiert (hat) und von dem wir uns doch immer wieder abwenden.28 Sich die Umkehrliturgie erneut anzueignen, bedeutete somit, jene liturgische Sequenz in den evangelisch-reformierten Gottesdienst wieder zu integrieren, an der die metanoetisch-reorientierende Grunddimension allen evangelisch verstandenen Gottesdienstes eminent erfahrbar wird. Zugleich dürfte die oben dargelegte Struktur der Studie jedoch auch Fragen bezüglich deren Methodologie aufkommen lassen. Denn zur Behandlung des Themas »liturgische Buße« verbindet sie offensichtlich die Zugänge unterschiedlicher Disziplinen miteinander, nämlich der Liturgik, der Historischen Theologie und der Dogmatik. Insofern unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung deutlich von eher empirisch bzw. humanwissenschaftlich angelegten Arbeiten, wie sie in den letzten Jahrzehnten in der deutschsprachigen evangelischen Liturgik üblich geworden sind. Was die Methodologie anbelangt, korrespondiert der hier beschrittene Weg weitgehend mit dem Modell einer »Systematischen Liturgiewissenschaft«, wie sie etwa vom römisch-katholischen Liturgiewissenschaftler Reinhard Meßner vertreten wird.29 Im Besonderen entspre28

Vgl. Kunz, Conversio, 38. Vgl. Meßner, Was ist systematische Liturgiewissenschaft? Meßners Ansatz weist eine große Ähnlichkeit zur vor allem in Nordamerika angesiedelten, aber mittlerweile 29

4. Motivation und Methode

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chen drei Charakteristika unserer Studie dem Konzept einer Systematischen Liturgiewissenschaft. Erstens wird für eine eminent theologische Betrachtung des Gottesdienstes plädiert:30 Gottesdienst ist primär31 pneumatisches Geschehen, d. h. Ort des geistvermittelten Handelns Gottes an der feiernden Gemeinde. Die Untersuchung gilt also in erster Linie diesem pneumatischen Geschehen, so wie es sich in der konkreten liturgischen Feier ereignet. Es ist das Handeln Gottes, das den primären Gegenstand der Untersuchung bildet, wobei dieser Gegenstand anhand der Liturgie beleuchtet wird, sodass Letztere die unverzichtbare Quelle der Untersuchung darstellt.32 Die Betonung, dass die Liturgie unverzichtbare Quelle liturgiewissenschaftlicher Forschung sei, bedeutet allerdings nicht, sie sei ihr einziger Maßstab. Die Spezifizität liturgiewissenschaftlicher Reflexion beruht zwar darauf, dass sie im Unterschied zu anderen theologischen Disziplinen vom liturgischen Vollzug ausgeht. Da sich ihr Gegenstand aber mit demjenigen der Theologie im Allgemeinen deckt, gilt für sie derselbe Maßstab wie für jede Form von theologischer Reflexion: das biblische Zeugnis im Horizont der Geschichte seiner Auslegung.33 Zweitens wird als Methode für die Erschließung des genannten Gegenstands der Kommentar gepflegt.34 Dies ergibt sich daraus, dass die Liturgie als Quelle der Untersuchung betrachtet wird: Die theologische Erschließung der Beschaffenheit des Handelns Gottes im Gottesdienst erwächst aus der Betrachtung und Kommentierung des liturgischen auch im deutschen Sprachraum rezipierten »Liturgischen Theologie« auf. Für eine Einführung in die Liturgische Theologie in evangelischer Perspektive vgl. Haspelmath-Finatti, Theologia Prima; zur römisch-katholischen Diskussion darüber siehe Hoping et al., Liturgische Theologie. 30 Siehe unten, Kap. II. 31 Man beachte: Gottesdienst ist selbstverständlich auch menschliches Handeln und als solches zu untersuchen und zu reflektieren, auch mithilfe von sogenannten Humanwissenschaften (Meßner, Was ist systematische Liturgiewissenschaft?, 270). Was aber die theologische Sicht auf den Gottesdienst wesentlich charakterisiert, ist die Betrachtung des liturgischen Vollzugs als ein zugleich und primär pneumatisches Geschehen: Die im Namen Jesu versammelte Gemeinde feiert den Gottesdienst in der Hoffnung, dass sich Gott selbst durch seinen Heiligen Geist der menschlichen Worte und Handlungen bedienen möge, um an den Menschen zu handeln (siehe unten, Kap. II.2.1). Deshalb können humanwissenschaftliche Zugänge für eine theologische Untersuchung des Gottesdienstes weder konstitutiv noch normativ sein (Meßner, Was ist systematische Liturgiewissenschaft?, 271). 32 A. a. O., 262. 33 Vgl. A. a. O., 268. Zum Verhältnis von Bibel und Geschichte ihrer Auslegung (Tradition) bzw. Dogma in reformierter Perspektive vgl. Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 1, 304; Bavinck, Reformed Dogmatics, Bd. 4, 420 f.; Muller, Holy Scripture, 483 f. 34 Siehe unten, Kap. IV. Vgl. Meßner, Was ist systematische Liturgiewissenschaft?, 263.

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Einleitung

Vollzugs. Es wäre dabei allerdings eine Verkürzung, wenn die Aufmerksamkeit nur auf die jeweils aktuellen liturgischen Formen gerichtet würde. Vielmehr erweist sich die Einbeziehung der liturgischen Tradition als hilfreich, um die nötige kritische Distanz gegenüber dem je Gegebenen zu gewinnen.35 Jedenfalls gilt es festzuhalten: Theologische Reflexion (die Rede vom handelnden Gott) ist im Sinne einer Systematischen Liturgiewissenschaft immer sekundär gegenüber der primären Theo-Logie als Rede zum handelnden Gott im gemeinsamen Gebet, das der Gottesdienst ist.36 Drittens weist eine so konzipierte Untersuchung auch eine kritische Dimension auf.37 Denn die durch die Betrachtung der Liturgie gewonnenen Erkenntnisse bezüglich des Handelns Gottes in ihr und durch sie dienen ebenso als Kriterien zur Beurteilung gegenwärtiger sowie (womöglich) zur Orientierung künftiger liturgischer Praxis. Die vorliegende Studie nimmt sich somit als eine theologische Untersuchung aus, die ihren Ausgangspunkt im Gottesdienst hat, deren Gegenstand das Handeln Gottes ist, so wie sich dieses aus der Liturgie erschließen lässt, und deren Fluchtpunkt in einer kritischen Betrachtung gegenwärtiger liturgischer Praxis besteht.38

35

Vgl. a. a. O., 269. A. a. O., 265–267, bes. 266: »Der adäquateste theologische Sprachmodus (modus loquendi theologicus) ist die Rede zu Gott. Bevor Theologie in der 3. Person etwas über Gott sagen kann, muß der Theologe zuvor die theologische Aussage in der 2. Person gemacht haben. Theologie in diesem ersten, fundamentalen Verständnis ist nicht Gotteslehre, sondern Gottespreisung.« 37 Siehe unten, Kap. V. Vgl. Meßner, Was ist systematische Liturgiewissenschaft?, 262 f. 38 Wie Meßner (a. a. O., 262 f., Anm. 23) bemerkt, besteht offensichtlich eine enge formale Verwandtschaft zwischen dem hier skizzierten Vorgehen und einer »an der Verkündigung orientierten Dogmatik« wie etwa jener Karl Barths, vgl. KD I/1, 261 sowie Barth, Einführung, 50. 36

I. Das anthropologisch-expressive Verständnis des kirchlichen Gottesdienstes

Die heutige deutschsprachige evangelische Liturgik ist weitgehend von einem Gottesdienstverständnis geprägt, das sich als »anthropologisch-expressiv« bezeichnen lässt. Auf dessen Grundzüge wird im Folgenden anhand der Liturgik Friedrich Schleiermachers eingegangen, der ein solches Gottesdienstverständnis erstmals umfassend begründet hat. Anhand seiner Praktischen Theologie, seiner Vorlesungen zur christlichen Sittenlehre sowie seiner systematischen Theologie (Der christliche Glaube) gilt es herauszustellen, wie für Schleiermacher der »Kultus« letztlich eine Form der Aktualisierung des »frommen Bewusstseins« darstellt und deshalb auch als dessen εÆ νε ργεια definiert werden kann. Vor diesem Hintergrund wird in einem zweiten Schritt auf drei zeitgenössische Entwürfe eingegangen, die den anhaltenden Einfluss der anthropologisch-expressiven Liturgik Schleiermachers verdeutlichen. 1. Die Natur des christlichen »Kultus« nach Schleiermacher 1.1 Grundsätzliche Expressivität Das gottesdienstliche Handeln der Christen ist nach Schleiermacher »Kultus«, d. h. eine bestimmte Form von menschlichem, religiösem Handeln in christlicher Bestimmung. Alles spezifisch christliche Handeln entsteht Schleiermacher zufolge »aus der Herrschaft des christlich bestimmten religiösen Selbstbewusstseins«.1 Religiöses Bewusstsein eigne als solches jedem Menschen, insofern sich jeder Mensch seiner selbst als »schlechthin abhängig« bewusst sei.2 Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit stellt bei Schleiermacher gleichsam eine religiöse Grunderfahrung dar, die jeder Mensch macht und von der er in Beziehung zu Gott gesetzt wird, wobei »Gott« in diesem Zusammenhang nichts anderes als das in dieser Erfahrung mitgesetzte »Woher« des sich als schlechthin abhängig 1 2

Schleiermacher, Christliche Sitte, 32. Schleiermacher, Der Christliche Glaube § 4, Leitsatz, Bd. 1, 32,12–15.

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I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

erfahrenden Daseins bezeichnet.3 In diesem Sinn ist jeder Mensch »religiös« und »fromm«, weil so verstandene »Religion« untrennbar vom Mensch-Sein ist. Das Christentum verhält sich nun zu dieser allgemeinen Religiosität wie eine Spezies zum ihr übergeordneten Genus, wobei die differentia specifica darin besteht, dass im Christentum »alle Gemeinschaft mit Gott angesehen wird als bedingt durch den Act der Erlösung durch Christum«.4 Vom christlich bestimmten religiösen Selbstbewusstsein gehe ein Impuls zum Handeln aus, das seinerseits zwei Formen annehmen kann. Die eine Form umfasst »alle Thätigkeiten, welche sich darauf beziehen, die absolute Seeligkeit hervorzubringen«.5 Absolute Seligkeit – definiert als Zustand der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott in Christus6 – können Christen auf Erden dennoch nicht besitzen, sondern lediglich anstreben, sodass ihr Zustand als einer »werdender Seeligkeit« beschrieben werden könne.7 Ihr religiöses Bewusstsein lässt sie zwar einen »Anspruch an die Gemeinschaft mit Gott«, eine »Freude an dem Herrn«8 verspüren; diese »höhere Lebenspotenz« befinde sich aber stets im Kampf mit der »niederen Lebenspotenz«, die sich der Befriedigung jenes Anspruchs widersetzt.9 Je nachdem, ob »der Anspruch auf die Gemeinschaft mit Gott in einem gegebenen Momente sich negiert zeigt«10 oder »eine niedere Lebenskraft in die Anforderung der höheren kommt und derselben […] sich willig und verlangend zuneigt«,11 wird das Selbstbewusstsein durch »Unlust« oder »Lust« bestimmt. Aus jedem dieser Zustände gehe zwar ein Impuls zum Handeln hervor, das aber im Falle der Unlust als »wiederherstellendes Handeln«, im Falle der Lust hingegen als »verbreitendes, erweiterndes Handeln« in Erscheinung trete.12 Obwohl diese beiden Handlungstypen nicht identisch sind, ist ihnen dennoch gemeinsam, dass der Mensch durch sie »aus einem Zustande hinaustreten will in einen anderen«,13 weshalb beide von Schleiermacher unter dieselbe Kategorie des »wirksamen Handelns« subsumiert werden. Als »wirksam« definiert Schleiermacher – entsprechend der aristotelischen Ka3 A. a. O. § 4.4, Bd 1, 39,1–4. Vgl. Schleiermacher, Christliche Sitte, 31: »Wo das Selbstbewußtsein verbunden ist mit dem Bewußtsein des höchsten Wesens: da ist ein religiöser Gemüthszustand, da ist Frömmigkeit.« 4 A. a. O., 32. 5 A. a. O., 43. 6 A. a. O., 36. 7 A. a. O., 39 f. 8 A. a. O., 41 f. 9 A. a. O., 44. 10 A. a. O., 43. 11 A. a. O., 45. 12 A. a. O., 44 f. 13 A. a. O., 50.

1. Die Natur des christlichen »Kultus« nach Schleiermacher

13

tegorie der ποι ησις – jenes Handeln, das einen dem Handeln selbst externen Zweck verfolgt, und betrachtet ihn deshalb als analog zur »Geschaftsthätigkeit«.14 Nicht alles christliche Handeln falle aber unter diese Kategorie. Es gebe nämlich auch eine Form von Handeln, die weder aus Unlust noch aus Lust hervorgehe, sondern vielmehr aus jener relativen »Befriedigung«, die zwischen Momenten der Lust und anderen der Unlust »nothwendig eintritt«. Dies sei ein Handeln, das »gar nicht dazu bestimmt ist, eine Veränderung irgend einer Art hervorzubringen«, sondern das »Ausdruck des inneren ist[,] ohne eigentliche Wirksamkeit zu sein«.15 Ein solches Ausdruckshandeln setzt zwar das eigentlich wirksame Handeln sowohl logisch – weil es Unterbrechung und Negation des wirksamen Handelns ist – als auch ontologisch – das Innere, das heraustreten soll, muss an sich vorhanden sein16 – immer voraus. Es unterscheidet sich aber grundsätzlich vom wirksamen Handeln, weil es auf keinen expliziten Zweck ausgerichtet ist.17 Vielmehr rührt diese zweite Form von Handeln von einer relativen »Befriedigung« her, d. h. von einer – zumindest partiellen – Erreichung des Zwecks, den das vorausgehende wirksame Handeln verfolgte. Dass diese zweite Form von Handeln zweckfrei im oben genannten Sinn ist, bedeutet allerdings Schleiermacher zufolge nicht, dass sie auch zwecklos sei. In ihr manifestiert sich vielmehr die fundamentale Tendenz des Menschen, anderen gegenüber – in deren Gemeinschaft sich der Einzelne immer schon vorfindet – die »innere Bestimmtheit des Selbstbewusstseins« darzustellen, um diese »äußerlich [zu] fixiren«.18 Diese gemeinschaftliche, auf Darstellung vor anderen hinauslaufende Komponente ist das zweite Merkmal des hier von Schleiermacher beschriebenen, vom »wirksamen« sich unterscheidenden Handelns: So daß wir aus diesen beiden Betrachtungen zwei Formeln finden für unsere Thätigkeit, 1) die, daß sie reiner Ausdruck ist, und darin ist die Wirksamkeit negirt, weil nur damit das Streben dargelegt wird, den Moment zu fixiren; 2) die, daß sie rein darstellendes Handeln ist, d. h. keinen anderen Zweck hat, als das eigene Dasein für andere aufnehmbar zu machen, womit ebenfalls alle eigentliche Wirksamkeit ausgeschlossen ist, die nur von Lust oder Unlust ausgehen kann.19

14 15 16 17 18 19

Schleiermacher, Praktische Theologie, 71. Schleiermacher, Christliche Sitte, 48. Vgl. Schleiermacher, Praktische Theologie, 73. Schleiermacher, Christliche Sitte, 48. A. a. O., 50 f. A. a. O., 50.

14

I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

Dem »darstellenden Handeln« eignet somit eine grundsätzliche Expressivität, wobei Ausgangspunkt und Subjekt der expressiven Darstellung in erster Linie immer der einzelne Mensch sei. 1.2 Akzidentelle Wirksamkeit Zugleich stellt Schleiermacher fest, dass darstellendes Handeln »als das In Erscheinung treten eines innerlichen Zustandes« natürlicherweise »auf Gemeinschaft« hinausgeht.20 Dies zeigt sich an der Tendenz der Menschen, sich bei einer Unterbrechung ihrer »Geschaftsthätigkeit« zu versammeln, um etwa ein Fest zu feiern. Dass Menschen sich zur Feier eines bestimmten Festes treffen, setzt voraus, dass sie sich alle im besagten Zustand »relativer Befriedigung« befinden und dass ihr Bewusstsein eine ähnliche »Erregung« empfindet, die sie zur gemeinsamen Darstellung bewegt. Bei solchen Anlässen werde nun aber nicht so sehr das Bewusstsein eines jeden Menschen für sich betrachtet dargestellt, sondern vielmehr das, was Schleiermacher das »vorherrschende Bewusstsein« nennt.21 Es kann sich folglich ergeben, dass durch die Teilnahme an der Darstellung des vorherrschenden Bewusstseins das Bewusstsein der Einzelnen stimuliert, »erhöht« wird.22 Dass eine solche Erhöhung des Bewusstseins durch das darstellende Handeln selbst begünstigt wird, lässt Schleiermacher darauf schließen, dass diesem – bei grundsätzlicher Expressivität – auch eine akzidentelle Wirksamkeit zukommt: Das darstellende Handeln [trägt] per accidens immer auch ein wirksames in sich. Denn jedes reine Darstellen erhöht zugleich die Gewöhnung, sich aus dem Gesichtspunkte, in welchem man sich darstellt, zu betrachten, und eben so auch die Leichtigkeit, in diejenigen Forderungen sich zu fügen, die aus diesem Gesichtspunkte entstehen. Aber auf diese Art hängt doch dem darstellenden Handeln das wirksame nur an, nicht aber macht es das Wesen desselben aus.23

Dies alles trifft nach Schleiermacher auf jegliches Fest und daher auch auf das spezifisch christliche Fest, den kirchlichen Gottesdienst oder »Kultus«, zu. Im kirchlichen Gottesdienst kommen Gleichgesinnte zusammen, um ihrem gemeinsamen Bewusstsein Ausdruck zu verleihen. Das Unterscheidungsmerkmal des christlichen Kultus im Vergleich zu anderen Festen besteht aber darin, dass das Darzustellende in ihm das christlich bestimmte religiöse Bewusstsein ist. Der »christliche Cultus« ist somit die »gemeinsame Darstellung[,] zu welcher sich die 20 21 22 23

A. a. O., 510. Vgl. Schleiermacher, Praktische Theologie, 71. Vgl. ebd. Vgl. Schleiermacher, Christliche Sitte, 526.

1. Die Natur des christlichen »Kultus« nach Schleiermacher

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gläubigen Christen vereinigen«.24 Damit es zu einer solchen gemeinsamen Darstellung überhaupt kommen kann, muss das christliche religiöse Bewusstsein – der »Glaube« – bereits in jedem Einzelnen vorhanden sein, denn »unmittelbar kann das[,] was dargestellt sein soll[,] nur von dem einzelnen ausgehen; jeder kann nur das darstellen[,] was in ihm ist«;25 »der Glaube ist das Prinzip des gemeinschaftlichen; wo dies noch nicht ist, sondern erst hervorgebracht werden soll, da ist kein Gottesdienst«.26 Dem Gottesdienst eignet also einerseits – wie jeder Form von darstellendem Handeln – eine grundsätzliche Expressivität. Andererseits trifft aber auch auf ihn zu, dass die Darstellung selbst sich als akzidentell wirksam im oben genannten Sinn erweist. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass jeder am Kultus Teilnehmende nicht nur sein eigenes religiöses Bewusstsein darstellt, sondern auch an der gemeinsamen Darstellung des jeweils »herrschenden religiösen Bewusstseins«27 bzw. des »christlich religiösen Bewusstseins« im Allgemeinen partizipiert.28 Das gemeinsame Gebet – ein unerlässlicher Bestandteil des Kultus – unterscheidet sich eben dadurch vom privaten, dass in Ersterem »die innere Gemüthsstimmung nicht bloß für das Subject[,] sondern auch für andere heraustreten soll«.29 Dies setzt zwar voraus, dass eine solche »Gemüthsstimmung« in jedem bereits vorhanden ist, aber die »äußere Fixirung«, zu der die Darstellung30 führt, kann nicht nur »ein fixiren der Stimmung für den einzelnen selbst« sein.31 Vielmehr zeichnet sich das gemeinsame Gebet dadurch aus, dass es »ein gemeinsames Heraustreten derselben [der Stimmung] zum gemeinsamen Bewusstsein in einer Stimmung, in welcher alle begriffen sind«, ist.32 Durch diese gemeinsame Darstellung kann es zwar zu einer »Erhöhung der Stimmung durch den Ausdruck« kommen, aber die Stimmung als solche muss bereits vorhanden sein, damit deren Darstellung überhaupt stattfinden kann.33

24

Schleiermacher, Praktische Theologie, 130. A. a. O., 73. 26 A. a. O., 70. 27 A. a. O., 72. 28 A. a. O., 129. 29 A. a. O., 188. 30 Für Schleiermacher fällt das Gebet – sowohl das private als auch das gemeinsame – deutlich unter die Kategorie des darstellenden Handelns, vgl. a. a. O., 188; 195. 31 A. a. O., 189. 32 Ebd. 33 Ebd. Der Liturg hat nach Schleiermacher die Aufgabe, diese »Erhöhung der Stimmung« in der Gemeinde zu begünstigen, vgl. a. a. O., 191: »Der Geistliche ist im Gebet das Organ der Gemeine in der Voraussetzung[,] daß alle sich in derselben religiösen Stimmung befinden; er ist der Vermittler dazu, daß das gemeinsame Bewußtein in jedem einzelnen hervortritt.« 25

16

I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

Zum anderen teilt jeder Teilnehmende, indem er sein religiöses Bewusstsein darstellt, dieses auch den anderen Teilnehmenden mit. Eine solche Mitteilung mag angesichts der Verschiedenheit der Individuen zunächst als eine bloße »Notiz« erscheinen; und doch sei »nicht abzusehen[,] wie aus dieser Notiz eine Erhöhung des Bewußtseins als Selbstbewußtseins entstehen könne«.34 Eine solche Steigerung des religiösen Bewusstseins bzw. der religiösen Erregtheit in den Gottesdienst Feiernden gehe immer von denjenigen Mitgliedern aus, »welche sich überwiegend selbstthätig verhalten«, d. h. den »Dienern am Wort«.35 Ihre »erregend wirkende Selbstdarstellung« als überwiegend durch das Gottesbewusstsein bestimmte Subjekte werde »durch Nachbildung« aufgenommen und verwandle sich in den Aufnehmenden in »eine Kraft, welche dieselbe Bewegung hervorruft«.36 Die hier angesprochene Erhöhung des frommen Selbstbewusstseins – die für Schleiermacher mit »Erbauung« identisch ist – könne zwar gewissermaßen auch als »Zweck« des Gottesdienstes betrachtet werden.37 Sie bleibt aber bei Schleiermacher sekundär gegenüber der grundsätzlichen Expressivität, die den Gottesdienst – wie jedes andere darstellende Handeln auch – kennzeichnet. 1.3 »Kultus« als menschliches Handeln Sowohl die Betonung der grundsätzlich expressiven Dimension des Gottesdienstes als auch die Art und Weise, in der seine akzidentelle Wirksamkeit thematisiert wird – nämlich als etwas, was sich aus der gegenseitigen Mitteilung religiösen Bewusstseins unter den Gottesdienst Feiernden ergibt –, lassen erkennen, dass der Gottesdienst für Schleiermacher, wie oben bereits angemerkt, menschliches Handeln ist. Er wird als solches beschrieben, ohne dass dabei die Frage, ob der Gottesdienst (auch) göttliches Handeln sei, behandelt wird. Ebenso wenig fragt Schleiermacher danach, ob, und wenn ja, inwiefern beim Gottesdienst Gott und der Mensch im Sinne der traditionellen concursus-Lehre zusammenwirken. Dass solche Fragen bei Schleiermacher gar nicht laut werden, ist darin begründet, dass sie sich auf dem Hintergrund seiner Definition des Gottesdienstes und des frommen Selbstbewusstseins – welches im Gottesdienst ja dargestellt wird – ganz einfach erübrigen. Das fromme Selbstbewusstsein gelangt nach Schleiermacher zur vollkommenen Entfaltung, wenn sich das Subjekt mit der gesamten Wirk34 35 36 37

A. a. O., 73. Schleiermacher, Der Christliche Glaube § 133, Leitsatz, Bd. 2, 342. A. a. O. § 133.1, Bd. 2, 343,8–11. Vgl. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, 23.

1. Die Natur des christlichen »Kultus« nach Schleiermacher

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lichkeit identifiziert und sich dabei zusammen mit der gesamten Wirklichkeit als von Gott abhängig erfährt, sodass sich das Bewusstsein der Bedingtheit jedes Ereignisses durch den Naturzusammenhang und das Bewusstsein der Abhängigkeit alles Endlichen von Gott gegenseitig entsprechen: In diesem AllEinen des endlichen Seins ist dann der vollkommenste und allgemeinste Naturzusammenhang gesetzt, und wenn wir uns also als dieses schlechthin abhängig fühlen: so fällt beides, die vollkommenste Ueberzeugung, daß Alles in der Gesammtheit des Naturzusammenhanges vollständig bedingt und begründet ist, und die innere Gewißheit der schlechthinnigen Abhängigkeit alles Endlichen von Gott vollkommen zusammen.38

Da Gott – das »Woher« des frommen Selbstbewusstseins – zugleich als »Woher« des gesamten Naturzusammenhangs wahrgenommen wird, kann jede »Begebenheit« ebenso sehr als abhängig von Gott wie auch als abhängig vom Naturzusammenhang betrachtet werden. Die Bedingtheit durch Gott und jene durch die »Naturursächlichkeit« sind »dasselbige […], nur aus verschiedenen Gesichtspunkten angesehen«.39 Es ist somit durchaus angemessen zu sagen, dass Gott in der Schöpfung wirkt und diese erhält. Dieses sein Wirken ist aber koextensiv mit dem Naturzusammenhang selbst, dessen Schöpfer er ist. Gott wirkt also nach Schleiermacher im Sinne einer »Allwirksamkeit«, gleichsam als »Urgrund aller Ursächlichkeit«.40 Daher ist es nur konsequent, dass Schleiermacher die Lehre des concursus in ihrer traditionellen Form scharf kritisiert. Die einzige Bedeutung des Begriffs »Mitwirkung«, die er akzeptieren kann, ist jene – sehr allgemeine – des concursus per modum actionis, nach dem »Gott das nächstliegende Prinzip der Handlung ist, die von den Zweitursachen vollzogen wird, und zwar so, dass jene Handlung identisch ist mit dem Wirken Gottes, das im Wirken des Geschöpfes gleichsam enthalten ist«.41 Nur diese Form von concursus ist mit seiner Erhaltungslehre kompatibel, allerdings unter der Voraussetzung, dass das »Wirken Gottes« lediglich als Allwirksamkeit im obigen Sinn interpretiert wird.42 Die Vorstellung einer Mitwirkung Gottes im Speziellen 38

Schleiermacher, Der Christliche Glaube § 46.2, 269,9–15. A. a. O., 270,9–15. 40 Bernhardt, Was heißt »Handeln Gottes«?, 250. 41 Turrettini, Institutio 6,5,4, Bd. 1, 454: »Concursus dicitur […] vel per modum actionis, quatenus Deus est proximum principium operationis, quae a causis secundis editur, ita ut eadem illa sit operatio et actio Dei concurrentis, quae includitur in ipsa creaturae actione.« Schleiermacher (Der christliche Glaube § 46.2, Bd. 1, 270,19–21) verweist auf eine ähnliche Passage aus der Theologia didactico-polemica des altlutherischen Dogmatikers Johann Andreas Quenstedt (1617–1688). 42 Dies ist in der altprotestantischen Dogmatik nicht der Fall. Vielmehr wird das Zusammenwirken von Gott und Geschöpf – auch auf der Ebene des concursus per 39

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– im Sinne eines Wirkens auf und mit einzelnen kreatürlichen Ursachen im Blick auf bestimmte Handlungen oder Ereignisse, auf welche deshalb die Rede von einem Zusammenwirken Gottes mehr zuträfe als auf andere Vorkommnisse – lehnt Schleiermacher hingegen gänzlich ab.43 Bei ihm wird die traditionelle Lehre des concursus in jene der Schöpfungserhaltung (conservatio) absorbiert.44 Die Frage nach dem Zusammenwirken von Gott und Mensch im Gottesdienst erweist sich also angesichts von Schleiermachers Erhaltungslehre sowie angesichts seiner Definition des Gottesdienstes als überflüssig bzw. als geradezu sinnlos. Denn einerseits beziehe sich Gottes Wirken nie auf bestimmte Ereignisse mehr als auf andere. Da nun aber der Gottesdienst eine partikulare Handlung darstellt, könne in diesem Horizont von einem speziellen Mitwirken Gottes beim Gottesdienst nicht gesprochen werden. Andererseits ist der Gottesdienst Schleiermacher zufolge Darstellung des frommen Selbstbewusstseins. Dieses erweist sich aber gerade dadurch als »fromm«, dass sich das Subjekt von Gott als Allwirksamkeit abhängig erfährt und sich damit von der Vorstellung der Mitwirkung im traditionellen Sinn verabschiedet. Dies alles fasst Schleiermacher im prägnanten Satz zusammen: »Gottesdienst ist also der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen.«45 Das bedeutet zum einen: Die Frommen stellen sich im Gottesdienst als solche dar, sie verleihen ihrem frommen Selbstbewusstsein Ausdruck. Da das fromme Selbstbewusstsein nun aber darin besteht, dass man sich und den gesamten Naturzusammenhang, mit dem man sich identifiziert, als abhängig von Gott erfährt, ist die Selbstdarstellung der Frommen gleichbedeutend mit ihrer Darstellung als »Organe Gottes«. Zum anderen bedeutet der oben zitierte Satz aber auch: Es sind eben die Frommen, die im Gottesdienst handeln. Der Gottesdienst ist somit primär als eine menschliche, christlich-religiöse Veranstaltung zu betrachten und sollte deshalb am besten nicht so sehr als »Gottesdienst«, sondern als »Kultus« bezeichnet werden. Denn wenn man diese bestimmte Form von menschlichem darstellendem Handeln als »Gottesdienst« bezeichnete, könnte dies zum Missverständnis verleiten, dass die Menschen darin auf Gott einwirken könnten, was grundsätzlich abzulehnen ist; deshalb ist die Vokabel »Kultus« zu bevorzugen.46 modum actionis – als Verhältnis zweier Ursachen zueinander betrachtet, wobei die Zweitursachen der göttlichen Ursache ontologisch untergeordnet sind. 43 Schleiermacher, Der Christliche Glaube § 46, Zusatz, Bd. 1, 273f. 44 Vgl. Bernhardt, Was heißt »Handeln Gottes«?, 247. 45 Schleiermacher, Christliche Sitte, 525 f. 46 Vgl. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, 16; 88. Die Argumentation bestätigt, dass Schleiermacher den Gedanken, beim Gottesdienst könnte sich auch – oder gar vornehmlich – um einen Dienst Gottes an den Menschen handeln, prinzipiell ablehnt.

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Schleiermachers Erwähnung des »göttlichen Geistes« an dieser Stelle darf schließlich nicht als Hinweis darauf interpretiert werden, dass er etwa doch die Möglichkeit einer speziellen Wirkung Gottes annähme, die die Einzelnen befähigte, »Organe Gottes« zu sein. Denn »Heiliger Geist« ist bei Schleiermacher immer »Gemeingeist«,47 d. h. Geist der Kirche48 im Sinne einer Bezeichnung für deren kollektive Identität. Dies wird dadurch bestätigt, dass Schleiermacher den Ausdruck »Heiliger Geist« unter Rekurs auf den Begriff der »Volksthümlichkeit« einer Nation illustriert: »Jene Einheit des Geistes [ist] in demselben Sinn zu verstehen […], wie jeder auch die eigenthümliche Gestaltung der Menschheit in einem Volk als Eine ansieht, und auch derjenige, der nur den Einzelnen das Sein beilegt, doch sagen kann, die Persönlichkeit eines Jeden sei die durch seine ursprüngliche Anlage modificirte Volksthümlichkeit. Denn eben so sagen wir, […] die christliche Kirche sei eben so eines durch diesen Einen Geist, wie ein Volk eines ist durch jene in Allen gemeinsame und selbige Volksthümlichkeit.«49 Wie eine solche »Volksthümlichkeit« weder aus der Summe der Identitäten einzelner Subjekte resultiert noch in »Besitz« eines Einzelnen sein kann, obwohl sich jedes Subjekt in einer Nation zu dieser kollektiven Identität verhält; so besitzt nicht jedes Glied der Kirche im selben Grade eine »lebendige Überzeugung von der Identität des Geistes in Allen«50 und keines besitzt sie in vollkommener Weise, obwohl sich jedes Glied zu ihr verhält. Diejenigen, die diese Überzeugung jeweils in höchstem Maße besitzen, gelten bei Schleiermacher als »die ausgebildetsten Organe des göttlichen Geistes« und folglich auch als die Glieder der Kirche, denen ihre Regierung anvertraut werden sollte.51

Ebenso implizit, aber nicht weniger deutlich, tritt die genannte Überzeugung bei Schleiermachers Ausführungen zum – sowohl privaten als auch gemeinsamen – Gebet zutage. Seine Betonung der rein darstellenden Natur des Gebets als »erhöhte[r] Ausdruck des Bewußtseins der Abhängigkeit von Gott« (Praktische Theologie, 188) bzw. als »Maximum der religiösen Stimmung« (a. a. O., 195) rührt von der Überzeugung her, dass nur auf diese Weise der Gedanke einer möglichen Einflussnahme der Menschen auf Gott abzuwehren sei, vgl. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, 39. Als implizite Prämisse der Argumentation gilt erneut die Annahme, beim Gebet handle es sich um rein menschliches Handeln. 47 Vgl. Schleiermacher, Der Christliche Glaube § 121.2, Bd. 2, 280,18; § 123, Leitsatz, Bd. 2, 288,4. 48 A. a. O. § 122.1, Bd. 2, 284,7f: »Der heilige Geist [ist] die innerste Lebenskraft der christlichen Kirche als eines Ganzen.« Deshalb bedeutet »des heiligen Geistes theilhaftig werden« für Schleiermacher nichts anderes als: »aufgenommen werden in die Lebensgemeinschaft mit Christo [d. h. die Kirche]« (a. a. O. § 124.1, Bd. 2, 295,3–6). 49 A. a. O. § 121.2, Bd. 2, 281,27–37. 50 A. a. O. § 134.3, Bd. 2, 349,26 f. 51 A. a. O. § 146.2, Bd. 2, 420,10–14.

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I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

Verhalten sich die Glieder der Kirche notwendigerweise zu deren Gemeingeist und können – entsprechend dem Grade ihrer »Überzeugung der Identität des Geistes in Allen« – als ausgebildetere oder weniger ausgebildete »Organe Gottes« betrachtet werden, so weist die Definition des Heiligen Geistes als »Gemeingeist der Kirche« zugleich jegliche Vorstellung einer speziellen Wirksamkeit des Geistes auf die Einzelnen prinzipiell zurück. Denn gerade darin erweist sich der Heilige Geist als Gemeingeist, dass ihm keine »persönliche« Wirkung zuzuschreiben ist: »Das göttliche Wesen […], seitdem Christi persönliche Einwirkungen aufgehört haben, und es folglich in keinem Einzelnen mehr persönlich wirksam ist, [erweist] sich in der Gemeinschaft der Gläubigen als deren Gemeingeist wirksam«.52 1.4 »Kultus« als εÆ νε ργεια des frommen Bewusstseins Dass darstellendes Handeln bei Schleiermacher nicht-funktional und damit »zweckfrei« ist, ergibt sich daraus, dass ein solches Handeln selbst Höhepunkt der Aktivität eines Subjekts zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Es dient nicht der Erlangung eines der Handlung externen Zwecks – wie es beim wirksamen Handeln der Fall ist –, sondern es resultiert vielmehr aus der Aktualisierung einer Anlage im Menschen. Darstellung folgt nämlich mit einer gewissen Notwendigkeit auf die »Erregtheit« des Subjekts: Wenn die Erregtheit einen bestimmten Grad erreicht, kann das Subjekt nicht umhin, tätig zu werden, und die Form von Handeln, die daraus resultiert, nennt Schleiermacher »Darstellung«. Da ferner der Impuls, so zu handeln, aus dem Inneren des Subjekts kommt – darstellen kann man nur das, was in einem bereits vorhanden ist –, ist jegliche Darstellung immer grundsätzlich Selbstdarstellung, d. h. Darstellung des handelnden Subjekts entsprechend seiner jeweiligen (Be-)Stimmung. Dies gilt für die Kunst nicht weniger als für die Verkündigung, für das ethische Handeln nicht weniger als für das Gebet. All diesen Formen des Handelns ist gemeinsam, dass in ihnen das »erregte Subjekt« sich ausdrückt. Wie bereits erwähnt, wird auch der »Kultus« unter diese Kategorie von Handeln subsumiert. Denn kultisches Handeln resultiert aus dem »Erlösungsbewusstsein«, d. h. aus der »Frömmigkeit« in ihrer ungehemmten Form,53 wobei die Frömmigkeit wiederum »die höchste Stufe des menschlichen Selbstbewusstseins« bildet.54 Der Kultus stellt in diesem Sinn eine – gewissermaßen notwendige – Folge der progressiven Ak52

A. a. O. § 124.2, Bd. 2, 296,28–32. »Erlösungsbewusstsein« ist nach Schleiermacher das Bewusstsein der »Leichtigkeit […], das Gottesbewußtsein in den Zusammenhang der wirklichen Lebensmomente einzuführen und darin festzuhalten« (a. a. O., § 11.2, Bd. 1, 96,25–27). 54 A. a. O. § 5, Leitsatz, Bd. 1, 40,31 f. 53

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tualisierung menschlichen Selbstbewusstseins dar: Wenn eine kritische Stufe in diesem Aktualisierungs- und Erregungsprozess erreicht wird, »ergießt sich« das erregte religiöse Gefühl in das kultische »aussprechende Handeln«.55 Die Art und Weise, in der Schleiermacher darstellendes und wirksames Handeln sowie den Gegensatz zwischen den beiden beschreibt, weist eine auffallende Ähnlichkeit zur Bewegungstheorie des Aristoteles auf, in deren Zentrum die Gegenüberstellung von κι νησις und εÆ νε ργεια steht. Im weiteren Sinn bezeichnet Aristoteles als πραÄ ξις jede Weise menschlicher Bewegtheit, sodass πραÄ ξις das Ganze des Lebens umfasst und als »Titel für das Sein des Menschen schlechthin« gelten kann.56 Da jede Bewegung (κι νησις) zwar immer Bewegung um einer Sache willen ist, aber nicht jede Bewegung in einem gleichen Verhältnis zu ihrem Zweck (τε λος) steht, wird es jedoch nötig, verschiedene Bewegungsarten anhand ihres Verhältnisses zum jeweiligen Zweck voneinander zu unterscheiden.57 So verhält sich manche Bewegung zu ihrem τε λος als zu etwas, was aus der Bewegung als solcher herausfällt. Da eine solche Bewegung das eigene τε λος nicht enthält, wird sie von Aristoteles als »unvollkommen« bezeichnet (κι νησις αÆ τελη ς) und von der τελει α κι νησις, die hingegen um ihrer selbst willen geschieht, abgegrenzt. Zur ersteren Kategorie gehört jede Form von herstellendem Handeln (ποι ησις), das auch als κι νησις im engeren Sinn zu bezeichnen ist, während für die »vollkommene Bewegung« die Bezeichnung εÆ νε ργεια bevorzugt wird. Als Beispiele von εÆ νε ργεια nennt Aristoteles etwa das Denken (ϕρο νησις), das Erkennen (νο ησις), das gute Leben (ευË ζηÄ ν) sowie die Glückseligkeit (ευÆ δαιμονι α).58 All diesen Formen von »Bewegung« ist gemeinsam, dass sie nicht Übergang zur Vollkommenheit, sondern selbst eine Manifestation von Vollkommenheit sind,59 weshalb sie sich als εÆ νε ργειαι erweisen. Denn εÆ νε ργεια im engeren Sinn ist immer εÆ νε ργεια τουÄ τετελεσμε νου (»Aktivität des zur Vollkommenheit Gelangten«).60 Während die κι νησις eine Bewegung ist, die nach (irgendeiner Form von) Vollkommenheit strebt und deshalb in sich unvollkommen bleiben muss, entspringt gleichsam die εÆ νε ργεια der Vollkommenheit des handelnden Subjekts, sodass sich diese Form von Bewegung nicht auf ein τε λος ausrichtet, sondern selbst Manifestation des τε λος ist.61 In diesem Sinn ist εÆ νε ργεια 55 56 57 58 59 60 61

A. a. O. § 3.4, Bd. 1, 29,29. Weiss, Kausalität, 100. Aristoteles, Metaphysica 9,6, 1048b 18–35. A. a. O., 1048b 23–26. Joachim, Nicomachean Ethics, 207. Aristoteles, De anima 3,7, 431a 6 f. Vgl. Joachim, Nicomachean Ethics, 205 f.: »Any process of development, in which

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I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

»zweckfrei«, weil der Zweck nicht vor ihr – als etwas, was erreicht werden soll –, sondern bereits hinter ihr – als Bedingung der Möglichkeit dieser Bewegungsart – und somit auch in ihr selbst liegt. Ob Schleiermacher die Kategorie des darstellenden Handelns in Anlehnung an den aristotelischen εÆ νε ργεια-Begriff entwarf, lässt sich nicht eruieren, obwohl dies angesichts seiner intensiven und lebenslangen Beschäftigung mit der griechischen Philosophie (vor allem mit den Schriften Platons und Aristoteles’) sicherlich nicht auszuschließen ist.62 Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen steht es jedenfalls fest, dass Schleiermachers Charakterisierung des darstellenden Handelns in Abgrenzung vom wirksamen Handeln mit der aristotelischen Unterscheidung von εÆ νε ργεια und κι νησις kongruent ist. Deshalb ist es auch plausibel, Schleiermachers Gottesdienstverständnis als energetisch zu bezeichnen. Der »Kultus« erscheint als eine Form von εÆ νε ργεια, nämlich die εÆ νε ργεια des »stärker erregten« frommen Bewusstseins: Gelangt das fromme Bewusstsein zu einem ausreichend hohen Grad der »Erregung«, so wird es unumgänglich aktiv und drängt danach, sich im »darstellenden Handeln« auszudrücken und mitzuteilen, wobei der liturgische Gottesdienst als ein bevorzugter Ort solcher »darstellenden Mitteilung« betrachtet wird. Genauso wie die εÆ νε ργεια bei Aristoteles ist darstellendes Handeln im Allgemeinen und Gottesdienst im Speziellen nicht funktional zur Erreichung eines bestimmten Zustands, sondern selbst Resultat davon. Deshalb ist es auch vollkommen konsequent, dass Schleiermacher nur im akzidentellen Sinn von einem τε λος des Gottesdienstes spricht und dieses bloß als Intensivierung (»Erhöhung«) dessen definiert, was Bedingung der Möglichkeit des Gottesdienstes ist (das »fromme Bewusstsein«). Nun gilt es einerseits festzuhalten, dass, da Schleiermacher den Gottesdienst eben als »Kultus«, d. h. als primär menschliches Handeln, definiert, die Möglichkeit, ihn kinetisch aufzufassen, gewissermaßen von vornherein ausgeschlossen war. Denn dies hätte notwendigerweise zu einer Instrumentalisierung des Gottesdienstes geführt, sei es im Sinne einer Veranstaltung, bei der Menschen auf andere Menschen einwirken (»Mission«), sei es im Sinne einer kultischen Handlung, bei der Menschen sich anmaßen, auf Gott einwirken zu können. Andererseits stellt sich dennoch die Frage, ob ein kinetisches Gottesdienstverständnis doch möglich oder gar geboten ist, wenn man den Gottesdienst nicht als primär menschliches, sondern als primär göttliches Handeln auffasst. Bevor auf diese Frage eingegangen wird, solthe developing thing passes from an incompletely realized condition to full realization, is κι νησις: any activity in which the active thing is completely realized all through is εÆ νε ργεια proper.« 62 Zum Einfluss griechischen Gedankenguts etwa auf Schleiermachers Enzyklopädie, vgl. Crouter, Shaping an Academic Discipline, 113.

2. Gottesdienst, »Performanz« und das Erbe Schleiermachers

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len jedoch einige Aspekte der Schleiermacher-Rezeption in der heutigen Liturgik besprochen werden, die im Zusammenhang mit dem zu entfaltenden pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnis von besonderer Relevanz sind. 2. Gottesdienst, »Performanz« und das Erbe Schleiermachers Schleiermachers Gottesdienstverständnis war eine imposante Wirkungsgeschichte beschieden, welche bereits im 19. Jahrhundert begann.63 Sie wurde zwar durch die Jüngere Liturgische Bewegung und die Wort-Gottes-Theologie gleichsam unterbrochen, setzte aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter den Vorzeichen einer gesteigerten Moderne wieder ein. Insbesondere wurde die Schleiermacher-Rezeption einerseits dadurch begünstigt, dass sich ab den 1970er Jahren in der deutschsprachigen evangelischen Liturgik die Tendenz abzeichnete, den Gottesdienst oder »Kultus« in anthropologisch-ritualtheoretischer Perspektive zu reflektieren.64 Der Gottesdienst stellt in diesem Sinn eine besondere Form menschlichen Handelns dar und erfüllt im Rahmen einer bestimmten Gemeinschaft eine Funktion, welche zu identifizieren eine der Hauptaufgaben der Liturgik ist. Andererseits ließ sich Schleiermachers Gottesdienstverständnis auch mit Entwürfen verbinden, die infolge der Mitte der 1980er Jahre vollzogenen »ästhetischen Wende in der Praktischen Theologie«65 das liturgische Geschehen vorzüglich durch Heranziehung theaterwissenschaftlicher Kategorien wie »Inszenierung« und »Performanz« reflektieren. Der erste Rezeptionsstrang wird im Folgenden anhand der Liturgik Peter Cornehls,66 der zweite hingegen anhand der fundamentalliturgischen Ausführungen Ursula Roths und David Plüss’ illustriert.

63 Vgl. etwa die Rezeption schleiermacherschen Gedankengutes in der Homiletik des Zürchers Alexander Schweizer (1808–1888), vgl. Kunz, Schweizer, 156 f.; 142–144. Zum Einfluss Schleiermachers auf die gegenwärtige Praktische Theologie siehe auch Rössler, Grundriß, 445; Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 189. 64 Vgl. Ratzmann, »Gott ist gegenwärtig«, 20 f. 65 Deeg, Das äußere Wort, 52. 66 Weitere Beispiele einer dezidierten Schleiermacher-Rezeption im Bereich der Liturgik stellen die Arbeiten Wilhelm Gräbs (vgl. Predigt als Mitteilung, 168–235) sowie Christoph Dinkels (vgl. Was nützt der Gottesdienst?, bes. 168–216) dar. Auch Michael Meyer-Blanck (vgl. Gottesdienstlehre, § 3) knüpft deutlich an Schleiermachers Definition des Gottesdienstes als »darstellende Mitteilung« und »mitteilende Darstellung« an und betrachtet diese als »äquivalent« mit der Kategorie der »Kommunikation des Evangeliums«, wie diese von Ernst Lange in Bezug auf den Gottesdienst verwendet wurde (a. a. O., 34).

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I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

2.1 Expressiv-energetisches Gottesdienstverständnis heute Peter Cornehl entfaltet seine Liturgik als »Theorie des Gottesdienstes«. Diese unterscheide sich insofern von einer Theologie des Gottesdienstes – oder, wie er schreibt, von einer »dogmatischen Liturgik« bzw. einer »liturgischen Dogmatik« –, als in ihr der christliche Gottesdienst nicht ausgehend von bestimmten theologischen Prämissen, sondern entsprechend einer »funktionalen Betrachtungsweise« untersucht wird.67 Dabei wird kultisches Handeln grundsätzlich als ein »allgemeines religiöses und humanes Phänomen« begriffen, welches im Rahmen einer beliebigen Gemeinschaft eine bestimmte Funktion erfüllt. Da der christliche Gottesdienst ferner nichts anderes als die für die christliche Glaubensgemeinschaft spezifische Form kultischen Handelns – d. h. eine mögliche Konkretion des allgemeinen Phänomens »Kult« – darstellt, lassen sich die allgemeinen funktionalen Beobachtungen betreffend das kultische Handeln problemlos auf den christlichen Gottesdienst übertragen. Cornehls starke Abgrenzung von jeglicher »dogmatischen Liturgik« oder »liturgischen Dogmatik« bedeutet an sich freilich nicht, dass er die Möglichkeit einer solchen Sicht auf den Gottesdienst grundsätzlich in Frage stellte. Seine Liturgik entwickelt sich jedoch entlang ganz anderen Linien. So definiert Cornehl etwa im ersten Band von Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit (2006) den Gottesdienst zwar immer wieder als Ort der Begegnung mit Gott68 und spricht auch die spezifisch dogmatische Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst an.69 Ziel seiner Untersuchungen bleibt aber in erster Linie die »differenzierte phänomenologische Beschreibung der gottesdienstlichen«, d. h. zunächst allgemein kultischen, »Kommunikation«.70 Die Kontinuität mit Schleiermachers Gottesdienstverständnis wird erstens daran deutlich, dass Cornehl den Gottesdienst primär und grundsätzlich als menschliches Handeln betrachtet, dessen »ganz wesentlich[e]«71 Funktion in der »Expression« bestehe: In »Kult, Ritus, Liturgie […] vollzieht sich der expressive Selbstausdruck einer religi-

67 Cornehl, Theorie, 45. Da der Ansatz Cornehls in seiner Monographie Der Evangelische Gottesdienst (2006) in deutlicher Kontinuität mit seinem »Prospekt« aus dem Jahr 1979 steht, werden diese beiden Schriften im Folgenden synoptisch analysiert. 68 Vgl. Cornehl, Evangelischer Gottesdienst, 53; 66; 89; 273. Vgl. auch ders., Den Gottesdienst erleben, 297. 69 Vgl. Cornehl, Evangelischer Gottesdienst, 52. 70 A. a. O., 53. 71 A. a. O., 69.

2. Gottesdienst, »Performanz« und das Erbe Schleiermachers

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ösen Gemeinschaft«;72 »kultisches Handeln ist Ausdruckshandeln«.73 Ausgedrückt bzw. »anschaulich dargestellt« wird im Kultus, was eine Gemeinschaft »zuinnerst bewegt«, nämlich ihre »bedrängende[n] und beglückende[n] Erlebnisse«.74 Im Falle der christlichen Glaubensgemeinschaft seien »befreiende Erfahrungen, die Menschen in der Begegnung mit dem Evangelium gemacht haben«, Gegenstand der kultischen Darstellung.75 Dass es zu einer solchen Darstellung im Kultus kommt, ist für Cornehl ebenso wie für Schleiermacher einerseits unvermeidlich. Denn das »stärker erregte« religiöse Subjekt tendiert – wie bereits ausgeführt – mit einer gewissen Notwendigkeit zur Selbstmitteilung: »Der Glaube selbst drängt nach Mitteilung und Austausch. Der die Christen bestimmende und verbindende Geist manifestiert sich in der Versammlung der Gläubigen«.76 Auch bei Cornehl wird der Gottesdienst also primär als »darstellendes Handeln« im schleiermacherschen Sinn und damit als eine Form von εÆ νε ργεια konzipiert, die als solche nicht auf einen sie transzendierenden Zweck ausgerichtet, sondern selbst höchstmögliche Aktualisierung ist. »Liturgie als Ausdruckshandeln sichert dem Gottesdienst ein Moment des Unzweckmäßigen. Authentischer Kult ist […] wesentlich zweckfreie Äußerung, absichtslose Erhebung des Menschen zu Gott«.77 Andererseits sei anzuerkennen, dass kultisches Handeln – im Rahmen der christlichen nicht weniger als in jeglicher anderen Glaubensgemeinschaft – »bestimmte Bedürfnisse erfüllt«.78 Selbst die Expression sei ein solches Bedürfnis. Während aber das Bedürfnis nach Expression gleichsam aus der Fülle religiöser Erfahrung erwachse, ergäben sich die anderen Bedürfnisse eher aus der »Erfahrung der Übermacht der Negativität«: »Voraussetzung [des Kultus] ist die alltägliche Erfahrung, dass das Leben […] in vieler Hinsicht gefährdet ist. […] Immer wieder bricht das Chaos in die Ordnung.«79 In Anlehnung an Mircea Eliade erblickt Cornehl folglich im Kultus als symbolischer »Wiederherstellung des Kosmos«80 einen wichtigen Ort, an dem »Ori72

Cornehl, Theorie, 48. Cornehl, Evangelischer Gottesdienst, 69. 74 Cornehl, Theorie, 48; ders., Evangelischer Gottesdienst, 69. 75 A. a. O., 281. 76 Cornehl, Theorie, 53. Man beachte, dass Cornehl an dieser Stelle auch die für Schleiermacher typische Auffassung des Heiligen Geistes als »Gemeingeist« der Kirche rezipiert. 77 Cornehl, Evangelischer Gottesdienst, 70. 78 A. a. O., 275. 79 A. a. O., 67. 80 Vgl. Eliade, Das Heilige und das Profane, 23 f.; Cornehl, Theorie, 47; ders., Evangelischer Gottesdienst, 68. 73

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I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

entierung« geschieht, und zwar durch die Vergegenwärtigung religiöser Überlieferungen genauso wie durch die daraus resultierende »Deutung der Welt«, durch die Befestigung von »Normen und Werten« sowie mittels deren Legitimation »durch Bezug auf den Willen Gottes«.81 Auch die beiden anderen von Cornehl erwähnten Funktionen – die »affirmative«82 und die »integrative«83 – haben einen ähnlichen Skopus, wobei sich die Affirmation eher auf die Individuen, die Integration hingegen auf die Gemeinschaft bezieht. Obwohl Cornehl zufolge dem Kultus in jeder seiner Funktionen eine gewisse Ambivalenz eignet – die darin begründet ist, dass Orientierung, Affirmation und Integration nicht nur positive Folgen haben, sondern auch in Unterdrückung oder Zwang münden können84 –, lässt sich festhalten, dass für ihn kultisches Handeln eine im hegelschen Sinn dialektische Wirkung entfaltet. Im Kultus gibt die Gemeinschaft ihrem religiösen Bewusstsein Ausdruck, indem sie die »Aufhebung des Unheils«, die »Negation der Negation« feiert.85 Mittels dieser expressiven Handlung erfolgt Krisenbewältigung durch Orientierung, Affirmation und Integration, sodass »die göttliche Ordnung« immer wieder »wie ein heiliger Baldachin, der das Leben überwölbt«, wahrgenommen werden kann.86 2.2 Der Gottesdienst als grundsätzlich expressive »Performanz« In deutlicher Kontinuität mit Schleiermachers Liturgik stehen des Weiteren auch solche Entwürfe, wie David Plüss und Ursula Roth sie vorgelegt haben, die gottesdienstliches Handeln im Anschluss an die »Ästhetik des Performativen«87 reflektieren. Sie stellen insofern eine Weiterführung des ritualtheoretischen Ansatzes Werner Jetters88 dar, als bei ihnen der Gottesdienst nicht nur grundsätzlich als Ritual be-

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Ebd. Cornehl, Theorie, 59–61; ders., Evangelischer Gottesdienst, 70 f. 83 A. a. O., 71 f. 84 A. a. O., 68–72. 85 A. a. O., 70. 86 Cornehl, Theorie, 47; ders., Evangelischer Gottesdienst, 68. 87 Zentral bei diesem Ansatz – dessen bekannteste Repräsentantin im deutschsprachigen Raum die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte ist – ist die Idee, dass sich eine Aufführung (performance) immer aus der »leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern« ergibt, wobei beide an der Aufführung mitpartizipieren, sie beeinflussen und durch ihre Teilnahme an ihr auch verändert werden, vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 47; dies., Performativität, 113–129; Raschzok, Gottesdienst und Dramaturgie, 36–39. 88 Vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 87–121. 82

2. Gottesdienst, »Performanz« und das Erbe Schleiermachers

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trachtet, sondern dessen Struktur darüber hinaus anhand von Kategorien der Theaterwissenschaft und -theorie (allen voran derjenigen der »Inszenierung«89) analysiert wird.90 Die Auseinandersetzung mit diesen Entwürfen ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig, weil sowohl Plüss als auch Roth die Prägekraft gottesdienstlicher Erfahrung betonen und somit in einem bestimmten Sinn die Formativität der Liturgie verfechten. Dass sich ihre Gottesdienstauffassung dennoch deutlich von der im Folgenden darzulegenden unterscheidet und vielmehr an die expressive Liturgik Schleiermachers anknüpft, gilt es nun herauszustellen. Bei allen zwischen der Arbeit Plüss’ und Roths bestehenden Unterschieden91 stimmen sie in mindestens dreierlei Hinsicht unter sich und mit Schleiermacher überein. Erstens gehen sowohl Roth als auch Plüss von einer Priorität des Expressiven im Gottesdienst aus. So pflichtet Plüss Peter Cornehl in dessen »Betonung der Expressivität des multimedialen liturgischen Vollzugs«92 bei und hält fest, dass der Gottesdienst in erster Linie ein Ort »kultischer Artikulation« »privaten religiösen Erlebens« sei, d. h. ein Ort, an dem Menschen »versuchen, ihrem religiösen Erleben in rituell-kollektiven Formen Ausdruck zu verleihen«.93 Ebenso deutlich hebt auch Roth die grundsätzliche Expressivität des Gottesdienstes hervor, denn – wie sie formuliert – »das gottesdienstliche Handeln dient zuallererst dem gemeinsamen Ausdruck des Glaubens«94 und »liturgische Handlungen [entstehen] als Ausdruck des christlichen Glaubens und werden als solche von allen wahrgenommen«.95 Zweitens betrachten sowohl Plüss als auch Roth den Gottesdienst – wie die oben angeführten Zitate bereits belegen – grundsätzlich als menschliches Handeln.96 Zwar bezeichnet Plüss den Gottesdienst bisweilen als »Raum der Gottesbegegnung«,97 präzisiert dann aber seine 89

Vgl. Meyer-Blanck, Inszenierung, 17–19. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 375–377; 381 f. 91 Vgl. Raschzok, Gottesdienst und Dramaturgie, 18: »Während David Plüss bisherige Sinndeutungsprozesse des semiotic turn durch Präsenzeffekte im Sinne des performative turn ersetzt und der liturgischen Praxis eine integrale Theorie unterlegt, die aus dem Gespräch mit der Ästhetik des Performativen schöpft, betont Ursula Roth stärker den Ereignischarakter des Gottesdienstes und die sich durch ihn vollziehende Erschließung eines Erfahrungsraumes.« 92 Plüss, Gottesdienst, 47. 93 A. a. O., 138. 94 Roth, Theatralität, 282 (Hervorhebung, LB). 95 A. a. O., 284. 96 Vgl. Raschzok, Gottesdienst und Dramaturgie, 20. 97 Plüss, Gottesdienst, 155. In Bezug auf bestimmte liturgische Vollzüge, wie etwa den Segen, kann Plüss von Gott sogar als »wirkendes Subjekt« sprechen, vgl. a. a. O., 256. 90

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I. Das anthropologisch-expressive Gottesdienstverständnis

Aussage dahingehend, dass Gottesdienste nicht so sehr als Raum dieses Ereignisses selbst, sondern eher als dessen »Kultivierungsräume« anzusehen seien.98 Gottesdienste »beziehen sich auf das Ereignis und bearbeiten es« – das Ereignis wird insofern gewissermaßen vorausgesetzt – »indem sie es sinnlich erfahrbar darstellen, in seinen Dimensionen reflektierend ausloten und in die Alltagsbezüge zu transponieren versuchen«.99 Dies führt zur dritten Gemeinsamkeit bei den Ansätzen Plüss’ und Roths, nämlich die Art und Weise, in der die Wirkung des Gottesdienstes beschrieben wird. In beiden Fällen ereignet sich die Wirkung in der Darstellung selbst als menschlichem Ausdruckshandeln, das innerhalb einer Gemeinschaft geschieht. Darin bleiben Plüss und Roth Schleiermacher treu, obwohl sie in Gegensatz zu Letzterem die Wirksamkeit darstellenden Handelns nicht mehr als bloß akzidentell, sondern als konstitutiv zu betrachten tendieren. So hält Roth fest: »Gerade darin[, dass gottesdienstliches Handeln zuallererst dem gemeinsamen Ausdruck des Glaubens dient,] kennzeichnet ihn zugleich ein transformatives Moment. Denn sowohl die eigene expressive Handlung als auch die Expression anderer vermag den eigenen Glauben zu vergewissern, durch neue Aspekte zu bereichern und neu zu orientieren. Im Austausch – oder auch: in der Zirkulation – unterschiedlicher Glaubensprofile und Frömmigkeitsstile, in der Konfrontation mit vernachlässigten Facetten des christlichen Glaubens, im körperlichensinnlichen Miterleben der liturgischen Handlungen entsteht ein Erfahrungsraum, der neue Perspektiven auf die Wirklichkeit öffnen kann.«100 Plüss geht seinerseits davon aus, dass Religion im Allgemeinen mitsamt ihren liturgischen Vollzügen »ein ausgesprochen geeignetes und differenziertes Instrumentarium« für die Bearbeitung und »performative Artikulation biographisch grundlegender Szenen« zur Verfügung stelle.101 Im Gottesdienst werde den Teilnehmenden die Möglichkeit angeboten, eigene biographische Schlüsselszenen im Spiegel kultisch vermittelter religiöser »Urszenen« religiös zu deuten und auf diesem Wege biographisch zu integrieren.102 Die besondere (Deutungs-)Leistung des Gottesdienstes bestehe also darin, dass er als menschliche religiöse performance zur Identitätskonstruktion des Individuums beitrage.103

98 99 100 101 102 103

A. a. O., 161. Ebd. Roth, Theatralität, 282 f. Plüss, Gottesdienst, 141. A. a. O., 140–142; 161. A. a. O., 135; 161.

3. Fazit

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3. Fazit Bei Schleiermacher wie auch bei Cornehl, Roth und Plüss, die in unterschiedlicher Weise an dessen Liturgik anknüpfen, begegnet ein anthropologisch-expressives Verständnis gottesdienstlichen Handelns. In dieser Perspektive ist Gottesdienst primär Handeln von Menschen und somit »Kultus«, dem eine grundsätzliche Expressivität eignet. Die weiteren »Funktionen« bzw. »Wirkungen« des Kultus ergeben sich aus dessen Ausdrucksdimension und sind dieser gleichsam immanent: Dadurch und nur dadurch, dass der Mensch sich im Gottesdienst ausdrückt, wird diese Handlung auch zu einem Ort der »Orientierung«, »Affirmation« und »Integration« (Cornehl) bzw. der »Vergewisserung des Glaubens« (Roth) oder der »Identitätskonstruktion« (Plüss). Die expressive Dimension ist somit grundlegend und daher prioritär gegenüber den anderen. Die Betrachtung des Gottesdienstes als primär menschliches Handeln und die Betonung seiner Expressivität hängen eng miteinander zusammen: Als grundsätzlich expressiv kann der Gottesdienst nur insofern gelten, als man in ihm in erster Linie eine »kultische« Handlung erblickt. Zugleich führt eine essenziell anthropologische Sicht auf den Gottesdienst zwangsläufig zur Betonung der Expressivität, denn die einzige Alternative wäre, den Gottesdienst als manipulative oder gar theurgische Veranstaltung zu betrachten. Will man deshalb ein alternatives, pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis entwerfen, so müssen beide Grundannahmen des anthropologisch-expressiven Ansatzes der Kritik unterzogen werden.

II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

Im Gegensatz zum anthropologisch-expressiven Modell zeichnet sich ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis durch die zweifache Betonung der konstitutiv formativen Wirkung liturgischer Praxis sowie der Priorität göttlichen Handelns im gottesdienstlichen Geschehen aus. Im Gottesdienst handeln zwar Menschen, aber ihre Handlungen werden erst dadurch zum Gottesdienst, dass Gott mit den Menschen zusammenwirkt und sich ihrer Handlungen bedient, um selbst an ihnen formativ zu handeln. Beide Dimensionen werden im Folgenden unter Rekurs auf verschiedene Autoren erläutert, die in unterschiedlichen Kontexten und in einer Zeitspanne, die von der Mitte des 20. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts reicht, auf die Natur gottesdienstlichen Handelns reflektiert haben. So wird die konstitutiv formative Wirkung liturgischer Praxis (1.) ausgehend von Impulsen behandelt, die auf drei nordamerikanische methodistische Theologen zurückgehen: Donald Saliers, William Willimon und Stanley Hauerwas. Darüber hinaus kommen aber auch die Entwürfe des deutschen Ethikers Bernd Wannenwetsch sowie des reformierten Kulturphilosophen James K. A. Smith zur Sprache. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst (2.) wird hingegen im Gespräch mit u. a. Peter Brunner, Gerardus van der Leeuw und Karl Barth als prominenten Vertretern einer dogmatisch fundierten Gottesdiensttheologie reflektiert. Gewinnt ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis gegenüber dem anthropologisch-expressiven an Plausibilität, so führt dies aber auch zu einer Revision der Bestimmung gottesdienstlichen Handelns als eine Form von εÆ νε ργεια (3.). Denn wenn Gott selbst primäres Subjekt einer Handlung ist, die auf die Formung derjenigen zielt, die sie vollziehen, dann kann diese Handlung in theologischer Perspektive nicht mehr als εÆ νε ργεια, sondern muss vielmehr als κι νησις betrachtet werden: eine auf die Menschen bezogene κι νησις Gottes (genitivus subiectivus).

1. Kirchlicher Gottesdienst als pneumatisch-formatives Geschehen

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1. Kirchlicher Gottesdienst als pneumatisch-formatives Geschehen 1.1 Die »Methodist Connection«: Stanley Hauerwas, Donald Saliers und William Willimon über Liturgie und Charakterbildung Der Methodist Stanley Hauerwas gehört nicht nur zu den bekanntesten Theologen in Nordamerika,1 er gilt auch als »der einflussreichste zeitgenössische Verfechter der transformativen Implikationen des Gottesdienstes«.2 Steht die Bedeutung seines Werks im Blick auf die Entwicklung eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses außer Frage, so muss allerdings festgehalten werden, dass neben Hauerwas auch andere methodistische Theologen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben. Hauerwas erscheint somit nicht als alleiniger Urheber eines solchen Liturgieverständnisses, sondern vielmehr als eine wichtige Stimme unter anderen, die im Folgenden ebenso zur Sprache kommen sollen. 1.1.1 Der Zusammenhang von Charakterbildung, »story« und Gemeinschaftspraktiken Hauerwas’ Rede von der formativen Wirkung der Liturgie lässt sich nur auf dem Hintergrund seiner ethics of character verstehen. Den Charakter definiert Hauerwas als »die Voraussetzung oder Bestimmung unserer eigenen Handlungsträgerschaft [self-agency], die dadurch geformt worden ist, daß wir gewisse Absichten [intentions] (und Anschauungen [beliefs]) haben.«3 Besonders wichtig ist für Hauerwas der Zusammenhang zwischen Charakter und narrative bzw. story, einem Begriff, dem in Hauerwas’ Gesamtentwurf die Bedeutung einer »heuristischen Grundkategorie« zukommt4 und der unterschiedlich dekliniert wird. Zum einen wird story als handlungstheoretisches Konzept verwendet, indem die Logik des Erzählens als für jegliche Rechenschaft bestimmend betrachtet wird, die eine handelnde Person über eine Handlung abgibt.5 Zum anderen bezeichnet Hauerwas als story den Gesamtzu1 Stout, Democracy and Tradition, 141: »Stanley Hauerwas is surely the most prolific and influential theologian now working in the United States.« 2 Brock, Christian Ethics, 239. 3 Hauerwas, Selig, 87; ebd.: »Unser Charakter ist […] die Form, die unsere Handlungsträgerschaft durch unsere Anschauungen und Absichten annimmt.« Vgl. auch Hauerwas, Character, 115. 4 Hütter, Evangelische Ethik, 132. 5 Hauerwas, Truthfulness and Tragedy, 76: »To describe an action rightly is not to give its causal antecedents, but rather describing it as a response and therefore as an element in a story.«

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

sammenhang des Handelns einer Person. In diesem Sinn wird story – als »Gesamtstory« eines handelnden Subjekts verstanden – zum Synonym für das »Selbst«: Das Selbst ist in dieser Perspektive seine eigene story.6 Schließlich kann der Begriff story auch den bestimmenden Lebenshorizont eines Handelnden bezeichnen. Die story – nun als »Leitstory« verstanden – stellt in diesem Sinn den Rahmen dar, der das Selbsvertändnis des Handelnden und somit seinen Charakter bedingt. Denn das Leben könne nur dadurch eine bestimmte Ausrichtung (einen bestimmten Charakter) erhalten, dass der Mensch sich selbst und die Welt entsprechend einer bestimmten »erzählten Geschichte« (story) versteht.7 Charakterformung geschehe dementsprechend durch Einübung in eine bestimmte story: »[…] jede Existenz, und besonders das menschliche Ich, [ist] durch eine erzählte Geschichte geformt.«8 Da aber jegliche so verstandene story immer nur innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft tradiert wird, kann Charakterformung von der Gemeinschaft und ihren Praktiken nicht getrennt werden.9 In Bezug auf die christliche Ethik – verstanden als christliche Charakterformung, d. h. als Einübung in das Christsein – bedeutet dies erstens, dass auch sie in einer Einübung in eine bestimmte Geschichte, die Geschichte Gottes, besteht: Ethik […] handelt nicht in erster Linie von Regeln und Prinzipien, sondern handelt davon, wie das Ich verwandelt werden muß, um die Welt der Wahrheit entsprechend zu sehen. Für Christen entwickelt sich ein solches Sehen durch die Einübung in eine erzählte Geschichte, die uns lehrt, wie wir die Sprache der Sünde nicht nur in Bezug auf andere, sondern auch in Bezug auf uns verwenden sollen.10

Zweitens entpuppt sich christliche Ethik als eminent kirchliche Ethik. Es sind nämlich die Gemeinschaftspraktiken der christlichen Kirche, durch die die christliche story vermittelt wird,11 sodass diejenigen, die 6 A. a. O., 78: »The mysterious thing we call a self is best understood exactly as a story.« An dieser wie an zahlreichen anderen Stellen des Werks Hauerwas’ macht sich seine Abhängigkeit von Alasdair MacIntyres ethischem Entwurf bemerkbar. Zur Bestimmung des Selbst als story vgl. MacIntyre, Verlust, 292: »Worin besteht die Einheit eines individuellen Lebens? Die Antwort lautet, daß diese Einheit in der Einheit einer in einem einzigen Leben verkörperten Erzählung besteht.« Siehe auch a. a. O., 275; 283. 7 Hütter, Evangelische Ethik, 146. 8 Hauerwas, Selig, 83. Vgl. a. a. O., 91: »[…] ein Handelnder zu sein bedeutet, daß ich fähig bin, meine Handlung in einer fortlaufenden Geschichte in einer bestimmten Sprachgemeinschaft zu verorten.« 9 A. a. O., 95: »Sowohl die Initiation in eine Geschichte wie auch die Fähigkeit, in dieser Tradition zu bleiben, hängt von anderen ab, die vor uns gegangen sind, und von denen, die mit uns unterwegs sind.« 10 A. a. O., 80 (Hervorhebung, LB).

1. Kirchlicher Gottesdienst als pneumatisch-formatives Geschehen

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an diesen Praktiken teilnehmen, sich in das christliche Selbst- und Weltverständnis einüben und dabei eine Transformation ihres Charakters erfahren. Christliche Ethik [muss] der christlichen Gemeinschaft dienen und durch sie geformt werden, einer Gemeinschaft, deren Interessen in der Formung des Charakters liegen und deren andauernde Geschichte die Kontinuität bietet, die wir brauchen, um in Übereinstimmung mit diesem Charakter zu handeln.12

1.1.2 Liturgie und Charakterbildung bei Saliers und Willimon In seinen beiden Schriften Character and the Christian Life und The Peaceable Kingdom weist Hauerwas zwar an verschiedenen Stellen auf den Zusammenhang zwischen kirchlichen Gemeinschaftspraktiken – zu denen die Liturgie zählt – und christlicher Chrakterformung hin,13 geht aber nicht ausführlich darauf ein. Erst später sollte er dieses Thema wieder aufnehmen und systematisch entfalten. Es ist hingegen das Verdienst eines anderen methodistischen Theologen, Donald E. Saliers, bereits Ende der 1970er Jahre Hauerwas’ Überlegungen zur christlichen Ethik als Charakterformung aufgenommen und den Zusammenhang zwischen Letzterer und der liturgischen Praxis im Speziellen thematisiert zu haben. Im 1979 publizierten Aufsatz Liturgy and Ethics: Some New Beginnings definiert Saliers zunächst das »christliche Leben« als »Zusammenstellung [set] von Affekten und Tugenden«, welche »im Heilsmysterium Christi begründet« sind.14 Solche Affekte und Tugenden könnten allerdings nicht als etwas betrachtet werden, was der Mensch punktuell und endgültig erwerbe. Vielmehr sei der Christenmensch stets darauf angewiesen, immer wieder neu auf Jesus Christus ausgerichtet und damit seiner neuen Identität erinnert zu werden. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem diese (re-)orientierende Anamnese stattfindet: Normatively considered, good liturgy is the fundamental imaginal framework of encounter with God in Christ which forms intentions in and through the affections which take God in Christ as their goal and ground.15 11

A. a. O., 157: »Die Geschichte [Gottes] wird nicht nur erzählt, sondern ist in den Gewohnheiten eines Volkes verkörpert, die durch Gottesdienst, Kirchenleitung und Moral sowohl sich selbst formen als auch geformt werden.« 12 A. a. O., 81 (Hervorhebungen, LB). Vgl. ebd., 155: »Christliche Ethik ist […] nicht zu verstehen ohne die Existenz und Erkennbarkeit von Gemeinschaften und deren entsprechenden Institutionen, die in der Lage sind, die Geschichte Gottes weiterzutragen.« 13 Vgl. A.a. O., 168–173; Hauerwas, Character, 210. 14 Saliers, Liturgy, 179. 15 A. a. O., 180 (Hervorhebung, LB). Vgl. Saliers, Worship as Theology, 173–180.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

Bedeutet dies etwa, dass die character formation als Zweck des Gottesdienstes zu definieren sei? Saliers verneint es und weist vielmehr darauf hin, dass liturgische Praxis in erster Linie eine »nicht-utilitaristische Inszenierung des Dramas der Begegnung zwischen Gott und Mensch« ist.16 Selbst wenn die formative Wirkung nicht als Zweck der Liturgie betrachtet werden darf, ist Erstere von Letzterer jedoch untrennbar. Denn jede auf die Verherrlichung des dreieinigen Gottes allein zielende liturgische Inszenierung setzt als solche immer auch eine formative Wirkung auf diejenigen frei, die die Liturgie mitfeiern. In diesem Sinn kann Saliers von einer der Liturgie eigentümlichen »Verherrlichung-Heiligung-Dialektik« sprechen, wobei er die Verherrlichung Gottes und die Heiligung der Menschen als »zweifachen Brennpunkt der Liturgie« beschreibt.17 Gegen Ende seines Artikels formulierte Saliers das Desiderat einer genaueren Untersuchung der Art und Weise, in der die Liturgie als »Schule der Affekte« wirke.18 Hauerwas sollte später selbst dieser Frage nachgehen. Bevor auf seinen Beitrag eingegangen wird, dürfte jedoch interessant sein, bei einem weiteren methodistischen Theologen, William H. Willimon, zu verweilen, der als Erster der Frage nach dem Verhältnis von Liturgie und Ethik eine ganze Monographie widmete. In The Service of God. How Worship and Ethics are Related (1983) übernimmt Willimon den tugendethischen Ansatz Hauerwas’ und betont den Zusammenhang zwischen sittlichem Handeln (morality) und Charakter.19 Als »grundlegende moralische Ausrichtung«20 bzw. als Totalität der Habitus bestimmt der Charakter das Verhalten eines Menschen. Der Charakter ist aber seinerseits keine angeborene Eigenschaft, sondern etwas Erworbenes, das Resultat eines langsamen inneren Bildungsprozesses.21 Eine solche Charakterbildung geschieht 16

Saliers, Liturgy, 188: »Liturgy is the non-utilitarian enactment of the drama of the divine-human encounter.« 17 A. a. O., 183; 187. 18 A. a. O., 187: »What remains to be done is the detailed analysis and specification of how the context of liturgy – rightly prayed and celebrated – is the school of the affections.« 19 Willimon, Service, 84: »Morality is a sustained, disciplined product of character.« 20 A. a. O., 28: »Character is our basic moral orientation that gives unity, definition, and direction to our lives.« 21 Ebd.: »Character is that disposition of the moral self acquired through gradual growth and a host of forces and influences acting upon the self.« Der Begriff »Bildung« (als Übersetzung von »formation«) wird in der vorliegenden Studie nicht im Sinne des auf Alexander von Humboldt zurückgehenden Verständnisses von Bildung als »Selbstbildung« des Subjekts verwendet. Vielmehr wird an Hans G. Ulrichs theologische Interpretation der Bildung als Prozess, in dem sich der Mensch durch Gott bilden lässt, angeknüpft. Bildung gründet insofern nicht primär im Handeln des Menschen an sich selbst, sondern im göttlichen Handeln am Menschen. Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 313–336; Hofheinz, Bildung, 220 f.

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meist unbewusst und kann – je nachdem, welchen Verhaltensmustern man ausgesetzt wird – zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Unabhängig von der Qualität und den Resultaten des Prozesses sei zweierlei für die Charakterbildung typisch: Erstens geschehe sie immer im Rahmen einer bestimmten Gemeinschaft, zweitens stelle sie einen lebenslangen Prozess dar.22 In Bezug auf christliche Charakterbildung bestimmt nun Willimon den Gottesdienst als den Ort, an dem Erstere geschehe. Der Gottesdienst ist wie jede andere charakterbildende Praxis eine Gemeinschaftspraxis, die von ihrer steten Wiederholung lebt. Die Spezifizität der im Gottesdienst stattfindenden Charakterbildung besteht allerdings darin, dass in der Liturgie der Mensch Gott ausgesetzt wird.23 Wie Saliers betont auch Willimon, dass Charakterbildung nicht als Zweck des Gottesdienstes zu verstehen sei. Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass liturgische Praxis gerade deshalb, weil ihr einziges Ziel die Verherrlichung des dreieinigen Gottes ist, immer auch formativ wirkt. Eine solche Wirkung ist mit dem Gottesdienst unlöslich verbunden, obwohl deren Freisetzung als solche von den Gottesdienst Feiernden nicht intendiert wird.24 Da wir durch die Liturgie und in ihr der Wirkung Gottes ausgesetzt werden, »stellt [sie] uns in den einzigen Zusammenhang, in dem es auch für uns möglich ist, Christen zu werden«.25 Willimon zufolge bildet die Liturgie unseren Charakter auf zweierlei Art und Weise aus. Einerseits befestigt sie die Kirchenmitglieder in ihrem Glauben und ihrer Hoffnung; andererseits stellt die Liturgie die Kirche, ihre Vorstellungen, ihr Verhalten immer wieder in Frage und ruft sie stets zur Umkehr auf. Letzteres hat wesentliche Bedeutung, denn eine Liturgie, die lediglich affirmativ, bestätigend und befestigend wäre, würde sich sofort als »bad liturgy« entpuppen.26 Eine solche Liturgie – die letztlich kein Gottes-Dienst mehr wäre, sondern zum Götzen-Dienst verkäme – wäre nämlich gar nicht fähig, die Menschen von der Gefangenschaft ihrer eigenen Vorstellungen über Gott und sich selbst zu befreien, und würde deshalb keine in christlichem Sinn formative, sondern nur eine deformierende Wirkung entfalten.27 Die Liturgie des christlichen Gottesdienstes ist hingegen formativ, weil sie zugleich 22

Willimon, Service, 29 und 32. A. a. O., 86. 24 A. a. O., 42: »To use the church’s worship for any human purpose other than the glorification of God, is to abuse it. […] However, it is true that while we worship God, we are also being formed into God’s people.« 25 A. a. O., 94. 26 A. a. O., 62. 27 A. a. O., 90: »Idolatrous worship is malformation of the moral self as surely as true worship is moral formation.« 23

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

Lebens- und Identitätsquelle der Kirche, aber auch deren »hartnäckigste Kritikerin« ist.28 Gute Liturgie stellt also den »gefährlichen« (und immer gefährdeten) Versuch dar, »in der Kirche Gott Gott sein [zu] lassen«,29 damit gerade diese Spannung zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Heiland und Geheilten, der man in der Liturgie ausgesetzt wird, auf die Mitfeiernden formativ wirken kann. 1.1.3 Liturgische Praxis als »Schlüssel zur christlichen Ethik« Hauerwas rezipierte die Impulse Willimons und Saliers’30 und befasste sich seinerseits auch mit dem Zusammenhang zwischen Ethik und Liturgie im Speziellen. Entgegen der Vorstellung, theologische Ethik beschäftige sich mit der »Anwendung« allgemeiner Prinzipien wie Liebe oder Gerechtigkeit, konzipiert er diese Disziplin in einem Beitrag aus dem Jahr 199531 als Reflexion auf jene primäre ethische Schulung, die im Gottesdienst stattfindet. Wie christlicher Glaube und Theologie – im Sinne der altkirchlichen Formel »lex orandi lex credendi«32 – den Gottesdienst voraussetzen, so stelle dieser auch die Basis für sittliches Verhalten und Ethik dar. Denn nur durch die Teilnahme an der Liturgie können die Menschen Gott erkennen und durch diese Erkenntnis wiederum sowohl geistig als auch moralisch verändert werden.33 Ein Kurs in theologischer Ethik sollte deshalb – so Hauerwas – am besten entlang der Stationen der Liturgie artikuliert werden, damit sich die ethische Substanz jedes liturgischen Akts, von der Sammlung bis zur Sendung, herausstellen könnte.34 28

A. a. O., 93. A. a. O., 86. 30 Vgl. Hauerwas, Worship, Evangelism, Ethics, 161, Anm. 18. 31 Hauerwas, Liturgical Shape. 32 Diese Maxime gibt in abgekürzter Form ein Diktum des Prosper von Aquitanien (390–455) wieder: »[…] ut legem credendi statuat lex supplicandi« (Prosper von Aquitanien, Auctoritates 8 [PL LI 209C]). Unter Absehung vom Kontext, in dem sie von Prosper ursprünglich verwendet worden war (vgl. dazu Arnold, Theologie des Gottesdienstes, 43 f.), wurde die Formel ab dem 19. Jh. im Bereich der Liturgik immer wieder eingesetzt, um die Priorität liturgischer Praxis gegenüber dogmatischen Formulierungen hervorzuheben, was letztlich zum Grundsatz sogenannter »Liturgischer Theologie« avancierte (vgl. Haspelmath-Finatti, Theologia Prima; Moore-Keish, Remembrance, 61–85). Je nachdem, ob sie von römisch-katholischen bzw. orthodoxen oder aber von evangelischen Theologen verwendet wurde, erfuhr die Formel freilich unterschiedliche Interpretationen, bei denen man entweder die absolute Priorität der Liturgie gegenüber der Lehre (Aidan Kavanagh; Alexander Schmemann) oder eher ihr Wechselverhältnis (Geoffrey Wainwright) betonte, vgl. Arnold, Theologie des Gottesdienstes, 45 f.; 81–109. 33 Hauerwas, Liturgical Shape, 156: »Worship is not the result but the precondition for believing in God. […] Through worship we not only come to know God, but we are changed by our knowledge of God, morally and also rationally.« 34 A. a. O., 156–163. 29

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In The Liturgical Shape of the Christian Life skizzierte Hauerwas, wie er gemäß den oben genannten Grundsätzen seine Ethik-Kurse durchführe, klagte aber zugleich über den Mangel an zu einem solchen Programm passender Literatur.35 Diese Lücke füllte er wenige Jahre später selbst, indem er zusammen mit seinem Kollegen Samuel Wells ein Companion to Christian Ethics herausgab, dessen Struktur derjenigen der »christlichen« Liturgie entspricht. Die Herausgeber des Companion sind sich des problematischen Charakters dieser Bezeichnung bewusst, betonen aber, dass sie weder die Differenzen zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen ausblenden noch implizit eine spezifische liturgische Tradition als schlechthin »christlich« präsentieren wollten. Vielmehr entfalte sich die Diskussion in diesem Band – zu dem Vertreter verschiedener Traditionen beigetragen haben – entsprechend einem Modell von Liturgie, das zwar keiner spezifischen Tradition vollumfänglich entspricht, aber für jedermann nachvollziehbar sein dürfte.36 Im Companion wird theologische Ethik als Reflexion auf die gottesdienstliche Praxis entfaltet. Jeder liturgische Akt wird mit Blick auf seine ethischen Implikationen reflektiert und dient als Ausgangspunkt für Ausführungen zu (mitunter sehr) spezifischen Fragen wie Versöhnung im politischen Geschehen,37 Abtreibung,38 Globalisierung,39 Homosexualität40 oder Euthanasie.41 Dieses Programm ist als konsequente Umsetzung des tugendethischen und kommunitaristischen Ansatzes Hauerwas’ anzusehen. Denn beschäftigt sich Ethik im Allgemeinen immer mit den »Prozessen, durch die die Menschen unter dem Einfluss von für eine Gemeinschaft prägenden Erzählungen Habitus und Tugenden erwerben«, so soll christliche Ethik jenen Prozess untersuchen, der zur Herausbildung christlichen Charakters führt. Kern dieses 35 A. a. O., 249 (Anm. 8): »One of the difficulties in developing the course is that no readings exist that fit the structure of the course. This is not surprising since the very disciplinary divisions the course is meant to challenge ensure that such a literature does not exist. There are a few books that deal in general with the theme worship and ethics, but the very existence of the ›and‹ reproduces the presupposition we wished to challenge.« 36 Hauerwas/Wells, Christian Ethics as Informed Prayer, 9: »The outline of the Eucharist is intended not to mimic that performed in any one of these traditions alone, but nonetheless to take a form that any Christian would recognize.« Die Teile, in die der Band gegliedert ist, sind: »Meeting God and One Another« (Sammlung, Sündenbekenntnis/Gnadenzuspruch); »Re-Encountering the Story« (Lesungen, Predigt, Glaubensbekenntnis); »Being Embodied« (Taufe, Hochzeit); »Re-Enacting the Story« (Eucharistie); »Being Commissioned« (Sendung, Segen). 37 Cavanaugh, Discerning. 38 Bauerschmidt, Being Baptized. 39 Gorringe, Invoking. 40 Shuman, Eating Together. 41 Greene-McCreight, Receiving Communion.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

Prozesses sei nun die Einübung in die christlichen Tugenden durch Teilnahme an der liturgischen Praxis der Kirche. Christliche Ethik soll deshalb die liturgische Praxis untersuchen, um zu verstehen, wie diese den Charakter der Christenmenschen präge.42 Dass die Liturgie eine solche formative Wirkung freisetzt, wird von Hauerwas und Wells in ihren einleitenden Aufsätzen wiederum mehrfach betont. Liturgie wird etwa definiert als »Reihe geordneter Handlungen, die den Charakter und die Anschauungen [assumptions] der Christen prägen und auf Habitus und Modelle hindeuten, welche jede Facette gemeinsamen Lebens durchdringen«.43 Wer sich der Wiederholung liturgischer »Übungen« unterzieht, wird durch sie Gott immer wieder neu begegnen und von dieser Begegnung geprägt werden: »That is why worship is the key to Christian ethics.«44 Angesichts der Bezeichnung der Liturgie als »Übung« stellt sich die Frage, wer Subjekt des liturgischen Bildungsprozesses sei. Bildet sich der Liturgie feiernde Mensch dabei etwa selbst aus? Ohne auf diese Frage besonders ausführlich einzugehen, betonen Hauerwas und Wells, dass Gott selbst als derjenige anzusehen ist, der durch die Liturgie den Charakter des Menschen formt.45 Nicht der Mensch, sondern Gott ist Subjekt des charakterbildenden Prozesses, der in der Liturgie seinen Motor hat. Die Klärung der Frage nach dem primären Subjekt der Liturgie ist im Zusammenhang mit der Entwicklung eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses besonders wichtig und wird uns später in diesem Kapitel noch beschäftigen. Bevor diese Frage untersucht wird, sollen aber zwei weitere Autoren zur Sprache kommen, deren Beiträge wohl als Ergänzung und Weiterführung der aus der »Methodist Connection« hervorgehenden Denkanstöße betrachtet werden können. 1.2 Weitere Impulse und Ergänzungen 1.2.1 Bernd Wannenwetsch: Gottesdienst als Lebensform Der Ansatz des deutschen Ethikers Bernd Wannenwetsch deckt sich insofern mit demjenigen Hauerwas’, als Ersterer ebenso dezidiert wie sein amerikanischer Kollege den Zusammenhang zwischen christli42

Hauerwas/Wells, Why Christian Ethics Was Invented, 37. Hauerwas/Wells, Christian Ethics as Informed Prayer, 7: »The liturgy offers […] a series of ordered practices that shape the character and assumptions of Christians, and suggest habits and models that inform every aspect of corporate life.« 44 Hauerwas/Wells, The Gift of the Church, 25. 45 Ebd.: »Through worship, God trains God’s people to take the right things for granted. […] Worship is the time when God trains God’s people to imitate God in habit, instinct, and reflex« (Hervorhebungen, LB). 43

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chem Gottesdienst und christlichem Ethos betont und folglich Ethik als Reflexion auf die gottesdienstliche Praxis – als »Ethik aus dem Gottesdienst«46 – konzipiert. Sowohl in der Begründung dieses Zusammenhangs als auch in dessen systematischer Entfaltung unterscheiden sich aber die beiden Entwürfe erheblich. Hauerwas argumentiert tugendethisch, indem er den Gottesdienst als den Ort beschreibt, an dem christliche »Charakterbildung« – im Sinne einer Einübung bestimmter Tugenden – geschehe. Wannenwetsch verzichtet seinerseits bewusst auf diese aristotelisch geprägte Terminologie. Um die prägende Wirkung der gottesdienstlichen Praxis auf die an ihr teilnehmenden Menschen zum Ausdruck zu bringen, greift er vielmehr auf den Begriff der »Lebensform« zurück. 1.2.1.1 Der Gottesdienst als Grundlage der »homologen« Identität der Christenbürger In Anlehnung an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen definiert Wannenwetsch die Lebensform als die Summe solcher Tätigkeiten, die den Gebrauch der Sprache regulieren.47 Teilen Menschen dieselbe Lebensform, so werden sie sich auch sprachlich verständigen können, weil ihre gemeinsame Lebensform eine »Übereinstimmung in den Definitionen« und »in den Urteilen« ermöglicht.48 Die Lebensform, welche aus einem gemeinsamen Ethos erwächst und dieses zugleich fördert, prägt somit die Wahrnehmung der Dinge, den Gebrauch der Begriffe und das ethische Urteilen innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft.49 Auch der christlichen Gemeinschaft eignet eine bestimmte Lebensform, und diese identifiziert Wannenwetsch nun mit dem Gottesdienst: Der Gottesdienst gehöre nicht als bloß ein Aspekt unter anderen zur christlichen Lebensform, sondern sei die christliche Lebensform schlechthin, so seine zentrale These.50 Bildet sich im Got46

Wannenwetsch, Gottesdienst, 19. A. a. O., 36. 48 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil 1, § 242. 49 Wannenwetsch, Gottesdienst, 36 f. Wannenwetsch schreibt somit Wittgensteins Begriff der »Lebensform« eine »anthropologisch-soziokulturelle« Bedeutung zu. Zum Begriff »Lebensform« und seiner Mehrdeutigkeit bei Wittgenstein vgl. Gier, Wittgenstein and Forms of Life; Ferber, »Lebensform« oder »Lebensformen«. 50 Wannenwetsch, Gottesdienst, 13; 37. Der »Gottesdienst«, von dem Wannenwetsch spricht, ist weder mit einer spezifischen liturgischen Tradition unter Ausschluss der anderen noch mit einer Idealvorstellung des »perfekten« Gottesdienstes zu identifizieren. Vielmehr bezieht sich seine Rede vom Gottesdienst als Lebensform auf den »normalen, tatsächlich gefeierten Gottesdienst […], der Sonntag für Sonntag in den christlichen Gemeinden überall auf der Welt gefeiert wird« (a. a. O., 72). In jedem Gottesdienst – so Wannenwetsch – ist einerseits die ganze katholische Kirche sichtbar, obwohl nicht empirisch ganz zu greifen. Andererseits ist die Gottesdienst feiernde Gemeinde auf die Ökumene angewiesen, denn nur in Offenheit ihr gegenüber wird die Gemeinde fähig, sich stets und immer wieder neu darauf zu besinnen, was Gottes47

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tesdienst christliches Ethos aus, so wird christliche Ethik Letzterem nach-denken, indem sie sich als Reflexion auf den Gottesdienst und somit als Ethik aus dem Gottesdienst konstituiert. Eine solche Ethik – fährt Wannenwetsch fort – ist aber auch von Anfang an und grundsätzlich politische Ethik,51 weil der Gottesdienst als solcher politisch ist. In Auseinandersetzung mit Karl Barth, der in seinen »Gifford Lectures«52 zwischen »Gottesdienst des christlichen Lebens«, »kirchlichem« und »politischem Gottesdienst« unterschieden hatte, ohne aber den Zusammenhang zwischen diesen drei Dimensionen genau zu bestimmen, plädiert Wannenwetsch dafür, dass der politische Gottesdienst nicht nur als »eine mögliche Hinsicht, in der der Gottesdienst auch in Betracht kommen kann«, sondern als »die entscheidende – diejenige, welche die anderen zusammenhält«, aufgefasst wird.53 Da der Gottesdienst keinem höheren Zweck dient (jegliche Funktionalisierung des Gottesdienstes würde in dessen Entstellung münden), entspricht er in eminenter Weise der Kategorie des »Handelns«, so wie dieses durch Hannah Arendt als spezifisch politische Form des Tuns im Gegensatz zum »Arbeiten« bzw. zum »Herstellen« definiert wurde.54 Politisches Handeln ist Arendt zufolge immer darauf angewiesen, dass jemand mit seinem Tun einen Anfang setzt, in den andere dann einstimmen. Diese Logik sieht Wannenwetsch im Gottesdienst insofern am Werk, als Gottes Handeln hier das »Initium« darstellt, in das die Gemeinde in Lob, Gebet, im Hören des Wortes und in der Feier der Sakramente einstimmt.55 Im Gottesdienst werden die Menschen als Gemeinde von »Mitbürgern der Heiligen« (Eph 2,19) bzw. von »Christenbürgern« konstituiert, die im Hören auf Gottes Wort ein erneutes Wort-Vertrauen gewinnen und somit zu einem politischen Leben jenseits der elementaren Antinomien,56 die es sonst prägen, ermächtigt werden.57 dienst ist. Dies bedeutet auch, dass nur in einem ökumenischen Horizont jene »Vollkommenheit« des Gottesdienstes sichtbar wird, im Lichte derer die Defizite der eigenen liturgischen Tradition wahrgenommen werden können. Wannenwetsch ist allerdings davon überzeugt, dass nicht so sehr in Bezug auf die Struktur oder auf einzelne Elemente der Liturgie Reformbedarf bestehe, sondern primär in Bezug auf den »Vollzugsmodus der Feier«. Die zentrale Frage hierbei laute: Wird der Gottesdienst politisch gefeiert – nämlich als Einstimmen der Gemeinde in das Handeln Gottes – oder nurmehr ökonomisch – nämlich als Produkt, das professionelle »Anbieter« den jeweiligen »Konsumenten« präsentieren? Vgl. ebd., 73 f. 51 A. a. O., 19. 52 Barth, Gottesdienst. 53 Wannenwetsch, Gottesdienst, 35. 54 A. a. O., 31. 55 A. a. O., 16; 31. 56 Als solche im politischen Gottesdienst »versöhnte« Antinomien benennt Wannen-

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Da die ethische Identität der Christenbürger in der christlichen Lebensform – dem Gottesdienst – gründet, kann sie Wannenwetsch zufolge am treffendsten als »homologe« Identität beschrieben werden, »sofern sie konstitutiv auf die spezifische Praxis des gemeinsamen Einstimmens in Gottes Handeln und in das Lob und Bekenntnis der Gemeinde bezogen bleibt«.58 Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der spezifisch ethischen Relevanz dieses Identitätsbegriffs ist die Beobachtung, dass erst durch die Versetzung in den Stand eines Christenbürgers dem Leben (ethisch relevante) Kontinuität verliehen wird. Denn der Christenbürger wird im Gottesdienst dazu ermächtigt, »in verschiedenen gesellschaftlichen Rollen so zu agieren, daß stets erkenntlich bleibt, in welchem ›Stück‹ gespielt wird«.59 Seine ethische Identität macht somit der sein ganzes Leben umspannende und verschiedene »Rollen« miteinander versöhnende Bezug auf die christliche »Leitstory« aus.60 Durch das Festhalten an einem solchen Identitätsbegriff übt die »Ethik aus dem Gottesdienst« scharfe Kritik an dem in der Systemtheorie propagierten Totalanspruch der Gesellschaft. Angesichts der die Moderne kennzeichnenden funktionalen Ausdifferenzierung in der Gesellschaft stellt die Gesellschaft als Ganzes in den Augen der Systemtheoretiker die einzige Instanz dar, die den in ihr agierenden Rollenträgern eine gewisse Form von Identität zu verleihen vermag. Diese Identität bestehe allerdings lediglich im gemeinsamen Bezug ihrer verschiedenen Rollen zur Gesellschaft.61 Mit seiner versöhnenden Kraft leistet der politische Gottesdienst indessen Widerstand gegen die Voraussetzung, dass die verschiedenen Systeme in der Gesellschaft nicht miteinander zu vermitteln seien, und beansprucht vielmehr, sie zu integrieren: Im Hören auf die christliche Leitstory von Jesus Christus, in der gottesdienstlichen Einübung ihrer zugehörigen Rollen, lernen Christenbürger, ihr Leben übereinstimmend [bzw. homolog, Anm. LB] als »Geschöpfe« und »Nächste« so zu leben, daß wetsch etwa diejenigen zwischen οιËκος und πο λις bzw. Innerlichkeit und Öffentlichkeit (a. a. O., 149–170), zwischen Freiheit und Notwendigkeit (ebd., 184–197) und zwischen vita activa und vita contemplativa (ebd., 197–210). 57 A. a. O., 14; 23. Vgl. ebd., 275: »Ihren spezifisch politischen, durch die Erfahrung des Gottesdienstes geprägten Beitrag leisten Christen, wenn sie als solche Menschen öffentlich reden und handeln, die gelernt haben, der Macht des Wortes zu vertrauen anstatt auf die Wirkung von Parolen – als Menschen, die im friedfertigen Hören und Reden geübt sind.« 58 A. a. O., 217, Anm. 187. Wannenwetsch spielt hier auf die Bedeutungsvielfalt des Verbs οë μολογειÄν an, welches sowohl »bekennen« als auch »übereinstimmen« bedeuten mag. 59 A. a. O., 217. 60 A. a. O., 219. 61 A. a. O., 215.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis auch durch die verschiedenen Rollenerwartungen hindurch der interpretierte »Text« der story, das »Stück«, erkennbar bleibt.62

Die im Gottesdienst stattfindende Einübung der Sprache der Geschöpflichkeit und Nächstenschaft ermöglicht einerseits die Bewährung grammatischer – lebensförmiger – Treue im Gebrauch verschiedener Rollensprachen, andererseits eine pointierte »theologische Sprachkritik« aller Entwürfe, die den Zusammenhang zwischen Lebensform und Ethik vernachlässigen.63 1.2.1.2 Der Gottesdienst als immer aktuell bleibender »Beginn« christlicher Ethik Wie ist nun aber die lebensformende Wirkung des Gottesdienstes genauer aufzufassen? Oder anders gefragt: Inwiefern kann der Gottesdienst als regulativ für christliches Ethos und christliche Ethik angesehen werden? Wannenwetsch zufolge ist der Gottesdienst nur mittelbar regulativ. Die »Grammatik« – die »Regel« im engeren Sinn – der christlichen Lebensform sei nämlich der Kanon. Dieser finde aber seine erste Anwendung im Gottesdienst. Nur unter der Prämisse, dass es »Grammatik […] streng genommen nur in und für Lebensformen« gibt,64 kann der Gottesdienst seinerseits auch – gleichsam in übertragenem Sinn – als »Skript« bzw. »Grammatik« der Ethik betrachtet 62

A. a. O., 219 f. A. a. O., 230; 227. So stellt Wannenwetsch etwa fest, dass die von Richard Rorty (vgl. Rorty, Kontingenz, 12–14) behauptete Inkommensurabilität von »Selbsterschaffung« und »Solidarität« gar keine ist. Rorty zufolge könne der postmoderne Mensch als »liberaler Ironiker« mühelos von Fall zu Fall zwischen gegensätzlichen (inkommensurablen) Moralsprachen – wie etwa denjenigen der »Selbsterschaffung« und der »Solidarität« – wählen. An dieser These kann er aber nur deshalb festhalten – so Wannenwetsch –, weil seine Analyse der Moralsprachen die wesentliche Ebene der Grammatik außer Acht lässt. Das wirkliche Sprechen einer Moralsprache – das »ZuHause-sein« in ihr – ist nämlich mit der Benutzung einer bestimmten Grammatik und deshalb auch mit einer bestimmten Lebensform verbunden, so dass ein Wechsel der Grammatik einen Wechsel der Lebensform bedeuten würde. Wollte man auf diesem Hintergrund sowohl an der These Rortys bezüglich der Inkommensurabilität von »Selbsterschaffung« und »Solidarität« als auch an seiner Forderung eines steten Wechsels zwischen den beiden festhalten, resultierte daraus ein höchst »pathologisch deformiertes« Menschenbild. Für Wannenwetsch liefern diese Überlegungen indessen vielmehr den Beweis, dass die beiden von Rorty benannten Moralsprachen nicht inkommensurabel sind, sondern eigentlich derselben Sprachfamilie – und somit auch derselben Lebensform – angehören, nämlich jener der »Autopoiesis«, »zu der auch die Sprache der Systemtheorie gehört« (Wannenwetsch, Gottesdienst, 225). Als wirklich inkommensurabel stellen sich hingegen »Solidarität« und die christliche »Nächstenschaft« heraus, denn, während Erstere eine Form der Selbstbestimmung bleibt, ist Letztere von der Not des Anderen bestimmt (a. a. O., 224). 64 A. a. O., 39. 63

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werden.65 Der Gottesdienst gilt somit insofern als regulativ für das christliche Ethos, als er den ersten Anwendungsfall der Regel im engeren Sinn bildet. Der Gottesdienst stellt nicht die Regel an sich, sondern vielmehr den »Beginn« christlicher Ethik dar.66 Es wäre allerdings ein Missverständnis, Wannenwetschs Beschreibung des Gottesdienstes als »Beginn« christlicher Ethik dahingehend zu interpretieren, dass dieser irgendwann (d.h. sobald man den Anfang hinter sich ließe) auch überflüssig werden könnte. Vielmehr bleibt der »Beginn« immer aktuell, weil man im christlich verstandenen ethischen Lernen den Anfang nie hinter sich lassen kann. Bei der Einübung in die christliche Lebensform geht es nämlich nicht um einen »linear-harmonischen Sozialisationsprozess«,67 sondern – in paulinischer Sprache formuliert – um den steten Kampf des neuen mit dem alten Menschen. Im Sinne des reformatorischen simul iustus et peccator bleibt der von Gottes Geist erquickte Mensch in diesem Leben immer ein Anfänger im Heiligungsprozess. Damit die Metamorphose, in der das christliche Leben besteht (vgl. Röm 12,2), in Gang gehalten wird, muss der begnadigte Sünder immer wieder der lebensformenden Wirkung des Gottesdienstes ausgesetzt werden, denn »mit der Entfernung von dieser Erfahrung verblasst die Urteilskraft dementsprechend«.68 Den Gottesdienst als »Beginn« christlicher Ethik zu definieren, bedeutet also alles andere, als seine ethische Relevanz zu relativieren. Im Gegenteil: Der Gottesdienst stellt in diesem Sinn den Ort dar, an dem allein die Metamorphose des alten Menschen immer wieder beginnen kann. 1.2.1.3 Die stete Angewiesenheit der Kirche auf den Gottesdienst Die Betonung der transformativen, lebensformenden Wirkung der Liturgie auf die ihn feiernde Gemeinde geht bei Wannenwetsch mit einer expliziten Distanzierung von der auf Schleiermacher zurückgehenden und – besonders in der deutschsprachigen Liturgik69 – herkömmlich gewordenen Definition des Gottesdienstes als »darstellendes Handeln« einher. Der Gottesdienst kann nämlich nur insofern als »darstellend« gelten, als unter »Gottesdienst« primär ein Handeln der Gemeinde verstanden wird, durch das sie etwas ausdrückt, was sie in sich bereits hat (bei Schleiermacher: das »religiöse Bewusstsein«). Für Wannenwetsch ist der Gottesdienst hingegen primär ein »ursprüngliches Wir65

A. a. O., 59. A. a. O., 39 f. 67 A. a. O., 41. 68 A. a. O., 42. 69 Wannenwetsch (a. a. O., 130 f.) macht darüber hinaus auf die ökumenische Akzeptanz aufmerksam, derer sich diese Definition erfreut. 66

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ken des Geistes«,70 von dem die Existenz der christlichen Gemeinde immer abhängig bleibt. Die Gemeinde der »Mitbürger der Heiligen« wird im Gottesdienst als pneumatischem Geschehen konstituiert, weshalb der Gottesdienst selbst nicht als Ausdruckshandeln der Gemeinde, sondern eminent als sie formendes Handeln Gottes zu verstehen ist.71 Steht die Rede vom Gottesdienst als »Lebensform« einerseits im Zusammenhang mit der Ablehnung der Definition des Gottesdienstes als »darstellendes Handeln«, so bedingt sie andererseits auch eine allgemeine Skepsis gegenüber Entwürfen, die das Dasein der Kirche in einer bestimmten Ontologie verankern wollen. Dies tat etwa John Milbank, indem er die Kirche als die soziale Verkörperung einer »Ontologie des Friedens« betrachtete. Kraft ihrer »counter-ontology« stünde die Kirche in radikalem Gegensatz zu den sozio-politischen Entwürfen der Moderne, welche alle von einer »heimlichen Ontologie der Gewalt« durchdrungen seien. Wannenwetsch würdigt einerseits die Analyse Milbanks, hält ihm aber dennoch entgegen, dass die Kirche nicht als Verkörperung einer Ontologie des Friedens, sondern eher – nochmals in Linie mit der paulinischen Anthropologie und dem reformatorischen simul iustus et peccator – als »Kampfplatz zwischen den Mächten: zwischen der Macht des Friedens und der Macht der Gewalt« anzusehen sei.72 Die Kirche darf somit Frieden genauso wenig als etwas ihr Gegebenes betrachten, wie sie ihr ethisches Lernen jemals für abgeschlossen halten kann. Kennzeichnend für die christliche Gemeinde ist vielmehr ihre bleibende Angewiesenheit auf den Gottesdienst als den Ort, an dem sie immer wieder konstituiert und geformt werden muss, ohne dass die Wirkung des Gottesdienstes auf sie in irgend einer Form ontologisiert werden könnte. Seine Kritik an Milbanks Konzept einer »Ontologie des Friedens« versteht Wannenwetsch allerdings nicht als grundsätzliche Ablehnung von Milbanks Anliegen, sondern als einzigen Weg, dieses zu verwirklichen. Denn, nur wenn die »elementare Abhängigkeit« der Kirche vom pneumatischen Geschehen des Gottesdienstes ernst genommen wird, wird die Kirche – gerade wegen ihres Verzichts auf die Behauptung einer »ontologischen Qualität« ihrer eigenen Lebensform – die Aufgabe erfüllen können, die ihr nach Milbank zukommt: den ontologischen Anspruch der auf Gewalt basierenden Lebensformen zu untergraben.73 70

A. a. O., 49, Anm. 61. Vgl. Wannenwetsch, Ökonomie, 46: »Wir, die wir Gottesdienst feiern, sind nicht die Gestalter der Materie Gottesdienst, welcher wir erst die entscheidende Form verleihen müssten; vielmehr sind wir diejenigen, die selbst geformt werden, und zwar durch das Einüben in die Formen des Gottesdienstes.« 72 Wannenwetsch, Gottesdienst, 128. 73 A. a. O., 131. 71

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1.2.2 James K. A. Smith: Gottesdienst als göttliche Pädagogik des Verlangens 74 Auch der reformierte James K. A. Smith, Professor für Philosophie und »Congregational and Ministry Studies« am Calvin College (Grand Rapids, MI), befürwortet ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis. Dieses wird von ihm aber weder im Rahmen einer »ethics of character« (Hauerwas) noch als Basis für eine »Ethik aus dem Gottesdienst« (Wannenwetsch) entwickelt, obwohl sich der Entwurf Smiths an vielen Stellen mit denjenigen der beiden genannten Autoren überschneidet. Vielmehr ist bei Smith die Betonung der Formativität liturgischer Praxis von zentraler Bedeutung für seinen Versuch, zwei auf den ersten Blick sehr heterogene Traditionen ins Gespräch miteinander zu bringen: einerseits die auf Herman Dooyeweerd (1894–1977) zurückgehende »christliche Philosophie« (bzw. »Reformational Philosophy«),75 andererseits die – wesentlich jüngere – theologische Bewegung »Radical Orthodoxy«.76 1.2.2.1 Philosophisch-theologische Grundlagen Die Möglichkeit, dass sich »Reformational Philosophy« und »Radical Orthodoxy« gegenseitig ergänzen könnten, ist Smith zufolge dadurch gegeben, dass Dooyeweerd und die Radical Orthodoxy ähnliche Ziele verfolgen. Beide üben scharfe Kritik am modernen Konzept eines vermeintlich neutralen und ungebundenen »säkularen« Bereichs.77 Sie wollen dieses Konzept als ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis mit eigenen ontologischen und epistemologischen Prämissen demaskieren,78 um ein alternatives – auf christlichen Prämissen basierendes – »postsäkulares« Konzept zu entwerfen.79 Dass eine gegenseitige 74 Eine frühere Fassung dieses Abschnitts erschien bereits in: Baschera/Kunz, Widerspiel, 19–33. 75 Zu Dooyeweerds Philosophie siehe Skillen, Philosophy of the Cosmonomic Idea; Schick, Denken des Ganzen, 89–130; Chaplin, Dooyeweerd. 76 In Anlehnung an Catherine Pickstock definiert Smith die Radical Orthodoxy als »not a system, method, or formula but a hermeneutic disposition and a style of metaphysical vision. It is orthodox insofar as it seeks to be unapologetically confessional and Christian; it is radical insofar as it seeks to critically retrieve premodern roots (radix)« (Smith, Introducing, 66). 77 Gemäß diesem Konzept wird als »säkular« jener »neutrale und a-religiöse Raum oder Standpunkt« bezeichnet, der sich im Zuge der Modernisierung westlicher Gesellschaften von den »Mächten religiösen Glaubens« emanzipiert habe und nun den einzigen berechtigten Schauplatz für einen öffentlichen, vernünftigen Diskurs darstelle, vgl. Smith, Secular Liturgies, 163. 78 Smith, Introducing, 131: »The secular is not areligious, just differently religious – a religion of immanence and autonomy.« 79 A. a. O., 40–42; 73 f.

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Ergänzung notwendig sei, werde wiederum an der Art und Weise deutlich, in der Dooyeweerd und die Radical Orthodoxy im Blick auf die Realisierung dieses Projekts vorgehen. Die mit der Radical Orthodoxy verbundenen Autoren betrachten die Theologie als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines dezidiert christlichen Wirklichkeitsverständnisses. Die Theologie solle wieder den Status einer regina scientiarum erlangen, weil nur sie den Rahmen bestimmen könne, innerhalb dessen alle anderen Disziplinen (von der Philosophie über die Soziologie bis hin zur Ökonomie) zur Entwicklung des anvisierten christlichen Wirklichkeitsverständnisses sowie zur Förderung einer entsprechenden Praxis beitragen können.80 Gerade an dieser zentralen Stelle bleibt aber die Argumentation der RadikalOrthodoxen – so Smith – sehr diffus in Bezug auf die Definition des Theologiebegriffs. Je nach Zusammenhang wird mit »Theologie« nämlich der christliche Glaube, das Christentum allgemein, oder aber eine spezifische akademische Disziplin bezeichnet; bisweilen wird dieser Begriff stillschweigend auch als Synonym für christliche Praxis verwendet.81 Angesichts dieser Ambiguität könnte nun Dooyeweerds Entwurf Smith zufolge als heilsames Korrektiv wirken. Die Reformational Philosophy, welche in der von Abraham Kuyper (1837–1920) initiierten Tradition des »Neo-Calvinismus«82 wurzelt, ist zwar ebenso wie die Radical Orthodoxy an der Entwicklung einer »deutlich christlichen Beschreibung aller Facetten des Daseins«83 interessiert, betrachtet aber die Theologie als nur eine Disziplin neben anderen, ohne eine Hierarchie zwischen den Disziplinen zu postulieren. Dass diese sich als christliche Wissenschaften profilieren, hängt nicht von ihrer Unterordnung unter die Theologie ab, sondern davon, ob sie ausgehend vom – wie Dooyeweerd sich ausdrückt – »christlichen Grundmotiv« betrieben werden. Jede wissenschaftliche Untersuchung beruht laut Dooyeweerd auf philosophischen – d. h. sowohl ontologischen als auch epistemologischen – Prämissen. Jede Ontologie und Epistemologie gewinne wiederum ihre spezifische Ausrichtung und unterscheide sich von anderen dadurch, dass sie ausgehend von einem bestimmten »Grundmotiv« artikuliert werde. Im Gegensatz zu Ontologie und Epistemologie sowie im Gegensatz zu den auf einer bestimmten Ontologie und Epistemologie basierenden Wissenschaften haben Grundmotive nun aber prätheore80

A. a. O., 166 f. A. a. O., 168. 82 Vgl. dazu Adams, Origin and Development. 83 Smith, Introducing, 170: »The Reformational tradition […] resonates with R[adical] O[rthodoxy]’s claims regarding the unique disclosures of distinctively Christian accounts of every facet of being-in-the-world.« 81

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tischen Charakter. Es handelt sich bei ihnen weder um Theorien noch um Theoreme, und sie haben keinen propositionalen Charakter. Zudem eignet ihnen eine »religiöse« Qualität, denn Grundmotive lenken und prägen als irreduzible Prinzipien, als »letzte bewegende Kraft« die »ganze Lebens- und Denkhaltung« eines Menschen bzw. einer Gemeinschaft.84 Ausgehend vom christlichen Grundmotiv – sprachlich artikuliert als »das radikale und zentrale biblische Thema von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung durch Jesus Christus als inkarniertes Wort Gottes, in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes«85 – entwirft Dooyeweerd nicht nur eine bestimmte Ontologie,86 sondern übt auch Kritik an den anderen Grundmotiven, die für verschiedene Phasen der gesamten Philosophiegeschichte des Abendlandes prägend gewesen sind. Im Lichte des christlichen Grundmotivs erscheinen ihm diese jedoch nicht als bloße Alternativen dazu. Vielmehr bestehe zwischen dem christlichen und zwei der übrigen Grundmotiven eine unauflösliche Dialektik, die Dooyeweerd »religiöse Antithese« nennt.87 Diese Form von Antithese 84

Schick, Denken des Ganzen, 111. Dooyeweerd identifiziert insgesamt vier Grundmotive: das griechische (»Form und Materie«), das humanistische (»Natur und Freiheit«), das scholastische (»Natur und Gnade«) und das christliche, vgl. Dooyeweerd, Roots of Western Culture, 15 f.; ders., Reformation and Scholasticism, Bd. 1, 3–20. 85 Dooyeweerd, Twilight of Western Thought, 42: »[…] the radical and central biblical theme of creation, fall into sin and redemption by Jesus Christ as the incarnate Word of God, in the communion of the Holy Spirit.« 86 Ausgehend vom christlichen Grundmotiv versteht Dooyeweerd den Kosmos als Schöpfung. Die Ordnung der Schöpfung bestehe darin, dass alle Entitäten an einer Vielzahl von sog. »modalen Aspekten« partizipieren, welche zueinander irreduzibel und doch nicht voneinander trennbar sind. Die modalen Aspekte stellen die Bedingungen sowohl für das Dasein jeglicher Entitäten als auch für unsere Erfahrung dar. Die Frage nach der genauen Anzahl der modalen Aspekten ist unter DooyeweerdInterpreten umstritten (siehe Smith, Introducing, 171); dazu zählen etwa der numerische, der biotische, der psychische bis hin zum juridischen, dem moralischen und dem »pistischen« Aspekt. Die Differenz und Kohärenz zwischen den modalen Aspekten bestimmt nach Dooyeweerd die Beziehungen zwischen verschiedenen Wissenschaften: Jede Wissenschaft befasse sich – aufgrund der fundamentalen Kohärenz zwischen modalen Aspekten – mit der gesamten Wirklichkeit, aber tue dies – aufgrund der Irreduzibilität der modalen Aspekte zueinander – unter dem Gesichtspunkt eines spezifischen modalen Aspekts (die Biologie unter dem Gesichtspunkt des biotischen Aspekts, die Rechtswissenschaft unter dem juridischen, die Theologie unter dem »pistischen«). Wollte eine Wissenschaft ihre Sicht auf die Wirklichkeit verabsolutieren, würde sie eine »apostatische« Haltung einnehmen, die zur Entstehung jeglicher »-ismen« führt (wie »Biologismus«, »Historismus« und dgl.). Vgl. Schick, Denken des Ganzen, 115–130; 142 f.; Strauss, Philosophy, 31–66; 161f. 87 Dooyeweerd, Reformation and Scholasticism, Bd. 1, 25. Zwischen dem christlichen und dem »scholastischen« Grundmotiv ergebe sich hingegen eine solche religiöse Antithese nicht, weil beim Letzteren »die Verbindung zur göttlichen Wort-Offenbarung in gewissem Maße« bewahrt werde (ebd.).

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ist unauflöslich, weil sie religiöser Natur ist; und sie ist religiöser Natur, weil ihre Pole den gleichen Absolutheitsanspruch erheben.88 Die Möglichkeit, dass der Mensch die Wahrheit des christlichen Grundmotivs verkennen und sein Wirklichkeitsverständnis ausgehend von ihm antithetischen Grundmotiven entwickeln kann, gründet Dooyeweerd zufolge im Sündenfall. In Folge dieser grundsätzlichen Entfremdung zwischen Schöpfer und Kreatur blieb die Schöpfungsstruktur zwar erhalten, sodass der Mensch nach wie vor am »pistischen« Modalaspekt partizipiert und somit nicht umhinkann, einen »Glauben« und eine »Religion« zu haben,89 von der aus er ein philosophisches Wirklichkeitsverständnis entwickeln kann, um sich auf dieser Grundlage in den verschiedensten Bereichen geistig und praktisch zu betätigen. Die Ausrichtung90 dieser an sich erhalten gebliebenen Struktur wurde aber restlos idolatrisch und »apostatisch«: Der Mensch betete fortan nicht mehr den Schöpfer, sondern – in vielen unterschiedlichen Ausformungen – die Kreatur an.91 Christentum und Apostasie bilden somit zwei antithetische Aktualisierungen der pistischen Funktion, zwischen denen keine Kontinuität und kein »Anknüpfungspunkt« besteht.92 Genau einer solchen apostatischen Haltung entspringen nun 88

Dooyeweerd, Roots of Western Culture, 8: »The religious antithesis does not allow a higher synthesis. It does not, for example, permit christian and nonchristian starting points to be theoretically synthesized. Where can one find in theory a higher point that might embrace two religious, antithetically opposed stances, when precisely because these stances are religious they rise above the sphere of the relative? […] The absolute has a right to exist in religion only. Accordingly, a truly religious starting point either claims absoluteness or abolishes itself. It is never merely theoretical, for theory is always relative.« 89 Dooyeweerd, New Critique, Bd. 2, 300: »The function of faith in this original and material sense, implanted in human nature at creation, has not been lost by the fall into sin. Its essential structure has been maintained by God’s common grace.« 90 Zur grundlegenden Unterscheidung zwischen Struktur und Ausrichtung der Schöpfung vgl. Wolters, Creation Regained, 59–63. 91 Dooyeweerd, New Critique, Bd. 2, 308: »Where the heart closed itself and turned away from God, the function of pistis was closed to the light of God’s Word. As a result faith began to manifest its transcendental direction in an apostate way, in the search for an absolute firm ground in the creation itself.« Siehe auch a. a. O., Bd. 1, 61: »Since the fall and the promise of the coming Redeemer, there are two central main springs operative in the heart of human existence. The first is the dynamis of the Holy Ghost […]. The second central main spring is that of the spirit of apostasy from the true God. As religious dynamis (power), it leads the human heart in an apostate direction, and is the source of all deification of the creature. It is the source of all absolutizing of the relative even in the theoretical attitude of thought. By virtue of its idolatrous character, its religious ground-motive can receive very diverse contents.« 92 A. a. O., Bd. 2, 310: »After the fall into sin this primary disclosure [to the fullness of Christian faith] is only possible by means of the working of God’s Spirit in the opening of the heart by grace. The apostate function of faith as such does not offer any starting-point for the development of the Christian faith.«

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jene zwar religiösen, aber idolatrischen Grundmotive, die die Denkgeschichte der Menschheit weitestgehend beeinflusst haben. Da die Kreatur sich vom Schöpfer entfremdet hatte, konnte auch die Schöpfung nicht mehr als solche wahrgenommen werden, mit der Konsequenz, dass deren organische Komplexität immer wieder verkannt und Teilbereiche davon jeweils verabsolutiert werden.93 Anders als die Radikal-Orthodoxen betrachtet Dooyeweerd die Theologie also eindeutig als eine theoretische Wissenschaft unter anderen, deren Aufgabe die Untersuchung der gesamten Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten modalen Aspekts – nämlich des »pistischen« – ist. Als solche stellt sie auch keine regina scientiarum dar, deren Herrschaft die anderen Wissenschaften anerkennen sollten, um christliche Qualität zu gewinnen. Dass eine beliebige theoretische Disziplin zu einer christlichen Wissenschaft wird, hängt vielmehr davon ab, ob sie ausgehend vom – prätheoretischen – christlichen Grundmotiv betrieben wird oder nicht. Verhilft die christliche Philosophie Dooyeweerds zu einer Klärung der Beziehung zwischen Theologie und den anderen Wissenschaften im Blick auf ihre (mögliche) christliche Prägung, so erscheint Dooyeweerds Insistieren auf der totalen Differenz von biblischem Grundmotiv und Theologie doch als problematisch. Smith macht darauf aufmerksam, dass ein solches Insistieren letztlich auf eine Verkennung der vermittelnden Funktion von Sprache und Tradition bezüglich der Überlieferung und Annahme des Grundmotivs hinausläuft. Da das christliche Grundmotiv einen bestimmten Inhalt hat, soll Smith zufolge auch anerkannt werden, dass dieser Inhalt nur auf dem Hintergrund der (orthodoxen) Auslegung der Bibel, so wie diese etwa in den ökumenischen Glaubensbekenntnissen zusammengefasst wird, zu benennen ist.94 Um die christliche Philosophie Dooyeweerds vor dem Vorwurf eines latenten Spiritualismus zu bewahren, sollte man Smith zufolge zwar an der Definition des Grundmotivs als prätheoretisch festhalten, in ihm aber die Präsenz eines theologischen Restes bzw. Kerns anerkennen. Nur auf diese Weise könnte sowohl die Ambiguität des radikal-orthodoxen Theologiebegriffs vermieden als auch eine Auffassung des christlichen Grundmotivs gefördert werden, die der Gesamtheit »christlicher Reflexion« in Bezug auf »die Güte der Schöpfung« sowie in Bezug auf Inkarnation, Trinität und Sakramentalität gerecht wird.95 93

Schick, Denken des Ganzen, 112–114. Smith, Introducing, 175: »The elements of such a worldview [the Christian groundmotive] are substantive and contentful, culled from revelation, and articulated in the creeds of the church; therefore, there must be some sense in which they are theological.« 95 A. a. O., 177. 94

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Nicht nur im Blick auf die Bestimmung des Inhalts des christlichen Grundmotivs, sondern auch bezüglich der Klärung der Frage danach, wie dieses zu einer für die ganze Lebens- und Denkhaltung eines Menschen prägenden Kraft werden kann, hält Smith eine Ergänzung der Philosophie Dooyeweerds durch Anregungen aus dem Umfeld der Radical Orthodoxy für sinnvoll. Vielversprechend erscheint ihm besonders die Einsicht, dass die Wahrnehmung, die Denkweise und das Verhalten eines Menschen durch gemeinschaftliche Praktiken geprägt werden, an denen er in seinem Umfeld – meist unbewusst – teilnimmt. In diesem Sinn spricht etwa Daniel Bell von den »technologies of desire«, welche dafür sorgen, dass die Individuen einer bestimmten Gesellschaft – beispielsweise der kapitalistischen – ihre Ziele und Handlungsweise so bestimmen, dass die Existenz jener Gesellschaft perpetuiert wird.96 Wenn aber die Grundmotive, von denen Dooyeweerd spricht, mit einer Grundausrichtung menschlichen Daseins gleichzusetzen sind und wenn man mit Bell davon ausgeht, dass diese Grundausrichtung durch die Teilnahme an gemeinschaftlichen Praktiken ausgebildet wird; dann muss daraus gefolgert werden, dass auch das christliche Grundmotiv seine Wurzeln in einer entsprechenden Praxis hat. 1.2.2.2 Intentionalität, Verlangen und Imagination Der Reflexion des Zusammenhangs von gemeinschaftlicher Praxis und (Charakter-)Bildung97 hat Smith bisher zwei Monographien gewidmet (Desiring the Kingdom, 2009; Imagining the Kingdom, 2013), welche die ersten beiden Teile eines auf insgesamt drei Bände angelegten Projekts darstellen.98 Im Blick auf die christliche Bildung im Speziellen möchte er die »Bildungsrelevanz des Gottesdienstes« (formative importance of worship) herausstellen.99 Somit distanziert er sich von 96 Bell, Liberation Theology, 2 f.; vgl. Smith, Introducing, 249–251. Den Begriff »technology of desire« entfaltet Bell in Auseinandersetzung mit Michel Foucault, vgl. Bell, Liberation Theology, 19–32. Auch Smith hat sich mit Foucault auseinandergesetzt und seine Ansichten bezüglich der formativen Kraft der »Disziplinen«, in denen Menschen in unserer Gesellschaft involviert sind, dargelegt, vgl. Smith, Who’s Afraid of Postmodernism?, 84–107. 97 Zur Bedeutung des Bildungsbegriffs in diesem Zusammenhang siehe oben, Anm. 21 in diesem Kapitel. 98 In Smiths 2016 erschienener Monographie You Are What You Love. The Spiritual Power of Habit wird der Inhalt der beiden erwähnten Bände gewissermaßen zusammengefasst. 99 Vgl. Smith, Desiring the Kingdom, 11. Smith bezieht seine Ausführungen zum »Gottesdienst« nicht exklusiv auf eine spezifische liturgische Tradition. Vielmehr richtet er seine Aufmerksamkeit auf all jene liturgischen Elemente, die »over time have been judged as essential aspects of the gathered body of Christ in its praise and worship of the triune God« (a. a. O., 153. Die von Smith erwähnten liturgischen Elemente sind: Liturgischer und gegenseitiger Gruß; Gesang; Gottes Gesetz; Sündenbe-

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einer in seinen Augen einseitigen Interpretation christlicher Bildung als Vermittlung einer »christlichen Weltanschauung« (Christian worldview).100 Smith möchte gar nicht die Wichtigkeit der Entwicklung eines solchen, von der christlichen Botschaft geprägten Gesamtverständnisses der Wirklichkeit in Frage stellen.101 Vielmehr will er darauf aufmerksam machen, dass im Blick auf die Artikulierung eines vollständigen Programms christlicher Bildung auch eine Reflexion auf die formative Kraft liturgischer Praxis notwendig ist.102 Denn die an christlichen Hochschulen üblicherweise praktizierte Pädagogik setze eine reduktionistische Anthropologie voraus und verhindere deshalb die tatsächliche Entwicklung einer Christian worldview. Etliche Theoretiker der Christian worldview scheinen Smith nämlich einer modifizierten Form von Intellektualismus zu verfallen. Obwohl sie den cartesischen Intellektualismus kritisieren und den Menschen nicht als »denkendes«, sondern als »glaubendes Lebewesen« betrachten, resultiere daraus ein immer noch »sehr entkörperlichtes, individualistisches Menschenbild«, welches wiederum die Entstehung einer auf die »zentrale Rolle von Verkörperung [embodiment] und Praxis« wenig bedachten Pädagogik begünstigt.103 Eine solche Pädagogik vermag dennoch in den Augen Smiths höchstens zu »informieren«, nicht aber zu »formen«, weil sie die zentrale Rolle der Praxis im Prozess der Persönlichkeitsbildung ignoriert.104 Eine wirklich formative Pädagogik kann Smith zufolge nur insofern entwickelt werden, als die Relevanz der Liturgie für die Bildung des Menschen wiederentdeckt wird. Smith geht – in Anschluss an die phänomenologische Tradition – erstens davon aus, dass der Mensch kenntnis und Gnadenzuspruch; Taufe; Glaubensbekenntnis; Gebet; Lesungen und Predigt; Abendmahl; Kollekte; Sendung und Segen, vgl. ebd., 159–207). Erweist sich sein Ansatz somit als inklusiv, so spricht er der auf diesem Wege skizzierten Liturgie doch eine gewisse Normativität zu: »Insofar as Christian worship doesn’t include some of these elements, this represents a loss«, denn »to lose any element is to risk losing an element of the gospel of grace – and to lose an opportunity for counter-formation vis-a`-vis the secular liturgies« (ebd., 152 f.). 100 Der Begriff »Christian worldview« geht auf den niederländischen Theologen und Politiker Abraham Kuyper (1837–1920) zurück, vgl. Heslam, Creating a Christian Worldview. 101 Vgl. auch Smith, Worldview, 17. 102 Smith, Imagining the Kingdom, 10: »The argument of Desiring the Kingdom is not that we need less than worldview, but more: Christian education will only be fully an education to the extent that it is also a formation of our habits. And such formation happens not only, or even primarily, by equipping the intellect, but through the repetitive formation of embodied, communal practices. And the ›core‹ of those formative practices is centered in the practices of Christian worship.« 103 Smith, Desiring the Kingdom, 44 f. 104 A. a. O., 45.

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ein grundsätzlich »intentionales« Wesen sei.105 Dies bedeutet ganz allgemein, dass der Mensch immer in Beziehung zu etwas steht, das sich wegen der Beziehung, die der Mensch dazu herstellt, jeweils als Objekt seiner Erkenntnis, seines Verlangens, seines Handelns definiert. Je nachdem, ob etwas als Gegenstand von Handeln, Verlangen oder Erkenntnis intendiert wird, geschieht die Intention in einem jeweils anderen Modus. Zweitens hält Smith daran fest, dass der vorrangige Intentionsmodus des Menschen nicht kognitiver, sondern präkognitiver Natur sei. Der Mensch intendiert die Welt primär nicht als erkennendes oder beobachtendes Subjekt, sondern als involvierter Teilnehmer.106 Der Mensch verhält sich somit zur Welt – wie bereits Augustinus erkannt hatte107 – primär im Modus der Liebe und des Verlangens. Drittens, obwohl der Mensch die unterschiedlichsten Gegenstände intendieren mag, ist er in einem viel grundlegenderen Sinn immer auch auf etwas Letztgültiges ausgerichtet, das das verborgene Ziel hinter all den kleinen Zielen, die er jeweils verfolgt, darstellt. Das ist es, was der Mensch über alles und hinter allem liebt, das höchste Gut, nach dem er strebt, und der »Gott«, den er anbetet.108 Der Mensch ist also nicht nur ein intentionales, liebendes Wesen, sondern auch ein teleologisches Wesen, denn er hat immer eine Grundintention, die seine Gefühle, seine Denk- und Handlungsweise prägt und damit seine Identität ausmacht.109 Dabei – im Sinne der zweiten Prämisse – ist das, wonach er strebt, nicht so sehr eine Liste klar ausformulierter Propositionen, sondern vielmehr ein »Bild des guten Lebens«.110 Setzt nun aber das Streben des Menschen nach einem bestimmten Ziel nicht voraus, dass er dieses Ziel zuvor (geistig) erkannt habe? Wenn dem so wäre, schiene der angeblich präkognitiven Intentionalität, von der Smith spricht, doch ein kognitives Moment vorauszugehen.111 Auf diesen Einwand geht Smith in Imagining the Kingdom ausführlich ein. Dort gibt er zwar die Existenz einer tieferen Ebene zu, die die Intentionalität des Menschen beeinflusst, betrachtet diese tiefere Ebene aber nicht als eine Form von verstandesgemäßer Erkenntnis (intellection), sondern als »Vorstellungsvermögen« (imagination). Die imagination wird als »eine Art Vermögen« definiert, »dank dessen wir die Welt auf einer präkognitiven Ebene deuten«;112 oder aber als »a kind of midlevel organizing or synthetizing faculty that constitutes the world for 105 106 107 108 109 110 111 112

A. a. O., 47 f. A. a. O., 49; ders., Imagining the Kingdom, 13. Vgl. Augustinus, De doctrina christiana 1,26,27–1,29,30 (CChr.SL XLIV 21–23). Smith, Desiring the Kingdom, 51. Vgl. Mt 6,21: »Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.« Smith, Desiring the Kingdom, 53. Smith, Imagining the Kingdom, 125. A. a. O., 17.

1. Kirchlicher Gottesdienst als pneumatisch-formatives Geschehen

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us in a primarily affective mode«.113 Da Smith seine Theorie in stetem Dialog mit Maurice Merleau-Pontys »Phänomenologie der Wahrnehmung« entwirft, ist die große Ähnlichkeit zwischen Smiths Begriff der imagination und dem der »Praktognosie«, wie er bei Merleau-Ponty begegnet, wenig überraschend.114 Wird die Welt primär in diesem präkognitiven, emotionalen Modus intendiert, so bedeutet dies für Smith jedoch nicht, dass »Praktognosie« bzw. imagination bloß den »Rohstoff« für die spätere verstandesgemäße Erkenntnis der Dinge liefern würden. Vielmehr stellt die imagination einerseits eine bestimmte, von der »objektiven« zu unterscheidende Form von »Erkenntnis« dar; andererseits bildet sie die Bedingung der Möglichkeit für die verstandesgemäße, reflektierende Erkenntnis.115 Darüber hinaus hat die Qualität unserer »Wahrnehmung« der Welt auch ethische Implikationen. Denn unsere Handlungsweise ist in dieser Perspektive durch die Art und Weise bedingt, in der wir die Welt emotional intendieren (passional orientation to the world), wobei unsere Intentionalität wiederum unserer »Wahrnehmung« bzw. imagination entspricht.116 1.2.2.3 Liturgien als formative Praktiken Die These Smiths lautet nun: Die Grundintention des Menschen – seine fundamentale Ausrichtung auf eine bestimmte Form von höchstem Gut – sowie die diese Grundintention bedingende »Wahrnehmung« der Welt sind nicht etwas, was sich augenblicklich ausbildet und ebenso augenblicklich – z. B. durch den geistigen Vorgang des Erwerbs bestimmter Kenntnisse – verändert werden kann; vielmehr sind »Wahrnehmung« und Grundintention etwas Herangewachsenes. Sie machen unseren Charakter aus, welcher seinerseits aufgrund der Wiederholung bestimmter Handlungen eine ihnen entsprechende Form angenommen hat. Der Charakter bildet sich somit habituell aus. Wie der Habitus (εÏ ξις) bei Aristoteles und die »Praktognosie« bei MerleauPonty ist der Charakter des Menschen weder etwas Angeborenes noch ein Affekt, sondern er wächst allmählich in uns. Ferner, da der Modus der Grundintention bzw. imagination präkognitiv und emotional ist, wird deren Entstehung nicht durch bewusste Erkenntnisprozesse bewirkt. Vielmehr hängt die Art und Weise, in der wir die Welt intendieren, damit zusammen, dass unsere »Wahrnehmung« durch bestimmte, für uns »paradigmatisch« gewordene Erzählungen (stories) beein-

113 114 115 116

A. a. O., 17 f. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 170. Smith, Imagining the Kingdom, 72. A. a. O., 31 f.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

flusst und geprägt worden ist.117 Eine Erzählung wird insofern paradigmatisch, als wir uns in sie »hineinleben«, sie absorbieren und Platz in ihr einnehmen, sodass diese Erzählung zum Schlüssel für die Interpretation unserer Existenz und das Verständnis unseres In-der-Weltseins wird.118 Wie bekommt aber eine story diese paradigmatische Funktion? Wie kommt es dazu, dass Menschen sich in eine Erzählung so hineinleben können, dass ihre »Wahrnehmung« durch sie bestimmt wird? Smith zufolge geschieht auch dies nicht durch einen bewussten geistigen Vorgang, sondern durch die – bewusste oder unbewusste – Teilnahme an formativen Praktiken, die er »Liturgien« nennt. Unter Liturgien versteht Smith solche »erzählungsgeladenen Praktiken« (story-laden practices)119 bzw. »performierten Erzählungen« (performed stories),120 die den gesamten Menschen als »verkörpertes« (embodied) Wesen involvieren und ihm jene Vorstellung des höchsten Gutes (jene Vorstellung »Gottes«) einprägen, die von der jeweiligen Liturgie implizit kolportiert wird. Liturgien sind für Smith also alle »rituellen Praktiken, welche als Pädagogik des letztgültigen Verlangens wirken«;121 Liturgien »formen und konstituieren unsere Identität dadurch, dass sie unser fundamentales Verlangen und unsere Einstellung zur Welt bestimmen«.122 1.2.2.4 Christliche Liturgie vs. säkulare Liturgien Vor diesem Hintergrund kann der Mensch berechtigterweise als homo liturgicus definiert werden, nämlich als ein Wesen, dessen Haltung und Charakter durch die »Liturgien« bestimmt werden, an denen er – bewusst oder unbewusst – partizipiert.123 Die »Liturgizität« des Menschen ist strukturell gegeben, weil sie ein wesentliches Merkmal seines Menschseins darstellt. Diese Struktur kann jedoch auf ganz unterschiedliche, gar antithetische Weisen aktualisiert werden. Entsprechend der Unterscheidung zwischen Struktur 117 A. a. O., 36. Vgl. ebd.: »Our emotional perceptual apparatus (which I’m linking to ›the imagination‹) is significantly ›trained‹ by narrative.« 118 A. a. O., 32. 119 A. a. O., 109. 120 A. a. O., 130. 121 Smith, Desiring the Kingdom, 87. 122 A. a. O., 25. Vgl. Smith, You Are What You Love, 46 f.: »›Liturgy‹, as I’m using the word, is a shorthand term for those rituals that are loaded with an ultimate Story about who we are and what we’re for. They carry within them a kind of ultimate orientation. […] think of these liturgies as calibration technologies: they bend the needle of our hearts.« 123 Smith, Imagining the Kingdom, 3: »[…] human beings [are] ›liturgical animals,‹ creatures who can’t not worship and who are fundamentally formed by worship practices.«

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und Ausrichtung der Schöpfung124 gilt auch für den Menschen als homo liturgicus, dass er diese Grundstruktur seines Daseins entweder christlich oder apostatisch aktualisieren kann, je nachdem, ob er den dreieinigen Gott oder einen Götzen – ein zum »Gott« gemachtes Geschöpf – anbetet. Aufgrund der Gefallenheit der Schöpfung ist nun die apostatische Orientierung des homo liturgicus der Normalfall. Diese wird von einer Vielzahl an säkularen Liturgien etabliert und gefördert. »Säkular« werden diese Liturgien deshalb genannt, weil sie eine gegenüber der christlichen Liturgie alternative Formung menschlicher Intentionalität und imagination begünstigen. Die Tatsache, dass Smith solche Praktiken jedoch bewusst als »Liturgien« bezeichnet, weist darauf hin, dass sie ihm zufolge den Menschen eine »bestimmte, normative Vision menschlichen Gedeihens – ein implizites Verständnis des Letztgültigen« einprägen.125 Die Aufgabe der christlichen Liturgie besteht deshalb darin, der apostatischen Formung des Menschen durch die säkularen Liturgien entgegenzuwirken und eine ihnen antithetische, christliche Formung zu fördern. Im christlichen Gottesdienst geschieht insofern eine »counter-formation«,126 als in ihm und durch ihn eine »dispositional deflection« bewirkt wird.127 Die gefallene Kreatur Mensch wird reorientiert, neu ausgerichtet auf denjenigen, dem allein Anbetung gebührt: den dreieinigen Gott, der sich in Christus offenbart. Im christlichen Gottesdienst geschieht also nicht weniger als jene Formung des Charakters, die den homo liturgicus lapsus zum homo liturgicus christianus macht. The [Christian] liturgy is a »hearts and minds« strategy, a pedagogy that trains us as disciples precisely by putting our bodies through a regimen of repeated practices that get hold of our heart and »aim« our love toward the kingdom of God.128

Durch die Teilnahme an der christlichen liturgischen Praxis werden Menschen als Gemeinde von Jüngerinnen und Jüngern konstituiert, deren imagination durch die christliche Erzählung (story) geprägt und deren desire auf Gottes Reich ausgerichtet ist. Als solche zum Dienst an Gott »im Alltag der Welt« ermächtigte, begnadigte Sünder werden sie in alle Welt gesandt, damit sie »als Träger des Ebenbilds Gottes« ihren »Auftrag, die Stadt zu reformieren, wahrnehmen«.129 Der christ124

Siehe oben, Kap. II.1.2.2.1. Smith, Secular Liturgies, 166. 126 Smith, Imagining the Kingdom, 15. 127 A. a. O., 157; 166. 128 Smith, Desiring the Kingdom, 33. 129 Smith, Imagining the Kingdom, 154. Auf einen möglichen Einwand antwortend, betont Smith, dass die Hervorhebung des engen Zusammenhangs zwischen Gottes125

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

liche Gottesdienst hat somit sowohl einen zentripetalen als auch einen zentrifugalen Aspekt, wobei der letztere ohne den ersteren nicht zu denken ist. Die zentripetale Teilnahme an der Liturgie als jener Praxis, durch die sich Menschen der transformativen Wirkung des Heiligen Geistes aussetzen, stellt die Bedingung der Möglichkeit für die zentrifugale Sendung in die Welt dar.130 1.2.2.5 Christliche Liturgie als Ort des heiligenden Handelns Gottes Die Aufgabe der christlichen Liturgie besteht somit darin, »eine Begegnung mit Gott zu fördern, die unser Vorstellungsvermögen [imagination] transformiert und mithin unsere Wahrnehmung [perception] heiligt«.131 Hier kommen beide Dimensionen des christlich verstandenen liturgischen Geschehens in ihrer Verschränkung und Irreduzibilität prägnant zur Sprache. Auf der einen Seite feiern Menschen Gottesdienst. Dies bedeutet, dass sie im Blick darauf Verantwortung tragen, dass die Liturgie die Begegnung mit dem dreieinigen Gott fördert. Gefördert wird diese Begegnung wiederum, wenn die Liturgie so beschaffen ist, dass durch sie »die story von der erlösenden Liebe Gottes in unseren imaginativen Hintergrund herabsinken« kann.132 Zu diesem Zwecke ist die Form der Liturgie genauso wichtig wie ihr Inhalt, denn Form und Inhalt sind – entgegen einer verbreiteten Meinung – nicht voneinander zu trennen. »Formen sind nicht neutral«, sondern an sich schon immer »ausgerichtet [aimed] und geladen«: »They carry their own teleological orientation and come loaded with a complex of rituals and practices that carry a vision of the good life.«133 Deshalb wäre es fatal zu denken – was leider allzu häufig geschieht –, dass liturgische Formen einfach untereinander austauschbar wären, ohne dass der Formtausch einen Einfluss auf den durch sie vermittelten Inhalt ausübte. Eine erneute Wahrnehmung der formativen Kraft der Liturgie auf dem Hintergrund der von Smith entwickelten »liturgischen Anthropologie« sollte vielmehr bei reformierten Liturgen sowohl ein erhöhtes Formbewusstsein als auch eine größere Sorgfalt bei der Planung bzw. Revision von Liturgien fördern.134 dienst und missio auf keine »Instrumentalisierung« des Gottesdienstes hinausläuft, sondern durch die story selbst bedingt ist, die im Gottesdienst performiert wird: »To emphasize that Christian action is the end or telos of Christian worship is not to instrumentalize worship but is rather to ›get‹ the Story that is enacted in the drama of worship – the ›true story of the whole world‹ in which we are called to play our part as God’s image-bearers by cultivating creation« (a. a. O., 153 f.). 130 A. a. O., 154; 156. 131 A. a. O., 175. Vgl. Smith, You Are What You Love, 94: »Intentional, historic liturgy restores our imagination because it sanctifies our perception.« 132 Smith, Imagining the Kingdom, 167. 133 A. a. O., 169.

1. Kirchlicher Gottesdienst als pneumatisch-formatives Geschehen

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Tragen die Menschen Verantwortung dafür, dass die Liturgie so beschaffen ist, dass sich der christliche Gott ihrer bedienen mag,135 so geht das tatsächliche Stattfinden der formativen Begegnung mit ihm in der und durch die Liturgie allein auf das Handeln Gottes zurück. In der christlichen Liturgie handeln in diesem Sinn primär nicht Menschen; vielmehr handelt Gott der Heilige Geist an den Menschen. Der Gottesdienst stellt daher ein pneumatisches Geschehen dar, bei dem »der Geist durch und in solchen […] Praktiken uns begegnet, nährt, transformiert und ermächtigt«.136 The material practices of Christian worship are not exercises in spiritual selfmanagement but rather the creational means that our gracious God deigns to inhabit for our sanctification. […] Christian worship is primarily a site of divine action.137

Wenn Smith den Gottesdienst als »Pädagogik des Verlangens« beschreibt, so ist für ihn Gott selbst der Pädagoge.138 Sein Gottesdienstverständnis weist damit beide Merkmale eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses auf. Einerseits wird christliche Liturgie als konstitutiv wirksam definiert, weil sie immer eine formative Wirkung auf die an ihr teilnehmenden Menschen freisetzt. Andererseits wird diese Wirkung als eine solche betrachtet, die weder aus den Men134

A. a. O., 174: »Worship innovations that are inattentive to this may end up adopting forms that forfeit precisely those aspects of worship that sanctify perception by forming the imagination.« Dazu siehe auch Smith, You Are What You Love, 77–81. 135 Vgl. Wannenwetsch, Ökonomie, 55. 136 Smith, Desiring the Kingdom, 150; vgl. Smith, Imagining the Kingdom, 152: »Worship is the arena in which we encounter God and are formed by God in and through the practices in which the Spirit is present.« Man beachte die Ähnlichkeit zwischen der zitierten Passage und dem Diktum Peter Brunners (Zur Lehre vom Gottesdienst, 181): »Daß Gott selbst an Menschen handelt in Handlungen, die Menschen vollziehen, das macht den Gottesdienst zum Geheimnis.« Siehe unten, Kap. II.2.1.1. 137 Smith, Imagining the Kingdom, 15 (Hervorhebung, LB). Smith weist darauf hin, dass diese Auffassung des Gottesdienstes als Ort göttlichen Handelns an den Menschen in Kontinuität mit der reformatorischen Theologie steht (ebd.); vgl. Boulton, Life in God, 226 f.: »Following Calvin […] the church’s practices are fundamentally divine works of descent and accommodation, not human works of ascent and transcendence.« 138 Vgl. Meyer-Blanck, Das Pädagogische. Smiths Sicht auf die pädagogische Dimension liturgischen Handelns unterscheidet sich allerdings von derjenigen Michael Meyer-Blancks. Denn Letzterer bestimmt das »Pädagogische der Liturgie« im Anschluss an Schleiermacher als jene »verbesserte Zirkulation religiöser Erfahrung«, die sich gleichsam akzidentell aus der kultischen, menschlichen Handlung ergibt (a. a. O., 254), während Smith auf der absoluten Priorität göttlichen, pneumatischen Handelns durch die Liturgie insistiert.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

schen noch aus der Handlung als solcher hervorgeht, sondern aus Gott, dem primären Subjekt liturgischen Handelns.139 Zugleich wird auch die Distanz zwischen Smiths Ansatz und jeglichem expressivistischen Gottesdienstverständnis – bei dem der Gottesdienst in erster Linie als Ausdruckshandeln und der Mensch als dessen primäres Subjekt betrachtet werden – deutlich. Diese Distanz bringt auch Smith unmissverständlich zur Sprache: Wide swaths of contemporary Christianity tend to think of worship as only an »upward« act of the people of God who gather to offer up their sacrifice of praise, expressing their gratitude and devotion […]. […] such expressivist understandings of worship feed into (and off of) some of the worst aspects of modernity. Worshipas-expression is easily hijacked by the swirling eddy of individualism. In that case, even gathered worship is more like a collection of individual, private encounters with God in which worshipers express an »interior« devotion.140

1.2.2.6 Zusammenfassung Anlass zur Entwicklung seines dezidiert pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses gab bei Smith die Reflexion auf die Frage nach dem Ursprung bzw. der Herausbildung des christlichen Grundmotivs, von dem Dooyeweerd sprach. Dieses interpretiert Smith auf dem Hintergrund einer augustinisch geprägten Anthropologie als eine mögliche Bestimmung der Intentionalität des Menschen. Anregungen aus dem Umfeld der Radical Orthodoxy rezipierend, gelangt Smith ferner zur Erkenntnis der fundamentalen Rolle der Praxis – und speziell der gemeinschaftlichen Praktiken – für die Ausbildung menschlichen Charakters. Unter den gemeinschaftlichen Praktiken kommt aber nur jenen, die das »letztgültige Verlangen« des Menschen beeinflussen, ein spezifisch »liturgischer« Charakter zu. Denn Liturgien sind in den Augen Smiths genau das: Pädagogik des Verlangens. Der christliche Gottesdienst erscheint somit als jene Liturgie, in der Gott der Heilige Geist wirkt, um die imagination und die Grundintention des Menschen in einem spezifisch christlichen – und somit gegenüber den vielen »säkularen« Liturgien, denen die Menschen ebenso ausgesetzt sind, alternativen – Sinn zu prägen.

139

Smith, You Are What You Love, 77: »God is the primary actor or agent in the worship encounter. […] we are called to worship because in this encounter God (re)makes and molds us top-down. Worship is the arena in which God recalibrates our hearts, reforms our desires, and rehabituates our loves. Worship isn’t just something to do; it is where God does something to us. Worship is the heart of discipleship because it is the gymnasium in which God retrains our hearts.« Siehe auch a. a. O., 70: »The Spirit meets, nourishes, transforms, and empowers us just through and in such material practices [sc. of worship].« 140 Smith, Imagining the Kingdom, 182. Vgl. Smith, You Are What You Love, 74; 77.

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im kirchlichen Gottesdienst Ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis zeichnet sich nicht nur durch seine Betonung der konstitutiven Wirksamkeit der Liturgie auf die feiernde Gemeinde aus. Eine solche Betonung kann nämlich an sich mit einem grundsätzlichen Festhalten an der Definition des Gottesdienstes als primär menschliches, expressives Handeln problemlos einhergehen, wie die weiter oben angesprochenen »performativen« Entwürfe deutlich belegen.141 Zu einem konsequent pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnis gehört vielmehr auch ein Zweites: die Betrachtung des Gottesdienstes als ein pneumatisches Geschehen, d. h. als ein Geschehen, bei dem Menschen handeln und doch Gott in der Kraft seines Geistes primäres Subjekt der Handlung ist. Die Überzeugung, dass Gott primäres Subjekt des kirchlichen Gottesdienstes sei, entspricht reformatorischem Gedankengut142 und kam auch bei den im obigen Abschnitt besprochenen Autoren an verschiedenen Stellen – allerdings eher beiläufig – zur Sprache. Es ist deshalb nicht überflüssig, noch kurz bei dieser Frage zu verweilen sowie zu reflektieren, wie der Zusammenhang zwischen Gottes (primärem) Handeln und menschlichem Handeln zu verstehen sei. Wie in Bezug auf die Formativität der Liturgie bereits geschehen, sollen diese Fragen anhand verschiedener Klärungsversuche behandelt werden, die sich zwar nicht gänzlich decken, aber sich doch alle von verschiedenen Ausgangspunkten her in eine ähnliche Richtung bewegen. In einem ersten Schritt kommen drei Autoren zur Sprache, die alle sowohl auf die Priorität göttlichen Handelns wie auch auf die unlösliche Verbindung von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst hingewiesen haben. Es handelt sich dabei um den lutherischen Systematiker Peter Brunner (1900–1981), dessen Studie Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde zu den Klassikern der evangelischen Fundamentalliturgik im 20. Jahrhundert gehört, um den reformierten Theologen und Religionsphänomenologen Gerardus van der Leeuw (1890–1950) sowie den zeitgenössischen Praktischen Theologen Manfred Josuttis. Daraufhin gilt es, verschiedene Modelle zu präsentieren, mithilfe deren das Zusammenwirken von Gott und Mensch im Gottesdienst gedacht werden kann. Dabei wird einerseits auf Karl Barths Lehre des concursus, andererseits auf Anregungen aus Schriften von Ingolf U. Dalferth und Ralph Kunz eingegangen. 141 142

Siehe oben, Kap. I.2.2. Vgl. Schweizer, Zur Ordnung, 34; Wolterstorff, The Reformed Liturgy, 290 f.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

2.1 Der Gottesdienst als pneumatisches Geschehen 2.1.1 Handeln Gottes, Handeln des Menschen und deren »Ineinander«: Peter Brunner »Gewiß stellt sich uns das, was im Gottesdienst geschieht« – schreibt Peter Brunner – »von Anfang bis Ende dar als ein Handeln von Menschen.«143 Auf der Ebene der empirischen Beobachtung ist Gottesdienst rein menschliches Handeln, eine bestimmte, kulturell geprägte Form von Ritual, welche als solche untersucht werden kann. Dies ist aber nicht die Aufgabe einer theologischen Reflexion auf den Gottesdienst. Letztere zielt vielmehr darauf ab, »das auszusprechen, was der Glaube als das Geschehen erkennt, das sich ereignet, wenn im Gottesdienst jene menschlichen Worte gesprochen und gesungen und jene menschlichen Gebärden und Handlungen vollzogen werden«.144 Dabei ist zu beachten, dass in dieser theologischen Perspektive die menschliche Dimension der Liturgie nicht vernachlässigt oder gar negiert, sondern in ein neues Licht gestellt wird. Denn Gottesdienst kann nicht geschehen, ohne dass Menschen handeln, aber das Handeln der Menschen macht als solches den Gottesdienst nicht aus. Der Gottesdienst weist eine »zwiefältige Struktur«145 auf, die – wie in Anlehnung an Philipp Melanchthons Unterscheidung zwischen zwei Arten von Opfer (dem sacrificium propitiatorium und dem sacrificium eucharisticum)146 formuliert wurde – immer eine »sakramentliche« und eine »sakrifizielle« bzw. eine »katabatische« und eine »anabatische« Seite hat. Der Gottesdienst ist in diesem Sinn immer sowohl Bewegung von Gott her zu den Menschen (katabatisch) als auch Bewegung von den Menschen her zu Gott (anabatisch), wobei Brunner darauf bedacht ist zu betonen, dass diese beiden Dimensionen nicht bloß nebeneinander bestehen. Entgegen der Tendenz, göttliches und menschliches Handeln verschiedenen Teilen des Gottesdienstes zuzuordnen – das Handeln Gottes ereigne sich in der Verkündigung, die Liturgie sei hingegen Menschenwerk –, geht es bei Brunner darum, den gesamten Gottesdienst als Ineinander von menschlichem und göttlichem Handeln zu betrachten.147 Man [darf] diese beiden Seiten des gottesdienstlichen Geschehens nicht auseinandernehmen und mechanisch auf einzelne Stücke des Gottesdienstes verteilen […]. 143

Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst, 181. Ebd. 145 A. a. O., 192. 146 Vgl. Melanchthon, Apologia 24, 623,23–29. 147 Für eine ähnliche Kritik vgl. Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 39 f.; Hütter, Evangelische Ethik, 63. 144

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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Die beiden Seiten durchdringen sich vielmehr gegenseitig in dem einzelnen gottesdienstlichen Akt.148

Lassen sich die beiden Dimensionen einerseits nicht voneinander isolieren, so können sie sich doch andererseits auch nicht gegenseitig absorbieren bzw. miteinander vermischt werden.149 Gottesdienst ist vielmehr göttliches Handeln in Handlungen, die von Menschen vollzogen werden, wobei der Mensch Mensch bleibt und Gott Gott. Darin erweist sich der Gottesdienst als Geheimnis: Das ist nun das Geheimnis, das den ganzen Gottesdienst durchzieht […]: in dieses unser menschliches Tun, das im Gehorsam gegen Christi Stiftung geschieht, legt der dreieinige Gott unsichtbar, aber wirklich sein eigenes Tun hinein.150

Aufgrund der in ihm stattfindenden Durchdringung von göttlichem und menschlichem Handeln erweist sich der Gottesdienst aber auch als pneumatisches Geschehen schlechthin. Wie beim Gebet im Allgemeinen,151 wird das Handeln der Menschen auch im »gemeinsamen Gebet« vom Handeln Gottes »im Geiste« getragen und ist auf dieses gänzlich angewiesen;152 und doch bleibt »unsere Aktivität im Gottesdienst […] unsere Tat«.153 Gott handelt im Gottesdienst allerdings nicht nur in menschlichen Handlungen, sondern durch ihre Handlungen handelt er auch an den Menschen, die diese vollziehen. Göttliches Handeln in der Liturgie hat eine Richtung und entfaltet eine bestimmte Wirkung, die darauf abzielt, dass die Glieder der Gemeinde »in Christo bleiben«.154 Der Gottesdienst als Ganzes dient somit der »Christus-Anamnese«, dem »Gedenken der Gemeinde an Evangelium und Sakrament«. Ein solches Gedenken ist jedoch – wie Brunner nachdrücklich betont – kein neutraler, bloß psychologischer Vorgang des »Sich-Erinnerns« an etwas Vergangenes. Die im Gottesdienst von Gott selbst durch die Liturgie bewirkte »Christus-Anamnese« ist hingegen für den ganzen Menschen in höchstem Maße prägend und formativ: 148

Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst, 192. Vgl. Bieritz, Liturgik, 259. In Brunners Argumentation ist implizit dieselbe chalcedonische Logik am Werk, die auch für Barths Reflexion auf das Zusammenwirken von Gott und Mensch bestimmend ist; siehe unten, Kap. II.2.2.1. 150 Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst, 217. Vgl. auch a. a. O., 255. 151 Aufgrund dieser Analogie lässt sich das Gebet als »Totaldimension des Gottesdienstes« definieren, vgl. a. a. O., 193. 152 A. a. O., 192: »Das menschliche Tun, das den Gottesdienst von Anfang bis zu Ende ausfüllt, ist ganz und gar darauf angewiesen, daß der dreieinige Gott es mit seinem Tun erfüllt.« 153 A. a. O., 255. 154 A. a. O., 209. 149

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis Dieses Gedenken schließt […] ein, daß dadurch das Verstehen und das Denken und das Wollen und das Tun des Menschen nach Wesen, Art und Inhalt geformt und geprägt wird. Dieses Gedenken ist also eine die Existenz bestimmende Macht. Denn es richtet sich auf die Sache, auf den Inhalt von Evangelium und Taufe, es ist erneutes Ergreifen, erneute Aneignung, erneute Hinnahme des im Evangelium und in der Taufe dargereichten Heils.155

2.1.2 Gottes Wirken in Liturgie und Sakrament bei Gerardus van der Leeuw Eine ähnliche Betonung des Ineinanders von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst, gekoppelt mit einer deutlicheren Hervorhebung der Priorität göttlichen Handelns, findet sich auch beim niederländischen reformierten Religionsphänomenologen und Theologen Gerardus van der Leeuw. Der Gottesdienst ist für ihn der eminente Ort der Begegnung mit Gott, die Grundform »des Verkehrs zwischen Gott und der Kirche«.156 Eine solche Begegnung kann sich aber in christlicher Perspektive nur insofern ereignen, als Gott sich den Menschen in Christus mitteilt. Gerade darin bestehe der grundsätzliche Unterschied zwischen dem christlichen und dem nicht-christlichen Sakramentsbegriff. In anderen Religionen verstehe man unter »Sakrament« eine »elementare Handlung, die der Mensch in dem Bewußtsein verrichtet, daß er damit etwas in einer anderen Sphäre bewirkt«.157 Die Möglichkeit solcher Handlungen beruhe auf der Überzeugung, dass die »Natur« aufgrund einer »ursprünglichen oder unendlichen Identität« mit der »Übernatur« für Letztere transparent sei.158 Der Gedanke einer solchen Analogie zwischen natürlicher und göttlicher »Sphäre« – die jeder Form von »Pansakramentalismus« zugrunde liegt159 – ist aber dem Christentum vollkommen fremd. Die Botschaft der Versöhnung Gottes mit der Welt in Christus impliziert nämlich, dass die Welt abgesehen von ihm in grundsätzlicher Entfremdung von Gott existiert. Erst im Lichte der »Neuschöpfung« in Christus ist es überhaupt möglich, wieder die Welt als »Schöpfung« wahrzunehmen, während die »Natur« nun als »gefallene Schöpfung« erscheinen muss.160 »Erst die Neuschöpfung gibt die Möglichkeit eines echten Sakraments, eine richtige Analogie, ein wiederhergestelltes Bild Gottes in der Gestalt des Gekreuzigten.«161 155 156 157 158 159 160 161

A. a. O., 209 f. Leeuw, Liturgiek, 39. Leeuw, Sakramentales Denken, 111. A. a. O., 113. A. a. O., 164 f. Leeuw, Mensch und Religion, 135. Leeuw, Sakramentales Denken, 209.

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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Die Möglichkeit des Sakraments im christlichen Sinn gründet also in der Inkarnation. Denn christlich könne man von einer »Gegenwart Gottes in und an einer geschaffenen Handlung« – so bestimmt Van der Leeuw den christlichen Sakramentsbegriff162 – nur sprechen, weil Gott sich in Christus (neu)schöpferisch vergegenwärtigt hat.163 So ist es nur konsequent, wenn Van der Leeuw von der Inkarnation als dem einen fundamentalen Sakrament spricht164 und die »sakramentalen Handlungen« als »Erscheinungsformen« dieses einzigen »Mysteriums« betrachtet.165 Sakramente sind insofern Erscheinungsformen der von Gott in Christus bewirkten Neuschöpfung, als in ihnen die versöhnende Tat Gottes für die Menschen Gegenwart wird. Dies setzt immer »eine Wahl voraus, ein Absondern einer bestimmten Lebenshandlung von einer anderen, und zwar eine Wahl durch Gott«.166 Nicht nur die Einsetzung des Sakraments – etwa des Abendmahls – geht aber auf Gott zurück; auch die Möglichkeit, dass die sakramentale Handlung wirklich Sakrament wird, d. h., dass »diese Wirklichkeit uns in Gemeinschaft mit Gott bringt«,167 hängt von Gottes Wirken ab. Im Sakrament ist Gott der primär Handelnde: »Gott handelt, der Mensch wiederholt, er folgt nach, aber das agens ist Gott«,168 und zwar Gott in der Kraft seines Geistes. Mit dieser Hervorhebung der Priorität göttlichen, pneumatischen Handelns in der sakramentalen Handlung hängt Van der Leeuws Betonung der Unerlässlichkeit der Epiklese zusammen. Dass die Gemeinde Gott um die Herabsendung seines Geistes zur Heiligung der Handlung bittet, macht die Differenz zwischen Gottes und der Menschen Tun deutlich: Dass aus der von Menschen verrichteten Handlung ein Sakrament wird, hängt nur von Gott ab.169 Beim Sakrament handelt es sich also nicht um eine theurgische Handlung, obwohl es häufig – aufgrund der in der westlichen liturgischen Tradition stattgefundenen Ersetzung der Epiklese durch ein »Konsekrationsgebet« – als eine solche missverstanden wurde.170 Das Sakrament ist vielmehr beides: menschliches und göttliches Handeln, wobei sich »Gott unserer Handlung bedient, um selber zu handeln«,171 sodass die Sakramente als »Mittel, deren sich die göttliche Gnade bedient«,172 erscheinen. 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172

A. a. O., 189. A. a. O., 165; 175; 199. Leeuw, Liturgiek, 47. Leeuw, Sakramentales Denken, 199 f. A. a. O., 165. A. a. O., 177. A. a. O., 165. A. a. O., 222. A. a. O., 191. Leeuw, Liturgiek, 41. Leeuw, Sakramentales Denken, 189.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

Was für die Sakramente im engeren Sinn – Taufe und Abendmahl – gilt, lässt sich nun Van der Leeuw zufolge in abgeleitetem Sinn auf den gesamten Gottesdienst beziehen. Im Gottesdienst begegnen sich nämlich zwei »Lebensbewegungen« – die menschliche und die göttliche173 –, welche aber nicht nebeneinander bestehen bleiben, sondern sich miteinander wie Form und Inhalt verschränken.174 Die göttliche Bewegung bleibt dabei allerdings prioritär: Der erste und eigentliche Urheber von allem, was im Gottesdienst geschieht, ist Gott. Deshalb trägt der Gottesdienst einen sakramentalen Charakter. Denn eine sakramentale Handlung ist nichts anderes als eine Handlung, die zwar von Menschen verrichtet wird, die aber im Gegensatz zu anderen Handlungen ähnlicher Art ein anderes Ziel hat und dieses ihr Ziel nur deshalb erreichen kann, weil Gott deren eigentlicher Urheber ist, indem er seine Verheißung an sie hängt.175

2.1.3 Die Selbstvergegenwärtigung Gottes im Gottesdienst: Manfred Josuttis Die Betonung der pneumatischen Grunddimension des Gottesdienstes klingt schließlich auch in der auf verhaltenswissenschaftlicher Basis entwickelten Liturgik Manfred Josuttis’ nach. Er betrachtet den Gottesdienst theozentrisch als eine »heilige Handlung«, in der »der heilige Gott gegenwärtig« wird.176 In deutlicher Abgrenzung von Schleiermacher betont Josuttis, dass der Gottesdienst mehr als eine »Anstalt für die Zirkulation des religiösen Bewusstseins« ist; in ihm stelle sich vielmehr »eine eigentümliche atmosphärische Macht, die Realität des Heiligen«, ein.177 Dies kann allerdings nur dann geschehen, wenn Gottes Geist – der ja nicht mit dem »Gemeingeist der anwesenden und handelnden Personen« zu verwechseln ist – sich selbst vergegenwärtigt.178 Wird der Gottesdienst als pneumatisches Geschehen aufgefasst, so ermöglicht dies nach Josuttis, zwei entgegengesetzte Missverständnisse gleichzeitig abzuwehren: einerseits die Reduktion des Gottesdienstes auf ein rein irdisches Kommunikationsgeschehen zwischen den beteiligten Menschen,179 andererseits die Vorstellung, dass durch das Ritual 173

Leeuw, Liturgiek, 47. Leeuw, Sakramentales Denken, 196 f.: »Auch in der Liturgie [muss], soweit diese nicht Sakrament im engeren Sinn ist, etwas Sakramentales sein. Gebet und Lobpreisung, Predigt und Glaubensbekenntnis, Gesang und Segen sind nicht nur für sich stehende Dekorationsstücke, sondern sie tragen einen sakramentalen Charakter insofern, als sie der Begegnung der Kirche mit dem lebendigen Herrn Form geben.« 175 Leeuw, Liturgiek, 39. 176 Josuttis, Einführung in das Leben, 85. 177 Josuttis, Gottes Wort, 175. 178 Josuttis, Einführung in das Leben, 86. 179 A. a. O., 95. 174

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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Gott beeinflusst werden könne. In beiden Fällen wird die Wirklichkeit des Gottesdienstes verfehlt, und zwar deshalb, weil der Gottesdienst dabei grundsätzlich und primär als menschliches Handeln aufgefasst wird. Betrachtet man hingegen den Gottesdienst als Ort, an dem Gott den Menschen begegnen will, so ändert sich auch die Sicht auf das menschliche Tun in ihm radikal und der Gottesdienst kann erneut als »die Begehung« erscheinen, »in der man die Gottheit nicht beeinflussen, sondern sich selbst ihren Einflüssen aussetzen will und sich in ihren Machtbereich begibt«.180 2.2 Theologische Modelle des Zusammenwirkens von Gott und Mensch Ist der Gottesdienst pneumatisches Handeln Gottes und zugleich Handeln der versammelten Gemeinde, so geschieht in ihm, was die theologische Tradition concursus genannt hat: das Zusammenwirken von Gott und Mensch in ein und demselben Geschehen. Nun gehört »die Frage nach Gottes Zusammenwirken« – wie bereits der reformierte Theologe Franc¸ois Turrettini (1623–1687) anmerkte – »zu den schwierigsten unter denjenigen, die in der Theologie vorkommen«.181 Die größte Gefahr in deren Behandlung besteht darin, das Verhältnis von Gottes und des Menschen Wirken so aufzufassen, als stünden sie in Konkurrenz zueinander wie zwei »dem gleichen übergreifenden Seinsbereich zugehörige« Ursachen.182 Aus einer solchen quantitativen Auffassung des concursus ergäbe sich, dass Letzterer im Sinne eines »Repartierens zwischen Gott und dem Menschen«183 oder eines »zero-sum game«184 verstanden würde. Entgegen dieser Sichtweise, die etwa in Duns Scotus einen frühen prominenten Vertreter fand,185 tragen die im Folgenden behandelten 180 Josuttis, Weg, 44. Interessanterweise bestimmt Josuttis die Wirkung des pneumatischen Geschehens »Gottesdienst« als Konversion (μετα νοια): »Wenn in der Predigt die erleuchtende Kraft des Evangeliums zur Sprache kommt, wenn in der Feier des Abendmahls die Vereinigung mit dem himmlischen Erlöser erfolgt, dann finden flowErfahrungen statt, die affektive, korporale und existentielle Konversionen auslösen.« (Josuttis, Gottes Wort, 179). 181 Turrettini, Institutio 6,5,1, Bd. 1, 453: »Cum quaestio de concursu Dei sit ex difficillimis, quae in Theologia occurrunt, in qua explicanda, si uspiam alibi, laboratum fuit et erratum periculosissime, peculiarem et accuratam disquisitionem postulat.« 182 Weber, Dogmatik, Bd. 1, 570. 183 A. a. O., 572. 184 Milbank, Beyond Secular Order, 46. Vgl. auch ders., The Suspended Middle, 98–100. 185 Vgl. Schmutz, Doctrine me´die´vale des causes, bes. 227: Scotus befürwortete »un mode`le de causalite´ base´ sur le concours re´ciproque de deux causes dites partielles (et non plus deux causes totales subordonne´es)« (Hervorhebungen, LB).

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

Autoren dazu bei, das Zusammenwirken von Gott und Mensch im Gottesdienst qualitativ zu denken: In der Liturgie handelt Gott nicht neben den Menschen, sondern als primäres Subjekt in und durch die menschlichen Handlungen, die darin vollzogen werden. Der Gottesdienst erweist sich somit nicht als teils menschlich, teils göttlich, sondern als »ganz göttliches und ganz menschliches Handeln«186 unter Bewahrung des qualitativen Unterschieds zwischen beidem und damit auch der Priorität göttlichen Handelns. 2.2.1 »Nous prions comme par sa bouche«: Das Zusammenwirken von Gott und Mensch im Gottesdienst nach Karl Barth In Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre definiert Karl Barth den Gottesdienst als »von Gott geforderte und angeordnete, der Erweckung, Reinigung und Förderung des christlichen Lebens dienende Aktion der versammelten kirchlichen Gemeinde«.187 Der Gottesdienst ist einerseits eine Handlung (»Aktion«) der Gemeinde und somit menschliches Handeln. Indem er aber diese selbe Handlung als »dienend« bezeichnet, weist Barth darauf hin, dass das primäre Subjekt gottesdienstlichen Handelns nicht der Mensch, sondern Gott selbst ist. Was für das Sakrament im Speziellen gilt, lässt sich auf den Gottesdienst als Ganzes beziehen: Sakrament ist […] eine Aktion, in der Gott handelt und der Mensch dient […]. Das ist grundsätzlich Alles, was nicht nur über die Sakramente im engeren Sinne des Wortes, sondern über den kirchlichen Gottesdienst überhaupt zu sagen ist. […] Der kirchliche Gottesdienst ist primär, ursprünglich, substantiell ein göttliches – er ist dann erst, sekundär, abgeleitet, akzidentiell ein menschliches Handeln.188

Gott ist primäres Subjekt des Gottesdienstes zunächst im Blick auf den Grund, weshalb Gottesdienst überhaupt gefeiert wird. Dieser besteht nämlich ganz einfach darin, dass Gott es befiehlt.189 Gott ist aber auch 186

Zeindler, Auf Gottes Kommen hoffen, 170. Diese Auffassung des Zusammenwirkens von Gott und Mensch im Gottesdienst entspricht der klassisch reformierten Lehre vom concursus im Allgemeinen, vgl. Bavinck, Reformed Dogmatics, Bd. 2, 614 : »In relation to God the secondary causes can be compared to instruments […]; in relation to their effects and products they are causes in the true sense. […] There is no division of labor between God and his creature, but the same effect is totally the effect of the primary cause as well as totally the effect of the proximate cause.« 187 Barth, Gottesdienst, 183. Zu Barths Theologie des Gottesdienstes im Allgemeinen vgl. Merkel, Karl Barth und der kirchliche Gottesdienst; Müller, Neuordnung, bes. 231–237. 188 Barth, Gottesdienst, 184 f. 189 A. a. O., 186: »Es gibt eine Sache, […] die hat ihren primären Grund darin, daß sie uns befohlen ist. Diese Sache ist der kirchliche Gottesdienst.«

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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derjenige, der sowohl den Inhalt als auch die Form des Gottesdienstes bestimmt, indem er einerseits anordnet, dass in ihm nichts anderes als die Offenbarung verkündigt wird,190 andererseits aber auch die Mittel bereitstellt, durch die eine solche Verkündigung zu geschehen hat: Wasser, Brot und Wein sowie das menschliche Wort.191 Gott stiftet also den Gottesdienst, ordnet ihn an und befiehlt den Menschen, ihn entsprechend seiner Bestimmung von Inhalt und Form zu feiern. Bedeutet dies etwa, dass Gott nur deshalb als primäres Subjekt des Gottesdienstes zu bezeichnen ist, weil dessen Stiftung auf ihn zurückgeht, während der Vollzug des Gottesdienstes Sache des Menschen – des sekundären Subjekts – ist? Deutete man Barths Ausführungen auf diese Weise, würde man gerade die Pointe seines Gottesdienstverständnisses verkennen. Denn Barth versteht den Gottesdienst als ein Geschehen, bei dem Gott und Mensch zusammenwirken, ohne dass das eine oder das andere Subjekt dabei aufhörte, das zu sein, was es ist. Entsprechend dem »ganzen Rhythmus der christlichen Lehre«192 – d. h. der chalzedonischen Logik des »vere deus vere homo« – sind das Menschliche und das Göttliche im Gottesdienst nicht voneinander zu trennen, dürfen aber auch nicht miteinander vermischt werden. Der Gottesdienst ist also beides zugleich, »Werk des Heiligen Geistes«193 und »unser Werk«.194 Gott und Mensch wirken im Gottesdienst nicht bloß nebeneinander oder nacheinander, sondern zusammen und ineinander, wobei – entsprechend dem Vorrang des Schöpfers gegenüber dem Geschöpf – eine klare Hierarchie zwischen den beiden Subjekten besteht. Beim Gottesdienst handelt es sich somit um nicht weniger als ein Beispiel von concursus von Gott und Mensch. Im concursus fallen göttliches und menschliches Wirken zusammen; sie sind geschichtlich verbunden, indem sie in differenzierter Einheit existieren.195 Wie bei der Relation zwischen göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi nach dem Dogma von Chalcedon sind göttliches und menschliches Wirken im concursus ungetrennt und unvermischt. Gott ist und bleibt primärer Urheber des geschöpflichen Wirkens, bestimmt Letzteres aber so, »daß eben das göttliche Wirken sich in, mit und über dem geschöpflichen vollzieht, das geschöpfliche selbst die Vollstreckung des göttlichen Willens wird«.196 Einem solchen Ereignis kommt 190 191 192 193 194 195 196

A. a. O., 189. A. a. O., 190 f. A. a. O., 185. A. a. O., 191 f. A. a. O., 198. Vgl. Hunsinger, Barth lesen, 211. KD III/3, 153.

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

der Status einer »göttlichen Tatsache«197 zu. Es kann deshalb nicht erklärt, sondern nur als Geheimnis – als »Gnadengeheimnis« – beschrieben werden.198 Es ist das Geheimnis seiner Gnade, daß er das tut und daß dem Geschöpf das widerfährt. Es gehört aber zum Geheimnis seiner Gnade, daß er, indem er das tut, allein Gott ist und göttliches Wesen hat und behält und daß dabei auch das Wesen des Geschöpfes nicht tangiert und nicht alteriert wird. Indem er ihm mit seiner unbedingten und unwiderstehlichen Herrschaft nichts wegnimmt, was ihm gehört, fügt er ihm auch nichts hinzu, läßt er es vielmehr als das, was es ist, in seinem geschöpflichen Wesen gelten. Es bleibt auch in jener Einheit göttlichen Tuns und geschöpflichen Geschehens beim echten, durch keine Vermischungen und Übertragungen, durch keine göttlichen Einflüsse und Ergießungen verdunkelten oder aufgehobenen Gegenüber. Es bleibt bei der echten Begegnung und so bei dem echten Zusammensein zweier Wesen verschiedener Art und verschiedener Ordnung.199

Es ist deshalb nur folgerichtig, dass Barth in der Kirchlichen Dogmatik (KD) den Gottesdienst »in allen seinen Elementen« als »Kommunion« (»Handlung Gottes, Jesu, der Gemeinde selbst«) bestimmt200 und unter Berufung auf Mt 18,20 betont: »In dem, was im Zusammenkommen dieser Menschen getan wird und geschieht, ist ihr König und Herr gegenwärtig und am Werk. […] Daß er das in ihrer Versammlung tut, daß er selbst das dem Geschehen ihres Gottesdienstes zugrunde liegende, es formende und ordnende Recht ist, das ist das Geheimnis dieses ihres Tuns.«201 Ist der Gottesdienst nun aber lediglich ein Beispiel von gottmenschlichem Zusammenwirken unter anderen oder kommt ihm vielmehr eine eminente Bedeutung zu? Um dieser Frage nachzugehen, ist es notwendig, auf Barths Erläuterungen zum Gebet zurückzugreifen. Das Gebet ist nach Barth »eine besondere Gestalt menschlichen Tuns im Verhältnis zu Gott«.202 Damit der Mensch beten kann, damit er Gott danken, loben und – vor allem – bitten kann, bedarf es allerdings einer »besonderen Bewegung und Tat Gottes«.203 Zur Möglichkeit der Anrufung Gottes wird der Mensch von Gott aus Gnade befreit, und zwar nicht einfach ein für alle Mal, sondern immer wieder neu: »Das höchst 197

KD II/2, 871. KD III/3, 120: »Daß diese zwei Subjekte [Gott und Mensch] zusammen sind und sogar zusammenwirken, das kann nur als Gnadengeheimnis einer Begegnung verstanden werden, in der das Unbegreifliche, das Unerwartete und Unverdiente Ereignis wird.« 199 KD III/3, 154. 200 KD IV/2, 722. 201 KD IV/2, 791 f. 202 KD III/4, 95. 203 Barth, Das christliche Leben, 144 f. 198

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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verwunderliche Ereignis, das geschehen sein und noch und wieder geschehen muß, wenn es zur Anrufung Gottes des Vaters durch Menschen als seine Kinder kommen soll, ist das des fruchtbaren Zusammentreffens und der lebendigen Gemeinschaft des Heiligen Geistes mit ihnen, mit ihrem Geist.«204 Auch beim Gebet handelt es sich also um einen concursus. Wenn Anrufung Gottes stattfindet, dann ist diese ein pneumatisches Geschehen, bei dem sich der Geist Gottes und der Menschengeist in »lebendiger Gemeinschaft« befinden, ohne dass Mensch und Gott voneinander getrennt werden können oder miteinander vermischt werden dürfen.205 Dieser Geist, durch den das Gebet der Menschen ermöglicht wird (Röm 8,26 f.), ist aber – wie Barth betont – kein anderer als der Geist Jesu Christi. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, mit Johannes Calvin die Möglichkeit menschlichen Betens im Mittler- und Fürsprecheramt Christi zu verankern: Indem wir uns hinter und neben ihn [Christus] stellen, ist uns die Freiheit, Gott mit unseren Bitten anzureden, ohne weiteres gegeben: car nous prions comme par sa bouche, d’autant qu’il nous donne entre´e et audience et interce`de pour nous. Das heißt aber: Er, Jesus Christus, ist der eigentliche und eine wirkliche Beter. Wir aber gehören zu ihm und sind eben dadurch ermächtigt, eingeladen und aufgerufen, ihm nach- und mit ihm zu beten: in keiner Weise im Blick auf unser eigenes Können und Dürfen, wohl aber in jener Einheit der »Wir«, von denen im Unser Vater die Rede ist und an deren Spitze er selber sich gestellt hat.206

Dem Gebet misst Barth eine ganz besondere Bedeutung bei. In ihm ereignet sich in eminenter Weise das Gnadengeheimnis des Zusammenwirkens von Mensch und Gott. Die Anrufung Gottes stellt das Moment »tiefster Intimität in der Gemeinschaft zwischen dem Menschen und Gott« dar207 und ist in der Tat der »Nerv« der »ganzen christlichen Existenz«.208 Denn in ihr – und speziell in ihrer zentralen Dimension der »Bitte« – offenbart sich das christliche Leben als ein »auf Gott den Heiligen Geist gänzlich angewiesenes« Leben.209 In diesem Sinn wird das Gebet einerseits zum Grundton christlicher Existenz. Gebet ist in diesem Zusammenhang – wie Barth unter Heranziehung von 1Thess 5,17 (»Betet ohne Unterlass!«) hervorhebt – jene »Bewegung, in der sich die Christen dauernd und in der sie sich gemeinsam befinden: schlechthin unentbehrlich im Vollzug des gan204

A. a. O., 145. Vgl. KD III/4, 118. 206 KD III/4, 103. Vgl. Calvin, Cate´chisme (CO VI 89). Siehe auch Barth, Das christliche Leben, 172 f.; Boulton, »We Pray by His Mouth«. 207 Hunsinger, Barth lesen, 239. 208 Barth, Das christliche Leben, 166. 209 A. a. O., 151. 205

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

zen, der Gemeinde befohlenen Tuns, von diesem unmöglich zu trennen«.210 So sehr Barth das Gebet als Horizont des gesamten Tuns der Gemeinde betrachtet, betont er andererseits jedoch auch, dass 1Thess 5,17 keineswegs als Vorwand für die Vernachlässigung der konkreten Gebetspraxis missbraucht werden darf. Die Bitte und Danksagung der Gemeinde soll vielmehr »konkrete Gestalt annehmen«, und »deren besonderer Ort wird […] ihre gottesdienstliche Versammlung sein«.211 Zwar betet man auch alleine oder in Gruppen, aber »das Gebet der Christen drängt danach, im Gebet der versammelten Gemeinde seine eigentliche und rechte Gestalt anzunehmen«.212 Denn im Gottesdienst ereignet sich in eminenter Weise, dass die im Namen Jesu Christi Versammelten »gleichsam durch dessen Mund beten«, weil er selbst in der Kraft des Heiligen Geistes »in ihrer Mitte gegenwärtig, […] gewissermaßen ihr Vorbeter ist«.213 Die Anrufung Gottes kann nur insofern das gesamte Leben der christlichen Gemeinde und jedes ihrer Glieder bestimmen, als sie zunächst im Gottesdienst konkrete Gestalt annimmt. Barths Ausführungen zum Zusammenhang von Gebet, Gottesdienst und christlichem Leben in der KD sind in zweierlei Hinsicht von besonderer Tragweite. Zum einen, da sich im Gebet die »göttliche Tatsache« des concursus zwischen Gott und Mensch eminent ereignet und da das Gebet wiederum im Gottesdienst seine »eigentliche Gestalt« gewinnt, erweist sich der Gottesdienst als nicht bloß ein Beispiel von gottmenschlichem Zusammenwirken, sondern als dessen ursprünglicher Ort. Dies stellt die in Gotteserkenntnis und Gottesdienst vorgelegte Definition des Gottesdienstes als (primär) göttliches und (sekundär) menschliches Handeln in ein neues Licht. Zum anderen hilft die Betonung der grundlegenden Bedeutung gottesdienstlichen Betens im Blick auf die Ermöglichung christlichen Lebens dazu, die bereits in jener frühen Schrift angesprochene formative Dimension des Gottesdienstes besser zu verstehen. Es wird nun nämlich klar, dass die dort als Ziel des Gottesdienstes erwähnte »Erweckung, Reinigung und Förderung des christlichen Lebens« nicht im Sinne einer Förderung oder Vertiefung individueller Frömmigkeit zu verstehen ist. Vielmehr geschieht im Gottesdienst – als Ort des gemeinsamen Gebets und deshalb als Ort der Begegnung mit Gott (dem Angerufenen) durch Christus (den Vorbeter) in der Kraft des Heiligen Geistes (des primären »Urhebers« des Gebetes214) – die Erbauung der 210

KD IV/3.2, 1011 f. Meyer-Blanck, Gottesdienst und Gebet bei Barth, 135, nennt dieses ein »kategoriales Gebetsverständnis«. 211 KD IV/3.2, 1013. 212 KD IV/2, 798. 213 KD IV/2, 799. 214 Vgl. Boulton, »We Pray by His Mouth«, 79.

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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Kirche. Da im Gottesdienst die Kirche als Kirche Jesu Christi immer wieder neu konstituiert wird, stellt der Gottesdienst den immer wieder zu vollziehenden Beginn christlichen Lebens dar, welches nur »von dieser Mitte her«215 möglich ist: Hier erbaut sie [die Gemeinde] sich und hier entscheidet es sich, ob und in welchem Sinn sie sich auch sonst, draußen, im Umkreis, im Alltagsleben erbaut, ob und in welchem Sinn sie sich schließlich der Welt gegenüber als »vorläufige Darstellung« ihrer in Jesus Christus geschehenen Versöhnung, Rechtfertigung und Heiligung bewähren wird. Erbaut sie sich hier nicht, dann bestimmt auch nicht im Alltagsleben und dann auch nicht in der Ausführung ihres Zeugendienstes im Kosmos.216

2.2.2 Gottesdienst als Kommunikationsereignis des Geistes In jüngerer Zeit stellte sich auch Ralph Kunz der Frage nach dem Zusammenhang von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst im Rahmen seiner semiotisch angelegten Studie über »Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis«.217 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Kommunikation,218 wird der Gottesdienst zunächst als ein Geschehen konnotiert, bei dem »die Präsenz von Etwas angesprochen wird, das nicht unmittelbar wahrnehmbar« ist219 und über das deshalb kommuniziert wird. Gottesdienst ist also grundsätzlich ein Kommunikationsgeschehen. In ihm wird die Präsenz Jesu Christi angesprochen; da aber diese nach Kreuz und Auferstehung nicht unmittelbar Gegenstand von Wahrnehmung sein kann, erscheint der Gottesdienst zunächst als Kommunikation über Jesus Christus, d. h. als »ein zeichenvermittelter, also an reale Zeichenträger gebundener ontischer Sachverhalt, von dem gilt, daß er unter den Kommunikationsbedingungen von Raum und Zeit etwas Erfahrbares ist«.220 Ist diese aber die einzige Form von Kommunikation die im Gottesdienst geschieht? Ist eine Kommunikation mit Jesus Christus in ihm etwa grundsätzlich ausgeschlossen? Und wenn nicht, wie kommt sie dann zustande? Eine theologische Gottesdiensttheorie habe genau solche Fragen zu behandeln, indem sie zu 215

KD IV/2, 723. Ebd. 217 Kunz, Gottesdienst, 395–407. 218 A. a. O., 398: »Wahrgenommen wird das Wirkliche, also das, dessen Existenz sich nicht dem verdankt, dass es wahrgenommen wird, kurz: das Erfahrbare. […] Kommunikation ist im Unterschied zur situationsgebundenen Operationsform Wahrnehmung situationstranszendierende Informationsgewinnung. Sie erlaubt es, auch nicht wahrnehmbare Wirklichkeit kognitiv zu erfassen.« Vgl. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 120 f. 219 Kunz, Gottesdienst, 399. 220 Dalferth, Kombinatorische Theologie, 151. 216

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

klären versuche, ob und »wie der Geist [Gottes] sich in, mit und unter den Zeichen konkretisiert, wenn der Gottesdienst eine besondere Zeit und ein besonderer Raum ist, in dem das Geheimnis Gottes zugänglich wird«.221 Es wird deutlich, dass die Frage nach Art und Weise des Handelns Gottes im kirchlichen Gottesdienst nur pneumatologisch zu beantworten ist. In Anlehnung an Ingolf Dalferths Pneumatologie bestimmt Kunz den Geist als »die vollkommen durchsichtige Vollzugsform des Lebens Gottes«.222 Der Geist macht deutlich – zunächst im Sinne einer Selbstdeutung –, worin das Leben Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist besteht, welches von Dalferth auch als »Gott-Feld« bezeichnet wird, d. h. als »ursprünglich kreatives Feld realer Ereignissituationen […], durch die konstituiert wird, worin und wodurch sich dieses Leben vollzieht«.223 Der Geist vollzieht aber nicht nur die innertrinitarische Selbstdeutung des Gott-Feldes, sondern er möchte – als heiliger Geist – auch uns Anteil an seiner Durchsichtigkeit gewähren.224 Dies geschieht, indem er uns den Glauben an Jesus Christus – den Vermittler der Gotteserkenntnis in Form der Botschaft vom kommenden Gottesreich – schenkt und dadurch uns wieder in eine Kopräsenzsituation mit ihm stellt. Nach Kreuz und Auferstehung ist nämlich eine solche Kopräsenz auf der Ebene der Wahrnehmung nicht mehr möglich, sondern muss durch pneumatische Kommunikation vermittelt werden. Allein die Geist-Kommunikation vermag Kopräsenz mit Jesus Christus »unter den Bedingungen seiner Abwesenheit«225 zu schaffen und damit Glaubenserkenntnis zu ermöglichen. Da Jesus Christus unserer Wahrnehmung entzogen ist, müssen die Kopräsenz und die Kommunikation mit ihm durch eine andere Kommunikation vermittelt werden, nämlich durch die pneumatische Kommunikation. Kommunikation mit Christus ist in der Tat möglich, und zwar dank der Vermittlung des Geistes. Die Geist-Kommunikation wird ihrerseits aber auch vermittelt, und zwar durch die menschliche Kommunikation über Christus. Es ist nämlich »anhand« der Evangeliumsverkündigung226 und – allgemeiner – der kirchlichen »symbolischen Kommunikationsvollzüge« (kirchlicher Gottesdienst),227 dass der Geist Gottes seine Wirkung entfaltet. Der kirchliche Gottesdienst erweist sich somit (nicht obwohl, sondern gerade weil er Ort der Kommunikation über Christus ist) auch als Ort 221 222 223 224 225 226 227

Kunz, Gottesdienst, 397. A. a. O., 401. Vgl. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 132; 136. A. a. O., 134. A. a. O., 135 f. A. a. O., 147. A. a. O., 136. A. a. O., 139.

2. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst

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der Kommunikation mit Christus, denn der Geist Gottes bedient sich der Evangeliumsverkündigung, des gemeinsamen Gebets sowie der sakramentalen Vollzüge, um Kopräsenz mit dem auferstandenen Jesus Christus zu schaffen: »Gottesdienst ist als Feld der Kooperation von Gott und Mensch dadurch gekennzeichnet, dass er durch einen gemeinsamen Zeichencode strukturiert ist, der die Selbstdeutung Gottes mit der Kommunikation über Gottes Selbstdeutung verknüpft«.228 Dies alles geschieht in evangelischer Perspektive freilich nicht ex opere operato, sondern immer nur ubi et quando visum est Deo. Dass die Kommunikation über Christus auch zur Kopräsenz mit ihm führt, bleibt allein Werk des Geistes. Der Gottesdienst als solcher vermittelt Letztere nicht, sondern kann sie nur erbeten (Epiklese)229 und bezeugen: »Glaubende können die Situation der kopräsenten Kommunikation mit Jesus Christus, die sie als Glaubende konstituiert, von sich aus anderen glaubenden und nichtglaubenden Sündern weder vermitteln noch eröffnen, sondern sie ihnen gegenüber nur in Kommunikation über Jesus Christus assertorisch bezeugen und zur Geltung bringen«.230 Dalferth zufolge besteht ja die besondere, »epistemische« Leistung der Sakramente genau darin, auf Gottes Selbstvergegenwärtigung stets zu verweisen und damit zu signalisieren, dass der eschatologische Wahrheitsanspruch der Kommunikation über Jesus Christus allein »in der von Gott selbst konstituierten kopräsentischen Kommunikation mit Jesus Christus« gründet.231 Und dennoch: Wenn sich eine klare und gewisse Glaubenserkenntnis232 in der Kopräsenz mit Jesus Christus er228

Kunz, Gottesdienst, 403. Genau die hier angesprochene Kooperation hatte auch Rudolf Bohren im Blick, als er Bullingers Definition der Verkündigung (»Praedicatio verbi Dei est verbum Dei«) unter Heranziehung von Arnold van Rulers Konzept einer »theonomen Reziprozität« deutete. Theonome Reziprozität »meint als gottgesetzte Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit eine Art Austausch, eine eigentümliche Partnerschaft« (Bohren, Predigtlehre, 76). Der Mensch verhält sich beim Akt der Wortverkündigung weder als bloß passives Werkzeug des göttlichen Geistes noch als autonomes Subjekt. Vielmehr ist er theonomes Subjekt seiner eigenen Handlung, weil diese zugleich und ursprünglich Gottes Handlung in und mit dem Menschen ist: »Gott tut sein Werk, indem vom Geist ein Impuls ausgeht, der den Menschen auf den Weg schickt, und unterwegs gibt ein Wort das andere. Der Geist initiiert nicht nur, er begleitet. […] Gott wird im Geist zum Genossen des Menschen, und der Mensch wird zum Genossen Gottes. In dieser Genossenschaft bleibt Gott Gott und der Mensch Mensch. Aber beide sind unterwegs, und der Mensch wird hier durchaus zum Partner […]. Theonome Reziprozität ist der Wechsel vom ›ich‹ zum ›wir‹.« (Bohren, Daß Gott schön werde, 69). 229 Kunz, Gottesdienst, 402. Vgl. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 144: »Eben deshalb gehört die Bitte um den Heiligen Geist unablöslich zum individuellen und gemeinsamen Lebensvollzug von Christen.« 230 A. a.O., 150. 231 A. a.O., 153. 232 Christliche Glaubenserkenntnis kann nur aufgrund des Zusammenspiels von Evangeliumsverkündigung und Geist-Kommunikation sowohl Klarheit als auch Gewissheit

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II. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis

eignet, dann geschieht dies ausgerechnet im Gottesdienst, und zwar aufgrund des Zusammenwirkens von Evangeliums-Kommunikation (menschlichem Handeln) und Geist-Kommunikation (göttlichem Handeln),233 wobei die Gottesdienst feiernden Menschen im Blick auf die erzielte Glaubenserkenntnis nicht Subjekte, sondern Adressaten und Medien des Kommunikationsgeschehens sind.234 3. Pneumatisch-formative κι νησις Im Horizont des hier dargelegten pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses erscheint der Gottesdienst in jedem seiner Teile als Ort der wirksamen Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes: Gott handelt im Gottesdienst als dessen »primäres Subjekt«235 an den Menschen, die ihn feiern. Dies läuft selbstverständlich nicht auf eine Ausblendung der menschlichen Dimension im gottesdienstlichen Handeln hinaus. Vielmehr werden die Untrennbarkeit und das Ineinander von göttlichem und menschlichem Handeln im Gottesdienst betont. Die Selbstvergegenwärtigung Gottes geschieht gerade dadurch, dass sich Gott der Liturgie bedient, um sich und seine Gnade den Menschen zu kommunizieren: Gott handelt »in Handlungen, die Menschen vollziehen«,236 sodass einerseits ein Handeln Gottes im Gottesdienst abgesehen vom liturgischen Vollzug der Gemeinde undenkbar wäre. Andererseits bleibt Gott dennoch der primäre agens, denn nur er kann den Menschen seine Gegenwart erschließen und kommunizieren.237 Die Menschen können die Vergegenwärtigung Gottes nicht bewirken, sondern diese nur bezeugen und erbitten, wie dies eminent in der Epiklese geschieht. Eine solche Sicht auf den Gottesdienst unterscheidet sich zwar von etwaigen »modernistischen«238 Betrachtungsweisen, sie impliziert aber erlangen, vgl. a. a. O., 147 f.: »Wie Evangeliumsverkündigung ohne Geist-Kommunikation Wissen von Gott, aber keine Gewißheit und damit keine Gotteserkenntnis vermitteln kann, so kann Geist-Kommunikation ohne Evangeliumsverkündigung nur diffuse Gewißheit, aber nicht epistemische Klarheit über die sich selbst deutende Vergegenwärtigung Gottes bewirken.« 233 A. a. O., 147. 234 Vgl. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, 105. 235 Vgl. Zeindler, Auf Gottes Kommen hoffen, 167; 169. 236 Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst, 181. 237 Vgl. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, 151. 238 Eine »modernistische Verkürzung von Theologie« ergebe sich dort, »wo diese sich nicht nur zur überprüfbaren Bearbeitung ihrer Probleme der a-theologischen Methoden neuzeitlicher Wissenschaft bedient, sondern diese als maßgeblichen Kanon auch zur Bestimmung und Beurteilung ihres Gegenstands akzeptiert (scientifische Theologie)« (a. a. O., 135).

3. Pneumatisch-formative κι νησις

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an sich keine Geringschätzung des Beitrags der Humanwissenschaften zur theologischen Reflexion auf die Liturgie, wie bereits das Werk James K. A. Smiths – eines dezidierten Befürworters des pneumatischformativen Standpunkts – deutlich gezeigt hat.239 Bei dieser Sichtweise geht es vielmehr um eine bestimmte, spezifisch theologische Perspektivierung in der Untersuchung liturgischer Vollzüge. Diese stellen zwar eine Form von gemeinschaftlicher Praxis dar und sind deshalb phänomenologisch analysierbar und mit anderen solchen Praxisformen strukturell vergleichbar. Zugleich ist der christliche Gottesdienst in theologischer Perspektive dadurch charakterisiert, dass in der in ihm stattfindenden Evangeliums-Kommunikation und durch sie Gott selbst sich den Menschen kommuniziert. Das pneumatisch-formative Gottesdienstverständnis zeichnet sich dadurch aus, dass es die Spezifizität christlichen Gottesdienstes als Ort der wirksamen Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Kraft seines Geistes von Anfang an betont, wobei sowohl der theologischen als auch der phänomenalen Dimension in ihrer Untrennbarkeit und irreduziblen Differenz Rechnung getragen wird. Hält man an dieser Sichtweise fest, so wird die Gültigkeit der Bestimmung der liturgischen Handlung als einer Form von εÆ νε ργεια – wie sich diese etwa aus Schleiermachers anthropologisch-expressiver Betrachtungsweise ergab240 – in Frage gestellt. Denn angesichts der Feststellung, dass Gott in der Liturgie an den Menschen handelt, ist es durchaus angemessen, den Gottesdienst nun als κι νησις zu bezeichnen, und zwar als κι νησις Gottes (genitivus subiectivus): Gott setzt Menschen in Bewegung durch die Handlungen, die sie vollziehen, wobei es sich weder um eine quantitative noch um eine räumliche, sondern um eine formative und damit qualitative Bewegung (κι νησις καταÁ τοÁ ποιο ν) handelt.241 Der Gottesdienst erweist sich ferner auch dadurch als κι νησις, dass er – wie es Aristoteles zufolge bei jeder κι νησις im Gegensatz zur εÆ νε ργεια der Fall ist – eine Grenze (πε ρας)242 hat. Nur liegt die Grenze der liturgischen κι νησις nicht in der Zeit, sondern in der eschatologischen Zukunft, denn erst dann wird der Prozess, im Rahmen dessen sie ihre Bedeutung erhält, zum Abschluss kommen. Um dies zu verstehen, gilt es aber nun, der Frage nachzugehen, worin die formative Wirkung des Gottesdienstes genau bestehe.

239

Siehe oben, Kap. II.1.2.2. Siehe oben, Kap. I.1.4. 241 Aristoteles, Metaphysica 11,12, 1068b 16 f. Vgl. Joachim, Nicomachean Ethics, 271. 242 Aristoteles, Metaphysica 3,4, 999b 9 f. Vgl. Joachim, Nicomachean Ethics, 206. 240

III. Die Wirklichkeit des Heils

Die Wirkung des kirchlichen Gottesdienstes auf die ihn Feiernden ist häufig mit der »Heiligung des Menschen« identifiziert worden.1 Da aber der Heiligungsprozess das gesamte Leben eines Christenmenschen umfasst, fragt sich, in welchem Verhältnis kirchlicher Gottesdienst und christliches Leben (Gottesdienst im weiteren Sinn) zueinander stehen. Diese Frage wird im nächsten Kapitel dahingehend beantwortet werden, dass der formative Kern des Gottesdienstes nicht als »Heiligung«, sondern als μετα νοια (Buße, Umkehr, Hinkehr zu Gott) definiert wird, wobei diese im Gottesdienst stets neu stattfindende und stattzufinden habende Re-Orientierung menschlicher Existenz den Anfang der Heiligung darstellt. Der Gottesdienst wirkt in dieser Perspektive also nicht so sehr »heiligend«, sondern »metanoetisch« auf die ihn Feiernden. Er ist der Ort, an dem die begnadigten Sünder immer wieder auf denjenigen ausgerichtet werden, der sie rettet und heiligt. Darüber hinaus, obwohl dem gesamten Gottesdienst eine solche metanoetische Wirkung zugesprochen werden kann, ist die Bußliturgie (bestehend aus Bekenntnis der Sünde, Bitte um Erneuerung, Gnadenzuspruch und doxologischer Antwort der Gemeinde2) der Ort, an dem die metanoetische Dimension der Liturgie eminent zur Sprache kommt. Bevor auf die Bedeutung der μετα νοια im reformierten Gottesdienst eingegangen wird, ist es jedoch notwendig, die reformierte Heiligungslehre zu erläutern, denn nur auf deren Hintergrund ist es möglich zu verstehen, was »Buße« in spezifisch reformierter Perspektive bedeutet. 1. Die Realität der Heiligung Zentral in der reformatorischen Theologie ist die Einsicht, dass das Heil den Menschen aus Gnade allein (sola gratia), durch den Glauben allein (sola fide) und in Christus allein (solo Christo) beschert wird. 1

So etwa in: Sacrosanctum Concilium 7 (DH, Nr. 4007); Hauerwas/Wells, How the Church Managed, 43. 2 Siehe unten, Kap. IV.2.

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Wie bist du gerecht vor Gott? Allein durch den wahren Glauben an Jesus Christus. Zwar klagt mich mein Gewissen an, daß ich gegen alle Gebote Gottes schwer gesündigt und keines je gehalten habe und noch immer zu allem Bösen geneigt bin. Gott aber schenkt mir ganz ohne mein Verdienst aus lauter Gnade die vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi. Er rechnet sie mir an, als hätte ich nie eine Sünde begangen noch gehabt und selbst den ganzen Gehorsam vollbracht, den Christus für mich geleistet hat, wenn ich allein diese Wohltat mit gläubigem Herzen annehme.3

Diese Betonung des Gabencharakters des Heils aufgrund der »Anrechnung« der Gerechtigkeit Christi wurde aber immer wieder als eine Reduktion des Heilsgeschehens auf eine rein juristische Angelegenheit missverstanden. Gemäß ihren Kritikern hätten die Reformatoren den – durchaus evangelischen – Appell zur Veränderung des Lebenswandels von der Rechtfertigung entkoppelt und damit die Erlösung des Menschen zu einer bloßen »legal fiction« gemacht.4 Ein auch nur flüchtiger Blick auf die Schriften protestantischer – und besonders reformierter – Theologen genügt aber, um die Unangemessenheit einer solchen Kritik zu offenbaren. Die dezidierte Ablehnung jeglicher Form von Werkgerechtigkeit und die Betrachtung der Gnade Gottes als einzigen Grund des Heils waren gekoppelt mit einer ebenso starken Hervorhebung der realen, erneuernden Wirkung der Gnade auf den Menschen. Im und durch den Glauben an Christus wird menschliches Leben »neu bestimmt« und »neu ausgerichtet«, »nämlich für Gottes Gegenwart und die Gegenwart des Nächsten« geöffnet.5 Dies betonte die reformierte Theologie anhand verschiedener Metaphern und Begriffe sowohl biblischer als auch philosophischer Prägung. 1.1 Pneumatische Christusgemeinschaft Um den engen Zusammenhang zwischen Rechtfertigung als göttlichem Urteil »über« den Menschen und Heiligung als realer Erneuerung menschlichen Daseins auszudrücken, behandelten die reformierten Autoren iustificatio und sanctificatio häufig als die beiden unzertrennlichen Aspekte eines einzigen Geschehens, nämlich der Vereini3 Heidelberger Katechismus, 39 [Frage 60]; vgl. CHP, Kap. 15 (Hildebrandt/Zimmermann 67–69). 4 Vgl. McCormack, What’s at Stake, 108. Diese Argumentationslinie wird zum Teil auch in heutigen theologischen Debatten vertreten, vgl. Milbank, Alternative Protestantism, 32 f.: »The idea of justification as imputation […] is still not acceptable. It paradoxically offends the idea of the divine glory. If God is simple and omnipotent, then his decision to treat us as just immediately makes us just, because the divine action cannot be ineffective. […] We must indeed receive, as Aquinas taught, an infused habitus of justitia.« 5 Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, 178.

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III. Die Wirklichkeit des Heils

gung (unio) bzw. Gemeinschaft (communio) mit Christus. Damit wollten sie nicht andeuten, dass Rechtfertigung und Heiligung gleichsam eine gemeinsame Wurzel hätten, sodass die unio cum Christo beiden gegenüber als – logisch oder gar chronologisch – prioritär anzusehen wäre. Die Christusgemeinschaft steht nicht in Kausalzusammenhang mit Rechtfertigung und Heiligung, sondern stellt selbst den Zusammenhang dar, in dem beide Aspekte des Heils uns Menschen zuteilwerden.6 So erklärt der Heidelberger Katechismus, dass nur diejenigen gerettet werden, die Christi »Leib als Glieder eingefügt werden« und dadurch »alle seine Wohltaten annehmen«,7 während Johannes Calvin schreibt: Solange Christus außer uns bleibt und wir von ihm getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit gelitten und getan hat, für uns ohne Nutzen und gar ohne jeden Belang! Soll er uns also zuteil werden lassen, was er vom Vater empfangen hat, so muß er unser Eigentum werden und in uns Wohnung nehmen.8

Die Gemeinschaft mit Christus kann somit sowohl als Sein in Christus (nos in Christo) wie auch als Sein Christi in uns (Christus in nobis) beschrieben werden, wobei die erstere Formulierung eher das Geborgensein in Christus und somit die Rechtfertigung, die letztere hingegen eher das neue Leben nach dem Ebenbild Gottes und somit die Heiligung zur Sprache zu bringen scheint.9 Christusgemeinschaft bedeutet bei reformierten Theologen jedenfalls beides zugleich, und darin besteht gerade der besondere Wert dieser »organischen« Metapher. Denn wenn es blasphemisch wäre zu sagen, dass Christus in denjenigen wohne, in denen der Geist der Heiligung nicht anwesend ist,10 dann ist es schlicht unmöglich, dass die Gerechtfertigten – in denen ja Christus wohnt – nicht zugleich auch Geheiligte sind. Die Christusgemeinschaft umfasst sowohl die Rechtfertigung als auch die Heiligung, sodass die eine ohne die andere gar nicht bestehen könnte. Wie kommt nun aber eine solche Gemeinschaft mit Christus zustande und wie ist sie beschaffen? Einerseits wird diese Gemeinschaft durch

6 Vgl. Horton, Covenant and Salvation, 141: »The mystical union of believers with Christ (and therefore with his body) is the wider field within which the Reformers recognize the integral connection of justification and sanctification.« 7 Heidelberger Katechismus, 17 [Frage 20]. 8 Calvin, Institutio 3.1.1 (Weber 337). 9 Vgl. Horton, Covenant and Salvation, 139. 10 Vgl. Confessio Scotica, Kap. 13 (Hazlett 260,10–261,2): « For this we maist bauldlie affirme, that blasphemie it is to say that Christ abydis in the hartis of sic as in quhome thair is no Spirite of sanctificatioun.« Vgl. Heidelberger Katechismus, 41 [Frage 64].

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den Heiligen Geist vermittelt und trägt deshalb pneumatischen Charakter: Ihn [Jesus Christus] hat uns der himmlische Vater gesandt, in ihm hat er sich uns gänzlich offenbart, und der Heilige Geist schreibt ihn unseren Herzen ein und hält ihn in unserem Geiste fest.11 Der Heilige Geist ist das Band, durch das uns Christus wirksam mit sich verbindet.12

Andererseits kommt sie aus Glauben zustande, wobei der Glaube »das vornehmste Werk des Heiligen Geistes« ist.13 Mit Christus werden die Menschen also durch den Heiligen Geist im Glauben vereint. Durch die Definition der Christusgemeinschaft als pneumatisch wird klargestellt, dass die Vereinigung, um die es sich hier handelt, keine unmittelbare und »substanzielle« ist. War das Insistieren auf der geistlichen Natur der communio cum Christo seit Beginn der Abendmahlsdiskussionen in den 1520er Jahren für die reformierte Position charakteristisch,14 so gab der Osiandrische Streit erneut Anlass dazu, die ausschließlich pneumatische Natur der Gemeinschaft mit Christus zu unterstreichen. Osiander15 hatte eine Rechtfertigungslehre entworfen, nach der der Mensch aufgrund seiner Einung mit Christus erlöst werde, wobei er diese Einung im Sinne einer wesenhaften Einwohnung Christi im Menschen interpretierte. Darin erkannte Calvin16 die Gefahr einer unzulässigen Vermischung der Gottheit Christi mit der Menschheit der Gerechtfertigten. Calvin stimmt zwar Osiander zu, wenn dieser hervorhebt, die Glaubenden seien mit Christus eins, wirft ihm aber zugleich vor, die geistliche Natur dieser Einung verkannt zu haben: »Die Tatsache nämlich, daß es durch die Kraft des Heiligen Geistes zu 11

Bullinger, Dekaden 1,8 (Schriften III 181) (Hervorhebung, LB). Calvin, Institutio 3.1.1 (Weber 337). 13 Calvin, Institutio 3.1.4 (Weber 339); vgl. Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 78): »Der Glaube […] wird uns auf Gottes Gnade durch den Heiligen Geist, der in unsere Herzen gelegt wird, eingegossen«; CHP, Kap. 16 (Hildebrandt/Zimmermann 71 f.): »Dieser Glaube aber ist ganz und gar Gottes Gabe, die Gott allein um seiner Gnade willen und nach seinem Ermessen seinen Erwählten schenkt, wann, wenn und in welchem Maße er will, und zwar durch den Heiligen Geist mittelst der Predigt des Evangeliums und des gläubigen Gebetes.« 14 Vgl. Opitz, Bullinger, 218–220; 224–239. 15 Andreas Osiander (1498–1552), Nürnberger Reformator und später Professor in Königsberg. Zu Osiander und dem Osiandrischen Streit vgl. HDThG II 125–129; McGrath, Iustitia Dei, 213. 16 Dass Bullinger nie explizit Stellung gegen Osianders Rechtfertigungslehre nahm, sollte nicht als Indiz seiner Nähe zu dessen Position interpretiert werden. In der Schrift De gratia Dei iustificante lehnte Bullinger nämlich jede substanzhafte Deutung der Partizipation der Glaubenden an Christus deutlich ab, vgl. Bullinger, De gratia, 46v– 49r; Strohm, Frontstellungen, 566 f. 12

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solchem Zusammenwachsen mit Christus kommt, daß er dadurch unser Haupt wird und wir seine Glieder werden – die gilt ihm [Osiander] schier gar nichts, wenn sich nicht sein Wesen mit uns vermischt!«17 Ferner – entgegen der Tendenz, die Gnade als bloßen »Initialzünder« eines Heiligungsprozesses zu betrachten, in dem dann der Mensch der primäre Akteur wäre – macht der pneumatische Charakter der Christusgemeinschaft deutlich, dass das ganze Heil (Rechtfertigung und Heiligung) von Christus und der in ihm geoffenbarten Gnade abhängt.18 Nicht nur die Rechtfertigung, sondern auch die mit ihr einhergehende Daseinserneuerung sind als Gabe und als Frucht des Wirkens des Geistes in uns aufzufassen: Zwangsläufig stammen somit die guten Werke nicht vom Menschen, der lügenhaft und verdorben ist, sondern von Gott selbst, der Quelle alles Guten. Er verschafft den Menschen durch seinen Geist und durch den Glauben an den Herrn Jesus eine Neugeburt, damit sie als Wiedergeborene nicht mehr ihrer eigenen Werke, d. h. die des Fleisches, sondern die des Geistes, der Gnade, ja die Werke Gottes selbst vollbringen. Denn die Werke der Wiedergeborenen erwachsen aus dem guten Geist Gottes, der ihnen innewohnt und gleich dem Leben spendenden Saft, der die Pflanzen belebt und dazu bringt, Früchte zu tragen, die verschiedenen Tugenden aus dem Menschen hervorsprießen lässt.19

Um den engen Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten des Heils zum Ausdruck zu bringen, konnten sowohl Bullinger als auch Calvin sogar von einer »duplex gratia« sprechen.20 Rechtfertigung und Heiligung – die doch soteriologisch voneinander zu unterscheiden sind – erscheinen somit in pneumatologischer Perspektive als »innere Differenzierungen eines einzigen donum« und als verschiedene Aspekte ein und derselben »existenziellen Bewegung«.21 Aufgrund der Tatsache, dass der Mensch im Glauben mit Christus vereint wird, kann schließlich ein weiteres, in der kontroverstheolo17

Calvin, Institutio 3.11.5 (Weber 474); vgl. ders., In Evangelium Ioannis 17,21 (CO XLVII 387): »Unde etiam colligimus, nos unum cum Christo esse, non quia suam in nos substantiam transfundat, sed quia spiritus sui virtute nobiscum vitam suam et quidquid accepit a patre bonorum communicet.« 18 Vgl. Opitz, Bullinger, 296 f.: »Die pneumatische Christusgemeinschaft lässt den Menschen aktiv werden und zugleich in seiner Aktivität vollständig von Gott abhängig bleiben.« Siehe auch CHP, Kap. 16 (Hildebrandt/Zimmermann 73); Confessio Scotica, Kap. 13 (Hazlett 260,7–10): »The cause of gude warkis we confes to be not our free will, bot the Spirite of the Lord Jesus, quha, dwelling in our hartis be trew faith [Joh 15,4–8], bringis furthe sic gude warkis as God hes preparit for us to walke in [Eph 2,10].« 19 Bullinger, Dekaden 3,9 (Schriften IV 155) (Hervorhebung, LB). 20 Bullinger, De gratia, 50r; Calvin, Institutio 3.11.1 (Weber 471). Vgl. Opitz, Bullinger, 297; Venema, Accepted and Renewed, 176 f. 21 Opitz, Bullinger, 292.

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gischen Literatur häufig begegnendes Missverständnis bezüglich der Natur des rechtfertigenden Glaubens behoben werden. Den Protestanten wurde nämlich vorgeworfen, sie machten das Heil von einer bloß intellektuellen Annahme der evangelischen Botschaft abhängig. Da aber nach reformierter Lehre der Glaube, durch den der Sünder gerechtfertigt wird, kein anderer ist als der Glaube, in dem er mit Christus vereint wird; und da die Gemeinschaft mit Christus beides umfasst, Rechtfertigung und Heiligung; so darf dieser Glaube auch nicht als rein kognitiver Akt aufgefasst werden. Vielmehr ist er als »lebendiger und Leben schaffender Glaube« anzuerkennen, weil er »Christus erfaßt, der das Leben ist und das Leben schafft, und sich in lebendigen Werken als lebendig erweist«.22 Es ist deshalb nur konsequent, dass sowohl Bullinger23 als auch Calvin die in der römisch-katholischen Dogmatik geläufig gewordene Unterscheidung zwischen einem »ungestalteten« und einem durch die Liebe »gestalteten« und deshalb auch tätigen Glauben24 ablehnen. Denn bei der fides informis handle es sich in Wahrheit nicht um eine »unvollkommenere« Form von Glaube, sondern um eine bloße Fiktion. Echter Glaube – betont Calvin – ist immer »gestaltet«, weil man durch ihn mit Christus selbst vereint wird, der uns zugleich beide Gaben, die Rechtfertigung und die Heiligung, beschert: Der Glaube erfasst Christus, wie er uns vom Vater gegeben ist; er wird uns aber nicht allein zur Gerechtigkeit […] dargegeben, sondern auch zur Heiligung und als Quelle lebendigen Wassers: der Glaube kann ihn also ohne Zweifel niemals recht erkennen, ohne zugleich die Heiligung des Geistes mit zu ergreifen. […] Der Glaube ruht auf der Erkenntnis Christi. Christus aber kann man nur zusammen mit der Heiligung seines Geistes erkennen.25

22

CHP, Kap. 15 (Hildebrandt/Zimmermann 70); vgl. a. a. O., Kap. 16 (Hildebrandt/Zimmermann 72 f.): »Der Glaube […] erzeugt, um mit einem Worte alles zu sagen, gute Früchte und gute Werke aller Art«; Bullinger, Dekaden 1,6 (Schriften III 142): »Wenn ich sage, dass die Gläubigen allein durch den Glauben oder durch den Glauben ohne Werke gerechtgesprochen werden, so meine ich damit nicht, wie viele annehmen, dass der Glaube getrennt und entblößt von guten Werken sei. Denn wo immer Glaube ist, da äußert er sich auch durch gute Werke. Denn ein Gerechter kann nicht anders als gerecht handeln«; Bullinger, De gratia, 42v–43r: »Fides ergo christiana non est nuda opinio intellectus nostri neque phantasia quaedam volitans in mente nostra, sed vita quaedam coelestis, ipsius inquam Christi domini, apprehensa, inhaerens cordi.« Siehe auch Berkouwer, Faith and Sanctification, 39. 23 Bullinger, Dekaden 1,5 (Schriften III 122 f.); vgl. Opitz, Bullinger, 295. 24 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae IIaIIae q. 2 a. 4 co. (STO II 530): »Idem est habitus fidei formatae et informis. […] Distinctio autem fidei formatae et informis est secundum id quod pertinet ad voluntatem, idest secundum caritatem.« 25 Calvin, Institutio 3.2.8 (Weber 348).

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1.2 Die Freiheit zum Gehorsam Die Überzeugung, dass aufgrund der pneumatischen Christusgemeinschaft die Gerechtfertigten auch immer Geheiligte sind, sowie die Betonung, dass sich echter Glaube immer in guten Werken äußert, bedingen eine bestimmte Auffassung »evangelischer Freiheit«. Im Besonderen zeichnet sich die reformierte Tradition durch ihre Hervorhebung der positiven Funktion des Gesetzes als Grundlage jener Freiheit aus, zu der das Evangelium die Glaubenden beruft. So schreibt Bullinger dem Gesetz die Aufgabe zu »zu lehren, was die, welche im Glauben durch Christus gerechtgesprochen sind, befolgen und was sie meiden und wie sie Gott rechtmäßig verehren sollen«.26 Calvin spricht seinerseits von einem usus legis in renatis, die aufgrund ihrer bleibenden Sündhaftigkeit – »es belastet sie doch immer noch die Trägheit des Fleisches« – stets »zum Gehorsam angetrieben, in ihm gestärkt und von dem schlüpfrigen Weg der Sünde weggezogen« zu werden brauchen.27 Gerade in einem solchen durch das Gesetz bestimmten Lebenswandel bestehe die einzige Realisierung »wahrer christlicher Freiheit«, welche daher nichts anderes ist als die »ewige Knechtschaft, mit der wir Gott dienen«.28 Nun könnte der Eindruck entstehen, dass eine solche Position im Widerspruch zur paulinischen Rede einer »Freiheit vom Gesetz« (Röm 7,6) stehe. Sowohl Bullinger als auch Calvin interpretierten aber diese und andere Bibelstellen im Sinne einer Befreiung nicht vom Gesetz als solchem, sondern von einem bestimmten Verständnis desselben, welches sich im Lichte des Evangeliums Jesu Christi als Missverständnis und Missbrauch des Gesetzes entpuppt. Die genuine Bedeutung des Gesetzes erschließt sich, wenn man es im Zusammenhang mit dem ewigen Gnadenbund betrachtet, den Gott in Folge des Sündenfalls mit den Menschen geschlossen hat (Gen 3,15).29 Als einzige Quelle des Heils bestimmte Gott von Anfang an Jesus Christus, sodass alle »Heiligen« – auch vor der Menschwerdung des Sohnes – in ihm gerettet worden sind.30 Zur Verheißung des Heils in 26

Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 79). Calvin, Institutio 2.7.12 (Weber 213). 28 Bullinger, Dekaden 3,9 (Schriften IV 140); vgl. Calvin, In Petri priorem 2,16 (CO LV 246): »Unde colligere promptum est, hunc esse finem nostrae libertatis, ut promptiores et magis expediti simus ad obsequium Dei. Neque enim aliud est quam manumissio a peccato: atqui peccato dominium tollitur, ut se in subiectionem iustitiae domines addicant. In summa, est libera servitus, et serva libertas.« 29 Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 84 f.); Calvin, In Genesin 3,15 (CO XXIII 71). 30 Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 118): »[…] die Gläubigen der alten Zeit [sind] mit uns ein Volk in einer einzigen Kirche und Gemeinschaft […] und [sind] in keinem anderen als in Christus allein, dem Sohn Gottes selig geworden«; Calvin, 27

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Jesus Christus steht das Gesetz an sich nicht in Konkurrenz. Vielmehr führt das – recht verstandene – Gesetz zu Christus als dem einzigen, der »aus eigener Kraft dem Gesetz vollkommen« zu genügen vermochte und in dem sich deshalb verwirklichte, was das Gesetz denen verhieß, die es hielten: Gerechtigkeit, Leben und Heil.31 Das Gesetz wurde also nicht erlassen, damit die Menschen ihre Rettung als von dessen Befolgung abhängig betrachteten. Vielmehr sollte das Gesetz einerseits auf Christus als einzige Quelle des Heils hinweisen, andererseits die Menschen stets daran erinnern, wie ein Leben im Rahmen des Gnadenbundes aussehen sollte. Das Gesetz beschreibt daher zwar Pflichten, die an sich aber nicht als Bedingungen für die Erlangung des Heils zu verstehen sind, sondern als Maßstab für das Leben derer, die Gott aus Gnade in seinen Bund aufgenommen hat.32 Das grundlegende Missverständnis bestand nun genau darin, dass die Menschen die ursprüngliche Intention des Gesetzes außer Acht ließen und begannen, »den Gesetzesvorschriften ohne Bewusstsein und ohne Geist« anzuhängen und darauf zu vertrauen, »durch sie gerettet zu werden«.33 So wurde etwa die Einhaltung der Zeremonialgesetze als solche für heilsbringend gehalten, wogegen solche Vorschriften ursprünglich den Menschen als »Stützen« gegeben worden waren, »um auf diese Weise einerseits den Bund zu bestätigen und andererseits in diesen Handlungen in bildhaft verhüllter Form das Mysterium Christi anzukündigen«.34 Aus dem besagten Missverständnis und aus der Tatsache, dass die Menschen aufgrund ihrer Sündhaftigkeit nicht imstande sind, das Gesetz vollkommen zu erfüllen, ergab sich zweierlei: Das Gesetz wurde zum »Fluch« für die Menschen und diese begannen folglich, das Gesetz zu »hassen«.35 Institutio 2.10.4 (Weber 261): »Der alte Bund [hat] auf Gottes freiem Erbarmen beruht […] und [ist] durch Christi Mittlertum bekräftigt worden. […] Der ganze Inhalt dieser väterlichen Huld Gottes ist in Christus beschlossen! Wer will sich aber erkühnen, die Kenntnis Christi den Juden abzusprechen, mit denen doch der Bund des Evangeliums geschlossen worden ist, dessen einziger Grund Christus ist?« 31 Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 86); vgl. Calvin, Institutio 2.17.1 f. (Weber 330 f.). 32 Calvin, In Hoseam, praef. (CO XLII 198): »Haec autem summa legis est, quod Deus populum, quem sibi adoptarit, vult regere suo imperio.« Vgl. Bavinck, Reformed Dogmatics, Bd. 3, 204: »True, the covenant of God imposed obligations also on those with whom it was made – obligations, not as conditions for entering into the covenant (for the covenant was made and based only on God’s compassion), but as the way the people who had by grace been incorporated into the covenant henceforth had to conduct themselves.« 33 Bullinger, Der Bund (Schriften I 83); Calvin, Institutio 3.19.3 (Weber 554) bezeichnet die Meinung, »ein solcher Gehorsam (gegenüber dem Gesetz und seinen Zeremonien) habe die Kraft, die Gnade Gottes zu verdienen«, als »verderblichen Wahn«. Vgl. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, 223. 34 Bullinger, Der Bund (Schriften I 81); vgl. Calvin, Institutio 2.7.16 (Weber 215).

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Die Rede von einer »Aufhebung des Gesetzes« durch Christus sollte daher in erster Linie auf diesen Fluch und Hass bezogen werden. Denn in Christus wurde endgültig offenbart, dass die vollkommene Gerechtigkeit den Menschen aus reiner Gnade zuteilwird, was sowohl die Verfluchung der Menschen durch das Gesetz als auch ihren durch diesen Fluch bedingten Hass auf das Gesetz überwindet.36 Von beidem befreit das Evangelium. Diese negative Befreiung vom Fluch des Gesetzes und vom Hass darauf ist aber unlöslich verbunden mit einer positiven Befreiung zu einem erneuten Gehorsam gegen Gottes Gesetz.37 Denn nun kann im Lichte des Evangeliums die ursprüngliche Intention des Gesetzes als Urkunde des Gnadenbundes wieder erkannt werden: Der Mensch wird zwar zu einem gottgefälligen Lebenswandel verpflichtet, die Erfüllung dieser Pflicht stellt aber nicht die Bedingung für die Erlangung des Heils dar, welches immer nur Gabe Gottes sein kann. Der erneute Gehorsam, zu dem der Mensch durch das Evangelium befreit wird, geschieht deshalb nicht mehr aus Furcht,38 sondern aus Dankbarkeit.39 Somit wird das reformierte Verständnis der evangelischen Freiheit als libera servitus, das auf den ersten Blick paradox anmuten mag, im Zusammenhang mit der ausgeprägten Bundestheologie eines Bullinger oder Calvin durchaus verständlich. In der Überzeugung, dass beide Testamente von ein und demselben Bund Gottes zeugen und sich nur »in der Art und Weise, wie diese Dinge dargeboten werden«,40 unterscheiden, trachten die beiden Reformatoren danach, die ursprüngliche 35

Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 89 f.); Calvin, Institutio 2.7.10 (Weber 211); 2.7.15 (Weber 214 f.). 36 Vgl. Opitz, Bullinger, 405 f. 37 Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 87): »Der Glaube […] wird uns aus Gottes Gnade durch den Heiligen Geist, der in unsere Herzen gelegt wird, eingegossen. Dieser Geist bleibt in unseren Herzen und entflammt sie mit Liebe und Eifer für das göttliche Gesetz, damit wir uns rechtschaffen bemühen, ihm durch unsere Werke Ausdruck zu geben und es zu halten«; Calvin, Institutio 3.19.5 (Weber 555): »Wenn sie [die Seele] von dieser strengen Zucht, ja, vielmehr von der ganzen Schärfe des Gesetzes befreit ist und wenn sie dann hört, wie sie von Gott in väterlicher Milde gerufen wird – dann wird sie seinem Rufe fröhlich und in großer Freudigkeit antworten und seiner Führung folgen!« 38 Calvin, Institutio 2.7.10 (Weber 211 f.): »Alle, die noch nicht wiedergeboren sind, […] sind so gesinnt, daß sie nicht etwa in freiwilligem Gehorsam, sondern gegen ihren Willen und Widerstand einzig und allein durch die Übergewalt der Angst dazu kommen, sich um das Gesetz Mühe zu geben.« 39 Vgl. Heidelberger Katechismus, 57 [Frage 86]: »Wir sollen gute Werke tun, weil Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, damit wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltat erweisen und er durch uns gepriesen wird« (Hervorhebung, LB). Vgl. CHP, Kap. 16 (Hildebrandt/Zimmermann 73 f.). 40 Bullinger, Dekaden 3,8 (Schriften IV 128); vgl. Calvin, Institutio 2.10.2 (Weber

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und im Lichte des Evangeliums erneut erkennbar gewordene Intention des Gesetzes darzulegen. Damit weisen sie abermals auf den engen Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung als den zwei Aspekten des einen Gnadenhandelns Gottes hin. 1.3 Die »habituelle« Gerechtigkeit der Wiedergeborenen Die reformatorische Theologie lehnte bekanntlich die seit Thomas von Aquin üblich gewordene Auffassung der Rechtfertigung ab, nach der diese primär in einer durch Gott gewirkten Eingießung eines habitus iustitiae in die Seele bestünde.41 Gegen diese später auch durch das Konzil von Trient vertretene Position42 wie auch gegen die sich in eine ähnliche Richtung bewegende Rechtfertigungslehre des Andreas Osiander43 hielten die Reformatoren und ihre Nachfolger an einer ausschließlich imputativen Interpretation des Rechtfertigungsgeschehens fest. Dies hinderte dennoch zahlreiche reformierte Theologen nicht daran, sich gerade des Habitus-Begriffs zu bedienen, um in der Sprache der damals nach wie vor einflussreichen aristotelischen Tradition zu erklären, worin jene Erneuerung menschlichen Daseins bestehe, die mit der forensischen Rechtfertigung einhergeht. So war Martin Bucer der erste Reformierte, der in Anlehnung an das »Regensburger Buch«44 von einer dem Menschen »innewohnenden 260): »Der Bund mit den Vätern ist im Wesen und in der Sache von dem unsrigen nicht zu unterscheiden, sondern ein und dasselbe. Verschieden ist dagegen die äußere Darbietung.« 41 Thomas von Aquin, Summa theologiae IaIIae q. 100 a. 12 co. (STO II 491): »Si loquamur de iustificatione proprie dicta, sic considerandum est quod iustitia potest accipi prout est in habitu, vel prout est in actu; et secundum hoc iustificatio dupliciter dicitur: uno quidem modo, secundum quod homo fit iustus adipiscens habitum iustitiae; alio vero modo, secundum quod opera iustitiae operatur. [...] Iustitia autem, sicut et aliae virtutes, potest accipi et acquisita, et infusa. [...] Acquisita quidem causatur ex operibus; sed infusa causatur ab ipso Deo per eius gratiam.« Vgl. McGrath, Iustitia Dei, 46: »In justification, according to Thomas, man is translated from a state of corrupt nature to one of habitual grace; from a state of sin to a state of justice, with the remission of sin. [...] Iustitia acquisita, the virtue of acquired justice, may be considered either as particular justice, which orders man’s actions relating to his fellow men, or as legal justice, as defined by Aristotle.« 42 Vgl. Konzil von Trient: Dekret über die Rechtfertigung (1547), Cap. 16 (DH, Nr. 1547): »Quae enim iustitia nostra dicitur, quia per eam nobis inhaerentem iustificamur, illa eadem Dei est, quia a Deo nobis infunditur per Christi meritum«; siehe auch a. a. O., Can. 11 (DH, Nr. 1561). 43 Siehe oben, Kap. II.1.1. 44 Als »Regensburger Buch« wird die Sammlung von Glaubensartikeln bezeichnet, die aus dem Regensburger Religionsgespräch (1541) hervorging, an dem unter anderen auch Martin Bucer und Johannes Calvin teilnahmen. Der Text des Regensburger Buches stellte eine im Laufe des Religionsgespräches überarbeitete Fassung des sog. »Wormser Buches« dar, welches Bucer in Zusammenarbeit mit dem Kölner römisch-

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Gerechtigkeit« (iustitia inhaerens) sprach.45 Diese innewohnende Gerechtigkeit stellt bei ihm zwar nicht den Grund der Rechtfertigung dar – denn dieser besteht allein in der Gerechtigkeit Christi, die uns immer extern bleibt –, aber sehr wohl »das, wodurch unser Heil und unsere Gemeinschaft mit Gott vollendet werden«.46 Die iustitia inhaerens, die auf die geistgewirkte Erneuerung menschlichen Daseins zurückgeht, besteht laut Bucer aus »Liebe und den übrigen Tugenden«, drücke sich aber zugleich in ihnen aus.47 Die innewohnende Gerechtigkeit wird somit einerseits als Summe der christlichen Tugenden, andererseits als Bedingung für deren Übung beschrieben, sodass sie gleichzeitig Resultat und Voraussetzung gottgefälligen Handelns ist. Genau darin zeigt sich der habituelle Charakter dieser Form von Gerechtigkeit.48 Bucer spezifizierte jedoch nicht, ob ein solcher Habitus von Gott der Seele eingegossen wird oder aus wiederholten, durch die Daseinserneuerung (»Wiedergeburt«) ermöglichten guten Taten entstehe. In der Folgezeit wurden in der reformierten Theologie beide Positionen vertreten, wobei sich die Tendenz beobachten lässt, die innewohnende Gerechtigkeit – die immer von der extra nos bleibenden Gerechtigkeit Christi als einzigem Grund der Rechtfertigung deutlich unterschieden wurde – eher als eine eingegossene Beschaffenheit (qualitas infusa) aufzufassen. So definiert etwa Theodor Beza die Heiligung als ein »uns eingeprägter und innewohnender Habitus, welcher uns in Christus aus reiner Gnade des himmlischen Vaters und durch die Wirkung des Heiligen Geistes verliehen wird«.49 Ähnlich betrachten auch Girolamo Zanchi und Lambert Daneau die dem Menschen aufgrund seiner geistgewirkten Daseinserneuerung innewohnende Gerechtigkeit als eine eingegossene Beschaffenheit,50 wobei Daneau diekatholischen Theologen Johannes Gropper verfasst hatte. Vgl. Ortmann, Reformation und Einheit, 191–279; Lexutt, Rechtfertigung im Gespräch, 236–270. 45 Bucer, De vera, 179v; vgl. Baschera, Tugend und Rechtfertigung, 187–193. 46 Bucer, De vera, 179v: »[…] consentienter agnoscamus et doceamus id, quo accepto apud Deum ad vitam aeternam iustificati ac iusti sumus, solam esse iustitiam Christi. Illud autem, quo […] ad perficiendam scilicet salutem nostram et vitam Dei communicatam, esse iustitiam inchoatam, id est vitam Dei in nobis coeptam, novum hominem, novam creaturam.« 47 A. a. O., 189v: »Ad secundam autem iustificationem, id est nostri innovationem, ita pertinet dilectio et reliquae virtutes ut facultates, quibus ipsa nostri innovatio et inchoata in nobis iustitia maxime consistit et explicatur.« (Hervorhebung, LB). 48 Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea 2,3, 1105a 17–1105b 18; Joachim, The Nichomachean Ethics, 79 f. 49 Beza, Quaestiones, 70: »Hanc posteriorem sanctificationem […] esse habitum vere nobis insitum et inhaerentem, ex Patris caelestis mera gratia et Sancti Spiritus virtute nobis in Christo collatum.« 50 Zanchi, De religione 19,II, 334,20–25: »Credimus porro, qui iam propter Christum, cui per Spiritum sanctum insitus est, iustus censetur, […] eundem statim etiam dono iustitiae inhaerentis affici, ut […] etiam in seipso veram habeat iustitiam, qua fiat

1. Die Realität der Heiligung

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se nicht als Habitus, sondern als δια θεσις bezeichnet,51 wohl um deren konstitutive Unvollkommenheit zu betonen.52 Zwar finden sich sowohl bei Beza als auch bei Zanchi Hinweise darauf, dass sie eine Beschreibung der innewohnenden Gerechtigkeit als erworbener Beschaffenheit nicht vollkommen ausschlossen.53 Es war aber vor allem Peter Martyr Vermigli, der diese Ansicht konsequent vertrat, indem er die iustitia inhaerens als einen Habitus betrachtete, der »aus der Wiederholung guter Taten« entsteht, wobei die Vollbringung solcher Taten durch die Erquickung der Seele durch Gottes Geist ermöglicht wird.54 Die Interpretation der innewohnenden Gerechtigkeit als erworbenen Habitus blieb allerdings minoritär und trat allmählich hinter das Eingießungsmodell zurück. Dies wurde vermutlich unter anderem durch die Notwendigkeit bedingt, gegenüber im reformierten Lager aufkommenden semipelagianischen Tendenzen – beispielsweise bei Jakob Arminius (1560–1609) und seinen Schülern55 – die absolute Priorität und alleinige Wirksamkeit der Gnade sowohl bei der Rechtfertigung als auch bei der mit ihr verbundenen Daseinserneuerung zu betonen.56 Es ist somit kein Zufall, dass die Dordrechter Canones das Christo reipsa conformis«; ders., Epistola, 96b: »Altera vero iustitia ideo iustificari dicimur, quia per illam in animos nostros realiter a Spiritu s[ancto] infusam renovamur« (Hervorhebung, LB); Daneau, Isagoges pars quarta, 354: »Regenerationem esse et creationem et novae tantum qualitatis bonae sanctaeque concessionem et donationem a Deo vel spiritus ipsius supranaturaliter nobis infusam seu datam. Haec igitur regeneratio nostra est qualitas seu iustitia in nobis inhaerens.« (Hervorhebung, LB). 51 Daneau, Ethices 1,18, 91v–92r: »Haec est vera animorum nostrorum opera […] vere bona parturientium et cogitantium δια θεσις et forma, nimirum interna illa nostri renovatio sive novi hominis indutio et receptio, quae iustitia et sanctitate vel potius sanctimonia constat.« 52 Nach Aristoteles, Categoriae 8, 8b 27 f., unterscheidet sich der Habitus von der Verfassung (δια θεσις) dadurch, dass er »beständiger und längerfristig« ist. Aufgrund seiner bleibenden Sündhaftigkeit eignet aber – Daneau zufolge – den Tugenden des wiedergeborenen Menschen eine solche Beständigkeit nicht. Der Begriff der δια θεσις sei deshalb geeigneter, um sein zwar erneuertes, aber nach wie vor unvollkommenes Dasein zu beschreiben, vgl. Daneau, Ethices 1,18, 96r: »Neque enim eas virtutes capere possumus, nos, qui hic vivimus, quas philosophi appellant εÏ ξεις, quae omne vitium fideliter depellunt et fugant a nobis, sed tantum eas, quae cum vitio luctantur, habemus.« 53 Vgl. Baschera, Tugend und Rechtfertigung, 205; 221. 54 Vgl. Vermigli, In Corinthios, 29v: »Derivatur ex consuetudine bonorum operum quaedam iustitia in animis nostris inhaerens, qua humano more quoque iusti possumus appellari. Neque Deo tum quae facimus tum iustitia sic acquisita improbatur, quoniam ab animo iam regenrato proficiscuntur.« (Hervorhebungen, LB). 55 Die soteriologischen Ansichten einer Gruppe von Schülern des Arminius, den sog. »Remonstranten«, wurden 1619 durch die panreformierte Synode von Dordrecht verurteilt, vgl. Selderhuis, Introduction; Goudriaan/Lieburg, Revisiting. Zur Theologie des Arminius vgl. Muller, God. 56 Vgl. Horton, Covenant and Salvation, 197: »Against synergistic theologies (such as Arminianism), it [Reformed soteriology] insists upon the priority of regeneration as a

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III. Die Wirklichkeit des Heils

erneuernde Werk des Heiligen Geistes in der Menschenseele als eine »Eingießung neuer Eigenschaften« beschreiben.57 Dieser positiven Rezeption aristotelisch geprägter Begrifflichkeit in der reformierten Soteriologie wurde später häufig skeptisch begegnet.58 Abgesehen davon, ob sie als letztlich inkompatibel mit anderen Aspekten reformierter Theologie zu betrachten sei,59 zeugt sie vom großen Interesse reformierter Theologen an der Betonung jenes engen Zusammenhangs von Rechtfertigung und Heiligung, der in der pneumatischen Christusgemeinschaft gründet und sich im Handeln der zum Gehorsam Befreiten ausdrückt. 2. Die zweifache »Inchoativität« der Heiligung War der reformierten Theologie mit ihrer Betonung des unlöslichen Zusammenhangs von Rechtfertigung und Heiligung von Anfang an jegliche Form von Antinomismus fremd, so ist sie immer ebenso sehr darauf bedacht gewesen, sich deutlich von perfektionistischen Tendenzen abzugrenzen. Der Gerechtfertigte wird zwar dazu befähigt und berufen, im erneuten Gehorsam gegen Gott zu leben, soll sich aber bewusst sein, dass »auch die frömmsten Menschen in diesem Leben über einen geringen Anfang dieses Gehorsams nicht hinaus[kommen]«.60 Auf die konstitutive »Anfänglichkeit« des neuen Lebens wird in der reformierten theologischen Literatur stets hingewiesen, indem all seine Aspekte – Heiligung, Gehorsam, innewohnende Gerechtigkeit – durch das Adjektiv »inchoatus« (angefangen, unvollendet, unvollständig) qualifiziert werden oder in Verbindung mit dem Verb »inchoare« begegnen.61 Worin besteht nun aber die »Inchoativität« der definitive change in disposition. In doing so, the Reformed theologies carefully refined the definition of regeneration to an infused habit precisely because a habit is not yet an act […]. Therefore, they could assert the necessity of a divine work of regeneration before human decision (against Arminianism).« 57 Dordrechter Canones III/IV,11 (Selderhuis 109,5–7): »Spiritus regenerantis efficacia ad intima hominis penetrat, […] voluntati novas qualitates infundit.« (Hervorhebung, LB). 58 Vgl. KD I/2, 440; Horton, Covenant and Salvation, 191–204. 59 Dies ist die These von Horton (a. a. O., 197 f.), der sich dabei an McCormack, What’s at Stake, anlehnt. 60 Heidelberger Katechismus, 72 [Frage 114]. Vgl. Vlastuin, Be Renewed, 125–128. 61 Vgl. Bullinger, De gratia, 59v: »Regeneratio incohatur [sic!] sane, sed ante mortem non plene perficitur«; Calvin, Insitutio 3.17.5 (OS IV 257,38–258,1): »[…] quia pii mortali carne circundati, adhuc sunt peccatores, et opera eorum bona, inchoata duntaxat, et carnis vitium redolentia […]«; Bucer, De vera, 189v: »Ad secundam autem iustificationem, id est nostri innovationem, ita pertinet dilectio et reliquae virtutes ut facultates, quibus ipsa nostri innovatio et inchoata in nobis iustitia maxime consistit et explicatur«; Vermigli, In Corinthios, 357v: »[Bona opera] nunquam […] ad perfectam

2. Die zweifache »Inchoativität« der Heiligung

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Heiligung genau? Und welche Folgen hat deren Betonung für das Verständnis christlichen Lebens? Dass das neue Leben der Glaubenden inchoativ bzw. anfänglich bleibt, bedeutet erstens, dass der Heiligungsprozess in diesem Leben nie zur Vollendung kommen kann und somit das Ideal eines in jeder Hinsicht gottgefälligen Lebenswandels nicht zu realisieren ist: »Denn da die Sünde in uns wohnt und das Fleisch in den Wiedergeborenen bis ans Ende unseres Lebens dem Geiste widerstreitet, vermögen sie nicht völlig zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben.«62 Deshalb eignen sich Kampfmetaphern besonders gut, um das christliche Leben zu beschreiben. Da das neue Leben in den Glaubenden zwar begonnen hat, die Sünde aber nach wie vor in ihnen »wohnt«,63 gleicht das christliche Leben, so etwa Calvin, einem »Kriegsdienst«, der »erst mit dem Tod sein Ende findet«.64 Zwingli schlägt seinerseits – Paulus paraphrasierend – ähnliche Töne an: Zwischen diesen beiden [sc. dem inneren und dem alten Menschen] wirst du immer Krieg finden. »Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, den Geist aber wider das Fleisch« [Gal 5,17]. Daher kommt der dauernde Kampf. Zu Zeiten siegt das Fleisch; wenn es auch die ganze Streitmacht des Geistes nicht in die Flucht schlagen kann, so erreicht es doch dies, daß wir nicht vollbringen, was wir wollen. So erklärt es sich, daß das Christenleben […] ein immerwährender Kampf ist.65

Diese Betonung des Nie-Zur-Vollendung-Kommens der Heiligung sowie des »immer-währenden« inneren Kampfes im Leben der Glaubenden reicht jedoch als solche nicht hin, um die Gefahr des Perfektionismus abzuwehren. Am Beispiel des Täufers Balthasar Hubmaier (1485–1528) zeigt sich nämlich, dass die Bejahung einer faktischen Inchoativität der Heiligung im soeben angesprochenen Sinn durchaus kompatibel ist mit einer allgemein perfektionistischen Einstellung. Einerseits gab Hubmaier ja zu, dass der Glaubende »nit also gentzlich volbringen vnd halten mag die gebott Gottes, von wegen der angeobedientiam legis perveniunt, sed inchoatam tantummodo praestant«; Beza, Quaestiones, 71: »Haec inhaerens nobis sanctificatio tantum est inchoata in nobis«; Zanchi, Epistola, 96a: »[Iustitiam inhaerentem] imperfectam et in nobis inchoatam, in altero duntaxat seculo perficiendam.« (Hervorhebungen, LB). 62 CHP, Kap. 9 (Hildebrandt/Zimmermann 41 f.). 63 Calvin, Institutio 3.3.10 f. (Weber 383 f.). 64 A. a. O. 3.3.9 (Weber 383); vgl. ebd. 3.20.46 (Weber 608): »Bei dem Gehorsam gegen Gott geht es nicht ohne fortwährenden Kriegsdienst, nicht ohne harte und schwere Kämpfe ab.« 65 Zwingli, Kommentar 10 (Schriften III 164); die Passage ist Teil einer langen Paraphrase von Röm 7,14–25. Vgl. Calvin, Institutio 3.11.11 (Weber 481): »Diese Zwiefältigkeit ist allen Heiligen wohlbekannt, ja gewohnt: Sie seufzen unter der Last ihrer Ungerechtigkeiten, und doch tauchen sie in sieghafter Zuversicht unterdessen über alle Ängste empor!«

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III. Die Wirklichkeit des Heils

bornen boßhait seines fleischs«.66 Auch Zwinglis Vorwurf, die Täufer lehrten, dass »der touff sye ein sölch zeichen, das es niemas nemen sölle, er wüsse denn, das er one sünd leben mög«,67 wies er emphatisch zurück: Du thuost vns gewalt vnd vnrecht. Wann so wir sagtend, wir weren on sünd, verfiertennd wir vns selbs, vnd wer die warheit nit in vns, 1 Jo. 1. Ach got, was sol doch solchs verunglimpffen. Sag da nit vns, sunder den schuldigen, ab welchen ich nit minder dann du ein scheuhen trage.68

Andererseits fasste er die Unmöglichkeit für die Glaubenden, ein sündenfreies Leben zu führen, nicht als prinzipiell, sondern bloß als faktisch gegeben auf. Hubmaier versteht die der Seele in Christus widerfahrende Wiedergeburt als eine Wiederherstellung des prälapsarischen Zustands.69 Die wiedergeborene Seele sei folglich an sich nicht sündhaft und damit auch wirklich frei, nicht mehr zu sündigen. Dass der wiedergeborene Mensch in diesem Leben doch immer wieder sündigt, rührt hingegen vom negativen Einfluss des Leibes her – welcher Hubmaier als Synonym für den paulinischen Begriff »Fleisch« betrachtet. Der Leib sei durch den Sündenfall unwiderruflich verderbt worden70 und hindere die Seele auch nach deren Wiedergeburt daran, die Gebote Gottes einzuhalten.71 Die Tatsache, dass die Wiedergeborenen weiterhin sündigen, stellt folglich für Hubmaier aufgrund seiner dualistischen Anthropologie einen bloß kontingenten Sachverhalt dar: Angesichts der Wiederherstellung des prälapsarischen Zustands der Seele wäre es für sie im Prinzip möglich, ein sündenfreies Leben zu führen und damit zur Vollkommenheit zu gelangen; nur wegen des negativen Einflusses des Leibes erweist sich diese Möglichkeit leider als unrealisierbar. Mit dieser Lokalisierung von Sünde (im Leib) und Gnade (in der Seele) geht bei Hubmaier – hier als Repräsentant einer perfektionistischen 66

Hubmaier, Von der Freiheit des Willens, 395. Zwingli, Vom Touff (Z IV 229,10 f.). 68 Hubmaier, Gespräch, 175. Vgl. a. a. O., 187. 69 Hubmaier, Von der Freiheit des Willens, 390: »Die weil sy aber durch das wort gottes auff erweckt von de, himelischen vater […], durch seinen geliebten Son gsund gemacht, auch von dem heiligen geist erleüchtet, […] dar durch die Seel nun widerumb waiß, was guot vnd böß ist. Yetz hat sy ir verlorne freyhait wider erlangt, mag nun frey vnd williglich dem Geyst gehorsamen vnd das guot wöllen vnnd erwelen, als wol als da sy noch im Paradeiß was. Auch das böß nit wöllen vnnd fliehenn.« (Hervorhebung, LB). 70 A. a. O., 385: »Also hat auch das fleisch durch den fal Adams sein guothait vnnd freyhait verloren vnwiderbringlich, vnd ist gantz vnnd gar biß in den tod zenichtig vnd hailoß worden.« 71 A. a. O., 395. 67

2. Die zweifache »Inchoativität« der Heiligung

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Haltung betrachtet – implizit die Tendenz einher, Sünde und Gnade, altes und neues Leben zu quantifizieren. Der Glaubende ist in dieser Perspektive teils sündhaft und teils gerecht, wobei der Anteil an Sündhaftigkeit oder aber an Gerechtigkeit in ihm unterschiedlich groß sein kann. Dies impliziert einerseits, dass verschiedene Menschen – obwohl ein endgültiger Sieg über die Sünde aus den oben genannten Gründen nicht möglich sei – unterschiedliche Grade der Vollkommenheit erreichen können. Andererseits hängt mit der besagten Tendenz zur Quantifizierung eine bestimmte Sicht auf das Ereignis der Wiedergeburt wie auch ein bestimmtes Verständnis von Buße zusammen. Die Wiedergeburt wird als ein punktuelles Ereignis aufgefasst, das das Leben eines Menschen in eine Zeit davor und eine Zeit danach einteilt,72 wobei man nach der Wiedergeburt wieder frei wird, nicht zu sündigen. Das Begehen einer Sünde – man beachte, dass »Sünde« in einer solchen Perspektive synonym mit »Tatsünde« ist – muss folglich als eine gewalttätige Unterbrechung des neuen Lebens erscheinen. Damit eine solche Unterbrechung nicht unwiederbringlich werde oder aber in eine Verunreinigung der ganzen Gemeinde resultiere, sei es nötig, dass man »büße« und unter Umständen gar von der Gemeinde ausgeschlossen werde (Bann).73 Genauso wie die Wiedergeburt wird also auch die Buße als ein punktuelles, allerdings wiederholbares, Ereignis verstanden, das – in erstaunlicher Nähe zur römisch-katholischen Bußtheologie74 – »reinigend« wirke.75 Nicht zuletzt aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit den Täufern sahen die reformierten Theologen ein, dass die Betonung der konstitutiven Unvollkommenheit der Wiedergeborenen als solche die Gefahr einer perfektionistischen Abdrift nicht abzuwehren vermochte. Sie maßen deshalb der »Inchoativität« der Heiligung auch eine zweite, radikalere Bedeutung bei. Die Heiligung des Menschen ist in diesem zweiten Sinn insofern inchoativ, als der Wiedergeborene als ganzer Mensch (Leib und Seele)76 Sünder ist und bleibt.77 Nicht nur ein 72

Vgl. a. a. O., 385; 390. Hubmaier, Von der brüderlichen Strafe, 339: »[…] ist ye nott, die weil och die menschen von natur her Khinder des zorns seind, böß vnd vntüchtig, jnen mit hailsamer ertzney zu begegnenn, auch das faul vnnd stinckend fleisch mitsabt den vergifften vnd vnrainen glidern etwan gar ab zuoschneiden, darmit nit der gantz leib dar durch vngestaltet, geschent vnd verderbt werde.« 74 Vgl. Konzil von Trient: Dekret über die Rechtfertigung (1547), Cap. 14 (DH, Nr. 1542 f.); Konzil von Trient: Lehre über das Bußsakrament (1551), Cap. 1 (DH, Nr. 1668–1670). 75 Hubmaier, Von dem christlichen Bann, 377. 76 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 362 f.): »Wenn also irgendwo in der Heiligen Schrift das Wort ›Fleisch‹ für den Begriff ›Mensch‹ benutzt wird, dann ist darunter nicht nur der gröbere Teil des Leibes zu verstehen, sondern der Leib in seiner Verbindung mit der Seele und ihren Fähigkeiten.« 73

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III. Die Wirklichkeit des Heils

»Rest« von Sünde bleibt im Menschen, sondern der erneuerte Mensch ist – entgegen jeglicher Form von Quantifizierung – Gerechter und Sünder zugleich (simul iustus et peccator), sodass jeder, der zur Heiligung berufen und zu ihr befähigt ist, in diesem Prozess auch immer ein »Anfänger« bleibt. Dies verdeutlicht Calvin etwa anhand des Unservater: »Wenn die Heiligen auf Geheiß des Herrn alle Tage die Bitte wiederholen: Vergib uns unsere Schulden, dann bekennen sie sich doch damit natürlich als Sünder«;78 während Bullinger in der Geschichte des Apostels Petrus ein Beispiel dafür erkennt, dass der größte Heilige zugleich auch größter Sünder ist: Hatte er [Petrus] nicht die gütige Gnade Gottes verspürt? Als er nämlich jenes wohl bekannte Bekenntnis abgelegt hatte, bekam er vom Herrn zu hören: »Selig bist du, Simon, Sohn des Jona […]« [Mt 16,17]. […] Aber derselbe Petrus, der getauft worden ist und die Gnade des Herrn erfahren hat, sündigt, und zwar nicht leicht, sondern sehr schwer, indem er den Herrn selbst verleugnet und ihm abschwört.79 Ist er aber dieser Sünde wegen gänzlich aus der Gnade herausgefallen? […] Keineswegs.80

Gerade die Erkenntnis des »Zugleich« von Gerechtigkeit und Sündhaftigkeit im Glaubenden bewog Lambert Daneau später dazu, in seiner christlichen Ethik einen entsprechenden Tugendbegriff zu entwerfen.81 Wie bereits erwähnt,82 war Daneau zwar überzeugt, dass bei der Wiedergeburt der Seele eine neue δια θεσις (Verfassung) eingeflößt würde, die ihn dazu befähigte, gottgefällig zu handeln und dadurch bestimmte Tugenden zu entwickeln. Wie soll nun aber die »christliche Tugend« definiert werden? Zu deren Bezeichnung zieht Daneau bewusst den Begriff der εÆ γκρα τεια (Enthaltsamkeit) demjenigen der εÏ ξις (Habitus) vor. Anders als die Mäßigkeit (eine εÏ ξις) stellte die Enthaltsamkeit für Aristoteles keine eigentliche Tugend dar, weil der Enthaltsame im Gegensatz zum wahrhaft Mäßigen (σω ϕρων) gegen die »bösen Begierden« zwar kämpft, diese aber nicht endgültig zu besiegen vermag.83 Was Aristoteles und die anderen antiken Philosophen bei der Entwicklung ihres Tugendbegriffs indessen nicht berücksichtigten – so Daneau –, war die Sündhaftigkeit des Menschen, die er in diesem Leben 77

Vlastuin, Be Renewed, 176: »There appear to be two totalities in the one believing heart. Christians are entirely carnal, but they are at the same time also entirely Spiritual.« Vgl. auch a. a. O., 189. 78 Calvin, Institutio 4.1.23 (Weber 701) (Hervorhebungen, LB). 79 Vgl. Mt 26,69–75. 80 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 332 f.). 81 Vgl. dazu Saarinen, Weakness of Will, 188–200. 82 Siehe oben, S. 87, Anm. 51 f. 83 Aristoteles, Ethica Nicomachea 7,9, 1151b 34–1152a 3.

2. Die zweifache »Inchoativität« der Heiligung

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nicht überwinden kann: »Wir sind nämlich – solange wir hier leben – dermaßen fleischlich, unter die Sünde verkauft und in ihrem Besitz […], dass wir sie weder ablegen noch uns von ihrer Macht befreien können. Deshalb trauern wir, wir kämpfen mit dem Fleisch und rufen mit jenem Gerechten aus: ›Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten aus diesem Todesleib?‹ [Röm 7,24].«84 Nicht nur kann der Christenmensch auf Erden nicht in jeder Hinsicht tugendhaft werden, sondern jede einzelne von ihm besessene Tugend ist und bleibt in sich unvollkommen, weil sein Dasein durch das Zugleich von Gerechtigkeit und Sünde bestimmt ist. Es ist folglich angemessener, die Tugenden eines Christen nicht als »Habitus«, sondern als »Enthaltsamkeit« zu bezeichnen: Wenn Gottes Geist, nachdem er in unsere Herzen eindrang, sie auch geraderichtet und umstimmt, da beginnen wir, Gutes zu wollen und zu tun, obwohl auch diese unsere redlichen Taten in unendlich vielen Art und Weisen immer unvollkommen sind. Daher sind die Tugenden, die uns innewohnen, auch keine »Habitus« [εÏ ξεις], sondern nur »Enthaltsamkeiten« [εÆ γκρατει αι], weil unser Wille weder dem Gebot Gottes noch der guten Vernunft in jeder Hinsicht und vollkommen unterworfen ist.85

Nach reformierter Auffassung eignet also der Heiligung nicht eine bloß faktische, sondern eine prinzipielle Inchoativität, denn in diesem Leben kann der Wiedergeborene nicht nur nicht zur Vollkommenheit gelangen, sondern er bleibt, indem er (als Gerechter) auf dem Weg der Heiligung fortschreitet, auch immer (als Sünder) an dessen Anfang. Es ist leicht einzusehen, dass die hier angesprochene Inchoativität der Heiligung ein bestimmtes Verständnis von »Buße« bedingt. Diese konnte nämlich nicht mehr als punktuell zu vollziehender »Reinigungsakt« – wie etwa bei Hubmaier oder in der römisch-katholischen Theologie – aufgefasst werden, sondern musste im Lichte der Situation des Gerechtfertigten als simul iustus et peccator eine neue Interpretation erfahren.86 84 Daneau, Ethices 1,18, 92v–93r: »Sumus einm, quandiu hic vivimus, carnales et ita peccato venditi macipati […], ut eo prorsus non exuere et ab eius potestate liberare non possimus. Itaque lugemus, luctamur cum carne et cum iusto illo clamamus, Miser ego homo, quis me eripet ex isto corpore mortis et peccati?« 85 A. a. O. 1,24, 123r: »Ubi Dei spiritus sese cordibus et affectibus nostris insinuavit eosque dirigit et inflectit, tum incipimus bene velle et agere, quanquam et hae actiones nostrae honestae sunt semper infinitis modis imperfectae. Itaque quae in nobis virtutes esse dicuntur, eae non sunt εÏ ξεις, sed tantum εÆ γκρατει αι, id est non plene perfecteque voluntatis nostrae Dei mandato et rectae rationi subiectae.« 86 Vgl. KD IV/2, 646 f.: »An der strengen Anwendung von Luthers: simul (totus) iustus, simul (totus) peccator auch auf den Begriff der Heiligung und also der Umkehr hängt es, ob das mit diesem Begriff bezeichnete Geschehen in seiner Tiefe gesehen und in dem ihm zukommenden Ernst verstanden wird.«

IV. Der metanoetische Kern des Gottesdienstes: Die Umkehrliturgie

Das reformierte Verständnis von »Buße« (μετα νοια) sowie die Frage, inwiefern sich die formative Wirkung des Gottesdienstes eben als μετα νοια beschreiben lässt, werden im Folgenden anhand eines bestimmten Formulars aus der reformierten liturgischen Tradition erläutert: der »Bußliturgie« aus der Genfer/Straßburger Gottesdienstordnung von 1542. Es wird also nicht zunächst die reformierte Lehre von der »Buße« erörtert, um erst in einem zweiten Schritt die Resultate der Analyse auf die Liturgie anzuwenden. Vielmehr soll die Liturgie selbst als Leitfaden für die Erörterung der Lehre dienen. Entsprechend einem pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnis ist es nämlich durch die Liturgie und in ihr, dass die versammelte Gemeinde immer wieder erfährt, wer sie vor Gott ist und wozu sie berufen ist. Ein solches Verfahren ermöglicht einerseits, den engen Zusammenhang zu erkennen, der nach reformiertem Verständnis zwischen liturgischer Buße und über die Liturgie hinausgehender μετα νοια besteht: Denn wie wir sehen werden, lässt sich die μετα νοια im weiteren Sinn zwar nicht auf die liturgische Buße reduzieren, ist aber ohne diese nicht zu denken. Andererseits sollten sich dadurch Kriterien gewinnen lassen, die für die in einem weiteren Schritt zu entwickelnde materialliturgische Reflexion leitend sein werden. 1. Historisches zur »Buße« im reformierten Gottesdienst In den reformierten liturgischen Formularen aus der Reformationszeit finden sich unterschiedlich gestaltete Formen der »öffentlichen Buße«. Dass ein Sündenbekenntnis (mit oder ohne Gnadenzuspruch) Bestandteil des Gottesdienstes sein konnte, war allerdings an sich kein absolutes Novum. Die vorreformatorische liturgische Tradition kannte verschiedene Formen von gottesdienstlicher »Beichte«, von denen sich die Reformatoren zur Entwerfung ihrer Bußliturgien inspirieren ließen. Neu war vielmehr die Bedeutung, die dieser liturgischen Handlung beigemessen wurde.

1. Historisches zur »Buße« im reformierten Gottesdienst

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1.1 Die »Offene Schuld« War in der alten Ost- und Westkirche die »kanonische Buße« das übliche Verfahren zur Wiederversöhnung von »schweren Sündern« gewesen,1 so begann sie bereits im Frühmittelalter gegenüber der Einzelbeichte an Bedeutung zu verlieren. Durch die Verbreitung dieser Bußform – die der monastischen Praxis entstammte und mehr im Bereich der Einzelseelsorge als in demjenigen des Gemeindelebens angesiedelt ist – wurde ein Prozess der liturgischen und theologischen Reflexion in Gang gesetzt, der später zur Herausbildung des Bußsakraments führen sollte.2 Parallel und in gewisser Spannung zur Entwicklung eines sakramentalen Verständnisses der Ohrenbeichte als einziges Mittel zu einem vollwertigen Sündenerlass fand allerdings ab dem 11. Jahrhundert in den deutschen Gebieten auch eine Form von allgemeiner Beichte erneut Eingang in die Messliturgie. Seit den Reformen Karls des Großen im 9. Jahrhundert hatte sich die Praxis eingebürgert, einen volkssprachigen Gottesdienstteil in die Messliturgie einzubauen. Dieser bestand ursprünglich aus einer Homilie, katechetischen Erklärungen des Glaubensbekenntnisses und des Unservaters sowie aus einem allgemeinen Kirchengebet.3 Durch Hinzufügung weiterer Elemente – wie der Verlesung der Zehn Gebote, des Ave Maria, aber auch des Gemeindegesangs – bildete sich allmählich ein liturgischer Körper heraus, der sich einerseits als geschlossenes Ganzes von den übrigen Teilen der Messe abgrenzte,4 andererseits aber in sich viel Raum für Variation ließ. Denn obwohl sich zum Teil ortsgebundene Traditionen entwickelten, blieb dieser »Prädikantengottesdienst« (auch »Pronaus« genannt5) sowohl bezüglich des Inhalts als auch im Blick auf die interne Anordnung der liturgischen Elemente grundsätzlich offen und an keinerlei feste Vorschriften gebunden.6 Neben den bereits erwähnten Elementen gehörte auch die sogenannte Offene Schuld zu den Bestandteilen des Pronaus. Dabei handelte es sich um ein der Gemeinde vorgesprochenes allgemeines Sündenbekenntnis mit anschließender allgemeiner Absolution.7 In Abwesenheit offizieller Richtlinien kam es dem einzelnen Prediger zu, geeignete 1

Meßner, Feiern, 84. A. a. O., 161–163. 3 Weismann, Predigtgottesdienst, 19. 4 Dies war nicht zuletzt darin begründet, dass sich dieser »Gottesdienst im Gottesdienst« auf der Kanzel und nicht – wie die übrigen Teile der Messe – im Altarraum abspielte; vgl. a. a. O., 27. 5 Die Bezeichnung »Pronaus« leitet sich aus dem französischen »proˆne« her, welches wiederum etymologisch aufs lateinische »praeconium« (Predigt) zurückgeht, vgl. a. a. O., 20; Kunz, Gottesdienst, 40, Anm. 48. 6 Weismann, Predigtgottesdienst, 22. 7 A. a. O., 20. 2

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IV. Die Umkehrliturgie

Texte selber zu entwerfen oder aber sich auf überlieferte Formulierungen zu stützen. Im Manuale curatorum (1502) des Basler Pfarrers und Universitätsprofessors Johann Ulrich Surgant (ca. 1450–1503)8 finden sich etwa fünf verschiedene Versionen der Offenen Schuld unterschiedlicher Länge,9 wobei die fünfte explizit für die »Fasten- und Weihnachtszeit« bestimmt ist.10 Die Absolution wird immer in optativischer Form zunächst auf Latein und anschließend auf Deutsch erteilt. Die lateinische Formel besteht aus dem »Misereatur« und dem »Indulgentiam«,11 welche ihren ursprünglichen Ort im Stufengebet des Priesters und der Diakone vor Beginn der Messe hatten;12 der darauffolgende deutsche Absolutionsspruch gibt sinngemäß die lateinische Formel wieder – auffallend ist allerdings, dass der Prediger hier auch sich selbst in die Bitte um Vergebung einschließt – und endet mit einem trinitarischen Votum.13 Die Verwendung einer optativischen Formulierung bei der Absolution deutet auf die grundsätzliche Differenz hin, die nach spätmittelalterlichem Verständnis zwischen Offener Schuld und Ohrenbeichte bestand. Nur Letzterer wurde sakramentale und somit wirklich reinigende Wirkung zugeschrieben, denn nur bei der Ohrenbeichte konnte man mittels der indikativisch formulierten (»ego te absolvo«) und von Seiten eines geweihten Priesters erteilten Absolution vollständige Vergebung der begangenen Sünden empfangen.14 Da die Offene Schuld als solche indessen nie Gegenstand der theologischen Reflexion wurde, blieb ihre spezifische Bedeutung im Rahmen der Liturgie weitgehend ungeklärt. In der modernen Forschung wird einerseits vermutet, dass die Offene Schuld eine Art »Rüstgebet« der Gemeinde vor dem Kommunionsempfang darstellte, weshalb sie als Pendant zum priesterlichen »Confiteor«-Gebet zu Beginn der Messe zu betrachten sei.15 Andererseits wird ihre Etablierung als fester Bestandteil des »Pronaus« auf ein nicht 8 Vgl. RGG4, Bd. 7, 1906; ADB, Bd. 37, 165 f.; Schmidt-Clausing, Surgant, bes. 297–300 (zu Surgants Manuale). 9 Surgant, Manuale, 84r–86v. 10 A. a. O., 85v: »Alia confessio generalis et longa, quam in quadragesimali tempore et in nativitate domini […] dicere soleo.« 11 A. a. O., 84r: »Misereatur vestri omnipotens Deus et dimittat vobis omnia peccata vestra, liberet vos ab omni malo et custodiat vos cum sanctis suis in vitam aeternam. Amen. Indulgentiam et remissionem tribuat vobis omnipotens, pius et misericors dominus. Amen.« (Hervorhebungen, LB). 12 Klaus, Rüstgebete, 531 f. 13 Surgant, Manuale, 84r-v: »Ich hab üch abloß gebetten umb all üwer sund / und nach disem leben das ewig leben: das verliech üch und mir got vatter got sund got heiliger geist. Amen.« (Hervorhebung, LB). 14 Meßner, Feiern, 178 f. 15 Klaus, Rüstgebete, 535.

1. Historisches zur »Buße« im reformierten Gottesdienst

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weiter spezifiziertes »geistliches Bedürfnis der Gemeinden, […] ein Bekenntnis der Schuld abzulegen und den göttlichen Zuspruch zu empfangen«, zurückgeführt.16 Interessanterweise findet sich bei Surgant eine dritte, alternative Interpretation. Er bestätigt zunächst den fundamentalen Unterschied von »confessio generalis« und »specialis«, indem er auf den nicht-sakramentalen Charakter der Offenen Schuld hinweist.17 Zugleich macht Surgant aber auch auf das Proprium dieses öffentlichen und allgemeinen Sündenbekenntnisses aufmerksam: Es erhalte dadurch seine besondere Qualität, dass es in erster Linie nicht vom Einzelchristen, sondern von jedem und jeder »in persona ecclesiae« mitgebetet werde. Deshalb sei es »gleichsam ein Zeugnis eines jeden, der als Glied der Kirche betrachtet werden und als Christ standhaft bleiben will«.18 Am Modell des »Pronaus« orientierten sich später die Schweizer Reformatoren – allen voran Zwingli – bei ihren Liturgiereformen und erhoben ihn letztlich zum Hauptgottesdienst der reformierten Kirchen. Der Predigtgottesdienst hatte zwar bereits im vorherigen Jahrhundert begonnen, sich nicht nur liturgisch, sondern auch zeitlich und örtlich von der Messe zu emanzipieren. Im Laufe des 15. Jahrhunderts waren zahlreiche »Prädikaturen« sowohl von öffentlichen Instanzen (Räten, Bürgerschaft einer Stadt) als auch von privaten Gönnern gestiftet worden. Die Inhaber dieser Predigtstellen – von denen der Nachweis eines akademischen Grades verlangt wurde19 – waren häufig keine Geistlichen und hatten folglich keine Befugnis, die Sakramente zu spenden. Ihre Aufgabe bestand ausschließlich in der Predigt, wobei man sich von ihrer Tätigkeit eine Steigerung der homiletischen Qualität erhoffte. Obwohl die »Prädikanten« mancherorts ihren Gottesdienst in deutscher Sprache weiterhin im Rahmen der Messe hielten, bürgerte sich bald die Praxis ein, dafür eigene Predigtstunden einzurichten.20 Die Tatsache, dass auch außerhalb der Messe gepredigt wurde und dass diese Predigten auch in einem speziellen liturgischen Rahmen – dem »Pronaus« – gehalten wurden, bedeutete an sich jedoch keine Infragestellung der Bedeutung der Messe als Hauptgottesdienst der Kirche. Erst auf dem Hintergrund ihrer scharfen Kritik an der sakramentalen Praxis der römischen Kirche begannen die Schweizer Reformatoren, den Predigtgottesdienst als Alternative zur Messe zu be16

Weismann, Predigtgottesdienst, 21. Surgant, Manuale, 86v: »Ista confessio [generalis] non est sacramentalis.« 18 A. a. O., 87r: »Debet [quisquis] dicere generalem confessionem publicam in persona ecclesiae, ut recognoscat se membrum ecclesiae; et est quasi protestatio eius, qui vult reputari membrum ecclesiae et christianum se perseverare.« 19 Weismann, Predigtgottesdienst, 26. 20 A. a. O., 27. 17

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IV. Die Umkehrliturgie

trachten.21 Zwar knüpfte Zwingli bei der Vorbereitung seiner Abendmahlsliturgie bewusst an die Messform an;22 aber während im Mittelalter die Messe das »Gefäß« darstellte, in dem auch der Predigtgottesdienst Platz finden konnte, war es nun der von der Messe endgültig emanzipierte Predigtgottesdienst, dem die Feier des reformierten Abendmahls einverleibt wurde. Bei der Festlegung der Ordnung für den allsonntäglichen Predigtgottesdienst orientierten sich die Zürcher an der Basler Praxis, die sich in Surgants Manuale widerspiegelt und die sowohl Zwingli als auch Leo Jud früher kennengelernt hatten.23 Im Vergleich zu Surgants Ordnung24 fällt es auf, dass die Fürbitten an den Anfang des Gottesdienstes vor der Predigt gestellt wurden.25 Auch die Reihenfolge der liturgischen Elemente nach der Predigt wurde geändert, sodass die Offene Schuld unmittelbar auf die Predigt folgte, während der Dekalog und das Apostolicum erst vor den Schlussermahnungen und dem Segen gesprochen wurden.26 Bezüglich der Offenen Schuld ist ferner anzumerken, dass auf das – im Vergleich zu den Formularen Surgants sehr kurz gehaltene – Sündenbekenntnis keine Absolution, sondern eine gemeinsame Bitte um Vergebung mit anschließendem Unservater folgte: Bekennend üwer mißtadt und sprächennd: Ich armer, sündiger mensch, ich bekenn mich vor dir, minem herren gott unnd schöpffer, das ich leyder vil gesündet hab mit sinnen, gedancken, worten und wercken, wie du, eewiger gott, wol weist. Die sind mir leyd unnd begären gnad. Sprächend also inn üweren hertzen: Allmächtiger, eewiger und barmhertziger gott! Verzych uns unser sünd unnd fuer uns zuo eewigem läben durch Jesum Christum, unseren herren, welcher uns also hat geleert bätten: Vatter unser […].27

Die Offene Schuld – mit ihrer charakteristischen Stellung nach der Predigt – begegnet auch in anderen reformierten Formularen des 16. Jahrhunderts, wie etwa der von Guillaume Farel (1489–1565) verfassten Neuenburger Liturgie28 oder der Liturgie für die Londoner »Stranger Church« von Johannes a` Lasco.29 Im Unterschied zur Zürcher Ord21

A. a. O., 31. A. a. O., 34; Ehrensperger, Zwinglis Abendmahlsgottesdienst, 27. 23 Zwingli hatte während seines Studienaufenthalts in Basel Surgants Gottesdienste miterlebt, während Leo Jud in der Gemeinde Surgants – allerdings nach dessen Ableben – Pfarrer gewesen war, vgl. Weismann, Predigtgottesdienst, 34; Kellerhals, Sündenbekenntnis, 14. 24 Eine ausführliche Synopse der Ordnung Surgants und der Liturgien aus den Zürcher Kirchenordnungen von 1525 und 1535 findet sich a. a. O., 14–16. 25 Christennlich ordnung (Z IV 697,1–14). 26 Christennlich ordnung (Z IV 698,36 f.): »Amm sontag verlißt der diener an statt deß lesten gebätts die zähen gebott und die artickel deß christenen gloubens.« 27 Christennlich ordnung (Z IV 697,26–35). 28 Farel, Manie`re et fasson (Baum 75 f.). 22

1. Historisches zur »Buße« im reformierten Gottesdienst

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nung wird aber die Offene Schuld in diesen beiden Liturgien von der ` Lascos enthält Verlesung der Zehn Gebote eingeleitet.30 Die Liturgie A ferner auch eine umfangreiche, konditional formulierte Absolution.31 1.2 Das »Confiteor« und dessen Modifikationen Die zweite Tradition, an die die Reformierten anknüpften, war jene des »Stufengebets« und des dazu gehörenden »Confiteor«. Als Stufengebet werden die Gebete bezeichnet, die seit dem 11. Jahrhundert zu Beginn der Messe vom Priester und den Konzelebranten (Diakone, Messdiener) an den Altarstufen32 gesprochen wurden und der Vorbereitung des Klerus auf die Liturgiefeier dienten. Das Stufengebet wurde traditionell durch den Psalm 43 mit der Antiphon »Introibo ad altare Dei« (Ps 43,4) eröffnet. Darauf folgte das »Confiteor«, nämlich ein gegenseitiges, zwischen Priester und Konzelebranten gesprochenes Sündenbekenntnis: Ich bekenne Gott dem Allmächtigen, diesen33 und allen Heiligen, und auch dir, Bruder, dass ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken, und durch geistige und leibliche Befleckung. Deshalb bitte ich dich: Bete für mich.34 29

Lasco, Forma ac ratio, 86 f. Der aus Polen stammende Reformator Johannes a` Lasco (Jan Łaski, 1499–1560) wirkte von 1549 bis 1553 in England als Superintendent der »Stranger Church«, welche alle Londoner Fremdengemeinden in sich schloss, vgl. MacCulloch, Cranmer, 477–480. 30 Farel, Manie`re et fasson, 75; Lasco, Forma ac ratio, 84 f. 31 A. a. O., 86 f.: »Quotquot igitur ita affecti estis, ut vos iuxta precationem a nobis factam peccatorum vestrorum pudeat ac poeniteat in conspectu Dei, sic ut cum vestri accusatione veniam illorum apud Deum patrem nostrum coelestem supplices imploretis, neque dubitetis ea vobis omnia propter Christum mortisque suae meritum gratuito et plene condonari, statuatisque in vestris animis velle vos deinceps per Dei gratiam mortificare veterem in vobis hominem cum affectibus ipsius, ut in vitae novitate pro vestra infirmitate ambuletis, – omnibus inquam vobis, qui ita affecti estis, denuncio fiducia promissionum Christi vestra peccata omnia in coelo a Deo Patre nostro modis piane omnibus remissa esse propter Dominum et liberatorem nostrum Iesum Christum, benedictum in saecula. Amen.« Auf die Absolution folgte auch eine sog. »Retention« (vgl. Schulz, Ministerium reconciliationis, 78): »Qui vero in suis peccatis sibi ita placent, ut non tam seipsos in illis quam divinam potius severitatem accusent cum sui ipsorum excusatione, aut qui agnoscunt quidem et ipsi aliquo modo peccata sua, sed contempto Christi Domini beneficio per mortem ipsius alia sibi salutis remedia comminiscuntur – hisce rursum omnibus ex verbo Dei denuncio omnia ipsorum peccata ligata esse in coelis, nisi resipiscant« (Lasco, Forma ac ratio, 87). 32 Dass diese Gebete an den Altarstufen gesprochen werden sollten, wurde erst im Missale Pius’ V. (1570) offiziell festgehalten. Früher hatten solche »Rüstgebete« den feierlichen Einzug des Klerus begleitet; da sich die Sakristei aber seit der romanischen Bauweise in unmittelbarer Nähe des Chors befand, verkürzte sich der Weg zum Altar erheblich, was wenig Gelegenheit für eine reichere Entfaltung des Einzugritus bot. Vgl. Klaus, Rüstgebete, 529 f. 33 Gemeint sind die Heiligen, deren Reliquien sich im Altar befinden, vgl. a. a. O., 531, Anm. 37.

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IV. Die Umkehrliturgie

Sowohl die Konzelebranten als auch der Priester antworteten jeweils auf das gerade abgelegte Sündenbekenntnis mit zwei optativisch formulierten Absolutionssprüchen, wobei der zweite – das sog. »Indulgentiam« – später35 nur vom Priester im Namen aller gesprochen wurde: Es erbarme sich deiner der allmächtige Gott und lasse dir all deine Sünden nach, er befreie dich von allem Übel und bestärke dich in jedem guten Werk, und in gleicher Weise führe uns Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, zum ewigen Leben. Amen. Ablass und Vergebung aller unserer Sünden gewähre uns der allmächtige und barmherzige Herr. Amen.36

Nach einigen Versikeln, die in den Bittruf »Herr, erhöre mein Gebet und lass mein Rufen zu dir kommen«37 mündeten, endete das Stufengebet schließlich mit der Oration »Aufer a nobis«.38 Auf ein weiteres kurzes Gebet39 folgte sodann der eigentliche Beginn der Messe (Introitus und Kyrie).40 34

Zit. nach dem Micrologus des Bernold von Konstanz (11. Jh.), a. a. O., 531: »Confiteor Deo omnipotenti, istis sanctis et omnibus sanctis et tibi, frater, quia peccavi in cogitatione, in locutione, in opere, in pollutione mentis et corporis. Ideo precor te: ora pro me«. Die 1570 im Missale Romanum festgelegte Formel lautete: »Confiteor Deo omnipotenti, beatae Mariae semper Virgini, beato Michaeli Archangelo, beato Joanni Baptistae, sanctis Apostolis Petro et Paulo, omnibus Sanctis, et vobis, fratres: quia peccavi nimis cogitatione, verbo et opere: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Ideo precor beatam Mariam semper Virginem, beatum Michaelem Archangelum, beatum Joannem Baptistam, sanctos Apostolos Petrum et Paulum, omnes Sanctos, et vos, fratres, orare pro me ad Dominum, Deum nostrum« (Missale Romanum, 272a). 35 Vgl. Missale Romanum, 272a-b. 36 Zit. nach dem Micrologus des Bernold von Konstanz (11. Jh.), in: Klaus, Rüstgebete, 532: »Misereatur tui omnipotens Deus, et dimittat tibi omnia peccata tua, liberet te ab omni malo et confirmet te in omni opere bono, et perducat nos pariter Jesus Christus Filius Dei vivi in vitam aeternam. Amen«; ebd.: »Indulgentiam et remissionem omnium peccatorum nostrorum tribuat nobis omnipotens et misericors Dominus. Amen«. Die 1570 im Missale Romanum festgelegte Formel lautete: »Misereatur tui [bzw. vestri] omnipotens Deus, et, dimissis peccatis tuis [bzw. vestris], perducat te [bzw. vos] ad vitam aeternam. Amen«; »Indulgentiam, absolutionem et remissionem peccatorum nostrorum tribuat nobis omnipotens et misericors Dominus. Amen« (Missale Romanum, 272a-b). 37 Klaus, Rüstgebete, 532: »Domine, exaudi orationem meam; et clamor meus ad te veniat«. Vgl. Missale Romanum, 272b. 38 Missale Romanum, 272b: »Aufer a nobis, quaesumus, Domine, iniquitates nostras: ut ad Sancta sanctorum puris mereamur mentibus introire. Per Christum, Dominum nostrum. Amen.« 39 A. a. O., 272b: »Oramus te, Domine, per merita Sanctorum tuorum, quorum reliquiae hic sunt, et omnium Sanctorum: ut indulgere digneris omnia peccata mea. Amen.« 40 A. a. O., 272b–273a. Bei feierlichen Messen ging dem Introitus noch die Beräucherung des Altars voraus (ebd.).

1. Historisches zur »Buße« im reformierten Gottesdienst

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Die Tradition, den Gottesdienst durch ein Sündenbekenntnis mit Gnadenzuspruch zu eröffnen, wurde in Straßburg weitergeführt. Was davor eine Art gegenseitige Beichte zwischen Priester und Konzelebranten gewesen war, wurde nun aber zu einem Bußakt der ganzen Gemeinde.41 Nach einem trinitarischen Votum wird diese in der Teutschen Meß (1524) dazu aufgefordert, mit dem Pfarrer zusammen ihre Sünden zu bekennen: Bekennen euch gott, dem herren, dann er ist guot vnd sein barmhertzigkeit ist ewig: Ich armer sünder bekenne mich gott, dem almechtigen, das ich schwerlich gesündt hab durch übertrettung seiner gebott, das ich vil gethon hab, das ich solt gelassen han, vnd vil gelassen, das ich solte thon haben, durch vnglauben vnd mißtreuwe gegen gott, vnd schwache der liebe gegen meynen mittdienern vnd nechsten menschen, wie mich gott schuldig weist, ist mir leyd. Gnad mir, herr vmb dynes namens willen, biß barmhertzig mir armen sünder wenn miner sünd sind fill, amen.42

Die Verwendung der ersten Person Singular wie auch die Stellung dieses Gebets am Anfang der Liturgie erinnern zwar an das »Confiteor«, im Wortlaut lassen sich aber viele Übereinstimmungen mit dem Sündenbekenntnis aus dem Zürcher Formular feststellen.43 Dies sollte nicht überraschen, ist es doch nicht auszuschließen, dass Texte aus der Tradition der Offenen Schuld bei der Entwerfung der Straßburger Liturgie mitberücksichtigt wurden. In späteren Ausgaben standen dem Pfarrer drei verschiedene Sündenbekenntnisse zur Auswahl.44 Eines davon stellt eine erweiterte Fassung des oben zitierten Gebets dar, bei der anstelle der allgemeinen Formulierung: »[…] das ich schwerlich gesündt hab durch übertrettung [deiner] gebott« eine lange Aufzählung von Sünden gegen jedes einzelne Gebot begegnet.45 Die beiden übrigen Sündenbekenntnisse sind hingegen in der ersten Person Plural formuliert und bringen nicht so sehr einzelne Übertretungen, sondern eher die Sündhaftigkeit menschlichen Daseins als solche zur Sprache. Besonders das zweite wirkte nachhaltig in der weiteren Geschichte der reformierten Liturgie: Almechtiger, ewiger gott vnd vatter, wir bekennen vnd veriehen, das wir leyder inn sünden empfangen vnd geporen seind vnd daher geneygt zuo allem argen vnd treg zuo allem guoten, das wir deine heylige gebott on vnderlaß vbertretten vnd vns selbs jmmer mehr verderben, das ist uns aber leyd vnd begeren deiner gnaden vnd hülff; so erbarme dich über vnns, allergütigster, barmhertzigster gott vnd vatter, durch deinen suon, vnsern herren Jesum Christum; verleihe und mehre vns deinen 41 42 43 44 45

Vgl. Weismann, Predigtgottesdienst, 55; Erichson, L’origine, 176. Die teutsche Meß (Hubert 57,10–15). Siehe oben, Kap. IV.1.1. Von des Herren Nachtmal (Hubert 91–94). A. a. O. (Hubert 92,19–94,19).

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IV. Die Umkehrliturgie

h. geyst, damit wir vnsere sünd vnd vngerechtigkeyt inn grund vnsers hertzens absterben vnd dir inn einem newen gottseligen leben gentzlich wolgefallen, amen.46

Dieses Gebet wurde in französischer, leicht veränderter Fassung in die Liturgie der französischsprachigen Flüchtlingsgemeinde in Straßburg sowie in die Genfer Gottesdienstordnung von 1542 übernommen47 und fand auf diesem Weg Eingang in zahlreiche reformierte Kirchenordnungen und liturgische Gebetssammlungen.48 Dasselbe Sündenbekenntnis begegnet ferner in der Gottesdienstordnung der französischsprachigen Fremdengemeinde in Glastonbury (Grafschaft Somerset, England),49 welche Vale´rand Poullain50 in London sowohl in lateinischer (1551) wie auch in französischer Fassung (1552) drucken ließ.51 Die Veröffentlichung und Verbreitung dieser Liturgie auf englischem Boden trug sehr wahrscheinlich dazu bei, dass in der zweiten Auflage des Book of Common Prayer (1552) ein Sündenbekenntnis mit Gnadenzuspruch an den Anfang der Formulare für »Morning Prayer« und »Evening Prayer« gestellt wurde.52 Die Straßburger Liturgie enthielt jedoch ursprünglich keine Absolution im engeren Sinn. Vielmehr folgten auf das Sündenbekenntnis zwei Schriftzitate (1Tim 1,15 und Mk 9,24b), verbunden mit der Bitte: »Herr, […] mach mich selig.«53 Erst ab 1537 schloss sich dem Schriftzitat aus 1Tim ein Absolutionsspruch an: […] so versprich ich euch inn seinem nammen verzeyhung aller ewer sünden vnd sage euch derselbigen loß vff erden, das jr jren auch imm himmel loß seien inn ewigkeyt, amen.54

Das Straßburger Modell mit seiner in Kontinuität mit der Tradition des »Confiteor« stehenden Platzierung der Bußliturgie im Eröffnungsteil 46

A. a. O. (Hubert 92,7–17). Siehe unten, Kap. IV.2. 48 Vgl. Baird, Presbyterian Liturgies, 35; Erichson, Calvinische, 31. 49 Vgl. MacCulloch, Cranmer, 505 f. 50 Vale´rand Poullain (ca. 1520–1558), aus Lille (Flandern), wirkte als reformierter Prediger zunächst in Straßburg, später auch in Glastonbury (1547–1553) und letztlich in Frankfurt a. M., vgl. Bauer, Poullain; Schelven, Poullain; Mangon, Beschreibung (Dingel 44–51). 51 Für eine historisch-kritische Edition beider Fassungen vgl. Pollanus, Liturgia Sacra. Poullain ließ seine Liturgie später auch in Frankfurt a. M. drucken, vgl. Honders, Inleiding, 21 f. 52 Vgl. Procter/Frere, The Book of Common Prayer, 86; Blunt, The Annotated Book of Common Prayer, 3–5 [Morning Prayer]; 29 f. [Evening Prayer]. 53 Die teutsche Meß (Hubert 58,2–5). 54 Von des Herren Nachtmal (Hubert 95,1–7). Siehe auch Hubert, Straßburger liturgische Ordnungen, XXIII f. 47

2. Das Genfer/Straßburger Formular von 1542

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des Gottesdienstes wirkte über Genf, England und Schottland55 weit über die Grenzen der elsässischen Stadt hinaus. Sogar in Zürich wich die Offene Schuld dem Straßburger bzw. Genfer Modell letztlich aus, wurde doch durch die Liturgiereform von 1855 das Sündenbekenntnis an den Anfang des Gottesdienstes verlegt.56 1.3 Die neue Deutung des »Bußteils« im reformierten Gottesdienst Im vorangehenden Kapitel wurde bereits darauf hingewiesen, dass im Rahmen reformierter Soteriologie auch die Buße eine tiefgehende Umdeutung erfuhr. Bei aller Ähnlichkeit, die auf formaler Ebene zwischen früheren Gestalten gottesdienstlicher Buße und den Bußteilen der reformierten liturgischen Formulare besteht, ist in Letzteren diese Umdeutung deutlich zu erkennen. In ihnen wird selbstverständlich nicht diskursiv – wie etwa in einem theologischen Traktat – erklärt, worin Buße besteht. Vielmehr lässt die liturgische Form selbst – nämlich die Art und Weise, in der im reformierten Gottesdienst das Bekennen der Sünde in Zusammenhang mit der Bitte um Erneuerung, dem Zuspruch der Gnade und der Antwort der Gemeinde begangen wird – die tiefe Umdeutung erkennen, die die Buße (paenitentia) in der reformierten Theologie erfahren hat. Zugleich geschieht aber auch in und durch diese liturgische Sequenz Buße, allerdings nicht mehr im Sinne eines »Reinigungsakts« zur Tilgung begangener Sünden. Vielmehr wird dabei – wie es im Folgenden genauer zu erläutern gilt – jene Re-Orientierung des begnadigten Sünders auf Gott hin erbeten, die sich angesichts der Sündhaftigkeit der Glaubenden als stets notwendiger Neuanfang im lebenslangen Prozess der »Hinkehr zu Gott« erweist. Die Bezeichnung der entsprechenden liturgischen Sequenz im reformierten Gottesdienst als »Umkehrliturgie« anstelle von »Bußteil« oder »Offene Schuld« ist folglich als Versuch zu betrachten, der besagten Umdeutung auf terminologischer Ebene gerecht zu werden. 2. Die reformierte Umkehrliturgie am Beispiel des Genfer/Straßburger Formulars von 1542 Im Jahr 1542 erschien die erste Auflage von La forme des prieres et chantz ecclesiastiques, der von Calvin angefertigten Gottesdienstordnung für die reformierte Kirche Genfs.57 Wie aus Calvins Abschieds55

Vgl. Baird, Presbyterian Liturgies, 104 f. Schweizer, Reformierte Abendmahlsgestaltung, 121. Vgl. Gebete für die evangelisch-reformirte Kirche des Kantons Zürich (1855), 3–5 [Gebet vor der Predigt]. 57 Historisch-kritisch ediert in: OS II 11–58. 56

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IV. Die Umkehrliturgie

rede an die Genfer Pfarrerschaft (1564) zu entnehmen ist, hatte der Reformator, »was die Sonntagsgebete betrifft«, »das Straßburger Formular benutzt und diesem den größten Teil entlehnt«.58 Bei diesem »Straßburger Formular« handelte es sich um eine Gottesdienstordnung für die französischsprachige Flüchtlingsgemeinde in Straßburg, die vermutlich 1539/40, als Calvin deren Pfarrer war, erstmals gedruckt wurde.59 Von dieser frühen Ausgabe ist allerdings kein einziges Exemplar überliefert.60 Der erste bekannte Druck der französischen Straßburger Liturgie geht auf das Jahr 1542 zurück und wurde von Pierre Brully (gest. 1545), damals Pfarrer in der französischen Gemeinde in Straßburg und somit Calvins Nachfolger, besorgt. Aufgrund des wohl zur Täuschung der Zensurbehörden fingierten Impressums (»Imprime´ a` Rome par le commandement du Pape par The´odore Brüß, Allemand, son imprimeur ordinaire, le 15 fe´vrier«) wurde diese Ausgabe später als »Pseudoromana« bezeichnet. Die Pseudoromana ging schließlich 1545 erneut in den Druck, wobei sie zur Vorbereitung dieser neuen Ausgabe mit der Genfer Liturgie von 1542 kollationiert wurde.61 Angesichts der zwischen der Genfer Ausgabe und der Pseudoromana bestehenden Abweichungen62 sowie der Aussage Calvins, er habe sich in seiner liturgischen Arbeit in Genf an der »forme de Strasbourg« orientiert, stellt sich die Frage, welches der beiden Formulare denn der ursprünglichen – und leider verschollenen – Straßburger französischen Liturgie treuer blieb. Darauf, dass wohl die Pseudoromana und nicht die Genfer Liturgie die ursprüngliche Straßburger Fassung reproduzierte, deutet zweierlei hin: Erstens erklärte der Herausgeber Pierre Brully selbst gegenüber dem Straßburger Magistrat, er habe »die frantzösischen gesang psalmen, gemeine gebet und formular der Sacrament handlungen diser kirchen alhie, weil keine büchlin mehr vorhanden, widerumb inn Druck verfertiget«.63 Zweitens ist zu bedenken, dass die französischsprachige Flüchtlingsgemeinde in Straßburg »keine Selbständigkeit besass, sondern nur als Glied des allgemeinen strassburgischen Kirchenkörpers und unter der steten Kontrolle des Magistrats ein bescheidenes Dasein fristete«.64 Dies bedeutete unter anderem 58

Calvin, Abschiedsrede an die Pfarrer, 301,19 f.; Franz. Text (a. a. O., 300,14 f.): »Quant aux prieres des dimanches, ie prins la forme de Strasbourg, et en empruntai la plus grande partie.« 59 Marti, Einleitung, 142. 60 Erichson, Calvinische, 7. 61 Siehe das »stemma codicum« in: OS II 5. Das einzige erhaltene Exemplar dieser Ausgabe ist 1870 im Krieg vernichtet worden, vgl. Erichson, Calvinische, 9. 62 Diese betreffen sowohl den Eröffnungsteil (Calvin, Forme des prieres [OS II 19 f.]) als auch das Fürbittengebet nach der Predigt (a. a. O. [OS II 20–25]). 63 Zit. in: Erichson, Calvinische, 10 (Hervorhebung, LB). 64 A. a. O., 6.

2. Das Genfer/Straßburger Formular von 1542

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auch, dass ihre liturgischen Formulare nach dem Muster der deutschen Straßburger Liturgie entworfen wurden,65 was etwa ein Vergleich zwischen dem oben bereits zitierten deutschen Sündenbekenntnis und demjenigen in der Pseudoromana bzw. der Genfer Liturgie eindeutig bestätigt.66 Vergleicht man aber beide Ausgaben mit dem Straßburger Formular für den Sonntagsgottesdienst, so fällt die größere Ähnlichkeit des Letzteren mit der Pseudoromana sofort auf: Gerade im für uns besonders interessanten Eröffnungsteil enthält die Pseudoromana neben dem in der Genfer Liturgie ebenso belegten Sündenbekenntnis auch einen Absolutionsspruch, während sowohl dieser wie auch die Antwort der Gemeinde darauf in Genf weggelassen wurden. Diese Modifikation der ursprünglichen Straßburger Ordnung ist zwar auf Calvin zurückzuführen, sie entsprach aber – wie er selbst später betonte – mitnichten seinen Wünschen: »Niemand unter uns bezweifelt, dass es sehr nützlich sei, dem öffentlichen [Sünden-]Bekenntnis eine deutliche Verheißung anzufügen, die die Sünder zur Hoffnung auf Vergebung und Versöhnung aufrichtet. Von Anfang an wollte ich diesen Brauch einführen, aber da einige fürchteten, mit dieser Neuerung67 Ärgernis zu erregen, war ich viel zu sehr bereit nachzugeben. Deshalb hat man die Sache fallen lassen.«68 Die folgende Analyse richtet sich sowohl auf das in beiden Gottesdienstordnungen enthaltene Sündenbekenntnis als auch auf die in der »Pseudoromana« belegten Zusätze. Diese Sequenz von liturgischen Elementen bildet ein zusammenhängendes Ganzes, an dem sich die verschiedenen, eng miteinander verknüpften Dimensionen der reformierten Umkehrliturgie (Anamnese, Epiklese, Doxologie69) erkennen lassen.

65

A. a. O., 29 f. Für eine Synopse beider Texte vgl. Erichson, L’origine, 168. 67 Dass die Präsenz eines Absolutionsspruchs in der Liturgie als »Neuerung« betrachtet werden konnte, ist vermutlich darin begründet, dass dieser in Guillaume Farels Liturgie – welche aufgrund seines großen Einflusses auf die Reformation in Genf wohl auch gebräuchlich gewesen sein mag – fehlte, vgl. Farel, Manie`re et fasson (Baum 75 f.). 68 Calvin, Consilia ad disciplinam ecclesiasticam (CO X 213): »Confessioni publicae adiungere insignem aliquam promissionem, quae peccatores ad spem veniae et reconciliationis erigat, nemo nostrum est, qui non agnoscat utilissimum esse. Atque ab initio hunc morem inducere volui: sed, quum offensionem quidam ex novitate metuerent, nimium facilis fui ad cedendum. Ita res omissa est.« 69 Zu Anamnese, Epiklese und Doxologie als fundamentalen liturgischen Vollzügen und »Basisregeln« der gottesdienstlichen Handlung im Allgemeinen vgl. Kunz, Gottesdienst, 282 f. 66

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IV. Die Umkehrliturgie

2.1 Anamnese 2.1.1 Besinnung auf die eigene Sündhaftigkeit Mes freres, qu’un chascun de vous se presente devant la Face du Seigneur, avec confession de ses faultes et pechez, suyvant de son coeur mes parolles. Seigneur Dieu, Pere eternel et tout puissant: nous confesson et recongnoissons sans feinctise, devant ta saincte Majeste´, que nous sommes paovres pecheurs, conceuz et nez en iniquite´ et corruption: enclins a` mal faire, inutiles a` tout bien: et que de nostre vice, nous transgressons, sans fin et sans cesse, tes sainctz commandemens. Enquoy faisant, nous acqueron, par ton iuste Jugement, ruine et perdition sur nous. Toutesfois Seigneur, nous avons desplaisir, en nous memes, de t’avoir offence´, et condemnons nous et noz vices, avec vraye repentance, desirans que ta grace subvienne a` nostre calamite´.70

Meine Brüder, ein jeder von euch stelle sich vor das Angesicht des Herrn mit dem Bekenntnis seiner Verfehlungen und Sünden und folge in seinem Herzen meinen Worten: Herr Gott, ewiger und allmächtiger Vater, wir bekennen und erkennen rückhaltlos vor deiner heiligen Majestät, dass wir arme Sünder sind, empfangen und geboren in Unrecht und Verderbnis, geneigt, Böses zu tun, unnütz zu allem Guten, und dass wir durch unsere Lasterhaftigkeit endlos und ununterbrochen deine heiligen Gebote übertreten. Damit ziehen wir durch dein gerechtes Urteil Untergang und Verderben auf uns. Jedoch, Herr, wir haben Missfallen an uns selbst, weil wir dich beleidigt haben, wir verurteilen uns und unsere Laster mit wahrhaftiger Reue und wir sehnen uns danach, dass deine Gnade unserem Elend abhelfe.71

Unmittelbar nach dem »Adiutorium« (Ps 124,8), das den Gottesdienst eröffnet,72 wird die Gemeinde aufgefordert, sich zum gemeinsamen Sündenbekenntnis zu sammeln. Darauf, dass es sich dabei um ein Bekenntnis der gesamten im Namen Jesu versammelten Gemeinde handelt, weisen sowohl die Verwendung der ersten Person Plural (»wir bekennen …«) als auch die explizite Anweisung des Liturgen, dass ein jeder unter den Anwesenden dessen Worte »in seinem Herzen« folge und damit in der Stille mitbete, deutlich hin. Fragt man danach, was die versammelte Gemeinde in diesem Gebet bekennt, so ist einerseits festzuhalten, dass im Text auch von »Sünden« als Übertretungen der Gebote Gottes die Rede ist. Zu einem »rückhaltlosen« Bekenntnis gehört also sicherlich auch, dass man zugibt, die »heiligen Gebote Gottes« »endlos und ununterbrochen« zu übertreten. Andererseits ist es aber klar, dass solche Übertretungen als »Früchte« einer viel tiefer liegenden Wurzel angesehen werden, näm70

Calvin, Forme des prieres (OS II 18,19–31). Calvin, Genfer Gottesdienstordnung, 163,2–14 (leicht überarbeitet). 72 Calvin, Forme des prieres (OS II 18,16 f.): »Nostre aide soit au Nom de Dieu, qui a faict le Ciel et la terre, Amen.« 71

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lich jenes status corruptionis, in dem sich die Menschen postlapsarisch befinden. Diesem Zustand des »Sünderseins« (peccatum originale), der wohl als eine grundlegende und unvorgreifliche Verkehrung im Sein des Menschen zu betrachten ist,73 gilt in erster Linie das Bekenntnis: »Wir bekennen […], dass wir arme Sünder sind«. Gerade um zu betonen, dass es sich beim Sündersein des Menschen nicht um eine bloße Disposition zum Fehlverhalten, sondern vielmehr um ein »Faktum« handelt,74 d. h. um einen Zustand der Verderbnis, der die Totalität menschlichen Daseins affiziert, wird noch hinzugefügt, dass wir »empfangen und geboren in Unrecht und Verderbnis« sind. Damit knüpft die Genfer bzw. Straßburger Liturgie an Ps 51, den Bußpsalm par excellence, an. Zum siebten Vers, dem diese Worte entnommen sind, merkt Calvin in seinem Psalmenkommentar an: David bekennt sich nun nicht mehr bloß einer Sünde oder auch einiger Sünden schuldig, wie bisher. Er gräbt tiefer, wenn er sagt, vom ersten Augenblick seines Lebens an habe er nur Sünden gehabt, von Natur aus sei er ganz und gar verderbt. […] in Sünde geboren, kennt er nichts an sich, was rein oder unversehrt wäre.75

In den Worten Davids drückt sich also jene Einsicht in die grundlegende Sündhaftigkeit des Menschen aus, der sich jeder Christenmensch – wie Calvin, sich an seine Leser wendend, anfügt – anschließen sollte: Nur dann werden wir zur Erkenntnis unserer Sündhaftigkeit kommen, wenn wir unser ganzes Wesen als verderbt beurteilen. Jedes, auch das geringfügigste Vergehen muss uns zu der Erkenntnis bringen, dass unser ganzes Seelenleben unter der Herrschaft vollständiger Verkehrtheit steht.76

Wie ist es nun aber für den Menschen möglich, zur Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit zu gelangen? Im Sündenbekenntnis wird diese Frage insofern beantwortet, als es den Ort eindeutig benennt, an dem die Gemeinde ihre Sünde bekennt: »Herr Gott, ewiger und allmächtiger Vater, wir bekennen und erkennen rückhaltlos vor deiner heiligen 73

Vgl. Axt-Piscalar, Die Krise der Freiheit, 143. Zum spezifisch »reformierten« Sündenverständnis vgl. ausführlicher unten, Kap. IV.2.1.2. 74 Vgl. Pannenberg, Sünde, 237. 75 Calvin, In Psalmos [51,7] (CO XXXI 512 f.): »Iam non modo peccati unius vel plurium etiam, sicut hactenus, se reum fatetur, sed altius conscendit, se ab utero matris nihil aliud attulisse quam peccatum et naturaliter se totum corruptum esse et quasi vitiis delibutum. […] natus peccato, nihil in se haberet sincerum vel integrum.« 76 Ebd. (CO XXXI 513): »Et certe non aliter peccata nostra in solidum agnoscimus, nisi totum ingenium nostrum damnemus corruptionis. Imo unumquodque particulare delictum ad hanc generalem notitiam adducere nos debet, meram pravitatem in omnibus animae nostrae partibus regnare.«

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Majestät, dass wir arme Sünder sind.« Erkenntnis und damit auch Bekenntnis der Sünde als grundlegender Verkehrtheit menschlichen Daseins ist nur vor Gott, in der Gottesbeziehung77 und deshalb im Glauben möglich. Außerhalb des Glaubens bleibt die Sünde hingegen verborgen und verführt den Menschen weiterhin »zu einer Existenz, als ob es keine Sünde gäbe«.78 Ist nun aber wahrer Glaube – wie die reformierte Theologie von Anfang an zu betonen bedacht war – Glaube an Gott den Schöpfer und Erlöser, und damit immer Christuserkenntnis,79 so bedeutet dies zum einen, dass das »Wesen« der Sünde erst im Lichte ihrer Überwindung aufgedeckt wird: Erst wenn die gebrochene Relation des Menschen zu Gott in Christus wiederhergestellt ist, wird die Radikalität der Abkehr von Gott erkennbar, die das Leben des Menschen fern von Christus kennzeichnet. Insofern rührt wahre Sündenerkenntnis vom Glauben an das Evangelium her. Nach reformierter Auffassung bringt das Evangelium Jesu Christi aber auch die genuine Bedeutung des Gesetzes als Urkunde des ewigen Gnadenbundes erneut ans Licht.80 Somit wird nicht nur jeglicher Gebrauch des Gesetzes als Sammlung von Vorschriften zur Erlangung des Heils prinzipiell ausgeschlossen, sondern auch dessen ursprüngliche Intention als ewig gültiger Maßstab für das Leben derer, die Gott aus Gnade in seinen Bund aufgenommen hat, wiederentdeckt. Gerade aufgrund dieser Wiederentdeckung und deshalb in Verbindung mit dem im Evangelium gründenden Christusglauben kann wohl gesagt werden, dass auch das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde führt: das Gesetz, wohlgemerkt, in seiner ursprünglichen, erst in Christus wieder erkennbar gewordenen Bedeutung. Es ist das so verstandene Gesetz, das die an Christus Glaubenden ohne Unterlass ihrer Sünde überführt. Die Zentralität dieses Grundsatzes für die reformierte Hamartiologie wird etwa im Heidelberger Katechismus deutlich. Zwar besagt die Antwort auf die dritte Frage (»Woher erkennst du dein Elend?«) im Anschluss an Röm 3,20, dass die Erkenntnis der Sünde »aus dem 77

Vgl. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung, 78 f. A. a. O., 79. Vgl. Gestrich, »Erbsünde«, 171. 79 Vgl. Calvin, Institutio 3.2.7 (Weber 347; OS IV 16,32–35): »[Der Glaube] ist die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird«; CHP, Kap. 16 (Hildebrandt/Zimmermann 71): »Der christliche Glaube ist […] ein ganz gewisses Erfassen der Wahrheit Gottes, die in der Heiligen Schrift und im Apostolischen Glaubensbekenntnis dargelegt ist, ja Gottes selbst als des höchsten Gutes und besonders der göttlichen Verheißung, und Christi, der der Inbegriff aller Verheißungen ist.« 80 Siehe oben, Kap. III.1.2. Vgl. auch Berkouwer, Sin, 180: »The real sense of the law is only understood when we see the law as the law of the Lawgiver, or the God of the covenant and of gracious election.« 78

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Gesetz Gottes« komme.81 Es ist aber zugleich zu bedenken, dass, wer hier auf diese Weise spricht, dies nur im Lichte seiner Antwort auf die erste Frage tun kann: »Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre […].«82 Erst im Glauben an Christus kann das Gesetz als »Spiegel« fungieren, in dem der Glaubende seine Sünde erkennt.83 Andererseits wird der Zusammenhang von Christusglauben und Sündenerkenntnis aus dem Gesetz heraus dadurch bestätigt, dass die Bedeutung der Antwort auf die dritte Frage unter Heranziehung des jesuanischen doppelten Liebesgebots (Mt 22,37–40 parr.) expliziert wird: »Was fordert denn Gottes Gesetz von uns? Dies lehrt uns Christus mit folgenden Worten […]«.84 Nur wer Christus im Glauben erkannt hat, kann vom Gesetz seiner Sünde überführt werden, weil Christus selbst derjenige ist, in dem sich die ursprüngliche Bedeutung des Gesetzes erschließt. Geschieht wahre Sündenerkenntnis im Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser, so ruft sie ferner unumgänglich Reue hervor: »Jedoch, Herr, wir haben Missfallen an uns selbst, weil wir dich beleidigt haben, wir verurteilen uns und unsere Laster mit wahrhaftiger Reue.« Wahrhaftige Reue bestehe darin, dass die Glaubenden angesichts ihrer Sünde von »göttlicher Traurigkeit« (2Kor 7,10) erfüllt sind, sodass sie »nicht etwa bloß vor der Strafe erschrecken, sondern vor der Sünde selbst Haß und Abscheu empfinden«.85 Reue stellt allerdings nach reformiertem Verständnis kein »Werk« des Menschen dar. Vielmehr gründet die Möglichkeit eines solchen Hasses gegen die Sünde genauso wie die Sündenerkenntnis selbst, deren die so verstandene Reue gleichsam eine »Begleiterscheinung« ist, im Glauben: »Alle aber, die diese Wohltat [Christi] wahrhaft anerkennen, können nicht anders als die Sünde hassen.«86 Deshalb unterscheidet sich die »gottgewollte Betrübnis« über die Sünde grundsätzlich sowohl von der »Betrübnis der Welt« (2Kor 7,10)87 als auch von jener »Zerknirschung« (contritio), die nach römisch-katholischer Lehre eine notwendige »Bußleistung« im Blick auf den Empfang der Vergebung darstellt.88 Reue ist demzufolge – ebenso wie die Sündenerkenntnis, aus der sie folgt, und der Glaube an Gott den Schöpfer und Erlöser, in dem beides gründet – ein 81

Heidelberger Katechismus, 10 [Frage 3]. A. a. O., 7 [Frage 1] (Hervorhebung, LB). 83 Vgl. Berkouwer, Sin, 182. 84 Heidelberger Katechismus, 10 [Frage 4] (Hervorhebung, LB). 85 Calvin, Institutio 3.3.7 (Weber 381). 86 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 334). 87 Vgl. a. a. O. (Schriften IV 327). 88 Calvin, Institutio 3.4.2 (Weber 400; OS IV 88,5–17); Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 328). 82

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Werk Gottes: »Mit dieser wahren Gottesfurcht ist die Betrübnis über die begangenen Sünden verbunden, die aus dem Geist Gottes kommt.«89 Kommt nun aber wahrhaftige Reue aus dem Glauben, so ist sie von der Gewissheit nicht zu trennen, dass sich Gott mit den Menschen in Christus versöhnt hat. Die »Betrübnis über die Sünde« mündet deshalb immer in ein Verlangen nach Erneuerung, wie das Sündenbekenntnis aus der Genfer bzw. Straßburger Liturgie betont: »Jedoch, Herr, wir haben Missfallen an uns selbst […] und wir sehnen uns danach, dass deine Gnade unserem Elend abhelfe.« So erscheint die Sündenerkenntnis – dieses erste anamnetische Moment der Umkehrliturgie – als gleichsam in den Glauben eingehüllt zu sein: Aus dem Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser kommt Erkenntnis der Sünde, diese wird wiederum von wahrhaftiger Reue begleitet und mündet schließlich in den Glauben an Gott den Heiligenden und Vollender: Wenn wir uns nun vor seiner ewigen und hochheiligen Majestät demütigen, erkennen wir die Sünden, die uns durch das Wort Gottes vorgehalten werden, und wir erkennen, dass nichts in uns gesund und unversehrt ist. Wir begehren aber, mit Gott versöhnt zu werden, und weil dies nur durch unsern Herrn und Mittler Christus geschehen kann, ergreifen wir den Sohn Gottes im Glauben, durch den wir von allen Sünden befreit worden sind und vor Gott heilig und gerecht erscheinen.90

Die Erwähnung des Verlangens nach der Gnade Gottes am Ende des ersten, anamnetischen Teils des Sündenbekenntnisses nimmt das zentrale Thema der darauffolgenden Bitte um Erneuerung (Epiklese) vorweg. Bevor wir uns diesem zweiten Teil zuwenden, ist es aber notwendig, genauer auf das Sündenverständnis einzugehen, das im vorliegenden Gebet impliziert wird. 2.1.2 Exkurs: Was ist »Sünde«? Eine reformierte Perspektive Was ist unter der »Sünde« zu verstehen, die im Gebet aus der Genfer/Straßburger Liturgie bekannt wird? Die Antwort auf diese Frage ist im Gebet selbst bereits enthalten: »Nous confessons […] que nous sommes […] enclins a` mal faire«.91 Die Ursünde wird hier in knapper und prägnanter Gebetssprache als ein Geneigt-Sein zum Bösen und somit gleichzeitig als ein Abgewandt-Sein von Gott und seinem guten Willen qualifiziert. In dieser Qualifizierung der Ursünde begegnet uns in der Tat ein grundlegendes Merkmal des reformierten Sündenverständnisses, welches seit der Reformationszeit die Reflexion auf die 89 90 91

Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 326) (Hervorhebung, LB). Ebd. (Schriften IV 334). Calvin, Formes des prieres (OS II 18,22–25).

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Natur der Ursünde charakterisiert hat. Im Folgenden gilt es, die verschiedenen Facetten des reformierten Verständnisses der Sünde als »Geneigtheit« (inclinatio) zu reflektieren und auf die Wirkungsgeschichte dieses Ansatzes hinzuweisen. Die Analyse erhebt keineswegs den Anspruch, eine vollständige Hamartiologie darzustellen, sondern soll lediglich zu einem besseren Verständnis der Frage verhelfen, was genau – nach reformierter Auffassung – die versammelte Gemeinde im Gottesdienst als ihre »Sünde« bekennt.92 2.1.2.1 Die Anfänge reformierter Hamartiologie und deren Grundzüge In der reformierten theologischen Literatur des 16. Jahrhunderts lässt sich die allgemeine Tendenz beobachten, die Ursünde als verkehrtes Ausgerichtet-Sein des Menschen im Verhältnis zu Gott und damit auch zu seiner ursprünglichen Bestimmung zu beschreiben.93 So schreibt etwa Calvin, dass nach Adams Fall die Menschen vom »Ziel [ihrer] Erschaffung […] gänzlich abgewandt [aversi] sind«.94 Bei Bullinger begegnen ähnliche Aussagen: »Unser ganzes Gemüt neigt [propendet et proclivis est] zu Irrtümern, Fabeleien und zu unserem Verderben«;95 »durch sie [die Sünde] sind wir […] abgewandt [aversi] vom Guten, aber geneigt [propensi] zu allem Bösen«.96 Der Heidelberger Katechismus beschreibt die Menschen wiederum als »geneigt, Gott und [den] Nächsten zu hassen«,97 und Zacharias Ursinus erklärt in seinem Kommentar dazu, dass die Ursünde eine »Neigung [inclinatio] zu den Dingen, die das Gesetz Gottes verbietet, sowie eine Abwendung [aversio] von denjenigen, die Gott gebietet«, darstellt.98 Im Gegensatz zur römisch-katholischen Dogmatik, die zwar die Präsenz im Menschen einer solchen »Neigung« anerkannte, diese aber als eine Beschaffenheit menschlicher Natur und damit als an sich nicht »sündhaft« betrachtete,99 insistierten die Reformierten darauf, dass die 92 Ebenso wenig besteht die Absicht der folgenden Erläuterungen darin, das Verständnis der Sünde als verkehrte inclinatio als die einzig angemessene Auffassung dessen, was Sünde ist, zu präsentieren. Vielmehr geht es darum, auf ein für die reformierte Tradition typisches Sündenverständnis hinzuweisen, welches sich wiederum als hilfreich im Zusammenhang mit der Behandlung der »Buße« in reformierter Perspektive erweist. 93 Diese Auffassung der Ursünde geht ihrerseits auf Augustinus zurück, vgl. Augustinus, De diversis quaestionibus 1,2,18 (CChr.SL XLIV 45,550–552): »Est autem peccatum hominis inordinatio atque peruersitas, id est a praestantiore conditore auersio et ad condita inferiora conuersio.« 94 Calvin, Institutio 2.1.3 (Weber 134). 95 Bullinger, Dekaden 3,10 (Schriften IV 223); ders., Decades 3,10 (Opitz I 468,25 f.). 96 CHP, Kap. 8 (Hildebrandt/Zimmermann 35; Campi 284,31 f.). 97 Heidelberger Katechismus, 11 [Frage 5]. 98 Ursinus, Corpus doctrinae, 46: »Originale peccatum est […] inclinatio ad ea, quae lex Dei vetat, et aversio ab iis, quae praecipit.«

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inclinatio zum Bösen erst in Folge des Sündenfalls aufgetreten sei und dass sie die Ursünde selbst sei.100 Nach reformierter Lehre eignen der Ursünde als verkehrter »Geneigtheit« menschlicher Natur drei Charakteristika. Erstens ist die Sünde nicht in einem Teil des Menschen – wie etwa den »niedrigen Seelenkräften« oder gar dem Leib – lokalisierbar, sondern betrifft und verdirbt den ganzen Menschen. Die »erbliche Zerrüttung und Verderbnis unserer Natur« ist »in alle Teile der Seele hineingedrungen«, sodass »der ganze Mensch, Verstand und Wille, Seele und Fleisch, von dieser Begehrlichkeit befleckt und erfüllt« ist.101 Zweitens, obwohl die Sünde den ganzen Menschen bis ins Innerste seines Wesens affiziert, ist sie dennoch mit Letzterem nicht identisch: Es ist zwar richtig, daß diese verderbliche Wunde nun der Natur anhaftet; aber es ist von großer Wichtigkeit, ob sie von außen hereingekommen oder ob sie vom Ursprung her bereits dagewesen sei. […] Wir sagen also, daß der Mensch von natürlicher Lasterhaftigkeit verdorben ist, die aber doch nicht aus der Natur herkommt! Wir leugnen ihre Herkunft aus der Natur, um damit anzuzeigen, daß sie eine hinzukommende Eigenschaft [adventitia qualitas] darstellt, die dem Menschen zugestoßen ist, und nicht etwa eine wesensmäßige Eigentümlichkeit [substantialis proprietas], die ihm etwa von Anfang angeboren gewesen wäre.102

Die Sünde ist somit parasitär: Als inclinatio besteht sie in einer schöpfungswidrigen Entstellung der menschlichen Natur. Dass es sich bei der Ursünde eben um eine Entstellung und nicht um eine totale Vernichtung der »Substanz« des Menschen – so wie diese von Gott ursprünglich geschaffen worden war – handle, betonten die Reformierten später vor allem in Abgrenzung von der Lehre des Lutheraners Matthias Flacius Illyricus (1520–1575). Dieser hatte nämlich den mit 99 Vgl. Konzil von Trient: Dekret über die Ursünde, § 5 (DH, Nr. 1515): »Hanc concupiscentiam […] sancta Synodus declarat, Ecclesiam catholicam numquam intellexisse, peccatum appelari, quod vere et proprie in renatis peccatum sit, sed quia ex peccato est et ad peccatum inclinat.« 100 Calvin, Institutio 3.3.10 (Weber 383; OS IV 66,7–9): »Ich […] halte auch das für Sünde, daß der Mensch überhaupt von irgendeiner Begierde [cupiditas] gegen Gottes Gesetz aufgestachelt wird.« Vgl. Polanus, Syntagma 6,3, 336b: »Malum, quod in locum boni originalis successit, […] nominatur a Paulo apostolo (Rom. 7,7) concupiscentia seu cupiditas, quae […] est formaliter ipsum peccatum originale«; Bucanus, Institutiones 16,31, 163 f.: »Concupiscentia vero non est naturalis appetitio cibi, potus, generationis et delectationis in sensibus […] nec motus cordis, ut sunt affctus […]; sed est propensio omnium virium ad faciendum ea, quae lege Dei prohibentur.« 101 Calvin, Institutio 2.1.8 (Weber 139). Vgl. Polanus, Syntagma 6,3, 336b: »[Peccatum originale] non est tantum inordinatio inferiorum animae virium […], sed etiam mentis ipsius nostrae […] ac proinde et supremae potissimaeque partis animae et facultatum eius inclinatio atque propensio insana ad omnem impietatem et iniustitiam.« 102 Calvin, Institutio 2.1.10 f. (Weber 140 f.; OS III 240,6–20).

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dem Sündenfall einhergegangenen Verlust der imago Dei als eine wesensmäßige Veränderung des Menschen interpretiert, welche zur Entstehung einer neuen, verdorbenen Substanz, der imago Satanae, geführt habe. Dass Flacius darüber hinaus das Wirken des Teufels bei der Entstehung der neuen substanziellen Form im Menschen sogar als ein »condere« (Schaffen) beschrieb, wurde sofort als eine zumindest implizite Befürwortung der alten manichäischen Häresie betrachtet. Entgegen der Position des Flacius knüpften die reformierten Theologen entweder an die Terminologie Calvins – Sünde als adventitia qualitas103 – an oder definierten das peccatum originale als ein Akzidenz, das zwar die Natur verdirbt, diese aber weder wesensmäßig verändert noch vernichtet: Es lässt sich dennoch nicht folgern, dass die Ursünde Substanz oder das wesensmäßige Ebenbild des Teufels oder die Seele selbst oder das Herz selbst des Menschen sei. […] Denn die Ursünde wohnt dem Menschen inne wie ein Akzidenz dem Subjekt: Diese [d. h. Subjekt und Akzidenz] sind im verdorbenen Menschen zwar nicht voneinander zu trennen, müssen jedoch unterschieden werden. […] Adam blieb nach dem Sündenfall dasselbe natürliche Wesen erhalten, welches er davor besaß, und er war immer noch Mensch. Unser Wesen wird folglich weder durch die Sünde noch durch die Gnade in ein anderes verwandelt, auch wenn es von dem Bösen verderbt und vom Guten vervollkommnet wird.104

Eine solche Hervorhebung der nicht-substanziellen Natur der Ursünde ließ sich einerseits gut mit der traditionellen, auf Anselm von Canterbury zurückgehenden105 Definition der Ursünde als »Mangel an Urgerechtigkeit« (carentia iustitiae originalis) verbinden.106 Andererseits – und das ist das dritte Charakteristikum reformierter Ursündenlehre – waren die reformierten Theologen sehr darauf bedacht zu betonen, dass die Ursünde nicht bloß ein Mangel, sondern eben eine »Geneigt103 Bucanus, Institutiones 16,28, 163: »Nec [peccatum] substantialis est proprietas aut aliquid substantiale in homine; sed est adventitia qualitas, quae tamen naturalis dicitur, non quod a natura fluxerit (quatenus creata est), sed quia hereditario iure, ut dicitur, suos comprehensos tenet et in ipsa hominis natura, viribus et facultatibus naturalibus inhaeret et ipsi homini innata est.« 104 Polyander et al., Synopsis 15,23 (Bavinck 127 f.): »Nec tamen propterea sequitur [originale peccatum] esse substantiam vel substantialem imaginem diaboli in homine aut ipsam animam aut ipsum cor hominis. […] Quod in homine haeret velut accidens in subiecto: quae etsi in homine corrupto non sint divellenda, distinguenda tamen asserimus. […] Et Adamus post peccatum eandem naturae suae essentiam retinuit, quam ante habuit, idemque homo fuit. Nostra autem essentia neque peccato neque gratia in aliam mutatur essentiam, etiamsi vel inficiatur malo vel perficiatur bono.« 105 Vgl. Anselm von Canterbury, De conceptu virginali 6, 147: »[Peccatum originale] est absentia debitae iustitiae.« 106 Diese Definition zitieren sowohl Bullinger als auch Calvin zustimmend, vgl. Bullinger, Dekaden 3,10 (Schriften IV 215); ders., Decades 3,10 (Opitz I 464,5–7); Calvin, Institutio 2.1.8 (Weber 139; OS III 238,4 f.).

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heit«, ein aktiver Impuls ist, im Widerspruch zu Gottes gutem Willen für seine Schöpfung zu handeln. Diese Verkehrtheit ist in uns niemals müßig, sondern bringt ohne Aufhören neue Früchte hervor, nämlich jene […] Werke des Fleisches – gleichwie ein Schmelzofen, der einmal angezündet ist, nun Flammen und Funken von sich gibt, oder eine Quelle das Wasser ohne Aufhören aus sich hervorsprudelt.107

Die Ursünde sei folglich als »tätige Entbehrung« (actuosa privatio) anzusehen, »durch die das Handlungsprinzip sowie die Handlung selbst, die es hervorbringt, ihrer Richtigkeit [rectitudo] beraubt werden«.108 Anders als etwa die Blindheit, welche bloß negativ ist, ist die Ursünde eine »geschäftige« (negotiosa), gar »rasende« (furiosa) Entbehrung, die »zwar jede Kraft zum guten Handeln wegnimmt, aber andererseits die menschlichen Vermögen gleichsam vergiftet und diese zum Bösen lenkt und verzerrt [inclinat et distorquet]«.109 Die soeben skizzierte Lehre von der Ursünde als inclinatio ad malum, die den ganzen Menschen affiziert, ohne aber seine »Substanz« zu vernichten, und an sich nicht bloß einen Mangel, sondern ein aktives verzerrendes Prinzip darstellt, prägte im 16. und 17. Jahrhundert grundsätzlich das reformierte Sündenverständnis. Dass sie bis in die Gegenwart hinein weiter wirken konnte, verdankt man nicht zuletzt dem niederländischen reformierten Theologen Abraham Kuyper sowie der auf ihn und seinen Schüler Herman Dooyeweerd zurückgehenden Strömung der sogenannten »Reformational Philosophy«.110 2.1.2.2 Weiterführung: Abraham Kuyper (1837–1920) und sein Erbe Im zweiten Band seiner dreibändigen, zwischen 1888 und 1889 erschienenen Abhandlung Het Werk van den Heiligen Geest bespricht Kuyper die Ursündenlehre in Auseinandersetzung mit der Position Eduard Böhls (1836–1903).111 Sowohl in seiner Schrift Von der Incar107

Ebd. (Weber 139; OS III 237,32–238,3). Polyander et al., Synopsis 16,8 (Bavinck 135 f.): »Peccatum vero actuosa privatio est, qua principium agens atque ipsa actio ex eo profecta privatur sola rectitudine, cum principii ipsius corruptione, non ablatione […]. Unde fit, ut peccatum non tantum negative, sed et affirmative enuncietur a Scriptura et efficacia illi tribuatur, sanctitati et iustitiae contraria atque inimica (Rom. 8,7; Gal. 5,17).« 109 Heidegger, Corpus theologiae 10,48, Bd. 1, 348b–349a: »Formalis ratio peccati […] in privatione iustitiae operosa et in malo vivido consistit. […] Non est privatio omnis actionis expers aut quae vires agendi nullas relinquat, qualis est caecitas; verum operosa, negotiosa, furiosa, quae vires quidem bene agendi tollit, at de cetero affectas quasi veneficio suo facultates ad male agendum inclinat et distorquet.« 110 Siehe auch oben, Kap. II.1.2.2.1. 111 Böhl war zwischen 1864 und 1899 Professor für Reformierte Dogmatik und Symbolik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien, vgl. Schirrmacher, Einführung, 20–22. 108

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nation des göttlichen Wortes (1884) wie auch in seiner Dogmatik (1887) hatte Böhl die Ansicht vertreten, dass der Sündenfall gar keine Veränderung in der menschlichen Natur bewirkt hätte. Dies bedeutete für ihn, dass nicht nur die flacianische Rede einer Vernichtung menschlichen Wesens, sondern auch jegliche Vorstellung einer Verderbnis oder Entstellung der Natur des Menschen abzulehnen sei.112 Die Hauptfolge des Sündenfalls sei vielmehr der Verlust der »Urgerechtigkeit« gewesen, die Böhl als ein donum superadditum und als eine Art ordnendes, die verschiedenen Kräfte und Vermögen des Menschen zusammenhaltendes Prinzip betrachtet. Aufgrund der Entfernung dieses Ordnungsprinzips fiel der Mensch seiner natürlichen »Wandelbarkeit«113 anheim, was wiederum dazu führte, dass »die Leibes- und Seelenkräfte […] geschwächt [wurden] und in Disharmonie untereinander« gerieten.114 Der Unterschied zwischen dem prä- und postlapsarischen Zustand besteht somit Böhl zufolge bloß in der Tatsache, dass der Mensch nun jenes gottgegebenen Prinzips – der »Urgerechtigkeit« – ermangelt, das seine natürliche »Wandelbarkeit« gleichsam in Schranken hielt und damit auch seine »disharmonische« Entwicklung verhinderte. Kuyper stimmt seinerseits zwar zu, dass die Sünde keine ontologisch positive Größe sei, betont aber zugleich, dass ihre Wirkung nicht bloß negativ, sondern positiv zu denken sei: »Obwohl die Sünde ihrem Wesen nach nichts als eine Entbehrung ist und in keinerlei Hinsicht etwas Selbständiges darstellt, hat sie fürwahr in ihrer heillosen Wirkung positive Folgen.«115 Denn die Sünde entfaltet im Menschen eine destruktive Wirkung, die sein ganzes Wesen affiziert und korrumpiert.116 Wie kann nun aber diese Betonung der destruktiven Macht der Sünde mit der von Kuyper durchaus geteilten Ansicht, dass auch der sündhafte Mensch Geschöpf bleibt, versöhnt werden? Die Antwort findet Kuyper in der traditionell reformierten Definition der Ursünde als inclinatio. Die menschlichen Vermögen sind zwar nach dem Sündenfall erhalten geblieben, aber aufgrund des grundsätzlichen Abge112 Böhl, Von der Incarnation, 29: »Wenn wir nun die Creatur aus jenem Stande hinausgetreten denken, so bleibt diese Creatur intact.« 113 Böhl, Dogmatik § 37, 203. 114 A. a. O. § 47, 251. 115 Kuyper, Werk, Bd. 2, 81: »De zonde, hoewel naar heur wezen niets dan een berooving en in geen enkel opzicht een zelfstandigheid, niettemin wel waarlijk positieve gevolgen heeft in haar heillooze werking.« 116 A. a. O., 82: »Er is niets dan ontstentenis, berooving, ontblooting, wat haar wezen aangaat. Maar juist krachtens die ontstentenis, berooving en ontblooting heeft ze tengevolge, dat er een vernielende, bedervende, sloopende, vergiftigende werking naar ziel en lichaam, in ’s menschen heele natuur en aanzijn ontstaat, waardoor de zondaar wel geen oogenblik ophoudt mensch te zijn, maar dan toch als mensch zich onder de macht des verderfs voelt gebonden.«

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wandt-Seins des Geschöpfes von seinem Schöpfer wirken sie in destruktiver Weise, sodass der gefallene Mensch mit einem entgleisten Zug vergleichbar ist, der durch seine eigene Geschwindigkeit zerstört wird.117 Die Ursünde als verkehrtes Geneigt-Sein des Menschen stelle somit nicht bloß einen Mangel, sondern ein »positives Übel« (positief kwaad), eine »böse Macht« (booze macht) und eine »verkehrt wirkende Kraft« (kracht in omgekeerde werking) dar,118 die wie ein Krebs nicht nur einen »Gesundheitsverlust«, sondern auch eine positive Verderbnis mit sich bringt.119 Deutliche Spuren des Einflusses von Kuypers theologischer Anthropologie sind in den Schriften namhafter Theologen, die sowohl in der Niederlande – und dort besonders an der von Kuyper gegründeten Vrije Universiteit in Amsterdam – als auch in Nordamerika wirkten, zu erkennen. So betont etwa Herman Bavinck (1854–1921) in seiner Gereformeerde Dogmatiek (4. Auflage 1911),120 dass jegliche Reflexion auf die Natur der Sünde zwei entgegengesetzte Gefahren zugleich abwehren soll. Einerseits darf der Sünde keine ontologische Selbständigkeit zugeschrieben werden: »Sin cannot have its own principle and its own independent existence; it only originated after and exists only by and in connection with the good.«121 Die Sünde sei somit sowohl bezüglich ihres Daseins als auch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit vom »Guten« abhängig und erweise sich gleichsam als »parasitär«.122 Andererseits wäre indessen eine bloß negative Beschreibung der Sünde als »Mangel« (carentia) oder als »Entbehrung« (privatio) ebenso unangemessen. Denn sie stellt vielmehr ein »aktives und verderbendes Prinzip« sowie eine »destruktive Macht« dar.123 Um zu erklären, wie die Sünde wirksam sein kann, obwohl sie keine ontologische Selbständigkeit besitzt, rekurriert Bavinck auf die Definition der Sünde als 117 A. a. O., 87: »Gelijk een trein, die ontspoort, juist door de vaart, die er in zat, zichzelf verderft, zoo ook verderft een mensch, die ontspoort, d. i. die uit het spoor van Gods wet schiet, zichzelven door zijn eigen vaart en werking.« 118 A. a. O., 83. 119 A. a. O., 81: »Evenzoo is het met de kanker, met de pokziekte en zoo menige andere kwaal. Ook deze ziekten toch zijn niet maar een gemis van gezondheid en ontstentenis van welzijn, maar eenmaal in ons geopenbaard, loopen ze uit op een zeer positieve werking, die het cellenweefsel verbreekt, zelfstandige formatie tot aanzijn roept, en het lichaam positief verderft.« 120 Im Folgenden wird aus diesem Werk nach der durch die »Dutch Reformed Translation Society« besorgten englischen Übersetzung (Bavinck, Reformed Dogmatics) zitiert. 121 Bavinck, Reformed Dogmatics, Bd. 3, 138. 122 A. a. O., 139. 123 A. a. O., 137: »On the other hand, it is also clear that sin cannot be adequately described with the concept of privation. Certainly it is not a mere lack, pure nonbeing, but an active and corrupting principle, a dissolving, destructive power.« Vgl. ebd., 138: »[Sin is] a defect that includes a tendency.«

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inclinatio. In Folge des Sündenfalls sei der Mensch mit all den Vermögen und Eigenschaften, die Gott ihm bei seiner Erschaffung verlieh, von Gott abgewandt und laufe damit der eigenen Zerstörung entgegen.124 Der Mensch existiert zwar immer noch als solcher, aber sein gesamtes Dasein ist nun »deformiert«125 und wirkt entsprechend: As a result of the fall, accordingly, human beings have not just lost an inessential addition to their nature (a superadded gift), while for the rest their nature remained intact; nor did they become devils who, incapable of being re-created, can never again display the features of the image of God. Instead, while they remained essentially and substantially the same, that is, human, and kept all their human components, capacities, and powers […], the set and direction of all these capacities and powers were so changed that now, instead of fulfilling the will of God, they fulfill the »law of the flesh«.126

Auch der Systematiker Gerrit Berkouwer (1903–1996) war überzeugt, dass die entscheidende Frage einer biblisch fundierten Anthropologie nicht diejenige nach der »Natur« des Menschen, sondern jene nach der »Ausrichtung« seines Daseins sei: »Man is viewed [in Scripture] in terms of his total life-direction.«127 Dies gilt in Bezug sowohl auf die Definition von »Sünde« als auch auf das Verständnis der »Erneuerung«, die der Mensch in Christus erfährt. Beides darf nicht als eine substanzielle Veränderung der Kreatur »Mensch« verstanden werden, sondern ist als Modifikation der Gesamtausrichtung seiner Existenz zu betrachten.128 Die Tatsache, dass in der reformierten theologischen Literatur immer schon von »Resten« der imago Dei im gefallenen Menschen gesprochen wurde,129 ist Berkouwer zufolge als Versuch anzusehen, die ontologische Identität des Menschen vor und nach dem Sündenfall zur Sprache zu bringen. Dies bedeutet freilich nicht, dass in einer solchen Perspektive die Sünde bagatellisiert würde. Vielmehr wird ihre deformierende, pervertierende und destruktive Kraft130 nur 124

A. a. O., 139. A. a. O., 137. 126 A. a. O., 140 (Hervorhebungen, LB). 127 Berkouwer, Sin, 241 (Hervorhebung, LB). Vgl. ders., Conflict with Rome, 101: »In the Reformed conception everything is concentrated on the ›direction‹ of the whole of life, namely, in man’s wandering away from God or going up to him.« 128 Berkouwer, Sin, 260: »The biblical witness precludes the notion of sin as ›substantial‹, since sin has no part in creaturely reality«; ders., Image of God, 127: »In this turning away from God he still remained man and did not escape […] the endowments still bestowed on him«; a. a. O., 99: »The mighty change which in Christ comes over human nature […] is not a change in the sense of a ›transubstantiation‹, a change from one essence to another. […] The new man is knowable in the new direction of his life.« 129 Vgl. Calvin, Institutio 2.2.12 (Weber 151; OS III 255,16–18); Confessio Belgica, Kap. 14 (Busch 350,25). Vgl. Mallinson, Faith, Reason, and Revelation, 115–117. 125

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insofern erfasst, als der gesamte Mensch qua Geschöpf und mit all den Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihm Gott verliehen hat, als radikal und gänzlich von Gott abgewandt erkannt wird: Man acts as apostate and inimical to God not without these endowments but with them. And thus the concept of »remnants« in the confessions does not connote a quantitative reduction of the power of sin, or an only partial corruption, which would correspond with a partial salvation, but rather an activity in and with these endowments […]. Man’s life is not »relatively« good, so that we can fall back, with one or another subtle distinction, on man’s essence as contrasted to his nature. For it is exactly man himself, in the fullness of his whole life, who with all his endowments, is involved in this alienation from God.131

Diese Konzentration auf die Frage nach der »Ausrichtung« menschlichen Daseins im Rahmen der theologischen Reflexion auf den Menschen betrachtet Berkouwer als typisch für die reformierte Tradition,132 wobei das besondere Verdienst Abraham Kuypers und später Herman Dooyeweerds darin bestanden habe, erneut darauf aufmerksam zu machen.133 Die Fruchtbarkeit einer solchen Position wird Berkouwer zufolge nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Debatte über die vermeintliche Präsenz im Menschen eines sogenannten »religiösen A-priori« deutlich. Denn der Kuypersche Ansatz erlaube, die Ansichten Troeltschs, die die Sünde letztlich bagatellisierten, abzulehnen, ohne aber dem entgegengesetzten Extrem – Barths Definition der Sünde als »ontologische Unmöglichkeit des Menschseins«134 – anheimzufallen. Geht man davon aus, dass die gesamte Schöpfung und der Mensch im Speziellen auch nach dem Sündenfall in Beziehung zu Gott stehen, dass diese Beziehung aber in ihrer Ausrichtung eine gänzlich »apostatische« sei, so wird man im Stande sein, einerseits an der radikalen und irreduziblen Antithese zwischen wahrer und falscher Religion festzuhalten, andererseits Letztere als Perversion, nicht als Vernichtung der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf zu betrachten.

130 Berkouwer, Sin, 262: »Sin is the act in which we […] abuse the reality created by God.« 131 Berkouwer, Image of God, 128; vgl. a. a. O., 129–132: »Reformed theologians did not isolate the concept of ›remnants‹ of the image, but rather held that these were included and involved in man’s responding to God by rebellion and alienation. […] Human nature is indeed corrupt in all its powers, but there is no transformation into another substance.« 132 Berkouwer, Conflict with Rome, 101: »The moment of ›direction‹, of the being directed of man in obedience or apostasy […] was decisive for the entire way of Reformed thought about man after the fall.« 133 Berkouwer, General Revelation, 165; 168. 134 KD III/2, 162; vgl. Berkouwer, General Revelation, 163.

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We could, then, speak in a certain sense of a point of contact. But not of a point of contact that forms a »pre« to grace or conversion or a »pre« in the sense of a disposition to believe. »The activity of apostate faith as such offers us no point of contact for the development of the Christian faith. First the religious root of human existence itself must be reversed if faith is going to be a useful organ for hearing the Word of God.«135 This radical reversal of the direction of faith is impossible for fallen human nature.136

Schließlich sei hier noch auf den neueren hamartiologischen Entwurf des am Calvin Theological Seminary tätigen Systematikers Cornelius Plantinga hingewiesen.137 Obwohl bei Plantinga explizite Verweise auf Kuyper gänzlich fehlen, verrät die Gesamtanlage der Studie die Verwandtschaft zwischen seinem Ansatz und der neo-calvinistischen bzw. allgemein reformierten Tradition. So wird die Sünde grundsätzlich als Abgewandt-Sein von Gott138 und als eine die gute Schöpfung Gottes korrumpierende Macht betrachtet,139 die das »Schalom« Gottes »verwüstet«.140 Die Perversität der Sünde komme besonders darin zum Ausdruck, dass sie alle Fähigkeiten und Vermögen des Menschen verderbe141 und gerade durch sie gedeihe: »Sin is fruitful just because, like a virus, it attaches the life force and dynamics of its host. Sowing and reaping, human longing, children’s natural trust of their parents – such things belong among the springs and roots of a good creation. Sin does not remove these things; it attaches them and converts them to new uses.«142 2.1.2.3 Jenseits der Theologie: Der Einfluss reformierter Hamartiologie auf die »Reformational Philosophy« Das Erbe Kuypers entfaltete seine Wirkung jedoch nicht nur unter Theologen, sondern auch in anderen kulturellen Kreisen. So entwickelte sich auf der Grundlage von Herman Doyeweerds philosophischem Werk etwa eine Denkschule, die als »Reformational Philosophy«143 bezeichnet wird und sowohl in den Niederlanden als auch in den Vereinigten Staaten von Amerika sowie in Kanada zahlreiche Vertreter gefunden hat. Grundlegend ist für diese Denkschule die Idee, dass jedes theoretische Unterfangen als methodisch kontrollierte Untersuchung eines Gegenstandes von einem prätheoretischen »Grund135 136 137 138 139 140 141 142 143

Dooyeweerd, New Critique, Bd. 2, 310. Berkouwer, General Revelation, 169. Plantinga, Not the Way It’s Supposed to Be. A. a. O., 69. A. a. O., 30. A. a. O., 89: »Sin does not build shalom; it vandalizes it«. A. a. O., 2. A. a. O., 90. Vgl. dazu auch oben, Kap. II.1.2.2.1.

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motiv« geprägt sei. Jedes Grundmotiv sei wiederum »einer spirituellen Dynamik vergleichbar, die sich darin ausdrückt, wie wir uns selbst und unsere Welt im Verhältnis zu dem verstehen, was wir als den Grund und Ursprung von allem Wirklichen und Möglichen betrachten«.144 Die Reformational Philosophy entwickelt nun ihr Wirklichkeitsverständnis bewusst auf der Basis des »christlichen« bzw. »biblischen Grundmotivs« von »Schöpfung, Fall und Erlösung durch Jesus Christus in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes«145 und in ebenso bewusster Kontinuität mit dem »calvinistischen« Verständnis dieses Grundmotivs. Letzteres zeichne sich dadurch aus, dass jedem Aspekt des biblischen Grundmotivs eine »universale, allumfassende Bedeutung« beigemessen wird.146 »Calvinismus« wird in diesem Kontext allerdings nicht so sehr als Corpus theologischer Lehren, sondern vielmehr als eine »Weltanschauung« betrachtet, d. h. als eine durch das »biblische Grundmotiv« bestimmte Sicht auf die gesamte Wirklichkeit.147 Die zwischen Reformational Philosophy und der auf Kuyper zurückgehenden neo-calvinistischen Tradition bestehende Kontinuität zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Bedeutung des »Falls«, der rebellischen Entfremdung des Menschen und der gesamten Schöpfung von Gott,148 anhand der Unterscheidung zwischen »Schöpfungsstruktur« und »-ausrichtung« reflektiert wird. Diese betrachtet etwa Albert Wolters als eine von fünf »kategorialen Unterscheidungen«, die dem gesamten Projekt der Reformational Philosophy zugrunde liegen: »Structure« refers to the created cosmos as it was meant to be; »direction« refers to that cosmos as it is misdirected by sin and redemptively redirected by Christ. Because sin and redemption, in the Calvinist understanding, are cosmic in scope, this distinction holds in principle for all of the earthly creation, including natural, cultural and societal life as well as morality and piety. Here the Calvinist stress on the radical and comprehensive scope of man’s Fall, as well as the equally radical and comprehensive scope of Christ’s redemption, finds expression in a succinct categorial formulation. At the same time, this fundamental distinction reflects the basic Calvinist intuition that salvation is re-creation, that is, that grace does not destroy or supplement, but rather restores nature.149

144

Corrodi, Christlich-reformierte Philosophie, 197. Dooyeweerd, Roots, 28. 146 Wolters, Dutch Neo-Calvinism, 116. 147 Ebd. 148 Vgl. Chaplin, Dooyeweerd, 48: »The fall is essentially a radical rupturing of humankind’s religious relationship to God, a rebellion against the reign of his law, the original act of apostasy.« 149 Wolters, Dutch Neo-Calvinism, 122. 145

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Knüpft die Reformational Philosophy mit ihrer kategorialen Unterscheidung von Schöpfungsstruktur und -ausrichtung einerseits an die klassische reformierte Definition der Ursünde als inclinatio an, so macht sie daraus andererseits – vor allem durch die Betonung des »kosmischen Skopus« von »Fall« und »Erlösung« – ein allgemeines hermeneutisches Prinzip, dessen Anwendung gewichtige Folgen zeitigt. Erstens wird die Vorstellung prinzipiell ausgeschlossen, dass es irgendeinen Wirklichkeitsbereich geben könne, der von der Sünde unangetastet geblieben sei. Es lassen sich deshalb weder »heilige« noch »neutrale« Sphären des Lebens ausfindig machen, sondern alle sind im selben Maße von der Sünde als verkehrter Ausrichtung der gesamten Schöpfung betroffen. Zweitens kann die Sünde, obwohl sie die gesamte Wirklichkeit affiziert und deformiert, die Schöpfungsordnung und deren »Normen« nicht zerrütten, denn diese gründen im Schöpfungsakt Gottes selbst und werden von ihm auch nach dem Sündenfall erhalten. Gerade in dieser Erhaltung der Schöpfungsordnung durch Gott gründet die Möglichkeit der Existenz von Institutionen wie Familie, Staat und Kirche sowie die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns im Bereich der Wissenschaften und der kulturellen Entfaltung des Menschen allgemein (z. B. in den Künsten). Damit distanziert sich die Reformational Philosophy von jeglicher radikal pessimistischen Geschichtsauffassung, nach der »Geschichte« bloß als »Zerfall« zu deuten wäre.150 Zugleich ist sie sich aber auch der allumfassenden Auswirkungen des Sündenfalls bewusst, durch die die an sich gute Schöpfung in all ihren Dimensionen deformiert wurde. Deshalb muss der durch Jesus Christus ermöglichten Erlösung – drittens – eine ebenso umfassende Bedeutung zukommen. Kraft seiner aus Gnade erfolgenden Um-Orientierung auf Gott hin kann der Mensch die »Welt« erneut als »Schöpfung« wahrnehmen.151 Mit dieser Gabe verbindet sich die Aufgabe, sich in jedem Bereich des Lebens dafür einzusetzen, dass die nun wiedererkannte Schöpfungsordnung zur Geltung komme: Salvation in Jesus Christ, conceived in the broad creational sense, means a restoration of culture and society in their present stage of development. That restoration will not necessarily oppose literacy or urbanization or industrialization or the internal combustion engine, although these historical developments have led to their own distortions or evils. Instead, the coming of the kingdom of God demands that

150

Chaplin, Dooyeweerd, 50. Wolters, Creation Regained, 83: »Redemption, then, is the recovery of creational goodness […]. We return to creation through the cross.« 151

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these developments be reformed, that they be made answerable to their creational structure, and that they be subjected to the ordinances of the Creator.152

2.1.2.4 Die Spezifizität reformierter Hamartiologie Am Beispiel der Reformational Philosophy lässt sich beobachten, dass die Wirkungsgeschichte der reformierten Auffassung der Sünde als inclinatio ad malum, so wie diese im 16. Jahrhundert entwickelt und im 17. konsolidiert wurde, noch nicht zu Ende gegangen ist. Wie positioniert sich nun aber diese bestimmte Hamartiologie im Panorama heutiger hamartiologischer Entwürfe? Sigrid Brandt hat neulich eine Typologie vorgeschlagen, die zwischen subjektivitätstheoretischen, relationalen und differenztheoretischen Ansätzen unterscheidet.153 Gemessen an Brandts Typologie, entspricht die hier besprochene Sicht insofern dem subjektivitätstheoretischen Typus,154 als Sünde in erster Linie als »Verfassung des Selbst« reflektiert wird. Allerdings wird das Subjekt nicht als »isoliert« oder gar »autark funktionierend« betrachtet,155 sondern von Anfang an als Geschöpf und somit als in einer existenziellen Beziehung zum Schöpfer stehend. Die Unterscheidung zwischen »Schöpfungsstruktur« (bzw. »Natur« oder gar »Substanz«) und »Schöpfungsausrichtung« sowie die damit zusammenhängende Definition der Ursünde als »verkehrte Ausrichtung« menschlichen Daseins werden eingesetzt, um zweierlei zusammenzudenken: den Sündenfall als Verderben bringende Leugnung der Beziehung zum Schöpfer durch das Geschöpf sowie die allein auf dem guten Willen des Schöpfers basierende Erhaltung dieser Beziehung. Die sündhafte Kreatur – der Mensch und mit ihm die ganze Schöpfung (Röm 8,19–22) – ist von Gott abgewandt und dem Bösen zugeneigt, und doch bleibt sie mitten in dieser abgründigen Verderbnis eben Kreatur, denn Gott »gibt das Werk seiner Hände nicht preis«. 2.2 Epiklese: Die Bitte um »droicte penitence« Veuille donc avoir pitie´ de nous, Dieu et Pere tresbening, et plain de misericorde, au Nom de ton Filz Jesus Christ, nostre Seigneur. Et en effaceant noz vices et macules, eslargis nous et augmente de iour en iour, les graces de ton sainct Esprit: afin, que recongnoissant de tout nostre coeur nostre in-

152 153 154 155

A. a. O., 77 f. Brandt, Sünde, 15–19. Vgl. a. a. O., 16. Ebd.

Mögest Du also Erbarmen mit uns haben, Gott und Vater, der Du voller Güte und Barmherzigkeit bist, im Namen deines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn. Lösche unsere Fehler und Makel aus, beschere uns von Tag zu Tag immer mehr die Gnadengaben deines Heiligen Geistes: damit wir von ganzem Herzen unsere Ungerechtigkeit

2. Das Genfer/Straßburger Formular von 1542 iustice, nous soyons touchez de desplaisir, qui engendre droicte penitence, en nous: laquelle nous mortifiant a` tous pechez, produise en nous fruictz de iustice et innocence, qui te soyent aggreables, par iceluy Jesus Christ [ton filz nostre Seigneur, Amen].156

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erkennen und vom Missfallen an uns selbst bewegt werden, welches echte Buße erzeugt. Diese soll uns allen Sünden absterben lassen und in uns jene Früchte von Gerechtigkeit und Unschuld bewirken, die dir angenehm sind, durch ihn, Jesus Christus [deinen Sohn und unseren Herrn, Amen].157

Wie oben erwähnt, erwächst aus der im Glauben stattfindenden Sündenerkenntnis neben der Reue auch ein tiefes Verlangen nach Erneuerung, welches nun in die Anrufung Gottes in Form eines zweigliedrigen Bittgebets mündet. Zunächst bittet die Gemeinde um Erbarmen und Vergebung: »Veuille […] avoir pitie´ de nous, Dieu […]«. Eine solche Bitte – in der der Ruf der kananäischen Frau (Mt 15,22) sowie das Gebet des Zöllners (Lk 18,13) nachklingen – wird genauso wie die Erkenntnis der Sünde, aus der sie gleichsam natürlicherweise hervorgeht, durch den Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser ermöglicht und von diesem getragen. Dies zeigt sich vor allem an der Tatsache, dass die Bitte um Vergebung »im Namen Jesu Christi« formuliert wird. Denn in ihm allein, aufgrund seines Todes und seiner Auferstehung, wird die Wohltätigkeit und Barmherzigkeit Gottes in unüberbietbarer Weise offenbar; in ihm und dank ihm, der der eingeborene Sohn Gottes ist (»ton Filz«), können auch die Menschen als begnadigte Sünder Gott erneut »Vater« nennen: »[…] Pere tresbening et plain de misericorde«. Darauf folgt die zweite Bitte, in der das epikletische Moment des ganzen Gebetes ins Zentrum rückt: »Eslargis nous et augmente de iour en iour, les graces de ton sainct Esprit«. Eine solche Bitte ist ebenso wie die Bitte um Vergebung untrennbar von der wahren Sündenerkenntnis, welche aus dem Glauben entsteht: Wer in Jesus Christus seine Sünde erkennt und sich nach Vergebung und Erneuerung sehnt, weiß auch, dass eine solche Erneuerung Gottes Gabe ist, und wird deshalb »unaufhörlich […] Gott um die Gnade des Heiligen Geistes bitten, dass [er] je länger, je mehr zum Ebenbild Gottes erneuert« werde.158 Epiklese, Anrufung des Heiligen Geistes, ist an dieser Stelle wie auch im Rahmen der Abendmahlsliturgie die Bitte an Gott, dass er das vollziehe, was keine Kreatur zu vollziehen im Stande ist, nämlich Erneuerung und Heiligung. Die Bitte um den Heiligen Geist kann somit mit guten Gründen als die christliche Bitte par excellence betrachtet werden, ist doch der Heilige Geist »die eigentliche und höchste Gabe, die Christus den Seinen 156 157 158

Calvin, Forme des prieres (OS II 18,32–19,4). Calvin, Genfer Gottesdienstordnung, 163,14–22 (leicht überarbeitet). Heidelberger Katechismus, 73 [Frage 115].

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schenkt« (Joh 14,16).159 Zugleich darf aber nicht in Vergessenheit geraten, dass der Heilige Geist, um den gebeten wird, auch derjenige ist, der die Glaubenden zum Beten erst bewegt: Das Gebet wird mit gutem Recht zu den Gaben der Gnade gerechnet. Und wir könnten unseren Gott nicht ernsthaft und von Herzen anrufen, wenn wir nicht durch den Geist Gottes dazu angeregt und angetrieben würden. […] Mag es auch mehrere Gründe geben, welche den Menschen zum Gebet bewegen, so ist doch der wichtigste Ursprung des Gebets der Heilige Geist.160

An der Epiklese wird also eine Zirkularität deutlich, die jedem Gebet eignet.161 Diese kommt im Heidelberger Katechismus besonders prägnant zum Ausdruck. Einerseits heißt es in der Antwort auf Frage 116 (»Warum ist den Christen das Gebet nötig?«), dass »Gott seine Gnade und seinen Heiligen Geist nur denen geben will, die ihn herzlich und unaufhörlich darum bitten und ihm dafür danken«. Wer an dieser Stelle so spricht, hat aber bereits lange davor bezüglich des Heiligen Geistes selbst bekannt: »Er ist auch mir gegeben und gibt mir durch wahren Glauben Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten.«162 Damit erweist sich der Geist Gottes gleichzeitig als Ursprung und Skopus der Epiklese, denn die Glaubenden, die Gott unaufhörlich um die Gabe des Heiligen Geistes bitten sollen, damit er sie erneuert und heiligt, können dies nur deshalb tun, weil der Heilige Geist selbst sie dazu befähigt und bewegt. Was wird nun aber von der besagten täglichen Zunahme der Gnadengaben des Geistes erhofft? Das Gebet fährt fort: »… damit wir von ganzem Herzen unsere Ungerechtigkeit erkennen und vom Missfallen an uns selbst bewegt werden, welches echte Buße [droicte penitence] erzeugt.« Angesichts der Ablehnung des Bußsakraments durch die reformierten Theologen mag die Verwendung an dieser Stelle des Terminus »penitence« zunächst befremden. Blickt man aber auf die reformierte theologische Literatur, so stellt sich heraus, dass etwa Bullinger und Calvin den Begriff paenitentia weiterhin verwendeten. Sie waren aber zugleich darauf bedacht, dessen Bedeutung im Lichte des griechischen Nomens μετα νοια – von dem paenitentia die gängige Übersetzung war – neu zu erschließen. 159

Quervain, Gebet, 60. Bullinger, Dekaden 5,5 (Schriften V 208 f.). Vgl. Calvin, Institutio 3.20.5 (Weber 567 f.). 161 Klooster, Comfort, Bd. 2, 1053, spricht von einer »triple circularity of prayer«: »We need God’s grace and the Holy Spirit in order to pray in the first place; then in prayer we need to ask God for his grace and Holy Spirit; then, enabled by these gifts, we must thank God for giving them.« 162 Heidelberger Katechismus, 35 [Frage 53]. 160

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Während im Neuen Testament μετανοειÄν und εÆ πιστρε ϕειν als Synonyme gelten,163 entwickelte sich im Mittelalter die Tendenz, die lateinischen Verben paenitere und converti eher als Bezeichnungen zweier verschiedener Vorgänge zu betrachten, wobei die paenitentia eine reinigende, sakramentale »Einzelhandlung im Blick auf Einzelvergehen« darstellte.164 Die reformatorische Theologie allgemein sowie die reformierte im Speziellen stellten ihrerseits das spätmittelalterliche Bußverständnis und die damit verbundene Gnadenlehre grundsätzlich in Frage. Dies wird bereits daran deutlich, dass die Reformierten paenitentia und conversio nicht gesondert voneinander betrachteten, sondern die »Buße« (paenitentia) gerade als »Bekehrung« bzw. »Umkehr« (conversio) definierten: Buße [poenitentia] [ist] die wahre Bekehrung [conversio] zu Gott […], durch die wir in wahrer Gottesfurcht demütig werden und unsere Sünden erkennen, den alten Menschen abtöten und geistlich erneuert werden.165 Buße [poenitentia] ist die wahre Hinkehr [conversio] unseres Lebens zu Gott, wie sie aus echter und ernster Gottesfurcht entsteht; sie umfaßt einerseits das Absterben unseres Fleisches und des alten Menschen, anderseits die Lebendigmachung im Geiste.166

Dass die Buße als conversio ad Deum definiert wird, weist unmissverständlich auf den zwischen ihr und der Sünde bestehenden Gegensatz hin. Denn in der Buße vollzieht sich eine der Sünde entgegengesetzte Bewegung: Der Mensch, der in seinem ganzen Dasein vom Schöpfer und Erlöser abgewandt ist, wird neu ausgerichtet, er wird »bekehrt« und »hingekehrt« zu Gott. Dazu ist zweierlei anzumerken. Erstens, wenn Buße wahre Hinkehr zu Gott dem Schöpfer und Erlöser ist, dann kann eine solche Buße nur im Glauben an eben diesen Gott geschehen. Somit bereitet die Buße nach reformiertem Verständnis nicht auf den Glauben vor, sondern »folgt« vielmehr auf ihn und »entsteht« aus ihm.167 Da nun aber der Glaube »seinen Grund allein in der Gnade Gottes und der Barmherzigkeit [hat], die uns in Christus erwiesen worden ist«,168 so ist die als conversio ad Deum verstandene und auf den Glauben folgende Buße selbst eine »Gnadengabe« und ein »einzigartiges Geschenk Gottes«.169 Damit grenzten sich die Refor163

Vgl. ThWNT, Bd. 4, 994. Vgl. Weber, Dogmatik, Bd. 2, 388 f. 165 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 322); ders., Decades 4,2 (Opitz I 524,1–3). 166 Calvin, Institutio 3.3.5 (Weber 380; OS IV 60,2–5). 167 A. a. O. 3.3.1 (Weber 377; OS IV 55,16 f.). 168 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 329). 169 Calvin, Institutio 3.3.21 (Weber 392; OS IV 78,23): »Singulare esse Dei donum Poenitentiam«. Vgl. CHP, Kap. 14 (Hildebrandt/Zimmermann 62; Campi 301,15–17): 164

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mierten einerseits unmissverständlich von der (römisch-katholischen) Vorstellung ab, die Buße sei eine von Menschen, die gesündigt haben, zu erbringende Leistung, weshalb zu ihr auch der Vollzug von »genugtuenden Werken« notwendigerweise gehöre.170 Andererseits scheint jedoch zwischen dieser Betonung des Gabencharakters der Buße als Frucht des Glaubens und der Aussage Calvins und Bullingers, dass die paenitentia »aus der ernsten Furcht Gottes hervorwächst«,171 ein gewisser Widerspruch zu bestehen. Es ist allerdings zu bemerken, dass sich die Gottesfurcht der Glaubenden grundsätzlich von der Angst unterscheidet, die die Gottlosen vor einer göttlichen Strafe haben mögen. Denn die wahre Furcht Gottes, um die es hier geht, gründet selber im Glauben und in der Liebe zu Gott: »Die wahre Gottesfurcht […] ist nicht eine sklavische Furcht vor Strafe, sondern ein starker Eifer, der von Liebe und Ehrerbietung gegenüber Gott genährt wird.«172 Zweitens wird die Hinkehr zu Gott in erster Linie nicht als Konversion im Sinne eines dramatischen punktuellen Ereignisses aufgefasst, sondern vielmehr – entsprechend dem im vorangehenden Kapitel skizzierten Heiligungsverständnis – als ein lebenslanger und inchoativer (d. h. nie zur Vollendung kommender und stets im Anfang begriffener) Prozess. Die Buße […] [ist] nicht das Werk von wenigen Tagen oder einer bestimmten Zeit, sondern eine unablässige Wachsamkeit während des ganzen Lebens und dadurch eine tägliche Erneuerung [innovatio]. Denn die, welche durch den Heiligen Geist Gottes wiedergeboren sind, werden niemals so gereinigt, dass sie keine Anfechtungen des Fleisches oder der Sünde mehr fühlen würden. […] Daher herrscht in den Gläubigen ein ständiger und erbitterter Krieg.173

Die Glaubenden, die sich in diesem »Krieg« befinden, weil sich Gott ihrer in Christus und aus reiner Gnade angenommen hat, sind auf den steten Beistand Gottes angewiesen, um darin zu bestehen. Deshalb »Wir erklären aber bestimmt, daß solche Buße reines Gottesgeschenk [merum Dei donum] sei und nicht ein Werk unserer eigenen Kraft.« 170 Vgl. Calvin, Institutio 3.4.29 (Weber 421 f.); Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 354–356). 171 Calvin, Institutio 3.3.7 (Weber 381; OS IV 61,10 f.); Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 324). 172 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 326). Vgl. Calvin, Institutio 3.2.26 f. (Weber 362 f.). 173 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 372). Vgl. Calvin, Institutio 3.3.9 (Weber 383; OS IV 63,25–65,2): »Diese Erneuerung aber kommt nun nicht in einem Augenblick, auch nicht an einem Tag oder in einem einzigen Jahr zur Vollendung; nein, Gott tilgt bei seinen Auserwählten in dauerndem, ja auch langsamem Weiterschreiten die Verderbnisse des Fleisches […]. Sie sollen wissen, daß dieser Kriegsdienst erst mit dem Tode sein Ende findet.«

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sollen sie – wie nicht zufällig auch im epikletischen Teil der Genfer Umkehrliturgie geschieht – unaufhörlich »Gott um die Gnade des Heiligen Geistes bitten«, dass sie »je länger, je mehr zum Ebenbild Gottes erneuert werden«, bis sie »nach diesem Leben das Ziel der Vollkommenheit erreichen«.174 Der »dauernde« und »langsame«175 Prozess der Buße als Hinkehr zu Gott umfasst zwei Aspekte, die sowohl in den Definitionen Bullingers und Calvins als auch in der Genfer Umkehrliturgie benannt werden: die »Abtötung des Fleisches« und die »Lebendigmachung des Geistes«. Beide stellen nicht so sehr zwei aufeinanderfolgende »Phasen«, sondern die zwei komplementären Seiten ein und desselben transformativen Prozesses dar.176 Denn Hinkehr zu Gott als eine der Sünde entgegengesetzte Bewegung bedeutet einerseits »Untergang des ganzen Fleisches« mit seiner »Bosheit und Verderbnis«,177 andererseits Erneuerung von Verstand und Wille, so dass der Mensch wieder im Stande ist, »fruictz de iustice et innocence« hervorzubringen, d. h. »Werke der Frömmigkeit gegen Gott und der Liebe zu den Menschen«.178 Skopus der Buße ist somit nichts anderes als die Erfüllung der geschöpflichen Bestimmung des Menschen durch die Wiederherstellung jenes »Ebenbildes Gottes« (imago Dei), »welches durch Adams Übertretung besudelt und so gut wie ausgelöscht war«.179 Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass bei Calvin und Bullinger der Terminus »Wiedergeburt« bisweilen als alternative Bezeichnung für den gesamten Prozess der paenitentia bzw. conversio verwendet oder aber die regeneratio als Teilaspekt dieses Prozesses betrachtet wird.180 Zugleich begegnen in ihren Schriften aber auch Passagen, in denen die regeneratio als eminent pneumatisches Ereignis aufgefasst wird, das den Menschen grundsätzlich um-orientiert und somit den inchoativen Prozess der »Hinkehr zu Gott« erst ermöglicht. In diesem Sinn verhielten

174 Heidelberger Katechismus, 73 [Frage 115]. Vgl. Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 369): »Wir flehen ihn [den Geist Christi] mit Gebeten um Hilfe an, damit wir unter seiner Führung und Leitung wahrnehmen, urteilen, sprechen und handeln, d. h. unterlassen oder tun, was wir an unserem Urbild, nach dessen Gestalt wir erneuert werden sollen, erlernt haben, sodass wir uns fortan um Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit bemühen.« 175 Calvin, Institutio 3.3.9 (Weber 383). 176 Venema, Accepted and Renewed, 119. 177 Calvin, Institutio 3.3.8 (Weber 382). 178 A. a. O. 3.3.16 (Weber 388). 179 A. a. O. 3.3.9 (Weber 382). 180 Ebd. (Weber 382; OS IV 63,11 f.): »Ich beschreibe also die Buße mit einem Wort als Wiedergeburt [regeneratio]«; Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 329): »Die Buße [schließt] die Erneuerung des Menschen durch den Heiligen Geist […] ein.«

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IV. Die Umkehrliturgie

sich »Wiedergeburt« und »Buße« nicht wie Synonyme, sondern wie Ursache (oder Ermöglichungsgrund) und Wirkung zueinander: Die Wiedergeburt ist eine Erneuerung des Menschen, durch die wir […] durch den Heiligen Geist im Glauben an Jesus Christus als Söhne Gottes wiedergeboren werden und deshalb den alten Menschen täglich ablegen und den neuen anziehen […].181 Die wahre Buße übt der Mensch, der durch den Heiligen Geist im Glauben an Jesus Christus wiedergeboren ist.182 Denn Christus verleiht uns den Geist der Wiedergeburt, damit er uns innerlich erneuert und damit ein neues Leben auf die Erneuerung von Herz und Verstand folgen kann.183

Erst im 17. Jahrhundert schickte man sich dazu, diese Ambiguität zu beheben, indem man die einmalige Erneuerung durch den Heiligen Geist vom darauffolgenden inchoativen Prozess der »täglichen Umkehr« terminologisch deutlicher unterschied. So differenzierte etwa Franc¸ois Turrettini zwischen einer conversio habitualis und einer conversio actualis, wobei Erstere »mittels der Einflößung übernatürlicher Habitus durch den Heiligen Geist« geschieht und deshalb auch »Wiedergeburt« genannt werden kann, während Letztere in der »Ausübung dieser Habitus« besteht und als conversio im engeren Sinn zu bezeichnen ist.184 »Wiedergeburt« und »Umkehr« wurden jedoch nach wie vor als zwei Aspekte ein und desselben Geschehens betrachtet, das nun mehrheitlich nicht mehr als paenitentia, sondern – entsprechend Laktanz’ Übersetzung des Nomens μετα νοια185 – als resipiscentia bezeichnet wurde:186 Die wahre und evangelische Buße [resipiscentia] gliedert sich in eine allgemeine, bei der der Mensch zunächst vom Sünden- in den Gerechtigkeitszustand übergeht und anfänglich zu Gott bekehrt wird [convertitur], sowie in eine spezielle [particularis], bei der der bereits bekehrte Mensch, von der Sünde überwältigt, diese 181

Ebd. (Schriften IV 366) (Hervorhebung, LB). Ebd. (Schriften IV 375). 183 Calvin, In Acta 5,31 (CO XLVIII 111): »Nam ideo spiritum regenerationis affert nobis Christus, ut nos intus renovet: quo novitatem mentis et cordis sequatur deinde nova vita.« (Hervorhebung, LB). 184 Turrettini, Institutio 15,4,13, Bd. 2, 460: »Conversio habitualis seu passiva fit per habituum supernaturalium infusionem a Spiritu Sancto. Actualis vero seu activa per bonorum istorum habituum exercitium […]. Illa melius regeneratio dicitur, quia se habet ad modum novae nativitatis, qua homo reformatur ad imaginem Creatoris sui. Ista vero conversio.« 185 Lactantius, Divinae institutiones 6,24 (CSEL XIX/2 572,9–12): »Quem enim facti sui paenitet, errorem suum pristinum intellegit, ideoque Graeci melius et significantius metanoian dicunt quam nos Latine possumus resipiscentiam dicere.« 186 Vgl. Weber, Dogmatik, Bd. 2, 398 f. 182

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beweint und umkehrt [resipiscit]. Diese spezielle Buße ist wiederum eine zweifache, nämlich entweder ordentlich [ordinaria] oder außerordentlich [extraordinaria]. Die ordentliche [Buße] ist jene, die die wahrhaftig Glaubenden und Heiligen aus dem Bewusstsein ihrer Ohnmacht und ihrer täglichen Verfehlungen heraus ihr ganzes Leben lang tun sollen […]. Die außerordentliche [Buße] geschieht dann, wenn die Glaubenden eine besonders schwere, das Gewissen tief quälende Sünde begehen, wie dies bei David und Petrus zu beobachten ist.187

Fragt man nun danach, welcher Aspekt der Buße denn im Fokus der Bitte aus dem epikletischen Teil der Genfer bzw. Straßburger Umkehrliturgie stehe, so dürfte anhand der bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, dass dieser mit der conversio actualis bzw. der resipiscentia particularis ordinaria zu identifizieren ist: Die Gemeinde bittet um den Beistand des Heiligen Geistes, damit sie auf dem Weg der »täglichen Umkehr« beständig fortschreiten und dabei »Früchte der Gerechtigkeit und der Unschuld« zur Ehre Gottes hervorbringen kann. Es ist die Bitte derjenigen, die im Glauben sowohl um ihr Bestimmt-Sein durch die Sünde als auch um ihre Berufung und Bestimmung als Kinder Gottes wissen und deshalb – im Bewusstsein der konstitutiven Inchoativität ihrer Heiligung – immer wieder Gott anrufen, um geheil(ig)t zu werden. 2.3 Doxologie 2.3.1 Zuspruch der Gnade Icy dit le ministre quelque parole de lescripture pour consoler Les consciences et fait labsolution en ceste manyere.

Hier spricht der Pfarrer ein Wort aus der Schrift, um die Gewissen zu trösten, und vollzieht die Absolution in der folgenden Weise:

Ung chascung de vous se recognoisse vrayement pecheur s’humiliant devant dieu, et croye que le pere celeste luy veult estre propice en Jesus Christ. A tous ceux qui en ceste maniere se repentent et cerchent Jesus Christ pour

Ein jeder von euch soll sich wahrhaftig als Sünder erkennen, sich vor Gott demütigen und glauben, dass der himmlische Vater ihm gnädig sein will in Jesus Christus. Allen, die auf diese Weise bereuen und Jesus Christus zu ihrem Heil suchen, verkündige ich die

187

Polyander et al., Synopsis 32,48 f. (Bavinck 329): »Dividitur autem haec vera et Evangelica resipiscentia in universalem, quando scilicet homo primum a statu peccati in statum justitiae transit, et ad Deum initio convertitur; et particularem, quando homo jam conversus et fidelis, a peccato praeventus, de eodem dolet et ab eodem resipiscit. Haec particularis rursum est duplex, vel ordinaria, vel extraordinaria. Ordinaria est, quam toto vitae cursu vere fideles et sancti, ex infirmitatis et quotidianorum lapsuum conscientia, agere tenentur […]. Extraordinaria, quando fideles in peccatum aliquod grave et conscientiam alte vulnerans incidunt, qualem in Davide et Petro post lapsus ipsorum videmus.«

130 leur salut, ie denonce labsolution au nom du pere du filz et du sainct esperit, amen.188

IV. Die Umkehrliturgie Absolution im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.189

In der Genfer Gottesdienstordnung von 1542 folgt auf das Sündenbekenntnis kein Gnadenzuspruch, sondern der Psalmengesang leitet unmittelbar zur Predigt über.190 Die Umkehrliturgie aus der Pseudoromana enthält hingegen als zusätzliche Stücke die soeben zitierte »Absolution« wie auch eine Antwort der Gemeinde darauf, die später zu analysieren ist. Diese beiden letzten Stücke machen insofern die dritte, doxologische Dimension der Umkehrliturgie aus, als in ihnen die Herrlichkeit Gottes, der sein Volk erlöst und dieses in seinen Bund einschließt, gepriesen wird. Die Präsenz eines Gnadenzuspruchs an dieser Stelle ist an sich nicht selbstverständlich. In der Tat könnte man die Umkehrliturgie für bereits abgeschlossen halten: Die Gemeinde hat sich im Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser auf ihre Sünde besonnen und ihn um Beistand auf dem Weg der Erneuerung gebeten. Wozu soll nun noch eine Absolution erteilt werden? Stellt dies nicht etwa einen Rückfall in ein sakramentales Verständnis der Buße als reinigenden, durch das lösende Wort eines Priesters besiegelten Akt dar? Eine solche Interpretation scheint durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die Pseudoromana den Terminus »Absolution« tatsächlich verwendet und diese durch den Pfarrer sogar mittels einer »Ich«-Formel erteilt wird (»ie denonce labsolution«). Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass in diesem Teil der Umkehrliturgie die »Absolution« – analog dazu, was im vorangehenden epikletischen Teil bezüglich der »Buße« geschehen ist – eine tiefe Umdeutung erfährt. Zum einen ist anzumerken, dass der Absolutionsspruch durch eine adhortative Formel eingeleitet wird, in der ein jedes Gemeindeglied aufgefordert wird, darauf zu vertrauen, »dass der himmlische Vater ihm gnädig sein will in Jesus Christus«. Ein solches Vertrauen und nicht das Amt des Pfarrers bildet die Basis für den darauffolgenden Vergebungsspruch, der nicht zufällig – und entsprechend einer in reformatorischen Agenden verbreiteten Praxis191 – konditional formuliert ist: »Allen, die […] Jesus Christus zu ihrem Heil suchen, verkündige ich die Absolution […].« Die durch den Pfarrer verkündigte Absolution gilt denjenigen, die an Gott und seinen Christus glauben, wobei

188 189 190 191

Calvin, Forme des prieres (OS II 19,5–12). Calvin, Genfer Gottesdienstordnung, 163,23–30 (leicht überarbeitet). Calvin, Forme des prieres (OS II 20,10–15). Vgl. Schulz, Ministerium reconciliationis, 273 f.

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ihr Glaube bereits die Bestätigung von Gottes Vergebungswillen ihnen gegenüber darstellt. Zum anderen ist der Glaube selbst auch kein Werk des Menschen, sondern eine Gabe Gottes, welche aus dem Hören des Wortes erwächst (Röm 10,17). Folglich kann nicht der Glaube an sich, sondern nur das Evangelium, nämlich Gottes heilsames Wort, das letzte Fundament des Gnadenzuspruchs sein. Gerade um dies deutlich zu machen, lässt die Pseudoromana dem Zuspruch des Pfarrers als Ganzem das »die Gewissen tröstende« Wort aus der Schrift vorausgehen.192 Der Pfarrer als Diener dieses Wortes teilt der Gemeinde nichts anderes als das mit, was das Wort selbst besagt. Damit wird unmissverständlich signalisiert, dass die »Schlüsselgewalt« – die Kraft »zu binden und zu lösen« (Mt 16,19) – allein dem Wort Gottes unmittelbar zukommt und nur mittelbar denjenigen, die dieses Wort zu predigen berufen sind: Das Wort Gottes also, durch das wir uns selbst erkennen und durch das wir zugleich Gott vertrauen lernen, das ist mit den »Schlüsseln« gemeint, mit denen die Diener des Wortes andere Menschen befreien.193 Wir urteilen da einfach nach dem Worte des Herrn und sagen, daß alle rechtmäßig berufenen Diener der Kirche die Schlüssel des Himmelreichs besitzen und die Schlüsselgewalt ausüben, wenn sie das Evangelium verkündigen […]. Die Diener der Kirche sprechen dann rechtmäßig und wirksam von Sünden frei, wenn sie das Evangelium Christi und in ihm die Sündenvergebung predigen, die jedem einzelnen Gläubigen verheißen wird, wie auch jeder einzelne getauft ist, und wenn sie bezeugen, daß sie sich auf jeden einzelnen erstrecke.194

In dieser grundsätzlichen Bindung der Schlüsselgewalt an das Wort und dessen Verkündigung gründete auch die reformierte Ablehnung der Einzelbeichte. Das Beharren auf der Notwendigkeit einer speziellen Lossprechung durch einen Priester beruhte nämlich für die Reformierten auf einem Missverständnis des Auftrags der Diener des Wortes. Diese seien nicht dazu berufen, eine »richterliche Gewalt« auszuüben,195 denn allein Gott steht zu, »den Gläubigen die Sünden im Namen Christi, d. h. des Verdienstes und der Versöhnungstat Christi wegen« zu vergeben.196 Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, durch die Predigt des Evangeliums als gewiss zu verkünden, dass die Sünden in Christus vergeben worden sind. Ist nun aber die Verkündigung, die im 192 Die Pseudoromana gibt keine bestimmte Bibelstelle an; in den deutschen Straßburger Agenden der Zeit – an die die Pseudoromana angelehnt war – werden verschiedene Möglichkeiten genannt: 1Tim 1,15; Joh 3,16; Joh 3,35 f.; Apg 10,43; 1Joh 2,1 f. Vgl. Von des Herren Nachtmahl (Hubert 94 f.). 193 Zwingli, Kommentar (Schriften III 199). 194 CHP, Kap. 14 (Hildebrandt/Zimmermann 64 f.). 195 Calvin, Institutio 3.4.22 (Weber 416). 196 Bullinger, Dekaden 5,4 (Schriften V 178).

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IV. Die Umkehrliturgie

kirchlichen Gottesdienst geschieht, der Ort der Sündenvergebung, so ist die Praxis der Einzelbeichte als zumindest überflüssig oder gar als irreführend zu erachten.197 Obgleich sowohl Bullinger als auch Calvin die Möglichkeit privater Unterredungen mit einem Pfarrer über das Gewissen belastende Sünden nicht ausschlossen, maßen sie dieser Form des »Bekenntnisses« daher eine rein seelsorgliche Bedeutung bei.198 Sündenvergebung geschieht somit nach reformiertem Verständnis allein in der Verkündigung. Wenn daher überhaupt von einer »Absolution« von Seiten des Pfarrers die Rede sein darf, dann ausschließlich im kerygmatischen Sinn: Er erteilt der Gemeinde den Freispruch nicht, sondern er verkündigt ihr jenen Freispruch, den Gott selbst in Jesus Christus erteilt hat. 2.3.2 Bundeserneuerung Icy leglise chante [les commandemens de la premiere table], puys dit le ministre.

An dieser Stelle singt die Gemeinde [die Gebote der ersten Tafel], dann sagt der Pfarrer:

Le Seigneur soit avecques vous, faison pryeres au seigneur.

Der Herr sei mit euch, lasst uns zum Herrn beten.

197 A. a. O. 4,2 (Schriften IV 352 f.): »[Die Verkündigung] wird nicht wirksamer, wenn der Diener sie dem Sünder ins Ohr flüstert. Die öffentliche Predigt des Evangeliums, wie sie von Christus dem Herrn selbst eingeführt worden ist, genügt der gläubigen Seele, die nicht so sehr auf die Gebärde des Dieners, sondern vielmehr auf die Wahrhaftigkeit dessen achtet, in dessen Namen der Diener handelt. […] Ich sage das nicht, weil ich glauben würde, es sei unrecht, wenn jemand dem einen oder andern persönlich das Evangelium verkündigt […]. Vielmehr spreche ich gegen diejenigen, die glauben, dass die öffentliche und allgemeine Predigt […] keineswegs genüge, wenn der Sünder nicht zum Priester gehe, ihm seine Sünden beichte und von ihm persönlich die Lossprechung von den Sünden verlange und erhalte«; vgl. Calvin, Institutio 3.4.24 (Weber 417 f.). 198 Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 341): »Zu diesen zwei Arten von Bekenntnis [sc. dem öffentlichen im Gottesdienst und dem gegenseitigen unter Glaubensgeschwistern] fügen manche noch eine dritte hinzu, bei der man entweder beim Hirten der Herde des Herrn oder bei einem anderen, der im Gesetz Gottes bewandert ist, Rat sucht, wenn man durch irgendein schweres Verbrechen belastet ist. Diese Art ist aber eher das Einholen eines Ratschlags [consultatio] als ein Bekenntnis.« Vgl. CHP, Kap. 14 (Hildebrandt/Zimmermann 63 f.): »Wenn aber jemand von der Last seiner Sünden und von verwirrenden Anfechtungen bedrückt, unter vier Augen bei einem Diener der Kirche oder bei einem andern Bruder, der im Wort Gottes wohlgegründet ist, Rat, Weisung und Trost holen will, so haben wir nichts dagegen einzuwenden«; Calvin, Institutio 3.4.12 (Weber 407 f.): »Wir sollen einander unsere Schwachheiten aufdecken, um uns dann mit gegenseitigem Rat und gegenseitiger Tröstung beizustehen. […] Nun sind aber besonders die Hirten hierzu als geeignet anzusehen, und deshalb werden wir vornehmlich sie zu erwählen haben.«

2. Das Genfer/Straßburger Formular von 1542

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Pere celeste plein de bonte et de grace, comme il te plaist de declarer ta saincte volunte a tes pouvres serviteurs, et les instruyre en la iustice de ta loy vueille la aussi tellement escripre et imprimer en nos coeurs, qu’en toute nostre vye nous ne cherchions qu’a te servyr et obeyr, ne nous imputans point les trangressions quavons commises contre ycelle affin que sentans ta grace multiplye sur nous en telle abondance, nous ayons matyere de te louer et glorifyer, par Jesus Christ ton filz nostre seigneur.

Himmlischer Vater, voll Güte und Gnade, da es dir gefällt, deinen Willen deinen armen Knechten kundzutun und sie zu unterweisen in der Gerechtigkeit deines Gesetzes, so schreibe und präge es auch dergestalt in unsere Herzen ein, dass wir unser Leben lang nur danach streben, dir zu dienen und zu gehorchen. Rechne uns die Übertretungen, die wir gegen dieses Gesetz begangen haben, nicht an, damit wir deine vielfältige Gnade über uns in solcher Überfülle spüren, dass wir Grund haben, dich zu loben und zu verherrlichen, durch Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn.

Icy ce pendant que leglise chante [le reste des commandemens], le Ministre va en la chaire […]199

Hier geht der Pfarrer, während die Gemeinde [die übrigen Gebote] singt, auf die Kanzel […].200

Die Gemeinde antwortet auf die Verkündigung der Gnade, indem sie die Zehn Gebote singt. Dies lässt auf die Existenz einer vertonten französischen Fassung des Dekalogs schließen. Dabei handelte es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um das Lied »Les dix commandements pris du XXe d’Exode«, dessen Text vermutlich Johannes Calvin besorgt hatte201 und welches bereits 1539 in einer Sammlung französischer Kirchenlieder in Straßburg erschienen war.202 Der Gesang der Gebote soll ferner in zwei Sequenzen erfolgen, wobei zunächst die Gebote der »ersten Tafel«, sodann jene der »zweiten Tafel« gesungen werden. Ist die Vorstellung, Gott habe sein Gesetz auf zwei Tafeln geschrieben, biblischen Ursprungs (Ex 31,18), so wurde die Frage danach, wie die Zehn Gebote auf die beiden Tafeln zu verteilen seien, unterschiedlich beantwortet. Nach reformiertem Verständnis enthält die erste Tafel die ersten vier Gebote, die lehren, »welche Gesinnung wir gegenüber Gott und seiner Verehrung hegen sollen«. Zur zweiten Tafel gehören hingegen die restlichen sechs Gebote, welche darlegen, »was wir dem Nächsten schuldig sind«.203 Die Verortung des Gesetzes nach dem Gnadenzuspruch mag auf den ersten Blick befremden, steht aber in Kontinuität mit der reformierten Bundestheologie. Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen wor199

Calvin, Forme des prieres (OS II 19,13–25). Calvin, Genfer Gottesdienstordnung, 163,32–165,1. 201 Calvin übernahm die Straßburger Melodie zu Luthers Zehn Gebote-Lied von 1525 (»Dies sind die heilgen Zehn Gebot«, EG 231), vgl. Jenny, Luther – Zwingli – Calvin, 267. 202 A. a. O., 224. 203 Bullinger, Dekaden 2,2 (Schriften III 239). Vgl. Calvin, Institutio 2.8.11 (Weber 224). 200

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IV. Die Umkehrliturgie

den,204 dass in reformierter Perspektive das Evangelium nicht vom Gesetz als solchem befreit, sondern bloß vom Missverständnis des Gesetzes als Heilsmittel. Im Lichte des Evangeliums darf das Gesetz erneut als das erkannt werden, was es ist: die Urkunde des ewigen Gnadenbundes Gottes und die »Gestaltungsnorm der christlichen Gemeinschaft«.205 Dementsprechend ist es durchaus sinnvoll, dass die Gemeinde, welche bereits die Bestätigung gehört hat, dass sie in Jesus Christus von ihrer Schuld gegenüber Gott befreit ist, nun auch bekräftigt, wozu Gott sie befreit hat, nämlich zum erneuten Gehorsam eines Lebens im Bund. Dieser letzte Teil der Umkehrliturgie könnte somit auch als Bundeserneuerung bezeichnet werden: Die Gemeinde antwortet auf die Verkündigung der Gnade in Jesus Christus, indem sie sich erneut feierlich zum ewigen Gnadenbund Gottes – dessen Urkunde das Gesetz ist – bekennt. Denn anhand des »Neuen« (des Evangeliums), das in Jesus Christus geoffenbart wurde, erschließt sich auch das »Alte« (das Gesetz) neu, sodass beides als Einheit begriffen werden kann.206 Eine ähnliche Praxis kennt die synagogale Tradition bezüglich des Schawuot-Festes, in dessen Zentrum die Verlesung der Zehn Gebote als Zeichen der Erneuerung des Bundes zwischen Gott und seinem Volk steht.207 Ob bei der Entwicklung der Pseudoromana die jüdische Tradition explizit berücksichtigt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, obgleich dies auch nicht völlig auszuschließen ist.208 Im 204

Vgl. oben, Kap. III.1.2; Kap. IV.2.1.1. Opitz, Bullinger, 368. 206 Aus ähnlichen Überlegungen heraus sah Ernst Lange in der »Bundeserneuerung« den tieferen Sinn des gesamten liturgischen Gottesdienstes. Am Beispiel der Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus auf dem Weg nach Emmaus illustriert er, »worum es in der Bundeserneuerung geht«: »Indem nun die alte Geschichte […] sich als der neuen Situation [sc. der Situation nach Karfreitag] mächtig erweist, […] wird der Glaube aus der alten Geschichte frei für eine neue Geschichte, und die Emmausjünger kehren zurück an den Ort ihres Gottesdienstes« (Lange, Chancen des Alltags, 168). Dass es durch die Liturgie zu einem solchen »Sich-Fügen von Menschen in den ungekündigten Bund« kommt, stellt freilich auch für Lange ein unverfügbares, pneumatisches Geschehen dar. Denn nur Gott kann das »Wunder« bewirken, »daß die Verheißung sich wirklich gegen den Unglauben durchsetzt, daß in der Bezeugung die Treue Gottes den Glauben freigibt von der Lähmung, in die er durch seine Untreue geraten ist« (a. a. O., 170). 207 In der synagogalen Liturgie nahm Schawuot (Pfingsten) erst nach der Tempelzerstörung (70 n. Chr.) die Bedeutung eines Bundeserneuerungsfestes an (vgl. Potin, Feˆte, Bd. 1, 141). Diese Interpretation des Schawuot-Festes war zuvor vor allem in essenischen Kreisen verbreitet gewesen und blieb später in der synagogalen Tradition neben der eher rabbinischen Interpretation von Schawuot als Fest der »Gabe der Torah« bestehen, vgl. Stramara, God’s Timetable, 25–31; Potin, Feˆte, Bd. 1, 123–140; 301–303. 208 Die Haltung reformierter Theologen gegenüber der jüdischen liturgischen Tradition war zwar kritisch, aber nicht gänzlich ablehnend, wie etwa die Verweise Calvins und 205

2. Das Genfer/Straßburger Formular von 1542

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Vergleich zur jüdischen Praxis, die Bundeserneuerung nur einmal im Jahr zu feiern, ist allerdings eine deutliche Intensivierung zu beobachten. Diese ist vor dem Hintergrund reformierter Bundestheologie betrachtet auch wenig überraschend: Ist Jesus Christus derjenige, in dem der ewige Gnadenbund Gottes endgültig besiegelt wird, so ist wohl jeder Gottesdienst der in seinem Namen versammelten Gemeinde als Fest der Bundeserneuerung zu verstehen.209 Indem die Gemeinde die Zehn Gebote singt, gedenkt sie ihrer Pflichten Gott sowie den Mitmenschen gegenüber und bezeugt, in Jesus Christus Verbündete Gottes zu sein. Denn im Lichte des Evangeliums kann sie auf das Gesetz zurückblicken und sich dieses erneut aneignen. Dieses Zurückblicken ist jedoch nur eine der beiden Bewegungen, die die Bundeserneuerung charakterisieren. Die Gemeinde blickt dabei zugleich in die eschatologische Zukunft der vollkommenen Verwirklichung des Gnadenbundes. Deshalb betet der Pfarrer zwischen dem Gesang der ersten und der zweiten Tafel: »Schreibe und präge es [dein Gesetz] auch dergestalt in unsere Herzen ein, dass wir unser Leben lang nur danach streben, dir zu dienen und zu gehorchen«. Genauso wie die Gemeinde im Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser auf die immer noch aktuelle Vergangenheit der Sünde zurückgeschaut und um eine Zukunft der Erneuerung und Heiligung gebeten hat, so besinnt sie sich nun auf die alte Urkunde des Bundes, um sogleich um dessen vollständiges »Inkrafttreten« zu bitten. Dass auf diese Bitte eine zweite folgt, bei der erneut Sünde und Vergebung thematisch werden (»Rechne uns die Übertretungen, die wir gegen dieses Gesetz begangen haben, nicht an«), macht schließlich deutlich, weshalb es überhaupt notwendig ist, im Rahmen der Bundeserneuerung stets um die vollkommene, endgültige Verwirklichung des Gnadenbundes im Leben der Glaubenden zu bitten: Die in Christus Begnadigten leben zwar im Bund, aber ihr Dasein bleibt auf Erden durch die Sünde – als radikale Abkehr von Gott – gekennzeichnet. Beides erkennen sie im Glauben so, dass sich die eine Erkenntnis von der anderen nicht trennen lässt. Deshalb wird Sündenerkenntnis immer in den Jubel um die Gnade Gottes münden, ebenso wie jede feierliche »Bundeserneuerung« im Bewusstsein der den Heiligen immer noch anhaftenden und nur eschatologisch zu überwindenden Sündhaftigkeit geschehen wird.

Bullingers auf die Gebete des »Versöhnungstags« (Lev 16) im Rahmen ihrer Bekräftigung der Notwendigkeit eines allgemeinen Sündenbekenntnisses im Gottesdienst belegen, vgl. Bullinger, Dekaden 4,2 (Schriften IV 339); Calvin, Institutio 3.4.10 (Weber 406 f.). 209 Vgl. Meyers, The Lord’s Service, 33 f.

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IV. Die Umkehrliturgie

3. Gottesdienst als Ort der μετα νοια Die Analyse der Umkehrliturgie aus dem Genfer/Straßburger Formular wurde unternommen, um einerseits ein besseres Verständnis dessen zu gewinnen, was »Buße« in reformierter Perspektive bedeutet. Andererseits sollte die Reflexion auf diese liturgische Sequenz wichtige Hinweise zur Beantwortung der Frage nach der Wirkung des Gottesdienstes im Allgemeinen liefern. Es dürfte nun deutlich geworden sein, dass die »echte Buße« (droicte penitence), um die im epikletischen Teil gebeten wird, als jener Erneuerungsprozess zu verstehen ist, der durch Gottes Gnade initiiert wird und wegen seiner konstitutiven doppelten Inchoativität das gesamte Leben eines Christenmenschen umfasst. »Buße« gilt in diesem Sinn als Synonym für »Heiligung«. Von der Buße als Prozess ist jedoch die durch Gott bewirkte, grundsätzliche und unwiderrufliche Um-Orientierung des Menschen zu unterscheiden. Diese stellt zwar auch eine Form von conversio dar, ist aber am besten – wie späteren Generationen von reformierten Theologen immer deutlicher wurde – als regeneratio zu bezeichnen. Neben diesen zwei Dimensionen der Buße als Hinkehr zu Gott gibt es jedoch noch eine dritte, welche von der reformierten Heiligungslehre impliziert wird und in der Umkehrliturgie selbst zum Vorschein kommt. Allerdings erfolgt Letzteres nicht an einer bestimmten Stelle, sodass man sagen könnte, dass Buße in dieser dritten Bedeutung eher im anamnetischen als im epikletischen Teil oder umgekehrt ihren Platz hätte. Es ist vielmehr die Bewegung der gesamten Umkehrliturgie, die diese dritte fundamentale Bedeutung von »Buße« erkennen lässt. Diese dritte Buße wird in der Umkehrliturgie nicht punktuell thematisiert, sondern sie geschieht durch die Umkehrliturgie selbst und stellt somit ihre Wirkung dar. Die Umkehrliturgie besteht nach dem Modell der Genfer/Straßburger Gottesdienstordnung aus verschiedenen »Schritten«: Die Mitfeiernden blicken auf ihre – zugleich vergangene (in Christus) und aktuelle (im Fleische) – Situation der Abkehr von Gott zurück, sie bitten darum, von Gottes Geist erquickt zu werden, werden erneut auf die Gnade Gottes hingewiesen und besinnen sich von dort aus auf das Gesetz als Urkunde des Gnadenbundes und Basis für ihr gesamtes Leben. Durch die verschiedenen Schritte der Umkehrliturgie werden die Mitfeiernden auf ihre Herkunft und Zukunft aufmerksam gemacht, die beide zusammen ihre eschatologische Gegenwart und Existenz als begnadigte Sünder ausmachen. In der Umkehrliturgie übt sich die Gemeinde somit im evangelischen Selbstverständnis: Sie ist Sünderin und Gerechte zugleich und als solche von Gott berufen, ihm zu dienen.

3. Gottesdienst als Ort der μετα νοια

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Gerade durch diese Besinnung und Einübung ergibt sich aber auch, dass die Mitfeiernden auf den Gott hin erneut ausgerichtet werden, der ihnen in Jesus Christus die Gnade beschert hat, ihren Schöpfer und Erlöser sowie ihre Bestimmung zu erkennen. In der Umkehrliturgie geschieht also Hinkehr zu Gott und somit μετα νοια. Allerdings kommt dieser μετα νοια eine Bedeutung zu, die von den beiden bisher erörterten zu unterscheiden ist. Denn sie deckt sich weder mit der Buße als grundsätzlicher Um-Orientierung, die ein für alle Mal aus Gnade geschieht (»Wiedergeburt«) und entsprechend dem Gedanken der perseverantia sanctorum endgültig ist, noch mit der Buße als inchoativem, durch die grundsätzliche Um-Orientierung ermöglichtem Erneuerungsprozess (»Heiligung«). In ihrer dritten Bedeutung ist Buße vielmehr Re-Orientierung.210 Dass eine solche Re-Orientierung stets notwendig ist, erschließt sich zum einen aus der doppelten Inchoativität der Heiligung.211 Der begnadigte Sünder bleibt insofern immer ein »Anfänger«, der eines steten (Neu-)Anfangs bedarf, weil seine grundsätzliche Abgewandtheit von Gott nicht zu überwinden ist. Die Glaubenden müssen somit als simul iusti et peccatores stets ihrer Bestimmung erinnert werden, damit der Heiligungsprozess überhaupt in Gang bleibt. Zum anderen kann diese Re-Orientierung genauso wenig wie die beiden anderen Dimensionen der μετα νοια als Menschenwerk verstanden werden, sondern ist ein Aspekt des Heilshandelns Gottes am Menschen. Wenn aber in der Umkehrliturgie Re-Orientierung geschieht und wenn eine solche Re-Orientierung in evangelischer Perspektive nur als Gabe Gottes verstanden werden kann, dann entpuppt sich die Umkehrliturgie – entsprechend einem pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnis – als liturgischer Ort, an dem Gott re-orientierend an den Menschen handelt. Diese Feststellung hat freilich unmittelbare Konsequenzen in Bezug auf die Frage nach der Wirkung des Gottesdienstes im Allgemeinen. Denn der Gottesdienst stellt keine Reihenfolge von voneinander isolierbaren »Stücken«, sondern ein – auch hinsichtlich seiner Wirkung – organisches und lebendiges Ganzes dar, sodass die Ausführungen zur 210

Auch in der römisch-katholischen Bußtheologie wird zwischen drei Bedeutungen von »Buße« unterschieden, nämlich der paenitentia prima, der paenitentia quotidiana und der paenitentia secunda (Meßner, Überlegungen, 219–221) Der Unterschied zwischen der »zweiten Buße« und der hier besprochenen »Re-Orientierung« besteht allerdings darin, dass Erstere nach römisch-katholischem Verständnis einen reparatorischen Akt darstellt, der immer dann nötig wird, wenn der einzelne Getaufte aufgrund von »schweren Sünden« aus der rechtfertigenden Gnade herausfällt (a. a. O.., 220). Aus evangelischer Perspektive gründet die Notwendigkeit wiederholter Re-Orientierung hingegen in der paradoxen Existenz des gerechtfertigten Sünders als simul iustus et peccator. 211 Siehe oben, Kap. III.2.

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IV. Die Umkehrliturgie

Wirkung der Umkehrliturgie als hermeneutischer Schlüssel zur Erschließung dessen dienen können, was die Wirkung des gesamten Gottesdienstes ausmacht. Im Lichte der bisherigen Ausführungen zur Umkehrliturgie bedeutete dies, dass jene Re-Orientierung, die als ihre Wirkung identifiziert wurde, zugleich als Wirkung des gesamten Gottesdienstes der im Namen des dreieinigen Gottes versammelten Gemeinde zu betrachten wäre. In dieser Perspektive würde also jeder »Schritt« des ganzen gottesdienstlichen »Wegs« als ein spezifisches Mittel erscheinen, dessen Gott sich bedient, um die Menschen immer wieder auf sich (Gott) auszurichten: in den Lesungen nicht weniger als im Lobpreis, im Abendmahl212 nicht weniger als in der Predigt.213 Eine solche Perspektive, die freilich nur vor dem Hintergrund eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses plausibel ist, ermöglicht, das Verhältnis zwischen liturgischem Gottesdienst und »Gottesdienst im Alltag der Welt«214 neu zu überdenken. Bekannterweise sorgte die protestantische Betonung der umfassenden Bedeutung des »Gottesdienstes« im Sinne von Röm 12,1 immer wieder für eine gewisse Verlegenheit in der Beantwortung der Frage, ob der liturgische Gottesdienst tatsächlich notwendig sei. Wird aber der liturgische Gottesdienst pneumatisch-formativ verstanden und wird seine Wirkung als re-orientierende μετα νοια erkannt, so kommen sowohl der Unterschied als auch der unlösliche Zusammenhang zwischen liturgischem und nicht-liturgischem Gottesdienst deutlich zum Vorschein, wobei sich beides wiederum aus dem Verhältnis zwischen μετα νοια als Prozess und μετα νοια als Re-Orientierung ergibt. Der »Gottesdienst im Alltag der Welt« ist nämlich der Ort, an dem μετα νοια im ersteren Sinn geschieht: Der Prozess der »Hinkehr zu Gott« (Heili212 Anders verhält es sich hingegen mit der Taufe, welche sich in ihrer Einmaligkeit auf die ebenso einmalige und unwiderrufliche Um-Orientierung durch Gott (»Wiedergeburt«) bezieht, weshalb das Taufsakrament in Anlehnung an Tit 3,5 traditionell als »Bad der Wiedergeburt« bezeichnet wird, vgl. Heidelberger Katechismus, 46 [Frage 73]. 213 In eine ähnliche Richtung bewegen sich auch Andrea Bieler und Luise Schottroff in ihrer Studie zum Abendmahl. Sie erkennen in der Entstehung einer »eschatologischen Imagination«, welche »allgemein angenommene Weltsichten« unterbricht und »durch die wir eine Ahnung von der Wirklichkeit des Reiches Gottes erhalten«, die spezifische Wirkung des christlichen Gottesdienstes in jedem seiner Teile (vgl. Bieler/Schottroff, Abendmahl, 46). Obwohl Bieler und Schottroff nicht explizit darauf eingehen, so ist es dennoch naheliegend, dass die menschliche Imagination diese besondere Qualität nur insofern bekommen kann, als sie neu ausgerichtet wird auf etwas, was sie sonst nie intendieren könnte. Die Entstehung der »eschatologischen Imagination« gründet also in einer pneumatisch gewirkten Re-Orientierung menschlicher (sündhafter) Imagination auf Gott und sein Reich. Vgl. auch Deeg, Das äußere Wort, 476. 214 So lautete der Titel eines der berühmtesten Aufsätze Ernst Käsemanns, der sich mit der Deutung von Röm 12,1 f. befasste, vgl. Käsemann, Gottesdienst.

3. Gottesdienst als Ort der μετα νοια

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gung) lässt sich nicht auf einen isolierten Bereich – etwa den Bereich der »Religion« oder der »Liturgie« – reduzieren, sondern umfasst das ganze Leben des Christenmenschen. Der konstitutiven und zweifachen Inchoativität des Heiligungsprozesses wegen hängt jedoch diese Form von »Gottesdienst« im weiteren Sinn unauflöslich mit dem liturgischen Gottesdienst zusammen, weil Letzterer der Ort ist, an dem jene Re-Orientierung geschieht, ohne die der Prozess selbst unmöglich wäre.215 Gerade diese Hervorhebung der re-orientierenden Wirkung des gesamten Gottesdienstes könnte nun aber als Argument verwendet werden, um auf die Überflüssigkeit der Umkehrliturgie rückzuschließen: »Wenn im Gottesdienst als Ganzem Re-Orientierung geschieht, weshalb ist denn die Umkehrliturgie noch nötig? Man kann gleich auf sie verzichten«. So zu argumentieren, wäre allerdings genauso absurd, wie wenn man die Feststellung, dass »der Gottesdienst der christlichen Gemeinde […] als ganzer wesenhaft Eucharistie« ist,216 als Argument verwendete, um die Feier der Eucharistie abzuschaffen. Erst aufgrund und dank der Eucharistiefeier erschließt sich der eucharistische Charakter des Gottesdienstes, ebenso wie erst aufgrund und dank der Umkehrliturgie und deren Bedeutung sich der metanoetische Charakter des Gottesdienstes erschließt. Die Anerkennung des metanoetischen Charakters der gesamten Liturgie sollte somit die Unentbehrlichkeit der Umkehrliturgie für das gottesdienstliche Leben der Gemeinde nicht entkräften, sondern bestätigen, genauso wie die Anerkennung des eucharistischen Charakters des Gottesdienstes die Unentbehrlichkeit der Abendmahlsfeier bestätigt.217 Hält man an der Zusammengehörigkeit der drei oben genannten Dimensionen der μετα νοια (Um-Orientierung, Heiligungsprozess und stets notwendig bleibende Re-Orientierung) fest und erkennt man in der Umkehrliturgie den metanoetischen Kern des Gottesdienstes, so kann deren Pflege nicht mehr als überflüssig betrachtet werden. Denn μετα νοια kann – in ihrem ganzen Umfang betrachtet – gewiss nicht auf einen liturgischen Akt reduziert werden. Sie muss aber im Gottes215 Auf eine ähnliche Bestimmung des Verhältnisses von liturgischem Gottesdienst und »Gottesdienst im Alltag der Welt« läuft auch die Argumentation bei Thomas, Geist Gottes, 129, hinaus: »Gebet und Gottesdienst konzentrieren und koordinieren die menschliche Aufmerksamkeit auf Gottes eigene Wahrnehmung der Welt. Der Gottesdienst routinisiert, erneuert und regeneriert darin einen letztlich ›unmöglichen Blick‹ auf die Welt. […] Diese punktuelle Perspektivierung in Gebet, Lied, Predigt und Liturgie zielt auf das […], was […] auch ein Reframing genannt werden könnte. […] Die konzentrierte, aufmerksame Wahrnehmung von Gottes Wahrnehmung der Welt formt, ergänzt und moduliert die Wahrnehmung der Wirklichkeiten außerhalb des Gottesdienstes – eben den Gottesdienst im Alltag der Welt.« 216 Schmidt-Lauber, Zukunft des Gottesdienstes, 67. 217 Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Das Abendmahl, 12; 24 f.

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IV. Die Umkehrliturgie

dienst und speziell im liturgischen Akt der Umkehrliturgie immer wieder re-initiiert werden, weil der von Gott aus Gnade um-orientierte Mensch nur insofern auf dem Weg der Hinkehr zu seinem Erlöser bleiben kann, als er stets auf Gott re-orientiert wird.

V. Der Vollzug der Umkehrliturgie – Materialliturgische Analysen

Entsprechend einem pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnis handelt Gott in der Liturgie an den Menschen, die diese feiern, indem er sie stets und immer wieder neu re-orientiert, d. h., auf sich (Gott) hin ausrichtet. Eine solche Re-Orientierung geschieht einerseits in der Umkehrliturgie als eminent metanoetischem Moment des Gottesdienstes, andererseits entfaltet sich Gottes re-orientierende Wirkung während des gesamten Gottesdienstes und in jedem der »Schritte«, die ihn ausmachen. Dass es in der Umkehrliturgie und im Gottesdienst im Allgemeinen zu einer solchen Re-Orientierung kommt, hängt von Gott allein ab. Es bleibt ein souveräner und unverfügbarer Akt Gottes, der in keiner Weise heraufzubeschwören ist. Zugleich vollzieht Gott diesen Akt, indem er sich doch kreatürlicher, menschlicher Mittel bedient. Denn es sind immer bestimmte Menschen, die sich an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt im Namen Jesu versammeln, um gemeinsam zu beten, das Wort zu hören und die Sakramente zu feiern. Dürfen die Menschen somit in keiner Weise das tatsächliche Gelingen liturgischen Handelns als Verdienst für sich reklamieren, so tragen sie dennoch eine große Verantwortung im Zusammenhang mit diesem an sich unverfügbar bleibenden Ereignis: Sie sind dazu berufen, die Liturgie so zu konzipieren und zu feiern, dass die Hoffnung bestehen mag, dass sich der dreieinige Gott ihrer bedient, um die Feiernden auf ihn hin zu re-orientieren.1 Dieser Verantwortung ist freilich nur insofern nachzukommen, als sämtliche, sowohl inhaltliche als auch formale, Aspekte des liturgischen Geschehens in die Reflexion miteinbezogen werden. »Inhalt« und »Form« der Liturgie sind nicht isolierbar, sondern bedingen sich vielmehr gegenseitig, sodass sie immer in Verbindung zueinander zu betrachten sind.2 Zugleich involviert das liturgische Geschehen meh1 Getragen wird diese Verantwortung zwar von der gesamten feiernden Gemeinde, aber in der »Agenden-freien Zone« der evangelisch-reformierten Kirchen werden besonders jene Einzelnen und Gruppen in die Pflicht genommen, die auf Gemeindeebene mit der Planung und Leitung des Gottesdienstes beauftragt sind. Vgl. Kirchenordnung Zürich, Art. 36; 112 f. 2 Siehe unten, Kap. V.4.

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

rere Menschen, die zwar weder alle gleichzeitig noch auf dieselbe Weise handeln, jedoch immer in ihrer Ganzheit als »verkörperte« Subjekte in Anspruch genommen werden. Dementsprechend wird im Folgenden der Vollzug der Umkehrliturgie in verschiedener Hinsicht reflektiert. Nicht nur ihre Stellung im Gesamten des Gottesdienstes sowie ihr »Weg« und Inhalt sollen zur Sprache kommen, sondern es gilt ebenso, deren »Zeremoniale« zu untersuchen. Denn all diese Aspekte gehören zum Vollzug der Umkehrliturgie, beeinflussen ihre Gesamtgestalt und haben somit auch Einfluss auf ihre (erhoffte) Wirkung. Die Reflexion soll des Weiteren in stetem Rückbezug auf jene liturgischen Bücher und Sammlungen entwickelt werden, die sich unter deutschsprachigen Reformierten als Referenzgrößen anbieten: die Materialien der Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz, die Reformierte Liturgie des deutschen Reformierten Bundes sowie das Evangelische Gottesdienstbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Dadurch wird sich nämlich unter anderem zeigen, inwiefern im Blick auf eine Wiedergewinnung der Umkehrliturgie für den evangelisch-reformierten Gottesdienst an Bestehendes angeknüpft werden kann oder aber Ergänzungen und Veränderungen geboten sind. 1. Stellung Wie bereits ausgeführt, kennt die reformierte Tradition seit dem 16. Jahrhundert zwei Modelle der liturgischen Buße: die Offene Schuld nach der Predigt und das Gemeinde-Confiteor am Anfang des Gottesdienstes.3 Die Gründe, die zur Herauskristallisierung dieser beiden Formen führten, sind klar: Während das erstere Modell an die Tradition des Prädikantengottesdienstes anknüpfte (Zürich und oberdeutsche Gebiete), entwickelte sich das letztere im Anschluss an die Messliturgie, wobei das Stufengebet des Priesters zu einem gemeinsamen liturgischen Akt der Gemeinde umgeformt wurde (Straßburg, Genf, Niederlande, Schottland). Die historische Betrachtung reicht dennoch nicht aus, um die Frage zu erläutern, welches der beiden Modelle dem Sinn und der Bedeutung der reformierten Umkehrliturgie, wie sie im vorangehenden Kapitel skizziert worden sind, besser entspricht. Vielmehr ist danach zu fragen, an welcher Stelle des gottesdienstlichen »Weges« die Umkehrliturgie im Horizont eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses ihren Ort haben sollte. 3

Siehe oben, Kap. IV.1.1 und IV.1.2.

1. Stellung

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Beide Modelle finden nach wie vor Befürworter unter den Liturgiewissenschaftlern. So spricht sich etwa Emanuel Kellerhals deutlich für die Platzierung der liturgischen Buße am Anfang des Gottesdienstes aus. Dies begründet er mit dem Hinweis, dass die »Offene Schuld« (sic) »die reformierte Form der Anbetung« sei.4 Im Anschluss an Calvin betont Kellerhals den unauflöslichen Zusammenhang von gloria Dei und humiliatio hominis, von Lobpreis Gottes und »Demütigung des sündigen Menschen vor Gott«.5 Dabei sei allerdings zu beachten, dass es beim Sündenbekenntnis der Gemeinde nicht um einen »Akt der Selbstanklage« gehe, der etwa dem Lobpreis Gottes vorausgehe, sondern um eine Art »›getroste Verzweiflung‹, mit der sich der Sünder immer wieder neu der Barmherzigkeit Gottes in die Arme wirft«.6 Das gemeinsame Sündenbekenntnis erfüllt somit in dieser Perspektive gerade nicht eine reinigende Funktion vor dem Beginn des eigentlichen Gottesdienstes, sondern stellt selbst als Huldigungs- und Anbetungsakt den Beginn des Gottesdienstes dar. Gerade die Stellung am Anfang des Gottesdienstes erachtet hingegen Thomas Böttrich als wenig plausibel, denn sie hänge immer noch zu eng mit der Vorstellung zusammen, dass der Mensch sich von seiner Sünde »reinigen« solle, bevor er Gottesdienst mitfeiern dürfe.7 Nur in Ausnahmefällen, etwa »wenn die Gottesdienstgemeinde ganz stark von einem Ereignis betroffen ist, das die Frage nach individueller und gemeinschaftlicher Schuld aufkommen lässt«, sei es sinnvoll eine »Beichte« zu Beginn des Gottesdienstes abzuhalten.8 Im Allgemeinen optiert Böttrich jedoch für das Modell der Offenen Schuld,9 wobei diese sich nicht unmittelbar an die Predigt anzuschließen hätte,10 sondern – entsprechend der Tradition der sächsischen Landeskirche, der er auch angehört – in einen Zusammenhang mit dem Fürbittengebet zu bringen wäre.11 Die so konzipierte Offene Schuld wäre der Ort, an dem »die Sündhaftigkeit von Erwartungsstrukturen sozialer Systeme« aufgedeckt werden könnte. Eine solche Aufdeckung sowie die Erkennt4

Kellerhals, Sündenbekenntnis, 23; 25. A. a. O., 24. 6 A. a. O., 23 f. 7 Böttrich, Schuld bekennen, 244. 8 A. a. O., 252 f. 9 Ausgehend vom EGb bespricht er zudem als drittes Modell die »Gemeinsame Beichte« zur Vorbereitung aufs Abendmahl, wobei sich diese Form nur insofern eigne, als die Bedeutung dieses Sakraments als »Mahl zur Vergebung der Sünden« ausdrücklich benannt wird, vgl. Böttrich, Die Beichte, 108 f. Anders urteilt Böttrich allerdings in: Schuld bekennen, 247 f. 10 Diese Möglichkeit wird nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber nur dann für sinnvoll erachtet, wenn die Predigt ausdrücklichen »Bußcharakter« trage, vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 245. 11 A. a. O., 253. 5

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

nis, dass man selbst »auf erschreckende Weise in Schuld verstrickt ist«, bilden nämlich laut Böttrich die einzige Basis, auf der sinnvollerweise für Menschen in Not gebetet werden kann.12 Blickt man vor diesem Hintergrund auf die bestehende liturgische Literatur, so stellt man fest, dass sich diese unterschiedlichen Positionen in ihr widerspiegeln bzw. von ihr ausgehend entwickelt wurden. 1.1 Die Liturgie der deutschsprachigen Schweiz Im ersten Band der Liturgie der deutschsprachigen Schweiz (Lit I) wird grundsätzlich die Stellung des – fakultativen – »Bußteils« am Anfang des Gottesdienstes favorisiert. Im Anschluss an die Zürcher Gottesdienstordnung von 1965,13 nach der der Gottesdienst aus den fünf »Schritten« Sammlung, Anbetung, Verkündigung, Fürbitte und Sendung besteht,14 wird der Bußteil allerdings nicht dem ersten, sondern dem zweiten Schritt zugeordnet.15 Auch im dritten, dem Abendmahlsgottesdienst gewidmeten Band (Lit III) hält man an dieser Position fest, mit der Konsequenz, dass die Möglichkeit einer dem Mahlteil selbst unmittelbar vorausgehenden »Gemeinsamen Beichte«16 entschieden ausgeschlossen wird.17 Neben der Möglichkeit, Sündenbekenntnis und Gnadenzuspruch wie im Predigtgottesdienst am Anfang der Liturgie zu belassen, wurde allerdings auch die Tradition des »Bußgottesdienstes« bzw. der »Beichtvesper« berücksichtigt. Nach diesem Modell, das mit der Veröffentlichung der Kurpfälzischen Kirchenordnung von 1563 in die reformierte liturgische Praxis Eingang fand,18 bildet das Bekenntnis der 12

A. a. O., 253. Vgl. Kunz, Musikalische Wahrnehmung, 77–80. 14 Lit I, 54–56. 15 Lit I, 23; 37–44. Dies entspricht der von Kellerhals (der selber Mitglied der Liturgiekommission war, vgl. Lit I, 16) vorgetragenen Auffassung, das Sündenbekenntnis stelle eine Form der Anbetung dar. 16 Der Usus, der Abendmahlsfeier eine Beichthandlung der Gemeinde (in Alternative zur Einzelbeichte) vorzuschalten, geht auf das 16. Jahrhundert zurück (vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 100–108) und etablierte sich vor allem in lutherischen Gebieten, wobei die Feier eines »Bußgottesdienstes« am Vorabend eines Abendmahlsgottesdienstes auch der reformierten Tradition nicht völlig fremd ist (siehe unten). Die Gemeinsame Beichte als »Vorbereitung« zum Abendmahl scheint mittlerweile allerdings an Plausibilität verloren zu haben und wird nur noch selten gepflegt (vgl. a. a. O., 14 f.; 141). 17 Lit III, 36. In Widerspruch zu diesem in der Einleitung formulierten allgemeinen Grundsatz steht jedoch die Tatsache, dass in verschiedenen Formularen dem Mahlteil doch ein Sündenbekenntnis vorausgeht (a. a. O., 172; 224f.) oder aber das »Gebet vor dem Mahl« de facto die Form eines Sündenbekenntnisses mit Bitte um Vergebung annimmt (ebd., 74; 83; 91; 106). 18 Kirchenordnung 1563, 381–383. Vgl. Lurz, Feier, 91–95; Schulz, Sündenbekenntnis, 148 f. 13

1. Stellung

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Sünde mit anschließender Absolution das Zentrum eines eigenständigen Gottesdienstes, der entweder am einer Abendmahlsfeier vorausgehenden Sonntag oder aber am Samstagabend gefeiert werden kann.19 Im 1998 veröffentlichten Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz (RG) wurde die Gottesdienstordnung mit Bußteil übernommen, wobei dieser entsprechend den Vorschlägen von Lit I im zweiten Schritt (Anbetung) platziert wurde.20 Im »Gerüst eines Abendmahlsgottesdienstes« befindet sich das »Schuldbekenntnis« ebenso im Eingangsteil des Gottesdienstes und nicht unmittelbar vor der Abendmahlsfeier.21 Schließlich hält auch die »Taschenausgabe« der Liturgie aus dem Jahr 2011 (LitTA) grundsätzlich an der Auffassung fest, dass ein Sündenbekenntnis mit anschließendem Gnadenzuspruch – wenn überhaupt – am Anfang von sowohl Predigt- als auch Abendmahlsgottesdienst zu stehen habe.22 1.2 Die »Reformierte Liturgie« In der deutschen Reformierten Liturgie (RL) werden für den Predigtgottesdienst am Sonntagmorgen drei Ordnungen wiedergegeben, wobei die erste als die weithin gebräuchliche Form präsentiert wird.23 Die zweite entspricht hingegen der Praxis der Evangelisch-altreformierten Kirche in Niedersachsen,24 während die dritte in Anlehnung an die unierte Liturgie gestaltet und besonders in der Lippischen Landeskirche in Gebrauch ist.25 In allen drei Fällen werden Sündenbekenntnis und Gnadenzuspruch an den Anfang des Gottesdienstes gestellt: Sie folgen auf Eingangsspiel, Begrüßung und Eingangslied, machen also die zweite Hälfte des ersten Teils des Gottesdienstes (»Eröffnung und Anrufung«) aus.26 Insofern lässt sich auch bei der RL eine grundsätzliche Option für das Straßburger/Genfer Modell beobachten. Anders als in den deutschschweizerischen liturgischen Materialien wird allerdings die Möglichkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen, ein Sündenbekenntnis mit Gnadenzuspruch oder gar eine Gemeinsame Beichte dem Mahlteil eines Abendmahlsgottesdienstes voranzustellen.27 Obwohl dies nicht ausdrücklich gesagt wird, ist es zu vermuten, dass bei 19

Lit III, 21; 332–338; 409. RG 152. 21 RG 153. 22 LitTA, 10; 39 f. 23 RL, 32. 24 RL, 41. 25 RL, 45. 26 RL, 37 f.; 41 f.; 45 f. 27 RL, 344 und 353 f. (»Form A2«); a. a. O., 344 und 373 (»Abendmahl zu besonderem Anlass«). Vgl. Anhang B, Nr. 43 f. 20

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

dem Gebrauch dieser Form – die dem Usus der Lippischen Landeskirche entspricht28 – Sündenbekenntnis und Gnadenzuspruch zu Beginn des Gottesdienstes entfallen. 1.3 Das »Evangelische Gottesdienstbuch« Das im Jahr 2000 veröffentlichte Evangelische Gottesdienstbuch (EGb) stellt die gemeinsame Agende für die EKD wie auch für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands dar. Den unterschiedlichen liturgischen Traditionen wird dadurch Rechnung getragen, dass zwei »Grundformen« des Gottesdienstes berücksichtigt und als gleichberechtigt behandelt werden: Grundform I entspricht dem »Mess-Typ«, während Grundform II an die Tradition des »Predigtgottesdienstes« anknüpft, der seit der Reformationszeit in Südwestdeutschland – ähnlich wie in der Deutschschweiz – als Hauptgestalt des evangelischen Gottesdienstes gilt.29 Mit der Würdigung der Unterschiede zwischen den beiden Grundformen geht allerdings auch die Bestrebung einher, das Gemeinsame hervorzuheben. Dieses trete einerseits dadurch zutage, dass in beiden Formen ein »Kern an gleich bleibenden Stücken« begegne. Andererseits und vor allem bestehe aber das Gemeinsame darin, dass beide Grundformen dieselbe »Ablaufstruktur« aufweisen, die die vier Teile »Eröffnung und Anrufung«, »Verkündigung und Bekenntnis«, »Abendmahl« sowie »Sendung und Segen« umfasse.30 Bezüglich der Frage nach der Stellung eines Bußteils in der Liturgie werden verschiedene Varianten in Betracht gezogen. Sowohl für Grundform I wie auch für Grundform II ist es möglich, das Sündenbekenntnis im ersten ebenso wie im zweiten Teil zu platzieren. Wird die Buße im Rahmen der »Eröffnung und Anrufung« thematisiert, so geschieht dies nach Grundform II beim »Eingangsgebet«,31 welches den Eingangsteil abschließt und gleichsam dessen »Kernstück« bildet.32 Nach Grundform I kann entweder das »Vorbereitungsgebet«, welches zwischen Votum/Gruß und dem ersten Lied gesprochen wird,33 die Form eines Bußgebets annehmen; oder es kann ein solches mit dem Kyrie-Gesang verbunden werden und damit zwischen Eingangspsalm und Gloria Platz finden.34 Wird hingegen eine Platzierung des Bußteils im Rahmen von »Verkündigung und Bekenntnis« favo28 29 30 31 32 33 34

RL, 341. EGb, 24. Ebd. EGb, 52. EGb, 534. Vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 412f. EGb, 37. EGb, 38.

1. Stellung

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risiert, so kann dieser nach beiden Grundformen als Offene Schuld in unmittelbarem Anschluss an die Predigt und vor dem Kanzelsegen35 gestaltet werden.36 Nach Grundform I besteht des Weiteren die Möglichkeit, das Bußgebet zu einer Gemeinsamen Beichte auszuformen, die zum Schluss des zweiten Gottesdienstteils, zwischen der Gabenbereitung und der den Abendmahlsteil eröffnenden Präfation, zu erfolgen hat.37 1.4 Auswertung Im Lichte der Ausführungen zur Umkehrliturgie im vorherigen Kapitel sollte deutlich geworden sein, dass jegliche Interpretation der liturgischen Buße im Sinne eines Reinigungsakts dem evangelisch-reformierten Verständnis immer schon fremd gewesen ist. Dies lässt deren Stellung unmittelbar vor der Abendmahlsfeier, etwa in Form einer Gemeinsamen Beichte zur Vorbereitung auf einen »würdigen Empfang« des Sakraments, als besonders problematisch erscheinen. Aus denselben Gründen könnte aber auch gegen eine Platzierung an den Anfang des Gottesdienstes argumentiert werden, denn dabei könnte ja der Eindruck entstehen, dass sich Liturgin/Liturg und Gemeinde gleichsam zu »reinigen« brauchten, bevor die eigentliche Gottesdienstfeier wirklich beginnen könne.38 Aus solchen Überlegungen heraus scheint sich auf den ersten Blick der Schluss nahezulegen, dass das Modell der Offenen Schuld trotz seiner Sperrigkeit39 doch zu bevorzugen sei. Bei näherem Hinsehen nimmt sich jedoch die Stellung zu Beginn des Gottesdienstes gerade angesichts der im vorherigen Kapitel vorgeschlagenen Deutung der Umkehrliturgie als vorzüglich aus. Denn wenn in ihr als eminent metanoetischem Moment eben jene Re-Orientierung erbeten wird, auf die der gesamte Gottesdienst angelegt ist, so ist es umso sinnvoller, dass die Umkehrliturgie an dessen Beginn ihren Platz einnimmt, sodass die ganze Feier gleichsam unter ein metanoetisches Vorzeichen gesetzt wird. Vor diesem Hintergrund ist deshalb sowohl der deutschschweizerischen Liturgiekonferenz wie auch der RL beizupflichten, die sich beide grundsätzlich für eine Verortung der liturgischen Buße am Anfang des Gottesdienstes entscheiden und gleichzeitig das Sündenbekenntnis auf einen Moment der Sammlung und Anrufung Gottes in Wort (Gebet/Psalm) und Gesang folgen lassen. Dadurch wird nämlich das Miss35 36 37 38 39

Vgl. EGb, 73. EGb, 42; 53. EGb, 42 f.; 45. Vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 244. A. a. O., 245 f.

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

verständnis der Umkehrliturgie als vorbereitenden Reinigungsakt abgewehrt (denn der Gottesdienst hat unmissverständlich bereits davor begonnen), ohne aber auf die symbolische Bedeutung zu verzichten, die mit der Platzierung dieses liturgischen Elements in den ersten Gottesdienstteil einhergeht. 2. »Weg« und Inhalt Entsprechend den Ausführungen im vorangehenden Kapitel ist evangelisch verstandene, liturgische Buße Re-Orientierung auf Gott den Schöpfer und Erlöser. Diese geschieht, indem die feiernde Gemeinde und jeder Einzelne: (a) sich auf ihre Sündhaftigkeit besinnen; (b) Gott um Erneuerung bitten; (c) das Wort der Gnade zugesprochen bekommen; (d) sich erneut zum Gnadenbund Gottes mit den Menschen bekennen. Daraus ergibt sich hinsichtlich der Gestalt einer reformierten Umkehrliturgie, dass sie folgende Elemente enthalten soll: (a) Bekenntnis der Sünde, wobei mit »Sünde« nicht primär einzelne Verfehlungen bezeichnet werden, sondern die grundsätzliche Abkehr von Gott (aversio a Deo), die zugleich ein Geneigt-Sein zum Bösen (inclinatio ad malum) ist. Die Erkenntnis der so verstandenen Sünde geschieht immer im Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser, d. h. im Lichte des Evangeliums. (b) Bitte um Erneuerung und Re-Orientierung auf Gott durch seinen Geist. (c) Zuspruch der Gnade. (d) Antwort der Gemeinde auf diesen Zuspruch, bei der die Dimension der »Bundeserneuerung« im Zentrum stehen soll. Die Reihenfolge dieser Elemente ist nicht zufällig, sondern beschreibt einen »Weg«, entlang dessen liturgische Buße geschieht. Im Folgenden gilt es, die bestehenden liturgischen Materialien vor diesem Hintergrund zu analysieren, um festzustellen, wie sich die vorgeschlagenen Ordnungen zum obigen Modell verhalten, und zwar sowohl in Bezug auf die Gesamtgestalt (»Weg«) als auch in Bezug auf die Thematisierung der einzelnen Elemente (Inhalt). 2.1 Die Liturgie der deutschsprachigen Schweiz In Lit I weist der liturgische Bußteil eine einheitliche Struktur auf, die aus folgenden Schritten besteht:

2. »Weg« und Inhalt

– – – – – –

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Schriftlesung Sündenbekenntnis Bußstrophe Biblisches Trostwort Liturgischer Gnadenzuspruch Dankstrophe40

Der Bußteil zerfällt deutlich in zwei Teile, die je drei Elemente enthalten: einen durch die Pfarrerin/den Pfarrer verlesenen Bibelspruch; ein Gebet bzw. einen Gnadenzuspruch, ebenso durch die Pfarrerin/den Pfarrer gesprochen;41 eine gesungene Antwort der Gemeinde im Sinne der Bitte um Vergebung oder des Dankes für die gehörte Gnadenzusage. Lit I enthält zwar eine kleine Auswahl an Texten, die als Trostwort vor dem Gnadenzuspruch verwendet werden können,42 bietet aber keine Vorschläge zur Schriftlesung vor dem Sündenbekenntnis an.43 Aus dem Begleitheft zu Lit I, welches Emanuel Kellerhals verfasste, geht jedoch deutlich hervor, dass nach Ansicht der Liturgiekonferenz an dieser Stelle keine Verlesung der Zehn Gebote Platz finden dürfte, denn dies stellte nichts weniger als einen »Rückfall in die Gesetzesreligion« dar. Vielmehr sei »eine kräftige Evangeliumslesung voranzustellen, um den unerschütterlichen Grund unserer zuversichtlichen Bitte um Vergebung deutlich zu machen«.44 Nicht ausgeschlossen wird hingegen die Möglichkeit, entsprechend der Straßburger Gottesdienstordnung von 1542 die Gesetzesverlesung auf den Gnadenzuspruch folgen zu lassen.45 Die strukturelle Einheitlichkeit, die in Lit I zu beobachten ist, tritt in Lit III zugunsten einer größeren Vielfalt zurück. Zwei Texte, die bereits in Lit I begegneten – nämlich das Sündenbekenntnis aus der Zürcher Gottesdienstordnung von 1525/35 und dasjenige aus der Genfer/Straßburger Liturgie von 154246 – werden weder durch eine Schriftlesung eingeleitet noch folgen auf sie die in Lit I als üblich betrachteten Stücke (Bittstrophe, Trostwort, Gnadenzuspruch, Dankstrophe). Die Platzierung der Zehn Gebote nach dem Sündenbekennt40 Lit I, 37 f.; 41 f. Vgl. auch Kellerhals, Sündenbekenntnis, 3. Diese Struktur ist auch in RG 152 aufgenommen worden. 41 Die einzige Ausnahme stellt das Sündenbekenntnis in Lit I, 82 (Anhang A, Nr. 17) dar, bei dem das Gebet der Liturgin/des Liturgen durch zwei Bittrufe der Gemeinde ergänzt wird. 42 Lit I, 85–87. 43 Einige Hinweise finden sich allerdings in der »Einleitung«, vgl. Lit I, 27. 44 Kellerhals, Sündenbekenntnis, 32. Siehe auch a. a. O., 21 sowie Lit I, 27. 45 Lit I, 90. Vgl. Kellerhals, Sündenbekenntnis, 20. 46 Vgl. Anhang A, Nr. 3a; 7a.

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

nis (Formular V) erinnert zwar an die Straßburger Ordnung, bekommt aber durch die einleitende Formulierung (»Damit wir in dieser Gnade bleiben, hat Gott uns seine Gebote gegeben […]«) sowie durch das Fehlen eines expliziten Gnadenzuspruchs eine höchst fragwürdige Färbung.47 Ein expliziter Gnadenzuspruch einschließlich der Antwort der Gemeinde darauf fehlt ebenso in fast allen Formularen, bei denen das Sündenbekenntnis die Form eines »Gebets vor dem Mahl« annimmt48 – vermutlich, weil in diesen Fällen die unmittelbar darauf stattfindende Abendmahlsfeier selbst als Zuspruch der Vergebung interpretiert wird. Merkwürdiger ist hingegen die Tatsache, dass auch in Formular VIII, bei dem das Sündenbekenntnis am Anfang des Gottesdienstes platziert ist, auf einen expliziten Gnadenzuspruch verzichtet wird.49 Am ehesten entsprechen die Bußteile aus Formular IV (»nach Ökolampad«) und VI (»nach dem Basler Kirchenbuch 1911«) den Vorgaben von Lit I, indem beide auf das Sündenbekenntnis einen expliziten, durch ein Bibelwort eingeleiteten Gnadenzuspruch folgen lassen. Allerdings ist auch in diesen Formularen weder eine Bitt- noch eine Dankstrophe vorgesehen.50 Lit III enthält schließlich drei Formulare für die liturgische Buße, die zwar unterschiedlich lang, aber alle in ausgesprochen dialogischer Form konzipiert sind. In Formular I (»nach der Messordnung«) bekennen Liturgin/Liturg und Gemeinde gemeinsam ihre Sünde, indem sie Teile des einen Gebets responsorial sprechen,51 während in Formular XIII (»Familiengottesdienst«) auf die von der Liturgin/dem Liturgen formulierten Bitten jeweils Kyrie-Rufe der Gemeinde folgen.52 Interessanterweise enthält jedoch keines dieser beiden Formulare einen Gnadenzuspruch im engeren Sinn. Ist im ersteren die »Absolution« entsprechend der Tradition der Offenen Schuld optativisch formuliert, so wird im letzteren auf jegliche Absolutionsformel verzichtet und durch die schlichte Formulierung: »Gott lädt uns ein zu einem Leben mit ihm« zum darauffolgenden Gloria übergeleitet. Nur im dritten dieser dialogisch gestalteten Formulare begegnet ein expliziter, indikativisch formulierter und trinitarischer Gnadenzuspruch, der durch eine dreifache Bitte um Vergebung eingeleitet wird, welche die 47

Lit III, 189. Vgl. Anhang A, Nr. 19–22; 24. Eine Ausnahme bildet das »Gebet vor dem Mahl« in Formular XI, vgl. Anhang A, Nr. 37. 49 Anhang A, Nr. 23. Vgl. Lit III, 204 f. 50 Vgl. Anhang A, Nr. 35 und 36. 51 Anhang A, Nr. 34. 52 Anhang A, Nr. 38. Eine ähnliche Struktur weist auch das einzige Formular für die liturgische Buße in LitTA auf, vgl. Anhang A, Nr. 40. 48

2. »Weg« und Inhalt

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Liturgin/der Liturg mit Bezug auf jede der drei Personen der Trinität spricht.53 Dem Gnadenzuspruch geht eine komplexe Sequenz voran, die aus einem gegenseitigen Sündenbekenntnis von Liturgin/Liturg und Gemeinde mit anschließender optativisch formulierter Absolution,54 einer allgemeinen Bitte um Erhörung durch Liturgin/Liturg und Gemeinde sowie dem Unservater besteht.55 2.1.1 Sündenbekenntnisse Fast alle Gebete sind in der ersten Person Plural formuliert, was angesichts der Tatsache, dass das liturgische Sündenbekenntnis einen Akt der Gottesdienstgemeinde als Ganzer darstellt, durchaus als sinnvoll zu erachten ist.56 Eine Ausnahme bilden die drei den Zürcher Gottesdienstordnungen von 1525 und 1535 entnommenen Gebete, bei denen getreu der Tradition der Offenen Schuld die Ich-Form beibehalten wurde.57 Die Verwendung der ersten Person Singular bei einem gottesdienstlichen Sündenbekenntnis dürfte jedoch nur insofern plausibel sein, als nicht die Liturgin/der Liturg allein, sondern die gesamte Gemeinde das Gebet mitspräche.58 Sünde wird in den Gebeten unterschiedlich thematisiert, wobei sich die Texte in drei Gruppen teilen lassen. Erstens gibt es Gebete, in denen entweder das Nomen »Sünde« (im Singular oder Plural) bzw. das Verb »sündigen« zwar begegnen, ohne dass aber ihre Bedeutung in irgendeiner Form expliziert wird.59 Solch eine unvermittelte Verwendung des theologischen und durchaus erklärungsbedürftigen Begriffs »Sünde« läuft jedoch Gefahr, auf Unverständnis zu stoßen bzw. geläufige Missverständnisse bezüglich der Natur der Sünde ungewollt zu verfestigen, indem keine alternative Auslegung geboten wird.60 Eine zweite Gruppe machen jene Gebete aus, in denen spezifische Konkretionen von »Sünde« aufgezählt werden, wobei der Fokus vor allem auf sogenannten »Tatsünden« liegt.61 Zur dritten Gruppe gehören 53

Anhang A, Nr. 39. Diese Form des Sündenbekenntnisses begegnet etwa auch im Messbuch der Evangelischen Michaelsbruderschaft, vgl. Gregorius/Schwarz, Feier, 214f. 55 Anhang A, Nr. 39. 56 Vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 241; Kellerhals, Sündenbekenntnis, 32. 57 Anhang A, Nr. 3; 3a; 4. 58 Vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 241. 59 Anhang A, Nr. 2; 3; 3a; 4; 7; 7a; 11. 60 Vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 240. 61 Anhang A, Nr. 5; 6; 8; 9; 13; 16; 18; 25. Bei Nr. 16 (im Jahr 1948 entworfen) steht der Bezug auf die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs dermaßen im Zentrum (»wie oft haben wir unsere eigenen wirtschaftlichen, nationalen und rassischen Interessen mit dem Evangelium gleichgesetzt […]«), dass eine Verwendung dieses Gebetes außerhalb dieses Bezugsrahmens faktisch verunmöglicht wird. 54

152

V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

schließlich Texte, die die Sündhaftigkeit des Menschen in den Blick nehmen und versuchen, diese zu explizieren, wobei häufig der Terminus »Sünde« gar nicht verwendet wird. Die Sündhaftigkeit wird gedeutet als Herrschsucht, Ungehorsam und Selbstverkrümmung,62 als Gottvergessenheit und -losigkeit,63 oder aber als Mangel an Glauben, Liebe, Hoffnung und Gerechtigkeit.64 In besonderer Entsprechung zur typisch reformierten Auffassung der Sünde als idolatrischer inclinatio des ganzen Menschen stehen ferner solche Gebete, die die Sündhaftigkeit als verkehrtes Ausgerichtet-Sein der Aufmerksamkeit, der Gedanken oder des ganzen Daseins artikulieren.65 Die meisten Gebete enthalten außerdem eine explizite Bitte um Vergebung,66 die in zwei Fällen mit der weiteren Bitte verbunden wird, Gott möge die Bekennenden zum ewigen Leben führen.67 Die Vergebungsbitte ist unterschiedlich formuliert (»vergib uns/mir«;68 »sei uns gnädig«, »erbarme dich unser«69), wobei verschiedene Formeln auch in Verbindung miteinander auftreten können.70 In zwei Fällen wird die Vergebungsbitte durch die Gemeinde vorgebracht, entweder als responsorial gesprochenes »Erbarm dich unser und vergib uns«71 oder in Form eines Liedes.72 Eine explizite Bitte um Erneuerung ist hingegen in verhältnismäßig wenigen Gebeten enthalten. Sie kann unterschiedliche Gestalten annehmen und begegnet etwa als Bitte um die Verleihung von Glauben, Hoffnung und Liebe,73 als Flehen um »neues Leben« und Neuschöpfung nach dem Ebenbild Christi (vgl. Röm 8,29),74 um Heiligung,75 oder aber – was besonders gut zum reformierten Verständnis der μετα νοια passt – als Bitte um Re-Orientierung auf Gott hin.76 62

Anhang A, Nr. 1; 10; 22. Anhang A, Nr. 12; 20. 64 Anhang A, Nr. 18; 19; 21. 65 Anhang, A, Nr. 14: »Wir sind weit von dir abgekommen […]«; Nr. 17: »Du hast gesprochen und uns gerufen, und wir haben nicht auf dich gehört. […] Du hast deine Hand nach uns ausgestreckt, und wir sind davor zurückgewichen«; Nr. 22: »Doch noch ärmer sind wir, wenn unser Herz sich verschließt und unsere Hände sich verkrampfen um den eigenen Gewinn«; Nr. 23: »Wir kreisen um uns selbst«. 66 Eine Ausnahme bilden: Anhang A, Nr. 8; 10; 20; 22; 23; 26. 67 Anhang A, Nr. 3; 3a. 68 Anhang A, Nr. 2–3; 3a; 12; 16; 19; 21. 69 Anhang A, Nr. 4; 7; 7a; 18. 70 Anhang A, Nr. 1; 5–6; 9; 13. 71 Anhang A, Nr. 17. 72 Anhang A, Nr. 14. 73 Anhang A, Nr. 26. 74 Anhang A, Nr. 7; 20; 24. 75 Anhang A, Nr. 7a; 9. 76 Anhang A, Nr. 22: »Wende unsere Gedanken ab von der Klage um das Wenige, das wir tun können. Richte unsere Sinne aus auf deinen Reichtum«; Nr. 23: »Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir«. 63

2. »Weg« und Inhalt

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2.1.2 Gnadenzusprüche Alle in Lit I zur Auswahl angebotenen Gnadenzusprüche sollen auf ein Schriftwort folgen, damit es deutlich wird, dass die Gnadenzusage, die die Pfarrerin/der Pfarrer spricht, allein auf der Autorität der Heiligen Schrift beruht.77 Um dies zu unterstreichen, wird besonders bei indikativisch formulierten Zusprüchen (»dir/euch sind deine/eure Sünden vergeben«) auf unterschiedliche Weise betont, dass die Gnadenzusage nur aufgrund der »geistlichen Vollmacht des Dieners Jesu Christi« erfolgt, damit keinem »institutionalistischen Missverständnis des Amtes« Anlass gegeben wird.78 Dazu dienen etwa die Verwendung von Verben wie »erklären«, »bezeugen« und »verkündigen« sowie der explizite Hinweis darauf, dass die Pfarrerin/der Pfarrer »im Auftrag des Herrn« die Gnadenzusage erteilt: All dies soll deutlich machen, dass der Zuspruch der Gnade keinen priesterlichen Akt, sondern eine spezifische Konkretion der Wortverkündigung darstellt.79 Die indikativischen Gnadenzusagen werden ferner – entsprechend einem in reformatorischen Formularen weit verbreiteten Usus80 – immer konditional gefasst.81 Auch damit wird verdeutlicht, dass die Lossprechung von der Sünde von Gott abhängt, der allein wahrhaftige Reue und Glauben schenken kann. Konditionale Formeln fehlen hingegen bei optativischen82 wie auch bei adhortativischen Gnadenzusprüchen.83 Die meisten Texte enthalten schließlich eine trinitarische Formel,84 sei es, der Zuspruch der Gnade selbst werde »im Namen« des dreieinigen Gottes erteilt,85 oder eine kleine Doxologie folge darauf.86 2.1.3 Ausgeformte Bußformulare Unter den in Lit III enthaltenen Bußformularen wird nur in den beiden, die in Anlehnung an die reformatorische Basler Abendmahlsliturgie gestaltet sind, eine starke Ähnlichkeit zu den Strukturvorgaben aus 77

Kellerhals, Sündenbekenntnis, 31. A. a. O., 33. 79 Anhang A, Nr. 27: »[…] erkläre ich als Diener des göttlichen Wortes, das die Versöhnung predigt: euch sind eure Sünden vergeben«; Nr. 27a: »[…] darf ich im Namen und Auftrag unseres Herrn bezeugen: euch sind eure Sünden vergeben«; Nr. 30: »Darum verkündige ich in seinem Auftrag […]: Dir sind deine Sünden vergeben«. 80 Vgl. Schulz, Ministerium reconciliationis, 77 f. 81 Anhang A, Nr. 27: »Allen denen, die ihre Sünden wahrhaft bereuen und die ihr Heil allein in Jesus Christus suchen, erkläre ich […]«; vgl. Nr. 27a; 30. 82 Anhang A, Nr. 32 und 33. 83 Anhang A, Nr. 28–29; 31. 84 Eine Ausnahme bilden: Anhang A, Nr. 31 und 33. 85 Anhang A, Nr. 27; 30. 86 Anhang A, Nr. 27a; 28–29; 32. 78

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

Lit I erkennbar.87 In beiden Fällen folgen Sündenbekenntnis und Gnadenzuspruch blockartig aufeinander, wobei beides von der Pfarrerin/ dem Pfarrer gesprochen wird. Sünde wird durch eine Aufzählung von Übertretungen thematisiert,88 an die sich eine Bitte um Vergebung anschließt. Die Bitte um Erneuerung bleibt hingegen in beiden Formularen aus. Der Gnadenzuspruch wird unterschiedlich gestaltet. Im ersten Formular besteht er – klassisch – aus einer kurzen Anamnese des Heilshandelns Gottes in Christus, einer adhortativischen Gnadenzusage sowie einer trinitarischen Doxologie. Im zweiten Formular fehlt hingegen ein Zuspruch der Gnade durch die Pfarrerin/den Pfarrer, an dessen Stelle vier unmittelbar aufeinanderfolgende Schriftzitate treten.89 Zwei weitere Formulare sind nach dem Modell des Confiteor der Messe konzipiert, wobei das letztere90 in gewisser Hinsicht eine ausgebaute und um einleitende »Fragen zur Gewissensforschung« (Gemeinsame Beichte91) ergänzte Version des ersteren92 bildet. In beiden Fällen bleibt die Rede von der Sünde eher allgemein und unspezifisch.93 Im zweiten Formular bekennen Liturgin/Liturg und Gemeinde aber nicht gemeinsam Gott, sondern einander ihre Sünde. Unterschiede sind ferner bezüglich der Bitten sowie der Absolution festzustellen. Während im ersten Formular nur eine Bitte um Vergebung zu finden ist (»Herr, unser Gott, erbarme dich«), enthält das zweite auch eine Bitte um Erhörung (»schau auf uns und erhöre unsere Bitten«), an die sich das Unservater anschließt, sowie eine Erneuerungsbitte, welche allerdings in den Zuspruch der Gnade eingebettet ist.94 Auch der Gnadenzuspruch selbst wird unterschiedlich gestaltet: Im ersten Formular ist dieser rein optativisch und knapp formuliert; im zweiten begegnen neben optativischen Gnadenzusagen, die unmittelbar auf die beiden Sündenbekenntnisse folgen, eine ebenso optativisch formulierte, auf jede der drei Personen der Trinität bezogene Vergebungsbitte wie auch ein abschließender, diesmal indikativischer Zuspruch der Gnade. 87

Anhang A, Nr. 35 und 36. Anhang A, Nr. 35: »[…] indem wir deine Gebote übertraten mit bösen Gedanken und Worten, Absichten und Taten, auch in großem Unglauben und Undank«; vgl. Nr. 36. 89 Jes 44,22; Mt 11,28; Lk 19,10; Joh 6,37. 90 Anhang A, Nr. 39. 91 Siehe unten, Kap. V.2.3.5. 92 Anhang A, Nr. 34. 93 Anhang A, Nr. 34: »[…] wir haben vor dir gesündigt«; Nr. 39: »[…] daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken«. 94 Anhang A, Nr. 39: »Er [sc. der Heilige Geist] reinige und erleuchte eure Herzen, damit ihr die Machttaten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.« 88

2. »Weg« und Inhalt

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Die knappe liturgische Buße, die sich in einem der beiden Abendmahlsformulare aus LitTA findet,95 erinnert stark an Kyrie und Gloria aus Formular XIII in Lit III.96 In beiden Fällen leiten kurze Vorsprüche zum darauffolgenden Kyrie über, wobei dieses in LitTA durch einen Moment der Stille ersetzt werden kann. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Liturgien besteht darin, dass LitTA nach dem dritten Vorspruch eine Zeit der stillen Sammlung für das persönliche Gebet reserviert. Der Inhalt der besagten Vorsprüche in beiden Formularen wirft allerdings die Frage auf, ob die Bezeichnung dieser liturgischen Sequenzen als »Sündenbekenntnis« angemessen sei. Im Formular aus Lit III werden zwar Gewalt, Ungerechtigkeit und Gottvergessenheit der Welt denunziert, aber die Gemeinde bekennt sich nicht explizit als schuldig vor Gott. Die in LitTA enthaltenen Hinweise auf Mängel, die das Leben der Menschen kennzeichnen (Mangel an Nahrung; Mangel an Fülle), können ferner nur schwer als Bekenntnis der Sünde gelten, genauso wenig wie die Aufforderung, in der Stille vor Gott zu bringen, »was uns beschäftigt, was uns belastet, was uns beschämt«, sich als Einleitung zu einem persönlichen Sündenbekenntnis im engeren Sinn ausnimmt. Dass diese Gebete eigentlich keine Sündenbekenntnisse darstellen, wird schließlich indirekt dadurch bestätigt, dass auf sie kein Gnadenzuspruch folgt, sondern bloß ein Vorspruch zum Gloria (Lit III) oder aber ein vermutlich absichtlich vage gehaltener Hinweis auf »Zukunft und Hoffnung« (LitTA). Ein explizites Sündenbekenntnis steht hingegen im Zentrum des letzten hier zu besprechenden Textes, nämlich das »Gebet vor dem Mahl« aus Formular XI in Lit III.97 Auf einen Moment der Sammlung folgt das Gedenken der Gnade Gottes, welches den Hintergrund für das sich anschließende Sündenbekenntnis bildet. Darin wird die Sünde zunächst als »Trägheit des Herzens« umschrieben, die als Wurzel für verschiedene Formen sündhaften Verhaltens betrachtet wird: »Wir sind vielen viel schuldig geblieben. Wir haben unsere Zeit verbraucht, als gehörte sie uns. Wir haben unsere Kräfte für Unwichtiges vergeudet und unser Glück an uns gerissen, als hätten wir nicht zu danken.« An das Bekenntnis schließt sich die Bitte um Vergebung an (»wir bitten dich: Vergib uns unsere Schuld«), die durch die Gemeinde in Form eines gesungenen Kyrie wiederholt wird. Das Gebet wird nach dem Gesang mit einem erneuten Gedenken der Gnade Gottes fortgesetzt, wobei an dieser Stelle besonders die in Jesus Christus geschehene Vergebung ins Zentrum rückt (»denn du hast uns deinen Sohn gesandt, der unsere Schuld auf sich genommen und getilgt hat«). Es folgt kein 95 96 97

Anhang A, Nr. 40. Anhang A, Nr. 38. Anhang A, Nr. 37.

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

expliziter Gnadenzuspruch, sondern das Gebet mündet in eine Doxologie, in der Gott sowohl für die in Christus geschenkte Befreiung von Sünde und Schuld als auch für die Möglichkeit, am gleich im Anschluss zu feiernden Abendmahl teilzunehmen, gedankt wird. 2.2 Die »Reformierte Liturgie« Nach allen drei Ordnungen, die die RL für den Predigtgottesdienst anführt, findet das Bekenntnis der Sünde im Eingangsgebet Platz. Nach Form 1 stellt es allerdings nur ein Element neben anderen dar, die zwischen anfänglicher Gottesanrede und abschließendem »Amen« in unterschiedlicher Anordnung auftreten können und nicht immer gemeinsam in diesem ersten Gebet enthalten sein müssen. Dazu gehören die Sammlung (»Ankommen«), das Beschreiben des göttlichen Handelns (»berichtendes Lob«) sowie die Bitte um Gottes Gegenwart und um seinen Segen für das Hören des Wortes.98 Dass die letztgenannte Bitte in das Eingangsgebet integriert werden kann, lässt erkennen, dass dieses nach der Minimalfassung des ersten Gottesdienstteils (»Eröffnung und Anrufung«) in Form 1 direkt zur Schriftlesung überleiten kann. In diesem Falle bestünde die liturgische Buße bloß in einem Aspekt des Eingangsgebetes. Diese Minimalfassung kann jedoch um zwei weitere Elemente erweitert werden, nämlich (a) um die Verlesung des Dekalogs, entsprechender Stücke des Heidelberger Katechismus oder biblischer Paränesen als Einleitung zum Eingangsgebet;99 (b) um einen Gnadenzuspruch im Anschluss daran. Letzterer soll grundsätzlich aus einem Bibelwort ohne angefügte liturgische Formeln bestehen100 und kann durch ein gemeinsam gesprochenes »Amen« der Gemeinde oder einen gesungenen Lobpreis abgeschlossen werden.101 Damit erhält die liturgische Buße nach Form 1 folgende Gestalt: [– Gottes Gebot (Zehn Gebote, andere Bibeltexte oder Stücke aus dem Heidelberger Katechismus)] – Eingangsgebet mit Sündenbekenntnis [– Gnadenzuspruch (Bibelzitat)] [– »Amen« oder Antwortlied der Gemeinde] Nach Form 2, welche in den Gemeinden der Evangelisch-altreformierten Kirche in Niedersachsen in Gebrauch ist, stellen hingegen sowohl der Gnadenzuspruch als auch das »Antwortlied« feste Bestandteile des 98

RL, 101. RL, 37. 100 RL, 159–167, bietet eine Auswahl an als Gnadenzusprüche sich eignenden Schriftzitaten. 101 RL, 38. 99

2. »Weg« und Inhalt

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ersten Gottesdienstteils dar, sodass alle folgenden Elemente in jedem Hauptgottesdienst102 zur liturgischen Buße gehören: – – – –

Sündenbekenntnis Gnadenzuspruch Gottes Gebot (Ex 20; Mk 12,28–31) Antwortlied103

Besonders interessant ist vor allem die Tatsache, dass hier die Verlesung der Zehn Gebote auf den Gnadenzuspruch folgt, was an die Straßburger Ordnung von 1542 erinnert und dem reformierten Verständnis des Gesetzes als Urkunde des Gnadenbundes Gottes mit den Menschen entspricht.104 Stehen Form 1 und 2 in grundsätzlicher Kontinuität zur Tradition des (reformierten) »Predigtgottesdienstes«, so orientiert sich die dritte, für manche Gemeinden der Lippischen Landeskirche typische Gottesdienstordnung eher an der unierten Liturgie und somit an der Messform.105 Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die Struktur der Bußliturgie, die sich nun um die zwei Foci des Kyrie und des Gloria entfaltet: Das Bußgebet schließt mit den Worten »Herr, erbarme dich« und leitet zum Kyrie über, während der Gnadenzuspruch – wie in Form 1 und 2 aus einem Bibelwort bestehend – in das Gloria mündet, welches entweder responsorial gestaltet oder von der Gemeinde gesungen werden kann (z. B. EG 179).106 Obwohl die Bußliturgie nach RL grundsätzlich an den Anfang des Gottesdienstes gehört, wird doch die Möglichkeit eingeräumt, sie in die Abendmahlsfeier einzubetten, und zwar unmittelbar vor der Verlesung des Einsetzungsberichts.107 Auffallend ist, dass sich die Struktur der liturgischen Buße in diesem Fall erheblich verändert und stark an diejenige einer Gemeinsamen Beichte108 erinnert. So folgt auf das Sündenbekenntnis etwa die Frage der Liturgin/des Liturgen an die Gemeinde, ob dies ihr »aufrichtiges Bekenntnis« sei, woran sich die Bestätigung durch die Gemeinde und eine liturgische Absolutionsformel anschließt.109 Die zahlreichen Textbeispiele zum Eingangsgebet mit Sündenbekenntnis, die die RL bietet, sind in drei Gruppen gegliedert: Gebete »zum 102 103 104 105 106 107 108 109

RL, 42. RL, 41 f. Vgl. oben, Kap. III.1.2. RL, 45. RL, 46. RL, 344; 353 f.; 373. Siehe unten, Kap. V.2.3.5. Anhang B, Nr. 43 und 44.

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

allgemeinen Gebrauch«, »zum Kirchenjahr« sowie »zu Themen und Anlässen«. Diese werden im Folgenden nacheinander besprochen. 2.2.1 Eingangsgebete zum allgemeinen Gebrauch In manchen Gebeten wird die Sünde von Anfang an und unmittelbar angesprochen,110 während andere sie vor dem Hintergrund und in Kontrast zum Heilshandeln Gottes thematisieren. Letzteres kann dadurch geschehen, dass das Sündenbekenntnis auf ein entfaltetes »berichtendes Lob« folgt,111 oder aber dadurch, dass einzelne Taten oder Eigenschaften Gottes genannt und jedes Mal mit dem ihnen nicht entsprechenden Handeln des Menschen kontrastiert werden.112 Eine solche Weise, zum Bekenntnis hinzuführen, erscheint angesichts der Ausführungen im vorherigen Kapitel besonders sinnvoll, denn sie entspricht der Einsicht, dass der Mensch nur im Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser die eigene Sündhaftigkeit erkennen kann. In Lit I wurde diesem Grundsatz Rechnung getragen, indem man dem Sündenbekenntnis eine »Evangeliumslesung« vorangehen ließ. Da nun aber in RL entweder keine Schriftlesung oder aber eine Verlesung des Gesetzes (Zehn Gebote o. Ä.) vorgesehen ist, ist das Sündenbekenntnis selbst der einzige Ort, an dem der genannte Grundsatz zur Sprache kommen kann. Die Rede von der Sünde bleibt in den meisten Gebeten allgemein und bezieht sich auf das Gottesverhältnis und/oder auf die existenzielle Befindlichkeit der Menschen. Angesprochen werden etwa Gottvergessenheit,113 Unrecht vor Gott,114 Untreue sowie die schuldhafte Selbstablenkung von der evangelischen Botschaft,115 aber auch Trägheit, Angst und Misstrauen.116 Nur selten werden spezifische Konkretionen der Sünde, beispielsweise im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen, genannt.117 In zwei Fällen wird schließlich weder die Sünde im Allgemeinen noch einzelne Konkretionen derselben zum Thema des Bekenntnisses, sondern vielmehr das Unvermögen der Menschen, sich ihre Schuld überhaupt einzugestehen, sowie die Neigung, diese zu bagatellisieren.118 Damit wird eine Grunddimension der Ursünde be-

110 111 112 113 114 115 116 117 118

Anhang B, Nr. 2; 3; 5; 6; 10. Vgl. Anhang B, Nr. 1; 4; 8; 11. Vgl. Anhang B, Nr. 9. Anhang B, Nr. 1; 5. Anhang B, Nr. 3. Anhang B, Nr. 8; 9; 11. Anhnag B, Nr. 7; 11. Vgl. Anhang B, Nr. 5. Anhang B, Nr. 2; 10.

2. »Weg« und Inhalt

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nannt, nämlich die ihr inhärente Tendenz, sich selbst zu »verdecken«.119 Auffallend ist, dass die meisten Texte keine explizite Bitte um Vergebung enthalten,120 sondern nahtlos vom Bekenntnis zur Epiklese übergehen. Die Dimension der Erneuerung des Daseins als Re-Orientierung auf Gott hin kommt allerdings in keinem Gebet direkt zur Sprache. Es wird indessen häufig um neues Vertrauen und Mut gebeten,121 um Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen,122 aber auch um Befreiung von selbstanklagenden und selbstzerstörerischen Neigungen.123 Wird dabei die Notwendigkeit der Buße als Re-Orientierung des gefallenen Geschöpfs nicht explizit angesprochen, so wird sie zumindest nicht in Frage gestellt. Dies geschieht hingegen zwangsläufig, wenn – wie es glücklicherweise nur bei einem einzigen Textbeispiel der Fall ist124 – die Anliegen der betenden Gemeinde in der Bitte »Nimm uns so an, wie wir sind« zusammengefasst werden. So sehr eine solche Bitte auf den ersten Blick angebracht zu sein scheint, entpuppt sie sich bei näherem Hinsehen als reine Negation des Sinns der Epiklese im Rahmen eines evangelisch verstandenen Bußgebets. Dabei kann es nämlich gerade nicht um eine Bitte um bloße Annahme gehen, sondern es wird um eine gnädige, und deshalb auch heiligende Annahme durch Gott gebeten: Man bittet, dass Gott sich des gefallenen Menschen annimmt, um aus ihm eine neue, auf Gott hin ausgerichtete Kreatur zu machen. 2.2.2 Eingangsgebete zum Kirchenjahr Neben den Eingangsgebeten zum allgemeinen Gebrauch enthält die RL auch Textbeispiele, die unter Berücksichtigung des liturgischen Kalenders, so wie er in lutherischen und unierten Kirchen in Deutschland in Gebrauch ist,125 zusammengestellt wurden. Nun lässt sich im Kirchenjahr zwischen Festen unterscheiden, die einen biblisch bzw. heilsgeschichtlich begründeten Fluchtpunkt haben, und solchen, bei denen dieser Fluchtpunkt fehlt.126 Zur ersten Gruppe gehören etwa die Feste aus dem Weihnachts- (mit der bedeutenden Ausnahme des Neujahrsfestes) und Osterfestkreis; zur zweiten zählen 119 120 121 122 123 124 125 126

Vgl. oben, Kap. IV.2.1.1. Nur bei Anhang B, Nr. 4 und 5, ist dies der Fall. Anhang B, Nr. 1; 4; 5; 11. Anhang B, Nr. 2; 6. Anhang B, Nr. 2; 9; 10. Anhang B, Nr. 7. Vgl. RL, 563. Vgl. Fechtner, Rhythmus, 126.

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

hingegen sowohl Gedenktage (Reformationssonntag) als auch »Ideenfeste«, welche »ein bestimmtes Thema des christlichen Glaubens zum Gegenstand haben«127 (Trinitatis), sowie Feste, die in Bezug zu den kosmisch-vegetativen Zyklen stehen (Erntedankfest, Neujahr).128 Diese Differenz wirkt sich in der RL auf die Art und Weise aus, in der Sünde in den verschiedenen Gebeten zum Kirchenjahr thematisiert wird, und beeinflusst damit auch den Inhalt der Epiklesen. In den Gebeten zu Festtagen aus dem Weihnachts- und Osterfestkreis bildet das Gedenken eines spezifischen Aspekts des Heilshandelns Gottes den Hintergrund, vor dem auf die Sünde des Menschen aufmerksam gemacht wird. Diese kann einerseits in der fehlenden Bereitschaft bestehen, sich die jeweilige Heilsbotschaft existenziell anzueignen.129 Auf ein solches Bekenntnis folgt etwa die Bitte um Erleuchtung des Verstandes,130 um Mehrung des Vertrauens in Gott,131 oder um die Aufhebung äußerer Umstände (Ungerechtigkeit, »ungesühnte Verbrechen«), die die Akzeptanz der Heilsbotschaft erschweren.132 Andererseits kann die Sünde der Gemeinde darin erkannt werden, dass Leben und Handeln der Glaubenden im Widerspruch zum Handeln Gottes an ihnen steht, wobei Bekenntnisse dieses Typus in die Bitte um Erneuerung des Lebens und wahrhaftige Umkehr münden.133 Der Bezug auf spezifische Aspekte des Heilshandelns Gottes fehlt hingegen verständlicherweise bei den Gebeten zu den übrigen Festtagen. Hier stellt vielmehr das Thema oder der Gegenstand des Festes die Folie dar, vor der Sünde er- und bekannt wird. Dies kann dadurch geschehen, dass das Festthema auf bestimmte, sowohl vergangene als auch gegenwärtige Formen sündhaften Verhaltens aufmerksam macht.134 Oder aber die Sünde manifestiert sich in der Diskrepanz zwischen dem Thema des Festes und der allgemeinen Lebenseinstellung der Glaubenden.135 Die sich an das Bekenntnis anschließenden Epiklesen sind eng auf die jeweils angesprochenen Dimensionen der Sünde bezogen und zielen auf deren Überwindung.136 In einem einzi127

Bieritz, Kirchenjahr, 161. Vgl. a. a. O., 72. 129 Anhang B, Nr. 13; 14; 15; 20; 21; 24. 130 Anhang B, Nr. 24. 131 Anhang B, Nr. 15; 21. 132 Anhang B, Nr. 13. 133 Anhang B, Nr. 12; 19; 22; 23; 25; 26. 134 Anhang B, Nr. 16–18 (Neujahr); 28 (Israelsonntag); 30–31 (Reformationssonntag); 32 (Volkstrauertag). 135 Anhang B, Nr. 27 (Trinitatis); 29 (Erntedank); 34 (Ewigkeitssonntag). 136 So etwa Anhang B, Nr. 28 (Israelsonntag): »Segne die Anfänge neuen Verstehens. Lass uns Verbindendes entdecken und Israels Eigenständigkeit achten«; Nr. 31 (Reformationssonntag): »Geist Gottes, kehre in uns ein, damit wir einsehen, wo wir umkehren und neu anfangen müssen«; Nr. 32 (Volkstrauertag): »Lass nicht zu, dass 128

2. »Weg« und Inhalt

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gen Fall, nämlich beim Eingangsgebet zum Buß- und Bettag, wird in der Epiklese nicht um Überwindung der Sünde per se gebeten, sondern vielmehr die fehlende Bereitschaft, überhaupt die eigene Sündhaftigkeit einzugestehen, in den Mittelpunkt gestellt,137 was durchaus als geeignete Eröffnung für einen Festgottesdienst zu betrachten ist, der als Ganzer um das Thema »Sünde und Vergebung« bzw. »Umkehr« kreist. 2.2.3 Eingangsgebete zu Themen und Anlässen Die dieser Gruppe zugehörigen Textbeispiele sind für Gottesdienste gedacht, in deren Zentrum nicht kirchenjährlich gebundene und doch kirchlich, gesellschaftlich oder politisch relevante Themata stehen (etwa Arbeit; Diakonie; Ehe und Partnerschaft; Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung).138 In den Gebeten, die überhaupt ein Sündenbekenntnis enthalten,139 wird versucht, die Rede von der Sünde auf den entsprechenden Kasus zu beziehen. Daraus ergibt sich, dass in den Texten aus dieser Untergruppe häufiger als bei den Eingangsgebeten zum allgemeinen Gebrauch oder zum Kirchenjahr spezifische Konkretionen der Sünde angesprochen werden. Dies geschieht immer vor dem Hintergrund eines Gedenkens des Handelns Gottes. Damit wird erneut signalisiert, dass der Glaube an Gott den Schöpfer und Erlöser den einzigen Grund der Erkenntnis der Sünde im spezifisch theologischen Sinn bildet. So lässt etwa die im Glauben erkannte Fürsorge Gottes, von der »wir alle bis zum heutigen Tag leben«, die »Eigensucht«, »Gleichgültigkeit« und »Trägheit in der Liebe« der Menschen als Sünde zutage treten.140 Oder aber die Hingabe, welche das Tätig-Sein Gottes in Bezug auf den Menschen grundsätzlich charakterisiert, macht auf die ebenso grundsätzliche Eigennützigkeit menschlichen Tätig-Seins aufmerksam.141 Entsprechend der tendenziell größeren Konkretheit der Sündenbekenntnisse in diesen Gebeten sind schließlich auch die Epiklesen fordie begangenen Verbrechen geleugnet, verharmlost und vergessen werden, sondern hilf uns, die Erinnerung auszuhalten und zu tatkräftiger Umkehr zu finden«; Nr. 34 (Ewigkeitssonntag): »Herr, schreib uns deine Verheißungen in unser Herz und pflanze mit ihnen den nötigen Glauben, dass wir dich erkennen als Grund und Ziel unseres ganzen Lebens«. 137 Anhang B, Nr. 33: »Herr, bring uns zur Einsicht, schärfe unser Gewissen und gib uns Mut, unser Versagen einzugestehen und um Verzeihung zu bitten.« 138 RL, 141–153. 139 Dies ist – entsprechend den Richtlinien zum Inhalt der Eingangsgebete (vgl. oben, Kap. V.2.2) – auch bei den Textbeispielen in dieser Gruppe nicht immer der Fall, vgl. RL, 152f. 140 Anhang B, Nr. 36 (Diakonie). 141 Anhang B, Nr. 35 (Arbeit).

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

muliert, in denen häufig spezifische Gestalten der Erneuerung genannt sind, die von Gott erbeten wird.142 2.3 Das »Evangelische Gottesdienstbuch« 2.3.1 Vorbereitungsgebete Nach den Angaben im EGb besteht ein typisches Vorbereitungsgebet aus drei Elementen:143 einer Anrede an die Gemeinde mit der Aufforderung, Gott um Vergebung zu bitten; einer gemeinsam gesprochenen Vergebungsbitte (»optativische Absolution«); einem kurzen Gebet, das eine deutsche Übersetzung der Oration »Aufer a nobis« aus der lateinischen Messe darstellt.144 Auffallend ist dabei das Fehlen eines Sündenbekenntnisses im engeren Sinn.145 Die Gemeinde wird zwar aufgefordert, um Gottes Vergebung zu bitten, aber der gemeinsam gesprochenen Bitte geht keine explizite Besinnung auf die eigene Sündhaftigkeit voran. Die Kenntnis darum wird vielmehr durch Formeln wie: »Weil wir aber gesündigt haben …«146 gewissermaßen vorausgesetzt. Auch für das persönliche Bekenntnis (»Herzensbeichte«) wird nur bei einem einzigen Gebet zwischen Anrede und Vergebungsbitte Zeit gelassen.147 Sowohl das Fehlen von Sündenbekenntnis und jeglicher Form von Epiklese wie auch die Präsenz eines Gebets wie das »Aufer a nobis« am Ende der liturgischen Sequenz bekräftigen den Eindruck, dass es sich bei so konzipierten »Vorbereitungsgebeten« doch um eine Art formelhaften Reinigungsakt der Gemeinde handle, was wiederum Zweifel bezüglich der Angemessenheit solcher Gebete im Rahmen eines evangelischen Gottesdienstes aufkommen lässt.148 142 Vgl. Anhang B, Nr. 36 (Diakonie): »Schenke uns einen wachen Geist und ein empfindliches Gewissen, dass wir denen zur Wohltat werden, die auf Hilfe warten«; 37 (Ehe und Partnerschaft): »Bewahre, was unsere Gemeinschaft stärkt, heile die Risse in unserer Beziehung«; 40 (Freundschaft und Zusammenleben): »Gib uns einen aufmerksamen Blick füreinander. Lass uns überwinden, was uns hindert, zueinander zu finden, und mach uns Mut, selber Hilfe in Anspruch zu nehmen.« 143 Vgl. EGb, 493. 144 Diese Oration (»Aufer a nobis, quaesumus Domine, iniquitates nostras: ut ad Sancta sanctorum puris mereamur mentibus introire. Per Christum dominum nostrum. Amen«), welche vom Priester während des Gangs zum Altar leise gesprochen wurde, schloss das »Stufengebet« ab, vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia, Bd. 1, 401 f. Im EGb wird sie folgendermaßen übersetzt (Anhang C, Nr. 2): »Nimm von uns, Herr, unsere Sünde und verleihe uns, dass wir mit lauterem Herzen und reinen Lippen diesen Gottesdienst feiern und dich preisen. Durch Jesus Christus, unsern Herrn.« 145 Anhang C, Nr. 1–3. 146 Anhang, C, Nr. 3; vgl. ebd., Nr. 2: »Weil wir aber von Gottes Weg abgewichen sind und aus eigener Kraft nicht zurückfinden können …«. 147 Anhang C, Nr. 1. 148 Vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 244.

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Ganz anders verhält es sich mit den übrigen drei Texten, die das EGb als Vorbereitungsgebete vorschlägt.149 Keines dieser Gebete entspricht der oben genannten dreigliedrigen Struktur: Alle enthalten ein explizites Sündenbekenntnis und lassen Raum für das stille Bekenntnis der Gemeindeglieder; darüber hinaus begegnet das »Aufer a nobis« nur bei einem der Gebete150 und die optativische Absolution sogar bei keinem. Allerdings wird nur in einem Fall151 die Besinnung auf die grundsätzliche Sündhaftigkeit des Menschen (im Sinne des Abgekehrt-Seins von Gott) mit der Erwähnung konkreter Formen sündhaften Verhaltens kombiniert. In den beiden anderen Gebeten kommen diese zwei Dimensionen hingegen je einzeln zur Sprache. Dass beim einen Gebet als Wurzel der darauf aufgezählten Konkretionen der Sünde152 gar die Mitschuld der Gemeinde an »Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Krieg« erwähnt wird, wirft jedoch die Frage auf, ob dieser Text als allgemeines Sündenbekenntnis wirklich tauge oder sich vielmehr nur für einen thematischen Gottesdienst etwa zu »Krieg und Frieden« eigne. Vorbereitungsgebete können nach dem EGb schließlich der sogenannten »Abholung aus der Situation« dienen, wobei sich die Frage stellt, ob man die entsprechenden Texte nicht vielleicht besser der Kategorie der Eingangsgebete zu Grundform II153 – denen sie sowohl formal als auch inhaltlich sehr ähneln – zugewiesen hätte. In den beiden Gebeten aus dieser Untergruppe, die überhaupt Sünde thematisieren,154 werden die Betenden zunächst als »Menschen guten Willens« betrachtet, die einen Widerspruch zwischen den Anforderungen ihres Gewissens und ihrem tatsächlichen Handeln bzw. ihrem Verstrickt-Sein in Dynamiken der Unterdrückung und Gewalt erleben. Somit ist letztlich das Gewissen, das Gottes Willen angeblich kennt, und nicht der Glaube an Gottes Heilshandeln in Christus Kriterium zur Erkenntnis der in erster Linie als moralisches Fehlverhalten betrachteten Sünde. Die Abkehr von Gott wird zumindest in einem Fall zwar auch erwähnt, aber bezeichnenderweise erst an zweiter Stelle.155 Beide Gebete enden mit einer knappen Bitte um Vergebung sowie einer ebenso knappen Epiklese. 149

Anhang C, Nr. 4–6. Anhang C, Nr. 4. 151 Anhang C, Nr. 4. Dabei handelt es sich um ein Gebet, das von Lit I (vgl. Anhang A, Nr. 17) übernommen und um das »Aufer a nobis« ergänzt wurde. 152 Anhang C, Nr. 5: »Oft haben wir versäumt, Unrecht zu verhindern. […] Oft haben wir geschwiegen, wo wir hätten reden müssen. […] Oft haben wir nur geredet, wo wir etwas hätten tun müssen.« 153 Vgl. unten, Kap. V.2.3.3. 154 Anhang C, Nr. 7 und 8. 155 Anhang C, Nr. 7. 150

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

2.3.2 Bußgebete mit Kyrie und Gloria Diese Form der Bußliturgie entspricht der unierten Tradition, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelte und besonders in der preußischen Agende von 1895 Ausdruck fand.156 Nach diesem in liturgiehistorischer Perspektive und besonders von lutherischer Seite her vielfach kritisierten Modell157 dient das von der Gemeinde oder im Wechsel zwischen Chor und Gemeinde gesungene Kyrie als Antwort auf das zuvor gesprochene Sündenbekenntnis bzw. als dessen Aneignung. Das Gloria bekommt hingegen die Bedeutung eines Lobgesangs der Gemeinde angesichts der ihr verkündigten Gnade Gottes.158 Daraus ergibt sich die typisch responsoriale Ordnung: – Sündenbekenntnis (Pfarrerin/Pfarrer)

– Kyrie (Gemeinde, evtl. Chor)

– Gnadenzuspruch (Pfarrerin/Pfarrer)

– Gloria (Gemeinde, evtl. Chor)

Die Gnadenzusprüche sind weder als indikativische noch als optativische oder adhortativische Absolution, sondern immer als reine Verkündigung der in Christus erfolgten Erlösung gestaltet (»Der allmächtige Gott hat sich unser erbarmt …«) und werden häufig durch einen Bibelspruch ergänzt. Bei den dem Kyrie vorangehenden Sündenbekenntnissen ist hingegen eine größere Vielfalt zu beobachten. Abgesehen davon, dass in einem Fall zwar Gott um Annahme des Bekenntnisses der Gemeinde gebeten wird, dieses aber in keiner Weise stattfindet – weder als durch die Liturgin/den Liturgen gesprochenes noch als von der Gemeinde in der Stille vorgetragenes Bekenntnis159 –, enthalten alle anderen Gebete explizite, in der ersten Person Plural formulierte160 Sündenbekenntnisse. In zwei Texten wird Sünde in erster Linie als Fehlverhalten gegenüber den Mitmenschen angesprochen,161 während in einem dritten eher die Gottesbeziehung im Zentrum steht.162 In zwei Gebeten begegnet ferner auch eine explizite Bitte um Vergebung.163 Eine Epiklese (»… wandle unsere Herzen durch die Macht deiner Liebe«) ist hingegen nur in einem einzigen Gebet ent156

Vgl. Klaus, Rüstgebete, 562. A. a. O., 563 f.; Meyer-Blanck, Heilsame Nähe, 102; ders., Eröffnendes Beten, 183–185. 158 Klaus, Rüstgebete, 561 f. 159 Anhang C, Nr. 9. 160 Einzige Ausnahme ist Anhang C, Nr. 13. Zur Frage nach der Plausibilität eines in der ersten Person Singular formulierten Sündenbekenntnisses der Gemeinde vgl. oben, Kap. V.2.1.1. 161 Anhang C, Nr. 11 und 12. 162 Anhang C, Nr. 10. 163 Anhang C, Nr. 10 und 11. 157

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halten.164 Schließlich wird auch die Gebetsstille unterschiedlich gehandhabt. Dient sie einerseits traditionell dem stillen Bekenntnis des Einzelnen zu Gott (»Herzensbeichte«),165 so gewinnt sie doch in einem der Bußgebete die Bedeutung eines Moments, in dem nicht so sehr der Mensch zu Gott, sondern vielmehr Gott selbst zum Menschen sprechen mag: »… zeige mir jetzt in der Stille, wo ich mich ändern muss und was ich wieder in Ordnung bringen kann.«166 2.3.3 Eingangsgebete (Grundform II) Findet ein Gottesdienst nach Grundform II statt,167 so kann das »Sündenbekenntnis« im Eingangsgebet, d. h. zwischen biblischem Votum/Psalm und Schriftlesung,168 Platz finden, allerdings ohne jegliche spezielle Einleitung (etwa durch eine Lesung) sowie ohne einen darauf folgenden Gnadenzuspruch. Die Stellung des Eingangsgebetes macht jedoch deutlich, dass ihm mehrere Funktionen zukommen (»Vorbereitungsgebet«, Bitte um den Segen Gottes für das Hören seines Wortes, »Tagesgebet«), wobei die Besinnung auf Sünde und Schuld nur eine (mögliche) Dimension darstellt, die – wenn überhaupt präsent – immer in Zusammenhang mit den übrigen Aspekten gebracht werden muss. Es vermag somit nicht zu überraschen, dass keines der Eingangsgebete aus dem EGb als Sündenbekenntnis im engeren Sinn bezeichnet werden kann. Es findet weder ein explizites Bekenntnis statt noch wird um Vergebung gebeten. Vielmehr werden »Angst«, »Sorgen«,169 verschiedene Unzulänglichkeiten,170 aber auch »Last«, »Müdigkeit«, »Gleichgültigkeit« und gar »Sünde«171 als negative Aspekte der Befindlichkeit der versammelten Gemeinde lediglich benannt. Daran schließt sich sofort eine Bitte um Segen, Erleuchtung oder Erneuerung an, die auf die gleich darauf stattfindende Lesung oder auf den gesamten Gottesdienst bezogen ist.

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Anhang C, Nr. 10. Anhang C, Nr. 11. 166 Anhang C, Nr. 12. 167 Siehe oben, Kap. V.1.3. 168 EGb, 134. 169 Anhang C, Nr. 14. 170 Anhang C, Nr. 15: »… wir möchten aufmerksamer hören, als wir es tun; wir möchten dir glaubhafter dienen, als wir es bisher wagen; wir möchten wacher leben, als es uns bisher gelingt.« 171 Anhang C, Nr. 13. 165

166

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2.3.4 Offene Schuld Das gemeinsame Sündenbekenntnis kann nach EGb auch als Offene Schuld in den Gottesdienst – und zwar nach beiden Grundformen – integriert werden. Die Bezeichnung »Offene Schuld« gibt in erster Linie Auskunft über die Platzierung der Bußliturgie, die nach diesem Modell und in Kontinuität mit der Tradition des »Pronaus« immer in unmittelbarem Anschluss an die Predigt stattfinden soll.172 Bezüglich der genauen Gestalt der Offenen Schuld lässt das EGb hingegen Raum für eine beträchtliche Formenvielfalt. Nach einem traditionelleren Muster besteht die Offene Schuld aus einem von der Pfarrerin/dem Pfarrer gesprochenen Sündenbekenntnis, dem sich eventuell eine gemeinsam gesprochene Vergebungsbitte (»optativische Absolution« in der ersten Person Plural) sowie ein biblisches Gnadenwort anschließen können.173 Diesem Modell entsprechen allerdings nur vier174 unter den insgesamt neun Texten, die im EGb zu finden sind. Die Rede von der Sünde bleibt recht allgemein, während in einem Fall sogar auf ein explizites Bekenntnis verzichtet wird.175 Nur ein einziger Text unternimmt den Versuch, bestimmte Konkretionen der Sünde in Kontrast zu einzelnen Aspekten des Heilshandelns Gottes zu benennen.176 Eine Epiklese (mit der Bitte um Erneuerung des Lebens bzw. um Befestigung der Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen) ist in zwei Gebeten enthalten,177 während eine gemeinsam gesprochene optativische Absolution nur in einem Text begegnet.178 Die Offene Schuld kann nach EGb aber auch eine komplexere, stärker responsoriale Struktur aufweisen, bei der die Gemeinde wiederholt durch Bittrufe (»Gott, sei mir Sünder gnädig«) ins Gebet einstimmt.179 Charakteristisch ist die Tatsache, dass die Liturgin/der Liturg zwar zum Bekennen der Sünde auffordert, aber selber kein entsprechendes Gebet spricht. Vielmehr folgt darauf ein Moment der Stille, der zur »Besinnung« im Sinne der »Herzensbeichte« dienen soll. Allerdings werden bei der Aufforderung zum Bekenntnis zwei fundamentale Dimensionen der Sünde benannt, nämlich der Mangel an Vertrauen in Gott sowie der Mangel an Nächstenliebe. An die Gebetsstille schließen sich ein kurzes Votum der Liturgin/des Liturgen sowie ein Bittruf 172 173 174 175 176 177 178 179

EGb, 543; Böttrich, Schuld bekennen, 245. EGb, 543. Anhang C, Nr. 16; 18; 20; 21. Anhang C, Nr. 21. Anhang C, Nr. 20. Anhang C, Nr. 18 und 21. Anhang C, Nr. 16. Anhang C, Nr. 22.

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der Gemeinde an. Die Bußliturgie endet sodann mit einem deklarativen Vergebungszuspruch. Noch stärker responsorial geprägt ist eine weitere Gruppe von Gebeten, welche wegen der dichten Aneinanderreihung von Bittworten der Liturgin/des Liturgen bzw. der Lektorin/des Lektors und von Bittrufen der Gemeinde gar eine Litanei-artige Gestalt aufweisen.180 Da die Form solcher Gebete erfordert, dass die Vorbeterin/der Vorbeter kurze, möglichst präzise Gebetsanliegen vorträgt, ist es wenig überraschend, dass dabei in erster Linie spezifische, sowohl die Gottesbeziehung als auch die Beziehung zu den Mitmenschen betreffende Konkretionen der Sünde zur Sprache kommen. Das Gebet kann durch eine Vergebungsbitte,181 eine optativische Absolution182 oder durch eine Epiklese183 abgeschlossen werden. Unter den Offene-Schuld-Gebeten findet sich schließlich ein Text, der an sich keinem der oben erwähnten Muster entspricht und sich als eine eigenartige Mischung aus Litanei-Gebet und Confiteor ausnimmt. Auf Anrufungen der drei Personen der Trinität, denen sich Bittrufe der Gemeinde anschließen, folgt die übliche Aufforderung zum stillen Bekenntnis. Nach der Gebetsstille und anstelle eines Vergebungszuspruchs spricht nun aber die Pfarrerin/der Pfarrer ein persönliches Sündenbekenntnis, worauf die Gemeinde mit einer auf sie/ihn bezogenen optativischen Absolution antwortet.184 2.3.5 Gemeinsame Beichte Nach dem EGb stellt die Gemeinsame Beichte eine Ausformung der Offenen Schuld dar, die nun aber nicht mehr in Zusammenhang mit der Predigt steht, sondern als Vorbereitung auf den Empfang des Abendmahls gedeutet wird. Typisch für die Gemeinsame Beichte ist die Präsenz von expliziten Beichtfragen an die Gemeinde sowie einer indikativisch formulierten Absolution. Letztere wird unter expliziter Berufung auf die »Vollmacht« erteilt, die Christus seiner Kirche – und speziell den ordinierten Geistlichen – gegeben habe, und bekommt dadurch eine stark sakramentale, an die Praxis der Absolution bei einer Einzelbeichte erinnernde Färbung. Im Prinzip könne jedes Formular zur Offenen Schuld durch Hinzufügung der beiden soeben genannten Elemente zur Gemeinsamen Beichte erweitert werden.185 Auf explizite Beichtfragen sei nur insofern zu verzichten, als die gesamte 180 181 182 183 184 185

Anhang C, Anhang C, Anhang C, Anhang C, Anhang C, EGb, 543.

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

17; 19; 23. 17. 23. 19. 24.

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

Gemeinde das – wohl in der ersten Person Singular formulierte – Sündenbekenntnis mitspreche.186 In den beiden Formularen, die dem Typus mit Beichtfragen entsprechen,187 sind keine expliziten Sündenbekenntnisse enthalten, sondern die Liturgin/der Liturg fordert lediglich die Gemeinde auf, ihr Bekenntnis vor Gott in der Stille abzulegen. Die Weise, in der diese Aufforderung formuliert ist, deutet jedoch auf das Sündenverständnis hin, das durch die Formulare – zumindest indirekt – vermittelt wird: Während im einen Fall knapp aber deutlich zwei Grunddimensionen der Sünde angesprochen werden (coram Deo: Mangel an Vertrauen und Gehorsam; coram hominibus: Mangel an Nächstenliebe),188 läuft die im zweiten Formular verwendete Terminologie (»Du kennst unsere Stärken und unsere Fehler«)189 Gefahr, der gnostizistischen Verwechslung der Sünde mit der konstitutiven und deshalb an sich nicht schuldhaften Begrenztheit des Geschöpfes Vorschub zu leisten. Das gemeinsam zu sprechende Sündenbekenntnis aus dem dritten Formular gibt schließlich ein traditionell lutherisches Beichtgebet unverändert wieder,190 bei dem die Sündhaftigkeit des Menschen in »Gedanken, Worten und Werken« zwar ausführlich und in sehr düsteren Tönen, die Dimension der Umkehr sowie der Erneuerung menschlichen Daseins hingegen nur am Rande angesprochen wird.191 Die (fast) vollkommene Ausblendung des epikletischen Moments scheint jedenfalls allgemein typisch für die Form der Gemeinsamen Beichte zu sein, die sich nicht zuletzt deshalb eher als Reinigungsritual ausnimmt. 2.4 Auswertung Überblickt man den Befund unserer Analysen, so lassen sich bezüglich jedes der »Schritte« der Umkehrliturgie allgemeine Beobachtungen anstellen. 2.4.1 Bekenntnis der Sünde Eine Minimalanforderung an jedes Sündenbekenntnis besteht wohl darin, dass es Sünde zur Sprache bringt. Sünde besteht aber nach spe186

Ebd. Anhang C, Nr. 25 und 27. 188 Anhang C, Nr. 25. 189 Anhang C, Nr. 27. 190 Anhang C, Nr. 26; vgl. auch EG 799. Dieses Gebet geht auf das Confiteor aus der Deutschen Messe von Andreas Döber (Nürnberg 1525) zurück, vgl. Böttrich, Schuld bekennen, 295f. 191 Gerade die sehr düstere Sprache dieses Gebets sowie das Fehlen einer expliziten Thematisierung der μετα νοια lassen Zweifel bezüglich der Adäquatheit dieses Beichtgebets aufkommen, vgl. Klessmann, »Ich armer, elender, sündiger, Mensch …«, 153 f. 187

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zifisch theologischem Verständnis in der verkehrten Beziehung des Geschöpfes zum Schöpfer, betrifft also primär das Gottesverhältnis. Dies bedeutet erstens, dass jedes Sündenbekenntnis, in dem »Sünde« mit allerlei Negativerfahrungen der Menschen gleichgesetzt wird, seine Bestimmung grundsätzlich verfehlt.192 Denn unmittelbare Erfahrung von Negativität ist noch nicht Erkenntnis der Sünde als Abgekehrt-Sein von Gott, genauso wenig wie jedes Leid darin begründet ist.193 Besteht die Sünde in einer Perversion des Gottesverhältnisses, so unterscheidet sie sich nicht nur von jeglicher unmittelbaren Negativerfahrung, sondern sie ist überhaupt nicht unmittelbar erfahrbar.194 Nur im Glauben, d. h. im Horizont und im Lichte des durch Gott selbst wiederhergestellten Verhältnisses zwischen Geschöpf und Schöpfer, wird Sündenerkenntnis ermöglicht. Daraus folgt zweitens, dass sowohl Sündenbekenntnisse, die die Erkenntnis der Sünde als eine Selbstverständlichkeit voraussetzen,195 als auch solche, die zur Sündenerkenntnis über erfahrenes oder beobachtetes Übel in der Welt zu gelangen versuchen,196 versäumen, die genuin theologische Bedeutung der Sünde zu erschließen. Dies ist nämlich immer nur von den Aussagen über das Tun Gottes her möglich. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, dem Sündenbekenntnis eine Lesung voranzustellen, die das Heilshandeln Gottes in Christus vergegenwärtigt (Lit I), oder aber das Bekenntnis der Sünde auf ein »berichtendes Lob« der Wohltaten Gottes folgen zu lassen (RL).197 Drittens ist von einem Sündenbekenntnis im Rahmen einer reformierten Umkehrliturgie zu erwarten, dass es in der gebotenen Knappheit das Wesen der Sünde als verkehrte Grundausrichtung menschlichen Daseins zu artikulieren versucht. Diesen Versuch unternimmt eine beträchtliche Anzahl von Gebeten aus den drei herangezogenen Liturgiesammlungen.198 Es fehlt allerdings auch nicht an Vorlagen, bei denen entweder der theologische Begriff »Sünde« ohne weitere Explikation verwendet wird,199 oder aber die Liturgin/der Liturg zwar zum Bekenntnis auffordert, ohne jedoch eine gemeinsame Besinnung auf das Wesen der Sünde daran anzuknüpfen.200 Damit die Besinnung auf 192

Vgl. Anhang A, Nr. 40. Vgl. Nüchtern, Sündenerfahrung, 135 f. 194 Vgl. Lachmann, Liturgische Rede, 126. 195 Vgl. Anhang C, Nr. 2; 3. 196 Vgl. Anhang A, Nr. 38; Anhang C, Nr. 7; 8; 11 (erste Hälfte); 14. 197 Vgl. etwa Anhang B, Nr. 1; 4; 8; 11; 12; 19; 22; 23; 25; 26. 198 Vgl. Anhang A, Nr. 1; 10; 12; 18; 19; 20; 21; 22; Anhang B, Nr. 7; 12; 19; Anhang C, Nr. 6; 18; 21. 199 Vgl. Anhang A, Nr. 2; 2; 3a; 4; 7; 7a; 11. 200 Vgl. Anhang C, Nr. 1–3. 193

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

die Ursünde nicht abstrakt bleibt, sollte sie des Weiteren mit der Benennung bestimmter Konkretionen derselben verbunden werden,201 allerdings auf eine Weise, die nicht vereinnahmend wirkt. Die Gefahr der Vereinnahmung besteht vor allem dort, wo eine etwas einseitige Konzentration auf Tatsünden stattfindet. Diese ist einerseits bei Litanei-artigen Gebeten (EGb),202 andererseits bei den Eingangsgebeten »zu Themen und Anlässen« aus der RL zu beobachten. Bei den ersteren ist eine solche Konzentration durch die Form des Gebetes bedingt, denn die Aneinanderreihung von kurzen Bitten zwingt dazu, einzelne Formen von Fehlverhalten aufzulisten. Bei den Gebeten zu »Themen und Anlässen« (RL) ergibt sich die besagte Konzentration hingegen aus der Fokussierung des gesamten Gottesdienstes auf einen bestimmten Kasus.203 Liturgisches Sündenbekenntnis ist viertens als Bekenntnis der ganzen Gemeinde zu verstehen. Diese ist aber in den meisten Fällen nur stille Mitbeterin der durch die Liturgin/den Liturgen vorgetragenen Gebete (RL). In Lit (I, III, TA) und im EGb wird zum Teil mittels Responsorien (etwa Kyrie-Rufen)204 und Gebetsstille205 die aktive Teilnahme der Gemeinde am liturgischen Vollzug gefördert, aber ein Mitsprechen des Sündenbekenntnisses kommt – mit einer einzigen Ausnahme206 – nicht in Frage. Es wird noch darauf zurückzukommen sein, ob sich auch andere Weisen der Beteiligung der Gemeinde am Bekennen der Sünde bieten.207 Schließlich geschieht liturgisches Sündenbekenntnis vor Gott. Er wird angerufen, ihm bekennt die Gemeinde ihren Ungehorsam und zu ihm betet sie um Vergebung. Daraus folgt, dass jegliche Form von Bekenntnis, die in enger Anlehnung an das Confiteor der Messe als gegenseitiges Schuldbekenntnis von Liturgin/Liturg und Gemeinde208 oder unter Gemeindegliedern209 gestaltet ist, die Bedeutung der gottesdienstlichen Umkehrliturgie verdunkelt. Denn diese besteht primär weder in der Feier der Versöhnung zwischen Menschen noch in der gegenseitigen Tröstung, sondern in der Re-Orientierung der Gemeinde und jedes einzelnen ihrer Glieder auf Gott den Schöpfer und Erlöser. 201

Vgl. Anhang A, Nr.17; 22; 23; 37; Anhang B, Nr. 5; 9; 11; Anhang C, Nr. 4; 10;

20. 202

Anhang C, Nr. 17; 19; 23. Vgl. oben, Kap. V.2.2.3. 204 Anhang A, Nr. 17; 34; 38; 39; 40; Anhang B, Nr. 26; Anhang C, Nr. 4; 17; 19; 22; 23; 24; 25; 27. 205 Anhang C, Nr. 1; 5; 6; 11; 12; 22; 24; 25; 26; 27. 206 Anhang C, Nr. 26. 207 Siehe unten, Kap. V.3.1 und V.3.2. 208 Vgl. Anhang A, Nr. 39. 209 Vgl. die von Klaus-Peter Jörns entworfene »gegenseitige Lossprechung«, in: Deeg et al., Angewiesen auf Gottes Gnade, 129–131. 203

2. »Weg« und Inhalt

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Versöhnung in der Gemeinde und persönlicher Trost erfolgen zwar aufgrund der Re-Orientierung auf Gott, dürfen aber mit ihr nicht verwechselt werden. 2.4.2 Epiklese Besinnt sich die Gemeinde im Sündenbekenntnis auf ihr eigenes Abgekehrt-Sein von Gott, so wird in der Epiklese ihr Verlangen nach Erneuerung, nach positiver Veränderung und Hinkehr zu Gott gegenüber der Negativität der Sünde laut. Es versteht sich somit von selbst, dass die Epiklese einen unabdingbaren Bestandteil der als Umkehrliturgie verstandenen gottesdienstlichen Buße darstellt. Deshalb bleibt jeder liturgische Bußakt, bei dem das Sündenbekenntnis in eine bloße Bitte um Vergebung mündet, zwangsläufig fragmentarisch.210 Als ebenso unpassend erscheint aber die Tendenz, welche vor allem in RL zu beobachten ist, ohne eine explizite Vergebungsbitte zur Epiklese überzugehen.211 Denn die Vergebung bildet die Bedingung der Möglichkeit und den Nährboden wahrhaftiger Umkehr und Erneuerung, sodass keines der beiden Elemente isoliert bestehen kann: Um Vergebung zu bitten, ohne daran eine ebenso explizite Bitte um positive Veränderung anzuschließen, würde aus der Umkehr- gleichsam eine »Entschuldigungsliturgie« machen, während eine Erneuerungsbitte, die nicht auf eine Bitte um Vergebung folgte, die Radikalität der erbetenen Veränderung verblassen ließe. Wie bereits bezüglich des Sündenbekenntnisses stellt sich auch betreffend die Epiklese die Frage danach, wie der Gegenstand der Bitte artikuliert werden soll. Ein Blick in die Liturgiesammlungen lässt die Tendenz erkennen, die Epiklese knapp zu formulieren, wobei eher abstrakte Begriffe verwendet werden.212 Zugleich lässt sich in vielen Fällen eine Entsprechung zwischen der Art und Weise, in der die Rede von der Sünde gestaltet ist, und dem Charakter der Epiklese beobachten. Vor allem dort, wo im Bekenntnis das Augenmerk auf spezifische Konkretionen der Sünde gerichtet ist, tendieren die Bitten in der Epiklese dazu, ebenso konkret zu werden.213 Im Allgemeinen lässt sich festhalten, dass ähnlich wie bei der Thematisierung der Sünde im Bekenntnis auch bei der Rede von der Erneuerung in der Epiklese eine zu große Abstraktheit zu vermeiden ist. 210

Vgl. Anhang A, Nr. 1–6; 8; 11–13; 16–18; 25; 34–38; Anhang B, Nr. 19; Anhang C, Nr. 4 f.; 9; 11; 16; 22 f.; 25; 27. 211 Vgl. Anhang A, Nr. 20; 22 f.; Anhang B, Nr. 1; 2; 6; 9–11; 13 f.; 2; 22–26; 31 f.; 34 f.; 37; 39; 40–42; Anhang C, Nr. 13–15; 20. 212 Vgl. Anhang A, Nr. 7; 9; 24; 39; Anhang B, Nr. 4; 5; 8; 11 f.; 16; 27; 29; 35; 39; Anhang C, Nr. 6; 10; 13–15; 17 f.; 20 f.; 26. 213 Vgl. Anhang B, Nr. 9; 36 f.; 40.

172

V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

Auch die μετα νοια hat eine Grunddimension (die Re-Orientierung auf Gott hin als »Fundamentalmetanoia«), die sich aber auf vielfältige Weise konkretisieren kann und soll, betrifft doch die erbetene »Umkehr« jeden Aspekt menschlichen Daseins. Der umfassende Charakter der μετα νοια sollte deshalb in der Epiklese einer reformierten Umkehrliturgie zur Sprache kommen, nicht zuletzt dadurch, dass auf spezifische Dimensionen davon etwa im Leben des Einzelnen sowie in den Beziehungen zu anderen Menschen hingewiesen wird. In vielen der analysierten Liturgien geht die Epiklese mit einer expliziten Bitte um Verleihung des Heiligen Geistes einher.214 Dies ist sicherlich sehr sinnvoll, ist doch der Heilige Geist jener »Fürsprecher« oder »Anwalt«, der Jesu Jüngerinnen und Jünger in der Wahrheit unterweist und in ihrem Zeugnis gegenüber der »Welt« unterstützt (Joh 15,26 f.), sie aber auch tröstet und ihnen Anteil gibt an allen Wohltaten Christi.215 Nur dank des Beistands des Geistes Gottes vermögen die Glaubenden ferner in jenem steten Kampf zwischen altem und neuem Leben (Gal 5,17) nicht unterzugehen, der sich aus der konstitutiven Inchoativität ihrer Heiligung ergibt.216 Schließlich, da Erneuerung nur in Christus möglich ist, Christusgemeinschaft ihrerseits aber immer pneumatisch ermöglicht und vermittelt wird, stellt wahrhaftige Umkehr auch ein pneumatisches Ereignis dar, was wiederum die Angemessenheit einer Verbindung von Erneuerungsbitte und Epiklese im engeren Sinn bestätigt. 2.4.3 Gnadenzuspruch Im Zuspruch der Gnade hört die Gemeinde die evangelische Botschaft der Vergebung als etwas, was ihr und jedem ihrer Glieder persönlich und gegenwärtig gilt. Der Akzent liegt dabei auf den beiden letztgenannten Adverbien: Die Botschaft der Gnade wird der Gemeinde zugeeignet und auf sie aktualisierend angewandt.217 Damit wird deutlich, dass der Gnadenzuspruch eine spezifische Konkretion der Wortverkündigung darstellt. Diese Hervorhebung des verkündigenden Charakters des Gnadenzuspruchs dient einerseits der Abgrenzung von einem im römisch-katholischen Sinn »sakramentalen« Verständnis der »Absolution« als einem Akt, deren Gültigkeit eng mit dem priesterlichen Amt desjenigen zusammenhängt, der diese erteilt. Wie in allen herangezogenen Liturgiesammlungen betont wird,218 kann allein das Gnadenwort Gottes 214 Anhang A, Nr. 7; 9; 20; 39; Anhang B, Nr. 1; 4; 8; 12; 18; 23; 25–27; 29–31; 39; Anhang C, Nr. 6; 15. 215 Heidelberger Katechismus, 35 [Frage 53]. 216 Vgl. oben, Kap. III.2 sowie Wilckens, Theologie, Bd. II/1, 290–294.

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Vergebung und Versöhnung bewirken. Gerade in dieser nüchternen Auffassung der Funktion derjenigen, die der Gemeinde die Gnade zusprechen, gründet die Entscheidung der Verfasser der RL, den Gnadenzuspruch lediglich aus einem Bibelzitat bestehen zu lassen und auf jegliche »Absolutionsformeln« zu verzichten.219 Die Angemessenheit dieser auf den ersten Blick einleuchtenden Lösung wird allerdings relativiert, wenn man sich andererseits vergegenwärtigt, dass die Wortverkündigung im reformierten Gottesdienst nicht allein aus einer oder mehreren Lesungen besteht, sondern dass sich daran auch eine Predigt anschließt. Wird diese ferner als Evangeliumsverkündigung, d. h. als Zusprache der Gnade an die Hörenden, verstanden, »dann ist nicht einzusehen, warum derselbe Zuspruch nicht auch in liturgisch gebundener Form erfolgen darf«.220 Eine konsequente Auffassung des Gnadenzuspruchs als Wortverkündigung begründet jedoch nicht nur die Möglichkeit einer Ergänzung der Lesung durch ein Votum der Liturgin/des Liturgen, sondern bedingt auch ein bestimmtes Verständnis dieses liturgischen Akts. Denn Wortverkündigung ist nach klassisch reformiertem Verständnis nicht bloß menschliche Rede. Vielmehr geschieht sie nur insofern, als sich der Geist Gottes, Schenker des Glaubens, der Rede von Menschen bedient, um den Hörenden Anteil an den »verkündigten Dingen« zu gewähren.221 Wortverkündigung ist daher ein pneumatisches Ereignis mit sakramentalem Charakter.222 In Bezug auf den Gnadenzuspruch bedeutet dies, dass er qua Wortverkündigung weder Wunschäußerung noch bloßer Bericht vergangener Ereignisse sein kann, sondern – wie bereits erwähnt – aktualisierende, vergegenwärtigende Anwendung der Heilsbotschaft auf die Hörenden ist. 217

Vgl. Kellerhals, Sündenbekenntnis, 31. Vgl. Lit I, 27; RL, 38; EGb, 493. 219 Siehe oben, Kap. V.2.2. Die einzige Ausnahme bilden die beiden Formulare zur Gemeinsamen Beichte, Anhang B, Nr. 43 f. 220 Kellerhals, Sündenbekenntnis, 28. 221 Vgl. CHP, Kap. 19 (Hildebrandt/Zimmermann 107): »Gottes Wort [bleibt] wahres Wort Gottes […], kraft dessen nicht bloß leere Worte hergesagt werden, wenn man predigt, sondern zugleich die von Gott mit den Worten bezeichneten oder verkündigten Dinge angeboten werden – sofern aber Gottlose und Ungläubige die Worte hören und verstehen, genießen sie doch die bezeichneten Dinge nicht, weil sie sie nicht im Glauben annehmen.« 222 Bullinger macht auf die »Verwandtschaft« zwischen Verkündigung und Sakramenten im engeren Sinn (Taufe, Abendmahl) aufmerksam, vgl. Bullinger, Dekaden 5,6 (Schriften V 311 f.). Diese besteht darin, dass sowohl die Wortverkündigung als auch die Sakramente im engeren Sinn menschliche Handlungen sind (Reden, Essen und Trinken), die aber durch das Zusammenwirken (concursus) des Heiligen Geistes zu »Symbola« werden, d. h. zu Trägern der unsichtbaren Gnade (ebd.). Siehe dazu Baschera, Gebet, 80–84. 218

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

Diese Einsicht bringt unmittelbare Konsequenzen hinsichtlich der Form des Gnadenzuspruchs mit sich. Weder rein optativische223 noch betont deklaratorische (Vergangenheitsform)224 Fassungen kommen in Frage, da der als Wortverkündigung verstandene Gnadenzuspruch weder Vergebungsbitte (»Misereatur«) ist noch bloß hinweisenden Charakter hat. Vielmehr legen sich indikativische Formulierungen nahe. Dabei ist aber darauf zu achten, dass keine Missverständnisse bezüglich des Verhältnisses von Liturgin/Liturg und liturgischem Akt entstehen. Deshalb sollten die Verwendung der ersten Person Singular (»ich spreche euch los« o. Ä.)225 sowie Hinweise auf das vom Sprechenden bekleidete Amt als Grundlage der Vollmacht, Sünden zu vergeben,226 vermieden werden. Allein Gott in seinem Wort darf als Spender der Vergebung auftreten. Da ferner der Zuspruch der Gnade der gesamten Gemeinde gilt, ist es sinnvoll, dass sich die Liturgin/der Liturg in die Gruppe der Adressaten der Gnadenzusage miteinschließt (z. B.: »Dieses Wort verkündigt uns …«). Bei einigen der herangezogenen Formulare aus Lit und dem EGb wird der Gnadenzuspruch durch eine trinitarische Formel abgeschlossen.227 Dadurch wird einerseits betont, dass die verkündigte Gnade im Werk des dreieinigen Gottes, des Schöpfers (und Neuschöpfers), Erlösers und Vollenders, gründet. Andererseits werden die Hörenden aber auch auf die Taufe zurückgewiesen, d. h. auf das von ihnen empfangene Zeichen des Gnadenbundes, in den sie aufgenommen sind und dessen ewige Gültigkeit im Gnadenzuspruch bestätigt wird. 2.4.4 Bundeserneuerung Wird die Gemeinde durch den an sie ergehenden Gnadenzuspruch auf die Treue Gottes zu seinem Bund aufmerksam gemacht, so läge es nahe, dass sie ihrerseits durch ein erneutes Bekenntnis zu diesem Bund darauf antwortete. Denn wenn die liturgische Buße, die ja mit einem Bekenntnis des »alten« Seins des Menschen (seiner grundsätzlichen Abkehr von Gott) begonnen hatte, in ein zweites, nun aber auf das Neue eines Lebens im Bund ausgerichtete Bekenntnis mündete, so käme die re-orientierende Bewegung der Umkehrliturgie unmissverständlich zum Abschluss: Die begnadigten Sünder dürfen sich aufgrund der Treue Gottes erneut Bundesgenossen ihres Schöpfers und Erlösers nennen und bekennen sich auch öffentlich dazu. 223 224 225 226 227

Anhang Anhang Anhang Anhang Anhang

A, Nr. 33; 34; 39 (erste Hälfte); Anhang C, Nr. 1–3; 16; 22–24. C, Nr. 9–12. A, Nr. 39 (zweite Hälfte); Anhang B, Nr. 43; Anhang C, Nr. 25 f. A, Nr. 27; Anhang C, Nr. 25 f. A, Nr. 27–30; 32; Anhang B, Nr. 43 f.; Anhang C, Nr. 25 f.

3. Das »Zeremoniale«

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Das Moment der Bundeserneuerung kommt jedoch in den Formularen aus Lit, RL und dem EGb kaum zur Sprache. Einzig bei der »zweiten Form« der Gottesdienstordnung in RL folgt auf den Gnadenzuspruch eine Verlesung der Zehn Gebote bzw. von Mk 12,28–31, welche im Anschluss an den Heidelberger Katechismus als »Erinnerung an die ›Regel der Dankbarkeit‹« gedeutet wird.228 Ansonsten bestehen die Antworten der Gemeinde auf den Zuspruch der Gnade – wenn solche überhaupt vorgesehen sind – in Lob- und Dankliedern (wie etwa das deutsche Gloria),229 die sich zwar als Doxologien durchaus eignen, bei denen aber die Dimension der Bundeserneuerung nicht berücksichtigt wird. In dieser Hinsicht bedürfte es also eindeutig der Ergänzung bestehender Bußformulare. Dabei könnte man einerseits dem Beispiel der RL folgen und eine Verlesung der Zehn Gebote vorsehen, der aber eine geeignete Einleitung durch die Liturgin/den Liturgen vorangehen sollte. Möglich wäre auch eine responsoriale Lesung eines passenden Stücks aus dem Heidelberger Katechismus, wie etwa Frage und Antwort 86,230 wobei die Liturgin/der Liturg die Frage und die Gemeinde die Antwort spräche. Oder aber es könnte auf Hymnen zurückgegriffen werden, die wie etwa der »Lobgesang des Zacharias« sowohl die Treue Gottes zu seinem Bund als auch die Befreiung der Menschen zu einem jenem Bund entsprechenden Leben thematisieren.231 Schließlich kämen auch verschiedene Psalmen in Frage, welche sowohl gemeinsam gesungen232 als auch responsorial gesprochen und mit geeigneten Leitversen verbunden werden könnten.233 3. Das »Zeremoniale« Liturgische Formulare bestehen gewöhnlich aus zwei Ebenen: Einerseits umfassen sie die Texte, die durch die Liturgen zu sprechen sind, 228

RL, 41. Vgl. Anhang C, Nr. 9–12. 230 Heidelberger Katechismus, 57 [Frage 86]: »Da wir nun aus unserem Elend ganz ohne unser Verdienst aus Gnade durch Christus erlöst sind, warum sollen wir gute Werke tun? [Antwort:] Wir sollen gute Werke tun, weil Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, damit wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltat erweisen und er durch uns gepriesen wird. Danach auch, daß wir bei uns selbst unsers Glaubens aus seinen Früchten gewiß werden und mit einem Leben, das Gott gefällt, unsern Nächsten auch für Christus gewinnen.« 231 Vgl. Ringeisen et al., Morgenlob – Abendlob, Bd. 1, Nr. 12. 232 Vgl. etwa Ps 25 (RG 20), 105 (RG 66) oder 107 (RG 67). 233 Beispielsweise Ps 111 (RG 131) in Verbindung mit dem Leitvers RG 157: »Freut euch, wir sind Gottes Volk / erwählt durch seine Gnade«. 229

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

andererseits enthalten sie Rubriken, die Erklärungen zur Ausführung einer liturgischen Handlung bieten.234 Die Gesamtheit der rituellen Bestimmungen einer liturgischen Feier, welche jeweils in unterschiedlicher Ausführlichkeit in den Rubriken zur Sprache kommen, kann auch »Zeremoniale« genannt werden.235 Dieses ist wohl von den liturgischen Texten zu unterscheiden, aber doch nicht zu trennen. Denn sobald Texte im Rahmen einer liturgischen Feier gesprochen werden, werden sie zu einem Aspekt im Rahmen einer komplexen Handlung, die immer – sei es bewusst oder unbewusst – durch ein bestimmtes Zeremoniale geprägt ist. Da das Zeremoniale die rituelle Gesamtgestalt einer liturgischen Feier betrifft, sind in dessen Rahmen jegliche Fragen zu behandeln, die zur Bestimmung dieser Gestalt von Belang sind. Dazu gehören nicht zuletzt Fragen der »Paramentik«, der Raumausstattung und -schmückung sowie die Reflexion auf Anzahl, Form und Gebrauch liturgischer Geräte.236 Für unseren Zusammenhang, nämlich im Rahmen einer Behandlung des Zeremoniale der Umkehrliturgie, sind jedoch die soeben genannten Aspekte kaum relevant, weshalb sich unsere Analysen nur auf folgende Themenfelder beschränken werden: Akteure und Rollen (3.1), Gesang (3.2), Stille (3.3) sowie Gebärden und Körperhaltungen237 (3.4). 3.1 Akteure und Rollen Entsprechend den Grundsätzen eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses ist Gott selbst primäres Subjekt der liturgischen Feier. Der Gottesdienst geschieht im Ineinander von (vorrangigem) göttlichem und (dienstbarem) menschlichem Handeln, welche zwar qualitativ unterschieden, aber nicht quantitativ voneinander isoliert werden können. Dies bedeutet einerseits, dass der Mensch allein keinen Gottesdienst »machen« kann, andererseits aber auch, dass kein Gottesdienst möglich wäre, ohne dass menschliche Akteure die Liturgie feierten. Im Rahmen einer Diskussion des liturgischen Zeremoniale bezieht sich die Reflexion auf die Akteure des Gottesdienstes und deren Rollen jedoch ausschließlich auf die Ebene menschlichen Handelns. Denn Gott kann, gerade als der agens, der er ist, »nicht in Regie 234

Vgl. Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, 374 f. Die Bezeichnung »Rubriken« ist dem Brauch geschuldet, die liturgischen Anweisungen mit roter Tinte (lat. ruber = rot) zu schreiben bzw. zu drucken. 235 Vgl. Jordahn, Zeremoniale. 236 A. a. O., 448–456. 237 Von den Körperhaltungen (Knien, Sitzen und Stehen) unterscheiden sich die »Gebärden« insofern, als diese Bewegungen und Gesten sind, die mit den Händen oder mit den Augen vollzogen werden, vgl. Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, 132.

3. Das »Zeremoniale«

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genommen werden«.238 Gottes pneumatisches Wirken in und durch die Liturgie bleibt unverfügbar und entzieht sich grundsätzlich jeglicher »Rubrizierung«. Denkt man an die menschlichen Akteure, die an der Feier eines evangelisch-reformierten Gottesdienstes beteiligt sind, so stellt sich unmittelbar die Frage, ob an dieser Stelle die Verwendung des Plurals wirklich angebracht sei. Denn grundsätzlich gibt es im Gottesdienst nur einen menschlichen Akteur, nämlich die im Namen Jesu versammelte Gemeinde. Sie stellt den kollektiven Akteur des als »gemeinsames Gebet« verstandenen Gottesdienstes.239 Diese Aussage ruft sofort die vielen Appelle nach »aktiver Beteiligung« der Gemeinde am Gottesdienst in Erinnerung, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch unter Protestanten immer wieder laut werden.240 Es wäre jedoch missverständlich und banal, das Konzept der participatio actuosa als Aufruf dazu zu interpretieren, »dass möglichst viele Aufgaben im liturgischen Kontext von möglichst vielen Teilnehmenden übernommen werden«.241 Vielmehr geht es dabei in erster Linie um die Betonung, dass sich die Gemeinde erneut als Trägerin der liturgischen Feier wahrzunehmen hat und als solche auch wahrgenommen werden soll. Die Gemeinde stellt kein »Publikum« bei einer liturgischen »Aufführung« dar, sondern ist selbst – menschlich gesehen – Hauptakteurin, von der »existenzielle, innere Beteiligung« verlangt wird.242 Dass eine solche Beteiligung zuweilen auch sichtbar und hörbar wird, ist selbstverständlich nicht zu vernachlässigen, wie im Folgenden darzulegen ist. Ist die Gemeinde als Ganze »Liturgin«, so teilt sie einzelnen ihrer Glieder spezifische Aufgaben zu, für deren Ausführung sie sich als geeignet erwiesen haben (z. B. Lektorin/Lektor) oder für die sie gar speziell ausgebildet und durch die (Landes-)Kirche beauftragt (Kirchenmusikerin/Kirchenmusiker) bzw. ordiniert (Pfarrerin/Pfarrer) wurden. Von den Akteuren sind ferner die »Rollen« zu unterschieden, die jeder Akteur in unterschiedlichen liturgischen Sequenzen einnehmen kann. So kann etwa die Pfarrerin/der Pfarrer an unterschiedlichen Stellen der Feier als »Begrüßende(r)«, »Betende(r)«, »Verkündige(r)« oder »Segnende(r)« auftreten.243 Die Beschaffenheit des liturgischen Handelns 238

Plüss, Gottesdienst, 246; vgl. a. a. O., 267; 270. Deeg, Der evangelische Gottesdienst, bes. 55 f. Vgl. GH, 7: »Die Gemeinde [ist] der eigentliche Träger des Gottesdienstes.« 240 Vgl. Sacrosanctum Concilium, 14; EGb, 15. 241 Deeg, Der evangelische Gottesdienst, 53. 242 Vgl. Plüss, Gottesdienst, 252. 243 Für eine Phänomenologie liturgischer »Rollen« vgl. Plüss, Gottesdienst, 249–271. Zum Begriff der »Rolle« vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 377; ders., Liturgische Rollen, 778 f. 239

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

eines Akteurs (seine »Rolle«) ergibt sich dabei aus der Beschaffenheit des Vollzugs in jedem seiner Aspekte. Denn es besteht eine enge Wechselbeziehung zwischen Rolle und Worten bzw. zwischen Rolle und Gebärden: Die Wortwahl vermittelt ein bestimmtes Rollenverständnis und zugleich beeinflusst das Rollenverständnis die Wortwahl. Ebenso wirkt sich das – bewusste oder unbewusste – Einnehmen einer Rolle auf die Körpersprache aus, während diese ihrerseits etwas über die Rolle eines Akteurs – in der Liturgie nicht weniger als im Rahmen anderer sozialer Interaktionen – verrät. Dies lässt sich deutlich am Beispiel des Segens illustrieren.244 Je nachdem, ob die Liturgin/der Liturg den Segen erbittet (»Der Herr segne uns und behüte uns …«) oder aber spendet (»Der Herr segne dich und behüte dich …«), nimmt sie/er unterschiedliche Rollen ein, nämlich jene der/des Betenden oder aber der Spenderin/des Spenders göttlichen Segens. Ebenso trägt die Gestik wesentlich zur Rollenbestimmung bei, wobei es an dieser Stelle auch zu Konflikten zwischen gestischer und verbaler Ebene kommen kann, beispielsweise wenn die Segensbitte mit einer Geste des Spendens245 einhergeht oder aber der Segen zwar gespendet wird, die Liturgin/der Liturg dies jedoch in der »Orantenhaltung« bzw. mit gefalteten Händen (beides Gebetsgesten) tut. Der Grundsatz, nach dem die versammelte Gemeinde Hauptakteurin der liturgischen Handlung ist, gilt zweifelsohne in Bezug auf die erste Sequenz der Umkehrliturgie: Die Gemeinde bekennt vor Gott ihr Abgewandt-Sein von ihm und bittet ihn um Erneuerung. Dass Bekenntnis und Epiklese in den meisten Formularen aus den vorliegenden Liturgiesammlungen durch die Liturgin/den Liturgen gesprochen werden, stellt an sich den besagten Grundsatz nicht in Abrede, denn die Liturgin/der Liturg tritt als Vorbeterin/Vorbeter der Gemeinde auf, was die Dominanz der »Wir«-Form in den Gebetstexten bestätigt. Es fehlt ferner auch nicht an Vorlagen, bei denen der gemeinsame Charakter des Gebets hörbar wird, etwa durch Kyrie-Rufe der Gemeinde246 oder dadurch, dass ein Teil des Gebets gemeinsam gesprochen wird.247 In manchen Fällen kann die Lektorin/der Lektor ferner die Aufgabe der Vorbeterin/des Vorbeters teilweise248 oder gänzlich249 übernehmen. Das 244

Vgl. Plüss, Gottesdienst, 193 f.; 255 f.; 260; 264 f.; Meyer-Blank, Liturgische Rollen, 785. 245 »Die Geste des Spendens ist die des aufgerichteten Körpers, von der Sohle bis zur Scheitel, der ausgebreiteten Arme und nach vorne offenen Hände« (Plüss, Gottesdienst, 193). 246 Vgl. Anhang A, Nr. 17; 34; 37 f.; 40; Anhang B, Nr. 26 (allerdings mit dem Ruf: »Komm, Geist der Erneuerung und des Lebens!«); Anhang C, Nr. 4f.; 19; 22; 24–25. 247 Anhang A, Nr. 23 (die Epiklese wird gemeinsam gesprochen). 248 Anhang C, Nr. 17. 249 Anhang C, Nr. 23.

3. Das »Zeremoniale«

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Mitsprechen eines in der ersten Person Singular formulierten Sündenbekenntnisses begegnet hingegen nur in einem einzigen Formular.250 Eine andere Möglichkeit für die Gemeinde, in das durch die Liturgin/den Liturgen gesprochene Gebet vernehmlich einzustimmen, ist schließlich der Gesang einer »Buß-« bzw. »Bittstrophe«251 oder des Kyrie252 im Anschluss an das Sündenbekenntnis. Dabei stellt sich die Frage, ob der Gemeindegesang nicht nur auf das Gebet folgen, sondern selbst eine geeignete Form des gemeinsamen Sündenbekenntnisses darstellen könnte.253 Die nächste Sequenz der Umkehrliturgie macht der Gnadenzuspruch aus. Wird dieser grundsätzlich als eine bestimmte Gestalt der Wortverkündigung betrachtet, so ist es durchaus sinnvoll, dass er durch die/den verbi divini ministra/minister in indikativischer Form gesprochen wird.254 Die Gemeinde verhält sich dabei als Empfangende von Gottes Gnadenwort. Wenn die Gnadenzusage hingegen die Form einer Vergebungsbitte annähme, legte sich vielmehr das gemeinsame Sprechen nahe.255 Beim letzten und – wie bereits erwähnt – in den bestehenden Formularen eher vernachlässigten Schritt der Umkehrliturgie, nämlich der Bundeserneuerung, handelt es sich schließlich um einen eindeutig gemeinsamen Akt der Gemeinde, für dessen Vollzug sich entsprechende Formen wie Responsorien oder der gemeinsame Gesang anbieten.256 3.2 Gesang Die Musik prägt heute257 in vielfacher Weise den evangelisch-reformierten Gottesdienst. Sie kann entweder die Gestalt von Instrumentaloder aber von Vokalmusik258 annehmen. Bei der Vokalmusik ist ferner 250

Anhang C, Nr. 26. Lit I, 38; 42; RG 152. 252 Anhang C, Nr. 9–12. 253 Siehe unten, Kap. V.3.2. 254 Siehe oben, Kap. V.2.4.3. Vgl. auch Genre, Culto cristiano, 106. 255 Vgl. Anhang C, Nr. 1–3. 256 Siehe oben, Kap. V.2.4.4. 257 Im reformierten Gottesdienst fand zunächst keine Instrumentalmusik Platz und selbst der Gemeindegesang wurde nicht überall von Anfang an eingeführt. So wurde etwa das erste Zürcher Gesangbuch erst 1598 veröffentlicht, während sich in Genf der Kirchengesang (Liedpsalmen) bereits seit den Anfängen der Reformation etabliert hatte, vgl. Arnold, Reformation(en) und Musik, 222–224. Obwohl sich Huldrych Zwingli im Gegensatz zu Luther und Calvin nicht für die Einführung des Gemeindegesangs einsetzte, wäre es allerdings verfehlt, ihm eine »grundsätzliche und theologisch begründete Gegnerschaft gegen den Gebrauch der Musik im Gottesdienst« zuzuschreiben (Jenny, Zwinglis Stellung, 41). Siehe auch a. a. O., bes. 8–28; Jenny, Luther – Zwingli – Calvin, 175. 258 Aufgrund der in der Vokalmusik stattfindenden »Synthese von Sprache und 251

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

zwischen Solo- sowie Chorgesang einerseits und Gemeindegesang andererseits zu unterscheiden. Kann der Solo- oder Chorgesang zuweilen den Gemeindegesang ersetzen,259 so ist Letzterer gerade in evangelischer Perspektive als »konstitutiver Teil der Liturgie«260 und als »der wichtigste Teil des evangelischen Gottesdienstes, der durch Musik geprägt wird«,261 zu betrachten: Seit der Reformationszeit hat der Gemeindegesang in Form sowohl von Kirchenliedern als auch von – gerade für die reformierte Tradition typischen – »Liedpsalmen« einen festen Platz im evangelischen Gottesdienst eingenommen.262 Allen Gestalten liturgischen Gesangs eignen in evangelischer Perspektive zwei Grunddimensionen. Einerseits ist liturgischer Gesang Gebet in dessen verschiedenen Ausprägungen (Bitte, Lob, Dank, Klage).263 Gerade in dieser Hinsicht kommt dem Gemeindegesang als kollektivem Handeln eine besondere Bedeutung zu, denn in ihm und durch ihn tritt der Charakter des Gottesdienstes als »gemeinsames Gebet« deutlich und unmissverständlich zutage.264 Andererseits ist der Gesang aber auch Verkündigung, gar »Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln«,265 wobei sowohl Kirchenlieder mit »meditativem, reflektierendem und/oder ethisch-motivierendem Inhalt« als auch solche Kompositionen wie die Epistel- und Evangelienmotetten der Barockzeit oder die Kantaten J. S. Bachs diese Dimension erfüllen.266 Obwohl die eine oder die andere der beiden genannten Dimensionen jeweils dominierend sein kann, wäre es jedoch irreführend, sie gegeneinander auszuspielen.267 Sie bilden vielmehr zwei ebenbürtige Aspekte und Ausprägungen der grundsätzlich doxologischen Qualität liturgischen Gesangs.268 Klang« definiert sie Jochen Arnold gerade als »der ästhetische Idealfall von Musik« (Arnold, Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst, 228). Vgl. auch ders., Was geschieht im Gottesdienst?, 146; ders. Musik und Gottesdienst, 254. 259 Arnold, Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst, 240. 260 Bieritz, Liturgik, 147. 261 Arnold, Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst, 237. 262 A. a. O., 238. 263 Plüss, Gottesdienst, 218; Bubmann, Musik und Gottesdienst, 129; Arnold, Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst, 232. 264 Vgl. Plüss, Gottesdienst, 186; 217, Anm. 42; 220; 259; Reich, Kirchenlied, 765; 767. 265 Plüss, Gottesdienst, 221. 266 A. a. O., 221; Arnold, Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst, 230 f. 267 Vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 362: »Die Alternative zwischen dem Verständnis der Musik als Martyria oder als Leiturgia ist falsch, gehen doch bereits in den Psalmen die Anrede Gottes und der Menschen ineinander über.« 268 Reich, Kirchenlied, 768; 771, nennt die »Doxologie« als Grunddimension liturgischen Gesangs und betrachtet »Verkündigung«, »Bekenntnis« und »Rühmung« als deren drei Aspekte.

3. Das »Zeremoniale«

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Die Rede von der doxologischen Qualität des Gemeindegesangs darf nun aber nicht dazu verleiten, diesen als primär expressiven Akt zu betrachten. Der Gemeindegesang als besondere Konkretion des gemeinsamen Gebetes ist vielmehr selbst – wie die Liturgie im Allgemeinen – in erster Linie pneumatisch-formatives Handeln, in dem und durch das Glaubenserfahrung angebahnt, d. h. nicht nur ermöglicht, sondern »auf den Weg gesetzt« und initiiert wird.269 Denn durch die gesungene Anrufung Gottes in Lob und Klage (Gebet) sowie in der gesungenen Vergegenwärtigung seiner Heilstaten (Verkündigung) schafft sich die Gegenwart Gottes konkreten Raum.270 Im Singen, nicht weniger als in der Wortverkündigung oder in der Feier der Sakramente, wird das Geheimnis des Glaubens präsent271 und die Mitsingenden werden dieser Präsenz sowie deren Wirkung ausgesetzt. Dies wird am Phänomen des »Einstimmens« besonders deutlich. Das Einstimmen – etwa in den Gesang eines Psalms – ist nicht Funktion der Zustimmung oder Ausdruck einer zuvor gewonnenen Einsicht, sondern eine Handlung, bei der diejenigen, die einstimmen, zugleich selbst »eingestimmt« werden.272 Im Einstimmen geschieht »Neustimmung«273 durch Einverleibung des im Singenden und durch ihn hindurch erklingenden und ihm dennoch extern bleibenden Wortes (verbum externum), sodass die einstimmende Gemeinde immer wieder neu als Gemeinde Jesu Christi konstituiert wird. Was dabei geschieht, ist somit nichts weniger als οιÆ κοδομη : »Ich finde meine eigene Stimme getragen vom Zusammenklang der anderen Stimmen, der entweder für mich ausspricht, was ich (noch) nicht selbst sagen kann, oder mir hilft auszusprechen, was ich erst im Begriffe bin zu begreifen. […] das Einstimmen und Zusammenstimmen als Klangereignis [spannt] gewissermaßen den Hallraum des Glaubens auf.«274 Etwas Befremden dürfte angesichts der bisherigen Ausführungen die Feststellung auslösen, dass in den bestehenden Formularen zur liturgischen Buße der Gesang eine bestenfalls marginale Rolle spielt. Nur nach Lit I und dem EGb (hier allerdings nur bei der unierten Form des »Eingangsgebets«) folgt immer auf das Sündenbekenntnis sowie auf den Gnadenzuspruch der Gesang, entweder in Form einer Buß- bzw. 269

Wannenwetsch, Singen und Sagen, 332 f. Reich, Kirchenlied, 772; Wannenwetsch, Singen und Sagen, 335. 271 Arnold, Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst, 230f.: »Kirchenmusik redet nicht nur über Christus, Christus selbst teilt sich durch die Musik der Gemeinde mit. […] Kirchenmusik hat, nach evangelischem Verständnis, also eine grundlegende verkündigende Aufgabe und einen gleichsam sakramentalen Charakter.« 272 Plüss, Gottesdienst, 217. 273 Arnold, Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst, 235. 274 Wannenwetsch, Singen und Sagen, 331 f.; vgl. auch ders., Sich in den Glauben der Kirche einsingen, 216–221. 270

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

Dankstrophe oder aber des Kyrie bzw. des Gloria.275 In der RL wird in der ersten Form der Gottesdienstordnung an dieser Stelle gänzlich auf den Gesang verzichtet,276 während die zweite Form lediglich ein »Antwortlied« nach Gnadenzuspruch und Gesetzesverlesung vorsieht.277 Allgemein entsteht ferner der Eindruck, dass der Gesang in erster Linie – wie die RL in ihrer Terminologie explizit macht – als Antwort der Gemeinde auf die gesprochenen Worte der Liturgin/des Liturgen konzipiert wird. Dies steht aber gerade im Falle der RL in deutlichem Widerspruch zum an anderer Stelle doch bejahten Grundsatz, nach dem das Singen »eine Form des gemeinsamen Gebets« sei.278 Eine konsequente Umsetzung dieses Prinzips könnte etwa darin bestehen, das von der Liturgin/dem Liturgen gesprochene Bekenntnis durch ein von der gesamten Gemeinde gesungenes zu ersetzen. Dafür würden sich besonders Vertonungen der sieben Bußpsalmen entweder in Form von Liedpsalmen279 oder aber von Psalmliedern280 eignen. Das gemeinsame Anstimmen eines Psalms machte einerseits deutlich, dass es sich beim Sündenbekenntnis vornehmlich um einen Akt der Gemeinde und nicht des Einzelnen handelt, andererseits aber auch, dass das Bekennen der Sünde nur als Einstimmen in eine dem Menschen fremde und widerständige Sprache möglich ist. Darauf, dass sich der Gemeindegesang für das Moment der »Bundeserneuerung« besonders eignet, ist bereits hingewiesen worden.281 Auch der Gnadenzuspruch könnte aber mit Gesang verbunden werden, etwa dadurch, dass nach der Lesung die Zusage in Gestalt eines dazu passenden Liedes erfolgte,282 welches entweder von der Gemeinde oder vom Chor gesungen würde. Obwohl beide Varianten ihre Berechtigung haben, käme bei der letzteren deutlicher zutage, dass das Gnadenwort immer ein an die Gemeinde ergehendes Wort ist, über das sie grundsätzlich nicht verfügen kann. 3.3 Stille »Liturgische Stille« ergibt sich nicht so sehr aus der Eliminierung jeglicher Geräusche und Lärmquellen (was jedenfalls nicht zu realisieren wäre), sondern besteht in der Unterbrechung der üblichen,

275 276 277 278 279 280 281 282

Lit I, 37 f.; 41 f. sowie Anhang C, Nr. 9–10. RL, 37 f. RL, 42. RL, 27; 37. Vgl. RG 35 (Ps 51). Vgl. RG 84 (Ps 130). Siehe oben, Kap. V.2.4.4. Vgl. etwa RG 261; 273 f.; 277; 280.

3. Das »Zeremoniale«

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klanglich und gestisch bestimmten liturgischen Kommunikation: Worte, Musik, Gesang und Bewegungen bleiben eine Weile aus.283 Wie dem Gesang eignen auch der Stille im Gottesdienst verschiedene Dimensionen. Eine davon stellt das »kultische Schweigen« dar,284 das als eine Form der Anbetung anzusehen ist: In der Gegenwart Gottes, welche an bestimmten Stellen der Liturgie in besonderem Maße spürbar werde, könne der Mensch nur verstummen.285 Das kultische Schweigen fand bekanntlich in Rudolf Otto (1869–1937) einen entschiedenen Befürworter. Laut Otto besitzt der »Schweigende Dienst« – die stille, von der Gemeinde kniend vollzogene Anbetung der Gegenwart Gottes – an sich sakramentalen Charakter und sollte im sonntäglichen Hauptgottesdienst sogar an die Stelle der Abendmahlsfeier treten.286 Auf Präfation und Sanctus, Fürbittengebet und Epiklese folgt somit in seiner Agende nicht etwa das eucharistische Gebet und die Austeilung, sondern das sacramentum silentii, das letztlich als eine Art spiritualisierte und entleiblichte Form der »Kommunion« zu betrachten ist.287 Beispiele »kultischen Schweigens« finden sich aber auch allgemein in der westlichen liturgischen Tradition. So dürfte die im Mittelalter aufgekommene und durch das Trienter Konzil festgelegte Sitte, das eucharistische Hochgebet (canon missae) leise zu beten, als Zeichen der besonderen Huldigung des Transubstantiationsmysteriums betrachtet werden.288 Anders verhält es sich hingegen mit den orationes secretae bzw. orationes super oblata (Gabengebete), welche das Offertorium abschlossen und nach dem Missale von 1570 ebenfalls leise zu beten waren.289 In diesem Falle scheint das leise Beten nicht so sehr dadurch bedingt 283

Vgl. Plüss, Gottesdienst, 224. Bieritz, Liturgik, 154. 285 Vgl. Hab 2,20: »Der Herr aber ist im Tempel seiner Heiligkeit. Stille vor ihm, ganze Erde!«; Sach 2,17: »Stille, alles Fleisch, vor dem Herrn! Denn er ist aufgebrochen aus der Wohnung seiner Heiligkeit.« Dieselbe Vorstellung kommt etwa in Gerhard Tersteegens (1697–1769) Lied »Gott ist gegenwärtig« zum Ausdruck, vgl. RG 162,1: »Gott ist in der Mitte. / Alles in uns schweige / und sich innigst vor ihm beuge« (Hervorhebung, LB). 286 Vgl. Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik, 190–200; Deeg, Das äußere Wort, 192 f. 287 Ottos sacramentum silentii erinnert damit an die im Spätmittelalter theoretisierte manducatio spiritualis als alternative, rein geistige Weise des Sakramentsgenusses (vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia, Bd. 2, 452). Allerdings ist anzumerken, dass die manducatio spiritualis die Feier der Messe in ihrer Vollständigkeit voraussetzte und keinesfalls ersetzen konnte, während bei Otto gerade eine solche Ersetzung des Abendmahls durch das sacramentum silentii stattfindet. 288 Bieritz, Liturgik, 154; vgl. Heinz, Schweigen – Stille, 247 f. 289 Missale Romanum, 277. Die orationes secretae gehörten wie die beiden anderen Präsidialgebete (Tagesgebet und Postcommunio), der Introitus, die Lesungen, das Graduale und die Psalmen zu Offertorium und Kommunion zu den wechselnden Stücken der Liturgie (proprium de tempore). Vgl. Bieritz, Liturgik, 382–439. 284

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

zu sein, dass man sich vor einem »schreckenerregenden Mysterium« befinde,290 sondern eher durch die Vorstellung, der Priester werde damit in eine »andächtigere« Haltung versetzt.291 Damit kann die oratio secreta als Beispiel für die zweite Dimension liturgischer Stille, nämlich das »sammelnde Schweigen«, betrachtet werden. Die sich in den reformatorischen Kirchen abzeichnende Tendenz, »akustische Freiräume in die Gemeindegottesdienste zu integrieren«,292 ist wohl als Folge der Wahrnehmung dieser »sammelnden« Funktion der Stille zu interpretieren. So ist es im Laufe der Zeit etwa üblich geworden, bei den Fürbitten Zeiten der Stille vorzusehen, um den Gemeindegliedern die Formulierung eigener, besonderer Bitten zu ermöglichen. Daran wird deutlich, dass die liturgische Stille nicht minder als der Gemeindegesang eine »Form ›tätiger Teilnahme‹ am gottesdienstlichen Geschehen« darstellt.293 Nur, während im Gesang die Gemeinde als kollektive Akteurin in den Vordergrund tritt, gibt die Stille eher dem Individuum Raum. Liturgischer Stille kann schließlich auch eine epikletische Dimension zukommen. Ein solches »Verstummen vor dem geheimnisvoll wirkenden Geist Gottes«294 hat einerseits in der römisch-katholischen Tradition im Rahmen der Weiheliturgie seinen Platz und ist in Zusammenhang mit der Bischofsordination bereits in der Traditio apostolica belegt.295 Andererseits findet das »epikletische Schweigen« bei den Quäkern einen gesteigerten Ausdruck in Form der sogenannten silent worship, nämlich das gemeinsame stille »Warten auf die im Inneren sprechende oder von oben kommende Stimme des Geistes Gottes«.296 Eine besondere und mit der quäkerischen Tradition verwandte Ausformung der epikletischen Stille dürfte auch das liturgische Schweigen darstellen, so wie dieses der jüdische Denker Franz Rosenzweig (1886–1929) im dritten Teil seines Hauptwerks Der Stern der Erlösung thematisierte. Nach Rosenzweig sollte nämlich das Wort im (jüdischen) Gottesdienst »ohne Widerrede« gehört werden, was wiederum bedeutet, dass auf die Verlesung der Heiligen Schrift Stille folgen sollte.297 Während Otto das Schweigen in seiner kultischen Dimension 290

Bieritz, Liturgik, 154. Vgl. Durandus, Rationale IV.32.6, 173: »Zweitens betet er [sc. der Priester] im Stillen, um andächtiger zu beten und nicht daran denken zu müssen, wie seine Stimme und seine Körperhaltung beim Volk ankommen, denn auch der Herr hat sich von seinen Jüngern einen Steinwurf entfernt, um sein Gebet zu verrichten.« 292 Plüss, Gottesdienst, 222. Vgl. die diesbezüglichen Anmerkungen in EGb(EB), 26. 293 Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, 399. 294 Heinz, Schweigen – Stille, 242. Vgl. Ehrensperger, In Stille und Vertrauen, 96 f. 295 Traditio apostolica 2, 217: »Alle sollen schweigen und in ihrem Herzen um die Herabkunft des Heiligen Geistes beten.« 296 Heinz, Schweigen – Stille, 243; Ehrensperger, In Stille und Vertrauen, 99 f. 297 Vgl. dazu Deeg, Das äußere Wort, 323–325. 291

3. Das »Zeremoniale«

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an die Stelle der Abendmahlsfeier treten ließ, plädiert Rosenzweig somit für das Zurücktreten der Predigt hinter ein nun eher epikletisch verstandenes Schweigen als einzig angemessene, wirklich hörende und wartende Haltung gegenüber dem vorgelesenen Wort. Blickt man auf die bestehenden Liturgiesammlungen, so ist es zunächst festzustellen, dass nur im EGb Momente der Stille konsequent in die liturgische Buße integriert sind, und zwar im Zusammenhang mit dem Sündenbekenntnis.298 Eine epikletische, auf die Anrede Gottes wartende Dimension (»Herr, […] zeige mir in der Stille, wo ich mich ändern muss …«) nimmt die Stille nur in einem einzigen Formular an.299 In allen anderen Fällen hat das Schweigen hingegen eine eindeutig sammelnde Funktion, wobei diese »Sammlung« wiederum unterschiedlich akzentuiert werden kann. Nach Andreas Heinz sollte die Stille vor dem »Allgemeinen Bußgebet« vornehmlich das Bewusstsein für die eigene sündhafte »Grundbefindlichkeit« schärfen und damit auf das gemeinsame Sündenbekenntnis vorbereiten.300 Diese Vorstellung findet indessen keine Entsprechung in den Formularen aus dem EGb. Die Stille dient hier vielmehr in erster Linie der »Herzensbeichte«, d. h. dem »individuellen Bekenntnis von Schuld und Sünde«.301 Dies ist der Fall sowohl dort, wo das Schweigen an die Stelle des gemeinsamen Sündenbekenntnisses tritt,302 als auch bei allen Formularen, welche die Stille dem gemeinsamen Bekenntnis vorausgehen lassen.303 Folgt hingegen das Schweigen auf das gemeinsame Bekenntnis,304 so hat es eher die Funktion, zu dessen Mitvollzug zu verhelfen.305 Die Frage danach, ob ein Moment der Stille dem gemeinsamen Bekenntnis vorausgehen oder aber folgen soll, ist nicht sekundär. Daran entscheidet sich, ob in der Umkehrliturgie dem gemeinsamen, gesprochenen bzw. gesungenen Gebet der Gemeinde oder aber dem Bekenntnis des Einzelnen (im Sinne der »Herzensbeichte«) der Vorrang gegeben wird, was sich wiederum auf den Charakter des gemeinsamen Bekenntnisses auswirkt: Besitzt es im ersteren Fall eine zur persönlichen Besinnung anleitende Funktion, so schließt es im letzteren das Beten der Einzelnen gleichsam zusammenfassend ab und nimmt damit 298 Im Formular aus LitTA können die Kyrie-Rufe durch Stille ersetzt werden (vgl. Anhang A, Nr. 40). Ansonsten enthält kein Formular aus Lit I, Lit III oder der RL Momente der Stille. 299 Vgl. Anhang C, Nr. 12. 300 Heinz, Schweigen – Stille, 245. 301 Böttrich, Schuld bekennen, 255. 302 Anhang C, Nr. 1. 303 Anhang C, Nr. 11; 22; 24–27. 304 Anhang C, Nr. 5–6. 305 Böttrich, Schuld bekennen, 241.

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die Züge eines »Kollektengebets« an.306 Wenn die Stille dem Sündenbekenntnis nachgestellt wird, sollte sie jedenfalls dem epikletischen Teil307 des Bußgebetes vorausgehen. Dies erweist sich einerseits als sinnvoll aufgrund des engen Zusammenhangs (im Rahmen der Bußliturgie) zwischen Stille und Bedenken der eigenen Sündhaftigkeit; andererseits ließe eine solche meditative »Pause« den Wechsel von der Anamnese zur Epiklese deutlicher hervortreten. 3.4 Gebärden und Körperhaltungen Die »Renaissance des Leibes«, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts im Bereich der philosophischen Anthropologie vollzogen hat, ist besonders der phänomenologischen Forschung zu verdanken. In bewusster Abgrenzung von dualistischen Menschenbildern cartesianischer Prägung sowie gegen jegliche Reduktion des »Leibes« auf einen dem Ich externen »Körper« betrachtet die Leibphänomenologie die »Leiblichkeit« vielmehr als »nicht abgrenzbaren Modus unserer Existenz« und als »die grundlegende Weise menschlichen Erlebens«.308 Denn wie etwa Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung betont, ist die grundsätzliche und nicht auf Kausalität reduzierbare Intentionalität des Menschen nicht so sehr – wie bei Edmund Husserl – im Bewusstsein verankert, sondern im Leib, in der »Leiblichkeit« als dem »Grundmodus, der in all unseren Existenzweisen gegenwärtig ist«.309 Der Mensch intendiert die Welt in seiner konstitutiven Leiblichkeit, indem er sich als leibhaftes Subjekt zu ihr verhält und sie auf eine bestimmte Weise »bewohnt«.310 In dieser Perspektive ist der Leib also nicht primär etwas, das der Mensch hat, sondern der Mensch selbst ist Leib. Auch in der Liturgik des 20. Jahrhunderts lässt sich ein zunehmendes Interesse an der Leiblichkeit beobachten, wobei dieses nur zum Teil mit den Entwicklungen im Bereich der philosophischen Leibphänomenologie in Zusammenhang steht. Wichtige Denkanstöße hin zu einer erneuten Würdigung der leiblichen Dimension liturgischer Vollzüge kamen bereits von der »jüngeren liturgischen Bewegung«. So betonte etwa Wilhelm Stählin,311 dass »Li306

Vgl. Meyer, Eucharistie, 175. Vgl. oben, Kap. IV.2.2. 308 Fuchs, Leib, 15. 309 A. a. O., 64. 310 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 360 f. 311 Stählin (1883–1975), 1926–1945 Professor der Praktischen Theologie an der Universität Münster, war eine zentrale Figur innerhalb des Berneucher Kreises und Mitgründer der Evangelischen Michaelsbruderschaft. Zu Stählins Leben und Werk vgl. Meyer-Blanck, Leben; Löwe, Wilhelm Stählin. 307

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turgie ein leibhaftiges Geschehen [ist], und liturgisches Handeln leibhaft handeln [heißt]«.312 Diese Einsicht führte ihn dazu, sowohl in seiner Lehrtätigkeit als auch in seiner praktischen liturgischen Arbeit »alle sinnlichen Elemente, die leiblichen Gebärden, Stimme, Klang und Form, bis hin zu Raum, Zahl und Zeit ganz ernst zu nehmen«.313 Stählin betonte aber zugleich, dass dies nicht aufgrund »irgend welche[r] ästhetische[r] Rücksichten« geschehe. Vielmehr hing sein Interesse an der leiblichen Dimension des Gottesdienstes mit einer theologischen Erkenntnis zusammen: »Die Liturgie nimmt das leibliche Leben in sich auf, sie bezieht den Leib mit ein in das heilsame Handeln Gottes.«314 Der Gottesdienst ist die »Lebensform der Kirche«, weil in ihm die Gemeinde durch das Wirken des Heiligen Geistes Anteil an Christus bekommt und damit selbst als sein Leib konstituiert wird.315 Der Liturgie eignet insofern für Stählin eine »bildende Kraft«. Alle »äußeren« Vollzüge in ihr, inklusive der leiblichen Gebärden und Haltungen, »wirken auf den Menschen zurück« und formen ihn »auch in dem Bilde seines inwendigen Wesens«.316 Dass in der Liturgie heilsame Bildung wirklich geschehe, gehe zwar allein auf das Handeln Gottes in der Liturgie und durch sie zurück.317 Die Gemeinde hat dennoch die Aufgabe, Gottesdienst so zu feiern, dass die Hoffnung bestehen kann, Gott möge sich der liturgischen Handlungen bedienen, um selbst an den feiernden Menschen zu handeln.318 Genau in diesem Horizont ist nach Stählin den »sinnlichen Elementen« im Gottesdienst erneute Aufmerksamkeit zu schenken: Die »leibliche Haltung« soll »dem gemäß sein, was sachlich hier [sc. im Gottesdienst] geschieht«.319 Obwohl die Wiederentdeckung der Leiblichkeit durch Stählin und andere Protagonisten der liturgischen Bewegungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegweisend war,320 verläuft die Reflexion darauf 312

Stählin, Liturgische Erziehung, 191. Stählin, Brief an Josef Casper (1940), zit. in: Meyer-Blanck, Leben, 220. 314 Stählin, Liturgische Erziehung, 192. 315 Stählin, Vom göttlichen Geheimnis, 32; 89. Vgl. auch Ritter, Liturgie, 5. 316 Stählin, Liturgische Erziehung, 193 f. Vgl. ders., Sinn des Leibes, 71: »Was wir leiblich ›einüben‹, wird unserem Wesen ›einverleibt‹«. 317 Vgl. Stählin, Mysterium, 114: Die Kirche versteht »ihr Handeln als ein Geheimnis […], dessen sie selbst nicht mächtig ist und das im Grunde nicht ihr, sondern Gottes Handeln in ihr ist.« 318 Die Liturgie ist nach Stählin die »Verleiblichung des Mysteriums Christi« (Meyer-Blanck, Leben, 264), kann aber jederzeit zum Götzendienst verkommen. Deshalb gilt es, in Bezug auf jegliche liturgische Handlung stets zurückzufragen: »Mit welchen Inhalten verbinden wir uns in der Liturgie? Wovon werden unsere gottesdienstlichen Räume erfüllt? An welche Dinge geben wir uns hin? Welche Speise nehmen wir als Nahrung in uns auf?« (Stählin, Liturgie als Entscheidung, 4). 319 Stählin, Vorlesung Liturgik 1936/37, zit. in: Meyer-Blanck, Leben, 261. 320 Vgl. Ritter, Liturgie, 38–41. 313

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

im Rahmen der neueren deutschsprachigen Liturgik in ganz anderen Bahnen. Dabei werden in methodologischer Anlehnung an unterschiedliche Disziplinen verschiedene Zugangsweisen zum Themenkomplex »Liturgie und Leib« erprobt. So nimmt etwa Manfred Josuttis die für den protestantischen Gottesdienst typischen Gesten und Bewegungen in verhaltenswissenschaftlicher Perspektive in den Blick. Ausgehend von der Feststellung, dass das Sitzen die »Grundhaltung« der Gottesdienstteilnehmenden im protestantischen Bereich darstellt,321 fragt er danach, welche Gesten und Gebärden sonst Platz in der protestantischen Liturgie finden. Verschiedene Kategorien von historisch belegten liturgischen Gesten werden im Blick auf ihre Funktionen analysiert (Demuts- und Gebetsgesten, aber auch Gesten der zwischenmenschlichen Kommunikation),322 mit dem Ergebnis, dass in Bezug auf den heutigen protestantischen Gottesdienst eine deutliche Einschränkung des gestischen Verhaltensrepertoires sowie eine allgemeine »Tendenz zur Entleiblichung des Teilnahmeverhaltens« zu konstatieren sei.323 David Plüss entwirft seinerseits eine Phänomenologie liturgischer »Grundgesten«.324 Da der Begriff »Geste« weit gefasst wird325 und auch ganze liturgische Sequenzen (»Begrüßen«, »Verkündigen«, »Segnen«) umfassen kann, resultiert daraus gleichsam eine Topografie liturgischen Verhaltens von Liturgin/Liturg und Gemeinde im evangelisch-reformierten Sonntagsgottesdienst. Die verschiedenen »Gesten« werden auf ihre Bedeutung(en) und Facetten hin untersucht, wobei jeweils auch deren spezifisch leibliche Dimension – die mit einer »Geste« verbundenen Körperhaltungen und Gebärden von Liturgin/Liturg und Gemeinde – zur Sprache kommt. Hohe Komplexität erreichen ferner semiotische Untersuchungen wie diejenigen von Ronald Sequeira und Karl-Heinrich Bieritz. Dabei werden Gesten und Gebärden326 grundsätzlich als »Zeichen« betrachtet, die einen der beiden primären »Kodes« der Liturgie, nämlich den »kinetischen«, ausmachen.327 Das Zeichensystem der liturgischen Gebärdensprache wird daraufhin anhand verschiedener semiotischer Mo321

Josuttis, Weg, 109; 128. A. a. O., 128–132. 323 A. a. O., 132. 324 Plüss, Gottesdienst, 177–195. 325 A. a. O., 177, Anm. 2. 326 Nach Sequeira, Gottesdienst, 29, stellt die Gebärde, welche mehrere Gesten und Haltungen umfasse, die »elementare Grundform« innerhalb der »Bewegungsdimension der Liturgie« dar. 327 Sequeira, Gebärdensprache, 211. Der andere primäre Kode ist der »akustische« bzw. »verbal-musikalische« (ebd.). Als »Kode« wird in der Semiotik jedes »Repertoire an Zeichen und die dazugehörigen Verknüpfungsregeln« bezeichnet (Bieritz, Wort, 54). 322

3. Das »Zeremoniale«

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delle untersucht, woraus sich unterschiedliche Klassifizierungsmöglichkeiten ergeben. Neben Kategorien, die speziell zur Klassifizierung von Gesten entwickelt wurden – wie jenen der Kinesik328 oder der von Sequeira vorgeschlagenen Unterscheidung von »Ausdrucks-« und »Handlungsgebärden«329 – wird auch Charles S. Peirces klassische Unterscheidung zwischen »Ikon«, »Index« und »Symbol«330 auf die nonverbalen Zeichen bezogen. Durch die Heranziehung semiotischer Kategorien wird allerdings keine eindeutige Subsumierung jeder einzelnen Geste unter eine bestimmte Zeichenklasse angestrebt. Vielmehr geht es darum, verschiedene Aspekte ein und derselben liturgischen Geste zu beleuchten. Dies wird etwa am Beispiel des Kreuzzeichens deutlich, welches sich sowohl als »ikonisch«331 wie auch als »indexalisch«,332 sowohl als »Ausdrucks-« wie auch als »Handlungsgebärde« beschreiben lässt.333 Zur bewussteren Wahrnehmung der leiblichen Dimension liturgischer Vollzüge trägt schließlich seit einigen Jahren Thomas Kabels Arbeit an der »Liturgischen Präsenz« bei. Ziel von Kabels Bildungsangeboten und Publikationen334 ist, dass Liturginnen und Liturgen eine Sensibilität für den Zusammenhang zwischen ihrem (u. a. gestischen) Verhalten im Gottesdienst und ihrer Rolle entwickeln, sodass sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel möglichst gezielt und bewusst einsetzen können. In dieser Perspektive ist liturgische Präsenz in erster Linie eine pastoral-professionelle Kompetenz,335 von deren Aneignung das Gelingen liturgischer Kommunikation essenziell abhängt.336 Dass bei der Erzeugung liturgischer Präsenz dem leiblichen Verhalten zentrale Bedeutung zukommt, versteht sich von selbst: »In der Arbeit der ›Liturgischen Präsenz‹ spielt der Körper die Hauptrolle. […] Liturgische Präsenz ist in ihrem Grundanliegen eine Körperar328 Die Kinesik (»die Wissenschaft von der Kommunikation durch körperliches Verhalten«, vgl. Sequeira, Gebärdensprache, 213) unterteilt die Gesten in »Embleme«, »Illustratoren«, »Regulatoren«, »Adaptoren« sowie »Affekt-Darstellungen«, vgl. Bieritz, Liturgik, 215–217. 329 Sequeira, Gottesdienst, 30 f. 330 Bieritz, Liturgik, 209. 331 A. a. O., 210. 332 A. a. O., 212 f. Als »indexalisches Zeichen« betrachtet, kann das Kreuzzeichen darüber hinaus sowohl als »Vektor« wie auch als »Synekdoche« fungieren (ebd.). 333 A. a. O., 231; Sequeira, Gottesdienst, 37. 334 Vgl. Kabel, Handbuch, Bd. 1 und 2; ders., Übungsbuch. 335 Vgl. Deeg, Das äußere Wort, 393 f. 336 Kabel, Handbuch, Bd. 1, 22: »Ziel der Arbeit in ›Liturgische Präsenz‹ ist es immer, das Auftreten und den Gebrauch der Formen so zu gestalten, dass wir nicht vom Inhalt abgelenkt werden.« Zugleich besteht der Inhalt »nicht an und für sich. Er wird erst gar nicht transportiert, wenn der Körper ihn nicht so gestaltet, dass wir ihn wahrnehmen können«; vgl. auch Wöllenstein, Vorwort, 13.

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beit.«337 Kabels Aufmerksamkeit gilt sowohl der Körperhaltung als auch den liturgischen Gebärden. Diese analysiert er in Bezug auf jede »Station«338 des Gottesdienstes ausführlich – wobei nicht nur die Gebärden als solche, sondern auch die Stellung der Liturgin/des Liturgen im gottesdienstlichen Raum berücksichtigt werden – und bietet eine Fülle an Vorschlägen zu ihrem bewussteren sowie stimmigeren Vollzug.339 Auch im Rahmen eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses wird der leiblichen Dimension liturgischer Vollzüge große Aufmerksamkeit geschenkt, wobei dies, ähnlich wie bei Stählin, fundamental mit der Einsicht zusammenhängt, dass Liturgie gerade als verleiblichte Praxis ihre bildende Kraft entfaltet. So betont etwa James K. A. Smith, dass jede charakterformende Praxis »leiblich« sein muss, weil der Mensch ein grundsätzlich »verleiblichtes« (embodied) Wesen ist.340 In Anlehnung an Pierre Bourdieus Praxistheorie betrachtet Smith ferner als »Liturgie« jene verleiblichte Praxis, die zur Entstehung eines »Habitus« bzw. einer »leiblichen εÏ ξις« im Menschen führt, welche wiederum dessen Lebens-Haltung, Wahrnehmung und Verhaltensweise bestimmt.341 Wie in einem früheren Zusammenhang bereits erwähnt,342 trifft diese formale Beschreibung von »Liturgie« bei Smith nicht nur auf die christliche, sondern ebenso sehr auf die verschiedenen »säkularen Liturgien« zu, denen der Mensch in der postmodernen Gesellschaft ausgesetzt ist: Ihnen allen eignet insofern Prägekraft, als mit ihnen eine »embodied pedagogy« einhergeht.343 Was die christliche Liturgie von allen anderen unterscheidet, ist jedoch erstens die spezifische Qualität ihrer formenden Wirkung, die in einer Re-Orientierung des Menschen auf Gott hin und damit auch in einer erneuten Wahrnehmung der Welt als Gottes Schöpfung besteht.344 Zweitens liegt die Quelle dieser ihrer Wirkung nicht in ihr, sondern in Gott selbst, der sich der liturgischen Praxis der Menschen bedient, um an ihnen zu handeln.345 Körperhaltungen und Gebärden werden in dieser Perspektive also nicht primär als Ausdrucksmittel, sondern als wichtige und 337

Kabel, Handbuch, Bd. 1, 256; vgl. ders., Übungsbuch, 221f. Kabel, Handbuch, Bd. 1, 22 f., unterteilt den Gottesdienst in fünf »Stationen«: Eröffnung, Lesung, Predigt, Abendmahl und Segen. 339 Vgl. a. a. O., 38–55 (Eröffnung); 64–68 (Lesung); 94–102 (Predigt); 120–145 (Abendmahl); 152–178 (Segen). 340 Smith, Desiring the Kingdom, 58: »Habits are inscribed in our heart through bodily practices and rituals that train the heart, as it were, to desire certain ends.« 341 Smith, Imagining the Kingdom, 98. Vgl. Bourdieu, Entwurf, 189 f.; 195; Krais/Gebauer, Habitus, 74–77. 342 Siehe oben, Kap. II.1.2.2. 343 Smith, Imagining the Kingdom, 94. 344 A. a. O., 167. 345 A. a. O., 15; 184. 338

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von den liturgischen Texten nicht zu trennende Kanäle der Formung und Charakterbildung der Feiernden betrachtet, die im Gottesdienst als gott-menschlichem Geschehen stattfinden. Angesichts der vielfältigen Betonung der essenziell leiblichen Natur liturgischer Vollzüge in der neueren Liturgik wirkt die Abwesenheit jeglicher Hinweise auf Haltungen und Gebärden in den bestehenden Formularen zur liturgischen Buße überraschend. Diese Zurückhaltung kann wohl zum Teil im Wunsch gründen, verschiedenen lokalen Traditionen Raum zu lassen,346 könnte aber auch als Indiz einer im protestantischen Kontext tief liegenden Indifferenz oder gar Skepsis gegenüber geprägten liturgischen Gebärden interpretiert werden.347 Gerade im Rahmen eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses gilt es jedoch, erneut danach zu fragen, welche Haltungen und Gebärden zur Umkehrliturgie gehören könnten. Dabei ist zu beachten, dass leibliche und sonstige Vollzüge hinsichtlich ihrer »Aussage« miteinander übereinstimmen348 und keine Konflikte zwischen ihnen entstehen, welche die Wirkung der Liturgie beeinträchtigten. In evangelisch-reformierten Gottesdiensten betet die Gemeinde üblicherweise im Sitzen, mit geneigtem Kopf, geschlossenen Augen und gefalteten Händen, eine Haltung, die in erster Linie innere Sammlung signalisiert und fördert.349 Aufgestanden wird zunehmend zum Singen350 sowie zum Fürbittengebet und dem sich daran anschließenden Unservater. Das Knien – die Haltung der »tiefen Beugung vor dem heiligen Gott«351 – ist hingegen den Reformierten und mehrheitlich auch den Protestanten im Allgemeinen abhandengekommen.352 Die 346

Vgl. EGb(EB), 27. Vgl. die oben angeführte Beobachtung Josuttis’ bezüglich der protestantischen »Tendenz zur Entleiblichung des Teilnahmeverhaltens« im Gottesdienst (Josuttis, Weg, 132). 348 Vgl. Sequeira, Gottesdienst, 16 f. 349 So Plüss, Gottesdienst, 183. 350 A. a. O., 186, Anm. 23. 351 Stählin, Form und Gebärde im Gottesdienst und Gebet, zit. in: Ohm, Gebetsgebärden, 356. 352 Dies war allerdings keine unmittelbare Folge der Reformation, wurde das Knien im Gottesdienst doch während zweier Jahrhunderte nach der Reformationszeit weiterhin gepflegt. In Zürich etwa kniete der Pfarrer in der Kanzel nieder, während die Gemeinde nach dem Fürbittengebet am Anfang des Predigtgottesdienstes das Unservater betete (vgl. Lavater/Ott, Gebräuche, 52; Herrliberger, Heilige Ceremonien, 23). Im Rahmen der Abendmahlsliturgie wurde die Gemeinde ferner an zwei Stellen aufgefordert niederzuknien: beim Unservater zwischen »Vermahnung« und »Sursum corda« sowie bei der auf die Austeilung folgenden Danksagung (CD I, Nr. 301; 305 [Anm.]; vgl. auch Lavater/Ott, Gebräuche, 65; 67). Bereits im 17. Jahrhundert knieten allerdings nur noch die um den Abendmahlstisch versammelten »Administranten« nieder (Herrliberger, Heilige Ceremonien, 31 f.; vgl. ders., Kurze Beschreibung, Tafel VII.1) und auch dieser Brauch wurde 1768 endgültig abgeschafft (Wirz, Historische Darstellung, 347

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

Liturgin/der Liturg steht seinerseits meist hinter dem Taufstein, dem Abendmahlstisch oder dem Lesepult. Es ist somit davon auszugehen, dass in Abwesenheit besonderer Rubriken die ersten beiden »Schritte« der Umkehrliturgie (Sündenbekenntnis und Epiklese) in der üblich gewordenen Haltung begangen werden, wobei im Falle einer Ersetzung des gesprochenen durch ein gesungenes Gebet (Bußpsalm) die Gemeinde möglicherweise aufstünde. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Unterschied zwischen Bekenntnis der Sünde und Bitte um Erneuerung auch die Einnahme unterschiedlicher Körperhaltungen verlange. Ein Wechsel der Körperhaltung wäre allerdings nur bei einem gesprochenen Gebet möglich, bei dem die beiden »Schritte« deutlich voneinander unterschieden und womöglich auch durch einen Moment der Stille getrennt würden.353 Die Liturgin/der Liturg könnte zu Beginn der Erneuerungsbitte etwa die »Orantenhaltung« mit ausgebreiteten und allenfalls erhobenen Händen einnehmen, die traditionell mit epikletischen Gebeten (etwa der Epiklese beim Eucharistiegebet) verbunden ist,354 während die Gemeinde aufstehen und sich womöglich auch der Gebärde der Liturgin/des Liturgen anschließen könnte. Zu fragen ist ferner danach, ob der Gemeinschaftscharakter von Sündenbekenntnis und Epiklese dadurch unterstrichen werden könnte, dass die Liturgin/der Liturg seine übliche, zur Gemeinde frontale Stellung verließe, um sich zu ihr hinzusetzen oder hinzustellen.355 Die Erteilung des Gnadenzuspruchs ist ein Akt der Wortverkündigung. Deshalb wäre es konsequent, dass sie vom selben Ort aus geschähe, an dem auch die Predigt gehalten wird. Da die Gnadenzusage jedoch durch eine Lesung eingeleitet wird und bisweilen auch nur aus einer Lesung bestehen kann, bietet sich der Ort, an dem die sonstigen gottesdienstlichen Lesungen verrichtet werden, als ebenso dafür geeignet an. Die Gemeinde kann zum Gnadenzuspruch entweder sitzen, wie sie es auch während der Predigt tut, oder aber stehen und damit ihre besondere Achtung, Aufmerksamkeit und Ehrerbietung angesichts des zu empfangenden Gnadenworts signalisieren. Bd. 1, 83). Sosehr das Schwinden der knienden Gebetshaltung im protestantischen Gottesdienst als »Verlust« bedauert werden kann (vgl. Stählin, Form und Gebärde im Gottesdienst und Gebet, zit. in: Ohm, Gebetsgebärden, 356), ist deren Zurückgewinnung als beinahe unmöglich zu betrachten. 353 Tritt hingegen an die Stelle des gesprochenen Gebets der Gesang eine Bußpsalms, so ließe sich der Wechsel schwer vollziehen, da die beiden »Schritte« meist eng miteinander verflochten sind (vgl. Ps 51). 354 Vgl. Bieritz, Liturgik, 224; Gregorius/Schwarz, Feier, 36 f. 355 Aus ähnlichen Überlegungen heraus schrieb etwa das Book of Common Prayer (1662) vor, dass beim Sündenbekenntnis zu Beginn des Morning und des Evening Prayer nicht nur die Gemeinde, sondern auch der Pfarrer niederzuknien hatte. Vgl. Book of Common Prayer, 3; 18.

4. Interdependenz von Form und Inhalt

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Schließlich empfiehlt sich das Stehen als angemessene Haltung bei der Bundeserneuerung, die ja einen feierlichen, freudvollen liturgischen Akt darstellt: Die Gemeinde feiert die Versöhnung mit Gott in Jesus Christus, gedenkt des ewigen Gnadenbundes und bekennt sich erneut dazu. Wie bei Sündenbekenntnis und Epiklese wäre es auch hier sinnvoll, dass die Liturgin/der Liturg seine übliche Stellung beim Taufstein, Abendmahlstisch oder Lesepult verließe und sich zu den anderen Gemeindegliedern gesellte. 4. Unentbehrlichkeit der Form und Interdependenz von Form und Inhalt im liturgischen Geschehen Eine gewisse Offenheit für liturgische Vielfalt gehört zweifelsohne zum reformatorischen Erbe. Wie etwa Bullinger im Zweiten Helvetischen Bekenntnis unter Berufung auf den altkirchlichen Historiker Sokrates Scholastikos betont, pflegten verschiedene Kirchen seit jeher unterschiedliche Bräuche, sodass solche Unterschiede keineswegs als hinreichenden Grund für Kirchenspaltungen betrachtet werden könnten.356 Zeremonien seien vielmehr Adiaphora, Mitteldinge, bei denen sich die Kirchen immer einer gewissen Freiheit bedient hätten.357 Es wäre allerdings unangebracht, solche Aussagen zur Begründung eines extremen liturgischen Adiaphorismus zu missbrauchen, welcher die Gleichgültigkeit der Form zur impliziten Prämisse liturgischer Arbeit machte. Denn die Anerkennung liturgischer Vielfalt bedeutet an sich nicht, dass man einen liturgischen Indifferentismus befürworten muss. Dass die Zürcher Reformation einen solchen Indifferentismus gerade nicht fördern wollte, bestätigt Zwinglis sorgfältige liturgische Arbeit, die nicht zuletzt in die Anfertigung seines elaborierten und bei jeder Feier zu verwendenden Abendmahlsformulars mündete. Dass im heutigen (reformierten) Protestantismus hingegen die Gefahr eines extremen liturgischen Adiaphorismus lauert, ist zweierlei Faktoren geschuldet. Erstens besteht die Tendenz, entsprechend einem verbreiteten Denkmuster Form und Inhalt eines kommunikativen Vorgangs, in diesem Falle der Liturgie, als voneinander trennbar zu denken. Diesem Ansatz zufolge sei es möglich, ein und denselben Inhalt 356

CHP, Kap. 27 (Hildebrandt/Zimmermann 131). Ebd. (Hildebrandt/Zimmermann 132). Zugleich ist aber an die Mahnung Bullingers zu erinnern, nicht unterschiedslos alle kirchlichen und liturgischen Bräuche zu den Adiaphora zu zählen: »Wir warnen indessen davor, zu den Mitteldingen etwas zu rechnen, was in Wirklichkeit nicht zu den Mitteldingen gehört, wie einige die Messe und den Gebrauch von Bildern in der Kirche für Mitteldinge zu halten pflegen. […] Wenn deshalb Mitteldinge mit dem Glaubensbekenntnis verquickt werden, so hören sie auf, frei zu sein« (ebd.). 357

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V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

durch völlig unterschiedliche und unter sich austauschbare liturgische Formen zu vermitteln.358 Zweitens wird gerade die Betonung der pneumatischen Dimension gottesdienstlicher Feiern bisweilen als Argument für die Gleichgültigkeit aller Formen herangezogen: Wenn der Heilige Geist Hauptakteur ist und dieser bekanntlich »weht, wo er will« (Joh 3,8), seien Formen an sich irrelevant und deren Bestimmung eine reine Stilfrage.359 Arbeit an der Liturgie im Sinne eines pneumatisch-formativen Gottesdienstverständnisses ist jedoch nur insofern möglich, als die Einseitigkeit beider Argumentationsweisen erkannt und korrigiert wird. Dem Spiritualismus der Letzteren gilt es entgegenzuhalten, dass die Auffassung des Gottesdienstes als primär pneumatisches Geschehen die fundamentale Bedeutung liturgischer Formen nicht in Frage stellt, sondern gerade bestätigt. Denn in dieser Perspektive ist Gottesdienst in erster Linie zwar Handeln Gottes. Wie im zweiten Kapitel mehrfach betont wurde,360 handelt aber Gott im Gottesdienst an der Gemeinde durch Handlungen, die diese vollzieht. Gott bedient sich menschlicher Handlungen, um selbst zu handeln. Dabei bindet Gott sich zwar nicht an bestimmte Formen, aber er bindet wohl uns an sie.361 Die Anerkennung der pneumatischen Grunddimension des Gottesdienstes läuft somit nicht auf eine Relativierung der Formen hinaus, sondern hebt vielmehr deren Unentbehrlichkeit hervor. Gegen den Intellektualismus362 der ersteren Argumentationsweise ist daran zu erinnern, dass Form und Inhalt, obwohl sie logisch voneinander unterschieden werden können, in Wirklichkeit immer in organischem Verhältnis zueinander stehen. Es gibt weder formlose »Inhalte« noch leere »Formen«.363 Vielmehr werden bestimmte Inhalte immer durch bestimmte Formen vermittelt, während Formen ihrerseits nie neutral, sondern stets »gerichtet« und »geladen« sind: »They [sc. 358 Nach Davison/Milbank, For the Parish, 1, liegt diese Annahme der »Fresh Expressions«-Bewegung zugrunde: »Mission-shaped Church [der offizielle Bericht der Kirche Englands bezüglich der »Fresh Expressions of Church«] is a flawed document. […] The underlying philosophical mistake is that the forms of the Church are one thing and its inner reality is another. This is the mistake of attempting to disentangle ›form‹ and ›content‹. As the report sees it, the Church can take an endless number of forms. In each case it is the same Church, but expressed in different ways.« 359 Angesprochen wird diese Position etwa in: Müller/Plüss, Abendmahlspraxis, 49. 360 Siehe oben, Kap. II.2. 361 Vgl. KD I/2, 245: »Gott hat uns, er hat aber nicht sich selbst an die Zeichen seiner Offenbarung gebunden«; Leeuw, Sakramentales Denken, 214: »Wir sind an das Sakrament gebunden, Gott nicht«. 362 Smith, Imagining the Kingdom, 168: »Such strategies are inherently ›intellectualist‹, both because they reduce the gospel to a (propositional) ›message‹ and (because of that) completely miss the formative power of the forms themselves.« Vgl. auch Davison/Milbank, For the Parish, 22. 363 Vgl. Meyer-Blanck, Authentizität, 312–315.

4. Interdependenz von Form und Inhalt

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forms] carry their own teleological orientation and come loaded with a complex of rituals and practices that carry a vision of the good life.«364 Dies bedeutet unter anderem, dass Veränderungen der Form unweigerlich eine Veränderung der durch sie vermittelten Inhalte mit sich bringen und umgekehrt. Form und Inhalt der Liturgie verhalten sich zueinander wie Form und Inhalt eines Gedichts oder Gemäldes: In beiden Fällen wird man anerkennen müssen, dass ihr bestimmter Inhalt bzw. ihre spezifische Bedeutung untrennbar von der Form ist, sodass die Form der Liturgie ebenso wie jene des Gedichts oder des Gemäldes das »unersetzliche Vehikel« von deren Bedeutung ist.365 »Übersetzungen« sind dabei zwar möglich, lassen aber die »Botschaft« nie unberührt.366 Diese Bemerkungen dürfen indessen nicht als eine Art indirektes Plädoyer für liturgischen Traditionalismus interpretiert werden. Vielmehr sollte ein erneuertes Bewusstsein für die Unentbehrlichkeit der Form sowie für die Interdependenz von Form und Inhalt sowohl einen gewissen »Mut zur (geprägten, wiederholbaren) Form« wie auch eine besondere Sorgfalt und Behutsamkeit im Umgang mit liturgischen Formen fördern. Eine Wiederentdeckung der geprägten, auf Wiederholung angelegten Form setzte allerdings voraus, dass das Postulat, der evangelisch-reformierte Gottesdienst lasse sich allein als grundsätzlich »gestaltungsoffene Ordnung« definieren,367 in Frage gestellt würde. Erst aufgrund einer solchen Infragestellung würde es nämlich möglich, das Ziel konkreter liturgischer Arbeit neu zu bestimmen: Diese hätte nicht mehr zur Aufgabe, ein an sich leeres »Gerüst« jeweils neu und anders zu füllen, sondern liturgische Formen zu entwickeln, die sich der Bezeichnung »Verleiblichung des Mysteriums Christi«368 als würdig erwiesen. Dabei ginge es selbstverständlich nicht darum, »Verhalten und Handlungen im Gottesdienst« a priori neu zu erfinden.369 Vielmehr wäre konfessionsbewusst und in ökumenischer Weite auf Überliefertes zurückzugreifen mit dem Ziel, die Emergenz von geprägten, wiederholungs- sowie überlieferungsfähigen liturgischen Formen zu begünstigen.370

364

Smith, Imagining the Kingdom, 169. Vgl. Scruton, Beauty, 113. 366 Davison/Milbank, For the Parish, 8–10. 367 Kunz, Gottesdienst, 328. Vgl. a. a. O., 302 f. 368 Siehe oben, Anm. 318 in diesem Kapitel. 369 Kunz, Gottesdienst, 328. 370 Ähnlich hatte bereits der reformierte Liturgiker August Ebrard (1818–1888) das Ziel liturgischer Arbeit mittels des Stichworts »organische Weiterentwicklung« bestimmt, vgl. Baschera, Liturgik Ebrards, 56–58; 113–115. 365

196

V. Der Vollzug der Umkehrliturgie

Denn ohne solche Formen mit ihren verschiedene Sinne betreffenden und voneinander untrennbaren Dimensionen kann keine Liturgie bestehen, bestimmt doch die Form die Bedeutung der Liturgie sowie die Qualität ihrer Wirkung wesentlich mit.371 Dies gilt freilich für die Umkehrliturgie nicht weniger als für jeden anderen liturgischen Vollzug.

371

Vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 384: »Formen bilden sich, werden gebildet und bilden gleichzeitig die sie verwendenden Menschen« (Hervorhebung, LB).

Anhang A: Texte aus den Materialien der Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz bzw. der Deutschschweizerischen Liturgiekommission1

1. Sündenbekenntnisse [Nr. 1: Lit I, 41 (aus: Beispiel zu Ordnung II – mit Bussteil)]2 Lasst uns vor Gott still werden und ihm unsere Schuld bekennen. Nach dem Bussgebet möge die Gemeinde stehen bleiben und aus Lied ... , Strophe ... , singen. Wir wollen beten: Herr, da wir vor dir stehen, erkennen wir: Wir sind nicht, wie du uns haben möchtest. Wir sind nicht gesinnt wie Christus. Wir möchten herrschen, während er diente. Er war gehorsam, und wir wollen unsern eigenen Willen durchsetzen. Wir suchen vieles, und eins ist not. Wir sind mit uns, unserer Ehre, unserm Erfolg, unserm Leid beschäftigt. Das ist unsere Not und Schuld. Wir bekennen sie frei. Wir kommen zu dir mit der Bitte: Herr, vergib, Herr, erbarm dich unser. Amen. [Nr. 2: Lit I, 75]3 Herr Christus, du hast dem Petrus über seinen Tränen die Sünden erlassen und den Zöllner gerecht gesprochen, der seine Fehler erkannte. Nimm auch das Bekenntnis unserer Sünden an und vergib uns in deiner Güte und Menschenliebe. Du allein hast ja die Macht, Sünden zu vergeben. Dir und deinem ewigen Vater und dem heiligen, lebendigmachenden Geist senden wir unsern Lobpreis empor, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.

1

Die Wiedergabe der Texte erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, Zürich, insbesondere für Nr. 1–2, 24–26, 38. 2 Liturgiekommission 1972. 3 »Aus der griechisch-orthodoxen Kirche«, vgl. Lit I, 267.

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Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

[Nr. 3: Lit I, 75]4 Weil uns das Wort des Herrn der Sünde überführt, so wollen wir uns vor der Majestät Gottes beugen und demütig bekennen: Ich armer, sündiger Mensch bekenne vor dir, meinem Herrn, Gott und Schöpfer, dass ich viel gesündigt habe mit Sinnen und Gedanken, Worten und Werken, wie du, ewiger Gott, wohl weisst. Das ist mir von Herzen leid. Barmherziger Gott, sei mir gnädig, verzeihe mir meine Sünden und führe mich zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unsern Herrn. Amen. [Nr. 3a: Lit III, 172 (aus: Abendmahlsformular III nach Zwingli 1525)]5 Laßt uns miteinander unsere Sünden bekennen: Ich armer, sündiger Mensch, ich bekenne vor dir, meinem Herrn, Gott und Schöpfer, daß ich leider viel gesündigt habe mit meinen Sinnen und Gedanken, mit Worten und Werken, wie du, ewiger Gott, wohl weißt. Meine Sünden sind mir leid, und ich begehre deine Gnade. Sprecht also in euren Herzen: Allmächtiger, ewiger und barmherziger Gott, verzeih uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn. Amen. [Nr. 4: Lit I, 76]6 Wir wollen uns demütig beugen vor Gott, unserem himmlischen Vater, und aus Grund unseres Herzens sprechen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin nicht wert, dass ich dein Sohn heisse. Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach eingehst, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Gott sei mir Sünder gnädig!

4

»Vorreformatorisch (Surgant 1506)«, »Zürcher Kirchenordnung 1535« et al., vgl. Lit I, 267. 5 Vgl. Christenlich ordnung 1535 (Z IV 697,26–34): »Bekennend üwer mißtadt und sprächennd: Ich armer, sündiger mensch, ich bekenn mich vor dir, minem herren gott unnd schöpffer, das ich leyder vil gesündet hab mit sinnen, gedancken, worten und wercken, wie du, eewiger gott, wol weist. Die sind mir leyd unnd begären gnad. Sprächend also inn üweren hertzen: Allmächtiger, eewiger und barmhertziger gott! Verzych uns unser sünd unnd fuer uns zuo eewigem läben durch Jesum Christum,unseren herren, welcher uns also hat geleert bätten: [es folgt das Unservater].« 6 Lk 15,21 (»Zürcher Kirchenordnung 1525« et al.); Mt 8,8; Lk 18,13; Joh 6,37, vgl. Lit I, 267.

1. Sündenbekenntnisse

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Denn dein Sohn hat gesagt: Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstossen. Amen. [Nr. 5: Lit I, 76]7 Lasst uns dem Herrn unsere Sünde bekennen, denn er ist gütig und seine Barmherzigkeit ist ewig: Allmächtiger Gott, barmherziger Vater, dir bekennen und gestehen wir alle unsere Missetaten und Versäumnisse. Deinen Worten haben wir nicht geglaubt, und von deinen Wegen sind wir abgewichen. Du allein weisst, wieviel Übertretung sich findet in unserem ganzen Leben. Gedenke unser um deines Namens willen nach deiner Barmherzigkeit und Güte, die vor aller Welt gewesen ist. Gedenke nicht unserer Sünden und Übertretungen. Herr, sei uns gnädig und verzeih uns alle unsere Schuld, wie gross sie auch ist. Amen. [Nr. 6: Lit I, 77]8 Heiliger Gott und Vater, wir bekennen, dass wir von unserer Kindheit an bis auf diese Stunde gesündigt haben in Übertretung deiner heiligen Gebote, in bösen Gedanken, Neigungen, Worten und Werken, auch in grossem Unglauben und Undank, so dass wir nicht würdig sind, unsere Augen zum Himmel aufzuheben und deine Kinder genannt zu werden. Weil aber durch unsere Untreue deine Treue nicht aufgehoben wird, so bitten wir dich, unseren Vater, auf den wir unseren Trost und unsere ganze Hoffnung setzen: denke an deine Güte, in der du uns erschaffen hast; und sieh an das Blut deines Sohnes, durch den wir erlöst und gereinigt sind zu deinem Volk; nimm uns um deiner Barmherzigkeit und um der Ehre deines Namens willen in Gnaden an und verzeih uns alle unsere Sünden. Herr, erbarme dich, Jesus Christus, erbarme dich, Herr, erbarme dich und sei uns gnädig. Amen. [Nr. 7: Lit I, 78]9 Lasst uns Gott die Ehre geben, ihm unsere Sünde bekennen und sprechen: Allmächtiger Gott, himmlischer Vater, wir bekennen vor deiner heiligen Majestät, dass wir Sünder sind und deine heiligen Gebote täglich 7 8 9

»Strassburg 1524« et al., vgl. Lit I, 267. »Basel 1526« et al., vgl. Lit I, 267. »Calvin, Formes et Prie`res eccle´siastiques, Genf 1542«, vgl. Lit I, 267.

200

Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

übertreten und dadurch nach deinem gerechten Urteil auf uns laden Verderben und Verdammnis. Aber, o Herr, es ist uns leid, dass wir dich erzürnt haben. Wir bitten, dass deine Gnade uns zu Hilfe komme. Erbarme dich über uns, gütiger Gott und Vater, der du reich bist an Barmherzigkeit, im Namen deines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn. Verzeih uns alle unsere Sünden um Jesu Christi, deines lieben Sohnes, willen und hilf uns durch die Kraft deines Geistes auferstehen zu einem neuen Leben und Früchte der Dankbarkeit bringen zur Ehre deines Namens. Amen. [Nr. 7a: Lit III, 188 (aus: Abendmahlsformular V nach Calvin 1542)] Liebe Brüder und Schwestern, laßt uns vor das Angesicht des Herrn treten und ihm unsere Schuld bekennen: Allmächtiger Gott, himmlischer Vater, wir bekennen vor deiner heiligen Majestät, daß wir Sünder sind und deine heiligen Gebote täglich übertreten und dadurch nach deinem gerechten Urteil auf uns laden Verderben und Verdammnis. Aber, o Herr, es ist uns leid, daß wir dich erzürnt haben. Wir bitten, daß deine Gnade uns zu Hilfe komme. Erbarme dich über uns, gütiger Gott und Vater, der du reich bist an Barmherzigkeit, im Namen deines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn. Tilge unsere Schuld und mehre von Tag zu Tag die Gnadengaben deines Heiligen Geistes. Hilf uns zur wahren Buße; so laß uns tot sein für die Sünde und bringe hervor in uns Früchte der Gerechtigkeit, welche dir gefallen durch Jesus Christus, der mit dir und dem Heiligen Geiste lebt und regiert in Ewigkeit. Amen. [Nr. 8: Lit I, 78]10 Herr, unser Gott, wir bekennen vor dir, dass wir schwer und mannigfach wider dich gesündigt haben, nicht allein mit groben Sünden, sondern noch viel mehr mit geistiger Blindheit, mit Unglauben und Zweifel, mit Kleinmut und Ungeduld, mit bösem Richtgeist und Hochmut, mit Hass, Neid und Schadenfreude, auch mit andern bösen Tücken und Begierden, wie du, Herr und Gott, es an uns kennst, und wir es leider nicht genug erkennen können. Das reut uns und ist uns leid, und wir bitten dich von Herzen um Gnade durch deinen lieben Sohn, Jesus Christus. Amen.

10

»Pfalz 1563« et al., vgl. Lit I, 267.

1. Sündenbekenntnisse

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[Nr. 9: Lit I, 79]11 Gebt Gott die Ehre! Bekennt ihm eure Missetat und sprecht: Hoher und ewiger Gott, Du wohnst im Himmel und dein Name ist heilig. Du wohnst auch bei denen, die eines zerschlagenen und demütigen Herzens sind und die sich fürchten vor deinem Wort. Wir bekennen vor dir, unserem Herrn und Gott, dass wir viel gesündigt haben von Jugend auf mit bösen Gedanken, Worten und Werken, wie du, allwissender Gott, wohl weisst. Das reut uns und ist uns von Herzen leid. Erbarme dich über uns, gnädiger Gott und Vater! Verzeih uns unsere Sünden nach deiner grossen Barmherzigkeit. Bekehre und heilige uns durch deinen Geist und führe uns zum ewigen Leben durch Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn und Heiland. Amen. [Nr. 10: Lit I, 79]12 Lasset uns unsere Sünden bekennen: Herr, unser Gott, du weisst, was für Leute wir alle sind, und wir wissen es auch, können es jedenfalls vor dir nicht verleugnen. Du weisst um unsere harten Herzen, unsere unreinen Gedanken, unser ungeordnetes Begehren und alles, was daraus gekommen ist und noch kommt, unsere Irrtümer und Übertretungen. Du weisst um die vielen Worte und Taten, die dir nicht gefallen und mit denen wir auch den Frieden auf Erden nur stören und zerstören können. Wer sind wir, dass wir in dieser Stunde dir zu dienen und uns untereinander wirklich zu helfen vermöchten? Wir halten uns ganz allein an deine Verheissung in Jesus Christus. Um seinetwillen glauben und vertrauen wir: du wirst uns helfen, nicht weil wir gut und stark wären, aber weil du es bist. Amen. [Nr. 11: Lit I, 80]13 Herr Jesus Christus, du unser Heiland, du bist in diese Welt gekommen, du hast uns den Weg zum Vater gezeigt und für unsere Sünden den Tod erlitten. Dafür danken wir dir heute aufs neue. Wir kommen zu dir und bekennen, dass wir vielfach gesündigt haben und von deinem Willen abgewichen sind. Das ist uns von Herzen leid, und wir suchen demütig deine Vergebung. Amen.

11 12 13

»BE [Berner Liturgie] 1761« et al., vgl. Lit I, 268. Nach: Barth, Gebete, 78 f., vgl. Lit I, 268. »Peter Paul Cadonau«, vgl. Lit I, 268.

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Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

[Nr. 12: Lit I, 80]14 Herr, wir leben immer wieder, wie wenn du nicht wärest: wir halten es nicht für nötig, zu beten; wir fragen in unsern grossen und kleinen Entscheidungen nicht nach dem, was dein Wille ist. Weil wir dich vergessen, fühlen wir uns auch nicht vor dir schuldig; statt dessen haben wir Angst vor dem Urteil der Menschen. Weil wir gleichgültig und gedankenlos sind, merken wir nicht, wo andere um unsertwillen in Schuld und Unglück geraten. Weil wir nicht nach dir fragen, wissen wir nicht, was unsere Sünde ist. Unsere Gottlosigkeit ist unsere Schuld. Herr, vergib uns! Amen. [Nr. 13: Lit I, 80 f.]15 Treuer Gott, wir wagen es, vor deine heiligen Augen zu treten, denen nichts verborgen bleibt, und können nur sagen: Wir sind’s nicht wert, dass wir in dein Haus und vor dich kommen dürfen. Du weisst besser als wir, wie oft wir gegen deinen heiligen Willen gefehlt, was wir an dir und unsern Mitmenschen versäumt haben und wieviel Böses in uns wohnt. Das alles wollen wir dir offen eingestehen. Wir wenden uns zu deiner Barmherzigkeit und bitten dich um Verzeihung und Hilfe, wie sie Jesus Christus, dein Sohn, uns gezeigt und gebracht hat durch seinen Tod am Kreuz. Erbarme dich unser – du, unser Vater. Amen. [Nr. 14: Lit I, 81]16 Vater im Himmel, du weisst, wie es um uns alle steht, und dass wir dir immer wieder etwas vormachen wollen. Wir sind ungehorsam und undankbar. Deine Güte und Liebe haben wir gering geachtet, und auf deine freundliche, väterliche Stimme nicht hören wollen. Wir sind den vielen andern Stimmen um uns und in uns gefolgt – unsern zügellosen Trieben und Begierden, unserm selbstherrlichen Verstand, dem Gerede der Menschen und der öffentlichen Meinung. So haben wir dir Schande bereitet, wie der verlorene Sohn. Wir sind weit von dir abgekommen wie er. Wir können nur den Heimweg zu dir suchen und sprechen: Vater, ich habe gesündigt vor dir; ich bin nicht wert, dein Sohn zu heissen. Amen. Wir bitten um Gottes Vergebung mit den Worten des Liedes … 14 15 16

»Emanuel Kellerhals«, vgl. Lit I, 268. »Walter Erhardt«, vgl. Lit I, 268. »Walter Klein, Salez«, vgl. Lit I, 268.

1. Sündenbekenntnisse

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[Nr. 15: Lit I, 81]17 Herr, wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Amen. [Nr. 16: Lit I, 82]18 Herr, auch wir haben unsern Anteil an der Schuld dieser Welt. Deshalb anerkennen wir dein Gericht über uns und sind bereit, es zu tragen. Wie oft haben wir versucht, dir und dem Mammon zu dienen; wie oft haben wir andere Bindungen über unsere Bindung an Christus gestellt; wie oft haben wir unsere eigenen wirtschaftlichen, nationalen und rassischen Interessen mit dem Evangelium gleichgesetzt und dadurch die frohe Botschaft verfälscht! Unsere Zertrennung hat uns daran gehindert, in der Gemeinschaft Christi Rat und Zurechtweisung voneinander anzunehmen; und weil uns diese Zurechtweisung fehlte, hat die Welt aus unserm Munde statt Gottes Wort oft nur Menschenworte vernommen. Vergib uns! Amen. [Nr. 17: Lit I, 82/GH, 34 f.]19 Gott, unser Vater, der du uns den Weg des Lebens in deinem Sohn gezeigt hast, wir bekennen, wie langsam wir von ihm lernen und wie widerwillig wir ihm nachfolgen. Du hast gesprochen und uns gerufen, und wir haben nicht auf dich gehört. Deine Herrlichkeit ist erschienen, und wir sind blind gewesen. Du hast deine Hand nach uns ausgestreckt, und wir sind davor zurückgewichen. Wir haben viel empfangen und wenig gedankt. Wir sind deiner Liebe unwürdig. Gemeinde: Erbarm dich unser und vergib uns, Herr. Vergib uns, wo wir unsere Zeit vergeudet und unsere Gaben missbraucht haben. Vergib uns, wenn wir unsere eigenen Misslichkeiten entschuldigt oder unsere Verantwortung abgelehnt haben. Vergib uns, dass wir andere so wenig von deiner Liebe spüren lassen. Gemeinde: Erbarm dich unser und vergib uns, Herr. Amen.

17 18 19

»Sog. Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945«, vgl. Lit I, 268. »Amsterdam 1948«, vgl. Lit I, 268. »Die Mission im Gottesdienst, 1962«, vgl. Lit I, 268.

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Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

[Nr. 18: Lit I, 83 (»besonders für einen Missionsgottesdienst«)]20 Wir wollen uns in Demut beugen vor der heiligen Majestät des Herrn und ihm unsern Mangel an Glauben und Gehorsam bekennen: Herr, unser Gott und Vater, wir bekennen dir, dass wir den grossen und herrlichen Verheissungen deines Sohnes nicht immer so geglaubt und vertraut haben, wie wir es hätten tun sollen, und dass unserer Bitte um das Kommen deines Reiches so oft die frohe Erwartung fehlte. Wir haben zu wenig Zeichen aufgerichtet, an denen die Welt sehen kann, dass wir zur Gemeinde deines Sohnes gehören und auf ihn warten. Das ist uns von Herzen leid. Vergib uns unsern Unglauben. Vergib uns, dass wir so wenig zur Verherrlichung deiner Ehre tun. Erbarme dich, Herr, und sei uns gnädig durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, den Heiland und Erlöser aller Völker. Amen. [Nr. 19: Lit III, 74 (Abendmahlsformulare zu den Festtagen: Karfreitag)]21 Gebet vor dem Mahl Allmächtiger Vater, du hast deinen Sohn für uns dahingegeben, damit wir die Vergebung empfangen. Du hast ihn aber auch zum Herrn und Heiland erhoben, damit wir am Leben unter deiner Herrschaft teilbekommen. Die Strafe lag auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Dir bekennen wir unsere Schuld, ein jeder für sich in seinem Herzen. Das eine, Herr, fehlt uns allen: Die heilige, die große, die unteilbare Liebe, die nicht das Ihre sucht, die sich nicht erbittern läßt, die alles glaubt, alles hofft und alles duldet. Darin sind wir alle schuldig geworden gegenüber dir und unseren Mitmenschen, gegenüber alt und jung und auch gegenüber den leidenden Brüdern und Schwestern in aller Welt. Um des Opfers Christi willen vergib uns unsere Schuld, und laß uns das Licht deiner Gnade leuchten. Laß deine Liebe zum Durchbruch kommen, damit sie von Mensch zu Mensch Versöhnung schafft. Und also verherrliche deinen Namen jetzt hier unter uns und überall, wo deine Gemeinde an deinem Tisch versammelt ist. Amen.

20 21

»Willy Meyer, AG [Aargauer Liturgie] 1959«, vgl. Lit I, 268. »Gustav Maurer, Oensingen«, vgl. Lit III, 373.

1. Sündenbekenntnisse

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[Nr. 20: Lit III, 83 (Abendmahlsformulare zu den Festtagen: Himmelfahrt)]22 Gebet vor dem Mahl Vater im Himmel! Wer sind wir, daß du uns an deiner Gnade und Herrlichkeit teilnehmen lässest? So laß uns denn von allem, was uns gefangen nehmen will, aufblicken zu deinem Sohn, dem du den Sieg über alle Macht der Finsternis gegeben hast. Wir gestehen, daß wir, wie einst die Jünger, oft an deinem Sieg zweifeln und dich verleugnen. Du aber hast den Jüngern ihre Schuld vergeben und sie durch deinen Geist stark und froh gemacht. So erneuere auch uns heute, daß wir in allen Widerwärtigkeiten dieser Zeit starken Mut bewahren und durch deine Kraft das Böse überwinden. Laß an uns allen dieses heilige Mahl gesegnet sein, daß es uns in der Gemeinschaft mit dir und miteinander bestärke. Bring uns so unserem Ziel näher. Amen. [Nr. 21: Lit III, 91 (Abendmahlsformulare zu den Festtagen: Dank-, Buß- und Bettag)]23 Gebet vor dem Mahl Herr unser Gott, wir danken dir, daß du diese Verheißung in deinem Sohn, in Jesus Christus, erfüllt hast und immer wieder erfüllen willst. Du kennst unsere Schuld, unseren Mangel an Liebe und Gerechtigkeit. Du siehst, wie wenig unser Volk nach dir fragt, wie wichtig uns der eigene Vorteil, wie gering aber unsere Bereitschaft ist zur Hingabe für die Sache des Mitmenschen. Das ist uns leid, Herr. Wir bitten dich: Vergib uns und unserem Volk um Jesu Christi willen. Laß uns im Essen des Brotes und im Trinken des Weines deines Erbarmens froh werden. Amen. [Nr. 22: Lit III, 106 (Abendmahlsformulare zu besonderen Anlässen: Brot für Brüder)]24 Gebet vor dem Mahl Herr, so groß ist deine Güte, daß du austeilst, und alle werden satt. So weit reicht dein Erbarmen, daß du dich kümmerst um das Elend der vielen, die Trost und Hilfe suchen. So reich ist dein Segen, daß noch ein Überfluß bleibt, wenn schon alle gesegnet sind. Das bist du, Herr, 22 23 24

»Gustav Maurer, Oensingen«, vgl. Lit III, 373. »Arnold Custer, Zürich«, vgl. Lit III, 374. »Peter Felix und Hans Georg Fontana«, vgl. Lit III, 374.

206

Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

der sich selbst hergibt, damit wir alle in dir leben. Brot, das gebrochen ist, wird zum Sinnbild für dich, Wein, der ausgeschenkt wird, zum Gleichnis für deine Hingabe. Auch uns bedrängt das Elend dieser Welt. Wir sehen die Armut und den Hunger so vieler Menschen, ihre Hilflosigkeit, ihre Erschöpfung, ihr Dahinsterben. Doch noch ärmer sind wir, wenn unser Herz sich verschließt und unsere Hände sich verkrampfen um den eigenen Gewinn. Wir sehen die Not unserer Zeit: Gewalttätigkeit und Angst, Kriegsdrohung und unversöhnliches Verhalten, Verschwendung und Gedankenlosigkeit. Doch noch größer ist unsere Not, daß wir nicht Widerstand leisten, daß wir nicht Glaube und Liebe säen und das Licht der Hoffnung nicht auf den Leuchter stellen. Herr, erweise dich doch als der Stärkere und hilf unserem Unglauben. Wende unsere Gedanken ab von der Klage um das Wenige, das wir tun können. Richte unsere Sinne aus auf deinen Reichtum, daß wir bauen auf die Kraft, die denen verheißen ist, die von deiner Gnade leben. Amen. [Nr. 23: Lit III, 204 f./GH, 51 (aus: Abendmahlsformular VIII)]25 Besinnung Das alte Bundesvolk Israel hielt das Passamahl in der Nacht vor seinem Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens. Mitten im Aufbruch hielten sie es. So feiern auch wir das Mahl des Herrn als wanderndes Gottesvolk. Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. In dem Lauf, der uns verordnet ist, dürfen wir an diesem Tisch Rast halten. Das Mahl des Herrn ist uns Wegzehrung und Stärkung. Im heiligen Mahl ist der Herr Jesus Christus selbst gegenwärtig als der Geber und als die Gabe. Wir aber müssen gestehen: Oftmals haben wir uns zum Bleiben eingerichtet. Wir kreisen um uns selbst. Wir nehmen unsern Wunsch und Willen wichtiger als den Herrn und sein Reich, unser Wohlergehen und Leid wichtiger als das des Nächsten. Darum bitten wir: Gemeinde:

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir.

25 »Werner Tanner, St. Gallen«, vgl. Lit III, 397. Das gemeinsam gesprochene Gebet geht auf »Bruder« Niklaus von Flüe (1417–1487) zurück, vgl. Lit III, 396 f.

1. Sündenbekenntnisse

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Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir. Amen. [Nr. 24: Lit III, 247 f. (aus: Abendmahl im kleinen Kreis I)]26 Gebet vor dem Mahl Gott, du hast deinen Sohn in die Welt gesandt zu unserem Heil. Du hast uns durch ihn zu deinem Volk gemacht. Wir sind es freilich nicht wert, daß du bei uns Einkehr hältst. Vergib uns alle Schuld, die wir vor dir und untereinander haben. Nimm von uns, was uns von dir trennt. Komm in uns wohnen. Wandle uns und schaffe uns neu nach dem Bilde deines Sohnes. In seinem Namen bitten wir dich: Unser Vater im Himmel … [Nr. 25: Lit III, 253 f. (aus: Abendmahl im kleinen Kreis III – Vorschlag zur freien Gestaltung)]27 Schuldbekenntnis und Bitte um Vergebung Wir möchten miteinander feiern, aber leider sind wir oft gegeneinander. Wir alle machen Fehler: Eltern – Kinder – … (Kurze Besinnung. Einander verzeihen) Herr, erbarme dich unser. Vergib uns. Vergib mir. Um Jesu Christi willen. Amen. [Nr. 26: Lit III, 301]28 Herr Jesus, du lädst uns zu deinem heiligen Tische ein, uns zu sättigen und zu stärken. Wer sind wir doch, daß du uns so hoch ehren willst? Du weißt wohl, was für unwürdige Geschöpfe wir sind, voll von Verderbnis und Missetat. Aber so überschwenglich ist deine Liebe, daß du zu uns kommen und in uns eingehen willst. Du kommst zu uns Kranken, damit wir durch dich genesen, zu uns Schwachen, damit wir in dir erstarken, zu uns Hungrigen, damit wir bei dir volle Genüge haben. Mach uns doch zu deinem Empfange würdig. Erwecke in uns lebendigen Glauben, feste Hoffnung, brennende Liebe. Stärke durch deine 26

Liturgiekommission 1983, vgl. Lit III, 403. Liturgiekommission 1983, vgl. Lit III, 403. 28 Dieses Gebet wird als mögliche Alternative zum Sündenbekenntnis Calvins (»Formular V«) vorgeschlagen, vgl. Lit III, 394; zur Quellenfrage vgl. ebd., 406. 27

208

Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

Gnade unsern Willen, dich nicht mehr durch unsere Sünde zu verletzen und zu beleidigen. Führe uns von unseren Entgleisungen zurück auf den Weg des Heils. Amen. 2. Gnadenzusprüche [Nr. 27: Lit I, 88]29 Allen denen, die ihre Sünden wahrhaft bereuen und die ihr Heil allein in Jesus Christus suchen, erkläre ich als Diener des göttlichen Wortes, das die Versöhnung predigt: euch sind eure Sünden vergeben. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. [Nr. 27a: Lit I, 88]30 Allen denen, die ihre Sünden bereuen und Jesus Christus suchen als ihr Heil, darf ich im Namen und Auftrag unseres Herrn bezeugen: euch sind eure Sünden vergeben. Für solche Gnade sei Dank dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste. Amen. [Nr. 28: Lit I, 88]31 Weil wir solche Verheissung haben, so vertrauen wir darauf, dass wir durch Gottes Gnade von aller Sünde erlöst, gerecht gemacht und geheiligt werden. Dafür sei Lob dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste. Amen. [Nr. 29: Lit I, 88]32 Darum glaubet getrost, dass ihr durch das Leiden und Sterben Jesu Christi Vergebung aller eurer Sünden habt. Beharrt in diesem Glauben. Ist gleich unser Glaube noch schwach, so ist der Herr in den Schwachen mächtig. Dafür sei Lob dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste. Amen.

29 30 31 32

»Straßburg (1539) 1542« et al., vgl. Lit I, 268. »Neubearbeitung [von Nr. 27] von Willy Meyer«, vgl. Lit I, 268. »Basel 1537« et al., vgl. Lit I, 268. »Basel 1666« et al., vgl. Lit I, 268.

3. Ausgeformte Formulare

209

[Nr. 30: Lit I, 89]33 Unser Herr und Heiland Jesus Christus hat seinen Jüngern zugesagt: Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, so sind sie vergeben; wenn ihr sie jemandem festhaltet, sind sie festgehalten. Darum verkündige ich in seinem Namen und Auftrag jedem, der seine Sünden bekennt und bereut und Jesus Christus vertraut: Dir sind deine Sünden vergeben – im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. [Nr. 31: Lit I, 89] So vertraut dieser frohen Botschaft, seid getrost und lebt im Frieden. Amen. [Nr. 32: Lit I, 89] Der allmächtige Gott wird sich unser erbarmen. Er hat uns seinen Sohn gesandt als das unschuldige Lamm, das für uns geopfert worden ist und unsere Sünden getragen hat. Dafür sei Lob dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen. [Nr. 33: Lit I, 89] Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er verzeihe uns unsere Sünden und führe uns zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unsern Herrn. Amen. 3. Ausgeformte Formulare mit Sündenbekenntnis und Gnadenzuspruch [Nr. 34: Lit III, 147/GH, 54 (aus: Abendmahlsformular I nach der Meßordnung)]34 Bitte um Vergebung Liturg: Gemeinde: Liturg: Gemeinde: 33 34

Wir wollen Gott die Ehre geben und ihm unsere Schuld bekennen. Erbarme dich, Herr, unser Gott, erbarme dich, denn wir haben vor dir gesündigt. Erweise, Herr, uns deine Huld und schenke uns dein Heil.

»Gottlob Spörri« et al., vgl. Lit I, 268. Vgl. die Erläuterungen in: Lit III, 380.

210 Liturg: Gemeinde:

Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er vergebe uns die Sünden und führe uns zum ewigen Leben. Amen.

[Nr. 35: Lit III, 181 (aus: Abendmahlsformular nach Ökolampad)] Sündenbekenntnis Wir wollen unsere Schuld bekennen: Allmächtiger Gott, himmlischer Vater, von unserer Kindheit an bis auf diese Stunde haben wir gesündigt, indem wir deine Gebote übertraten mit bösen Gedanken und Worten, Absichten und Taten, auch in großem Unglauben und Undank, so daß wir nicht würdig sind, unsere Augen zum Himmel aufzuheben und deine Kinder genannt zu werden. Wir bitten dich: Verzeih uns in deiner Barmherzigkeit und um der Ehre deines Namens willen unsere Sünde und nimm uns in Gnaden wieder auf. Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich. O Herr, erbarme dich und sei uns gnädig und barmherzig.35 Gnadenzuspruch Höret unsern Trost: Der barmherzige Gott hat seinen Sohn in diese Welt gesandt als Unterpfand seiner Gnade. Der ist als ein unschuldiges Lamm für uns geopfert worden, hat Gott für uns Genugtuung geleistet und unsere Sünden getragen, damit, wer an ihn glaubt, nicht verderbe, sondern Verzeihung aller Sünden erlange und das ewige Leben. In solchem Glauben und um dieser Verheißungen willen vertrauen wir darauf, daß wir von allen Sünden befreit werden. Darob sei Lob dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen. [Nr. 36: Lit III, 195 f. (aus: Abendmahlsformular VI nach dem Basler Kirchenbuch 1911)]36 Sündenbekenntnis Liebe Brüder und Schwestern, wer ist würdig, diese Speise zu empfangen? Jesus ruft die Sünder zu sich. So wagen wir es, vor dem heiligen Gott miteinander unsere Schuld zu bekennen: Vater, wir haben gesündigt in Übertretung deiner Gebote, in Gedanken, Worten und Werken, in großem Unglauben und Undank. Wir sind nicht wert, deine Kinder zu heißen. 35

Vgl. oben Nr. 6. Sündenbekenntnis: vgl. oben, Nr. 6; Zusammenstellung Gnadenzuspruch, vgl. Lit III, 395. 36

3. Ausgeformte Formulare

211

Weil aber durch unsere Untreue deine Treue nicht aufgehoben wird, so bitten wir dich: Denk an deine Güte, in der du uns erschaffen hast; sieh an das Blut deines Sohnes, durch das wir erlöst und geheiligt sind zu deinem Volk. Nimm uns an in Gnaden und verzeih uns alle unsere Sünden. Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Amen. Gnadenzuspruch Höret den Zuspruch der Gnade: So spricht der Herr: »Ich vertilge deine Missetaten wie eine Wolke und deine Sünden wie den Nebel. Kehre dich zu mir, denn ich erlöse dich« [Jes 44,22]. Unser Heiland selbst ruft uns zu: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken« [Mt 11,28]. »Ich bin gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist« [Lk 19,10]. »Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen« [Joh 6,37]. [Nr. 37: Lit III, 224 f. (aus: Abendmahlsformular XI)]37 Gebet vor dem Mahl Nun wollen wir stille werden vor Gott, denn er ist nahe, nahe allen, die ihn suchen, die ihn mit Ernst suchen. Wir rufen ihn an: Herr, du Geber aller Gaben, du Sonne dieser Welt und der Welt, die kommt: Wir suchen deinen Frieden. Nimm von uns die Hast unserer Arbeit, die Unrast unserer Gedanken, die Angst unseres Herzens, denn wir wollen frei sein für deine Liebe, offen für dein Licht, bereit für dich, der du so nahe bist. Du hast uns die Gnade verliehen, unter deinem Schutz zu stehen bis auf diesen Tag, obwohl wir es nicht verdient haben. Vor dir, Herr, ist nichts verborgen. Du kennst auch die dunklen Stunden, die wir verbergen möchten. Hilf uns der Wahrheit standhalten unter deinen Augen. Wir bekennen vor dir, daß wir Unrecht getan haben in der Trägheit unseres Herzens. Wir sind vielen viel schuldig geblieben. Wir haben unsere Zeit verbraucht, als gehörte sie uns. Wir haben unsere Kräfte für Unwichtiges vergeudet und unser Glück an uns gerissen, als hätten wir nicht zu danken. Wir bitten dich: Vergib uns unsere Schuld.

37 Das ganze »Formular XI«, von dem dieses Gebet Teil ist, wurde von Yvette Mayer, Landquart, verfasst, vgl. Lit III, 400.

212

Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

Herr, erbarm dich unser [gesungen]. Herr und Gott, unser Trost ist es, daß du uns nicht verlässest. Du schaffst Freude in den Traurigen, Klarheit in den Verirrten, Leben in uns Schwachen. Denn du hast uns deinen Sohn gesandt, der unsere Schuld auf sich genommen und getilgt hat. Dank sei dir, Herr, daß wir um seinetwillen frei sein dürfen, frei von der Knechtschaft der Sünde, frei von der Last der Schuld. Dank sei dir, daß du uns würdigst, als deine Kinder an deinen Tisch zu kommen, um teilzunehmen am Mahl der Freude, das du uns bereit hältst. Amen. [Nr. 38: Lit III, 232 f./GH, 43 f. (aus: Formular XIII – Abendmahl im Familiengottesdienst I)]38 Kyrie Liturg:

Gemeinde: Liturg:

Gemeinde: Liturg:

Gemeinde:

Wir leben in einer Welt, wo Menschen einander wehtun. Auch wir haben Mühe mit den anderen, und die anderen mit uns. Herr, führe uns zueinander. Herr, erbarme dich. Herr, erbarme dich. Wir leben in einer Welt, wo Menschen am Hunger sterben und andere im Überfluß leben. Herr, du willst, daß alle leben können. Christus, erbarme dich. Christus, erbarme dich. Wir leben in einer Welt, wo das Geheimnis zugedeckt wird durch Lärm und Zerstreuung. Herr, öffne uns immer wieder für dich. Herr, erbarme dieh. Herr, erbarme dich.

Gloria Liturg:

38

Gott lädt uns ein zu einem Leben mit ihm. Miteinander dürfen wir uns freuen und das Fest mit ihm feiern. Ehre sei Gott in der Höhe.

»Nach einer Vorlage aus ›Motivmessen für Kinder‹, Essen 1972«, vgl. Lit III, 401.

3. Ausgeformte Formulare

213

[Nr. 39: Lit III, 333–337/GH, 33 f. (Formular für eine Bußfeier zur Vorbereitung auf das Abendmahl)]39 Fragen zur Gewissensforschung […] Schuldbekenntnis und Gnadenzuspruch Liturg:

Gemeinde: Liturg: Gemeinde:

Liturg: Gemeinde: Liturg: Gemeinde: Liturg:

Gemeinde: Liturg:

Liebe Brüder und Schwestern, vor Gott und voreinander bekennen wir unsere Schuld: Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und euch, meinen Brüdern und Schwestern, daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken. Es ist meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld. In der Gemeinschaft aller Heiligen im Himmel und auf Erden bitte ich euch: Betet für mich zu Gott, unserem Herrn. Der barmherzige Gott erbarme sich deiner und gebe dir Frieden. Amen. Wir bekennen Gott, dem Allmächtigen, und dir, Bruder (Schwester), daß wir gesündigt haben in Gedanken, Worten und Werken. Es ist unsere Schuld, unsere Schuld, unsere große Schuld. In der Gemeinschaft aller Heiligen im Himmel und auf Erden bitten wir dich: Bete für uns zu Gott, unserem Herrn. Der barmherzige Gott erbarme sich euer und gebe euch Frieden. Amen. Herr Gott, du weißt alles. Du weißt auch, wie sehr wir darnach verlangen, dir und den Menschen besser zu dienen. Schau auf uns und erhöre unsere Bitten. Wir bitten dich, erhöre uns. Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe. Er nehme unser Sündenbekenntnis gütig an und schenke uns seine Barmherzigkeit. Wir beten, wie sein Sohn uns gelehrt hat: Unser Vater im Himmel ... Als beauftragter Diener Christi, der mit euch allen aus der Vergebung lebt, entbiete ich euch den Zuspruch der Gnade:

39 Aus und nach einem Formular für »Fastenopfer«, Bistum Basel, 1970er Jahre, vgl. Lit III, 409.

214

Gemeinde:

Anhang A: Deutschschweizerische Liturgie

Gott, unser Vater, hat uns zuerst geliebt und seinen Sohn in die Welt gesandt, damit sie durch ihn gerettet werde. Er sei euch barmherzig und schenke euch Frieden. Jesus Christus, unser Herr, ist für unsere Sünden dem Tod überliefert worden und zu unserer Rechtfertigung auferstanden; er hat seinen Aposteln den Frieden hinterlassen und ihnen Vollmacht gegeben, seine Versöhnung weiterzutragen: »Welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen.« Er gewähre es jetzt in dieser Stunde in der Gemeinschaft seiner Kirche. Der Heilige Geist ist uns geschenkt als Siegel der Vergebung; in ihm haben wir Zugang zum Vater. Er reinige und erleuchte eure Herzen, damit ihr die Machttaten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat. So spreche ich euch die Vergebung eurer Sünden zu im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

(Dank – Loblied) [Nr. 40: LitTA, 39 f. (aus: Abendmahl I – Ein Mahl der Stärkung und des Neubeginns)]40 Schuldbekenntnis Nahrung suchen wir in Arbeit, Familie und unseren Beziehungen – und bleiben doch hungrig. Stille oder Kyrie (RG 193–200) Sättigung suchen wir, Fülle, die bleibt – und bleiben doch leer. Stille oder Kyrie In der Stille sagen wir Gott, 40 Liturgiekommission 2011, »nach einer Vorlage unbekannter Autorschaft«, vgl. LitTA, 190.

3. Ausgeformte Formulare

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was uns beschäftigt, was uns belastet, was uns beschämt: Stille – evtl. Kyrie Zuspruch Du, Gott, legst uns nicht fest auf Mangel und Versagen, sondern sprichst: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben (nach Jer 29,11) RG 849: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben (Kanon)

Anhang B: Eingangsgebete mit Sündenbekenntnis aus der »Reformierten Liturgie«1

1. Texte zum allgemeinen Gebrauch [Nr. 1: RL, 55 f.; 105]2 Gott des Himmels und der Erde! Wir danken dir, dass du mitten in der Zeit der Welt diesen Tag für uns gemacht hast. Wir danken dir, dass du uns an ihm erinnerst, wie freundlich du uns rufst und wie du uns an der Ruhe teilgibst, die Leib und Seele erfrischt. Dein Wort hat die Welt geschaffen. Mit deinem Wort erhältst du uns. Von deinem Wort leben wir. Vor dir breiten wir aus, wodurch wir dich vergessen, was uns erschreckt, wo wir meinen, uns sei Unrecht geschehen und wo wir Unrecht an anderen getan haben. Lass uns Abstand gewinnen von dem, was hinter uns liegt, und neues Vertrauen zu dir fassen. Überströme uns mit deinem heiligen, heilmachenden Geist. Amen.

1 Berücksichtigt wurden nur jene Gebete, in denen Sünde und Vergebung explizit thematisiert werden. Die Wiedergabe der Texte erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Reformierten Bundes, Hannover. 2 »Achim Reinstädtler, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 627.

1. Texte zum allgemeinen Gebrauch

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[Nr. 2: RL, 61 f.]3 Gnädiger, geduldiger Gott, offen von unserer Sünde zu reden gelingt uns selten. Schuld einzugestehen fällt uns schwer, und die Bitte um Vergebung will kaum über die Lippen. Lieber reden wir uns heraus, sagen: So schlimm war es doch gar nicht, oder: Andere sind noch schlechter als ich. Du hast es schwer mit uns, Gott. Wir machen dir sehr viel Mühe. Du hast mit dem Leben deines Sohnes bezahlt, um uns zu gewinnen. Lass uns im Licht deiner Güte anfangen, ehrlich mit uns selber zu sein. Und wenn wir vor den Abgründen in uns erschrecken, dann lass dein Gnadenwort stärker sein als die anklagende Stimme unseres Gewissens. Gott, hilf uns, deiner Vergebung zu trauen und einen neuen Anfang zu machen. Amen. [Nr. 3: RL, 68; 103]4 Herr, unser Gott! Du weißt, wer wir sind. Menschen mit gutem und Menschen mit schlechtem Gewissen – zufriedene und unzufriedene, sichere und unsichere Leute – Christen aus Überzeugung und Gewohnheitschristen – Gläubige, Halbgläubige und Ungläubige. Und du weißt, wo wir herkommen: Aus dem Kreis von Verwandten, Bekannten und Freunden oder aus großer Einsamkeit – aus ruhigem Wohlstand oder aus allerhand Verlegenheit und Bedrängnis – aus geordneten oder aus gespannten oder zerstörten Familienverhältnissen – aus dem engen Kreis oder vom Rande der christlichen Gemeinde.

3 4

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL 627. »Nach: Karl Barth, Gebete, München 41964, 13 f.«, vgl. RL 627.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

Nun aber stehen wir alle vor dir: In aller Ungleichheit darin gleich, dass wir alle vor dir und auch untereinander im Unrecht sind – dass wir alle sterben müssen – dass wir alle ohne deine Gnade verloren wären – aber auch darin gleich, dass deine Gnade uns allen verheißen und zugewendet ist in deinem lieben Sohn, unserem Herrn Jesus Christus. Wir sind hier beieinander, um dich damit zu preisen, dass wir dich zu uns reden lassen. Dass dies geschehe in dieser Stunde, darum bitten wir dich im Namen deines Sohnes, unseres Herrn: Herr, erbarme dich! [Nr. 4: RL, 103 f.]5 Allmächtiger Gott, lieber himmlischer Vater, wir preisen deine große Güte und rühmen alle deine Wunder. Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Wir sind viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du uns erweist. Sei uns gnädig und vergib uns unsere Sünde und Schuld um deines lieben Sohnes Jesus Christus willen. Dein Wort führt uns zusammen. Lass es unter uns so verkündigt werden, dass wir es mit Freuden hören. Schenke uns deinen Heiligen Geist, damit wir dir allein von ganzem Herzen vertrauen und deiner Stimme folgen. Das gewähre uns durch Jesus Christus, unsern Herrn. Amen.

5 »Nach: Kirchenbuch. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, hg. von Karl Halaski et al., Neukirchen-Vluyn 41990, 33«, vgl. RL, 627.

1. Texte zum allgemeinen Gebrauch

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[Nr. 5: RL, 104]6 Lasst uns vor Gott unsere Sünde bekennen, denn er ist gütig, und seine Barmherzigkeit ist ewig. Ich bekenne vor dir, mein Gott: Ich vergesse dich oft. Oft glaube ich nicht, dass du mich siehst. Ich höre nicht, wenn du mich rufst. Vor deinem Urteil kann ich nicht bestehen. Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig. Ich bekenne vor dir, mein Gott: Ich bin nicht so, wie du mich haben willst. Ich täusche andere. Ich denke schlecht von anderen und rede über sie. Ich übersehe ihre Not und drücke mich, wo ich helfen sollte. Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig. Ich bitte dich, mein Gott: Lass mein Leben nicht verderben, bringe es zurecht. Richte mich auf, wenn ich den Mut verliere. Rette mich, wenn ich verzweifle. Hilf mir, deiner Gnade zu vertrauen. Amen. [Nr. 6: RL, 104 f.]7 Gott, es gibt so viel ungestillte Sehnsucht, Sehnsucht nach Beachtung, nach Anerkennung, nach Liebe, Sehnsucht nach dir. Es gibt so viele unbeantwortete Fragen, Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach dem Sinn unbegreiflichen Sterbens, Fragen nach unserer Zukunft, Fragen nach dir. Es gibt so viel Schuld, Schuld, die wir wissen, Schuld, die wir verdrängen, 6 »Nach: Agende I. Die Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen, hg. vom Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 1996, 668«, vgl. RL, 628. 7 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

Schuld, die uns verzweifeln lässt, weil sie uns trennt von anderen Menschen und von dir. Gott, wir bitten dich, sieh uns an, sieh hinter die Masken, die wir tragen, und trenne dich nicht von uns. Amen. [Nr. 7: RL, 106]8 Du unser Gott, wir kommen zu dir, um neu zu empfangen, was du für uns getan hast und noch immer tust. Wir kommen zu dir, um neu zu hören, wie du uns zum Leben führst, hin zu deinem Tag, an dem alle Dunkelheit vergangen ist. Wir danken dir, dass wir bis jetzt von deiner Treue leben durften. Deine Liebe hat uns nicht aufgegeben. Du hast uns geführt und begleitet trotz unserer Trägheit, unserer Angst und unserem Misstrauen. Aus aller Müdigkeit hast du uns aufgerichtet und zu neuen Schritten befreit. Wir bitten dich: Nimm uns heute morgen so an, wie wir sind: Menschen, die es dir nicht leicht machen und die sich oft selbst im Wege stehen. Hilf uns durch deinen Geist, zu dir zu finden. Amen. [Nr. 8: RL, 107]9 Gott, unser gütiger Schöpfer! Aus deiner Hand nehmen wir diesen Tag. Du hast ihn für uns gemacht. Auch wir selbst sind von deiner Hand gemacht, die ganze Welt ist das Werk deiner Hände. Du bringst zurecht, was aus dem Lot geraten ist, heilst, was zerbrochen ist. 8 9

»Achim Reinstädtler, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628. »Achim Reinstädtler, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

1. Texte zum allgemeinen Gebrauch

Darum stehen auch wir heute morgen vor dir. Mit Worten und Gedanken sagen wir dir Dank für alles, was uns gestützt hat, was unseren Rücken gestärkt und unsere Augen wieder aufgerichtet hat. Doch unsere Worte reichen nicht aus, um mit uns selbst und vor dir ins Reine zu kommen. Zu viel ist ungeordnet, zu vieles ist uns selbst verborgen oder wir haben es vergessen. Wie sollten wir alles noch beim Namen nennen können, was uns als Schatten nur blieb? Du siehst das alles, du kennst es. Wir machen dir Mühe mit unserer Untreue und uns selbst auch. Viele Stimmen in uns reden auf uns ein und stellen deine Verheißung in Frage. Heute, an dem Tag, den du gemacht hast, wollen wir all das nicht verschweigen. Heute wollen wir dir auch mit unserer Schwäche und mit unseren Zweifeln die Ehre geben. Richte du nun unsere Herzen auf, dass dein Wort in uns lebendig wird. Gott, gib uns deinen Geist. Amen. [Nr. 9: RL, 108 f.]10 Barmherziger Gott, dein Wort tut uns gut, doch wir vergessen zu schnell. Du sagst uns, dass du uns liebst, aber wir denken viel mehr an die, die uns nicht mögen. Du machst uns Mut, nicht zu verzweifeln an dem, was wir falsch machen. Aber wir verbohren uns oft in unsere Fehler und glauben denen mehr, die sagen, wir seien nichts wert. Du hast jeden von uns gewollt. Aber wir fürchten manchmal, dass unser Leben gar keinen Sinn habe, 10

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

221

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

weil wir nicht merken, dass wir irgend jemandem wichtig sind. Guter Gott, höre nicht auf, mit uns zu reden. Richte uns auf mit deinem guten Wort aus unseren selbstquälerischen Gedanken, aus unserer Traurigkeit und aus unserer Schuld. Amen. [Nr. 10: RL, 109]11 Wir bekennen dir, Herr, wer wir sind: Wir sind nicht die Menschen, für die wir gerne gehalten werden möchten. Noch nicht einmal uns selbst mögen wir eingestehen, was in der Tiefe unseres Herzens vor sich geht. Aber vor dir können wir uns nicht verbergen. Du weißt, wer wir sind, und du sagst, dass du uns liebst. Wir danken dir, dass wir uns darum auf neue Weise selber achten können. Lass uns deinem Wort vertrauen. Hole uns heraus aus unseren Selbstzweifeln in die Freiheit der Menschen, die deine Vergebung trägt. Führe uns in die Gewissheit des Glaubens durch Jesus Christus, unseren Herrn. Amen. [Nr. 11: RL, 109]12 Gott, du lebendige Kraft, bei dir finden wir Hilfe. Du hältst uns fest, damit wir nicht ins Bodenlose fallen. Du wachst darüber, dass unsere Hoffnung nicht verdorrt. Doch wie oft vergessen wir dich: meinen, wir müssten uns immer nur selber helfen, oder lassen uns Auswege einreden, die weiter in die Irre führen. Das geschieht, weil wir Angst haben. Es fällt uns schwer, den neuen Wegen zu trauen, 11

»Nach: Von allen Seiten umgibst du mich, Herr. Gebete aus der Ökumene, hg. vom Evangelischen Missionswerk, Hamburg 1987, 23«, vgl. RL, 628. 12 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

2. Texte zum Kirchenjahr

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auf die du uns rufst. Darum bitten wir dich: Stärke unser Vertrauen zu dir und hilf uns, deinem guten Wort zu folgen. Herr, erbarme dich über uns. Amen. 2. Texte zum Kirchenjahr 2.1 Advent [Nr. 12: RL, 117]13 Herr Jesus Christus, jetzt beginnt die Zeit, in der wir an dein Kommen denken. Du schenkst uns deine ganze Liebe, aber wir bleiben auf uns selbst bezogen. Wir hören das Wort und singen das Lob, aber in unseren Herzen ist wenig adventliche Freude. Du wendest dich uns zu, aber wir vergessen die vielen, deren Leben dunkel ist. Vergib uns unsere Schuld. Bewege uns hin zu dir. Gib uns deinen Geist, damit wir dein erlösendes Wort hören, es aufnehmen und im Herzen bewegen, wie Maria es tat. Amen. [Nr. 13: RL, 118]14 Gott, du Heil aller Menschen, wie gerne möchten wir uns fallen lassen in den Trost der Weihnachtsbotschaft, in die Freude an deiner Geburt. Wie gern möchten wir glauben, dass du längst den gesandt hast, der den Elenden Recht spricht, der den Armen hilft gegen ihre Bedränger, der der Welt großen Frieden bringt. Aber immer wieder schreit uns die Erde ihr Leid entgegen. Immer wieder nisten sich Zweifel in uns ein 13

»Text aus dem Kreis der Herausgeber bzw. dem Liturgieausschuss des Reformierten Bundes«, vgl. RL, 628. 14 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

angesichts der Menge ungesühnter Verbrechen. Gott, sieh unsere Sehnsucht, heile unsere Zerrissenheit und lass Gerechtigkeit und Frieden wachsen in unserer Welt. Herr, erbarme dich unser. Amen. 2.2 Weihnachten [Nr. 14: RL, 118 f.]15 Allmächtiger Gott, Schöpfer der Welt. Unfassbar bist du in deiner Größe und begegnest uns in der Gestalt eines Kindes. Erhaben bist du über alles und machst dich angreifbar und verletzlich. Wir können das nicht zusammendenken, was bei dir, Gott, zusammengehört. Oft wähnen wir dich nur in unendlicher Ferne, selbstgenügsam und unberührt von unserem Leben; dann aber missbrauchen wir auch deine Nähe, wollen dich einspannen für unsere Ziele und machen mit dir, was wir wollen, ohne Ehrfurcht, ohne Respekt. Hole uns zurück, Gott, von unseren Irrwegen. Lass uns dein wahres Wesen erkennen, dich lieben und ehren, so wie du bist: als menschlichen Gott, offenbar und geheimnisvoll, mächtig und zart. Amen. [Nr. 15: RL, 119 f. (»im Anschluss an Jesaja 11«)]16 Ach Gott, wie viele Menschen sehnen sich danach, dass das wahr wird: eine Welt, die von Gerechtigkeit und Frieden regiert wird, in der die Klage der Armen und Unglücklichen Gehör findet und alle lernen, aufeinander zu achten.

15 »Nach: Sylvia Bukowski, in: Neue Eingangs- und Fürbittengebete für die Sonnund Feiertage des Kirchenjahres, hg. von Wolfgang Brinkel und Heike Hilgendiek, Gütersloh 1994, 20«, vgl. RL, 628. 16 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

2. Texte zum Kirchenjahr

225

Mit deinem Sohn, o Gott, hat diese Sehnsucht Gestalt angenommen, ist dein gutes Wort Mensch geworden. Wir vergessen das manchmal, wir zweifeln daran oder möchten noch viel mehr davon sehen. Vergib uns unseren Kleinglauben, reiß uns aus unserer Verzweiflung und stärke unser Vertrauen auf dich, Gott. Amen. 2.3 Jahreswechsel [Nr. 16: RL, 120 f.]17 Barmherziger, ewiger Gott. Wir blicken zurück auf das vergangene Jahr. Wir sind dir dankbar für alles Glück, für alles Gelingen, für alle Zeiten von Zufriedenheit. Aber wir wissen, wir haben auch Chancen vertan, Möglichkeiten, etwas zu bewirken, nicht genutzt. Wir sind vieles schuldig geblieben. Dafür bitten wir dich um Vergebung. Und wenn wir an die Verluste und die Abschiede denken, die das Jahr uns gebracht hat, dann suchen wir Zuflucht bei dir mit unserer sprachlosen Traurigkeit. Gott, wir blicken zurück auf Zeit, die du uns geschenkt hast, auf Erfahrungen, die unser Leben geprägt haben, auf Spuren deines Geleits. Wir bitten dich, bleibe bei uns und halte deine Hand auch über das Jahr, dem wir entgegengehen. Amen.

17 »Text aus dem Kreis der Herausgeber bzw. dem Liturgieausschuss des Reformierten Bundes«, vgl. RL, 628.

226

Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

[Nr. 17: RL, 121 f.]18 Gott, du Herr aller Zeit! Wir rufen zu dir, weil du treu bist. Wir suchen dein Angesicht, weil bei dir die Quelle des Lebens fließt. Wir fragen nach deinem Wort, weil du das Licht aus der Finsternis riefst und einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben hast. Wir danken dir, dass wir immer und immer wieder vor dich kommen können. Wir danken dir, dass wir darauf vertrauen dürfen: das Band, mit dem du unser Leben zusammenhältst, wird nicht zerreißen. Bei dir ist Leben und Auferstehen, und mit deinem Geist ziehst du unsere Tage und Jahre zu dir. Wir bitten dich: erbarme dich über all das Halbe und Abgebrochene, Unehrliche und Zerstörerische an unserem Leben. Mache bei uns wieder heil und ganz, was deinem Willen entspricht. Erwecke uns jetzt, dass wir deine Stimme hören mit unseren Ohren und auch mit unseren Herzen. Amen. [Nr. 18: RL, 122]19 Gütiger Gott, Wir wollen dies neue Jahr aus deiner Hand nehmen und in deinem Namen beginnen. Hilf uns, nicht alten Träumen nachzuhängen und uns nicht von der Last vergangener Zeit quälen zu lassen. Vergib uns um deines Sohnes Jesus Christus willen alle Sünden, mit denen wir dich im vergangenen Jahr betrübt haben. 18 »Text aus dem Kreis der Herausgeber bzw. dem Liturgieausschuss des Reformierten Bundes«, vgl. RL, 628. 19 »Nach: Kirchenbuch. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, hg. von Karl Halaski et al., Neukirchen-Vluyn 41990, 92 f.«, vgl. RL, 628.

2. Texte zum Kirchenjahr

227

Lass uns allem Neuen in diesem Jahr zuversichtlich entgegengehen. Dazu stärke uns täglich durch dein Wort und deinen Heiligen Geist. Amen. 2.4 Epiphanias [Nr. 19: RL, 123]20 Gott, im Licht deiner Herrlichkeit tritt auch das Dunkel hervor. Lass uns die dunklen Seiten in unserem Leben und in unserer Welt vor dir aussprechen und benennen, damit sie sich wandeln können in deinem Licht: unsere Ungeduld und Rechthaberei, die Unfähigkeit, zur eigenen Schuld zu stehen und sie vor anderen zuzugeben, die Angst vor dem Urteil anderer, die uns hindert, nach unserem Gewissen zu handeln, den Mangel an Mut, an Liebe, an Willen zum Frieden. Wir bitten dich: Lass das Dunkle nicht überhand nehmen. Befreie uns von der Last unserer Schuld. Gib, dass die Menschen uns verzeihen, denen wir wehgetan haben. Und vergib du uns um Jesu Christi willen. Amen. 2.5 Passion [Nr. 20: RL, 123 f.]21 Barmherziger Gott, wir erinnern uns an das Leiden und Sterben deines Sohnes. Es fällt uns schwer zu begreifen, dass unsere Sünde ihn so weit gebracht hat. Wir denken nicht gern daran, dass unsere Selbstbehauptung sich tödlich auswirkt. Wir nehmen nicht ernst genug, dass unsere Verschlossenheit dir gegenüber 20 »Marie Luise Kling de Lazzer, in: Neue Eingangs- und Fürbittengebete für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, hg. von Wolfgang Brinkel und Heike Hilgendiek, Gütersloh 1994, 30«, vgl. RL, 628. 21 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

228

Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

mörderische Folgen hat. Hilf uns durch das Kreuz deines Sohnes, unsere Abgründigkeit zu erkennen. Zeig uns aber auch, wie viel weiter deine Barmherzigkeit reicht; richte uns auf durch deine Güte. Amen. 2.6 Karfreitag [Nr. 21: RL, 125]22 Bekennt dem Herrn eure Sünde, denn er ist gütig, und seine Barmherzigkeit ist ewig: Allmächtiger Gott, himmlischer Vater, wir bekennen vor dir, dass unsere Erkenntnis nicht ausreicht, um die Tiefe deiner Liebe zu erfassen, die du uns im Leiden und Sterben deines Sohnes entgegenbringst. Sei uns gnädig und erbarme dich über uns. Lass den Kreuzestod unseres Herrn Jesus Christus uns nicht zum Ärgernis oder zur Torheit werden. Gib dem Wort vom Kreuz Macht über unser Leben, damit wir nicht auf uns selbst vertrauen, sondern auf den, der für uns gestorben ist. Amen. [Nr. 22: RL, 125]23 Gott, Jahr für Jahr tritt uns am Karfreitag das Leiden deines Sohnes vor Augen. Jahr für Jahr hören wir: um unserer Sünden willen dahingegeben. Aber als hätten wir nichts begriffen gehen wir zur gewohnten Tagesordnung über: denken, reden und handeln genauso verkehrt wie zuvor. Manchmal scheint es, als sei dein Sohn vergeblich gestorben, weil wir uns auch im Angesicht seines Kreuzes so wenig ändern. Gott, durchbrich unsere Verschlossenheit! Öffne uns für deinen Schmerz und unsere Schuld. 22

»Nach: Kirchenbuch. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, hg. von Karl Halaski et al., Neukirchen-Vluyn 41990, 96«, vgl. RL, 628. 23 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

2. Texte zum Kirchenjahr

Lass uns zu einem neuen Anfang finden mit dir und miteinander. Amen. [Nr. 23: RL, 125]24 Allmächtiger, ewiger Gott, du hast deinen Sohn zu unserem Passalamm gemacht. Aber wir nehmen unsere Befreiung durch seinen Tod nicht genügend wahr; wir verharren im Bann böser Gedanken, verletzender Worte, gemeiner Taten. Führe uns heraus aus unserer Bosheit und unserer Sünde um Christi willen und erneuere uns durch deinen heiligen Geist. Amen. 2.7 Ostern [Nr. 24: RL, 127]25 Gott, du Quelle des Lebens! Dies ist der Tag, den du gemacht hast, der Tag, an dem dein Sohn Jesus Christus nicht mehr bei den Toten zu finden war, weil du ihn auferweckt hast. Dies ist dein Tag, an dem das Licht der Schöpfung über die Finsternis der Nacht gesiegt hat. Dies ist dein Tag, an dem der Tod im leeren Grab vor Jerusalems Toren zurückblieb. Lass diesen Tag nun auch zu unserem Tag werden, denn wir leben noch im Schatten und wir vermögen nicht zu unterscheiden: Ist es der Schatten deiner Hand oder ist es der Schatten des Todes, der uns so oft umgibt. Wir stehen wie geblendet und manchmal auch blind vor dem Licht von Ostern. Manchmal scheint uns das, was du tust, zu groß, zu unglaublich für uns. Unsere kleinen Schritte können nicht nachfolgen, wo du uns vorangehst. 24 25

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628. »Achim Reinstädtler, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

229

230

Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

Unser Verstand kann dem nicht nachdenken, was du uns zeigst. Darum warten wir auf dein Wort, damit das helle Osterlicht unsere Grenzen durchbricht und wir erkennen, dass der Kerker des Todes aufgeschlossen und das Tor zum Leben weit offen ist. Amen. [Nr. 25: RL, 127 f.]26 Gnädiger Gott, du sprengst die Ketten des Todes und zerbrichst den Riegel, der uns das Leben versperrt. Du sendest deinen Sohn; er geht seinen Weg mitten durch unsere Welt, und wir können ihm folgen – nicht nur in diesem Leben, sondern durch den Tod hindurch in ein Leben, das unvergänglich ist – in das Licht. Es wäre so einfach, deinem Weg zu folgen und sich auf dich zu verlassen. Aber wir schaffen es nicht, die Stimmen der Furcht und der Traurigkeit in uns zum Verstummen zu bringen. Sie reden zu uns, wir hören ihnen zu, manchmal Tag und Nacht. Und oft scheinen sie uns zuverlässiger zu sein, als die Stimme deines Wortes und als dein Licht. Darum bitten wir um deinen Geist, der uns auf die Beine stellt, der unsere Ohren und Augen, unseren Verstand und unser Herz öffnet für deine Ostertat und für dein Kommen. Gott, wende dich jetzt zu uns und sei bei uns! Amen.

26

»Achim Reinstädtler, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

2. Texte zum Kirchenjahr

231

2.8 Pfingsten [Nr. 26: RL, 129 f.]27 L28

G29 L

G L

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Heiliger, lebendig machender Geist! Du warst vor allem Anfang und schwebtest über den Wassern. Du hast zu uns geredet durch die Propheten und zuletzt durch den Sohn. Du bist es, der uns hier versammelt. Wir bitten dich: Komm, Geist der Erneuerung und des Lebens! Sieh dir unsere Kirchen und unsere Gemeinden an! Sie tragen alle Zeichen unserer Schwächen, unseres Ungehorsams und unseres Versagens. Darum bitten wir dich: Komm, Geist der Erneuerung und des Lebens! Sieh dir die Welt an, in der wir leben! Man merkt ihr oft nicht mehr an, dass sie die Welt ist, die du gewollt hast. Krieg und Ungerechtigkeit, Hass und Gewalt bestimmen ihren Lauf. Darum bitten wir dich: Komm, Geist der Erneuerung und des Lebens! Sieh dir das Leben an, das wir jeden Tag führen! Man erkennt oft nicht, dass es ein Leben ist, das sich dir verdankt. Darum bitten wir dich: Komm, Geist der Erneuerung und des Lebens! Amen.

2.9 Trinitatis [Nr. 27: RL, 131]30 Dreieiniger Gott! Du wohnst in deiner Herrlichkeit und bist doch allen nahe, die mutlos und zerschlagen sind. In deiner Liebe hast du uns gesucht, 27

»Nach: Dietrich Mendt, in: Neue Eingangs- und Fürbittengebete für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, hg. von Wolfgang Brinkel und Heike Hilgendiek, Gütersloh 1994, 84«, vgl. RL, 628. 28 Liturgin/Liturg. 29 Gemeinde. 30 »Text aus dem Kreis der Herausgeber bzw. dem Liturgieausschuss des Reformierten Bundes«, vgl. RL, 628.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

hast dich mit deinem Namen bekannt gemacht als der Gott, der für uns eintritt. Uns und alle Welt hast du ins Dasein gerufen und umgibst uns Tag für Tag mit deiner Treue. In Jesus Christus, deinem ewigen Sohn, bist du sichtbar unter uns getreten und Mensch geworden. Er hat unser Leben geteilt, hat unser Leid, unsere Schuld, unseren Tod auf sich genommen und durch seinen Tod am Kreuz und durch seine Auferstehung überwunden. Unbegreiflich nahe kommst du uns in deinem Heiligen Geist, um in uns zu wohnen, uns zu trösten und zu stärken. So bist du der Dreieinige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Wir aber sündigen gegen dich, weil wir unser Leben nicht aus deiner Hand nehmen und dir den Dank schuldig bleiben. Wir gehen nicht den Weg Jesu Christi. Wir verschließen uns vor dem Reden deines Geistes und hören nicht auf dein Wort. Wir bitten dich: Vergib uns unsere Schuld. Komm in unsere Mitte in der Kraft deines Heiligen Geistes. Wir sind hier in deinem Namen versammelt. Gewähre uns deine Gegenwart und verbinde uns mit dir und deiner ganzen Kirche. Amen. 2.10 Israelsonntag (10. Sonntag nach Trinitatis) [Nr. 28: RL, 133]31 Einziger Gott, du hältst deinem Volk Israel bis heute die Treue. Bis heute stehst du zu deinen Verheißungen. Bis heute ist dir Israel kostbar wie dein Augapfel. So wird es bleiben. Wir haben das lange übersehen. Wir haben lange gelernt, wir seien an Israels Stelle getreten und deine Liebe gelte nur noch uns. 31

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

2. Texte zum Kirchenjahr

Gott, vergib uns unsere Blindheit und unsere Selbstgerechtigkeit. Segne die Anfänge neuen Verstehens. Lass uns Verbindendes entdecken und Israels Eigenständigkeit achten. Lehre uns Geschwisterlichkeit, die aus deiner Treue lebt. Amen. 2.11 Erntedankfest [Nr. 29: RL, 134]32 Du lebensspendender Gott! Aus deiner Hand nehmen wir diesen Tag. Du hast ihn für uns gemacht. Auch wir sind von deiner Hand gemacht, und alle Welt ist das Werk deiner Hände. Aus deiner Hand nehmen wir, was dein Reichtum uns gibt. Deine Gabe ist die Fülle des Lebens. Alles, was im Schatten ruht, was im Licht atmet, dankt dir vom Anbeginn der Welt an bis zu dem Ende, das du gesetzt hast. Du heilst, was zerbrochen ist, du richtest, was aus dem Lot geraten ist. Darum stehen auch wir heute morgen vor dir. Mit Worten und Gedanken sagen wir dir Dank für alles, was uns gestützt hat, was unseren Rücken gestärkt und unseren Blick wieder erhoben hat. Doch unsere Worte reichen nicht aus, um mit uns selbst und vor dir ins Reine zu kommen. Zu viel ist ungeordnet, zu vieles ist uns entgangen oder wir haben es wieder vergessen. Wie sollten wir auch alles beim Namen nennen können, was uns wie ein Schatten umgibt? Du siehst das alles. Du kennst es. Ja, wir machen dir Mühe. Viele Stimmen erheben sich in uns gegen deine Verheißung. Heute, an dem Tag, den du gemacht hast, 32

»Achim Reinstädtler, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

wollen wir dir auch mit unserer Schwäche die Ehre geben. Richte nun unsere Herzen auf, damit dein Wort in uns lebendig wird. Gott, gib uns deinen Geist. Amen. 2.12 Reformationssonntag [Nr. 30: RL, 135 f.]33 Barmherziger, getreuer Gott, wir sagen dir Lob und Dank für deine Wohltaten, die du uns allezeit erweist. Wir danken dir für deine Treue zu Israel und für das Evangelium, in dem du dich uns zu erkennen gibst. Wir bitten dich: Erhalte deine Kirche bei deinem Wort und verbinde sie in Liebe mit deinem Volk. Vergib uns alle unsere Sünde um deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus willen. Erwecke uns zu neuem Gehorsam, erneuere uns durch deinen Heiligen Geist, dass unser Zeugnis und Dienst zu deiner Ehre und zum Segen für alle Menschen geschehe. Amen. [Nr. 31: RL, 136]34 Geist Gottes, leiser, zärtlicher Atem und starker kräftiger Sturmwind, komm und belebe uns neu. Geist Gottes, fege hinein in unser Leben und unsere Kirche, fege hinweg, was darin falsch und verlogen ist. Geist Gottes, kehre in uns ein, damit wir einsehen, wo wir umkehren und neu anfangen müssen. Geist Gottes, leuchte uns, damit wir klar sehen, wo unser Licht und unser Dunkel ist. 33 »Nach: Kirchenbuch. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, hg. von Karl Halaski et al., Neukirchen-Vluyn 41990, 32 f.«, vgl. RL, 628. 34 »Nach: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, München/Weimar, ohne Jahr, 1517«, vgl. RL, 628.

2. Texte zum Kirchenjahr

Geist Gottes, entzünde uns neu, damit das Feuer in uns wieder brennen kann und der Funke überspringt, auf den es ankommt. Geist Gottes, berate uns gut, damit wir erkennen, was zu tun und zu lassen ist. Geist Gottes, treib uns an, damit wir neuen Antrieb in uns haben. Geist Gottes, beflügele uns, damit wir es wagen zu träumen und uns trauen zu kämpfen. Amen. 2.13 Volkstrauertag [Nr. 32: RL, 136 f.]35 Ewiger, barmherziger Gott. Der heutige Tag erinnert uns an das Unheil, das unser Volk mit Krieg und Gewalt über andere Völker und auch über sich selbst gebracht hat. Wir denken an die Menschen, die unter uns gelitten haben: an die vielen Todesopfer, aber auch an die Überlebenden, die in ihren Träumen noch immer heimgesucht werden von dem Grauen. Mach uns empfindsam für ihren Schmerz, in dem sie oft sehr einsam sind, und für ihre ohnmächtige Trauer und Wut. Lass nicht zu, dass die begangenen Verbrechen geleugnet, verharmlost und vergessen werden, sondern hilf uns, die Erinnerung auszuhalten und zu tatkräftiger Umkehr zu finden, um unserer selbst und um der Opfer willen. Herr, erbarme dich! Amen. 2.14 Buß- und Bettag [Nr. 33: RL, 137 (»im Anschluss an Psalm 51«)]36 Lieber Vater im Himmel, manchmal können wir das nicht, so offen unsere Schuld eingestehen und um Vergebung bitten. 35 36

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628. »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

Manchmal versuchen wir, uns aus allem herauszureden, manchmal verdrehen wir lieber Unrecht in Recht, als zuzugeben, dass wir etwas falsch gemacht haben. So rechthaberisch und unbußfertig sind wir! Deshalb bleibt die alte Schuld an uns haften, und wir erleben nicht die befreiende Kraft der Vergebung. Herr, bring uns zur Einsicht, schärfe unser Gewissen und gib uns Mut, unser Versagen einzugestehen und um Verzeihung zu bitten. Herr, erbarme dich über uns. Amen. 2.15 Ewigkeitssonntag / Totensonntag [Nr. 34: RL, 138]37 Gott, du versprichst uns neue Zukunft, Zukunft, in der alle lachen können, die heute noch niedergeschlagen sind, Zukunft, in der alle aufatmen können, die heute noch gefangen sind in Elend und Angst. Du versprichst uns Todgeweihten einen neuen Anfang und neues Leben. Ach, wenn wir das nur glauben könnten, wenn wir es wagten, alles auf diese Hoffnung zu setzen. Wie anders sähe dann unsere Gegenwart aus! Die Schleier der Trauer würden schon heute ein wenig aufreißen. Die Fesseln der Hoffnungslosigkeit würden von uns abfallen, wir würden wieder beweglich und könnten miteinander Schritte versuchen dir entgegen! Herr, schreib uns deine Verheißungen in unser Herz und pflanze mit ihnen den nötigen Glauben, dass wir dich erkennen als Grund und Ziel unseres ganzen Lebens. Amen.

37

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 628.

3. Texte zu Themen und Anlässen

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3. Texte zu Themen und Anlässen 3.1 Arbeit [Nr. 35: RL, 141]38 Gott, du bist gekommen, dein Leben mit uns zu teilen. Wir aber suchen das Glück für uns selbst. Du kamst hinunter auf die Erde; alles, was Leben ausmacht, hast du uns gegeben: Liebe, Hoffnung und Vertrauen. Wir haben Kräfte und Gaben, Zeit und Geld, aber nicht immer sind wir dankbar für das, was du gibst. Wir bekennen vor dir, wie oft wir uns nur um uns selbst gesorgt haben. Wir arbeiten und planen, wir kaufen und machen Geschäfte, als hinge unser Leben allein davon ab. Wir sehen auf unseren Vorteil und übersehen die, denen es am Nötigsten fehlt. Wir möchten vorankommen und gehen an dir und den Menschen vorbei. Darum bitten wir dich: Komm auf uns zu in diesem Gottesdienst, öffne uns Augen und Ohren für dich und für unsere Nächsten. Herr, erbarme dich unser. Amen. 3.2 Diakonie [Nr. 36: RL, 142]39 Gütiger Gott, du warst dir nicht zu schade, dich in Jesus Christus für uns zum Diener zu machen. Von deiner Fürsorge leben wir alle bis zum heutigen Tag. Wir bitten dich: Vergib uns, wenn wir deine Güte vergessen. Nimm von uns alle Gedankenlosigkeit und Eigensucht, unsere Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid, 38

»Nach: Cornelia Coenen-Marx, in: danken und dienen. Arbeitshilfen für Verkündigung, Gemeindearbeit und Unterricht 1992, Thema: Armut – Eine Herausforderung an die diakonische Gemeinde, hg. vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1992, 79«, vgl. RL, 628 f. 39 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 629.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

unsere Trägheit in der Liebe. Bring uns zurück auf den Weg deiner Gebote. Schenke uns einen wachen Geist und ein empfindliches Gewissen, dass wir denen zur Wohltat werden, die auf Hilfe warten. Gib, dass wir unser Angewiesensein auf andere nicht vergessen und lernen, uns selber helfen zu lassen. Amen. 3.3 Ehe und Partnerschaft [Nr. 37: RL, 143]40 Treuer Gott, du sorgst für uns und gibst uns, was wir an Leib und Seele zum Leben brauchen. Wir danken dir dafür, dass du uns Liebe und Partnerschaft erleben lässt. Wir sind glücklich über die Harmonie, die wir erfahren, über die Vertrautheit, die zwischen uns wächst, über das Verständnis, das uns entgegengebracht wird. Wir gestehen vor dir auch die Enttäuschungen ein, die wir einander bereiten: die Entfremdung, die in unserer Beziehung eingetreten ist, den Streit, die Vorwürfe, die Eifersucht, alles, was unser Vertrauen zueinander vergiftet. Wir bitten dich, bewahre, was unsere Gemeinschaft stärkt, heile die Risse in unserer Beziehung. Und wenn wir nicht mehr zusammenfinden können, dann lass eine Trennung in gegenseitiger Achtung möglich werden. Für uns und die, die mit uns leben, bitten wir: Herr, erbarme dich über uns. Amen.

40

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 629.

3. Texte zu Themen und Anlässen

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3.4 Eltern und Kinder [Nr. 38: RL, 144]41 Gott, du beschenkst uns mit deiner mütterlichen Liebe, wie eine Frau für ihre Familie sorgt oder ein Kind zärtlich in den Armen hält. Vergib uns, wenn wir wie verwöhnte Kinder deine Großzügigkeit als unser Recht betrachten oder für uns allein beschlagnahmen wollen. Gib uns Vertrauen, dass wir, in deiner Liebe geborgen, leben können und sie freigebig mit anderen teilen. Amen. 3.5 Evangelisation, Volksmission [Nr. 39: RL, 144 f.]42 Gnädiger Gott, wir danken dir, dass du uns immer noch zusammenrufst und uns erfrischst mit deinem Wort. Wir sind oft so müde, weil wir immer weniger werden, und immer mehr Aufgaben vor uns sehen. Wir sind ratlos, weil wir schon manches versucht haben, um andere Menschen anzusprechen und in die Gemeinde einzuladen – oft ohne sichtbaren Erfolg. Manchmal sind wir auch sehr kleingläubig, weil uns unsere Probleme größer scheinen als deine Macht, die Kirche zu erhalten. Wir bitten dich, erneuere uns durch dein Wort und stärke uns durch deinen heiligen Geist. Erbarme dich über uns. Amen.

41

»Nach: Lege Dein Herz in Deine Gebete. Gebete aus der Ökumene 3, hg. vom Evangelischen Missionswerk in Deutschland, Hamburg 1998, 32«, vgl. RL, 629. 42 »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 629.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

3.6 Freundschaft und Zusammenleben [Nr. 40: RL, 147 f.]43 Barmherziger Gott, wie gut, dass du uns zusammenrufst: aus Geschäftigkeit und aus Leere, aus glücklichen Stunden und aus Traurigkeit, aus Erfolg und aus Scheitern. Vor dir gehören wir alle zusammen, unsere Unterschiede trennen uns nicht in deinen Augen. Niemand bleibt von dir unbeachtet. Und so soll es auch unter uns sein. Aber oft gelingt es uns nicht, einander so offen und aufmerksam zu begegnen. Oft nehmen wir nicht wahr, was andere brauchen, haben Hemmungen, auf jemanden zuzugehen oder trauen uns nicht, für uns selbst um Hilfe zu bitten. Guter Gott, so soll es nicht bleiben! Gib uns einen aufmerksamen Blick füreinander. Lass uns überwinden, was uns hindert, zueinander zu finden, und mach uns Mut, selber Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gott, stille in uns allen den Hunger nach Leben! Amen. 3.7 Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung [Nr. 41: RL, 148]44 Gott, wir sehnen uns danach, dass du Recht schaffst in unserer Welt, deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Wir fühlen uns oft so ohnmächtig gegenüber all dem Furchtbaren, von dem wir hören. Gott, wir ersehnen deine Gerechtigkeit und fürchten doch auch dein Gericht. Denn du lässt dich nicht täuschen durch die schönen Fassaden, hinter denen wir uns so oft verbergen. Du lässt dich nicht beschwichtigen 43 44

»Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 629. »Sylvia Bukowski, Erstveröffentlichung«, vgl. RL, 629.

3. Texte zu Themen und Anlässen

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von der gängigen Ausrede, wir könnten schließlich nichts machen. Du weißt, was wir anderen Menschen schuldig bleiben und wieviel Böses auch von uns ausgeht. Barmherziger Gott, sei uns ein gnädiger Richter und hilf uns, entschieden und tapfer zu werden im Tun deines Willens. Amen. [Nr. 42: RL, 148 f.]45 Gott, du liebst uns wie ein Vater, du sorgst für uns wie eine Mutter. Wie ein Bruder hast du unser Leben geteilt. Wir bekennen vor dir, dass wir oft unfähig sind, als deine Kinder zu leben, wie Brüder und Schwestern verbunden durch das Band der Liebe. Wir erheben unsere Hände zu dir: Vergib uns unsere Schuld. Du gabst uns das Leben, doch wir dienen dem Tod durch unsere Sucht, immer mehr zu besitzen, durch unsere Unfähigkeit zu teilen, durch unsere atemlose Suche nach eigener Sicherheit. Wir erheben unsere Hände zu dir: Vergib uns unsere Schuld. Wenn unsere Jagd nach dem Leben unser Leben zerstört, dann halte uns auf; hilf uns, Ruhe zu finden, dass unsere Seele still wird wie ein Kind bei seiner Mutter. Wir erheben unsere Hände zu dir: Gib uns deinen Geist. Amen.

45 »Text aus dem Kreis der Herausgeber bzw. dem Liturgieausschuss des Reformierten Bundes«, vgl. RL, 629.

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Anhang B: Deutsche Reformierte Liturgie

4. Texte zum Sündenbekenntnis bei einer Abendmahlsfeier [Nr. 43: RL, 353 f. (Abendmahl – Form A2)] Sündenbekenntnis Weil wir hier versammelt sind, um das Heilige Abendmahl zu feiern, beugen wir uns vor Gott und bekennen: Allmächtiger Gott, wir haben gesündigt gegen dich und unsere Mitmenschen in Gedanken, Worten und Taten, im Bösen, das wir getan, und im Guten, das wir unterlassen haben, durch Unwissenheit, Schwachheit und bewusste Schuld. Es tut uns ernstlich leid, und wir bereuen unsere Sünden. Um deines Sohnes Jesus Christus willen, der für uns starb, bitten wir dich: Vergib uns alle unsere Schuld und gewähre uns, dass wir dir dienen in einem erneuerten Leben zum Ruhm deines Namens. So frage ich euch: Ist dies euer aufrichtiges Bekenntnis und Gebet? So antwortet: Ja. Gemeinde: Ja. Verheißung Auf dieses euer Bekenntnis verkündige ich euch um Jesu Christi willen, dass euch alle eure Sünden vergeben sind. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Der Friede des Herrn sei mit uns allen. Amen. [Nr. 44: RL, 373 (Abendmahl zu besonderem Anlass)] Beichte und Absolution Wir bereiten uns darauf vor, indem wir unsere Sünde bekennen und beten: Barmherziger Gott, ich bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen habe mit Gedanken, Worten und Werken.

4. Texte zum Sündenbekenntnis bei einer Abendmahlsfeier

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Sie sind mir alle herzlich leid und reuen mich sehr. Ich bitte dich: Vergib mir um Jesu Christi willen. Amen. Oder: »Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir« (Ps 51,3.12–13). Danach fragt der Pastor / die Pastorin: Ist das deine Bitte, so sprich: Ja. Antwort: Ja Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes: Deine Sünde ist dir vergeben. »Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst« (Heidelberger Katechismus, Frage 1).

Anhang C: Texte aus dem »Evangelischen Gottesdienstbuch« sowie dem »Ergänzungsband« zum EGb1

1. Vorbereitungsgebete 1.1 Bußgebete [Nr. 1: EGb, 65; 88; 497] Wir sind versammelt, um Gottes Wort zu hören [und das Mahl des Herrn miteinander zu feiern]. Gott begegnet uns in seiner großen Güte. Vor ihm erkennen wir, was uns [schuldhaft]2 von ihm trennt. Darum lasst uns um sein Erbarmen bitten. Gebetsstille zusammen mit der Gemeinde: Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben. Amen. [Nr. 2: EGb, 494]3 Wir sind hier zusammengekommen, um miteinander das Wort Gottes zu hören, ihn in Lied und Gebet anzurufen [und das Mahl des Herrn zu feiern]. Weil wir aber von Gottes Weg abgewichen sind und aus eigener Kraft nicht zurückfinden können, Lasst uns unsern himmlischen Vater um sein Erbarmen bitten. zusammen mit der Gemeinde: Der allmächtige Gott erbarme sich unser, 1

Die Wiedergabe der Texte erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Amts der Union Evangelischer Kirchen (UEK), des Gottesdienstreferats der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) sowie der Oberkirchenräte der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der Evangelischen Landeskirche in Baden. 2 Zusatz nur in der Fassung EGb, 88. 3 »Nach: VELKD, Agende III, 3 (1993), 42 f.«, vgl. EGb(EB), 575.

1. Vorbereitungsgebete

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er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben. Amen. Nimm von uns, Herr, unsere Sünde und verleihe uns, dass wir mit lauterem Herzen und reinen Lippen diesen Gottesdienst feiern und dich preisen. Durch Jesus Christus, unsern Herrn. [Nr. 3: EGb, 494 f.]4 Da wir hier versammelt sind, um miteinander Gottes Wort zu hören, ihn im Gebet und Loblied anzurufen und im heiligen Mahl den Leib und das Blut Jesu Christi zu empfangen, so lasst uns zuvor gedenken unserer Taufe, durch die wir von Sünde und Tod errettet und der Gemeinschaft des neuen Lebens Christi teilhaftig geworden sind. Weil wir aber gesündigt haben mit Gedanken, Worten und Werken, nehmen wir Zuflucht zu der Gnade, die wir in unserer Taufe empfangen haben, und sprechen [miteinander]: zusammen mit der Gemeinde: Der allmächtige Herr erbarme sich unser, er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben. Amen. Nimm von uns, Herr, unsere Sünde, dass wir mit lauterem Herzen und reinen Lippen diesen Gottesdienst feiern und dich preisen, durch Jesus Christus, unsern Herrn. [Nr. 4: EGb, 495 f.]5 Gott, unser Vater, du hast uns den Weg des Lebens in deinem Sohn gezeigt. Wir bekennen, wie schwer wir von ihm lernen und wie zögernd wir ihm nachfolgen. 4

»Wolfhart Pannenberg, Um die eine Kirche (in: Festschrift H.-J. Mund, Hochkirchl. Vereinigung A.B., Werk-Verlag, München-Gräfelfing 1984), 60; nach: VELKD, Agende I (1955), 51«, vgl. EGb(EB), 575. 5 »Nach: Liturgie, hg. von der Liturgiekommission der ev.-reformiert. Kirchen in der dt.-sprachig. Schweiz, Band 1, 82 Nr. 16«, vgl. EGb(EB), 575.

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Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

Du hast uns gerufen, und wir haben nicht auf dich gehört. Deine Herrlichkeit ist erschienen, und wir sind blind gewesen. Du hast deine Hand nach uns ausgestreckt, und wir sind davor zurückgewichen. Wir haben viel empfangen und wenig gedankt. Wir sind deiner Liebe unwürdig. Gemeinde:

Erbarme dich unser und vergib uns, Herr.

Vergib uns, wo wir unsere Zeit vergeudet und unsere Gaben missbraucht haben. Vergib uns, wo wir unsere eigenen Versäumnisse entschuldigt oder unsere Verantwortung abgelehnt haben. Vergib uns, wo wir andere so wenig von deiner Liebe spüren lassen. Gemeinde:

Erbarme dich unser und vergib uns, Herr.

Nimm von uns, Herr, unsere Sünde, dass wir mit lauterem Herzen und reinen Lippen diesen Gottesdienst feiern und dich preisen, durch Jesus Christus, unsern Herrn. [Nr. 5: EGb, 496]6 Herr, unsere Erde ist voll von Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Krieg. Dies erfahren wir Tag für Tag. Aber wir wollen nicht wahrhaben, dass wir daran beteiligt und mitschuldig sind. Oft haben wir versäumt, Unrecht zu verhindern. Gebetsstille Oft haben wir geschwiegen, wo wir hätten reden müssen. Gebetsstille Oft haben wir nur geredet, wo wir etwas hätten tun sollen. Gebetsstille (An dieser Stelle können aktuelle Notstände erwähnt werden.)

6 »Baden, Materialsammlung für Gottesdienste (1971–82), 10. Lfg., Nr. 7«, vgl. EGb(EB), 575.

1. Vorbereitungsgebete

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Wir bekennen unsere Schuld und rufen: Herr, erbarme dich. Gemeinde:

Herr, erbarme dich.

Gott, sieh nicht auf unsere Ungerechtigkeit, unser Schweigen und unsere Trägheit. Schau auf deinen Sohn Jesus Christus, der für uns gestorben ist und die Gerechtigkeit erworben hat, die vor dir gilt. [Nr. 6: EGb(EB), 207]7 Herr Jesus Christus, du hast uns in die Welt gesandt. Wir sind unsern Weg gegangen, mit gutem Willen. So vieles ist uns begegnet, hat uns fasziniert, erfreut, geängstigt, beglückt und enttäuscht; darüber ist dein Auftrag bei uns verblasst, wir haben uns anderen Zielen für unser Leben zugewandt. Wohin sind wir geraten? Was steht alles zwischen uns? Wie finden wir dich wieder? Stille Wir bitten dich, sieh freundlich auf uns. Vergib, wie schnell wir dabei sind, dich zu verdrängen. Vergib, wie lange wir uns Zeit lassen, wenn du uns verwandeln willst. Vergib, wie unbedacht wir den Angeboten unserer Zeit folgen und wie wir zögern, deinen Willen zu tun. Bringe uns zurecht durch dein Wort und erneuere uns durch deinen Geist. Erfülle uns mit Hoffnung und Freude, sodass wir dich preisen. Es folgt der Gesang: »Meine Hoffnung und meine Freude …« (Taize´) 1.2 »Abholung aus der Situation« [Nr. 7: EGb, 498]8 Herr, unser Gott: Wohl wissen wir meist, was wir nicht wollen. Wir wollen keine Zurücksetzung und keine Nachteile, 7

»Nach: Luth. Kirchenamt (Hg.), Jesus Christus – gestern, heute und in Ewigkeit. Arbeitshilfe zum Übergang ins Jahr 2000, Hannover 1999, 118«, vgl. EGb(EB), 586. 8 »Nach: Jürgen Henkys, Praxisbeispiel (1994), unveröff.«, vgl. EGb(EB), 575.

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Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

keine Zerstörung der Umwelt und keine freche Gewalt, keine Willkür der Mächtigen oder des Schicksals. Dabei sind wir an vielem beteiligt, was wir nicht wollen. Aber was du willst, dringt nicht so tief in uns hinein, dass es Mut zum Widerstand erwecken könnte. Erbarme dich unser und vergib uns. Eröffne uns aufs Neue deinen Willen. [Nr. 8: EGb, 498 f.]9 Gott unseres Lebens, als Menschen guten Willens sind wir jetzt versammelt und doch im Gewissen überführt, dass auch anderes in uns steckt, was nicht gut ist: hinhaltender Widerstand gegen dich, tötende Gleichgültigkeit gegen unsere Mitmenschen, unheilbare Verlorenheit an uns selbst. Wir bitten dich: Sieh uns an, richte uns auf und vergib uns um Jesu willen. 2. Bußgebete mit Kyrie und Gloria [Nr. 9: EGb, 69 f.; 500 f.]10 Lasst uns in Demut den Herrn anrufen. Herr Jesus Christus, du hast den Zöllner gerecht gesprochen, der sich schuldig bekannte. Nimm auch das Bekenntnis unserer Sünden an und vergib uns in deiner Güte und Menschenliebe. Du allein hast die Macht, Sünden zu vergeben. Herr, erbarme dich. Kyrie eleison (von der Gemeinde oder im Wechsel zwischen Chor und Gemeinde gesungen) Der allmächtige Gott hat sich unser erbarmt und vergibt uns durch Jesus Christus unsere Schuld. »Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen 9 10

»Nach: Jürgen Henkys, Praxisbeispiel (1994), unveröff.«, vgl. EGb(EB), 575. »Nach: Baden, Materialsammlung, 10. Lfg., Beichte I, Nr. 8«, vgl. EGb(EB), 561.

2. Bußgebete mit Kyrie und Gloria

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eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, dass wir durch ihn leben sollen« (1Joh 4,9).11 Gloria (von der Gemeinde oder im Wechsel zwischen Chor und Gemeinde gesungen) [Nr. 10: EGb, 500]12 Herr Jesus Christus, du bist für uns am Kreuz gestorben, dass wir mit dir leben. Wir bekennen dir, dass wir dir diese Liebe zu wenig gedankt haben: Statt dich zu loben, haben wir über das geseufzt, was uns beschwert. Statt dir zu gehorchen, haben wir danach gefragt, was uns nützt. Wann werden wir die Angst los, wir könnten zu kurz kommen, sobald wir dir nachfolgen? Herr, vergib uns unsere Schuld und wandle unsere Herzen durch die Macht deiner Liebe. Herr, erbarme dich. Kyriegesang Der allmächtige Gott hat sich unser erbarmt, seinen Sohn für uns in den Tod gegeben und um seinetwillen uns verziehen. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist. Gloriagesang [Nr. 11: EGb, 501]13 Wir sind hier, um gemeinsam Gott anzurufen, auf sein Wort zu hören und uns im heiligen Abendmahl mit unserem Herrn Christus zu vereinigen. In seiner Gegenwart dürfen wir loslassen: unsere Sorgen und Ängste, was uns ratlos macht und was uns bindet – all unsere Schuld. 11 12 13

Bei EGb, 501 wird Lk 22,32 als Bibelspruch angegeben. »Nach: Baden, Materialsammlung, 10. Lfg., Beichte I, Nr. 6«, vgl. EGb(EB), 575. »Nach: Baden, Materialsammlung, 10. Lfg., Beichte I, Nr. 9«, vgl. EGb(EB), 575.

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Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

Er lässt uns nicht los. In der Stille breiten wir jetzt vor ihm aus, was uns bedrückt und beschämt. Gebetsstille Vor dir, Herr Jesus, und inmitten deiner Gemeinde gestehen wir ein: Wir haben Böses gedacht, lieblos geredet und unrecht gehandelt. Miteinander rufen wir dich an: Herr, erbarme dich. Kyriegesang Der allmächtige Gott hat sich unser erbarmt und vergibt uns durch Jesus Christus unsere Schuld. So bezeugt das Evangelium: »Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen« (Jes 42,3). Gloriagesang [Nr. 12: EGb, 502]14 Du kennst mich, Herr. Du weißt, wie oft ich anderen das Leben schwer mache mit Vorurteilen und liebloser Kritik. Ich schlage Türen zu, statt sie zu öffnen. Ich lege andere auf ihre Fehler fest, statt ihnen weiterzuhelfen. Ich selbst bin blind für mein eigenes Versagen. Vergib mir, Herr, und zeige mir jetzt in der Stille, wo ich mich ändern muss und was ich wieder in Ordnung bringen kann. Gebetsstille Ich bitte dich: Herr, erbarme dich. Kyriegesang Der allmächtige Gott hat sich unser erbarmt, seinen Sohn für uns in den Tod gegeben und um seinetwillen uns verziehen. So spricht der Herr: »Ich will meinen Geist in euch geben 14

»Nach: Baden, Materialsammlung, 10. Lfg., Beichte I, Nr. 4«, vgl. EGb(EB), 575.

3. Eingangsgebete (Grundform II)

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und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun« (Ez 36,27).15 Gloriagesang 3. Eingangsgebete (Grundform II) [Nr. 13: EGb, 138]16 Herr Jesus Christus, in deinem Namen sind wir alle versammelt. Wir bitten dich: Nimm uns an, mit unserer Last und Sünde, mit unserer Müdigkeit und Gleichgültigkeit. Höre unser Beten und Singen. Bewege unsere Herzen durch dein Wort, damit wir Trost und Weisung empfangen. Gemeinde:

Amen.

[Nr. 14: EGb, 534]17 Wir sind zu dir gekommen, Gott, mit dem, was uns freut, und mit dem, was uns Angst macht. Wir sind gekommen mit unserem Dank, mit unseren Sorgen und auch mit dem Dunkel, das in uns ist. Wir bitten dich: Sprich zu uns in deinem helfenden Wort, erleuchte unsere Herzen, damit dieser Gottesdienst hineinwirkt in unser Leben, in unseren Alltag, in unsere Familien, in unsere ganze Gemeinde. [Nr. 15: EGb, 537] Vater, wir möchten gelassener sein, als wir es sind; wir möchten aufmerksamer hören, als wir es tun; wir möchten dir glaubhafter dienen, als wir es bisher wagen; 15

EGb, 502–504 gibt folgende biblische Voten als Alternativen an: Joh 3,16; Mt 11,28; Jes 43,24–25; 2Kor 5,19; 1Joh 2,1 f.; Jes 54,10; Ps 34,19–23; Ps 103,8.10.13; Jes 54,8; Klgl 3,22 f. 16 »Nach: rg 8/9 [Herwarth von Schade / Frieder Schulz: Gebete. Revidierte Gebetstexte zu Agende I, Hamburg 1979], 64 Nr. 259«, vgl. EGb(EB), 558; 562. 17 »Nach: Württemberg, Kirchenbuch Teil 1 (1988), 142 Nr. 125«, vgl. EGb(EB), 577.

252

Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

wir möchten wacher leben, als es uns bisher gelingt. Erneuere uns durch deine Nähe, bewege uns durch deinen Geist, rede mit uns durch dein Wort, stärke uns durch dein Mahl. 4. Offene Schuld [Nr. 16: EGb, 72 f.; 102 f.; 140]18 Lasst uns miteinander bekennen, dass wir gesündigt haben mit Gedanken, Worten und Werken. Aus eigener Kraft können wir uns von unserem sündigen Wesen nicht erlösen. Darum nehmen wir Zuflucht zur unermesslichen Barmherzigkeit Gottes, begehren Gnade um Christi willen und sprechen: Gott sei mir Sünder gnädig. zusammen mit der Gemeinde: Der allmächtige Gott erbarme sich unser, er vergebe uns unsere Sünden und führe uns zum ewigen Leben. Gott hat sich unser erbarmt und uns um seines Sohnes Jesu Christi willen verziehen. So spricht der Herr: »Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und danach tun« (Ez 36,27). [Nr. 17: EGb, 197 f. (Gottesdienst am Buß- und Bettag)] L19 Lk20 Gemeinde: Lk Gemeinde: Lk

18 19 20

Wir bekennen unsere Schuld und bitten Gott um Vergebung. Lasst uns beten. Barmherziger Gott, weil wir den Menschen mehr gehorcht haben als dir, sind wir schuldig geworden. Wir bitten dich, Herr, vergib uns. Weil wir ängstlich waren und deinen Verheißungen nicht vertraut haben, sind wir schuldig geworden. Wir bitten dich, Herr, vergib uns. Weil wir mehr an uns selbst gedacht haben und unseren Nächsten übersehen haben, sind wir schuldig geworden.

»Nach: VELKD,Agende III, Bußgottesdienst (1964), 134 f.«, vgl. EGb(EB), 561. Liturgin/Liturg. Lektorin/Lektor.

4. Offene Schuld

Gemeinde: Lk Gemeinde: Lk Gemeinde: L Gemeinde:

253

Wir bitten dich, Herr, vergib uns. Weil wir mehr auf unsere eigene Kraft vertraut haben als auf deine Macht, sind wir schuldig geworden. Wir bitten dich, Herr, vergib uns. Weil wir mehr von unseren Forderungen an andere erwartet haben als vom Gebet zu dir, sind wir schuldig geworden. Wir bitten dich, Herr, vergib uns. Vergib uns unsere Schuld und lass uns in der Freiheit bestehen, zu der uns Christus befreit hat. Amen.

[Nr. 18: EGb, 198 (Gottesdienst am Buß- und Bettag)]21 Barmherziger Gott, wir bekennen, dass wir in Sünde gefangen sind und uns nicht selbst befreien können. Wir haben gegen dich gesündigt in Gedanken, Worten und Werken, durch das, was wir getan, und durch das, was wir unterlassen haben. Wir haben dich nicht von ganzem Herzen geliebt, wir haben unseren Nächsten nicht geliebt wie uns selbst. Um deines Sohnes Jesu Christi willen erbarme dich unser. Vergib uns, erneuere uns und leite uns, dass wir Freude haben an deinem Willen und auf deinen Wegen gehen, zur Ehre deines heiligen Namens. Gemeinde:

Amen.

[Nr. 19: EGb, 198 f. (»Versöhnungsgebet von Coventry«, Gottesdienst am Buß- und Bettag)]22 »Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten« (Röm 3,23). Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse – Gemeinde: Vater, vergib! Das habsüchtige Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr eigen ist – Gemeinde: Vater, vergib! 21 22

»VELKD, Agende III, Teil 3, Hannover (1993), 43«, vgl. EGb(EB), 563. EG 828.

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Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet – Gemeinde: Vater, vergib! Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der anderen – Gemeinde: Vater, vergib! Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Heimatlosen und Flüchtlinge – Gemeinde: Vater, vergib! Die Sucht nach dem Rausch, der Leib und Leben zu Grunde richtet – Gemeinde: Vater, vergib! Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen, nicht auf Gott – Gemeinde: Vater, vergib! Lehre uns, o Herr, zu vergeben und uns vergeben zu lassen, dass wir mit dir und miteinander in Frieden leben. Darum bitten wir um Christi willen. »Seid untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus« (Eph 4,32). [Nr. 20: EGb, 545]23 Herr, im Licht deiner Wahrheit erkennen wir, dass wir gesündigt haben in Gedanken, Worten und Werken. Dich sollen wir über alles lieben, unseren Gott und Heiland; aber wir haben uns selber mehr geliebt als dich. Du hast uns in deinen Dienst gerufen; aber wir haben die Zeit vertan, die du uns anvertraut hast. Du hast uns unseren Nächsten gegeben, ihn zu lieben wie uns selbst; aber wir erkennen, wie wir versagt haben in Selbstsucht und Trägheit des Herzens. Darum kommen wir zu dir und bekennen unsere Schuld. Richte uns, unser Gott, aber verwirf uns nicht. Wir wissen keine andere Zuflucht als dein unergründliches Erbarmen.

23

»Nach: VELKD, Agende III, 3 (1993), 50«, vgl. EGb(EB), 577.

4. Offene Schuld

[Nr. 21: EGb, 545]24 Jesus Christus, du bist unser Herr und Bruder. Deine Liebe ist größer als unser Herz. Du nimmst uns an. Mache uns frei, uns selbst anzunehmen, so dass wir uns anderen Menschen zuwenden können. Du kennst uns. Hilf, dass wir uns selbst verstehen, so dass wir offen werden für andere. Du liebst uns. Schenke uns Vertrauen, so dass wir unsere dunklen Seiten wahrnehmen, ohne in Angst zu geraten. Vergib, was uns von dir, von uns selbst und von anderen Menschen trennt. Schenke uns neue Gemeinschaft mit dir und untereinander. Das bitten wir dich im Vertrauen auf dein Erbarmen. [Nr. 22: EGb, 546]25 Gott hat uns geboten, ihn über alle Dinge zu fürchten und zu lieben und ihm allein zu vertrauen. Lasst uns bedenken, wo wir nach unserem eigenen Willen leben und nicht auf Gottes Gebote hören, wo wir das Vertrauen mehr auf uns selbst oder auf Menschen und Mächte setzen als auf Gott. Stille zur Besinnung Herr, wir bekennen dir unsere Schuld und unseren Mangel an Vertrauen zu dir und sprechen: Gemeinde: Gott, sei mir Sünder gnädig. Gott hat uns geboten, unsern Nächsten zu lieben wie uns selbst. Lasst uns bedenken, wo wir unsern Nächsten vergessen und übergangen haben, wo wir auf Kosten und zum Schaden anderer gelebt haben, wo wir hart und unversöhnlich waren und zur Vergebung nicht bereit. Stille zur Besinnung

24 25

»VELKD, Agende III, 3 (1993), 81 Nr. 7«, vgl. EGb(EB), 577. »Nach: VELKD, Agende III, 3 (1993), 26«, vgl. EGb(EB), 578.

255

256

Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

Herr, wir bekennen unseren Mangel an Liebe und sprechen: Gemeinde: Gott, sei mir Sünder gnädig. Gott vergibt und heilt. Er befreit und schenkt Hoffnung. Das mache er wahr bei euch allen! [Nr. 23: EGb, 546 f.]26 Lasst uns bekennen, dass wir vor Gott und vor unseren Mitmenschen schuldig geworden sind. Lk27 G28 Lk G Lk G

Wir bekennen dir, Herr, dass unsere Ängste größer waren als das Vertrauen zu dir. Wir bitten dich, Herr, vergib uns. Wir bekennen dir, Herr, dass uns unser Vorteil wichtiger war als die Sorgen des Nächsten. Wir bitten dich, Herr, vergib uns. Wir bekennen dir, Herr, dass wir uns dem Willen anderer Menschen gebeugt haben, statt uns nach deinen Geboten zu richten. Wir bitten dich, Herr, vergib uns.

Unser Gott erbarme sich euer, er vergebe euch eure Schuld und schenke euch neues Leben. [Nr. 24: EGb, 547] Heiliger Gott, Schöpfer von uns allen, Gemeinde: Erbarme dich unser! Jesus Christus, Diener der Armen, Gemeinde: Erbarme dich unser! Heiliger Geist, Atem des Lebens, Gemeinde: Erbarme dich unser! Lasst uns in der Stille unser Versagen und unsere Schuld bedenken. Stille Ich bekenne vor Gott und euch, Schwestern und Brüder, dass mein Leben und das Leben der Welt leiden unter meiner Schuld.

26 27 28

»Nach: lona Community Worship Book (1991), 14«, vgl. EGb(EB), 578. Lektorin/Lektor. Gemeinde.

5. Gemeinsame Beichte

Gemeinde:

257

Gott möge dir vergeben. Christus möge dich erneuern. Gottes Geist mache dich fähig, in der Liebe zu wachsen. Amen.

5. Gemeinsame Beichte [Nr. 25: EGb, 199 f. (Gottesdienst am Buß- und Bettag)]29 Beichtbekenntnis Lasst uns vor Gott unsere Schuld bedenken: Gott hat uns geboten, ihn über alle Dinge zu fürchten und zu lieben und ihm allein zu vertrauen. Lasst uns bedenken, wo wir nach unserem eigenen Willen leben und nicht auf Gottes Gebote hören, wo wir das Vertrauen mehr auf uns selbst oder auf Menschen und Mächte setzen als auf Gott. Stille zur Besinnung Herr, wir bekennen unseren Ungehorsam und unseren Mangel an Vertrauen zu dir und sprechen: Gemeinde: Gott sei uns Sündern gnädig. Gott hat uns geboten, unsern Nächsten zu lieben wie uns selbst. Lasst uns bedenken, wo wir unsern Nächsten vergessen und übergangen haben, wo wir auf Kosten und zum Schaden anderer gelebt haben, wo wir hart und unversöhnlich waren und zur Vergebung nicht bereit. Stille zur Besinnung Herr, wir bekennen unseren Mangel an Liebe und sprechen: Gemeinde: Gott sei uns Sündern gnädig. Beichtfragen Vor dem heiligen Gott frage ich euch: Bekennt ihr, dass ihr gesündigt habt, und bereut ihr eure Sünden, so antwortet: Ja. Beichtende: Ja. Bittet ihr um die Vergebung eurer Sünden im Namen Jesu Christi, so antwortet: Ja.

29 »VELKD, Agende III, Teil 3, Hannover (1993), 26–28; 30«, vgl. EGb(EB), 563. Das »Beichtbekenntnis« enstpricht Anhang C, Nr. 22.

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Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

Beichtende: Ja.30 Absolution In der Vollmacht, die der Herr seiner Kirche gegeben hat, spreche ich euch [frei, ledig und] los: Euch sind eure Sünden vergeben. Im Namen + des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Der allmächtige Gott begleite euch mit seiner Gnade. Gemeinde:

Amen.

[Nr. 26: EGb, 543 f.]31 Lasst uns in der Stille vor Gott bedenken, was uns von ihm und voneinander trennt. Gebetsstille Lasst uns miteinander unsere Schuld bekennen: zusammen mit Gemeinde: Allmächtiger Gott, barmherziger Vater, ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken, womit ich dich jemals] erzürnt und deine Strafe zeitlich und ewiglich verdient habe. Sie sind mir aber alle herzlich leid und reuen mich sehr, und ich bitte dich um deiner grundlosen Barmherzigkeit und um des unschuldigen, bitteren Leidens und Sterbens deines lieben Sohnes Jesus Christus willen, du wollest mir armem sündhaftem Menschen gnädig und barmherzig sein, mir alle meine Sünden vergeben und zu meiner Besserung deines Geistes Kraft verleihen. Amen. Absolution Auf dieses euer Bekenntnis verkündige ich allen, die ihre Sünde bereuen und auf Tod und Auferstehung Jesu Christi von Herzen vertrauen, als ein berufener Diener / eine berufene Dienerin des Wortes die Gnade Gottes und die Vergebung der Sünden im Namen des Vaters und + des Sohnes und des Heiligen Geistes.

30 Die Fragen können auch zusammengefasst werden, vgl. EGb, 543: »Ist dies euer aufrichtiges Bekenntnis und erbittet ihr Vergebung der Sünden um Christi willen, so antwortet: Ja. Beichtende: Ja.« 31 »Preußische Agende (1822) nach Vorlage Naumburg (1537) / Sachsen (1581) [Sündenbekenntnis]; nach: EKU, Agende 1 (1959), 144 [Absolution I]; VELKD, Agende III, 3 (1993), 30b [Absolution II]«, vgl. EGb(EB), 577.

5. Gemeinsame Beichte

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oder: So lautet der Auftrag Jesu Christi: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nehmt hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten« (Joh 20,21–23). Diese Vollmacht hat Christus seiner Kirche gegeben. Darum verkündige ich einem jeden und einer jeden von euch: Dir sind deine Sünden vergeben. Im Namen des Vaters und + des Sohnes und des Heiligen Geistes. [Nr. 27: EGb(EB), 48 f.]32 Hinführung Uneingestandene Schuld zehrt an unserer Kraft, weil nicht ans Licht kommen darf, was falsch gelaufen ist. Uneingestandene Schuld zwingt, anders dazustehen, als wir sind. Uneingestandene Schuld nagt an unserer Seele und macht krank. Lasst uns auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen und ihm die Schuld bekennen, die uns bedrückt: Gebet Gott, du kennst auch die verborgenen Winkel unseres Lebens. Du kennst unsere Stärken und unsere Fehler. Du weißt, wo das Leben verbogen ist und warum. Du gibst uns den Mut, unser Leben [auch mit seinen Schattenseiten] in deinem Licht zu sehen. Stille Bekennt ihr vor Gott, unserm himmlischen Vater, eure Sünden und erbittet ihr von ihm Vergebung um Jesu Christi willen, so sprecht: Vergib uns unsere Schuld. Beichtende: Vergib uns unsere Schuld. Vergebungszuspruch Was Gott euch in der Taufe gegeben hat, nimmt er nicht zurück. Er vergibt euch eure Sünden und befreit euch von der Macht des Bösen. 32

»Nach: Agende für ev.-luth. Kirchen und Gemeinden und für die EKU ›Konfirmation‹, Verl.-Gem. Evang. Gotteddienstbuch, Berlin-Bielefeld-Hannover 2001, 116 f.«, vgl. EGb(EB), 584.

260

Anhang C: Evangelisches Gottesdienstbuch

Christus sagt zu seinen Jüngern: »Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten« (Joh 20,21–23).

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Personenregister

Adam Anselm von Canterbury Arendt, Hannah Aristoteles Arminius, Jakob Augustinus Bach, Johann Sebastian Barth, Karl Bavinck, Herman Bell, Daniel M. Jr. Berkouwer, Gerrit C. Bernold von Konstanz Beza, Theodor Bieler, Andrea Bieritz, Karl-Heinrich Block, Johannes Böhl, Eduard Böttrich, Thomas Bohren, Rudolf Bourdieu, Pierre Brandt, Sigrid Brüß, The´odore Brully, Pierre Brunner, Peter Bucer, Martin Bullinger, Heinrich

Calvin, Johannes

Cornehl, Peter Dalferth, Ingolf U. Daneau, Lambert David Dinkel, Christoph

113 113 40 21 f., 53, 88, 92 87 f. 111 180 10, 30, 40, 59, 61, 66–70, 118 116 50 117 f. 100 86 f. 138 188 3 f. 114 f. 4, 143 f. 73 190 122 104 104 30, 57, 59–61 85 f. 1, 73, 79–82, 84, 92, 111, 113, 124, 126 f., 132, 135, 173, 193 1, 57, 69, 78– 82, 84 f., 89, 92, 103–105, 107, 111, 113, 124,126 f.,132– 134, 143, 179 23–27, 29 59, 72 f. 86 f., 92 107, 129 23

Döber, Andreas Dooyeweerd, Herman

168 45–47, 49 f., 58, 114, 118f. Duns Scotus, Johannes 65 Ebrard, Johann Heinrich 195 August Eliade, Mircea 25 Farel, Guillaume 98, 105 Fischer-Lichte, Erika 26 Flacius Illyricus, 112 f., 115 Matthias Foucault, Michel 50 Gräb, Wilhelm 23 Gropper, Johannes 86 Hauerwas, Stanley 30–34, 36–39, 45 Heinz, Andreas 185 Horton, Michael 88 Hubmaier, Balthasar 89 f., 93 Humboldt, Alexander 34 von Husserl, Edmund 186 Jetter, Werner 26 Jörns, Klaus-Peter 3 Johannes der Täufer 100 Jona, Vater des Petrus 92 Josuttis, Manfred 59, 64 f., 188 Jud, Leo 98 Kabel, Thomas 189 f. Käsemann, Ernst 138 Karl der Große, Kaiser 95 Kavanagh, Aidan 36 Kellerhals, Emanuel 143 f., 149 Klessmann, Michael 3f. Kunz, Ralph 59, 71 f. Kuyper, Abraham 46, 51, 114– 116, 118–120 Laktanz 128 Lange, Ernst 23, 134 Lasco, Johannes a` 98 f. (Jan Łaski) Lavater, Ludwig 1

280 Leeuw, Gerardus van der Luther, Martin MacIntyre, Alasdair Maria Melanchthon, Philipp Merleau-Ponty, Maurice Meßner, Reinhard Meyer-Blanck, Michael Michael, Erzengel Milbank, John Möller, Christian Osiander, Andreas Ott, Johann Baptist Otto, Rudolf Paulus, Apostel Peirce, Charles Sanders Petrus, Apostel Pickstock, Catherine Pius V., Papst Plantinga, Cornelius Jr. Platon Plüss, David Poullain, Vale´rand Prosper von Aquitanien Quenstedt, Johann Andreas Rorty, Richard Rosenzweig, Franz Roth, Ursula Ruler, Arnold van

Personenregister 30, 59, 62–64 93, 133, 179 32 100 60 53, 186 8, 10 23, 57 100 44 3 79 f., 85 1 183 f. 100, 112 189 92, 100, 129 45 99 119 22 23, 26–29, 188 102 36 17 42 184 23, 26–29 73

Saliers, Donald E. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Schmemann, Alexander Schottroff, Luise Schweizer, Alexander Sequeira, Ronald Smith, James K. A.

30 f., 33–36 6f., 11–29, 43, 57, 64, 75 36 138 23 188 f. 30, 45 f., 49– 58, 75, 190 Sokrates Scholastikos 193 Stählin, Wilhelm 186 f., 190 Surgant, Johann Ulrich 96–98 Taylor, Charles 6 Tersteegen, Gerhard 183 Thomas von Aquin 77, 85 Troeltsch, Ernst 118 Turrettini, Franc¸ois 65, 128 Ulrich, Hans G. 34 Ursinus, Zacharias 111 Vermigli, Peter Martyr 87 Wainwright, Geoffrey 36 Wannenwetsch, Bernd 30, 38–45 Wells, Samuel 37 f. Whale, John S. 6 Willimon, William H. 30 f., 33–36 Wittgenstein, Ludwig 39 Wolters, Albert M. 120 Zanchi, Girolamo 86 f. Zimmerling, Peter 3 Zwingli, Huldrych 71, 90, 97 f., 179