Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam [1 ed.] 9783428503025, 9783428103027

Die vorliegende Arbeit ist die erste umfassende Untersuchung in deutscher Sprache, die sich der sunnitisch-islamischen j

115 108 58MB

German Pages 494 Year 2002

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam [1 ed.]
 9783428503025, 9783428103027

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Schriften zur Rechtstheorie Heft 208

Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam

Von Birgit Krawietz

Duncker & Humblot · Berlin

BIRGIT KRAWIETZ

Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam

Schriften zur Rechtstheorie Heft 208

Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam

Von Birgit Krawietz

Duncker & Humblot · Berlin

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Fakultät für Kulturwissenschaft der Universität Tübingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krawietz, Birgit: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam / von Birgit Krawietz. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 208) Zugl.: Tübingen, Univ., Habil.-Schr., 1999 ISBN 3-428-10302-5

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10302-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97060

Vorwort 1. Dies ist die erste umfassende Untersuchung in deutscher Sprache, die sich der sunnitisch-islamischen juristischen Methodik und Rechtsquellenlehre in systematischer Absicht zuwendet. Deren Relevanz wurde in der westlichen Islamkunde zwar nicht übersehen, jedoch lange Zeit als eher geistesgeschichtlich eingestuft, so daß es bislang an einer entsprechenden systematisch-normativen Darstellung fehlte. a) Es gibt allerdings i m englischen Sprachraum mindestens drei islamwissenschaftliche Approximationen, die dem, worum es der Verfasserin hier geht, in gewissem Sinne nahekommen. Es handelt sich um die - leider unveröffentlichte Dissertation von Aron Zysow, The Economy of Certainty: An Introduction to the Typology of Islamic Legal Theory (1984), welche hier mit großem Gewinn herangezogen werden konnte. Sie erstreckt sich aber nur auf gewisse, für eine Typologie der juristischen Argumentationsformen wichtige Ausschnitte aus dem Gesamtbereich der Grundlagen der Rechtwissenschaft (usül al-fiqh). Ferner gehört hierzu das profunde Werk von Bernard Weiss zur Rechtsmethodologie eines mittelalterlichen Schariatsgelehrten, The Search for God's Law: Islamic Jurisprudence in the Writings of Sayf al-Dm al-ÄmidT (1992). Das Werk des letzteren ist vor allem für Mediävisten interessant, doch als Klassiker islamischer Jurisprudenz darf À m i d i (st. 1233) auch i m Rahmen von Analysen des islamischen Rechtssystems nicht ignoriert werden. (Zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit diesem Buch von Weiss s. meine Rezensionsabhandlung.) Schließlich ist die von Wael B. Hallaq verfaßte Monographie, A History of Islamic Legal Theories: An Introduction to SunnT usül al-fiqh (1997), zu nennen (vgl. hierzu meine Rezension), welche jedoch, wie der Titel bereits sagt, eher auf die elementaren Bedürfnisse einer Einführung beschränkt ist. Sie bietet ebenfalls wenig zur breiteren Palette sekundärer Rechtsquellen, kommt auf die Moderne nur unter dem Aspekt möglicher Neuerer zu sprechen und präsentiert ansonsten vereinzelte Impressionen aus verschiedenen Jahrhunderten. b) In der vorliegenden Untersuchung geht es darum, normative Systemzusammenhänge und Charakteristika islamischer Rechtsquellenlehren herauszuarbeiten, so wie sie sich für arabischsprachige muslimische Autoren und Adressaten heutzutage üblicherweise darstellen, auch wenn diese de facto unterschiedlichen Rechtsordnungen angehören. Zwar darf islamisches Recht nicht mit dem Recht islamischer Staaten verwechselt werden, doch ist die Scharia in islamischen Ländern und vielen arabischen Staaten Ausgangspunkt, Grundlage und Maßstab der Beurteilung. Als solche beansprucht sie auch zukünftige Geltung. Bekanntlich beruhen die Prinzipien und Regeln - nach der vom islamischen Recht selbst vertretenen

Vorwort Auffassung - auf den Heiligen Texten, wie sie in Koran und Hadith verbrieft sind. Der absolute Vollständigkeits- und Verbindlichkeitsanspruch ergibt sich aus dem Koran, der - wie im Detail noch zu darzulegen ist - selbst hervorhebt, daß in ihm grundsätzlich alles enthalten ist, was der gläubige Muslim zur rechtlichen Orientierung benötigt. Dies beinhaltet auch das hier vorzustellende System der Rechtsquellen. I m folgenden handelt es sich darum, die grundsätzliche normative Struktur sowie den universalen Geltungsanspruch der Scharia und der aus ihr abgeleiteten Rechtsnormen, Prinzipien und Regeln zu analysieren, systematisch herauszuarbeiten, näher zu charakterisieren und deren Begründungen darzustellen. A u f diese Weise werden - man scheut sich zu sagen moderne - usül al-fiqh-Darstellungen des 20. Jahrhunderts aus der Binnenperspektive des islamischen Rechtssystems in ihren Eigendeutungen rekonstruiert. Die Systematisierung der Argumentationen und Begründungen orientiert sich weitgehend an den von islamischen Autoren selbst vorgenommenen Strukturierungen, so daß auf diese Weise ein zusammenhängendes analytisch-begriffliches Netzwerk erschlossen werden kann. c) Ein derartiges methodisches Vorgehen bedeutet aber auch die Bereitschaft, nicht von vornherein die Problemdarstellungen und Methoden der westlichen Islamwissenschaft in den Vordergrund oder gar in das Zentrum zu rücken, wie das nicht eben selten bei nicht muslimischen Autoren geschieht. Es gilt, die normativen Erkenntnisinteressen der Muslime selbst, so wie sie in usül al-fiqh-Abhandlungen zum Ausdruck gelangen, zu berücksichtigen. Wenn im folgenden die Leitgedanken und Eigenbegrifflichkeit sunnitischer Lehrbuchautoren u. a. als Ausdruck und Formulierung zentraler Strukturprinzipien angesehen werden, so bedeutet dies auf Seiten der Verf. keine Apologetik oder gar Identifikation mit islamischen Rechtsinhalten, deren inhaltliche Deutung oder Richtigkeit hier gar nicht zur Debatte steht. Die hier verfolgte Einlassung auf innerislamisches Denken und Argumentieren und dessen rekonstruierende Darstellung dürften allerdings für manche westliche Gelehrte islamischen Rechts gewöhnungsbedürftig sein. Dies gilt insb. für die historischen' Auskünfte im Rahmen von usül al-fiqh. Sie dürfen nicht mit einer geschichtlichen Rechtsbetrachtung verwechselt werden. Vielmehr handelt es sich, wie i m folgenden zu zeigen ist, um rechtsdogmatische Zweckschöpfungen und die Konstruktion bzw. Rekonstruktion sunnitisch-islamischer Rechtsvorstellungen, die sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt haben. Sie stehen i m Dienste einer einleitenden Darstellung der Genese und Geltungsgrundlagen des islamischen Rechts, so wie sich dieses von seinen Anfängen her für den heutigen muslimischen Rechtsgelehrten darstellt. Die Verf. hält es deshalb im Interesse einer konzisen Gesamtdarstellung auch nicht für angebracht, die entsprechenden Gedankengänge ständig durch relativierende Kommentare der westlichen Islamwissenschaft zu unterbrechen. In diesem Sinne setzt die vorliegende Untersuchung die Kenntnis islamischer Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik geradezu voraus und stellt insofern keine Einführung in usül al-fiqh dar. d) Auszugehen ist i m folgenden vom Anspruch der Scharia, den Alltag umfassend durch das Religionsgesetz zu regeln. Da keine Trennung von Religion und

Vorwort

VII

Recht vorgesehen ist und alles Recht letztlich auf ein und dieselbe Quelle, nämlich Gottes Recht zurückgeführt wird, ist unser Augenmerk neben den dort ausgewiesenen einzelnen Rechtsquellen des weiteren auf die Prüfung und das Ausmaß der normativen Vorgaben zu richten, die sich in Form von Rechtsprinzipien, Rechtsregeln und Maximen für alles Recht ergeben. Es ist natürlich ein Faktum, daß eine Reihe von islamischen Staaten sich nicht bzw. nicht vollauf an religionsrechtlich approbierten Standards und Kriterien orientiert. Das tatsächliche Zusammenspiel von religiösem und staatlichem Recht und die Frage, in welchem Ausmaß die Scharia in verschiedenen arabisch-islamischen Ländern effektiv wirksam ist, steht hier jedoch nicht zur Debatte, sondern ist Angelegenheit entsprechender Einzelstudien. Auch wenn in der Mehrzahl arabisch-islamischer Staaten bestimmte Rechtsbereiche nicht hinreichend oder nur lückenhaft durch die Heiligen Texte und die sonstigen, von ihnen abgeleiteten Rechtsquellen der Scharia in inhaltlicher Hinsicht geregelt werden, so wird doch Sorge dafür getragen, daß das bloß staatliche Recht (qänün) - sei es rein oder gemischt-europäischer Provenienz - dem islamischen Recht zumindest nicht widerspricht. Die Scharia vermag insofern, selbst dort, wo sie expressis verbis gar nichts zu regeln beansprucht, als zentraler Integrationsfaktor zu fungieren. Staatliches Recht muß sich stets an der Scharia messen lassen. Welche Vorstellung vom Bestand und von der Hierarchie islamischer Rechtsquellen nicht nur traditionelle islamische Juristen hegen, sondern auch muslimische Rechtvergleicher und Experten für staatliches Recht, welche ebenfalls Unterricht in usül al-fiqh zu erhalten pflegen und zuweilen die Klassiker gar nicht zu Gesicht bekommen, ist somit von besonderer Bedeutung. 2. Bei den hier untersuchten Texten zum tradierten Islam wurde - ergänzend zum klassischen Repertoire der Rechtsquellen - eine gezielte Analyse des Diskurses zeitgenössischer Lehrbücher sunnitischer Provenienz zur islamischen Rechtsmethodologie und zur allgemeinen Rechtslehre vorgenommen. I m Zentrum standen dabei die Rechtsquellenlehren. Die gegenständliche Konzentration richtete sich auf Schriften des 20. Jahrhunderts, die grosso modo einem tradierten Verständnis folgen. Diese Orientierung am Mainstream zeitgenössischen islamischen Rechtsdenkens bzw. eines solchen der letzten Generationen schließt gewisse Neuerungen nicht aus, sondern ein. a) Extreme Lehren radikaler Natur, welche die Bindung an die tradierten Heiligen Texte schlechthin mißachten, blieben als nicht zum Gegenstand gehörig ausgespart. Reformer, Modernisten, Fundamentalisten oder Extremisten, welche die Abschaffung bestehender oder die Kreierung gänzlich neuer Quellen auf ihre Fahnen geschrieben haben, sich von außerislamischen Ordnungen inspirieren lassen oder die Diskussion öffentlichkeitswirksam politisieren oder gar pervertieren, werden bewußt ausgeklammert. Innerhalb der präsentierten traditionellen Lesarten gibt es natürlich eine gewisse Bandbreite von mittlerweile weithin adaptierten Reform Vorschlägen bzw. ohnehin bestehenden innerislamischen Variationen, wie sie insb. durch Rechtsschulzugehörigkeit bedingt sind. Solche Unterschiede bleiben nicht unerwähnt, stehen aber nicht im Zentrum der Untersuchung.

Vili

Vorwort

b) Schiitische Lehren sind ebensowenig Gegenstand dieser Arbeit. Von den grundlegenden Werken von Löschner und Halm einmal abgesehen, sind zwei wichtige neuere Studien zur schiitischen Rechtsmethodologie zu nennen, die seither vorgelegt wurden. Es handelt sich um Devin Stewart, Islamic Legal Orthodoxy : Twelver Shiite Responses to the Sunni Legal System (1998) und Robert Gleave, Inevitable Doubt : Two Theories of Shfi Jurisprudence (2000). c) Hier ist ferner nicht der Ort für interkulturelle Vergleiche mit außerislamischen Gottesrechten oder gar säkularen Rechtsordnungen. Es geht i m Gegenteil darum, die normative Eigenständigkeit des islamischen Rechts in seiner Selbstreflexion aufzuzeigen und ein Stück des Weges zu verfolgen. So berechtigt und interessant demgegenüber von westlichen Islamwissenschaftlern, Juristen, Historikern u. a. vorgestellte Analysen und Vergleiche mit jüdischem, christlichem, römischem, vormodernem oder säkularisiertem westlichen Recht erscheinen mögen, so wenig besagen sie gegenüber dem hier zu explorierenden normativen Universalitätsanspruch der Scharia. d) Die Sondierung des bezeichneten Textsegments innerhalb der jahrhundertealten klassischen Quellentexte der usül al-fiqh dient einem weiterführenden Zweck. Die Quellendiskussion ist schließlich zentral für die islamische Kultur insgesamt. Sie kommt in vielgestaltiger Form in juristischen und theologischen Diskursen zum Tragen. In meinen eigenen Untersuchungen hat sie mich auf Schritt und Tritt verfolgt - angefangen bei meiner Dissertation Die Hurma: Schariatrechtlicher Schutz vor Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit nach arabischen Fatwas des 20. Jahrhunderts bis hin zur Analyse von modernen medizinrechtlichen Fatwas. Die Analyse der in den Fatwas mitgeteilten Begründungen vermag zu zeigen, welche Rechtsquellen im jeweiligen konkreten Falle herangezogen wurden und deshalb auch in künftigen gleichartigen Fällen zu berücksichtigen sind. Die Frage nach den einzelnen Quellen wird vor allem dann akut, wenn - wie i m Falle der Organtransplantation - die Normen erst schrittweise neu gewonnen werden müssen. Es galt somit, für diese Arbeit einen begrifflichen Rahmen und ein Verfahren zu entwickeln, welches einen hinreichend weiten wie detaillierten Blick auf das Gesamtgefüge approbierter Rechtsquellen gestattet. Die bezeichnete Lehrbuchliteratur mit ihrer Selbstreflexion über ein gottgefälliges Instrumentarium zur Rechtsfortbildung erlaubte es am ehesten, von der in der Islamwissenschaft üblichen Fixierung auf historische und dogmatische Unterschiede abzugehen. Die vorgestellte Literatur zeigt insgesamt einen hohen Grad an Reflektiertheit und Flexibilität. Die Verf. hofft, daß es dieser Untersuchung auch gelingt, dem Zerrbild einer vermeintlich apodiktischen, wenig differenzierungsfähigen Scharia und ihrer Jurisprudenz, das nun wirklich nicht der Wahrheit entspricht, zu begegnen. Es gibt i m Bereich der juristischen Methodik, formal gesehen, mehr Gemeinsamkeiten mit der westlichen Jurisprudenz als gemeinhin angenommen wird. Dies gilt auch eingedenk der Tatsache, daß zwischen islamischem und westlichem Recht, rechtsinhaltlich betrachtet, vielfach radikale Unterschiede bestehen.

Vorwort

IX

3. Diese Arbeit, die am Orientalischen Seminar der Universität Tübingen während meiner sechsjährigen Tätigkeit als Wissenschaftliche Assistentin entstand und abgeschlossen werden konnte, wurde i m April 1999 von der Fakultät für Kulturwissenschaft als Habilitationsschrift angenommen. Meine Tätigkeit als Privatdozentin am Orientalischen Seminar in Tübingen, Probevorträge an verschiedenen deutschen Universitäten sowie zwei längere Forschungsaufenthalte in den USA (Princeton, Harvard), deren letzterer noch andauert, haben das Druckfertigmachen dieser an sich längst abgeschlossenen Arbeit wiederholt verzögert. a) Ganz besondere Dankbarkeit hege ich gegenüber meinem Habilitationsvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Josef van Ess. Durch seine ständige Gesprächsbereitschaft, seine Kenntnis der Wissenschaft von den Grundlagen des islamischen Rechts (usül al-fiqh) und der hermeneutischen Methoden in Jurisprudenz und Theologie hat er mir manche Wege gewiesen und Umwege erspart. Besonders i m Hinblick auf das Kernproblem von Religion und Recht, wie Wissen legitimerweise gewonnen werden kann, habe ich von seinen eigenen Untersuchungen zur Unterscheidung zwischen Wahrheit und normativer Richtigkeit profitiert. Neben seiner Geduld in wissenschaftlichen Fragen danke ich ihm auch für seine Ungeduld, wenn es darum ging, mir die strikte Einhaltung des vereinbarten Zeitplans nahezulegen. Zu danken hat die Verf. ferner dem Tübinger Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Heinz Halm, der durch seine besondere Kenntnis auch des schiitischen Islams sowie der Instrumentalisierung islamischer Geschichte in der Moderne mit Debatten über die Legitimation heiliger Quellen und die theologisch-juristische Deutung von Geschichte besonders vertraut ist und dadurch einige wertvolle Anregungen beisteuern konnte. Ein weiteres Tübinger Gutachten wurde von Prof. Dr. Heinz Gaube (ebenfalls Orientalisches Seminar) vorgelegt. Hierfür gebührt ihm Dank, auch wenn die Verf. nicht alle seine Ratschläge verwirklicht hat. Das juristische Fachgutachten, das wichtige Einsichten, insb. zum Stellenwert des Gewohnheitsrechts beisteuerte, wurde von Herrn Prof. Dr. Jan Schröder, Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Universität Tübingen, erstattet, wofür ich ihm sehr zu Dank verpflichtet bin. b) Mein ganz besonderer Dank gilt dem externen Fachgutachter, Herrn Prof. Dr. Wolfhart Heinrichs, James Richard Jewett Professor of Arabic am Department of Near Eastern Languages and Civilizations an der Universität Harvard (Cambridge, Mass.). Wegen seiner Vertrautheit mit den hermeneutischen Theorien in Poesie, Theologie und Jurisprudenz in Verbindung mit seiner besonderen Kenntnis mittelalterlicher Rechtsmethodologie und Scharia-Gelehrsamkeit als dem Kernstück islamischer Rechtskultur und Bildung habe ich vielfach von seinen Anregungen und Überlegungen profitieren können. Sie waren für die endgültige Gestalt dieser Arbeit sehr wichtig und haben mir auch darüber hinaus weitergeholfen. Neben seinem ausführlichen Gutachten und seinen eigenen Untersuchungen zur mittelalterlichen Methodologie hat er mir in meiner Zeit als Visiting Scholar in Harvard (im akademischen Jahr 2 0 0 0 - 2 0 0 1 an der Harvard Law School sowie 2001 - 2 0 0 2 am Center for Near Eastern Studies) auch i m Gespräch wichtige Hinweise gegeben.

Vorwort Der Sache nach habe ich mich mit seinen Vorschlägen insbesondere in zwei Punkten auseinandergesetzt: Erstens wurden bloß interpretatorische, ausschließlich rechtsinhaltliche Argumentationzusammenhänge, die in den usül al-fiqh-Werken naturgemäß breiten Raum einnehmen, in der vorliegenden Fassung weitgehend ausgespart. Sie sind in der Tat von Fortbildungen des Rechts, die sich stets einem Rückgriff auf dessen anerkannte Quellen verdanken, oft nur sehr schwer zu unterscheiden und abzugrenzen. Was den einen als bloße Hermeneutik gilt, bedeutet für andere bereits eine Quelle der Rechtsfortbildung oder gar der Willkür. Die inhaltliche Erörterung und Einbeziehung derartiger Maßnahmen in die Rechtsquellenproblematik wäre infolgedessen zwar raumfüllend, aber nicht sehr ertragreich gewesen. Dementsprechend habe ich mich - Heinrichs folgend - bemüht, stärker als bisher zwischen (i) dem juristischen Analogieschluß i m rechtstechnischen und methodischen Sinne und (ii) der Analogie als Rechtsquellenproblem zu unterscheiden. A u f diese Weise konnte die hier gebotene Darstellung zu „Analogie als abgeleitete Rechtsquelle" von bloß methodisch-hermeneutischen Erwägungen zum Analogieschluß und verwandten Argumentationsformen entlastet werden. Ein weiterer, höchst erwägenswerter Hinweis von Heinrichs gilt dem - hier allerdings nicht zu lösenden - Problem, den in dieser Arbeit untersuchten Diskurs gegenüber (i) der klassischen arabischen usül al-fiqh-Literatur, (ii) der westlichen Islamwissenschaft und (iii) demjenigen der modernen islamischen Reformer abzugrenzen. Z u m einen lassen sich diese Diskurse wegen vielfach bestehender Überschneidungen nicht scharf voneinander trennen. Zum anderen hätte ein Versuch, die Unterschiede wirklich eingehend herauszuarbeiten, den Umfang der Arbeit um ein Vielfaches erweitert und die hier gebotene systematische Darstellung der Rechtsquellenproblematik i m tradierten sunnitischen Islam, wie er heutzutage - auch durchaus produktiv - fortgeschrieben wird, eher verwässert. Derartige Differenzen und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, muß folglich anderweitigen Veröffentlichungen vorbehalten bleiben. c) In Tübingen konnte ich bei der Arbeit an meiner Habilitationsschrift auf die hervorragenden Bestände des Sondersammelgebiets „Vorderer Orient / Nordafrika" zurückgreifen und danke der dortigen Universitätsbibliothek für ihr großzügiges Entgegenkommen und ihre Hilfe. Während meines Forschungsaufenthaltes in Princeton am Institute for Advanced Study (IAS), School of Historical Studies (akademisches Jahr 1999/2000), der mir durch ein Forschungsstipendium der Fritz Thyssen-Stiftung ermöglicht wurde, waren mir wegen des Vorranges des neuen Forschungsprojekts die Abschlußarbeiten an dem alten nur ganz sporadisch möglich. Ich konnte jedoch bei der Arbeit an beiden die glänzend ausgestattete FirestoneBibliothek konsultieren. Frau Prof. Dr. Patricia Crone vom IAS danke ich sehr herzlich für ihre Unterstützung meiner Untersuchungen und dafür, daß sie mir den Zugang zu diesen Einrichtungen ermöglicht hat. Ihr Seminar am IAS zur Selbstund Fremddefinition von Sunnismus in frühen und mittelalterlichen arabischen Schriften hat meinen Sinn für Probleme der Übersetzung, Sprachverwendung und korrekten Terminologie i m Umgang mit arabischen Texten sehr geschärft.

Vorwort

XI

Erst der Wechsel von Princeton nach Harvard, der durch ein mir ab Mai 2000 gewährtes Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seit September 2000 ermöglicht wurde, gestattete mir - neben meiner Arbeit am bisherigen und einem weiteren Projekt - auch eine Wiederaufnahme der für den Druck dieser Untersuchung unerläßlichen, abschließenden Arbeiten. Einiges ist seit Abschluß dieser Arbeit an Literatur erschienen bzw. konnte von mir erstmals eingesehen werden, was keinen Eingang mehr gefunden hat (vgl. auch den EI 2-Artikel zu „Usül al-fikh" von Norman Calder). Nach Möglichkeit habe ich mich jedoch bemüht, seitdem erschienene wichtige Schriften zumindest in den Fußnoten zu berücksichtigen. Da jedoch thematisch ein sehr breiter Bereich abgedeckt wird, erscheinen natürlich zu den vielfältigen Themen der verschiedenen Unterkapitel fortlaufend neue Publikationen. Durch meine Teilnahme als „Visiting Scholar" am „Islamic Legal Studies Program" der Harvard Law School (akademisches Jahr 2000/2001) hatte ich nicht nur Zugang zur dortigen Präsenzbibliothek, sondern konnte auch in der schier unerschöpflichen Widener-Bibliothek der Universität Harvard arbeiten. Für die Genehmigung, seine Vorlesung „Comparative Law: Islamic Legal Systems" zu hören, danke ich dem Programm-Direktor, Prof. Dr. Frank E. Vogel. Seinem Assistant-Director, Frau Dr. Peri Bearman, danke ich für mancherlei Hilfestellungen, insbesondere für ihre Vermittlung bei der Wohnungsbeschaffung. Schwer zu sagen, worin die Unterschiede bestehen, wenn Unterricht über islamisches Recht weitgehend in englischer oder deutscher Sprache erteilt wird. Uber ersteres hat der bereits erwähnte Bernard Weiss aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrungen vielleicht am gründlichsten nachgedacht und berichtet. M i r selbst erschien es - vom Standpunkt arabischer Sprache und juristischer Sprachverwendungen betrachtet - angebracht, die von mir in der Übersetzung ins Deutsche gebrauchten Ausdrücke des geltenden islamischen Rechts noch stärker in das System der Eigenbegrifflichkeit von usül al-fiqh zurückzubinden. Was die sprachliche Differenzierung und die Terminologie verschiedener normativ relevanter Disziplinen, wie beispielsweise der Theologie und der Jurisprudenz, angeht, so haben mir bei dem Versuch, die diversen begrifflichen Bedeutungen zu bestimmen, vor allem die Kurse von Prof. Wolfhart Heinrichs zu „Classical Arabic Philology" sehr geholfen. In diesem Sinne habe ich nach einem weiteren Wechsel, diesmal an das Center for Middle Eastern Studies (akademisches Jahr 2 0 0 1 - 2 0 0 2 ) und inspiriert durch den Besuch des Unterrichts zur mittelalterlichen Scharia-Gelehrsamkeit auf arabischer Textbasis am Department of Near Eastern Languages and Civilizations, ein letztes Mal den Leidensweg durch diese Schrift angetreten, um sie dem Leser durch Überarbeitung des Personen- und Sachverzeichnisses, wie ich hoffe, leichter zugänglich zu machen. d) Zwar ist es i m modernen Recht und unter Juristen, islamischen wie deutschen, üblich, in erster Linie problemorientiert - und nicht ab auctoritate! - zu argumentieren, so daß der einzelne Autor mit seiner persönlichen Meinung ge-

Vorwort wohnlich hinter die rechtliche Argumentation zurücktritt, was für die Scharia in ganz besonderem Maße gilt. Es kann jedoch, wie gerade van Ess stets betont, nicht ganz belanglos sein, wer die Autoren sind und wann sie lebten. In das vorliegende Schrifttumsverzeichnis wurden deswegen, soweit dies den Publikationen als Selbstdarstellung zu entnehmen war, in eckiger Klammer Angaben zur Person eingefügt, um die Autoren mit sparsamen biographischen Notizen vorzustellen. Ins Personenverzeichnis wurden aber nicht alle Autoren aufgenommen, sondern nur diejenigen Verfasser und Figuren islamischer Rechtsgeschichte, die wegen ihres nachhaltigen Einflusses auf die heutigen Erörterungen der Rechtsquellenproblematik auch historisch gesehen besondere Beachtung verdienen. U m ihre Einordnung in den zeitlichen Kontext zu erleichtern, wurden in runder Klammer wichtige Lebensdaten, wie insb. das europäische Sterbedatum, beigefügt. I m Sachverzeichnis, das die arabischen Worte und Begriffe des islamischen Rechts voranstellt, wird jeweils eine Übersetzung ins Deutsche beigefügt, so daß - richtig verstanden - ein in sich kohärentes Begriffssystem in deutscher Sprache entsteht. A u f zentrale Textstellen, die der weiteren Erläuterung derartiger Rechtsbegriffe dienen, wird bei den Seitenangaben in Fettdruck verwiesen. U m Lesern ohne Kenntnisse des Arabischen das Nachschlagen und Aufsuchen von Querverweisen zu erleichtern, wurde in ähnlicher Weise auch mit den deutschen Entsprechungen verfahren. Ich möchte zum Abschluß noch einmal meinen tiefempfundenen Dank für die großzügige Förderung ausdrücken, die ich durch die Fritz Thyssen-Stiftung (Köln) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Bonn), jetzt auch i m Rahmen meines Heisenberg-Stipendiums, erfahren habe. Die DFG hat außerdem die Drucklegung dieser Arbeit mit einem namhaften Zuschuß zu den Druckkosten unterstützt. Leider kann ich hier nicht allen danken, in deren Schuld ich stehe und die mir im Laufe der Jahre auf mancherlei Weise geholfen haben. Zu nennen ist jedoch mein Doktorvater und langjähriger akademischer Lehrer, Prof. Dr. Werner Ende, der maßgeblich meine besonderen Interessen an der Fortschreibung von Traditionen i m zeitgenössischen Islam geprägt hat. I m Zusammenhang mit dieser Arbeit bedanke ich mich vor allem bei Herrn Professor Dr. Hilmar Krüger, Institut für ausländisches und internationales Privatrecht der Universität Köln sowie Leiter des Rechtsreferats der Bundesagentur für Außenwirtschaft, für viele hilfreiche und weiterführende Hinweise. Durch einige Vorträge, wie z. B. auf dem Deutschen Orientalistentag in Halle, konnte ich entscheidende Teile dieser Habilitationsschrift noch während ihrer Entstehungssphase i m Freilandversuch testen. Wichtig dafür waren auch die Vortragseinladungen von Frau Prof. Dr. Monika Gronke an das Orientalische Seminar der Universität Köln sowie von Dr. Maribel Fierro an den Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, Instituto de Filologia (Madrid). Sie haben mir sehr geholfen, wesentliche Gedankengänge konziser und - hoffentlich - noch etwas geländegängiger zu gestalten. Ganz besonderen Dank für Hilfestellungen vielfältiger Art schulde ich ferner meinem Arabisch-Lehrer und Kollegen, Herrn Dr. Edward Badeen, der als Lektor für Arabische Sprache schon während meines Studiums in Freiburg und dann in Tübingen meinen wissenschaftli-

Vorwort

XIII

chen Weg begleitet und gefördert hat und heute als Lektor in Basel und Zürich lehrt. Herrn Prof. Dr. jur. h. c. Norbert Simon, dem geschäftsführenden Gesellschafter des Verlages Duncker & Humblot, Berlin, danke ich sehr herzlich für seine großzügige Förderung und die Aufnahme dieser Untersuchung in die „Schriften zur Rechtstheorie". Meinen Eltern danke ich für vielfältige Unterstützung und meinen beiden Töchtern, Lina und Laura, für die Geduld, die sie der Arbeit ihrer Mutter entgegenbrachten, auch wenn sie bei Abschluß der Niederschrift gelegentlich ,Habilitation' spielten. Cambridge, Mass. (USA), i m M a i 2002

Birgit Krawietz

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

Erster Abschnitt

Genese und Geltungsgrundlagen des islamischen Rechtssystems § 1 Islamisches Recht in der Frühzeit 1. Gesetzgebung zur Zeit Muhammads a) Göttliche Herabsendung von Gesetz und Recht

12 16 16

b) Gesetzgebungsmacht und Rechtsquellenlage

18

c) Eigenheiten der Jurisprudenz zur Zeit Muhammads

20

2. Vom igtihäd des Propheten

21

a) Muhammad als eigenständiger Schöpfer von Recht?

21

b) Irrtümer und Fehler Muhammads bei der Ausübung seines igtihäd

22

c) Propheten-igtihäd als Rechtsquelle

24

3. Normative Wirksamkeit der Prophetengefährten {sahäba) a) Igtihäd-Befugnis

der Prophetengefährten zu Lebzeiten Muhammads

25 27

b) Relevanz von Meinungsstreitigkeiten unter den sahäba

30

c) Eigenheiten, Errungenschaften und Stellenwert der Gesetzgebung zur Zeit der Rechtgeleiteten Kalifen

33

§ 2 Konstitution und Phasen islamischer Jurisprudenz 1. Errungenschaften der Nachfolger

46 46

a) Kennzeichen und Merkmale der formativen Phase

47

b) Entwicklung und Verfälschung des Hadith

49

c) Rechtliche Willkür

53

2. Blüte und Entwicklung der islamischen Jurisprudenz

54

a) Juristen und Jurisprudenz unter der Obhut der Abbasiden

55

b) Verschriftlichung und Fixierung von Sunna und Recht

57

c) ,Freie' Rechtsfindung (igtihäd)

59

XVI

Inhaltsverzeichnis 3. Schulen islamischen Rechts und Eigenheiten ihrer Methodologie

62

a) Malikiten

63

b) Hanafiten

64

c) Schafiiten

66

d) Hanbaliten

69

§ 3 Stagnation, Erstarrung und Neubeginn islamischen Rechtsdenkens 1. Zeitalter des taqlld

70 70

a) Voraussetzungen und Gründe für den taqlid b) Merkmale taqlid-gestützter Jurisprudenz 2. Islamisches Recht in der Moderne

74 77 79

a) Entwicklungstendenzen und neuer Aufschwung islamischen Rechts

79

b) Wandel und Umbruch im islamischen Recht des gegenwärtigen Zeitalters ..

82

Zweiter Abschnitt

Primärquellen des islamischen Rechtssystems § 4 Koran als Rechtsquelle

87

1. Merkmale, begriffliche Bestimmung und normative Definition des Korans

87

a) Koran als Wort Gottes und schrittweise Offenbarung seines Inhalts

88

b) Arabischer Koran und Probleme seiner Übersetzung

91

c) Authentizität des Korans und seiner Lesarten

95

2. Unversehrte Herabsendung und Fixierung des Korans auf Dauer

98

a) Korrekte Aufnahme und Anordnung der Verse und Suren

99

b) Schriftliche Fixierung des Korans auf Erden 3. Geltung und Beweiskraft ihuggiyya) des Korans

100 104

a) Heiligkeit des Korans und koranisches Wunder als Beweise seiner göttlichen Herkunft 105 b) Normative Aspekte und Konsequenzen des koranischen Wunders 4. Rechtliche Bestimmungen des Korans a) Kategorische und präsumtive Bestimmungen

106 108 110

b) Verhältnis von allgemeinen und speziellen Bestimmungen im Koran

111

c) Rechtliche Regelungsbereiche des Korans

112

Inhaltsverzeichnis § 5 Prophetensunna als Rechtsquelle 1. Ausdrucksformen und Regelungsbereiche der Sunna

115 115

a) Begriffliche Bestimmung und normative Definition der Sunna

115

b) Formen normativer Äußerungen des Propheten

116

c) Gegenstandsbereiche der Sunna

118

2. Belege für die Beweiskraft der Sunna

121

a) Koranische Begründung der Sunna

121

b) Normative Eigenständigkeit und Selbstbegründung der Sunna

125

c) Gegner der Sunna als Rechtsquelle

129

3. Formen der Überlieferung authentischer Sunna

134

a) Sunna mutawätira

135

b) Sunna ähädiyya

141

c) Sunna mashüra

149

§ 6 Koran und Sunna als komplementäre Formen islamischen Rechts 1. Normative Verbindung von Koran und Sunna

151 151

a) Bestätigende Sunna

152

b) Verdeutlichung, Begründung und normative Konkretisierung des Korans durch Sunna

154

c) Schweigen des Korans

156

2. Abrogation (nash) von Rechtsbestimmungen im Rahmen der Scharia

160

a) Begriffliche Bestimmung und Einordnung

160

b) Belege für die Existenz von nash im Rahmen der Primärquellen

162

c) Arten und Bedingungen normativer Abrogation

170

3. Relevanz von Offenbarungsgesetzen im Vorfeld von Koran und Sunna

172

a) Definition von sar man qablanä

174

b) Verhältnis des Islam zu vorislamischen Offenbarungsreligionen und ihrer Gesetzgebung

175

c) Erwähnung nichtislamischer Regeln in Koran und Sunna

177

XVIII

Inhaltsverzeichnis Dritter Abschnitt

Sekundärquellen des islamischen Rechtssystems § 7 Sekundäre Rechtserzeugung im Rahmen der Scharia 1. Konsens (igma) als abgeleitete Rechtsquelle a) Konsens als dritte der allgemein anerkannten Quellen

182 182 182

b) Autorität und Anwendbarkeit des igma

184

c) Legitimation und normative Bedingungen des igma

193

2. Analogie (qiyäs) als abgeleitete Rechtsquelle

203

a) Begründungen der Autorität des qiyäs

206

b) Bestandteile und Bedingungen der Analogie

214

§ 8 Rechtlich geschützte Interessen, Ziele und Zwecke (maqäsid) als normative Orientierungspunkte 223 1. Notwendigkeit göttlicher Anleitung zur Erkennung schützenswerter Interessen (masälih) 224 a) Religionsrechtlich unterschiedliche Einstufung und Regelung von Interessen 224 b) Rechtliche Anerkennung und kategoriale Unterscheidung von Interessen ... 227 2. Dreistufigkeit rechtmäßiger Interessen

229

a) Notwendigkeiten und Grundwerte der islamischen Lebensordnung

229

b) Islamisches Recht als Mittelweg der Verwirklichung bedürfnisorientierter Interessen

232

c) Anerkannte Interessen als Optimierungs- und Vermeidungsgebote

234

3. Prinzipien, Maximen (2 Al-Zuhayll, Al-Igtihäd wal-hayäh, S. 72 f. '3 Klingmüller, Entstehung und Wandel, S. 399-402.

4

Einleitung

tradierten Rechtsquellen und das zugehörige Schrifttum angeht, an den nötigen Editionen. Nicht von ungefähr hat van Ess 1 4 schon 1974 den Mangel an Editionen beklagt und auf die islamwissenschaftlichen Defizite bei der Erforschung der Rechtsquellen hingewiesen, wenn er bemerkt: „Die Wissenschaft von den usül alfiqh findet nicht viele Liebhaber." a) Was die usül al-fiqh-Literatur, hier verstanden i m Sinne der tradierten Rechtsquellenlehre, als Gegenstand westlicher Forschungen angeht, so listet das Handbuch der Islam-Literatur von Gustav Pfannmüller aus dem Jahre 1923 unter dem Titel „Die ,Wurzeln' oder Grundlagen der Pflichtenlehre: Koran, Hadith, Idschmä, Qijäs" insgesamt acht Titel auf. Diese Beiträge setzen sich - unter Ausnahme von Goldzihers kurzem igma-Artikel - mit diesen vier „Wurzeln" eher am Rande und nur en passant auseinander. 15 Auch Spies und Pritsch erfassen in ihrer 1964 veröffentlichten Bibliographie (fast ausschließlich) westlicher Rechtsliteratur aus der Zeit von 1870-1959 nur 26 einschlägige Einträge. 1 6 Demgegenüber bietet der bibliographische Überblicksartikel von John Makdisi aus dem Jahre 1986 unter der Rubrik „Legal Reasoning" immerhin 85 Einträge. 1 7 Die meisten dieser usül-Studien gelten jedoch Spezialfragen und nicht systematischen Analysen, geschweige denn den tradierten Rechtsquellenlehren. Das leider nur alphabetisch nach Autoren geordnete, dafür aber kommentierte „Repertorio bibliografico de derecho islamico" von 1993 enthält unter seinen 574 Einträgen 37 rechtstheoretisch einschlägige. Auch hier wird deutlich, daß der in jüngster Zeit zu verzeichnende Boom an islamwissenschaftlicher Literatur mit rechtlichem Inhalt in starkem Maße auch diverse Genres juristischer Literatur erfaßt hat, nicht aber vordringlich die Theorie der Rechtsquellen. Die Erforschung von usül al-fiqh-Literatur steht heute zwar insgesamt besser da, als die 1994 von Laila al-Zwaini und Rudolph Peters herausgegebene Bibliographie glauben macht, 1 8 doch verfügt sie offensichtlich nicht, wie manche andere Bereiche islamischer Geistestätigkeit, über eine lange und zugleich breite Tradition in westlicher Forschung. Eine Ausnahme stellen die seit den 80er Jahren erscheinenden, für die juristische Methodenlehre bedeutsamen Untersuchungen von Wael Hallaq dar. b) U m die diversen Defizite nach Möglichkeit zu beheben, gehen die Beiträge westlicher Islamwissenschaft gewöhnlich von frühen oder klassischen usül al-fiqhTexten aus. Sie verfolgen in zumeist historischer Perspektive die Entwicklung bestimmter Grundbegriffe und Leitideen oder arbeiten deren spezifische Bedeutung 14

Vgl. seine Rezension zu Kitab Ikhtilaf usuli Ί-madhahib of QadT Nu man b. Muhammad, S. 300. 15 Pfannmüller, Handbuch der Islam-Literatur, S. 246 f. 16 Spies/Pritsch, Klassisches islamisches Recht, S. 278 f. 17 Makdisi, Islamic Law Bibliography, S. 142- 146. Vgl. ferner die Beiträge im Index Islamicus, der zudem von Muslimen auf Englisch verfaßte Literatur enthält. 18 Al-Zwaini/Peters, A Bibliography of Islamic Law , 1890-1993. Die Seiten 44-49 enthalten Veröffentlichungen zum Thema „The Sources of the Law'% doch sind auch die Einträge unter anderen Stichworten zu berücksichtigen.

Einleitung bei ausgewählten Autoren heraus. 19 In diesem Bereich bleibt neben der Edition von Handschriften noch sehr viel zu tun, um einzelne Juristen und ihre Stellung in der Gesamttradition und i m Gefüge der unterschiedlichen Denkstile angemessen würdigen zu können. 2 0 Seit Weiss, The Search for God's Law (1992), verfügen wir erstmals über die - wenn schon nicht übersetzende, so doch paraphrasierende Darstellung eines voll ausgereiften mittelalterlichen usül ^/-//^-Standardwerks, das einen ganzen Kosmos zugehöriger Fragestellungen behandelt. 21 M i t einer vergleichbaren flächendeckenden Erschließung zahlreicher anderer klassischer Autoren dürfte jedoch in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten wohl kaum zu rechnen sein. 2 2 Weiss hat an seinem 745 Seiten umfassenden Werk, wie er selbst mitteilt, über 20 Jahre gearbeitet, 23 doch am Ende seiner inhaltlichen Darstellung von Ämidl's (gest. 1232 n. Chr.) Ihkäm heißt es, dessen vierter und letzter Teil „leaves us with the distinct impression that it is but an overview of, or introduction to, a vast and complicated field of inquiry within Islamic theoretical jurisprudence". Es zwinge den Leser, „who wishes to undertake a full exploration of this subject to turn to other sources". 24 Es erscheint in der Tat geboten, auch auf anderen Wegen „tief hinein in das Dickicht der usül al-fiqh" 25 vorzudringen, um Einblick in die normativen Zusammenhänge des islamischen Rechts zu gewinnen. c) In der westlichen usül al-fiqh-Literatur wird allenthalben berechtigterweise vor einer uniformen Betrachtungsweise gewarnt. Dies ist mit Blick auf die Theorie der Rechtsquellen auch in zeitlicher Perspektive zu beachten, wenn der Versuch unternommen wird, die Vergangenheit und Gegenwart als ein Kontinuum zu deuten. Es kann nicht darum gehen, die mittelalterlichen Schriften und die modernen Darstellungen des islamischen Rechts miteinander zu konfundieren. 26 Die Spann19

Hallaq, Usül al-fiqh , S. 180, benennt als die zu behandelnden Aspekte (i) „choice of particular contents", (ii) „method of their arrangement" sowie (iii) „the extent to which these contents are explicated". Er erblickt darin jedoch „but three symptoms of a more fundamental variety of doctrine with which one must deal if a serious study of usül al-fiqh is to be undertaken". 20 Zur Edition klassischer und früher usül al-fiqh-Texte s. Bernand, Hanafi usül al-fiqh, S. 273-276; Bernand, Manuscrits inédits , S. 215 ff. Laut Bernand, Hanafi usül al-fiqh, S. 623, sind in den Bibliotheken zwar zahlreiche rechtstheoretische Manuskripte erhalten, aber sie werden nicht im gebotenen Maße veröffentlicht, weil sie schwer zugänglich sind und keine ausreichenden Anstrengungen unternommen werden, sie zu sammeln. Laut Heinrichs, At-Tufì , S. 9, erscheint „jede Vermehrung des verfügbaren Materials" als erwünscht. 21 Eingehend zu al-Ämidis Ihkäm und der Deutung von Weiss die Rezensionsabhandlung von Krawietz, Sprache, Recht und Theologie, S. 137- 147. 22 Masuds SätibT-Monographie ist bereits eine Analyse von dessen Schlüsselbegriffen. S. dazu die Rez. v. Krawietz. Zum Topos der Begründung der usül al-fiqh durch al-Säfi cI s. Hallaq, Master Architect. Die hier einschlägige Dissertation von Joseph E. Lowry, The Legal-Theoretical Content of The Risala of Muhammad b. Idris al-Shafi'i (University of Pennsylvania) liegt noch nicht als reguläres Buch gedruckt vor. 2 3 Weiss, Search, S. XXIV. 2 4 Weiss, Search, S. 738. 25

Vgl. van Ess, Erkenntnislehre,

S. 382.

Einleitung

6

weite der vertretenen Auffassungen reicht von bloßer Buchstabentreue bis zu einem liberalen Pragmatismus, doch gibt es keinen ein für allemal fixierten Kanon von Lehrmeinungen, sondern es fanden und finden ständig neue Akzentverschiebungen statt, 2 7 welche es wahrzunehmen gilt. Zwar gibt es inzwischen, wie das Schrifttumsverzeichnis am Ende dieser Untersuchung ausweist, eine ganze Reihe von Beiträgen, welche die ,Quellen des Rechts' sogar i m Titel führen, doch sind diese meist kursorischer Natur. Auch lassen sie gewöhnlich eine adäquate Behandlung der Sekundärquellen vermissen. So behandelt beispielsweise Zysows Untersuchung klassischer Literatur seinem selbstgewählten Schwerpunkt folgend keine umstrittenen Sekundärquellen, wie curf, sadd al-darai und istishäb. Die masälih mursala sowie istihsän finden bei ihm nur am Rande Erwähnung - am Ende seines Kapitels über die Analogie im Recht. Gewisse Überschneidungen und Vergleichsmöglichkeiten mit der hier vorliegenden Untersuchung ergeben sich jedoch im Hinblick auf seine Darstellung der letzten drei von insgesamt vier kanonischen Quellen, insbesondere bei seiner Behandlung der Frage, ob jeder zur Rechtsfortbildung befugte mugtahid recht hat. 2 8 In gewisser Weise vergleichbar ist auch die Studie von Löschner von 1971, Die dogmatischen Grundlagen des siitischen Rechts, der sie zwar i m Untertitel als eine Untersuchung zur modernen imämitischen Rechtsquellenlehre bezeichnet, jedoch genaue Definitionen von usül al-fiqh und hermeneutische Fragen miteinbezieht. Er untersucht aber hauptsächlich die schiitischen Primär- und Sekundärquellen. Sowohl für das schiitische wie für das sunnitische Recht gilt, daß insgesamt relativ wenig über die umstrittenen Sekundärquellen gesagt wird, jedenfalls dann, wenn man dem westlichen Schrifttum folgt. 2 9 Das schiitische Recht bleibt, wie schon der Titel dieser Untersuchung anzeigt, i m folgenden weitgehend ausgeklammert. 3. Offensichtlich gibt es im Bereich des islamischen Rechts und seiner Lehren von den Rechtsquellen - zumindest was den derzeitigen Erkenntnisstand der westlichen Islamwissenschaft angeht - eine Reihe von Defiziten, die bislang nur im Umriß erkannt sind. Diese Defizite und Mängel gilt es zu identifizieren, genauer zu analysieren und nach Möglichkeit zu beheben. Dies führt zu der Frage, welcher Weg i m folgenden zu beschreiten ist, um diese Aufgabe anzugehen. a) Allem Anschein nach kann die Struktur und Funktion der Rechtsquellen und Wurzeln, d. h. der Grundlagen, auf denen das islamische Rechtssystem basiert, nur dann besser verstanden werden, wenn man sehr viel stärker als bisher auf das Selbst-Verständnis und die Selbst-Darstellung der tradierten islamischen Rechtsquellenlehren zurückgeht. Im folgenden wird deshalb der arabischen Rechtssprache besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es wird zu zeigen sein, daß sie die je26 Hallaq, Rez. Kamali, S. 209 f. 27 Hallaq, Usül al-fiqh, S. 179. 28 Zysow, Certainty, S. IV ff. 29 Auch Schacht, Art. Usui, EI 1 IV, S. 1142- 1146, schneidet die über die vier kanonischen Quellen weit hinausreichende Problematik sekundärer Rechtsquellen nur an.

Einleitung weils aktuellen rechtsnormativen Problemstellungen in einem Maße reflektiert, wie es eine Übersetzung ins Deutsche 3 0 häufig nur unvollkommen oder ungelenk wiederzugeben vermag. 3 1 Auch kann und sollte man sich hier von der Überzeugung Gräfs leiten lassen, „daß nur Originaltexte muslimischer Juristen die Eigenart und den Gedankenreichtum des Fiqh zeigen können' 4 . 3 2 Dazu gehört auch, daß die Relevanz und Reichweite rechtstheoretischer Einsichten an einer möglichst hohen Zahl von Beispielsfällen überprüft wird, die im islamischen Schrifttum bereits aufbereitet sind. Inwieweit bei der Analyse, Ausgestaltung und Verwendung der längst etablierten Rechtstexte und -quellen auch die orthodoxen Rechtsschulen (madähib) noch differieren oder sich i m rechtspraktischen Einzelfalle an die eigenen Lehren gehalten haben und weiterhin halten, steht - wie noch zu zeigen sein wird - freilich auf einem ganz anderen Blatt. I m folgenden geht es vor allem darum, nicht etwa von vornherein Problemstellungen und Methoden der westlichen Islamwissenschaft in den Vordergrund oder gar in das Zentrum zu rücken, wie das noch allzu häufig auch bei der Behandlung der islamischen Rechtsquellenlehren geschieht. Sie haben sich aber schon bislang als wenig fruchtbar erwiesen, jedenfalls dann nicht, wenn es sich um rechtsnormative Fragestellungen handelt. Die westliche Forschungsliteratur zu Koran und Sunna ist Legion, aber sie erfaßt bisweilen nicht die Betrachtungsweise, um die es im Bereich der usül al-fiqh nun einmal geht. Nicht von ungefähr wird deshalb von den Vertretern einer islamischen Theorie der Rechtsquellen zunehmend gefordert, die Führungsrolle beim Aufbau einer derartigen Theorie müsse den Leitgedanken sunnitischer usül al-fiqh-Autoren überlassen bleiben. 3 3 Ganz in diesem Sinne geht es im folgenden darum, das islamische Recht und seine Rechtstheorie wirklich ernst und das heißt beim Wort zu nehmen. b) Infolgedessen wurden hier nicht allein bekannte mittelalterliche Verfasser und deren Quellentexte ausgewählt, um aus ihnen die zugehörige Theorie der Rechtsquellen von gestern und vorgestern zu entnehmen, herauszuarbeiten bzw. zu rekonstruieren. Gegenstand der Untersuchung sind vielmehr ausgewählte Lehrbücher und vergleichbare Überblicksdarstellungen des 20. Jahrhunderts. Die meisten von ihnen stammen aus den letzten Jahrzehnten. Sie sind zum Großteil vor dem Hintergrund der modernen Staaten westlicher Prägung geschrieben, in denen die islamische Scharia in aller Regel höchstens partiell an der Gesetzgebung beteiligt ist, aber verbindliche Vorgaben für alles staatliche Recht zu machen beansprucht. 34 Inwieweit sich diese staatliche Realität auch in ,moderner' usül al-fiqh-Literatur

30

Koranzitate folgen aus Gründen besserer Lesbarkeit der Übersetzung von Khoury. Vgl. Hallaq, Ihn Taymiyya, S. XIX: „What is essential in Arabic is not necessarily so in English" und, so möchte man hinzufügen, „is not necessarily so in German". 32 Gräf, Wesen, S. 13. 31

33

Vgl. Hallaq, Consensus, S. 430. Eingehend zum Verhältnis von religiösem und staatlichem Recht Heine, Qanun und Scharia, S. 111 ff. 34

Einleitung

8

niederschlägt oder mehr oder weniger ausgeblendet wird, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung, kann aber nicht unberücksichtigt bleiben. 3 5 Auswirkungen der Moderne treten auch sonst vielfach zutage. Sie werden hier zwar berücksichtigt, doch wird ein Vergleich mit der vormodernen Literatur nicht angestrebt. Meines Wissens ist bislang weder ein arabisches usül al-fiqh-Lehrbuch ins Deutsche übersetzt worden noch eine jener modernen Schriften, die den igtihäd, die Rechtsgewinnung oder -fortbildung i m Titel führen. 3 6 Schriften zum igtihäd haben einen regelrechten Boom erlebt, seit dieser i m Sog zahlreicher Reformer das Ghetto der reinen Jurisprudenz verlassen hat und zum Schlachtfeld von Neuerern unterschiedlichster Couleur wurde. Die Autoren der einschlägigen Lehrbücher werden hier zu Rate gezogen als repräsentative Vertreter der - an der herrschenden Meinung orientierten - Standardliteratur zu den Quellen des islamischen Rechts, auch wenn sich bei ihnen bisweilen gewisse Reformvorschläge und Neuerungen abzeichnen. In diesen Lehrbüchern wird die Geschichte des islamischen Rechts nicht ausgeschlossen, doch hat sie bei der Suche nach dem geltenden Recht eine dienende Funktion. Die Geschichte des Rechts allein beweist nicht, was richtig und gut ist. Auch läßt die Orientierung an den Problemen des islamischen Rechts durch Vergleich der zugehörigen Antworten normative Ubereinstimmungen und Redundanzen erkennen, die für die Rechtsgewinnung bei neuen Fallkonstellationen genutzt werden können, weil sie nicht selten Bagatellvariationen enthalten. A u f diese Weise wird die von diesen Autoren betriebene Wissenschaft selbst zu einer Quelle dessen, was i m Islam als Recht gilt. Es erscheint daher aussichtsreich, die geistigen Grundausrichtungen und heutigen Instruktionen, die in diesen Lehrbüchern i m Hinblick auf sämtliche Rechtsquellen enthalten sind, zu untersuchen, denn aus ihnen läßt sich entnehmen, welchen Begriff sich die angehenden islamischen Rechtsgelehrten (fuqahä') von den usül al-fiqh machen. Sofern solche Publikationen biographische Angaben zum Verfasser und zu seiner Lehrtätigkeit machen, werden diese in aller Kürze ins Schrifttumsverzeichnis aufgenommen.

35

Grundsätzlich zeigten sich Muslime seit jeher „reluctant to abandon the traditional theory of sources of Islamic law even as legal developments proceed in a manner that suggests that traditional theory is inadequate to account for the ways that Islamic law is currently evolving", Mayer, Shartah, S. 178. Ist bereits ein allgemeines „Muslims' strong attachment to the traditional theory of sources and its centrality to the understanding of Islamic law as it has been known for over a millenium" gegeben, Mayer, Shan ah, S. 198, so gilt dies um so mehr für die ,modernen' Vertreter und Sachwalter der zuständigen Disziplin. 36 Eine gewisse Ausnahme ist das Lehrbuch von Kamali, The Principles of Islamic Jurisprudence, das jedoch keine Ubersetzung darstellt, sondern als Lehrbuch für den englischsprachigen Unterricht in Malaysia und andernorts erstellt wurde. Abgesehen davon, daß es in Englisch abgefaßt wurde, „there is little to distinguish it from the innumerable Arabic works on Islamic jurisprudence produced by scholars writing in the Middle East", Hallaq, Rez. Kamali, S. 209. Vgl. ferner Aghnides, Mohammedan Theories of Finance, S. 6 f., der im Vorspann „an explanation of the principles (arkan or usui )" bietet, „on the basis of which Mohammedan law ifiqh) is derived from the above mentioned revealed sources", S. 6.

Einleitung U m das System der Rechtsquellen, den Grad ihrer Akzeptanz, ihrer Beziehungen untereinander oder gar einer Hierarchie der Rechtsquellen näher zu erforschen, reicht die Lektüre eines oder mehrerer Lehrbücher nicht aus. Häufig gelingt erst durch Zusammenstellung vieler Stimmen, was durch die Lektüre eines einzelnen Texts nicht möglich ist. Da in diesem Schrifttum einzelne Quellen zum Teil sehr kurz vorgestellt werden, erwies es sich als unumgänglich, ergänzend auch Einzelstudien zu den verschiedenen Quellen heranzuziehen, um ihrem Wesen und ihren Beziehungen untereinander näher auf den Grund zu gehen. Diesen Vorgehens weisen sind jedoch i m Interesse einer pragmatischen Bewältigung des Gesamtstoffs enge Grenzen gesetzt. Dies wird in exemplarischer Weise deutlich, wenn Zysow i m Rahmen seiner Behandlung von istihsän bemerkt: „The legal issues raised by this topic are so complex that anything like an adequate treatment is out of the question." 3 7 I m Grunde bedürfte jede der Rechtsquellen und der zugehörigen Grundbegriffe einer analytisch-begrifflichen monographischen Behandlung, die sehr weitgehend noch fehlt oder doch defizitär ist. Dies gilt leider - mehr oder weniger - für jeden der hier behandelten Grundbegriffe der islamischen Theorie der Rechtsquellen. Dies darf jedoch nicht dazu führen, letztere erst gar nicht in Angriff zu nehmen. I m folgenden wird der Versuch unternommen, in der gebotenen Kürze für jede der zu behandelnden Rechtsquellen (i) den genauen Quellencharakter, (ii) die [Selbst-]Begründung und [Selbst-]Legitimation der jeweiligen Quelle und (iii) ihre Einordnung in das Gesamtsystem des islamischen Rechts zu behandeln. c) Wer sich mit der Analyse des islamischen Rechts und seiner Quellen befaßt, um deren Grundlagen zu ermitteln, der gelangt sehr rasch zu der Einsicht, daß die Rechtstheorie, insbesondere die Theorie der Rechtsquellen, es zugleich mit zwei verschiedenen Zeitpunkten oder Phasen der Rechtsbetrachtung zu tun hat, nämlich (1) mit der anfänglichen Entstehung sowie (2) der derzeitigen Geltung und Anwendung des Rechts. Es geht, etwas anders formuliert, um Ursprung und Entwicklung des heutigen islamischen Rechts in den diversen Phasen seiner Genese, d. h. von den Anfängen bis zur Gegenwart. I m Hinblick auf die juristische Hermeneutik des Umgangs mit islamischen Rechtstexten bedeutet dies, daß man unterscheiden muß zwischen (i) einer entstehungszeitlichen sowie (ii) einer anwendungs- und geltungszeitlichen Interpretation des Rechts. Dies wirft zugleich die Frage auf nach der Geschichte des islamischen Rechts und ihrem Verhältnis zur islamischen Rechtsquellenlehre. I m folgenden wird hier, wie später noch deutlicher werden wird, unterschieden zwischen der islamischen Rechtsgeschichte einerseits sowie der Genese und den Geltungsgrundlagen des islamischen Rechts andererseits. Es liegt auf der Hand, daß die islamische Rechtsquellenlehre nicht ohne bestimmte ,historische' Grundannahmen verstanden werden kann, doch sind die Erkenntnisinteressen der Rechtsgeschichte durchaus nicht identisch mit denjenigen der usül al-fiqh-Literatur, insbesondere der Rechtsquellenlehre. Für die Geschichtswissenschaft ist die rechtliche Geltung und juristische Verbindlichkeit, um 37 Zysow, Certainty , S. 399.

10

Einleitung

die es der islamischen Rechtsquellenlehre zu tun ist, in ihrer Normativität weder erreichbar noch erstrebenswert, da letztere den Perspektivenreichtum wirklicher Geschichtsschreibung ignorieren oder doch zumindest selektiv behandeln und damit künstlich beschränken muß. Zwar behandeln usül al-fiqh-Schriften die Genese der Rechtsquellen nicht zu gleichen Mengenanteilen, doch gehen sie zumindest in aller Kürze darauf ein und übernehmen gewöhnlich gewisse Grundannahmen. Von letzteren wird noch eingehend die Rede sein. Meistens ist der Darstellung der einzelnen Quellen ein historischer' Teil vorangestellt oder aber es finden sich entsprechende Aussagen bei den Quellen selbst. Zur Vervollständigung wurden auch hier Monographien islamischer Rechtsgeschichte aus usül al-fiqh-Perspektive herangezogen. I m Rahmen solcher historischen Aussagen werden zugleich Dinge erörtert, die auch als Rechtsquellen im Gespräch sind und deswegen bei muslimischen Autoren häufig zweifach aufgegriffen werden, nämlich i m historischen Vorspann und bei den Quellenlehren, beispielsweise der igtihäd des Propheten, derjenige seiner Gefährten (sahäba) und die „Rechtspraxis der Bewohner von Medina Carnai ahi al-Madina)". Sie werden hier i m ersten Abschnitt bei der Genese behandelt. Die Ansichten über die Anfänge und die geschichtliche Entwicklung des islamischen Rechts klaffen zwischen muslimischen Autoren und westlicher Islamwissenschaft bisweilen weit auseinander. Es erscheint deshalb sinnvoller, hier zunächst einmal die Voraussetzungen gewisser muslimischer Positionen und ihre Folgen für die Darstellung des Gesamtsystems der Rechtsquellen herauszuarbeiten. Bezogen auf die islamische Rechtsquellenlehre war, ist und bleibt die Rechtsgeschichte, so wie sie vom Standpunkt westlicher Islamwissenschaft betrieben wird, für viele Muslime eine heikle Angelegenheit. Da zahlreiche der usül al-fiqh-relevanten Angelegenheiten aus immanent rechtlichen Gründen auf die Regelungen der Frühzeit zurückgeführt werden müssen, um auf legitime Weise begründet werden zu können, werden an sich saubere historische Forschungsleistungen des Westens, die dem nicht selten entgegenstehen, von frommer muslimischer Seite häufig nicht goutiert bzw. gar nicht erst als solche eingestuft. Dies betrifft nicht nur die Sunna als klassischen Zankapfel, sondern ist auch bei der Behandlung anderer Quellen erkennbar. Neben dem nicht weiter erstaunlichen Ignorieren westlicher Forschungsliteratur finden sich gelegentlich Seitenhiebe, die den Unmut über die - vermeintlich schlechten - Absichten westlicher Autoren artikulieren. Dieser Unmut erstreckt sich nicht allein auf unterschiedliche historische Perspektiven, sondern kommt auch dann auf, wenn von westlichen Islamkundlern oder Juristen vor- oder außerislamische Einflüsse auf einige Quellen behauptet werden oder bestimmte Quellen, wie z. B. curf oder istihsän, als unislamisch hingestellt werden. Für einen rein historisch arbeitenden, juristisch nicht geschulten Islamkundler mag demgegenüber die i m ersten Abschnitt (§§ 1 bis 3) enthaltene usül al-fiqh-Darstellung der Genese und Geltungsgrundlagen des islamischen Rechtssystems in ihren wechselseitigen, vielfältigen Verflechtungen, bloß historisch betrachtet, als vollkommen inadäquat erscheinen, doch geht es hier gar nicht um eine rechtshistorische Analyse und Ar-

Einleitung gumentation. Es handelt sich vielmehr um eine normative Rekonstruktion, d.h. um eine typisierende Betrachtung der Entwicklung, Phasen und Abläufe, in denen sich die islamische Rechtsordnung aufbaute, reproduzierte und fortentwickelt hat. Der Aufbau einer islamischen Theorie der Rechtsquellen kann auch interdisziplinär betrachtet werden. 3 8 Er wird in der Tat nicht nur bestimmt durch Anleihen bei der Geschichte, sondern auch bei der Theologie und Philosophie. 3 9 Es fragt sich somit, welcher Disziplin in den Auseinandersetzungen um die ,richtige' Analyse der Quellen des Rechts der Vorrang gebührt. Folgt man Khadduri, so muß bei dem religiösen Recht der Scharia davon ausgegangen werden, daß die hierdurch aufgeworfenen Grundlagenfragen als „at bottom" theologisch zu bezeichnen sind, „since an inquiry into what would constitute an authoritative ,supplement' to the Koranic revelations is a doctrinal, not a legal argument". 4 0 Diese Antwort erscheint jedoch wenig zufriedenstellend, da - wie i m folgenden zu zeigen ist - sich in der Entwicklung der Vorschriften der Scharia schon sehr früh eine gewisse Verselbständigung von rechtlichen Vorschriften und Regeln abzeichnete, die nur von der sich gleichfalls verselbständigenden islamischen Jurisprudenz adäquat behandelt werden konnte. Der Zugang zur vielschichtigen Thematik der Rechtsquellen liegt jedoch, wie weiter unten darzulegen ist, nicht in einer Art Geschichts- oder Rechtstheologie, sondern in den i m Rahmen von usül al-fiqh gewöhnlich erörterten Grundlagen und in den mitgeteilten Begründungen des geltenden Rechts.

38 Reinhart, Ethics, S. 187; Hallaq, Usül al-fiqh, S. 183 f. 39

Auf einige erkenntnistheoretische und rechtslogische Probleme bei der Analyse und Darstellung von Normen, insbesondere derjenigen des Rechts, wird im Rahmen des § 10 einzugehen sein. 40 Khadduri, Nature and Sources, S. 17.

Erster Abschnitt

Genese und Geltungsgrundlagen des islamischen Rechtssystems § 1 Islamisches Recht in der Frühzeit Was die Genese und die Herausbildung der Geltungsgrundlagen des islamischen Rechts sowie des Rechtssystems insgesamt angeht, so sind gerade dessen frühe Phasen zwischen islamischen und westlichen Gelehrten stark umstritten. Dies gilt besonders für die neuen Sichtweisen, die mit den Namen Goldziher, Schacht, Wansbrough und Calder verknüpft werden. 1 Auch wenn gerade die islamische Frühzeit und Fragen der Entstehung des islamischen Rechts häufiger Gegenstand westlicher Forschung waren und nach wie vor sind, 2 bleibt die auf dem X I X . Deutschen Orientalistentag gemachte Feststellung, daß wir „von einer lückenlosen wissenschaftlichen Erkenntnis der islamischen Rechtsgeschichte noch weit entfernt" sind, insgesamt zutreffend. 3 Das mit dieser Untersuchung verfolgte Anliegen ist jedoch nicht - jedenfalls nicht unmittelbar - ein rechtsgeschichtliches, auch wenn es sich an Untersuchungen der islamischen Rechtsgeschichte orientiert. Es handelt sich in diesem ersten Abschnitt auch nicht um eine historische Darstellung des islamischen Rechts, hier verstanden als eine Art ,Gesetzgebungs'-Geschichte, sondern um eine typisierende 4 Rekonstruktion seiner normativen Genese, wie sie uns aus dem Kontext des islamischen juristischen Schrifttums sowie der Behandlung allgemeiner und spezieller Themen in den Bereichen von furu al-fiqh oder usül al-fiqh geläufig ist. 5 Viele wsw/-Uberblicke enthalten zumindest kurze Ubersichten über die i m folgen1 Vgl. hierzu vor allem den Abschnitt „Western Scholarship on Islamic Law" von Calder, Art. Law, Oxford Encyclopaedia II, S. 451. Detaillierte Angaben über die „Anfänge der islamischen Jurisprudenz in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts" finden sich bei Motzki, Anfänge der islamischen Jurisprudenz, S. 7 - 4 9 et passim. Vgl. ferner Motzki, Entstehung des Rechts, S. 154 - 169. 2 Eingehend zum „state of the field" Crone, Roman, Provincial and Islamic Law, S. 1-17. 3 Dilger, Orientalistik, S. XXXII. 4 Zur Typenbildung im Hinblick auf den Islam und sein Recht Fikentscher, Modes of Thought, S. 15 f., 415 f. 5 Es muß auffallen, daß - wie z. B. die Ausführungen von Müsä, Tärlh, S. 197, belegen das hier und im folgenden zu berücksichtigende Schrifttum auf westliche Stimmen nur relativ selten eingeht.

§ 1 Islamisches Recht in der Frühzeit

13

den zu behandelnden Positionen, ganz abgesehen von Monographien muslimischer Autoren zur Geschichte des islamischen Rechts. Es geht vor allem darum, zu einem vertieften Verständnis der Entstehung, Begründung und [Selbst-]Rechtfertigung der Geltungsgrundlagen des islamischen Rechts zu gelangen. Die folgenden Darlegungen wollen und können somit die genaue Kenntnis der islamischen Rechtsgeschichte gar nicht ersetzen, sondern müssen sie voraussetzen. Die hier verfolgten Erkenntnisinteressen sind aber nicht diejenigen der Rechtsgeschichte, sondern der islamischen Rechtstheorie. Ferner scheint eine gewisse Schwierigkeit für die hier anzustellenden Untersuchungen darin zu liegen, daß ihr Gegenstand das religiöse Recht der Scharia ist, also eine i m wesentlichen theonome Ordnung. Deren Charakter erscheint vor allem dadurch geprägt, daß ihr Ursprung in dem erblickt wird, was Gott geoffenbart und in den heiligen Texten (Koran, Sunna) verbrieft hat. 6 Es erscheint jedoch übertrieben, wie dies gelegentlich - vor allem von westlicher Seite - geltend gemacht wird, allein schon deswegen zu vermuten, daß eine geschichtliche, insbesondere rechtsgeschichtliche Betrachtungsweise hier überhaupt nicht Platz greifen könne. Dies sei „eine Schwierigkeit, die nicht nur moderne Muslime, sondern Anhänger aller prophetischen Religionen" betreffe, die nun einmal mit der Forderung konfrontiert seien, „Offenbarung als Geschichte zu denken und zu glauben". Dies hat aber nicht zumindest für die islamische Jurisprudenz und Rechtstheorie nicht - zur notwendigen Folge, daß i m Hinblick auf das islamische Recht nur mehr „geschichtstheologische Anschauungen" 7 möglich seien oder eine rechtstheologische Betrachtung unvermeidbar ist. Es ist zwar richtig: „Der vielzitierte ,Finger Gottes in der Geschichte' läßt sich mit wissenschaftlichen Mitteln nicht sichtbar machen; wer ihn dennoch sehen möchte, kann das nur aufgrund seines Glaubensaktes tun." 8 Dies gilt aber auch für die ,Rechts Wahrheiten 4 der westlichen Verfassungen, die bei aller Aufgeklärtheit der ihnen zugrundeliegenden Geltungsansprüche auf den (säkularisierten) ,Rechtsglauben 4 ihrer Adressaten angewiesen sind, nämlich auf die Überzeugung von der Richtigkeit der von Verfassungs wegen geltenden Leitideen, Ziele, Zwecke und Werte, in denen sich die Gemeinwohlvorstellungen (Interessen) der Gesellschaft artikulieren, auch wenn der religiöse Gedankeninhalt längst abgestreift wurde. 9 Ohne den in der Bevölkerung verbreiteten ,Glauben an die Richtigkeit 4 seiner Rechtsordnung vermag heute kein Rechtssystem auszukommen. Der historisch verwirklichte Erfolg des Islams als Glaubensordnung, aber auch als politische und rechtliche Ordnungsmacht strukturiert die Erwartungen dahingehend, daß sich die eigene Rechtgläubigkeit auf Dauer durchsetzen muß und darauf möglicherweise sogar einen Anspruch hat. 1 0 Die i m folgenden anzustellenden Analysen versuchen, 6

Dazu § 4 und 5. ι Wielandt, Offenbarung , S. 81. 8 Wielandt, Offenbarung, S. 4. 9

Hierzu vor allem § 10, vor 1. So meint Muslehuddin, Philosophy, S. 95: „How can it be said that Shari'ah is deficient when it functioned most successfully not only in the days of the Prophet and of the 10

14

1. Abschn.: Genese und Geltungsgrundlagen des islamischen Rechtssystems

alle derartigen Ansprüche anhand einschlägiger Texte zu überprüfen. Dafür genügt es nicht, den arabischen Wortlaut der jeweiligen Rechtstexte rein sprachlich zu verstehen. Vielmehr kommt es darauf an, ihre Bedeutung und ihren normativen Sinn zu erschließen. Dies erscheint nur möglich, wenn man sich an den vielfältigen Indikatoren (adilla ) orientiert, die eine rechtliche Regelung anzeigen. Wer die Genese des islamischen Rechtssystems verstehen will, tut gut daran, i m Ausgang von den durch die jeweiligen Texte indizierten Regelungen die Wurzeln des Rechts eingehend zu analysieren. Dies macht es erforderlich, den langwierigen Entwicklungsprozeß, 11 den das islamische Recht durchlaufen hat, von vornherein in die Untersuchung einzubeziehen. Gerade an den jeweiligen Verschiebungen oder gar Brüchen in der Rechtsentwicklung wird der Strukturwandel des Rechts deutlich. Bekanntlich gestaltete sich der Prozeß der Gewinnung und Entwicklung des Rechts unter dem Einfluß des Islams außerordentlich vielfältig und komplex, vor allem dann, wenn man ihn, wie dies im gesamten ersten Abschnitt geschieht, in der Langzeit-Perspektive betrachtet. Dies macht eine Periodisierung der jeweiligen Rechtsbetrachtung erforderlich. Jedoch geht es auch hier nicht um eine rechtsgeschichtliche, sondern um eine rechtstheoretische Periodisierung, die bewußt von rechtshistorischen Details absieht. Offensichtlich sind sich die Autoren darüber einig, daß dem islamischen Recht ein langer Entwicklungsprozeß eingeräumt werden muß, der auch gegenwärtig bei weitem nicht zum Abschluß gelangt ist. Wie Khadduri 1 2 richtig bemerkt, wären diese Entwicklungen weniger kompliziert und verwirrend gewesen, wenn sich die muslimische Gemeinschaft auf Arabien beschränkt hätte. Als spezifische Phasen des islamischen Rechts werden jeweils Zeiträume angesetzt, die in stärkerem Maße als andere bestimmte, ihnen gemeinsame Charakteristika (fjasais) aufweisen. I m einschlägigen Schrifttum hat es sich eingebürgert, die gesamte Entwicklung des islamischen Rechts in Abschnitte (marähil) einzuteilen, welche jeweils als Phase (dawr) bezeichnet werden. Und obwohl sich die Autoren über die grundsätzliche Notwendigkeit einer Einteilung (taqsim) im klaren sind, sind sie „unterschiedlicher Meinung hinsichtlich der Zählung dieser Phasen, erstens wegen der gegenseitigen Überlagerung (tadä^ul) und zweitens wegen der Ähnlichkeit dieser Phasen". 13 In den dieser Untersuchung zugrundeliegenden Analysen von muslimischer Seite werden unterschiedliche Mehr-Phasen-Modelle verwendet. Das wohl üblichste unterscheidet sechs Phasen (