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German Pages 404 [406] Year 2021
Friedemann Drews
Hermeneutik und kritische Bibelexegese in Augustins De Genesi ad litteram
Klassische Philologie Franz Steiner Verlag
Palingenesia | 131
Palingenesia Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft Begründet von Rudolf Stark Herausgegeben von Christoph Schubert Band 131
Hermeneutik und kritische Bibelexegese in Augustins De Genesi ad litteram Friedemann Drews
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Coverabbildung: Phönix aus einem byzantinischen Mosaik aus Antiochia am Orontes, jetzt im Louvre (Paris) © akg-images / Erich Lessing Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13110-0 (Print) ISBN 978-3-515-13112-4 (E-Book)
für Lisa Sophie
Danksagungen Das vorliegende Buch ist innerhalb der zweiten Phase meines Heisenberg-Stipendiums an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entstanden. Die Bedingungen am Institut für Klassische Philologie waren für meine Arbeit ideal ebenso wie der Austausch mit und die Unterstützung durch Professores Christine Schmitz, Christian Pietsch, Niko Strobach und Walter Mesch. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich für ihre großzügige Förderung zutiefst dankbar. Die Arbeit an diesem Buch (2018–2020) hat mehrere, ganz unterschiedliche Unterbrechungen erfahren, v. a. bedingt durch den Tod meiner beiden Eltern. Daher musste seine Erstellung in kürzerer Zeit erfolgen als angedacht sowie unter den bekannten Corona-Einschränkungen seit 2020. Auch während meiner zweisemestrigen Professurvertretung an der Universität Osnabrück (2018–19) hat dieses Projekt weitgehend geruht: Insofern besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Erarbeitungsmodus dieser Studie und Augustins eigener Abfassung von De Genesi ad litteram, da der Kirchenvater diese in zwei verschiedenen Phasen vorgenommen haben soll. Trotzdem hoffe ich, dass dieses Buch insgesamt einen annehmbaren Versuch darstellt, in welchem De Genesi ad litteram als Ganzes von seiner inneren Einheit her interpretiert wird. Nicht zuletzt bin ich dankbar dafür, auch die zweite innerhalb meines Heisenberg-Stipendiums geplante Monographie so noch zu einem Abschluss bringen zu können. Besonders herzlich danken möchte ich Herrn Professor Christoph Schubert für die unkomplizierte Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Palingenesia sowie für wertvolle Hinweise und Korrekturen. Für die sehr gute und angenehme Betreuung durch den Franz Steiner Verlag möchte ich Frau Katharina Stüdemann und Frau Andrea Walker meinen Dank aussprechen. Von unschätzbarem Wert war für mich die Hilfsbereitschaft meines Freundes, Niels Grewe, M. A., der keine Mühe gescheut hat, das gesamte Skript inhaltlich und sprachlich durchzusehen. Für entscheidende Hinweise bin ich Professores Christian Tornau und Christian Pietsch zutiefst dankbar. Der sicherlich größte Dank gilt meiner Frau Ulrike und meiner Tochter Lisa Sophie, die mich in den Jahren der intensiven Arbeit an diesem Projekt unterstützt, mir auch immer wieder den nötigen Freiraum gewährt und geschaffen haben. Münster, im Juni 2021
Friedemann Drews
Inhaltsverzeichnis Eine ‚unwissenschaftliche‘ Vorbemerkung als Einstieg: Augustins Exegese heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Wozu Augustins Bibelexegese? Vorüberlegungen zur historischen und disziplinären Einordnung sowie ein kurzes Plädoyer für einen möglichst vorurteilsfreien Blick aus der Postmoderne auf ‚die‘ Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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De Genesi ad litteram: Buch I 2. Hermeneutische Prinzipien Augustins differenziertes Wirklichkeitsverständnis als Grundlage seiner Bibelexegese in Abgrenzung gegen eine naturgesetzlich begründete Verabsolutierung historischer Realität in der Moderne 3. Einstieg in die literale Exegese der Genesis Fragen als Ausdruck der Aporie? Oder der methodisch behutsame Weg durch den Irrgarten der Interpretationsmöglichkeiten: Inwiefern spricht Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fiat lux – welches Licht? Vertragen sich neuplatonische Philosophie und biblische Exegese? Literalsinn, Allegorie, Seinskonstitution, Trinität, Personalität und interreligiöse Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Trinität, Gutheit und das Schweben des Geistes über dem Wasser . . . . . . . . . . . 6. Vor Zeit und Tag Die literale Interpretation eines nicht-historischen Textinhalts und Gottes ‚intelligibler Sprechakt‘ Die Autorität der Schrift und die Evidenz der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Tage ohne Sonne, die ungeformte Materie und der Unterschied zwischen literal-geistiger Deutung und prophetischer Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
8. Eine Rückschau auf die hermeneutischen Prinzipien Pluralität, Abwehr von Fundamentalismen, Wahrheitsanspruch und die unbekannte Autorintention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 De Genesi ad litteram: Buch II 9. Natur und Wunder – Wasser über dem Himmel? Naturwissenschaft, philosophische Theologie und Narration . . . . . . . . . . . . . . . 64 10. Die Erkenntnis der Engel und die Stufen der Schöpfung Logos – Engel – Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 11. Der sichtbare Himmel, das trockene Land und das Wasser, die Reihenfolge der Geschöpfe und die vorzeitlichen Tage Die Schöpfungsprinzipien ‚Tag‘ und ‚Nacht‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 De Genesi ad litteram: Buch III 12. Elemente und intelligible Schöpfungsordnung Intellektives Begreifen und nicht-faktisches/nicht-fiktionales Erzählen. . . . . . 80 13. Gattungen der Tiere, aber nicht der Menschen Die in sich gute Schöpfungsordnung und die Folgen des Sündenfalls . . . . . . . . 83 14. Der Mensch als Abbild des dreieinigen Gottes – Schöpfung als Dialog Wie kritisch ist ein historisch-kritisches Wirklichkeitsverständnis oder weshalb bei Augustinus systematische Theologie, Exegese und Inspiriertheit der Schrift ineinander greifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 De Genesi ad litteram: Buch IV 15. Sechs Tage – wie und warum? Maß, Zahl und Gewicht: Der ontologische Status eidetischer Bestimmungen und ihre Abhängigkeit von dem transzendentunpartizipierbaren Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 16. „Und Gott ruhte von seinen Werken“ Augustins Hermeneutik zwischen theologischer Bibelkritik und literaler Exegese sowie die Entfaltung der Zeit aus der Wiederholung des einen Tags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 17. Der sich im Intelligiblen wiederholende eine Schöpfungstag und das Fehlen der Nacht Hinkehr zu Gottes Logos, die Differenzierung zwischen geistiger Erschaffung und materieller Verwirklichung sowie ein spezifisch-geistiges Schriftverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Inhaltsverzeichnis
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De Genesi ad litteram: Buch V 18. Von Gen 1 zu Gen 2 Der Übergang von Gottes Wirken aus der Ewigkeit in die Zeit, die zahlhaften Vernunftgründe und ‚historisch-kritisches Problembewusstsein‘ bei Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 19. Der überzeitliche dreifaltige Gott, die geistigen Seinsgründe der Welt und ihre Erhaltung „bis jetzt“ Die leichte Gotteserkenntnis, Erlösungstheologie sowie das Verhältnis von sprachlicher Ausdrucksweise und theologischem Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 De Genesi ad litteram: Buch VI 20. „Und Gott bildete den Menschen“ (Gen 2, 7) Das vorzeitliche ‚Damals‘ (tunc) eidetischer Seinspotenz und das zeitliche ‚Jetzt‘ (nunc) materieller Existenz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Autorität der Bibel: sola scriptura – und Aristoteles?. . . 167 21. Gottes Sprechen vor und in der Zeit: Schöpfungshierarchien und das Fehlen der Engel; Sündhaftigkeit ist nicht im Intelligiblen begründet Der Mensch als ganzheitliches Wesen zwischen Tier und Gott und das Kriterium von Wundern 173 22. Die in sich bestimmten Seinsmöglichkeiten des Sechstagewerks (Gen 1) und ihre kontingente Verwirklichung in der Materie (Gen 2) Philosophische Konsequenzen aus der differenzierten Zusammenschau der beiden Schöpfungsberichte, Gottes Allwissen und verschiedene Formen der Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 De Genesi ad litteram: Buch VII 23. Augustins christliche Seelenauffassung als Argumentation mit Platon gegen Platoniker Die mit ihrer Veränderlichkeit gut erschaffene Seele in ihrer trinitarischen Struktur, ihr Einwirken auf die materiellen Elemente und das Gehirn als ihr Werkzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 24. Die Seele will von Natur aus im Leib sein Überzeitliches Sechstagewerk und innerzeitlicher Werdeprozess Augustins exegetische Methode, die Notwendigkeit der Interpretation und das Prinzip des zusammenschauenden Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
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Inhaltsverzeichnis
De Genesi ad litteram: Buch VIII 25. Das Paradies und die Balance zwischen geistig-allegorischer und literal-historischer Exegese: tunc et nunc – das Intelligible als Möglichkeitsraum des Geschichtlichen Rückblick auf De Genesi contra Manichaeos 203 26. Flüsse, Ackerbau und Gottes Gnade im Paradies Das Ineinandergreifen von körperlich-literalen und geistig-literalen Aspekten: ein close reading von Gen 2, 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 27. Der gute Baum der Erkenntnis, der positive Schmerz über den Verlust des Guten, die nicht-notwendige Sünde, das Wissen um das Nichts und die vollkommen gute Natur des Erlösers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 28. Gottes Substanz und sein Sprechen im Paradies im literalen Sinn Systematische Rekapitulation der Schöpfungstheologie und Providenztheorie, die Hierarchie ‚Ewigkeit – Zeit – Raum‘ und der Vorrang der Ruhe gegenüber der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 De Genesi ad litteram: Buch IX 29. Das Spezifikum der Frau, der bleibende Segen der Fruchtbarkeit auch nach dem Sündenfall sowie das Gut der Ehe und das der Jungfräulichkeit Gnade und freier Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 30. Adams Betrachtung der Tiere und Evas Erschaffung Literalität, Prophetie, Psychologie und Sprachkonvention Die Methode des geistigen Durchdringens vs empirische Beobachtung und das Verhältnis von Naturgesetzlichkeit und Wundern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 De Genesi ad litteram: Buch X 31. Die Herkunft der Seelen und der methodisch positive Zweifel Adam und die Menschen, die Lust des Geistes und des Fleisches, die Erbsünde und das besondere Sein Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 De Genesi ad litteram: Buch XI 32. Nacktheit und Klugheit, Wille und Möglichkeit, Gottes Gerechtigkeit, Theodizee und die Theologie der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 33. Trotz seiner guten Erschaffung ein „Mörder von Anfang an“ Die Ursünde des Teufels und warum Gott nicht zum Komplizen des Bösen wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
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34. Die Augenöffnung, die Erkenntnis von Gut und Böse, der unmittelbare Tod und der Verlust der Gnade Nacktheit im geistigen und körperlichen Sinn, die wechselseitige Bezogenheit von Allegorie und Literalität und die Relevanz der bildlichen Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 35. Gottes Strafe über die Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies Die Vorzüge einer literalen Exegese gegenüber allegorisierenden Spekulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 De Genesi ad litteram: Buch XII 36. Paulus’ Entrückung ins Paradies Die Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit und der wissende Zweifel . . 304 37. Drei Arten des Schauens und das Beispiel der Liebe Erkenntnistheorie, Ekstase, bedeutende und unbedeutende Träume, die Erfahrung Geisteskranker und worüber man (nicht) getäuscht werden kann . 310 38. Sündlose Träume, gute und böse Geister, Wechselbeziehungen von Leib und Seele, die Wahrnehmungsfähigkeit blinder und sehfähiger Menschen . . . 320 39. Der Geist des Menschen und der des Offenbarers, die drei Stufen des ‚Sehens‘ und Ursachen von Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 40. Die abbildlich-spirituelle und die vom Quell des glückseligen Lebens trinkende intellektive Vision Mose und Paulus: Wer Gott in seinem Wesen schaut, kann nicht im Leib leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 41. Himmel und Hölle als spirituelle Wirklichkeiten Erkenntnistheorie, Erfahrung, Auferstehung und eine ganzheitliche Anthropologie Der geistige Literalsinn und eine irdische Allegorie: Augustins inhaltlich begründete, nicht-formalistische Hermeneutik. . . . . . . . . 342 42. Zusammenschau der Interpretationsergebnisse und Ausblick . . . . . . . . . . . 355 a) Augustins philosophisch-kritische Hermeneutik: Herausforderung für und Anschlussfähigkeit an (post-)modernes Denken. Innere Kohärenz, Textdeutung vs. Textgenese, ein philosophisch begründetes Geschichtsverständnis und die besondere Funktion der Narration . . . . . . . . . . . 355 b) Zum Werkcharakter und Aufbau von De Genesi ad litteram . . . . . . . . . . . . . . 374 c) Resümee: De Genesi ad litteram als exegetisch-hermeneutische Alternative zu vorherrschenden Modellen in der Bibelauslegung (historisch-kritische Methode, metaphorisierende Auslegungen) im Kontext des Fiat lux . . . . . . . . . 376 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
Eine ‚unwissenschaftliche‘ Vorbemerkung als Einstieg: Augustins Exegese heute? Das Licht ist wahrscheinlich auch das Wichtigste. Das Interessante daran ist, dass das Licht wahrscheinlich ewig ist. Für uns ist das etwas, was stillzustehen scheint, und gleichzeitig ist es Leben, es ist Bewegung. Arvo Pärt
Der Kirchenvater Augustinus hat in seinem Leben immer wieder mit der Auslegung der Bibel gerungen – vor allem mit ihrem Beginn, der Genesis. Wenn man dazu heute ein Forschungsprojekt betreibt und davon jemandem erzählt, muss man als erstes auf die Frage gefasst sein: ‚Ach, wozu brauchen wir das denn noch?‘ Impliziert scheint dabei der gewissermaßen typische Reflex: ‚Das ist doch alt, voraufgeklärt, also nur noch Geschichte, hat mit uns nichts mehr zu tun.‘ Oft treffen auch die besten Sachargumente, welche dafür sprechen (auch von ihnen wird in diesem Buch bei passender Gelegenheit die Rede sein), dennoch auf taube Ohren. Vielleicht sollte man also lieber aus einer ganz anderen Richtung zurückfragen: ‚Wo trifft denn bei uns heute biblische Spiritualität auf breite Resonanz?‘ Möglicherweise wirkt diese Frage auf manche eher wie ein Affront oder zumindest naiv. Und doch scheint es diese Re-Sonanz zu geben – und zwar gemäß dem lateinischen Literal(!)-Sinn: in der Musik. Während ich mit der Abfassung dieses Buchs beschäftigt war, fügte es sich, dass meine Frau und ich am 3. Februar 2020 in der Hamburger Elbphilharmonie einem herausragenden Konzert beiwohnten, das im Rahmen des von dem Musikproduzenten Manfred Eicher kuratierten „Reflektor“-Festivals dargeboten wurde: Das Tallinn Chamber Orchestra führte zusammen mit dem Estonian Philharmonic Chamber Choir unter der Leitung von Tônu Kaljuste Musik von Arvo Pärt auf, darunter die Stücke Adam’s Lament, Salve Regina, Te Deum und als Zugabe eine Vertonung des Vaterunser – v. a. Adam’s Lament greift mit der Paradiesgeschichte einen prominenten Text aus dem Anfang der Bibel auf. Von Pärt ist bekannt, dass er aus einer tief verwurzelten Religiosität heraus komponiert: Es wäre beinahe zu kurz gegriffen, wenn man lapidar feststellte, seine Musik gehe vom Text aus. Denn Pärt vertont nicht einfach Textsegmente oder einzelne Worte, sondern seine Musik ‚atmet‘ tatsächlich den geistigen Gehalt in seiner Ganzheit, noch über dessen textlich-wörtliche Kodierung hinaus.
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Eine ‚unwissenschaftliche‘ Vorbemerkung als Einstieg: Augustins Exegese heute?
Nicht von Arvo Pärt, sondern von dem Kirchenvater Augustinus handelt indes das vorliegende Buch. Warum also Pärt? Mir scheint, würde man die von Pärt vertonten Texte einem Publikum von nahezu 2000 Leuten in einem Konzertsaal einfach nur vorlesen – es würde wohl nur wenige interessieren. Indem diese Texte jedoch Musik und somit sinnlich zugänglich geworden sind, begeistern sie auch heute ein großes Publikum: Es ist Pärts Spiritualität, welche in ihrer musikalischen Spiegelung zu begeistern vermag (vielleicht heißt nicht umsonst eines seiner bekanntesten Werke „Spiegel im Spiegel“?). Pärts Musik kommt von den tief meditierten Texten christlicher Traditionen her. Und genau dies ist der Punkt, wo sich vielleicht in methodischer Hinsicht eine Überschneidung zu Augustinus und seiner „Auslegung der Genesis gemäß dem buchstäblichen Sinn“ ergibt: Der Kirchenvater unterzieht sich in diesem Werk der nicht enden wollenden Mühe, den Sinn der Genesis nach allen Regeln der hermeneutischen Kunst zu ergründen – mit vielen Fragen, die diskutiert und meditiert, zurückgewiesen oder als zielführend immer neu verfolgt werden. Beachten sollte man unbedingt, dass „gemäß dem buchstäblichen Sinn“ nicht einfach mit ‚historischer Ereignishaftigkeit‘ verwechselt werden darf: „Literal“ heißt zunächst so etwas wie ‚der primäre Bedeutungsgehalt‘. Wenn bereits im dritten Vers der Genesis von der Erschaffung des Lichts die Rede ist, sämtliche Gestirne aber erst viel später hervorgebracht werden, dann erfordert eine literale Exegese dieses, wie Augustinus sagt, „primären Lichts“ eine Erklärung, die sowohl dem primären Licht als solchem wie auch dem Umstand gerecht wird, dass es schlicht nicht mit dem Licht der Gestirne gleichgesetzt werden darf, da diese noch gar nicht existieren. Es bedeutet den besonderen Reiz von Augustins exegetischer Methode, dass er für dieses Interpretationsproblem eine Lösung ‚parat‘ hält. Und in dieser Hinsicht werfen in der Tat die Worte des Komponisten aus dem 20./21. Jahrhundert ein Licht (!) auf die Exegese des Kirchenvaters aus dem 4./5. Jahrhundert: „Das Licht ist wahrscheinlich auch das Wichtigste. Das Interessante daran ist, dass das Licht wahrscheinlich ewig ist. Für uns ist das etwas, was stillzustehen scheint, und gleichzeitig ist es Leben, es ist Bewegung.“ Auch wenn der methodisch-erkenntnistheoretische Weg ein umgekehrter ist: Denn die Musik Pärts erschließt sich zunächst über die Sinnlichkeit des Hörbaren, während das „primäre Licht“ gemäß Augustinus aller Sinnlichkeit gerade vorausliegt. Für den Kirchenvater schließt die literale Auslegung der Genesis jedoch nicht aus, dass sie spirituell, also in einem über den buchstäblichen Sinn hinausweisenden Verständnis zu meditieren ist. Ebensowenig wie Pärts Musik gewordene Spiritualität den literalen Gehalt der von ihm vertonten christlichen Texte ausschließt. Vielleicht ist es speziell dieser eine Punkt, wo sich Augustins spätantike Bibelexegese und Pärts musikalische Avantgarde berühren: Beide sind offen für das Licht des Geistes und beziehen ihre musikalische und exegetische Inspiration von dorther, beide nehmen einen biblischen Text – allen ‚Spötteleien‘ damals wie heute zum Trotz – in einer Weise ernst, welche aufmerksame Leser und Hörer zu berühren vermag, auch (oder vielleicht gerade?) heute, im Zeitalter der Postmoderne.
1. Einleitung: Wozu Augustins Bibelexegese? Vorüberlegungen zur historischen und disziplinären Einordnung sowie ein kurzes Plädoyer für einen möglichst vorurteilsfreien Blick aus der Postmoderne auf ‚die‘ Antike Augustins Bibelexegese wird heutzutage vor allem aus einem ‚rein historischen‘ Blickwinkel betrachtet. Unabhängig davon, ob es explizit gemacht oder als implizite Voreinstellung mitgebracht wird – Augustins Exegese ist als Phänomen innerhalb der großen Geschichte christlicher Bibelauslegung ‚einzuordnen‘, ohne dass ‚im Ernst‘ damit gerechnet wird, der Kirchenvater könne für die aufgeklärte Welt im 21. Jahrhundert etwas wirklich Wesentliches zur Bibelinterpretation beitragen. Dies erscheint unmöglich – ist der Bischof von Hippo doch ein spätantiker und somit voraufgeklärter Autor. Von einem solchen Verdikt wäre freilich nicht nur Augustinus, sondern wären alle Kirchenväter und letztlich die gesamte antike sowie mittelalterliche Welt betroffen. Ohne diese verbreitete Denkweise nun unkritisch-naiv einfach verwerfen zu wollen, erscheint es rein methodisch doch fragwürdig, warum eigentlich der Bibel selbst, als der Heiligen Schrift der Christen, hier ein Sonderstatus zukommen sollte: Denn dieser Eindruck kann leicht entstehen, wenn einerseits spezifisch dem Alten respektive Neuen Testament gewidmete Lehrstühle nach wie vor zur ‚Grundausstattung‘ Theologischer Fakultäten zählen, während die Patristik andererseits keineswegs überall als eigenständiges Fach vertreten ist, sondern bisweilen zwischen Kirchengeschichte, Systematischer Theologie bzw. dem um die frühchristliche Literatur erweiterten Fach Neues Testament ihren Platz sucht oder auch außerhalb der Theologischen Fachwissenschaften im Bereich der Klassischen Philologien respektive der Philosophie ihren neuen Ort findet – freilich aus guten Gründen und verbunden mit anderen methodischen Zugängen und inhaltlichen Fragestellungen. Das Ringen um ein ‚aufgeklärtes‘, ‚historisch-kritisches‘ Verstehen und Einordnen biblischer Texte hat bislang offenbar noch nicht dazu geführt, die Bibel als Textsammlung selbst dem radikalen Verdikt der Unaufgeklärtheit und somit der Vernachlässigbarkeit zu unterwerfen. (Dem Autor dieser Zeilen liegt es auch fern, etwas derartig Pauschales zu propagieren.) Methodisch ist dies jedoch erstaunlich: Trotz aller ‚Auf-
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1. Einleitung: Wozu Augustins Bibelexegese?
geklärtheit‘ gibt es bis heute das nicht nachlassende Bemühen, diese voraufgeklärten biblischen Texte irgendwie ernst zu nehmen, sich an ihnen zu reiben, sie als heilige Texte ‚retten‘ zu wollen, ihnen einen Sinn abzutrotzen usw. Dennoch stellt sich aus postmodernem Blickwinkel unweigerlich eine kritische Rückfrage: Warum eigentlich sollte ein solches Bemühen ausschließlich der Bibel zuteil werden? Sollte es bei neutraler Methodik nicht geradezu selbstverständlich erscheinen, auch über die Bibel hinaus antike bis mittelalterliche Texte und Autoren – z. B. Homer, Platon, Origenes, Plotin, Augustinus, Boethius, Thomas von Aquin, Cusanus (etc.) – ebenso ernst zu nehmen, also auch um den Sinn ihrer Texte zu ringen? Aus einer christlichen Perspektive mag geltend gemacht werden, dass die Bibel eben immer noch ein ‚heiliges Buch‘ oder wenigstens der Gründungstext der Christenheit sei. Innerhalb eines postmodernen Paradigmas aber wäre zu fragen, ob nicht den paganen Autoren ein stärkeres Eigenrecht zuerkannt werden sollte und vor allem – wenn man denn aus einer christlichen Perspektive argumentieren möchte – ob nicht wenigstens die patristischen Autoren als Teil der christlichen Tradition ebenfalls wieder verstärkt ins Blickfeld wissenschaftlichen Interesses rücken sollten. Wie auch immer die Leser hier votieren mögen – zu Beginn dieser Untersuchung soll wenigstens für eine Neutralität hinsichtlich der Bewertung antiker und mittelalterlicher Autoren und Texte geworben werden. Denn nur, wenn nicht immer schon klar ist, wie man diese Texte und Autoren ‚einzuordnen hat‘, wenn also auf vermeintliche Verdikte dieser Couleur zumindest hypothetisch verzichtet wird, nur dann – so das Plädoyer dieser Zeilen – kann ein Autor wie Augustinus dem ‚Käfig‘ historisch gewachsener Vorurteile jedenfalls für einen Moment entrinnen, und nur dann kann seine Bibelexegese ihren Esprit entfalten – als ein begründeter Deutungsvorschlag. Und: nur dann macht es Freude, Augustinus zu lesen. Vielleicht lässt sich das hier verfolgte Projekt von zwei Seiten aus flankierend unterstützen und verständlich machen: Zum einen ist es noch nicht wirklich lange her, dass eine Frau von 19 Jahren während des Dritten Reichs im Reichsarbeitsdienst heimlich unter der Bettdecke einen Querschnitt des gewaltigen Werks dieses Kirchenvaters las, um so letztlich einen philosophisch tragfähigen Rückhalt im Widerstand gegen Hitlers Nazidiktatur zu gewinnen – gemeint ist Sophie Scholl.1 Ihre intensive Lektüre zeugt davon, wie und unter welchen Umständen – nämlich von einer existentiellen Lesehaltung her – ein antiker Autor plötzlich ein ungeahntes Aktualitätspotential entfalten kann, wenn er auf die Lebenssituation der Rezipienten direkt bezogen gedacht und im Hinblick auf solche Themen befragt wird, die sich zu allen Zeiten immer wieder von Neuem stellen: Ist der Mensch (innerhalb bestimmter Grenzen) frei, gibt es Gott und, wenn ja, intendiert er Gutes oder nicht?
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S. dazu Drews (2011b; 2013b).
1. Einleitung: Wozu Augustins Bibelexegese?
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Zum andern gibt es ein theologisches Argument dafür, die Bibel und die Kirchenvätertradition auch aus heutiger Perspektive nicht völlig voneinander getrennt zu betrachten: Der Glaube, mit Hilfe historischer Kritik an einen Punkt zu gelangen, an welchem die biblischen Texte gleichsam als ‚unüberformte Urtexte in unbefleckter Reinheit‘ hervortreten und betrachtet werden können, ist möglicherweise selbst ein unkritisches Nebenprodukt dieser Kritik. Denn einerseits muss das Ansinnen spekulativ bleiben, einen solchen nicht-überformten Textzustand wirklich etablieren zu können – zeigt doch die Geschichte und Geschichtswissenschaft gerade, dass immer wieder neue, noch davor oder dazwischen liegende Schichten entweder nachgewiesen oder zumindest wahrscheinlich gemacht werden können. Mit anderen Worten: Methodisch besteht hier durchaus die Gefahr eines infiniten Regresses, denn es kann nun einmal nicht ausgeschlossen werden, dass neue Funde, neue Analysen oder einfach neue Fragestellungen ein immer wieder neues und anderes Bild entstehen lassen. Andererseits hat die jüngere Forschung wohl zu Recht geltend gemacht, dass das Projekt, biblische Texte unabhängig von der Tradition, in welcher sie stehen, begreifen zu wollen, selbst wenig überzeugend erscheint, und zwar auch in historischer Hinsicht: Die verschriftlichten Texte der im Entstehen begriffenen Kirche (dies gilt zunächst speziell für die Schriften des Neuen Testaments, mutatis mutandis vermutlich auch für die Hebräische Bibel und die Theologiegeschichte Israels) sind Teil genau dieser kirchlichen Tradition und des aktualen Glaubensvollzugs. D. h., Letztere tritt nicht als nachträgliches ‚Kolorit‘ bzw. als Überfremdung zu den vermeintlichen ‚Ur-Texten‘ hinzu, sondern beide gehen Hand in Hand: Der Glaube prägt bereits die Texte, formt sie und wird zugleich von ihnen geformt und mitgeprägt. Dies ist weniger ein hermeneutischer Zirkel, sondern, wie Marius Reiser deutlich gemacht hat, ein realistischer Blick auf die Ur-Kirche(n): Zum Kontext der Bibel gehöre auch die Kirche mit ihrer Liturgie, ihrer Predigt, ihrer Lebensweise, […], ihrem Glauben und ihrer Theologie. Ohne diesen Kontext wäre sie nicht entstanden und ohne ihn bleibt sie für Christen ein versiegeltes Buch. Ein rein historischer Zugang, der von diesem Kontext absieht, ist unangemessen, da er nicht erfassen kann, ‚was die Bibel als Bibel sagt, d. h. als das Buch der Kirche‘ (Reiser 2007: 1). [sc. Der] ‚kritische‘ Zugang führt in der Konsequenz zu einer geschichtlichen Betrachtungsweise, die das Empfinden eines historischen Abstands zur Antike und ihren Texten voraussetzt und intensiviert. Das erschwert die Aktualisierung der Texte […] (ibd., 234). Aktualisierung und Relevanz sind die beiden Pole, zwischen denen sich Exegese als konkrete Textinterpretation bewegt […]. Exegese ist somit ein kontextbezogenes Phänomen par excellence. Augustin war in dieser Hinsicht kein Ausnahmefall. […] [sc. Er sah] es als die grundsätzliche Lebensaufgabe eines jeden Christen an, diesen Text in täglicher Aus-
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1. Einleitung: Wozu Augustins Bibelexegese?
legung lebendige Wirklichkeit werden zu lassen, entweder in intellektueller Arbeit oder, noch besser, durch den praktischen Lebensvollzug (Pollmann 2008: 99). Augustine stresses in addition to Biblical languages that a broad and general education will be of much help to the interpreter. […] Despite this, it is clear that even at this early date he insisted on the linking of study of the Bible with prayer and the life of the community of faith (Greene-McCreight 1999: 38).
Mit anderen Worten: Christliches Glauben und Denken ist gerade in seinem Ursprung ein lebendiger Vollzug, ein dynamisches Durch-Denken, Beten, Sich-Hinwenden zum Gott der Christen und dem Offenbarungsereignis, welches am Anfang und insofern auch ‚vor‘ den Texten steht, zusammen mit diesen weiter reflektiert wird und dann freilich auch in den Textzeugnissen selbst lebt und auf diese bezogen bleibt. Die Vorstellung eines ‚sterilen‘, in statischer Abstraktheit in sich verharrenden Textes würde der Bibel sowie ihrem sachlichen und historischen Entstehungshorizont kaum gerecht. In methodischer Hinsicht wäre es inadäquat, nun in das umgekehrte Extrem zu verfallen und Augustinus – als Vertreter des 4. bzw. 5. Jhds. nach Christus! – pauschal zur (‚Ur‘-)Kirche zu zählen und deshalb auch noch für ‚sakrosankt‘ erklären zu wollen. Darum kann es nicht gehen. Worum es aber schon geht, ist die Frage, ob seine Exegese in ihrer Methodik und von ihren Voraussetzungen her wieder stärker beachtet und als Anregung zur Kenntnis genommen werden sollte: Catapano/Moro (2018: X, 355) sprechen in ihrem großen Band zu Augustins Genesis-Exegese jetzt sogar von deren „tutta la sua sorprendente modernità“. Das zentrale Anliegen dieses Buchs wird sein, durch eine Lektüre des lateinischen Texts aller zwölf Bücher von De Genesi ad litteram sowie durch deren Neuinterpretation dieses Werk nicht nur ‚steinbruchartig‘ für hermeneutische Theoriebildungen zu benutzen. Vielmehr geht es darum, den philosophisch-argumentativ begründeten Wirklichkeitshorizont, in welchem Augustinus seine Exegese des ersten Buchs der Bibel vornimmt und zugleich ihre hermeneutischen Prinzipien – vor allem ein anderes, dynamischeres Verständnis des Begriffs ‚literal‘ – entwirft, neu zu würdigen und von hier aus zu einem Verständnis für die auf dieser Methode fußende, konkrete Kritikfähigkeit gegenüber dem biblischen Genesis-Text zu gelangen. Dabei soll De Genesi ad litteram selbst vor allem nach dem literaturwissenschaftlichen Kriterium der inneren Kohärenz (Kablitz 2013) bemessen werden, wenn es darum geht, sowohl die exegetische Praxis des Kirchenvaters im Detail als auch seine philosophisch-systematischen Reflexionen von ihrer inneren Stimmigkeit her nachzuvollziehen. Nicht zuletzt geht es auch um die Frage, ob seine Ergebnisse innerhalb eines breiteren, erkenntnistheoretischen und ontologischen Horizonts als sinnvoll betrachtet werden und ob sie – gerade im Einzelfall – möglicherweise sogar für die (post-)moderne Exegese attraktiv erscheinen können. Diese Frage ist bewusst im Potentialis formuliert und soll entsprechend offen ins Auge gefasst werden – ob etwas sein könnte, ist allein durch aufgeworfene Fragen in keiner Weise entschieden. Die Antwort darauf gibt das
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vorliegende Buch auch nicht selbst, sondern sie bleibt den Leser/innen vorbehalten. In einem Punkt scheinen sich, so viel sei vorweggenommen, postmodernes Denken und spätantike Bibelexegese in jedem Fall zu berühren, insofern die Pluralität der Deutungsmöglichkeiten und ihr Perspektivenreichtum heute wie damals geschätzt werden. Einen solchen Pluralismus hat speziell Augustinus in seiner Hermeneutik methodisch begründet und praktisch eingefordert, wie im Laufe der Untersuchung immer wieder deutlich werden wird (vgl. Catapano/Moro [2018: XI] zu Augustins „pluralismo ermeneutico praticato“). Zur Leserlenkung ist das Buch durch eine Fülle von Querverweisen ‚verlinkt‘ (auf Kapitel bzw. Fußnoten). Als kritische Edition wird trotz der immer wieder konstatierten Mängel Zycha, CSEL 28, 1894 verwendet, da z. B. die neue, zweisprachige Edition von Catapano/Moro (2018) – welche ich erst gegen Ende meiner Arbeit an diesem Forschungsprojekt einsehen konnte – zwar den kompletten lateinischen Text bietet, aber unter Verzicht auf einen kritischen Apparat (von vereinzelten Anmerkungen abgesehen). Bei offensichtlichen Fehlern und, wenn eine andere Lesart stimmiger erscheint, sind Abweichungen gegenüber Zychas Edition angemerkt. Nicht zuletzt gibt es jedoch auch solche Fälle, wo Zychas Text gegen die z. B. von Alexanderson (2002) vorgebrachte Kritik zu verteidigen ist.2 Übersetzungen (aus dem Lateinischen, Griechischen, Hebräischen) stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. Häufig werden um der Kürze willen die einzelnen Abschnitte aus De Genesi ad litteram paraphrasiert, einschlägige Formulierungen bzw. Passagen des lateinischen Text finden sich in Klammern. Mit Blick auf die nach wie vor verbreitet verwendete Übersetzung von Perl (1961/1964), deren Verdienst als deutsche Erstübersetzung ohne Weiteres zu würdigen ist, sei hier nicht auf diverse Detailprobleme eingegangen, welche sich hinsichtlich grammatisch-inhaltlicher Bezüge, Interpretationen etc. bei Übertragungen letztlich immer ergeben (z. B. wenn „Güter der Natur“ übersetzt wird, aber inhaltlich „gute Naturen/Wesen“ gemeint sind). Grundsätzlich fällt jedoch auf, dass Perl in seiner Terminologie viele kantianisch geprägte Begriffe verwendet, die keineswegs ohne Weiteres auf Augustins Sprache und Denken appliziert werden können: Dies betrifft z. B. die Wiedergabe von species durch „Erscheinung“, von cogitare (sowie bisweilen intellegere) mit „vorstellen“, rerum evidentia durch „Erscheinungsweise der Dinge“ u. a. In der Bibliographie sind unter „Primärtexte“ alle verwendeten Editionen aufgelistet. Die Abkürzungen für ihre Zitation erfolgen zumeist nach dem gängigen phi-
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Zur Auseinandersetzung mit Alexanderson mit Blick auf eine konkrete Textstelle s. u. Kap. 36 mit Anm. 857. Grundsätzlich erscheint die Kritik an Zychas Edition nicht unberechtigt, s. dazu Schubert (2004: 208 und 201 mit Anm. 1).
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lologischen Usus. Die Beiträge der Forschungsliteratur werden mit der Angabe von „Autor (Erscheinungsjahr: Seitenzahl)“ zitiert; die Volltitel sind entsprechend in der Bibliographie unter „Sekundärliteratur“ anhand des Autornamens und des Publikationsjahres leicht auffindbar.
2. Hermeneutische Prinzipien Augustins differenziertes Wirklichkeitsverständnis als Grundlage seiner Bibelexegese in Abgrenzung gegen eine naturgesetzlich begründete Verabsolutierung historischer Realität in der Moderne
Augustins großer Genesis-Kommentar „gemäß dem Literalsinn“, De Genesi ad litteram (Gn. litt.), verfasst zwischen den Jahren 401–414/6 n. Chr., beginnt in Analogie zu dem berühmten Eingangssatz von Caesars Bellum Gallicum: Gallia est omnis divisa in partes tres folgendermaßen: Omnis divina scriptura bipertita est […] – „Als ganze ist die Heilige Schrift zweigeteilt […]“ (Gn. litt. I, 1; 3, 4). Damit sind die Bezüge zu Caesar bereits ausgeschöpft, da Augustinus inhaltlich natürlich nicht das Schlachtfeld eines Krieges umreißen, sondern das Terrain der Bibelexegese (obgleich nicht selten selbst ein „Kampffeld“3) betreten wird – zum wiederholten Mal: In seinem Leben hat er bekanntlich verschiedentliche Anläufe zur Bibelexegese, besonders aber zum ersten Buch der christlichen Heiligen Schrift, der Genesis, unternommen, wie nicht nur das Werk De Genesi contra Manichaeos (388–390 n. Chr.) und der De Genesi ad litteram liber imperfectus (geschrieben 393/4) bezeugen, sondern auch Confessiones XI–XIII (um 400) sowie De civitate Dei XI–XIV (417–420).4 3 4
Dieser Eindruck kann zumindest entstehen, wenn man auf die lange Geschichte christlicher Exegese blickt – so fällt der Begriff nicht ohne Grund im bibelexegetischen Kontext bei Reiser (2007: 248, 355). Zur Datierung der Werke s. Catapano/Moro (2018: 3–5, 211–3, 325–335), Pollmann (2008: 102), Fuhrer (2004: 61–62), Weber (2007: 276–7). Zu den zwei Phasen, in welchen Augustinus Gn. litt. erarbeitet habe (zunächst Bücher I–IX, später X–XII), s. unter Verweis auf ep. 143 Teske (2010: 114) sowie Hebb (2007: 374). Auffällig für das Werk ist neben der engen Verknüpfung von exegetischen und systematischen Fragestellungen der unterschiedliche Umfang des jeweils in einem Buch erörterten Bibelabschnitts: Buch XI behandelt 25 Verse, während z. B. Buch VI und VII einen einzigen Vers fokussieren (Teske ibd., 116). Zu der vermutlich auf Eugippius zurückgehenden Kapiteleinteilung s. Teske (ibd., 124) und Pollmann (2009b: 23). Zur Beeinflussung Augustins durch Basilius’ Hexaemeron (in Eustathius’ lateinischer Übersetzung) s. Pollmann (2007: 209). – Zu inhaltlichen
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De Genesi ad litteram: Buch I
Die Zweiteilung der christlichen Bibel basiert auf der Unterscheidung zwischen „Altem“ und „Neuem Bund“, dem Alten und Neuen Testament – eine Unterscheidung, welche Augustinus in der Fortsetzung des ersten Satzes jedoch nicht bloß formal, sondern inhaltlich mit einem jesuanischen Gleichnis begründet: Der „gebildete Schriftgelehrte im Reich Gottes“ gleiche „einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes“ hervorhole (Mt 13, 52). Dieses Gleichnis deutet der Kirchenvater dann im geistigen Sinn auf die beiden Testamente der Heiligen Schrift.5 Das exegetisch-hermeneutische Projekt,6 welches Augustinus anvisiert, besteht darin, dass bei allen Büchern der Bibel durch geistige Schau (intueri) betrachtet werden soll, „was dort als ewiger Gehalt (aeterna) offenbart, was als Geschehenes (facta) erzählt, was als Zukünftiges (futura) im Voraus angekündigt, welches [sc. ethische] Handeln (agenda) vorgeschrieben bzw. angemahnt wird“.7 Dabei fügt der Bischof von Hippo hinzu, dass besonders bei der „Erzählung geschehener Tatsachen“ (in narratione ergo rerum factarum) zu fragen sei, „ob alles ausschließlich gemäß dem intellektiven Begreifen figürlicher Rede“ (utrum omnia secundum figurarum tantummodo intellectum accipiantur), also rein geistig, figurativ-allegorisch,8 aufzufassen oder auch „gemäß dem Glauben an historische Tatsachenberichte“ (an etiam secundum fidem rerum gestarum) zu verteidigen sei.9 Gleich zu Beginn steht also die hermeneutische Frage eines mehrfachen Schriftsinns,10 welcher sich bereits bei Paulus abzeichnet und dann besonders von Origenes
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Beobachtungen und Entwicklungen in Augustins früher Genesis-Exegese (also vor Gn. litt.) s. Kamimura (2014). Gn. litt. I, 1; 3, 4–7. Die beiden Begriffe sind freilich nicht deckungsgleich: Mit Berger (1986: 185) lässt sich Hermeneutik als „philosophische Reflexion über den Auslegungsvorgang in allen seinen Aspekten“ und Exegese als „Bemühen, dem kritischen Eigenpotential und der anregenden oder abweisenden Fremdheit des Textes näherzukommen“, begreifen. Diese moderne Grundlegung scheint mir von der Sache her auch Augustins Methodik zu entsprechen, denn insbesondere die vielen Fragen und das Zweifeln an bestimmten Deutungen zeugen in De Genesi ad litteram von einer exegetischen Vorsicht, mit der sich der Kirchenvater dem biblischen Text anzunähern versucht – eine vergleichbare Methode hat Berger im Blick, wenn er von der „Fremdheit“ eines Texts spricht. Gn. litt. I, 1; 3, 7–10. Zum „Schema“ aeterna – facta – futura – agenda s. Fladerer (2010: 75). Zu den verwandten, aber nicht ganz deckungsgleichen Begriffen figura und allegoria s. Dawson (1999). Gn. litt. I, 1; 3, 10–13. Der Begriff res ist hier besonders schwer zu übersetzen, weil Augustinus verschiedene Formen und Ebenen von „Tatsächlichkeit“ kennt (vgl. unten Anm. 99): nicht nur die historische, sondern auch die intelligible Sachhaltigkeit, welche „in der Erzählung“ in Form von res factae dargestellt werden kann. Fladerer (2010: 87) gebraucht den Begriff der „transphysische[n] Wirklichkeit“. S. auch Greene-McCreight (1999: 62). Zur grundsätzlichen „Lehre vom mehrfachem Schriftsinn“ auf „prinzipiell […] zwei verschiedenen Ebenen“ vgl. Fuhrer (2004: 150–1), zur Auffächerung des geistigen Sinns in „moralische, geistliche, dogmatische, ekklesiologische oder eschatotologische“ Aspekte s. Reiser (2007: 361), zum mehrfachem Schriftsinn bei Augustinus s. Pollmann (2007: 204) sowie Fladerer (2010: 70–80). Für De Genesi contra Manichaeos konstatiert Kim (2006: 165), „the antithesis is placed between carnaliter and spiritaliter rather than ad litteram and ad figuram.“
2. Hermeneutische Prinzipien
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entfaltet wurde,11 nicht nur im Raum, sondern wird von Augustinus in einer für (post-) moderne Leser vielleicht überraschenden Weise angegangen: Der intellektive Zugang wird wie selbstverständlich als erster genannt,12 erst danach stelle sich die Frage, was jeweils auch historische Faktizität beanspruchen könne.13 Bereits nach wenigen Sätzen wird hier ein erster grundsätzlicher Unterschied zur modernen theologischen Exegese deutlich: Während in der von der Aufklärung herrührenden historisch-kritischen
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Paulus, Gal 4, 24, 1 Kor 10, 6+11; Origenes princ. IV, 2. – Vgl. Reiser (2007: 250–3, 360–3). Zum Verhältnis von Origenes’ und Augustins exegetischer Praxis vgl. Fladerer (2010: 66). Dies ist nicht zuletzt Augustins intensiver Auseinandersetzung mit Origenes geschuldet: „Augustinus ist sich mit Origenes zwar einig, daß Textelemente, die im Literalsinn genommen ‚abwegig‘ (absurde) erscheinen, einen symbolischen (‚figürlichen‘) Sinn haben müssen. Aber er ist, was diese Züge angeht, äußerst restriktiv und skrupulös. […] Augustinus sieht klar die Konsequenzen der Auffassung des Origenes und scheut davor zurück. Seine Lösung heißt: Man muß diese Erzählungen als historische Berichte verstehen und diesen dann einen übertragenen Sinn zuweisen, sie also sowohl proprie als auch figurate begreifen. Mit dem proprie hat er freilich nicht selten seine liebe Not“ (Reiser 2007: 366–7). „Freilich wurden die historischen Fragen, die der biblische Text aufgab, bis weit in das Mittelalter hinein als zweitrangig betrachtet; wichtig war der übertragene Sinn der Texte, der sie zugleich in die eigene Zeit und Situation übertrug und so aktuell hielt“ (ibd., 368). In der Forschung besteht darüber keineswegs Konsens, was nicht zuletzt daran liegt, ob man den Begriff intellectus aus den Eingangssätzen in Gn. litt. prägnant als eigene Wirklichkeitsebene interpretiert (wofür besonders die Erkenntnistheorie aus Gn. litt. XII spricht, s. u. Kap. 37, 39–41) oder nicht. Wenn Kim (2006: 56) schreibt, dass in Gn. litt. „literal interpretation includes not only a verbal understanding of a text […], but also a highly sophisticated discussion of spiritual matters beyond the human reason and experience“, so ist dies zweifellos zutreffend – nicht unbedingt jedoch die Schlussfolgerung: „What he emphasizes in this work is their order: first the literal meaning should be sought and then the figurative meaning can be drawn.“ Der Beginn von Gn. litt. legt vielmehr das Umgekehrte nahe, dass sich der Sache nach ein auf die rein geistige Dimension beziehender intellectus der Schrift immer möglich sei und sich erst sekundär die Frage nach dem „Glauben an Tatsächlichkeit“ stellt, obgleich letztere das primäre Thema in Gn. litt. sein wird: D. h., es gibt Texte, welche ausschließlich geistig zu begreifen sind und andere, bei denen die Frage nach der Tatsächlichkeit im Vordergrund steht und die Möglichkeit einer allegorischen Auslegung sekundär erscheint – trotzdem gilt, dass gemäß Gn. litt., so oder so, ein intellectus im Sinne eines geistigen Verständnisses immer möglich ist. Wenn Fladerer (2010: 77) historia gemäß Augustinus als „Oberbegriff “ verstehen will, unter welchem „eine die Geschichte als Tatenbericht begreifende Deutung und eine Lesart, die eine höhere Wirklichkeit vermutet“, gemeinsam „koexistieren können“ sollen, dann scheint dies Augustins Verständnis nicht genau zu treffen. Augustinus setzt den Begriff der historia nicht (einem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis entsprechend) absolut, er veranschlagt auch kein „weiteres Verständnis von historia“, um sowohl Historisches wie auch Prophetisches „als metaphorisch-figuratives Reden zu verstehen“; vielmehr hat die historia – die er ja in Gn. litt. eindeutig als Ereignisgeschichte auffasst (für andere Teile seines Œuvres gilt z. T. ein anderes Verständnis, s. Kim 2006: 61–62, 72–73) – eine der umfassenderen intelligiblen Wirklichkeit gegenüber untergeordnete Rolle (s. u. Kap. 17 zum „wahreren Tag“ und Kap. 19 zur größeren Wahrheit des Ewigen). Fladerer will umgekehrt die geistig-allegorische „Lesart“ unter die historia subsumieren und eine solche Position Augustinus zuschreiben. Das erscheint nicht überzeugend, auch wenn der Kirchenvater mit der Möglichkeit rechnet, dass rein intelligible, unhistorische Inhalte in Form einer Erzählung geschehener Tatsachen präsentiert werden können. Der Grund dafür liegt dann aber in der Präsentation rein begreifbarer Inhalte, nicht in einer allgemeinen Historisierung oder Verabsolutierung der Geschichte an sich (s. u. Kap. 7, 9, 12).
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De Genesi ad litteram: Buch I
Exegese bereits dem Namen nach die ‚historische Einordnung‘ primär oder sogar als der einzige Zugang erscheint, welcher ein ‚hartes Wahrheitskriterium‘ liefere, ist die hermeneutische Ausgangssituation für Augustinus offenbar genau umgekehrt – erst im zweiten Zugriff stelle sich die Frage, was an einem biblischen Bericht historisch sei. Diese Umkehrung in der christlich-theologischen Exegese, die sich der Sache nach weniger einem völlig neuartigen Geschichtsinteresse als vielmehr einer vermeintlich ‚naturgesetzlich‘ interpretierten ‚Realität‘ im Zusammenspiel mit ‚antikirchlichen‘ bzw. ‚antidogmatischen‘ Reflexen verdanke, hat Marius Reiser in seinem Buch Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift (2007) detailliert nachgezeichnet.14 Während in der modernen, seit der Aufklärung üblichen Exegese „Allegorese […] eine willkürliche Deutung und damit unwissenschaftlich“ sei (ibd., 266), scheint diese Auffassung im Rahmen der Väter-Exegese geradezu unbegründet. Warum? Ein in systematischer Hinsicht wesentlicher Grund dürfte in der jeweiligen philosophischen Auffassung darüber liegen, was Wirklichkeit und was Geist sind.15 Aus modern-aufgeklärter Perspektive gibt es nur eine, ja „einförmige“16 Wirklichkeit: die historische, naturgesetzlich de-
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Reiser (2007; bes. 1–38; 219–275). Zur Reduktion des Literalsinns auf den historischen Sinn als Wesensbestimmung historisch-kritischer Exegese s. ibd., 15, 30. „[A]ls Prämisse jeder kritischen Exegese [sc. galt], daß es nichts Wunderhaftes oder Übernatürliches geben könne. Jede Exegese, die fortan noch mit Derartigem rechnete, galt unter ‚Aufgeklärten‘ als un- bzw. vorkritisch und war eo ipso disqualifiziert. Diese ihrerseits unkritisch übernommene Vorentscheidung leitet bis heute die Auslegung vieler Exegeten“ (241). „So kommt es [sc. im Zuge der Aufklärung] zu einem Paradigmenwechsel, der aus der ‚kritischen‘ die ‚historisch-kritische‘ Bibelwissenschaft macht. Diese hat wenig Sinn für Geschichte und ist oft genug eher skeptizistisch als kritisch. Ihr Steckenpferd wird mehr und mehr eine ‚Hermeneutik des Verdachts‘“ (259); „Die Umsicht und Zurückhaltung von Althistorikern und Klassischen Philologen, wenn es um historische Rekonstruktionen geht, steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der Leichtfertigkeit, die in dieser Hinsicht unter Bibelwissenschaftlern herrscht“ (271). – Im Unterschied zur modernen Exegese habe es in der Väterzeit sowie im Mittelalter (im Rahmen der sog. regula fidei) einen geistigen Grundkonsens über die exegetischen Prinzipien gegeben, Unterschiede „lediglich in ihrer konkreten Anwendung und in der Reichweite der allegorischen Auslegungsweise“ (253), wobei die regula fidei „als Quintessenz der Heiligen Schrift galt und nur exegetischen Abwegigkeiten eine gewisse Grenze ziehen sollte“ (33). „Die historisch-kritische Exegese ist nun einmal nicht durch neue Methoden und Erkenntnisse entstanden, sondern durch einen Wandel der philosophischen, weltanschaulichen, dogmatischen Selbstverständlichkeiten“ (Reiser 2007: 270; ähnlich 36). „Die [sc. historisch-kritische] Methode […] will möglichst genau das Damalige in seiner Damaligkeit erfassen, an dem Punkt, an dem es damals stand. Und sie setzt voraus, daß die Geschichte im Prinzip einförmig ist: Der Mensch in all seiner Unterschiedenheit, die Welt in all ihren Verschiedenheiten, ist doch von gleichen Gesetzen und gleichen Grenzen bestimmt, so daß ich ausscheiden kann, was unmöglich ist. Was heute auf gar keine Weise geschehen kann, konnte auch gestern nicht geschehen und wird auch morgen nicht geschehen. […] Deswegen vermittelt mir historisch-kritische Exegese die Bibel nicht ins Heute, in mein jetziges Leben hinein. Das ist ausgeschlossen. Sie entfernt sie im Gegenteil von mir und zeigt sie streng in der Vergangenheit angesiedelt“ (Ratzinger – Benedikt XVI. 2005b: 108). Vgl. in ähnlicher Weise Pollmann (1996: 31). Zugleich weist Ratzinger auf die kantianische Prägung historisch-kritischer Exegese hin: Bultmanns Erkenntnistheorie „[sc. war] ganz vom Marburger Neu-Kantianismus bestimmt […]. […] Bei anderen Exegeten wird das philosophische Bewußtsein weniger ausgeprägt sein, aber die Grund-
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terminierte Realität, in welcher so etwas wie ‚Geist‘ zunehmend naturalistisch (weg-) erklärt wurde.17 Ein ganz anderes Bild ergibt sich aus der für die Exegese eines Origenes und Augustinus als Grundlage dienenden platonischen Philosophie:18 Es lässt sich geradezu als Grundaussage platonischen Denkens bezeichnen, dass sich Materie nicht selbst – d. h. nicht durch sich selbst qua Materie – strukturiert und gestaltet, sondern ihre Bestimmtheit und ihr So-Sein einem sie gestaltenden Denken verdankt. Diese Grundannahme ist weitaus weniger ‚metaphysisch‘, als mitunter behauptet wird; vor allem ist sie nicht realitätsfern: Ein Buch schreibt sich nicht von selbst, sondern verdankt sich in erster Linie dem Hervordenken und -schreiben durch einen Autor (computertechnisch vermeintlich ‚von selbst‘ entstehende Texte imitieren diesen kreativen Prozess durch höchst komplexe, formalisierte Algorithmen – es bleibt jedoch letztlich bei einem Imitat). Eine Kirche ist nicht dasselbe wie ein Haufen von Backsteinen – die ‚Bausubstanz‘ ist tatsächlich nur die Materie, die wesentlich-substantielle Formung zur Kirche verdankt sich den Baumeistern, welche die Steine (u. a.) in die Gestalt eines Kirchengebäudes bringen (die aktuale Nutzung des Raumes zum Gottesdienst macht den Kirchraum dann aktual zur Kirche). Auch das Durchdenken eines geistigen Zusammenhangs ist nicht dasselbe wie ein neuronaler Prozess: Beim Nachdenken darüber, was Gerechtigkeit ist, sind sich Menschen ja (erstaunlicherweise) nicht ihrer Gehirnströme bewusst, sondern des geistigen Inhalts, welchen sie bedenken, so dass eine vermeintlich ‚aufgeklärt-wissenschaftliche‘ Identifikation von Gehirn und Geist wenig begründet erscheint und – aus platonischer Perspektive – den Unterschied zwi-
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legung durch die Erkenntnistheorie Kants ist stillschweigend immer anwesend, als selbstverständlicher hermeneutischer Einstieg, der den Weg der Kritik leitet“ (ibd., 109). Kritisch dazu Gabriel (2017): „Der Geist wurde dieser Auffassung folgend immer weiter aus dem Universum oder der Natur verbannt“ (49). „Es sieht für Naturalisten […] so aus, als müsste man den Geist insgesamt wegerklären, was man als Theoriereduktionismus bezeichnet, um auf diese Weise das skizzierte Problem einfach aus der Welt zu schaffen. […] Die ‚philosophy of mind‘ beschäftigt sich also primär mit der Frage, wie sich geistige Vorgänge beziehungsweise besser gesagt: mentale Zustände und Ereignisse im rein natürlichen Universum unterbringen lassen. Damit wird allerdings vorausgesetzt, dass wir einen Standard- oder Ausgangsbegriff von Wirklichkeit akzeptieren sollten: physikalische Wirklichkeit. […] Das erste Problem ist, dass die naturalistische Metaphysik einen völlig überzogenen und wohl auch veralteten Naturbegriff in Anspruch nimmt. […] Die naturalistische Metaphysik entstand in Zeiten, in denen es so aussah, als ob zunächst Newton und dann Newton + Einstein hinreichen würden, um uns ein prinzipiell vollständiges Bild des Universums in der Sprache der Mathematik zu liefern. Seit der Quantenphysik klingt das nicht mehr allzu plausibel, und der in diesen Tagen im Raum stehende Kandidat für die Einheitsphysik, nämlich die Stringtheorie mit ihren vielen Spielarten, scheint sich überhaupt nicht experimentell belegen zu lassen. Kurzum: Wir befinden uns gar nicht mehr auch nur annähernd in der Lage anzugeben, wie man eigentlich das Universum im Ganzen mittels experimentell abgestützter Naturwissenschaft erforschen könnte“ (53–55; Kursive G.). Vgl. Drews (2011: 57–65; 2018: 16).
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schen geistig-intelligiblem Inhalt und materiellem Korrelat verkennt.19 Thomas Nagel (2012: 16) bringt diesen grundsätzlichen Gedanken prägnant (und mit einem pun) auf den Punkt: „My guiding conviction is that mind is not just an afterthought […].“ Wenn der platonische Grundgedanke gilt, dass Geist eben gerade nicht dasselbe wie Gehirn, Biologie bzw. Materie, sondern von sich selbst her das Denken intelligibler Sachgehalte ist, dann ergibt sich tatsächlich ein vollkommen anderes Wirklichkeitsverständnis als das naturwissenschaftlich dominierte der Moderne. Dabei – auch dies sollten die obigen Beispiele andeuten – geht es keinesfalls darum, Naturwissenschaft zu marginalisieren oder gar zu diskreditieren: Das komplexe materielle Universum ist zweifellos ein durch seine materiellen Strukturen faszinierender Erkenntnisgegenstand. Es macht jedoch einen gewichtigen Unterschied, ob man dieses materielle Universum (oder auch Multiversum) für sich selbst bereits als die absolute Wirklichkeit versteht oder aber als Spiegel und Produkt geistigen, schöpferischen (Hervor-)Denkens. Nicht nur der Platonismus, sondern auch Religionen wie das Christentum votieren für Letzteres, wie z. B. eine markante Stelle aus dem Römerbrief des Paulus zeigt:20 Denn seine [sc. Gottes] Unsichtbarkeit (ta ahorata) wird von der Gründung des Kosmos an anhand der Schöpfungen [sc. Gottes] geschaut als etwas geistig-intellekthaft Erkennbares21 (nooumena), die Ewigkeit22 sowohl seiner vermögenden Macht (dynamis) als auch seiner Gottheit (theiotês) (Rö 1, 20).
Paulus beschreibt Gott als den Unsichtbaren, der auch – so dürfen wir präzisierend ergänzen – mit den besten Messgeräten nicht einfach ‚eingefangen‘ werden kann, da Messgeräte immer nur die materiell vorliegenden oder formal errechenbaren Daten ermitteln. Können wir, so Paulus, daher nichts von Gott wissen, ist er so transzendent, dass er sich unserem Erkenntniszugriff radikal entzieht? Zu meinen, man könne einfach mit einem ‚intelligenten Finger‘ auf Gott zeigen, wäre ebenso anmaßend, wie es umgekehrt ein ‚Todesstoß‘ für Religion und Theologie wäre, gleichsam epikureisch zu behaupten, Gott sei uns so sehr entzogen, dass überhaupt gar keine ‚Brücke‘ zu ihm bestehe. Paulus wählt einen dritten, mittleren Weg: Gott ist transzendent und unsichtbar; aber der materielle Kosmos verweist durch die in ihm (mal mehr, mal geringer) auffindbare Ordnung, Strukturiertheit und Schönheit auf Gottes Unsichtbarkeit, und
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Vgl. Gabriel (2017: 21–22): „Der Neurozentrismus lehrt also in aller Kürze: Ich ist Gehirn. […] es ist bisher in der Öffentlichkeit noch kaum angekommen, dass die Philosophie des Geistes in unserem jungen Jahrhundert vom Neurozentrismus abrät.“ Zur Stelle vgl. Drews (2018: 200–1). Wörtlich: „als geistig-intellekthaft/noetisch Erkanntwerdendes“. Um diese Sperrigkeit zu vermeiden, übersetze ich oben „Erkennbares“, da es inhaltlich um das Erkanntwerden und Erkanntwerdenkönnen geht. – Zu Gottes Unsichtbarkeit im NT vgl. auch 1 Tim 6, 16b. Da ich dynamis als „vermögende Macht“ wiedergebe, übersetze ich das Attribut aidios „ewig“ hier mit dem Substantiv „Ewigkeit“, wobei aidios sich m. E. inhaltlich sowohl auf dynamis als auch auf theiotês bezieht.
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diese Verweise vermag der menschliche Geist als nooumena zu durchschauen, zu begreifen.23 Genau dieser entscheidende Erfassungsakt zeichnet den menschlichen Geist aus und unterscheidet ihn von technischen Messgeräten, die lediglich ein bestimmtes Quantum von etwas nachmessen, jedoch für das ‚Wesensmaß‘ und die Schönheit von Etwas blind sind (es sei denn, sie werden programmiert und zeigen bei einem bestimmten Messergebnis dann das Resultat ‚Lied‘ und ‚schön‘ an – auch hier wird der eigentliche Erfassungsakt dann durch einen formalisierten Algorithmus lediglich imitiert). Ist ein solch christlich-platonischer Rückschluss vom materiellen Kosmos auf den schöpferischen Geist als seine Ursache indes nur eine thetische Überzeugung, eine Setzung des bereits vorausgesetzten Glaubens? Hier sei auf ein Standardbeispiel (‚Dreieck‘) verwiesen, welches im platonischen Sinne gerade ein intelligibel-immaterielles Prinzip als Voraussetzung für von ihm abhängige materielle Strukturen aufzeigt, so dass ‚Geist‘ hier nicht nur eine nachträgliche ‚Auswertungsinstanz‘ für immer schon vorliegende Materiestrukturen, sondern vorausliegende Bedingung der Möglichkeit solcher Strukturiertheit ist.24 Für Platoniker umfasst das intelligible Eidos des Dreiecks alle Möglichkeiten, Dreieck zu sein, auf einshafte Weise. Der Rechtsgrund, überhaupt ein solches universales Eidos als einheitliche Ursache des Dreieck-Seins anzunehmen, an welcher alle einzelnen Dreiecke partizipieren, besteht in der ergründbaren Bestimmung, dass es grundsätzlich nur eine Möglichkeit gibt, eine geradlinig-ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein: die des Dreiecks. Diese Seinsmöglichkeit umfasst den spezifischen, eidetischen Unterschied dessen, was das Dreieck-Sein ausmacht. Sie kann innerhalb der wahrnehmbaren Materie auf unterschiedliche Weise realisiert werden: als rechtwinkliges, unregelmäßiges, stumpfwinkliges, gleichseitiges, gleichschenkliges Dreieck. Wenn es aber darum geht zu fragen, was alle diese Einzelfälle des Dreieck-Seins zum Dreieck (und nicht zum rechtwinkligen, unregelmäßigen … Dreieck) macht, dann erhellt, dass dieses Dreieck-Sein an sich nicht der bloßen Sinneswahrnehmung zugänglich ist, sondern nur durch die Ratio begriffen werden kann entsprechend dem von Euklid durchgeführten Beweis.25 Ein solches Eidos als Prinzip des Dreieck-Seins ist – das wird an einem mathematischen Beispiel in besonderer Weise erkennbar – kein nebulöses Postulat, sondern eine begreifbare, einsehbare (= intelligible) Bestimmtheit, die bei jedem euklidischen Dreieck nachweisbar ist. Diese Allgemeingültigkeit eines intelligiblen Prinzips, die auch dann noch besteht, wenn keinerlei Instanzen dieses Prinzips ‚vorhanden‘, d. h.
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Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005: 240) dazu, „dass durch die Welt und ihre geistige Struktur der schöpferische Urgedanke und seine gründende Macht hindurchschimmern.“ Die folgenden Absätze fassen zusammen, was ich andernorts detaillierter erörtert habe (Drews 2018: 73, 331, 526). Euklid, elem. I, 32.
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äußerlich existent wären, zeigt zum einen, dass das jeweilige Sachprinzip für sich selbst Bestand hat in reiner Intelligibilität, und zum anderen, dass die einzelnen Instanzen an dieser jeweiligen Sachbestimmtheit partizipieren und sie so auf partikularisierte Weise verwirklichen. Der Verifikationspunkt für den Aufweis eines solchen eidetischen Prinzips liegt darin, ob sich das Begriffene mit seinen Bestimmungsmomenten als in sich selbst bestimmte, sachliche Einheit denken lässt, wie eben das in Euklids Beweis vom Innenwinkelsummensatz erschlossene Wesen des Dreiecks. Dieser Beweis existiert nicht irgendwo draußen in einer nahen oder fernen Galaxie, sondern er gilt für geradlinige, flächige, geschlossene Figuren mit drei Seiten, unabhängig davon, ob diese außerdem auch noch einen rechten Winkel oder zwei bzw. drei gleich lange Seiten haben (etc.). Er ist gewissermaßen eine begreifbare Tatsache, die gerade nicht dadurch verifiziert oder widerlegt wird, ob in der wahrnehmbaren, beobachtbaren Natur solche Dreiecksgebilde genauso vorkommen, sondern er bezieht seine Verifikation aus dem Kriterium der inneren Schlüssigkeit und Stimmigkeit des Bewiesenen. Diese wiederum basiert letztlich auf der inneren, begreifbaren Einheit des Dreieck-Seins: dass es innerhalb einer im euklidischen Sinne ebenen Fläche unmöglich ist, dass ein geradliniges Dreieck nicht die Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln aufweist. Nicht die Frage, ob eine solche ebene Fläche ‚in der Natur‘ vorkommt, kann entscheidend sein. Die vom Intellekt geleitete Vorstellungskraft der Seele kann indes den Begriff der ebenen Fläche idealiter bilden und deshalb – nur deshalb – auch Euklids Beweis in seiner Gültigkeit einsehen. Das Verifikationskriterium liegt also tatsächlich in der begreifbaren Sache, im Intelligiblen selbst. Alles, was in der äußerlich beobachtbaren Natur instanzhaft-materialisiert vorkommt, ist zumindest nach platonischer Auffassung ein Abbild des in der theôria Geschauten: Diese theôria ist jedoch nicht ein lediglich subjektiv entworfenes Konstrukt, welches seine Gültigkeit erst im experimentellen Beweis finden müsste, sondern hat ihr fundamentum in re aus sich selbst heraus aufgrund der begrifflich aufweisbaren Sacheinheit. Daher ist sie nicht in einem modernen Sinne ‚theoretisch‘, sondern wirklich theôria, schauendes Durchdringen eines begreifbaren Sachverhalts, eines platonisch verstandenen Eidos, welches keine ‚bloße Idee‘ im Sinne eines rein subjektiv entworfenen Gedankenkonstruktes darstellt. Das Eidos ‚Dreieck‘ ist dabei lediglich ein Repräsentant der Fülle intelligiblen Seins, welches im platonischen Sinne, wie etwa Plotin darlegt, von dem absoluten, überseienden Einen herrührt und durch den göttlichen Intellekt (nous) gedacht wird. Zu dieser Fülle und Totalität des seienden Einen (hen on) gehören z. B. die Ideen ‚Schönheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Liebe‘ etc.26 Wichtig ist dabei, dass speziell der Platonismus diese Voraussetzung des Intellekts und des intelligiblen Seins nicht in fideistisch-thetischer Weise vornimmt, sondern philosophisch-argumentativ entfaltet,
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Zu Plotin und der Totalität des Seins im hen on vgl. Drews (2018: 81–98).
2. Hermeneutische Prinzipien
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wie das Dreiecksbeispiel zeigen sollte. Ist aber ‚Geist‘ im absoluten Sinne – und somit Gott selbst – nicht bloß ein Konstrukt, welches Menschen subjektiv entwerfen (oder eben nicht), nicht bloß ein Produkt des Gehirns, dann ergibt sich eine völlig andere Sicht auf ‚die Wirklichkeit‘: Dem Intelligiblen käme ein eigentlicher Wirklichkeitsbereich gegenüber der materiellen Realität zu; ‚Geist‘ und Gott müssten (und könnten) nicht ‚wissenschaftlich wegerklärt‘ werden; die Naturwissenschaft würde somit nicht allein ‚die Wirklichkeit‘ erfassen und erklären, sondern lediglich die materielle, sinnlich-wahrnehmbare Realität; eine historisch-kritische Geschichtswissenschaft könnte nicht mehr mit unhinterfragbarer Selbstverständlichkeit ausschließlich naturwissenschaftliche Kriterien zum Gradmesser dafür erheben und verabsolutieren, was jeweils wirklich sein darf und somit wirklich gewesen sein kann, sondern sollte ein umfassenderes Wirklichkeitsverständnis veranschlagen, jedenfalls mit einem solchen rechnen; besonders für die Interpretation theologischer Texte erschiene eine vermeintlich ‚historisch-kritische‘, der Sache nach eher klassisch-naturwissenschaftliche Methode zumindest fragwürdig. Dieser lange Vorlauf war nötig, um wieder auf den bibelexegetischen Zusammenhang bei Augustinus zurückzukommen: Denn es ging darum, jedenfalls in einigen wenigen grundsätzlichen Überlegungen zu zeigen, warum für den Kirchenvater ein anderes Wirklichkeitsverständnis als das moderne besteht – und dies nicht nur in historisch zurück- und herabblickender Weise (‚Augustinus wusste es eben noch nicht besser‘), sondern auf Augenhöhe27 und in direktem Vergleich mit modernen Annahmen. Nicht zuletzt folgt aus diesem Wirklichkeitsverständnis eine bisweilen völlig andere Auffassung dessen, was eigentlich ein literaler Textsinn ist.28 Als ‚Extrakt‘ dieses Vorlaufs mag zunächst deutlich geworden sein, dass der Bischof von Hippo gute Gründe hat, gleich zu Beginn von De Genesi ad litteram die Frage zu stellen, ob bei der „Erzählung geschehener Tatsachen alles ausschließlich gemäß dem intellektiven Begreifen figürlicher Rede“ aufzufassen oder auch „gemäß dem Glauben an historische Tatsachenberich27 28
Vgl.: „Die klassischen Philosophen [sc. der Antike kann] man nur verstehen, wenn man mit ihnen wie mit lebenden Kollegen über die Wahrheit ihrer Gedanken diskutiert“ (von Weizsäcker 2002: 3). Gn. litt. I, 1; 3, 10–13. Dabei ist zu berücksichtigen, dass „der historische Sinn nicht immer identisch sein muß mit dem (‚wörtlichen, eigentlichen‘) Literalsinn“ (Pollmann 1996: 27, Anm. 33). Ebenso Kelly (1997: 121): „[…] ad litteram may mean non-figurative but it does not have to mean historical.“ Dies wird jedoch keineswegs immer gesehen: „In this later commentary [sc. Gn. litt.], historical interpretation is synonymous with literal interpretation“ (Kim 2006: 100); in Gn. litt. „all of his interpretation is done in terms of history“ (ibd., 167); ähnlich Finan (1992: 144) zur „literal, historical reality“. Zwar warnt Greene-McCreight (1999: 40) zu Recht: „the reader must put aside any preconceived notions of what the terms ‚literal‘ and ‚allegorical‘ might mean, or Augustine may appear to be talking nonsense. Instead we must let Augustine’s understanding of these terms emerge from his exegetical conclusions.“ Die darauf folgende Definition von Literalität wird Augustinus jedoch kaum gerecht: „Literal/proper either indicates a) an ‚event‘ that happened in the past or b) a material thing, place or person“ (ibd., 41) – ein solches ‚Raster‘ fängt die wichtige Beobachtung Pollmanns nicht ein (s. auch oben Anm. 14 sowie unten Kap. 17). Zur Kritik an Greene-McCreight s. u. Anm. 420.
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te“ zu verteidigen sei. Denn: dass es einen geistig-intelligiblen Wirklichkeitsbereich gibt und dass dieser der materiellen, historischen Realität vorausliegt, steht für den vermittelt über den Platonismus zum christlichen Glauben (zurück-)gekommenen Kirchenvater außer Frage.29 Das exegetische Problem, welchem Augustinus bei seinem Unternehmen, das Buch Genesis literal auszulegen, bereits in den ersten Sätzen entgegensieht, ist also alles anderes als ein ‚vorkritisches Relikt‘, sondern verdankt sich einer voraussetzungsreichen, differenzierten und somit (im platonischen Sinne) auch kritischen Hermeneutik,30 die in philosophisch-wissenschaftlicher Hinsicht mindestens ebenso fundiert ist wie die moderne historisch-kritische Methode. Dieses Urteil ist keinesfalls übertrieben, selbst wenn man platonische Grundannahmen, die sich, wie gesehen, reflexiv erschließen und argumentativ aufschlüsseln lassen, so nicht teilen möchte: Allein der Umstand, dass Augustins Hermeneutik begründeterweise mit einer größeren Bandbreite dessen rechnet, was als seiend, intelligibel und auch als historisch möglich gelten kann und darf, verleiht seinem Ansatz einen offeneren, pluralistischeren,31 schlicht mehr Möglichkeiten ins Auge fassenden und dabei doch ontologisch und erkenntniskritisch abgesicherten Charakter, wie im Folgenden noch konkreter deutlich werden wird.
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Damit soll nicht die alte Behauptung erneuert werden, Augustinus hätte sich zuerst zum Platonismus und erst später zum Christentum bekehrt (zur Diskussion dieser Frage s. Fuhrer 2004: 76 und Brachtendorf 2005: 147–9). Es geht allein um die philosophische Basis des Platonismus (verissima philosophia, acad. III, 19, 42), welche in Augustins geistiger Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt hat. Auf Augustinus trifft insofern zu, was Ratzinger – Benedikt XVI. (2005b: 107–9) darlegt: „Nicht die Exegese beweist die Philosophie, sondern die Philosophie bringt die Exegese hervor.“ Pluralistisch (s. Brachtendorf 2005: 274–5) ist nicht zuletzt Augustins Auffassung, dass es bei der Exegese nicht ausschließlich darum gehe, was der biblische Autor jeweils gemeint habe. Vielmehr sei durchaus mit vielen und verschiedenen Deutungen zu rechnen, die so lange ihre Berechtigung behielten, wie sie einander nicht widersprechen, sondern ergänzen und so die Fülle des biblischen Textes erschließen helfen würden (tanta copia verissimarum sententiarum, conf. XII, 25, 35; s. außerdem Gn. litt. I, 18; 27, 12–14). Vgl. Hattrup (2006) und jetzt Moro (2016: 38) zum „‚pluralismo‘ osservato nel De Genesi ad litteram“.
3. Einstieg in die literale Exegese der Genesis Fragen als Ausdruck der Aporie? Oder der methodisch behutsame Weg durch den Irrgarten der Interpretationsmöglichkeiten: Inwiefern spricht Gott? An dem methodischen Duktus von De Genesi ad litteram fällt grundsätzlich auf, dass Augustinus sehr viele Fragen formuliert und an den Text richtet. Aus (post-)moderner Perspektive könnte dies den Anschein erwecken, als ob sich der Kirchenvater – sozusagen sympathischerweise – gleichsam ‚seiner Sache selbst nicht ganz so sicher‘ gewesen sei und man das Werk daher mit gutem Recht ‚antidogmatisch‘ und ‚offen‘ interpretieren sollte. Mit dieser Deutungsmöglichkeit ist zumindest zu rechnen. Wenn die folgenden Interpretationen von De Genesi ad litteram berechtigt sind, zeugen diese Fragen gleichwohl nicht primär von einer philosophisch-dogmatischen Unschärfe oder absoluten exegetischen Aporie, sondern zeigen für Augustinus vielmehr methodisch einen Weg auf, um Schritt für Schritt einer möglichen schlüssigen Gesamtdeutung auf die Spur zu kommen. Denn, wie gerade am Ende des vorangegangenen Kapitels bemerkt, ist der Kirchenvater in einer bestimmten Hinsicht tatsächlich offen und pluralistisch: indem er bei der Bibelexegese mit einer Fülle von Deutungsmöglichkeiten rechnet und diese auch als berechtigt ansieht, solange sie einander nicht widersprechen, sondern den inneren Reichtum und die Wahrheit der Heiligen Schrift erkennen helfen. Diese methodische Offenheit, welche doch keine Beliebigkeit meint, kennzeichnet bereits Augustins exegetische Praxis am Ende seiner Confessiones32 (geschrieben zwischen 397–401 n. Chr., also vor der Abfassung von De Genesi ad litteram33). Die erste Frage, die der Kirchenvater an den Bibeltext richtet, lautet – entsprechend der zu seiner Zeit bestehenden ‚Selbstverständlichkeit‘ der figürlichen Auslegungsweise34 – tatsächlich, inwiefern der allererste Satz „Im Anfang machte Gott Himmel und
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S. die vorhergehende Anm. Zu den Datierungen s. Fuhrer (2004: 61–62). S. o. Kap. 2.
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Erde“ (Gen 1, 1) überhaupt einen anderen Sinn als den „allegorischen“ haben könne.35 Sind Himmel und Erde am Beginn der Zeiten, da „zuerst von allen“ (primo omnium), erschaffen worden, oder bedeutet „im Anfang“ (in principio) im allegorischen Sinn, dass sie durch Gottes Logos (verbum Dei), welches Christus ist, geschaffen wurden36 – in Übereinstimmung mit dem Prolog des Johannes-Evangeliums (Jh 1, 1)? Denn, wie Augustinus später erläutern wird, sagt Christus in diesem Evangelium von sich selbst, er sei „das Prinzip“ bzw. „der Anfang“ (Jh 8, 25).37 Als nächste Fragen schließen sich an, wie der überzeitlich-ewige Gott Zeitlich-Veränderliches habe erschaffen können, ohne selbst eine Veränderung zu erleiden, ob „Himmel“ und „Erde“ die „geistige und körperliche Schöpfung“ (spiritalis corporalisque creatura) oder ausschließlich die körperliche meinen oder ob beide Begriffe jeweils die „ungeformte Materie“ einerseits im körperlichen, aber andererseits eben auch im geistigen Sinne bedeuten,38 bevor Geistund Körperwesen durch „Hinwendung, Bekehrung zu ihrem Schöpfer“ (conversa ad creatorem) ihre „Seinsform“ und „Vollendung“ erhalten (tali enim conversione formatur atque perficitur).39 In eine ähnliche Richtung weist die Frage, in welcher Weise das erste ‚Wort Gottes‘: „Es werde Licht!“ (Gen 1, 3) gesprochen worden sein könnte. Ein sinnlich-wahrnehmbares Sprechen setzt Zeitlichkeit und damit Veränderlichkeit voraus, welche, wie Augustinus hier nicht weiter begründet, Gott nicht im Sinne eines ereignishaften Umschlagens zukommen kann.40 Wenn also ein zeitlicher Sprechakt gemeint sein sollte, hätte Gott, so Augustins scharfsinnige Konklusion, dann nicht durch eine Kreatur (per creaturam) sprechen müssen? Dann aber wäre das Licht nicht mehr das erste Geschöpf, sondern hätte bereits vorher ein Geschöpf geschaffen worden sein müssen.41 Bereits dieser Fragenkette, welche beim ersten Lesen wie eine exponentiell anwachsende Aporienanhäufung wirken könnte, wohnt beim genaueren Hinsehen durchaus eine innere Logik inne, die zeigt, wie bestimmte Aporien bereits in sich selbst zusammenfallen, wobei nicht alle Teilglieder der Argumentation sofort explizit gemacht
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Gn. litt. I, 1; 4, 3–5. Vgl. conf. XIII, 5, 6 und Gn. litt. I, 6; 10, 10–17. ideoque interrogatus, quis esset, respondit: ‚principium, quia et loquor vobis‘ (Gn. litt. I, 5; 9, 10–11). Hebb (2007: 372) weist zu Recht darauf hin, dass hinsichtlich dieses Punkts (Christus als der Anfang der Schöpfung, Gen 1, 1) große Kontinuität in Augustins exegetischen Werken besteht, unbeschadet ihrer unterschiedlichen Ausrichtung. Die Unterscheidung von sinnlich-wahrnehmbarer und intelligibler Materie geht auf Plotin zurück, s. dazu Tornau (2014). Gn. litt. I, 1; 4, 5–17. Für Augustinus ist Gott „unveränderlich“ (vgl. civ. XI, 21 und dazu Drews 2009: 171–6). – Dies darf freilich nicht so missverstanden werden, als ob Gott gleichsam ‚Gefangener seiner selbst‘ wäre. Vielmehr zeigt gerade die trinitarische Beziehung von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist Gottes innere, sozusagen pulsierende Aktivität an (vgl. Drews 2018: 265, 411–3), welche aber eben kein zeitliches Umschlagen von disparaten Zuständen bedeutet. Gn. litt I, 2; 5, 14–19. Zu diesem Themenkomplex vgl. Alexanderson (2006).
3. Einstieg in die literale Exegese der Genesis
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werden: Wenn gemäß der schöpfungstheologischen Grundaussage Gott Schöpfer der Welt und ihrer Zeit ist, dann kann er selbst nur außerhalb von Welt und Zeit Bestand haben. Ein zeitliches Sprechen kann Gott, insofern er Gott ist, dann nicht simpliciter, nicht ‚ohne Weiteres‘ zukommen. Denkbar wäre indes, dass Gott sich eines Geschöpfs bedient, um das Fiat lux tatsächlich sinnlich-wahrnehmbar zu artikulieren. Dies scheitert aber daran, dass von einem solchen Geschöpf nicht nur im Schöpfungsbericht zuvor keine Rede war – und somit in einer literalen Interpretation keinen Rückhalt im Text hätte –, sondern auch an der inneren Logik der Argumentation: Wenn das Licht sich dem ersten expliziten Schöpfungsakt verdankt, dann kann vorher kein anderes Geschöpf postuliert werden, dessen Existenz, wie der weitere Verlauf des Schöpfungsberichts zeigt, erst später verursacht wird. Augustins ‚Fragekatalog‘ hat also bereits eine interne Logik, und sein hermeneutisches Bemühen erscheint angesichts der Fülle von Fragen keineswegs aporetisch oder zum Scheitern verurteilt – vielmehr kann der Kirchenvater so bestimmte Deutungsmöglichkeiten bereits ausscheiden und in seine Exegese ein wenig „Licht“ bringen. D. h., die an Plotins Enneaden-Stil erinnernden Fragen sind gerade nicht Ausdruck eines totalen Zweifelns, sondern bringen Augustinus behutsam und in kleinen Schritten voran. Diese ‚kleinen Schritte‘ haben dabei methodisch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Der Bischof von Hippo vermeidet dadurch absolute Aporien, die wie Sackgassen in einem Irrgarten überhaupt keinen Ausweg mehr erlauben. Ein kleiner Schritt in eine (wie man zuvor noch nicht wissen kann) abwegige Richtung lässt sich ohne Weiteres leicht revidieren: um im Bild zu bleiben, wird eine Sackgasse somit leicht enttarnt, ohne dass der Rückweg zum Ausgangspunkt des Irrgartens unmöglich geworden wäre.42 42
Pollmann (2009a: 316) betont „the aporetic character of this commentary“ und die Offenheit spätantiken Denkens gegenüber einem sich verfestigenden Denken im Mittelalter. Ähnlich MacCormack (2008: 14, 22). Gemäß Fladerer (2010: 171) betrachte Augustinus „Aporien nicht als Eingeständnis einer prinzipiellen Verständnisunmöglichkeit, sondern im Gegenteil als Zeugnis dafür, daß viel im Sinne von vielfältig – multa – erkennbar sei“ (ibd., 171). Beide Sichtweisen scheinen berechtigt: Denn die Offenheit, welche Gn. litt. unverkennbar bekundet, widerspricht nicht der Sache nach einem systematisch fragenden Impetus, vielmehr müssen sich Interpretationsergebnisse grundsätzlich in einen systematischen Kontext integrieren lassen, aber das systematische Denken darf nicht dazu führen, verschiedene bzw. andersartige Sehweisen auszublenden. – Das methodische Verfahren lässt sich mit einem Spiel vergleichen: Bei dem unter den Namen Master Mind oder auch Supercode bekannten Spiel lässt sich mit einem mathematisch ermittelbaren Algorithmus durch logisches Ausscheiden von Kombinations(un)möglichkeiten fast immer in sieben Zügen die Lösung für eine Aufgabe folgender Art ermitteln: Ein Spieler steckt verdeckt vier Farbsteine aus 9 verschiedenen Farben (mit beliebigen vielfachen), also z. B. die Farbsteine ‚grünrot-rot-gelb‘. Der zweite Spieler setzt zunächst eine Hypothese wie ‚gelb-orange-braun-blau‘ und erhält von Spieler 1 die Auskunft, dass eine Farbe richtig angenommen, aber an falscher Position gesetzt sei. Danach probiert er gemäß dem (durchaus komplexen) Algorithmus weitere Möglichkeiten durch. Sofern nicht zufällig schon zuvor die Lösung ermittelt ist, ergibt sich nach insgesamt 5 Zügen aus der Gesamtinformation aller bis dahin gegebenen Antworten (wieviele Farben in jedem Schritt richtig ‚geraten‘ wurden und wieviele an korrekter bzw. falscher Stelle stehen, ohne
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Augustinus geht also mit einer zielgerichteten und abgesicherten Methode vor, indem er Interpretationsmöglichkeiten auf ihre innere Stimmigkeit prüft. Dabei setzt er zwar ein bestimmtes theologisches Wissen bereits voraus, ohne dass dies jedoch einem hermeneutischen Zirkel gleichkäme: Denn das Wissen um Gottes Ewigkeit verdankt sich für Augustinus keiner bloßen theologischen Setzung, sondern ist in exegetischer Hinsicht schlicht anderen Schriftpassagen entnehmbar (wie z. B. Rö 1, 20)43 – hier gilt das Prinzip, dass nicht jeder Text bzw. jeder Satz oder auch nur jedes einzelne Wort bereits die gesamte Fülle eines inneren, inhaltlichen Zusammenhangs zum Ausdruck bringen kann. Zudem ist aus Augustins neuplatonischer Perspektive Gottes Ewigkeit in argumentativ-philosophischer Hinsicht letztlich ein Implikat seines Einer-Seins, also seiner wesenskonstitutiven und wesensimmanenten Einheit, welche Zeitlichkeit im Sinne ereignishafter Veränderungen, wie sie die materielle Welt prägen, ausschließt. Vorwerfen lässt sich dem Kirchenvater also bestenfalls, dass er hier nicht alle seine Voraussetzungen explizit macht – nicht hingegen, dass diese Voraussetzungen gar nicht begründet werden könnten: Dies können sie sowohl auf argumentativ-philosophischem Wege wie auch textlich unter Bezugnahme auf andere Werke des Bischofs von Hippo, in denen er das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit reflektiert.44 Zugleich wird indes schon an dieser Stelle deutlich, wie mühsam Augustins exegetische Methode ist und wieviel Ausdauer sie verlangt. Denn, wie kaum überraschen mag, stellt sich besonders am Anfang dieses Unternehmens sehr schnell der sprichwörtliche Befund ein, dass hinter jeder beanworteten Frage und ausgeschlossenen
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dass bekannt ist, welche konkrete Farbe gemäß der gestellten Aufgabe an welcher Stelle und wie oft steht) die Möglichkeit, mittels komplexer Kombinatorik verschiedene Konstellationen, die bis zu diesem Schritt allesamt noch möglich sind, zu ermitteln. Der sechste und vorletzte Schritt ist dann zumeist der anspruchsvollste: In Abweichung vom Algorithmus muss der ‚ratende‘ Spieler nun eine Farbkombination setzen, mit der möglichst viele Kombinationen auf ihre Widerspruchsfreiheit abgeklopft werden können, indem er z. B. ‚schwarz-weiß-gelb-braun‘ setzt: Entweder sind ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ beide in der Lösung enthalten oder keine der beiden, oder aber ‚gelb‘ ist enthalten, wenn aber ‚gelb‘, dann auch ‚grün‘, ‚braun‘ ist bereits ausgeschieden. Erhält der Spieler nun die Antwort ‚1 richtige Farbe‘, dann ist klar, dass ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ nicht Teil der zu ermittelnden Lösung sind (sonst bekäme er als Auskunft ‚2 richtige Farben‘), ‚braun‘ ist aber schon ausgeschlossen, so dass bei einer richtigen Farbe nur noch ‚gelb‘ möglich ist, wenn aber ‚gelb‘, dann muss auch ‚grün‘ enthalten sein, weil, wie aus den vorhergehenden Antworten ersichtlich, nur beide oder keine der beiden Farben enthalten sind. Im siebenten und letzten Schritt werden dann alle Informationen ‚intellektiv zusammengeschaut‘, wobei aufgrund des Algorithmus der Schritte 1–5 sehr präzise Rückschlüsse auch auf die Positionierung der einzelnen Farbsteine vorgenommen werden können. Wie mir aus eigener Spielerfahrung bekannt, bleibt im siebenten Schritt fast immer nur noch eine einzige und eindeutige Möglichkeit übrig, die mit allen gesammelten Informationen zusammenstimmt (nur in absoluten Ausnahmefällen kommt es vor, dass ein achter Schritt nötig wäre, um einen eineindeutigen Schluss auf die zu ermittelnde Lösung zuzulassen). Das Verfahren gleicht methodisch also dem hermeneutischen Ausschluss von Fehlinterpretationen bei Augustinus. Den mathematischen Algorithmus habe ich von meinem Vater, Dr. Klaus-Dieter Drews, übernommen. S. o. Kap. 2. Vgl. civ. XI, 21, lib. arb., conf. XI. Zu conf. XI erarbeite ich derzeit eine neue Studie.
3. Einstieg in die literale Exegese der Genesis
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Aporie mindestens eine neue auftaucht, so dass die Unwägbarkeiten zunächst sogar zuzunehmen scheinen: Jedem abgeschlagenen Kopf dieser ‚lernäischen Hydra‘ scheint sogleich ein neuer nachzuwachsen, wie es der Herakles-Mythos erzählt. Denn, um den konkreten Kontext der Genesis wieder aufzunehmen: Ist denn wirklich sicher, dass das Licht das erste Geschöpf Gottes ist? Nicht, wenn im ersten Vers der Bibel mit „Himmel“ bereits eine „himmlische Schöpfung“ gemeint wäre. Auch an diesem Punkt könnte ein voreiliger Leser von Augustins Überlegungen wiederum allein der überbordenden Aporien ansichtig werden. Der Kirchenvater kann aber auch von dieser Deutungshypothese aus erneut eine wichtige Schlussfolgerung vornehmen: Wäre also ein geistig-himmlisches Geschöpf bereits erschaffen, welches, der Veränderung unterliegend und somit des Sprechens fähig, die Worte Fiat lux nacheinander sprechen konnte, dann müsste es sich bei dem Licht, welches mit diesem Schöpfungswort erschaffen wurde, um das körperliche Licht handeln.45 ‚Licht‘ im geistigen Sinn des begreifenden Erkennens wäre dann – und dies macht Augustinus wiederum nicht explizit – bereits vorausgesetzt und müsste Teil der ersten himmlischen Schöpfung sein: Ohne das Licht der Erkenntnis könnte kein Geschöpf einen Denkakt vollziehen bzw. im Dienste des Schöpfers einen zeitlichen Sprechakt durchführen, der bereits Denken voraussetzt. Das besagte himmlische Geschöpf hätte diesen Sprechakt dann aber (vermittels eines ihm zugeordneten Körpers) als körperlichen, sinnlich-wahrnehmbaren Ton vollziehen müssen – analog zur himmlischen Stimme, die bei der Taufe Jesu im Jordan die Worte: „Du bist mein geliebter Sohn“ (Mt, 3 17) gesprochen habe. Als körperlicher sonus müsste die Stimme zu einem Körperwesen gehören, welches dann zugleich mit „Himmel und Erde“ (Gen 1, 1) hätte erschaffen worden sein müssen – noch vor dem Licht. So käme es auch hier zu einem absurden, von Augustinus erneut nicht explizierten Resultat: Während zuvor noch zugestanden wurde, dass die sprechende himmlische Kreatur eben nach Erschaffung des geistigen Lichts hätte sprechen können, bevor mit dem Sprechakt Fiat lux das körperliche, sinnlich-wahrnehmbare Licht geschaffen worden sei, ergibt sich nun die abwegige Schlussfolgerung, dass ein Körperwesen bereits vor der Erschaffung des Lichts habe einen körperlichen Klang äußern können. Dies ist deshalb unmöglich, weil für Augustinus offenbar die Erschaffung des körperlichen Lichts als eine Art ‚Initialzündung‘ im Schöpfungsprozess der körperlichen Welt zu begreifen ist. (Zudem steht es im Widerspruch zu der erst später thematisierten Erschaffung der Sonne im ersten Schöpfungsbericht, die zumindest vor den Tieren und Menschen hervorgebracht wird.) Augustinus stellt sich zudem die Frage, in welcher Sprache der Satz Fiat lux eigentlich als körperliche Verlautbarung hätte geäußert werden können, da die Sprachenvielfalt gemäß dem Bericht
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Gn. litt. I, 2; 5, 19–27.
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der Genesis erst nach dem Turmbau zu Babel entstanden ist. Wem schließlich hätte das sinnliche wahrnehmbare Sprechen dieser Schöpfungsworte eigentlich genützt?46 Damit kann Augustinus die bisher entwickelte Argumentationskette nun begründeterweise als abwegig beiseite lassen: Gemäß dem impliziten Prinzip scriptura ipsius interpres – „die Heilige Schrift interpretiert sich selbst“47 – deutet der Kirchenvater das göttliche Sprechen nun als Sein und Wirken von Gottes ewigem Logos („Wort“), über den der Prolog des Johannes-Evangeliums sagt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Jh 1, 1).48 Da „alles durch den Logos geschaffen“ sei (Jh 1, 3), sei, so Augustinus, „hinreichend erwiesen“ (satis ostenditur), dass auch das Licht durch den Logos geschaffen wurde. Dieses ‚Sprechen‘ müsse dann aber als ein „ewiges Sprechen“ (aeternum est quod ait deus) begriffen werden, weil der Logos (als Sohn) dem Vater „gleichewig“ (coaeternus) ist, wenngleich dieses ewige Sprechen des Schöpfungsworts eine zeitliche Schöpfung hervorbringe und ihre Entfaltung zu einem bestimmten Zeitpunkt im ewigen Logos begründet sei.49 Das oben schon implizierte theologische Verständnis Gottes als Schöpfer der materiell-zeitlichen Welt setzt zwingend voraus, dass der verursachende Schöpfer selbst nicht Teil des von ihm Geschaffenen, somit also der Welt und Zeit gegenüber transzendent ist. Ein pantheistisch-materialistisch-stoisches Modell, gemäß welchem der Weltenlogos in der materiellen Welt aufgeht und diese ganz und gar durchdringt, ohne ihr transzendent zu sein, scheitert für den neuplatonischen Christen Augustinus schon am Widerspruchsaxiom: Das Verursachende kann nicht selbst Teil des von ihm zu unterscheidenden Verursachten sein und in diesem aufgehen. Genau diese Differenzierung setzt auch der biblische Schöpfungsbericht der Sache nach voraus, wenn er Gottes Geist (Gen 1, 2b) und sein Schöpfungswort von dem Erschaffenen strikt unterscheidet.
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Gn. litt. I, 2; 6, 1–10. Ähnlich Gn. litt. I, 10; 15, 2–4. Greene-McCreight (1999: 39, 57). In Augustins lateinischer Fassung enthält der Satz naturgemäß keine Artikel, die jedoch im griechischen Original vorliegen. Zur komplexen Ausdeutung der Formulierungen „Gott/der Gott“ s. den Kommentar des Origenes und vgl. Drews (2018: 231–245). Gn. litt. I, 2; 6,11–7,2. S. in ähnlicher Weise Gn. litt. II, 6; 40,8–41,18.
4. Fiat lux – welches Licht? Vertragen sich neuplatonische Philosophie und biblische Exegese? Literalsinn, Allegorie, Seinskonstitution, Trinität, Personalität und interreligiöse Inklusion
Bis hierhin hat Augustinus vor allem verschiedene grundsätzliche Interpretationsmöglichkeiten des ersten Schöpfungsberichts im Zusammenspiel mit unterschiedlichen philosophischen Denkoptionen geprüft: Es geht ihm gleichermaßen um Textexegese und systematisch-theologische Reflexion.50 Gemäß der Methode, vom Klar-Eindeutigen ausgehend das (noch) Unklar-Mehrdeutige aufzuhellen,51 stehen folgende theologische Grundannahmen fest: Der „Geist Gottes, der über dem Wasser schwebt“ (Gen 1, 2b), ist der Schöpfergeist, welcher durch sein Sprechen die Welt bzw. Schöpfung insgesamt hervorbringt. Das „Schweben über dem Wasser“ ist bereits ein Bild für die angesprochene Transzendenz Gottes gegenüber der von ihm erschaffenen Welt: Gott und Welt sind nicht identisch. Das schöpferische Sprechen manifestiert sich im Text als erstes in Vers 3: Fiat lux. Gottes Sprechen muss ein ewiges sein, da Gott selbst nicht der Zeit unterworfen ist und gemäß dem christlichen, die Bibel als Einheit aus Altem und Neuem Testament begreifenden Verständnis das Schöpfungswort in Übereinstimmung mit dem Prolog des Johannes-Evangeliums als gleichewiges, weil „bei Gott“ seiendes Wort zu verstehen sei. Das innertrinitarische Sprechen verweist bereits auf die ewige, in Gott selbst bestehende Dynamik und Lebendigkeit – das Schöpungs-
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Die (radikale) Trennung von Exegese und ‚Theologie‘ (= Systematischer Theologie) vollzieht sich erst in der Moderne (vgl. Reiser 2007: 237). Zu den Gestaltungsprinzipien in Augustins Genesis-Kommentierungen vgl. Fladerer (2010: 84–93). Vgl. De doctrina Christiana und dazu die einschlägige Studie von Pollmann (1996). S. auch unten Anm. 68, 99, 156 und 348.
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wort, der Logos Gottes ist „bei Gott“ und selbst „Gott“, indem Gott Vater Gott Logos als „Sohn“52 ewig aus- sowie anspricht.53 Mit seiner sich fragend vortastenden exegetischen Methode und den bereits gewonnenen inhaltlichen Weichenstellungen sind die für Augustinus entscheidenden platonischen Grundkoordinaten wie die Differenzierung zwischen materieller und geistiger Wirklichkeit bereits an den ersten Versen des ersten biblischen Schöpfungsberichts erprobt. So naheliegend auch die moderne, vor allem aus historischer Perspektive motivierte Kritik an der Synthese von Platonismus und einem zunächst in der jüdischen Tradition beheimateten Bibeltext erscheint: Ein interpretatorisches Grundproblem, welches Augustinus auf seine Weise zu lösen versucht, besteht in identischer Weise wohl für jeden exegetischen Versuch – unabhängig davon, von welcher historischen, philosophischen, theologischen Position der jeweilige Exeget sich ihm nähert: nämlich die Frage, was für ein Licht in Vers 3 eigentlich geschaffen wird, wenn doch die Erschaffung sämtlicher Gestirne erst in den Versen 14–16 erfolgt. Das Licht in Vers 3 kann somit nicht das Sonnenlicht sein – diese Interpretation stünde im eklatanten Widerspruch zum Text. Die platonische Differenzierung zwischen einem geistig-intelligiblen und materiellen Wirklichkeitsbereich eröffnet im Sinne eines oben angesprochenen ‚offeneren Interpretationshorizonts‘54 zumindest einen Bezugsrahmen, in welchem eine Unterscheidung von Licht und Sonne als weder widersinnig noch gezwungen erscheint. Im zweiten Kapitel von De Genesi ad litteram hatte Augustinus zudem unterschiedliche Implikationen eines körperlichen und eines geistigen Verständnisses dieses Lichts durchgespielt: Wenn Licht nicht das erste Geschöpf wäre, weil Himmel und Erde vor ihm genannt werden, dann bliebe für das Licht in Vers 3 nur die Deutung als körperliches Licht, welches in der Folge zu einer Reihe von interpretatorischen Abwegigkeiten geführt, als positives Resultat aber zunächst den Sprechakt des Fiat lux als das ewige Sprechen des Gott Vater gleichewigen Wortes nahe gelegt hatte. Nun bleibt die Frage nach dem Licht selbst. Nachdem also das körperliche Licht als Referenzpunkt des Fiat lux ausscheidet, kehrt Augustinus in der Konsequenz zu seiner Interpretation zurück, dass es sich um das geistige Licht handeln müsse. Die nun folgende komplexe Argumentation lässt sich vereinfachend vielleicht so einleiten: Zunächst entsteht das Problem, dass sich hier eine unnötige Dopplung ergeben könnte. Wenn in Vers 1 bereits mit der Erschaffung von Himmel und Erde unter „Himmel“ die geistige Schöpfung zu verstehen wäre, in Vers 3 aber das geistige Licht, dann würde sich die Aporie abzeichnen, inwiefern eigentlich die geistige Schöpfung ohne Licht überhaupt denkbar erscheinen sollte: ‚Geistige Schöpfung‘ impliziert für Augustinus intellectus, höchste Erkenntnis, welcher ‚geistiges Licht‘ immer schon inhäriert. Dass 52 53 54
filius unicus dei (Gn. litt. I, 2; 6, 19). Vgl. Quod autem filius loquitur, pater loquitur, quia patre loquente dicitur verbum, quod filius est, aeterno more, si more dicendum est, loquente deo verbum aeternum (Gn. litt. I, 5; 9, 12–14). S. o. Kap. 2 (Schluss).
4. Fiat lux – welches Licht?
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in beiden Versen unterschiedslos zweimal dasselbe gemeint wäre, ist im Kontext von Augustins hermeneutischer Methode kaum plausibel: Wenn schon erwiesen ist, dass Gottes Geist die Schöpfung initiiert und die Erschaffung der Welt durch den ewigen Logos, den Sohn, erfolgt, dann kann die Bibel als theologischer Text nicht einfach eine ‚geistlose‘ Wiederholung zum Ausdruck bringen wollen.55 Augustins Lösung besteht nun darin, dass die geistige Schöpfung, welche in Vers 1 mit dem Wort ‚Himmel‘ bezeichnet sei, durch das Schöpfungswort Fiat lux. Et facta est lux „vollendet“ (prima creatura iam hoc dicto perfecta) und von dem Schöpfer „zu sich selbst zurückgerufen“ werde (eam recovante ad se creatore), auf dass ihre „Hinkehr“ bzw. „Bekehrung“ (conversio) als vollzogen und „erleuchtet“ (illuminata) verstanden werde.56 Damit greift er einen in Kap. 3 bereits angedeuteten Gedanken wieder auf, der neuplatonischer Provenienz ist: Die Trias Verharren – Hervorgang – Rückwendung/Bekehrung (griech.: monê, prohodos, epistrophê) bezeichnet die drei Momente der (überzeitlichen) Seinskonstitution, in welcher von einem verharrend-bleibenden Prinzip das Prinzipiiertwerdende hervorgeht und in seiner Rückwendung zum Prinzip seine seinsspezifische Identität empfängt.57 „Konversion“ hat für Augustinus also den Doppelcharakter als ‚Bekehrung zu Gott‘ (in dem auch heute noch geläufigen religiösen Sinne) und als ‚ontologische Hinkehr zum Schöpfer‘ im Sinne der Bedingung der Möglichkeit dafür, dass ein Geschöpf überhaupt sein spezifisches Wesen von Gott her
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Damit ist das Thema der Inspiriertheit der Heiligen Schrift (vgl. Fuhrer 2004: 151) unmittelbar tangiert, wenngleich dies von Augustinus an dieser Stelle nicht eigens diskutiert wird (s. genauer dazu v. a. unten in Kap. 14). So steht etwa in conf. XII, 18, 27 die Wahrheit der Schrift, welche nur von Gott qua Heiligem Geist garantiert sein kann, weil ‚Wahrheit‘ nach christlichem Verständnis letztinstanzlich Gott selbst ist (vgl. Jh 14, 6), nicht zur Disposition – unbeschadet der Möglichkeit, dass verschiedene Deutungen einer Schriftpassage denkbar sein können: Der Wahrheitsanspruch als Folge der Inspiriertheit der Bibel (vgl. conf. XII, 30, 41) ist für Augustinus also gerade nicht mit einer ‚dogmatischen Verengung‘ verbunden, sondern vielmehr mit einer Öffnung in die Pluralität (vgl. Fuhrer 2004: 153–4). Der Unterschied zu einem postmodernen Pluralismus besteht freilich in der Verankerung dieser Vielheitlichkeit in der Einheit der Wahrheit und damit letztlich in Gott selbst: Es geht Augustinus also nicht um einen völlig beliebigen Pluralismus, sondern um eine Vielheit der Deutungen, welche als Vielheit durch die Inspiration des einen Heiligen Geistes garantiert wird. Für die exegetische Praxis formuliert Augustinus daher das Kriterium, dass die vielen Deutungen so lange als wahr betrachtet werden könnten, wie sie einander ergänzten und nicht widersprächen (conf. XII, 20, 29). Was genau die Intention des menschlichen Autors beim Schreiben des heiligen Textes gewesen sein mag, ist dagegen nicht zu ermitteln und offenbar für Augustinus weniger entscheidend, solange mehrere Deutungen, von denen möglicherweise auch die Intention des Autors getroffen sein mag, die Wahrheit des biblischen Textes zum Vorschein bringen (conf. XII, 24, 33). S. o. Anm. 31 sowie Fladerer (2010: 173–7) und Greene-McCreight (1999: 39). Gn. litt. I, 3; 7, 3–11. Systematisch entwickelt wurde diese Trias von Proklos (vgl. Drews 2018: 342, Anm. 1150). Wie bereits Beierwaltes (1979: 162) deutlich macht, zeigt diese Trias jedoch auch schon bei Plotin ihr volles Gewicht: „Verharren, Hervorgang, Rückkehr sind eine in sich zwar unterschiedene, aber nicht zu scheidende Einheit, in der jedes Glied in jedem anderen ist, auf je eigentümliche Weise.“ Vgl. ferner Catapano/Moro (2018: 352).
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empfängt. Beide Aspekte sind der Sache nach letztlich untrennbar – der ontologische gibt dem religiösen erst sein eigentliches Gewicht. Der Einwand, dass die neuplatonische Überfremdung des biblischen Texts nun mit Händen zu greifen sei, scheint hier seine Bestätigung zu erfahren. Man sollte den Kirchenvater jedoch auch hier nicht unterschätzen. Denn er hat, wie seine sogleich folgenden Überlegungen zeigen, recht gute Gründe im biblischen Text selbst, um seine Deutung zu untermauern. Augustinus geht nämlich sofort zur nächsten Frage über, weshalb im ersten Vers eigentlich nicht die Worte fallen: ‚Und Gott sprach: Es werde … und es wurden …‘ In Analogie zum weiteren Verlauf des Schöpfungsberichts wäre dies doch zu erwarten, da nach dem Fiat lux das et facta est lux folgt (Gen 1, 3). Der Anfang des Textes konstatiere dagegen nur: „Im Anfang machte Gott Himmel und Erde“ (Gen 1, 1). Es scheint hier also der für den ersten Schöpfungsbericht charakteristische, sich in den Worten ‚Es werde …‘ vollziehende Schöpfungssprechakt schlichtweg zu fehlen. Diese Merkwürdigkeit verlangt nach einer exegetischen und inhaltlich-systematischen Erklärung. Für Augustinus besteht sie darin, dass gleichsam die Seinskonstitution der geistigen Schöpfung (Vers 1: „Himmel“) erst durch das Sprechen des „Es werde Licht“ ihre Vollendung (perfectio) finde.58 Damit erklärt er als Exeget erstens, weshalb das „Es werde …“ bei der Erschaffung von „Himmel und Erde“ in Vers 1 fehlt: Es ist gar nicht vergessen, sondern fällt erst in Vers 3. Dies aber hat in systematisch-theologischer Hinsicht seinen guten Grund: Es wird gerade zu Beginn des Schöpfungsberichts die Seinskonstitution sogar genauer dargestellt als in den folgenden Versen, welche die einzelnen Schöpfungsakte beschreiben. Die vermeintliche neuplatonische Überformung führt also in der exegetischen Praxis zumindest zu einer Erklärung, weshalb die Worte: ‚Und Gott sprach: Es werde … und es wurden …‘ zunächst ausbleiben. Der Text wird jedoch nicht einfach ‚geglättet‘. Vielmehr wird nun auch die Unförmigkeit und Unbestimmtheit der Erde (Vers 2) einem Sinn zugeführt: Bevor die Seinskonstitution in der „Hinkehr“ (conversio) und „seinsspezifischen Formung“ (formatio), welche durch das Sprechen des Wortes initiiert wird, ihren Abschluss findet, kann das Geschaffene nur „wüst und leer“ sein.59 Im schöpferischen Sprechakt: „Es werde …“ manifestiert sich der Sohn
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Gn. litt. I, 3–4; 7,10–8,6. Vgl. Alexanderson (2006: 6). Wie Augustinus im Folgenden ausführen wird (Gn. litt. I, 5; 8,22–9,11), kann die „geistig-intellektuale-rationale Schöpfung“ ein „formloses Leben“ (informis vita) haben, insofern sie sich von der „unveränderlichen Weisheit“ abwendet. Der schöpferische, nie aufhörende Ruf des Logos („Und Gott sprach: Es werde …“, Gen 1, 3) bewirkt also die Hinkehr/Bekehrung zu Gottes ewiger Weisheit als Abschluss der Seinskonstitution und als Aufhebung des formlosen (Zwischen-)Zustands, in dem die Schöpfung verbleiben könnte. Ist damit bereits die potentielle Abwendung von Gott durch den Sündenfall tangiert und ist der bekehrende Ruf (vocatio congrua, s. dazu Drews 2009: 185–220) letztlich eine Analogie zur seinskonstituierenden Bekehrung im Schöpfungsprozess?
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Gottes, welcher der Logos, also das Wort bzw. das immer schon, ewig aktuale Sprechen des Schöpfungswortes in Gott selbst ist. Der trinitarische Gott, der aus Augustins christlicher Perspektive nicht anders als drei-einig zu denken ist, wird hier jedoch nicht ‚zerteilt‘, sondern vom Kirchenvater als einshafter Gott verstanden: Wie schon zuvor erwähnt, begreift Augustinus die Worte in principio (Gen 1, 1) als konkrete Allegorie auf Gott Sohn, da Christus im Johannes-Evangelium von sich sagt, er sei „das Prinzip“ bzw. „der Anfang“ (Jh 8, 25).60 Zugleich ist gemäß dem Johannes-Prolog „alles durch den Logos geschaffen“, der „im Anfang war“ (Jh 1, 1–3). Das geistige Verständnis der Worte in principio ist also – unter der Voraussetzung, dass die christliche Bibel als innere, durch den Heiligen Geist inspirierte Einheit verstanden werden kann61 – exegetisch-methodisch abgesichert.62 Der Johannes-Prolog begründet die Verbindung von „Anfang“ und „Logos“ in Gott Sohn: Der Logos ist im Anfang, der Logos ist aber zugleich „Sohn“ (Jh 1, 14+18), somit ist der Sohn das ewige Wort und spricht sich selbst im Akt der Weltschöpfung aus. Der „Sohn“ kann nun, so Augustinus, doppelt verstanden werden: einmal lediglich als „Anfang“ im Sinne des durch den Logos initiierten „Beginns“ (exordium) des noch unabgeschlossenen Schöpfungsprozesses vor der Hinkehr des Erschaffenen zu Gott (Gen 1, 1), zum andern als das eigentliche Sich-Aussprechen bzw. „Sich-Ausworten“63 des Logos, welches in den Worten: „Und Gott sprach: Es werde …“ (Gen 1, 3) zum Ausdruck komme und die seinsspezifische Formung des Erschaffenen durch die Hinkehr zum Logos bewirkt.64 Beide Aspekte – Gott Sohn als „Anfang“ (somit auch als Anfang der Schöpfung) und als „Logos“ (schöpferisches Wort) – sind also zunächst in der Person des Sohnes geeint; das ewige, uranfängliche Sprechen des Logos als Hervorgang des Sohnes aus Gott Vater im Heiligen Geist lässt sich gemäß dem Credo von Nizäa-Konstantinopel trinitarisch interpretieren und zeigt den christlichen Gott als wesentlich einen.65 Die triadischen Aspekte der Seinskonstitution lassen sich somit nicht jeweils einer anderen Person des christlich-trinitarischen Gottes zuordnen; die Trias Verharren – Hervorgang – Rückwendung/Bekehrung steht als Entfaltung des Schöpfungsprozesses bei Augustinus im Hintergrund (vor allem der dritte Aspekt) und vermag einige vordergründige Aporien in der Textexegese aufzuhellen und einer in sich stimmigen Lösung zuzuführen, während der trinitarische Gott als einer erwiesen wird. Letzteres hat seinen systematisch-theologischen Grund darin, dass das sich zwar nach außen 60 61 62 63 64 65
ideoque interrogatus, quis esset, respondit: ‚principium, quia et loquor vobis‘ (Gn. litt. I, 5; 9, 10–11). S. o. Anm. 55. Diese Voraussetzung ist freilich nur einsichtig, wenn überhaupt – im allgemeinsten Sinne – eine geistige Realität im platonischen Verständnis erkannt und zugestanden wird (s. o. Kap. 2 zum eidetischen Sein). Zum Begriff des „Auswortens“ s. von Balthasar (2002: 69, 53). Gn. litt. I, 4; 8, 10–21. Zur Trinitätslehre bei Augustinus und Boethius s. Drews (2018: 258–266, 295–309).
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entfaltende, ausdifferenzierende Schöpfungswort in dem dreieinigen Gott selbst ewig durch seinen Logos gesprochen wird, denn der Logos ist qua Gott-Sohn mit Gott-Vater „gleichewig“ und eins.66 In hermeneutischer Hinsicht ist die Tatsache beachtenswert, dass Augustinus in seine literal angelegte Genesis-Exegese scheinbar allegorische Deutungselemente integriert. Dies ist insofern nicht als methodischer Selbstwiderspruch zu werten,67 als der Kirchenvater ja schon im Eingangskapitel von De Genesi ad litteram vorweggeschickt hatte, dass bei der „Erzählung geschehener Tatsachen“ zu fragen sei, „ob alles ausschließlich gemäß dem intellektiven Begreifen figürlicher Rede“, also allegorisch, aufzufassen oder auch „gemäß dem Glauben an historische Tatsachenberichte“ zu verteidigen sei.68 Nimmt man diese methodologische Vorbemerkung ernst, ist im Hinblick auf den ersten Schöpfungsbericht zunächst zu fragen, inwiefern er überhaupt im strengen Sinne als „historisch“ gelten könnte: Da die Welt (und mit ihr gemäß Augustinus die Zeit69) ja noch nicht existiert, sondern erst geschaffen wird, entfällt ein 66 67
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Gn. litt. I, 2; 6, 19–20 sowie I, 4; 8, 7–8. Teile der Forschung scheinen indes hier eine „Paradoxie“ ausmachen zu wollen, etwa Agaësse (1972: 34 ff.), s. dazu Fladerer (2010: 70–71): „[…] es gibt keinen Zweifel, Augustinus präsentiert eine über weite Strecken dem Verständnis des modernen Lesers nach allegorische Deutung als literal. […] Tatsächlich gelingt Agaësse der Nachweis, daß ab der Erklärung des zweiten Schöpfungsberichts, besonders ab dem 8. Buch von Gn. litt. (der Mensch im Paradies), Augustinus eine wörtliche Exegese praktiziert.“ Hier ist freilich einerseits zurückzufragen, wieso denn überhaupt Augustinus sich nach modernen Maßstäben zu richten haben soll – er hat offenbar exegetische Kriterien (s. o. im Haupttext), jedoch aus guten Gründen andere als die uns modernen Lesern vertrauten –, und andererseits, ob sich wirklich ab Buch VIII die exegetische Praxis an sich (im Sinne der subjektiven Einstellung des Exegeten) ändert oder vielmehr der Exeget Augustinus hier einen anderen Textteil der Bibel auslegt, welcher nach seiner Auffassung andere Voraussetzungen mit sich bringt und den Exegeten entsprechend mit anders gelagerten Inhalten konfrontiert. Zudem interpretiert Augustinus auch noch in Gn. litt. VIII, wenn es die theologische Sache zwingend erforderlich macht, bestimmte Aspekte (z. B. das Wandeln und Sprechen Gottes im Paradies), nicht in einem vordergründig-buchstäblichen Sinn, sondern vermittels einer sachlichen Differenzierung, die zwischen buchstäblicher Ausdrucksweise und theologischem Inhalt zu unterscheiden weiß: Man kann also nicht einmal davon sprechen, dass Augustinus ‚auf halbem Wege heimlich seine bisherige Methode über Bord wirft‘ (s. u. Kap. 28). Auch Fladerer selbst (ibd., 77) meint bei dem späten Augustinus eine Gleichstellung der Begrifflichkeiten ad litteram und secundum historicam proprietatem ausmachen zu können; ebenso Weber (2007: 278) und Teske ([2010: 115], [2009: 127]). Eine solche Reduktion des Literalsinns auf den historischen Sinn ist neuzeitlicher Provenienz und für die sog. historisch-kritische Methode charakteristisch, wie Reiser dargelegt hat (s. o. Anm. 14), passt aber nicht zum exegetischen Unternehmen eines Augustinus in Gn. litt. (s. o. Anm. 28). Vgl. z. B. unten Kap. 17 zu Gn. litt. IV, 28; 126,19–127,21. Gn. litt. I, 1; 3, 10–13 (s. o. Kap. 2). Wie Kim (2006: 52, 55) zeigt und auch Teske (2009: 139) selbstkritisch zugibt, ist diese hermeneutische Grundlegung dieselbe wie in De doctrina Christiana (wenngleich Unterschiede zu Augustins früheren Versuchen der Genesis-Exegese bestehen, besonders zu De Genesi contra Manichaeos). Vgl. ebenso Hebb (2007: 366–7, 374–5). Zu denken ist hier an Augustins Antwort auf die Frage, was Gott vor der Erschaffung der Welt gemacht habe: Die Frage ist unsinnig, wenn Gott doch Schöpfer der Zeit ist, Zeit aber nicht ohne die Schöpfung mit ihren zeitlichen Bewegungen ist (conf. XI, 13). Vielmehr müsse man schlussfolgern, dass vor der Erschaffung von zeitlich Bedingtem zwar keine Zeit sei, dass aber „zu jeder Zeit Zeit
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geschichtlicher Bezugsrahmen. Das Über- bzw. Vorzeitliche wird dadurch aber für Augustinus gerade nicht zu etwas Unwirklichem, zu ‚leeren Worten‘: Vielmehr kann das Über- bzw. Vorgeschichtliche nicht anders als in einer Narration mitgeteilt werden, wobei jedoch kein Rückschluss von Erzählzeit auf erzählte Zeit möglich ist, weil das zeitlich Erzählte genau genommen etwas Zeitfreies meint – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, da mit der Weltschöpfung die Erschaffung der Zeit einhergeht.70 Entfällt also der Sache nach ein historischer Horizont im herkömmlichen Sinne, dann hat aus der Perspektive augustinischer Hermeneutik eine geistig-intellektive Interpretation gewissermaßen ihre vorzügliche Berechtigung – es geht dann um das Geistig-Intelligible, das Göttliche an sich und nicht um die Frage, inwiefern dieses Geistige sich in einem mit historischen Methoden ermittelbaren Ereignis manifestiert. Methodisch kann diese Weichenstellung gar nicht stark genug hervorgehoben werden: Während gemäß moderner Exegese der historische Zugang über allem steht und außer bzw. neben ihm kaum etwas wissenschaftlich Anerkanntes respektive Zuverlässiges übrig zu bleiben scheint, steht umgekehrt für eine antike, etwa von Paulus über Origenes bis Augustinus (und darüber hinaus) reichende Tradition gerade der wichtigste Zugang zur Heiligen Schrift außerhalb der engen Grenzen, in welchen nach historischen Tatsachen gefragt werden kann. Entsprechend impliziert dies zugleich, dass ein Literalsinn keineswegs mit einem historischen Sinn identisch sein muss (er kann es sein, dies ist aber alles andere als selbstverständlich oder gar zwingend). Für den außerhalb historischer Kategorien zu begreifenden Schöpfungsbericht erscheint es somit Augustins Hermeneutik zufolge weder verwunderlich noch methodisch unzulässig, gerade gemäß dem Literalsinn eine geistige Deutung vorzunehmen. Die ersten Kapitel von De Genesi ad litteram zeigen sehr eindrücklich, wie Augustinus ‚herkömmlich-literale‘ Deutungsmuster prüft – etwa die Frage, ob das in Vers 3 erschaffene Licht das körperliche, sinnlich-wahrnehmbare Licht sein kann, bevor diese Interpretationsmöglichkeit aufgrund unhaltbarer Konsequenzen und vom Kontext des Schöpfungsberichts her ausgeschlossen wird. Nachdem die geistige Auslegung als einzige Möglichkeit übrig bleibt und als in sich stimmig aufgezeigt wurde, ist in hermeneutischer Hinsicht außerdem bemerkenswert, dass mit dieser rein geistigen Erklärung des Textes gleichsam eine zunehmende Personalisierung einhergeht: Die Worte „im Anfang“ (in principio, Gen 1, 1) werden zu einer konkreten Chiffre für Gottes Sohn, den Logos, der gemäß dem Johannes-Prolog „im prinzipienhaften Anfang bei Gott“ und selbst „Gott“ war. Zugleich ermöglicht das Logos-Sein des Sohnes, in dem Ausdruck „Gott sprach“ (Gen 1, 3) erneut den Sohn selbst allegorisiert zu sehen.71 Die Personalität des Göttlichen betreffend, deckt sich
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war“ (dicimus creatum tempus, cum ideo semper fuisse dicatur, quia omni tempore tempus fuit, civ. XII, 16). Vgl. zur Stelle Drews (2009: 176 f.). Vgl. Fladerer (2010: 81). Zur zeitlichen Darstellung von Überzeitlichem s. u. Kap. 7. Gn. litt. I, 4; 8, 10–18.
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dieser Befund grundsätzlich durchaus mit Beobachtungen, welche die Forschung in jüngerer Zeit für die Homer-Exegese des paganen Platonismus herausgearbeitet hat: Nicht nur scheint es in der Spätantike generell methodische Parallelen zwischen Homer- und Bibelexegese gegeben zu haben,72 auch die in der platonischen Allegorese zu konstatierende Personalisierung73 von prima facie zunächst nicht personal erscheinenden Inhalten im Text verbindet die pagane mit der christlichen Auslegungspraxis in einem wichtigen Element der Allegorese im Hinblick auf theologische Texte, zu denen neben der Bibel eben auch die homerischen Epen zu rechnen sind.74 Die platonische Philosophie scheint somit für die spätantike Auslegung sowohl Homers wie der Bibel nicht nur attraktiv gewesen zu sein, sondern verbindet im Sinne eines gemeinsamen Horizonts Exegeten wie z. B. Plutarch und Proklos75 auf paganer und Augustinus und Origenes auf christlicher Seite. Augustins geistig-allegorischer Zugang tut dem biblischen Text insofern keine Gewalt an, als für den Kirchenvater methodisch immer gilt, dass gerade bei einem theologischen, göttlich inspirierten Text mit einer Fülle von Deutungsmöglichkeiten gerechnet werden sollte, so dass mit der von Augustinus aufgezeigten Interpretation keinesfalls ein Alleingültigkeitsanspruch verknüpft ist.76 Gleichwohl ist dieser pluralistische Ansatz vor einer völligen Beliebigkeit gefeit, da die unterschiedlichen Deutungen erstens miteinander kompatibilisierbar sein und zweitens die Wahrheit der Heiligen Schrift hervortreten lassen müssen (andernfalls wäre z. B. eine Karikatur oder Satire nicht mehr von einer theologischen Auslegung zu unterscheiden). Im Sinne eines interreligiösen Dialogs77 lässt sich die hermeneutische Voraussetzung, dass der biblische Text eine Fülle an Deutungsmöglichkeiten zulässt, nicht zuletzt dahingehend stark machen, dass z. B. den exegetischen Traditionen des Judentums ein spezifisches Eigenrecht eingeräumt wird. Augustins Hermeneutik birgt, wenn man sie
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Vgl. den von Niehoff herausgegebenen Band (2012). S. einschlägig Bernard (1990: 95–164, bes. 102). Berthelot (2012: 168–9) hat für die platonische Allegorese auf den Zusammenhang von literaler und allegorischer Interpretation hingewiesen, Niehoff (2012b) allgemein den Vergleich paganer und christlicher Allegorese angeregt und dabei die notwendige Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Methoden stoischer vs. platonischer Allegorese (sowohl in der christlichen wie auch paganen Auslegungspraxis) hervorgehoben. Diese Abgrenzung ergibt sich aus den divergenten philosophischen Basisannahmen: Im Rahmen ihrer materialistischen Philosophie kann für die Stoa letztlich nur die physikalische Welt Bezugspunkt allegorischer Interpretation sein, während es eine philosophische Kernthese des Platonismus darstellt, dass ein eigener, geistig-intelligibler Wirklichkeitsbereich ist, auf den hin ‚Allegorie‘ als ‚Aussage von etwas anderem‘ spezifisch bezogen werden kann: In diesem Sinne stellt Berthelot (2012: 168–9) fest, dass Philon den Neuplatonikern näher stehe als den Stoikern. S. zu beiden Autoren Bernard (1990). S. o. Anm. 31. Zum interreligiösen Dialog im Platonismus und Christentum vor dem Hintergrund der platonischen Teilhabe-Philosophie s. Drews (2018); auch Augustins Theologie ist in diesem Kontext zu berücksichtigen (ibd., 253–278).
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weiterdenkt, somit ein inklusives Potential, das es zu entfalten gilt: Dabei erscheint keine Deutungstradition einer anderen per se überlegen oder ihr gegenüber privilegiert – weder eine, historisch betrachtet, frühere noch eine spätere Interpretation kann die ‚alleinige Deutungshoheit‘ für sich beanspruchen, wenn es gilt, das Wahrheitspotential eines als heilig verstandenen Textes in verschiedenen Zugängen auszuschöpfen und zur Geltung zu bringen. In der Praxis hätten damit z. B. Interpretationen des Schöpfungsberichts im Kontext eines nicht-trinitarischen Gottesbilds aus jüdischer Perspektive ebenso ihre Berechtigung wie aus christlichem Blickwinkel der Versuch Augustins, den Schöpfungsbericht vor dem Hintergrund des dreieinigen Gottes zu lesen. Solange in sich stimmige Interpretationen am Text der Heiligen Schrift entwickelt werden können, tragen sie dazu bei, dessen inneren Reichtum aufzudecken – in relativer Unabhängigkeit von der Intention des menschlichen Autors, welche zu ermitteln gemäß Augustinus letztlich historische Spekulation bleiben muss.78
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S. o. Anm. 55. Fladerer (2010: 175) weist darauf hin, dass „Augustinus im Gegensatz zum Bibelwissenschaftler unserer Tage nicht historisch-kritisch forschen wollte.“ Dadurch werde nicht zuletzt eine „Emanzipation des Lesers“ erreicht, „der zu einer Wahrheit vorzudringen vermag, die vom Verfasser des biblischen Buches noch nicht explizit artikuliert wurde“ (ibd., 187). Allerdings erscheint Fladerers Darstellung insofern einseitig, als Augustinus die Autorintention an sich für wissenswert erachten würde, wenn sie sich denn ermitteln ließe (s. u. Kap. 8): Den entscheidenden Unterschied stellt Greene-McCreight (1999: 70–71) heraus: „[…] for Augustine, seeking the author’s intention does not entail fixing on a single interpretation, for the author may well have intended more than one interpretation.“
5. Trinität, Gutheit und das Schweben des Geistes über dem Wasser
Die Trinität sieht Augustinus bereits in den ersten Versen des Schöpfungsberichts dadurch angedeutet und komplettiert (conpleta commemoratio), dass (1) „Gott“ als Gott Vater zu verstehen sei, dass (2) die Worte „im Anfang“, wie bereits gesehen, als Allegorie auf den Logos-Sohn verweisen, der gemäß Jh 1, 1–3 bei Gott war und durch den „alles geschaffen ist“, und dass (3) der „Geist Gottes über dem Wasser schwebte“ (Gen 1, 1–2). Ferner zeuge das Sprechen Gottes („Und Gott sprach“, Gen 1, 3) zugleich von Gottes Wort, dem Sohn, und der Begriff „Gott“ vom „Erzeuger“ (generator)79 und Sprecher des Wortes, Gott Vater; die „heilige Gutheit“ (sancta bonitas) sei als Verweis auf den Heiligen Geist zu verstehen und komme in dem Satz zum Ausdruck: „Und Gott sah, dass es gut ist“ (Gen 1, 4).80 Augustins geistige Ausdeutung lässt erkennen, wie sehr die christliche Trinität monotheistisch – als ein Gott in drei Personen – zu begreifen ist: Das Sprechen Gottes ist das aktuale Sprechen des Vaters, sein „Ausworten“81 ist das Erzeugen des Sohnes in der Einheit des guten Heiligen Geistes.82 Die mit speziell dem Heiligen Geist assoziierte Gutheit Gottes und seiner Schöpfung ist von zentraler Bedeutung: Mehrfach verweist Augustinus darauf, dass Gott seine Schöpfung aus seiner „höchsten, heiligen und gerechten Güte (benignitas)“ und „Liebe“ (amor) erschaffen habe und nicht aus irgendeinem Mangel (indigentia).83 Der 79 80 81 82
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Zur ewigen Zeugung des Wortes durch den Vater gemäß Origenes und Boethius vgl. Drews (2018: 225 und 304–5, Anm. 1000). Gn. litt. I, 6; 10, 10–22. S. o. Anm. 63. Noch Nikolaus von Kues kann die klassische Trinitätslehre (ein Gott in drei Personen) vor dem Hintergrund des nizänischen Homoousios, der Gleichwesentlichkeit der drei Personen, als Argument dafür verwenden, die Kritik des Korans, die Christen würden Gott „Teilhaber zugesellen“ (Sure 3, 63/64), zurückzuweisen, da die drei trinitarischen Personen in der Wesenseinheit eben ein Gott sind: Gott-Sohn und Gott-Geist partizipieren also nicht bloß in sekundärer Weise an dem Wesen Gott-Vaters; vielmehr sind die drei Personen wesentlich, d. h. in ihrem substantiellen Sein, identisch und eins bzw. ‚Einer‘ (vgl. Drews 2018: 404–417). Gn. litt. I, 5; 9, 14–16; I, 7; 11, 5–7.
5. Trinität, Gutheit und das Schweben des Geistes über dem Wasser
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Schöpfungswille ist in der Gutheit Gottes und seinem Wohlgefallen (in bona voluntate, hoc est bono placito) begründet, weshalb die Schrift zu Recht festhalte: „Gott sah, dass es gut ist“ (Gen 1, 4).84 Eingehender Interpretation bedarf der Vers: „Und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser“ (Gen 1, 2). Das Wasser symbolisiere entweder die „gesamte körperliche Materie“, aus der alles geschaffen wurde oder ein „bestimmtes geistiges Leben vor der Formung der Hinkehr/Bekehrung“.85 Augustins Interpretation des Wassers unterscheidet sich also im Hinblick auf die Deutungsoptionen kaum von denen, mit welchen er zuvor „Himmel“ und „Erde“ zu erklären versuchte: Entweder sie symbolisierten die „geistige und körperliche Schöpfung“ oder ausschließlich die körperliche oder beide Begriffe bezeichnen jeweils die „ungeformte Materie“ einerseits im körperlichen sowie andererseits im geistigen Sinne, bevor Geist- und Körperwesen durch „Hinwendung, Bekehrung zu ihrem Schöpfer“ ihre „Seinsform“ und „Vollendung“ erhalten.86 Theologisch von weitaus größerer Relevanz ist gemäß Augustinus das Schweben des Geistes über dem Wasser: Wie oben bereits angedeutet, sei dieses Schweben über ein Hinweis auf die Transzendenz Gottes gegenüber seiner Schöpfung – der seiner Schöpfung zugewandte Gott geht nicht in ihr auf, kann nicht pantheistisch mit ihr identifiziert werden. In diesem Kontext vermag der Kirchenvater die zuvor gerade konstatierte Gutheit (bonitas) bzw. Güte (benignitas) Gottes nun noch weiter zu entfalten: Eine bedürftige Liebe liebe so, dass sie sich dem, was sie liebt, unterwerfe; wenn nun speziell unter der Person des Heiligen Geistes Gottes Güte verstanden werde und der Geist „schwebe“, dann zeige dies an, dass Gottes Liebe und das ihr entspringende Schöpfungshandeln nicht „durch die Notwendigkeit eines Mangels“ (per indigentiae necessitatem), sondern „durch den Überfluss seines Wohlwollens“ (per abundantiam beneficientiae) motiviert sei.87 Um den Gedanken dieses transzendenten Überflusses in geeigneter Weise zum Ausdruck zu bringen, sei es passend, dass der Geist über aliquid inchoatum, über etwas Begonnenem, aber noch nicht Abgeschlossenem, schwebe.88 Augustinus führt diesen Gedanken nicht genauer aus. Vielleicht ist gemeint, dass die transzendent-unbedürftige Liebe des schwebenden Geistes nach Abschluss eines Schöpfungswerks eher nebensächlich-selbstverständlich erscheinen und gleichsam ‚deistisch‘ missinterpretiert werden könnte (als ob Gott sich nach seinem Schöpfungshandeln aus der Welt zurückziehe): Dagegen liest der Kirchenvater aus diesem Vers heraus, dass bereits das Schöpfungshandeln selbst nicht so zu verstehen sei, als ob Gott wie ein Handwerker in einem körperlichen Sinne ‚Hand anlege‘, sondern dass Gott 84 85 86 87 88
Gn. litt. I, 5; 10, 4–7. Vgl. Catapano/Moro (2018: 352). Gn. litt. I, 5; 9, 19–24. Gn. litt. I, 1; 4, 8–17. Der Sache nach ist dieser Gedanke dem neidlosen Schenken des Göttlichen im Neuplatonismus verwandt, z. B. bei Dionysius Areopagita (vgl. Drews 2011: 112–9) und Proklos (s. Drews 2009: 297–9). Gn. litt. I, 7; 11, 5–12.
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auch im Schöpfungsprozess als transzendenter Gott ganz er selbst bleibe, ohne eine Veränderung zu erleiden, und aus seiner transzendent-überfließenden Liebe die Welt erschaffe. Vor, in und nach dem Schöpfungshandeln bleibt der Geist somit „schwebend“. Dabei sei das Schweben nicht örtlich, sondern im Sinne der „alles überlegenen und überragenden (Schöpfer-)Macht“ zu verstehen (non enim loco, sed omnia superante ac praecellente potentia):89 Das Schweben über dem Wasser ist also nicht wie das Fliegen eines Vogels lokal zu verorten, sondern bezeichnet zugleich die Ortlosigkeit und Ortsungebundenheit des Schöpfergeistes. Das sich kreativ entfaltende Schweben von Gottes Geist konstituiert so das Sein (esse) des Zu-Schaffenden, welches in seiner Hinkehr zu Gott seine spezifische Formung und Gutheit empfängt. Damit das Geschaffene in dieser ihm gegebenen Gutheit, d. h. in seiner Hinwendung zu Gott, verbleibt (manere), bedarf es eines aktualen Bezugs zwischen Schöpfer und Geschöpf, den Augustinus ebenfalls in den Worten: „Und Gott sah, dass es gut ist“ (Gen 1, 4) mit ausgedrückt sieht. Gott ist hier also kein ‚neutraler Beobachter‘, der einfach eine ‚faktische Feststellung‘ trifft, sondern sein Sehen ist Aktivität, setzt das kreative Schweben des Geistes als substanzverleihendes Ersehen fort, indem es im und durch den Sehakt das Geschöpf in seiner seinsspezifischen Gutheit erhält. „Sein“ und „Verbleiben“ des Geschaffenen sind die Gründe, weshalb „Gott seine Schöpfung liebt“: Diese Liebe ist nicht nur die sekundäre Liebe zu etwas schon Bestehendem, sondern in primärer Weise seinsstiftende und bewahrende Liebe.90 Während zuvor in dem Satz: „Gott sah, dass es gut ist“ der Schöpfungswille in seiner Gutheit erkannt wurde, geht es nun um den Aspekt, wie das ‚gute Sehen‘ dieses Schöpfungswillens sich aktual im Erschaffenen zeigt und die Schöpfung im Zustand des Guten erhält – beide Aspekte gehören theologisch eng zusammen. Das Bleiben unter Gottes schöpferisch-bewahrendem Blick realisiere sich grundsätzlich auf zweierlei Weise: Während die materielle Schöpfung in ihren zeitlichen Umläufen ihr Bleiben aktualisiere, gebe es sogar auf geschöpflicher Ebene ein Bleiben in „herrlichster Heiligkeit“, das alle „zeitliche Unbeständigkeit“ (temporalis volubilitas) transzendiere91 – die Seinsweise der (nicht fallenden) Engel, wie Augustinus später sowie andernorts ausführt.92 Von entscheidender Wichtigkeit ist hier die Differenzierung zwischen zeitlicher volubilitas der Geschöpfe und Gottes absoluter Überzeitlichkeit: Während Gott wesentlich Einer und daher aller Veränderung, welche einen nicht-einshaften Zustand implizierte, transzendent ist, vermögen die Engel diese Überzeitlichkeit nur bis zu einem gewissen Grad zu imitieren, ohne deshalb Gott gleichewig zu
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Gn. litt. I, 7; 11, 12–13. duo quippe sunt, propter quae amat deus creaturam suam, ut sit et ut maneat. ut esset ergo, quod maneret, ‚spiritus dei superferebatur super aquam‘; ut autem maneret, ‚vidit deus, quia bonum est‘. et quod de luce dictum est, hoc de omnibus (Gn. litt. I, 8; 11, 16–21). Gn. litt. I, 8; 11, 19–24. S. u. Kap. 9 sowie Kap. 28. Vgl. allgemein Drews (2009: 112 f.).
5. Trinität, Gutheit und das Schweben des Geistes über dem Wasser
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sein. Die „zeitliche Unbeständigkeit“ übersteigen sie nicht dadurch, dass sie überhaupt aller Zeitlichkeit vorausliegen (dies kommt nur Gott zu), sondern indem sie als potentiell zeitliche Wesen die Unbeständigkeit, also das Umschlagen differenter Zustände, vermeiden. Als zeitliche Geschöpfe sind sie so dem pejorativ-mangelhaften Moment einer uneinheitlich-zersplitterten Zeitlichkeit enthoben. Anders gesagt: Gemäß Augustinus muss zwischen einer mangelfreien, beständig im Sehen Gottes verbleibenden Zeitlichkeit und einer im Hin-und-Her sich zu verlieren drohenden Zeitlichkeit der Geschöpfe unterschieden werden.
6. Vor Zeit und Tag Die literale Interpretation eines nicht-historischen Textinhalts und Gottes ‚intelligibler Sprechakt‘. Die Autorität der Schrift und die Evidenz der Vernunft In welcher Hinsicht ist der „erste Tag“ zu verstehen? Die Frage, ob Gott das Fiat lux „an einem bestimmten Tag oder vor jedem Tag“ gesprochen habe, entscheidet Augustinus aufgrund der vorher schon erzielten Interpretationsergebnisse schnell dahingehend, dass Gott (Vater) das Schöpfungswort „durch sein ihm gleichewiges Schöpfungswort“ (verbo sibi coaeterno dixit) und somit auf „zeitlose Weise“ (intemporaliter) gesprochen habe. Zugleich wiederholt Augustinus noch einmal seine bereits verworfene Überlegung, ob Gott das Wort auch zeitlich durch eine bereits erschaffene Kreatur hätte sprechen können, wobei das Licht dann jedoch nicht mehr das erste Geschöpf sein könnte.93 Es wird also an dieser Stelle erneut erkennbar, von welcher grundlegenden Relevanz das Thema ‚Zeit‘ für Augustinus ist (freilich nicht nur im bibelexegetischen Kontext94). Kurz zuvor hatte er bereits eine Andeutung darüber gemacht, dass bestimmte Geschöpfe ihre Zeitlichkeit nicht als „Unbeständigkeit“ realisierten (was sich nur auf die nicht-fallenden Engel beziehen lässt), und so implizit gleichsam einen Mittelzustand zwischen der absoluten Zeitenthobenheit Gottes und der sich in zeitlichen Wechselfällen vollziehenden Zeitlichkeit der materiellen, sinnlich-wahrnehmbaren Welt eingegrenzt. Dazu passt nun in systematischer Hinsicht seine Auslegung, dass in Gen 1, 1 „Himmel und Erde vor jedem Tag“ geschaffen wurden, wobei „Himmel“ die „geistige Kreatur bereits“ in ihrem „Erschaffen- und Geformtsein“ (spiritalis iam facta et formata creatura) meine: Denn dieser Himmel könne nicht der Himmel des sichtbaren Firmaments sein, welches ja erst am zweiten Tag hervorgebracht werde; der erste Himmel (in Vers 1) sei vielmehr vor jedem Tag erschaffen – ein Befund, den
93 94
Gn. litt. I, 9; 12, 1–5. Vgl. Drews (2009: 167–185).
6. Vor Zeit und Tag
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zu deuten der biblische Text aufgibt. Dieser schwer einzulösenden Interpretationsaufgabe begegnet Augustinus dadurch, dass er in seiner Exegese zunächst die Vorgaben des Schöpfungsberichts zusammenstellt: Es ist offenbar von zwei Himmeln die Rede, sonst könnte nicht am zweiten Tag nochmals ein Himmel geschaffen werden, und die Tageszählung beginnt erst nach der Erschaffung des Lichts. Ein vorzeitlicher, erster Himmel verlangt nun – auch bei literaler Deutung – nach einem anderen Referenten, welcher sachlich angemessen zum einen als ‚Himmel‘ und zum andern als ‚vor-/unzeitlich‘ verstanden werden kann. Genau diese Vorgaben lösen die Engel als geistige Kreatur vor aller „zeitlichen Unbeständigkeit“ ein.95 Gewiss lässt sich ohne Weiteres kritisch einwenden, dass im Text doch gar nicht von Engeln die Rede sei. Innerhalb von Augustins exegetisch-hermeneutischen Eingangsbemerkungen und gemäß seinem zwischen geistiger und materieller Wirklichkeit grundsätzlich differenzierenden Denken96 ist seine Interpretation jedoch nicht nur stimmig, sondern auch gut begründet: Wenn aus philosophischen Gründen generell mit einer geistigen Wirklichkeit zu rechnen ist, dann ist die Einführung von Engeln nicht immer schon ein ‚un- bzw. vorkritisches Relikt‘, welches eine strikt zu vermeidende ‚Peinlichkeit‘, weil ‚Unwissenschaftlichkeit‘ implizierte. Hier zeigt sich, wie folgenreich der jeweils von einem Exegeten veranschlagte philosophische Wirklichkeitshorizont tatsächlich ist – je nachdem, was man grundsätzlich für möglich erachtet bzw. ‚sich vorstellen kann‘, entscheidet sich, ob eine Interpretationsmöglichkeit als Möglichkeit überhaupt (noch) infrage kommt oder apodiktisch außen vor bleiben muss.97 Für die spezifisch exegetische Praxis ist noch einmal an Augustins Eingangsfrage zu erinnern, ob bei der „Erzählung geschehener Tatsachen alles ausschließlich gemäß dem intellektiven Begreifen figürlicher Rede“, also rein geistig, figurativ-allegorisch, aufzufassen oder auch „gemäß dem Glauben an historische Tatsachenberichte“ zu verteidigen sei.98 Der Schöpfungsbericht kann streng genommen schon deshalb gemäß Augustinus kein rein historischer Tatsachenbericht sein, weil ja Zeit als Bedingung der Möglichkeit für Geschichte hier – im Kontext des innerhalb der ersten vier Verse des Berichts Dargestellten – ausscheidet: Es ‚gibt‘ hier noch keine Zeit. Dieser Umstand beraubt den Text für den Kirchenvater deshalb jedoch ganz und gar nicht seines Wirklichkeitsgehalts – vielmehr wird verständlich, weshalb Augustinus aus guten, philosophisch abgesicherten Gründen ‚Historizität‘ nicht als ausschließliches Kriterium von Realitätshaltigkeit veranschlagen kann: Wenn Zeit nicht immer schon ‚absolut gegeben‘ bzw. als ‚gesetzt‘ zu betrachten ist, dann gibt es auch nicht immer schon Geschichte und Geschichtlichkeit, möglicherweise aber eine andere, unzeithafte, ungeschicht95 96 97 98
Gn. litt. I, 9; 12, 6–14. Vgl. Gn. litt. II, 8; 43, 12–13. S. o. Kap. 2. S. o. Anm. 30. Gn. litt. I, 1; 3, 10–13.
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De Genesi ad litteram: Buch I
liche Wirklichkeit. Vor dem Hintergrund der in der Theologie seit der Aufklärung bis heute dominanten historisch-kritischen Methode als ‚Königsweg‘ exegetischen Arbeitens kann dieser Befund gar nicht deutlich genug als hermeneutischer Unterschied markiert werden. Aus platonischer Perspektive lässt sich ein Absolutheitsanspruch, alle Wirklichkeit sei immer schon geschichtlich, so nicht aufrechterhalten. Das Allerwichtigste ist jedoch die aus der Eingangsfrage resultierende Konsequenz für die exegetische Praxis: Wenn der historische Zugang (jedenfalls im Hinblick auf Gen 1, 1–4) ausscheidet, bleibt der nach Augustinus immer mögliche Weg der intellektiv-allegorischen Interpretation. Damit zeigt sich, dass Augustinus mit seiner Auslegung des ‚ersten Himmels‘ als „geistig-engelhafte Kreatur“ nicht nur von seinen philosophischen Grundüberzeugungen darüber, was alles zur Wirklichkeit zähle, sondern auch von seiner hermeneutischen Methodik her eine exegetisch einleuchtende und auch abgesicherte Interpretation vorlegt, da sich die Aufgabe, einen Bibeltext auch geistig-allegorisch auszulegen, gemäß seiner hermeneutischen Vorgabe in jedem Fall stellt. Speziell die Interpretation des Himmels als „geistige Kreatur“ könnte gar nicht konkreter zu dieser Hermeneutik und ihrer Methode passen: Denn die „geistige Kreatur“ stellt ja auch von ihrem inhaltlichen Referenzpunkt her betrachtet (‚Engel‘) eine unzweifelhaft geistige Interpretation dar. Aus dieser Perspektive ergibt sich beim spezifischen Hinsehen die später noch genauer zu beleuchtende Frage, ob Augustins Interpretation hier überhaupt die Ebene literaler Exegese verlässt: Sind nicht die Engel im Grunde in viel höherem Maße „Himmel“ und „Licht“ als ihre sinnlich-wahrnehmbaren Gegenstücke? Zwar erscheint es von seiner methodischen Grundlegung zu Beginn von De Genesi ad litteram so, als ob der erkennende Zugriff des intellectus unmittelbar mit der figürlichen Exegese verknüpft ist. Dies könnte jedoch auch darin begründet sein, dass der Kirchenvater zu Beginn zwei offensichtlich verschiedene exegetische Methoden unterscheidet: So wird mit der Allegorese das Feld des intellektiven Begreifens eröffnet – und trotzdem ist dieser Erkenntnismodus keineswegs ein lediglich ‚nachträglich hinzukommender‘ im Sinne bloß ‚sekundärer Metaphern‘ über ‚die‘, d. h. sinnenfällige Welt, sondern bezieht sich auf einen eigenen Wirklichkeitsbereich. Insofern ist auch mit einem intellektiven proprium, einem spezifischen geistigen Sinn in der Exegese zu rechnen.99 Entweder also sind die Engel gemäß eigentümlich-spezifisch intellektivem Verständnis (und nicht nur ‚figürlich‘) Licht; oder der Begriff der Allegorese beinhaltet keinesfalls
99
Insofern lässt sich an die Grundlegung aus De doctrina Christiana II, 10, 15 denken, dass der spezifische Sinn bedeute, dass Wörter „zur Bezeichnung derjenigen Sachgehalte herangezogen werden, um deretwillen sie eingeführt sind“ (propria dicuntur, cum his rebus significandis adhibentur, propter quas sunt instituta). Diese Definition passt nicht nur auf sinnliche Referenten (wie das folgende Beispiel des Ochsen), sondern in ihrer Allgemeinheit durchaus auch auf intelligible Sachgehalte (zum Begriff res s. o. Anm. 9). Zur Passage aus De doctrina Christiana vgl. auch Hebb (2007: 366–7 mit Anm. 13), der darüber hinaus auf Sermo 89, 4 als Parallelstelle verweist.
6. Vor Zeit und Tag
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ausschließlich figürliche Metaphern, welche einem biblischen Text in sekundärer Abstraktion zugesprochen bzw. ‚entlockt‘ werden können. Die Frage der Zeit bleibt innerhalb von Augustins exegetischem Unternehmen weiterhin virulent: Ganz im Sinne der eingangs beobachteten Methode, Aporien der Reihe nach durchzugehen, um im ‚Irrgarten‘ möglicher Interpretationsansätze letztlich einen gangbaren Interpretationsweg zu finden, unternimmt der Kirchenvater erneut einen Anlauf, die Frage, wie und zu wem Gott das Fiat lux gesprochen haben könnte, aufzuhellen. Dabei wiederholt er bereits zuvor genannte Möglichkeiten und fügt diesen eine weitere hinzu, da es denkbar erscheine, dass Gott das Fiat lux ohne akustische Hörbarkeit und „ohne zeitliche Bewegung der geistigen Kreatur ihrem Geist durch das dem Vater gleichewige Wort eingeprägt“ habe als „gleichsam intelligibler Sprechakt“ (tamquam intellegibiles locutiones). Diese Interpretationsmöglichkeit stünde im Einklang mit dem vor aller Zeit-Aktualisierung als rein geistige Kreatur geschaffenem Himmel. Offen bleibt, so Augustinus, jedoch die Frage, wie die so verstandenen „intelligiblen Aussprüche“ in ihrer Zeitfreiheit „zeitliche Bewegungen zur Formung und Ordnung zeitlicher Dinge“ verursachen können.100 Im Hinblick auf das im Schöpfungsbericht zuerst genannte Geschöpf Licht – es ist jedenfalls das erste, welches durch das explizite Schöpfungswort: „Es werde …!“ und das die geschöpfliche Konstitution abschließende: „Und es wurde …“ (Gen 1, 3) hervorgebracht wird – ergibt sich im Kontext der bisher entwickelten Genesis-Exegese eine Klärung: Augustinus deutet es als das „geistige Leben“ (intellectualis vita), das vor seiner erleuchtenden Hinwendung zum Schöpfer formlos schwanken würde. Durch die „Bekehrung“ und Erleuchtung jedoch sei es das geworden, was im Wort Gottes ausgesprochen wurde: „Es werde Licht!“101 Ohne dass es hier noch einmal explizit gemacht wird, steht dieses Resultat im Einklang mit den entscheidenden Interpretationsergebnissen, welche zuvor entwickelt wurden: (1) Wenn das Licht das erste Geschöpf ist, welches literal-explizit im Bibeltext genannt wird, muss es in irgendeiner Weise mit den bereits vorher genannten „Himmel und Erde“ zusammengedacht werden – andernfalls wäre es nicht das erste Geschöpf. (2) Dies ist möglich, weil Augustinus den Himmel in Vers 1 von dem Himmel der Verse 7–8 unterscheidet und als den ‚ersten Himmel‘ gemäß der einzig noch infrage kommenden geistigen Interpretation als „geistige Kreatur“ (Engel) begreift. Folglich muss es eine sachliche Verbindung zwischem dem geistigen Himmel und dem Licht als erstem Geschöpf geben. (3) Dies ist möglich, weil das Schöpfungswort: „Es werde …!“ die Rückwendung/Bekehrung des in Vers 1 genannten Himmels (der Engel) bezeichnet, welche dem entstehenden Geschöpf erst die seinsspezifische Formung verleiht (im Sinne der neuplatonisch-triadischen Seinskonstitution: Verharren – Hervorgang – Rückwendung). (4) Wie oben
100 Gn. litt. I, 9; 12,15–13,24. 101 Gn. litt. I, 9; 13, 25–29.
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De Genesi ad litteram: Buch I
bereits bemerkt, wird bei der Erschaffung der geistig-lichthaften Kreatur des ersten Himmels der Prozess der Seinskonstitution besonders genau abgebildet:102 Das Fehlen der Schöpfungsworte: „Es werde …! Und es wurde …“ in Vers 1 gibt für Augustinus gewissermaßen ‚Einblick‘ in den Hervorgang als noch unabgeschlossenen Schöpfungsprozess, bevor die Rückwendung in Vers 3 durch die besagten Schöpfungsworte vollzogen wird. Dieser Einblick mag zunächst überraschen, wenn man bedenkt, dass es sich bei der beschriebenen Seinskonstitution um einen vor- bzw. überzeitlichen ‚Prozess‘ (im uneigentlichen Sinne103) handeln soll. Inhaltlich erscheint es aber umso passender, als gerade bei dem ersten Schöpfungsvorgang die einzelnen Aspekte, die zu ihm gehören, verstanden und zum Ausdruck gebracht werden sollen. Folgt man seinen Ausführungen auf der Grundlage der für sie ausschlaggebenden philosophischen Prämissen (zu denen v. a. die platonische Differenzierung zwischen begreifbarem, intelligiblem Sein und materieller Existenz gehört104), vermag Augustinus eine in sich durchaus stimmige Interpretation der schwierigen Eingangsverse des ersten Schöpfungsberichts zu entwickeln. Bemerkenswert ist jedenfalls, wie er die im Text vorliegende Spannung zwischen den beiden Himmeln (Vers 1 vs. Vers 7–8), zwischen Licht (Vers 3) und Gestirnen (Vers 14) sinnvoll auflösen kann, ohne dabei eine Glättung des Textes vorzunehmen: So ist Vers 1 nicht nur eine Überschrift für das Folgende105 – was sonst nicht zuletzt zu der Schwierigkeit führen würde, dann erklären zu müssen, wieso die Erde in Vers 2 überhaupt schon da sein soll, wenn sie nicht schon in irgendeiner Weise in Vers 1 geschaffen wurde. Ausgehend von der Voraussetzung, dass der biblische Text göttlich inspiriert ist und es folglich keine ‚leeren‘ bzw. unsinnigen Aussagen, auch keine rein abstrakt bleibenden Überschriften in ihm geben kann, ist bereits Vers 1 prägnant zu verstehen. Dieser Interpretationsweg erscheint zunächst schwieriger und steiler, aber sogar die Merkwürdigkeit, dass die Schöpfungsworte „Es werde …! Und es wurde …“ fehlen, vermag der Kirchenvater sinnvoll aufzulösen und das Licht in Vers 3 als „erstes Geschöpf “ damit in Einklang zu bringen, dass „Himmel und Erde“ bereits zuvor auf bestimmte Weise erschaffen wurden.106 All dies gelingt Augustinus jedoch nur aufgrund einer Voraussetzung: dass er mit vielen Interpretationsmöglichkeiten rechnet und diese sinnvoll ‚durchzudeklinieren‘ weiß. Diesen breiten Horizont, vor dem er seine Erörterungen, Vermutungen und Zurückweisungen entwickeln kann, bietet ihm die neuplatonische Philosophie, da sie eine sehr komplexe, vielschichtige Auffassung davon vermittelt, was alles Teil von 102 103 104 105
S. o. Kap. 4. Zum „nicht-zeitlichen Prozeß“ der neuplatonischen Seinskonstitution s. auch Radke (2006: 143). S. o. Kap. 2. Diese These wurde von Claus Westermann (1994: 94) vertreten. Eine vergleichbare Auslegung ist auch Augustinus selbst schon bekannt (conf. XII, 17, 24). Vgl. van Riel (2007). 106 Einzig der Aspekt, dass der Himmel in Vers 1 eine „bereits geschaffene und geformte Kreatur“ sein soll (Gn. litt. I, 9; 12, 8–9) ergibt eine gewisse Spannung, insofern die seinsspezifische Formung ja erst mit dem Fiat lux vollzogen werden soll.
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Wirklichkeit sein kann. Trotzdem bleibt der Bibeltext für den Kirchenvater sowohl als Heilige Schrift die eigentliche Autorität wie auch als Text das eigentliche philologische Fundament. Die Philosophie erweitert jedoch massiv die Möglichkeiten, welche bei der Exegese zu beachten sind: Augustins Platonismus führt dazu, dass er ‚mit mehr Optionen rechnet‘. So bewirkt gerade die vermeintlich mit ‚Einheit und ausgrenzender Unterscheidung‘107 operierende platonische Philosophie ein plus, ja eine Pluralität von Deutungsmöglichkeiten,108 die sinnvoll aufeinander bezogen werden können.
107 S. die Kritik (unter Bezug auf den Vorsokratiker Parmenides und die Interpretation von Werner Jäger) von Assmann (2003: 23–24, 133); vgl. dazu Drews (2018: 23). 108 S. o. Anm. 31.
7. Tage ohne Sonne, die ungeformte Materie und der Unterschied zwischen literal-geistiger Deutung und prophetischer Allegorie Zwar hat Augustinus die Frage, ob das Fiat lux an oder vor einem bestimmten Tag gesprochen worden sei, inzwischen beantwortet. Das Ausgangsproblem des letzten Kapitels, in welcher Hinsicht der „erste Tag“ zu verstehen sei, ist jedoch noch ungelöst. Gemäß dem Duktus der gerade abgeschlossenen Überlegungen liege es freilich nahe, dass das Licht zeitfrei (sine tempore) geschaffen worden sei. Dagegen spricht jedoch zunächst die literale Zuschreibung von „Tag und Nacht“ (Gen 1, 5). In langen, teils bereits vorher Gesagtes erneut aufgreifenden Argumentationen kann Augustinus ein zeitliches Verständnis von „Tag und Nacht“ zurückweisen – mit dem ultimativen Argument, dass die Sonne, welche durch ihre Kreisläufe jeweils einen Teil der Erde erleuchte, während der andere im Dunkeln liege, schließlich „noch gar nicht da war“ (quod etiam sol nondum erat).109 Genau diese Aussage des Schöpfungsberichts – dass die Gestirne erst am vierten Schöpfungstag erschaffen werden (Gen 1, 14–19) – erweist sich freilich als grundsätzliches Problem für die Interpretation nicht nur des allerersten Tags überhaupt, sondern der ersten drei Tage insgesamt.110 In Bezug auf das „primäre Licht“ (primaria lux) erwägt Augustinus, es habe die Masse der Erde ringsherum bedeckt, so dass es nicht zuließ, dass ihm eine Nacht folgte, da es sich selbst (als Licht) nicht zurückzog. Diese für ein Lichtprinzip, das ganz und unverändert es selbst ist, stimmige Erklärung sieht sich Augustinus jedoch sogleich gezwungen zu relativieren – denn sie passt nicht zur Vorgabe des Bibeltextes, der bereits in Vers 5, d. h. für den ersten Schöpfungstag, einen Wechsel und „Abend und Morgen“ zugrunde legt. Der Kirchenvater fragt daher, ob das erste Licht vielleicht nur von einer Seite (ex una parte) so geschaffen worden sein könnte, so dass es, wenn es selbst einen Umlauf zeige (circumiens), auf der anderen 109 Gn. litt. I, 10; 14,1–16,23. Vgl. Origenes, Genesis-Kommentare (Metzler), S. 44–45 (= Contra Celsum VI, 50 f.). 110 Gn. litt. I, 12; 17, 17–20.
7. Tage ohne Sonne
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Seite Platz für die Nacht und ihren Umlauf ließe. Die „kugelförmige Masse“ (globosa moles), noch ganz von Wasser bedeckt, hätte dann auf der einen Seite durch die Anwesenheit des Lichts Tag, auf der anderen wegen der Abwesenheit des Lichts Nacht gehabt.111 Problematisch wäre an dieser ‚exegetischen Notlösung‘ allerdings, dass Augustinus hier im Grunde schon Pseudo-Gestirne einführt und die primaria lux auf einer sehr ähnlichen Ebene anzusiedeln wäre wie die später erschaffene, eigentliche Sonne. Nach einigen Überlegungen darüber, wohin, wodurch und wie das Wasser gesammelt worden sei, auf dass trockene Erde erschiene (Gen 1, 9–10), und an welchem Tag Gott die „sichtbaren Formen und Qualitäten der Wasser und Lande“ (conspicuae aquarum terrarumque species qualitatesque) geschaffen habe,112 weist Augustinus darauf hin, dass bei diesen seinsspezischen Formungen doch Schöpfungsworte wie: ‚Gott sprach: Es werde Erde/Wasser. Und es wurde Erde/Wasser. Und Gott sah, dass es gut ist‘ zu erwarten wären.113 Denn damit wäre der zuvor bereits detailliert erörterte schöpfungsontologische Duktus des Hervorbringens bzw. des Hervorgangs einerseits und der seinsspezifischen Formung durch die Rückwendung/Bekehrung des Geschaffenen andererseits gewahrt. Insofern die vorausgegangenen Überlegungen also theologische Gültigkeit behalten sollen, muss diese Merkwürdigkeit erklärt werden. Wie es Augustins Methode entspricht, erklärt er diese Frage auf der Basis genau dieser Ergebnisse seiner bisherigen Exegese: Aus dem Fehlen der bekannten Schöpfungsworte sei gerade zu schließen, dass mit ‚Wasser‘ und ‚Land‘ hier noch nichts bereits Spezifiziert-Geformtes gemeint sei. Denn die „sicherste Vernunft“ wie auch der katholische Glaube lehrten ja, dass „jedes Wandelbare, Veränderliche“ (mutabile) aus irgendeiner Ungeformtheit heraus geformt werde, wie nicht zuletzt die Heilige Schrift an anderer Stelle ausdrücklich sage: „Der du die Welt aus ungeformter Materie gemacht hast“ (Sap 11, 17). Gott aber sei als „Schöpfer und Anfang aller geformten und formbaren Dinge“ auch der Urheber der Materie selbst, die nicht ohne ihn sein könne.114 Der philosophischen Sache nach ist dieser Materie-Begriff freilich platonisch-aristotelischer Provenienz. Die Berechtigung, diesen zugrunde zu legen, sieht Augustinus offenbar nicht in der Autorität der besagten Philosophen selbst, sondern vielmehr in der rationalen Schlüssigkeit des Denkens überhaupt begründet:115 Die „sicherste Vernunft (ratio)“ belege, dass etwas Wandelbar-Veränderliches durch Formung entsteht, die es zuvor nicht besaß. Wenn z. B. aus Steinen ein Haus gebaut wird, dann liegt das Haus-Sein nicht schon in den Steinen qua Steinen begründet, denn man kann sie auch 111 112 113 114 115
Gn. litt. I, 12; 18, 15–24. Gn. litt. I, 12–13; 18,25–19,24. Gn. litt. I, 13; 20, 16–21. Gn. litt. I, 14; 20, 22–27. Vgl. die grundsätzlich wichtige Feststellung von Fladerer (2010: 187): „Auf jeden Fall ist das Forschen des Augustinus als solches ernstzunehmen, ein Kraftakt der Rationalität, keine ironische Maske zur Verschleierung eines dogmatischen Anliegens.“
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einfach als Haufen von Steinen ungeordnet liegen lassen. Das Haus-Sein (bzw. das Eidos ‚Haus‘) muss erst zu den Steinen hinzukommen, nicht jedoch als eine chemische Zutat, sondern als eine aus geistiger Überlegung (z. B. eines Architekten) herrührende Struktur, nach welcher die Steine konfiguriert werden. Die Steine sind gegenüber dem Haus-Eidos die in Bezug auf das Haus-Sein ungeformte Materie. Betrachtet man die Steine selbst, dann weisen auch sie freilich eine Formung auf, z. B. wenn Backsteine aus Lehm geformt werden usw. ‚Materie‘ ist platonisch also nicht schon immer etwas Tastbares, Festes, Teilchenartiges etc., sondern das in Bezug auf etwas Bestimmtes (z. B. ‚Haus‘) relativ Unbestimmte (‚Stein‘). Diese platonische ratio ist, modern formuliert, etwas empirisch durchaus Verifizierbares, weshalb Augustinus sie als „äußerst sicher“ einstufen kann. Diese Annahme steht für den Kirchenvater gleichwohl nicht im Widerspruch zur Heiligen Schrift: Augustinus zitiert eine explizite Stelle aus dem Buch der Weisheit, mit der er den weniger leicht verständlichen ersten Schöpfungsbericht aufzuhellen vermag (gemäß dem Prinzip scriptura ipsius interpres). Methodisch betrachtet ‚importiert‘ Augustinus also auch hier nicht einfach Platon in den Bibeltext – er argumentiert keineswegs nach dem Motto: ‚Weil Platon es so sagt, ist es erstens richtig und zweitens für die Bibelexegese maßgebend.‘ Vielmehr rekurriert er auf eine allgemeine certissima ratio, die er für bewiesen erachtet und die zudem auch an anderer Stelle von der Schrift bestätigt wird. Der Anspruch der Rationalität, der vernünftigen Erklärung, hat hier insofern sogar einen leichten Vorrang gegenüber der Autorität der Schrift. Für Augustinus ist es deshalb offenbar auch keiner besonderen Erwähnung wert, dass Platon und sein Schüler Aristoteles in philosophischer Hinsicht für dieses Materie-Verständnis maßgeblich waren. Was rational ist und überzeugt, hat Vorrang. Wie schon zuvor kann Augustinus auf diesem Wege sogar Licht in eine weitere Schwierigkeit des ersten Schöpfungsberichts bringen. Wenn oben das Fehlen der Schöpfungsworte: „Und Gott sprach: ‚Es werde …!‘ Und es wurde …“ sinnvoll interpretiert werden konnte, insofern der Schöpfungsbericht mit Hilfe der neuplatonisch verstandenen Seinskonstitution ‚Verharren – Hervorgang – Rückwendung/ Bekehrung‘ gedeutet wurde,116 so klärt sich nun analog auch das Verständnis von Erde, Himmel und Wasser in den Versen Gen 1, 1–7: Alle drei sind im weitesten Sinne noch unspezifizierte bzw. bestenfalls ansatzweise geformt werdende Materie, weshalb ihre Hervorbringung nicht durch die besagten Schöpfungsworte eingeleitet und abgeschlossen werde. Wasser und Erde sind also hier noch nicht in dem Sinne ‚Erde‘ und ‚Wasser‘, wie man gemeinhin unter Bezug auf sinnlich-wahrnehmbares Land und Wasser denken würde. Erneut zeigt sich, dass gemäß Augustins Interpretation der Schöpfungsprozess im biblischen Bericht sehr detailliert und sozusagen absichtlich ‚langsam‘ erzählt wird. Diese ‚Langsamkeit‘ bedeutet jedoch eine theologisch-philoso-
116
S. o. Kap. 4.
7. Tage ohne Sonne
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phische Genauigkeit, die gerade von „in Bezug auf geistige Klugheit trägeren Lesern“117 übersehen werden könnte, weshalb die Schrift in bildlicher Weise von „Himmel und Erde“ rede. Erst mit dem Sprechen des Schöpfungslogos (d. h. Gottes Wort) beginne die „Ordnung der geformten Dinge“ (formatarum rerum ordo).118 Sind aber Himmel, Erde und Wasser, von denen in den ersten Versen die Rede ist, noch nicht die in ihrer seinsspezifischen Formung dem Leser bekannten Elemente, sondern zunächst nur Manifestationen der Ur-Materie, dann nimmt es auch nicht wunder, dass die Zählung der Tage noch keine innerweltlich bestimmte Zeit sein kann. Auf diesen Aspekt kommt Augustinus nun direkt zu sprechen: „Nicht dass die formlose Materie den geformten Dingen der Zeit nach früher sei (non quia informis materia formatis rebus tempore prior est).119 Impliziert ist hier also die platonische Differenzierung zwischen einem zeitlichen und einem unzeitlichen, sachlichen Früher,120 die der Kirchenvater anhand eines einschlägigen Beispiels erläutert: Die Stimme sei Materie der Worte, werde aber beim Sprechen nicht der Zeit nach früher aktualisiert als die geformten Worte – es erklingt nicht zuerst ‚ungeformte Stimme‘ und dann ‚geformte Stimme‘, sondern Stimme und Formung beginnen zeitgleich, ohne dass deshalb die Differenzierung zwischen der Stimme als Materie für die in ihrem Anheben bereits geformt werdenden Worte obsolet erschiene. Denn in der Tat gibt es ja auch wortlose oder undeutlich sprechende Stimmen – jedoch muss nicht zeitlich zuerst Stimme ohne Worte vorhergehen, bevor Worte hervorgebracht werden. Beides lässt sich vielmehr im Sinne eines sachlichen Frühers unterscheiden und liegt doch der Zeit pro spiritali prudentia tardioribus etiam lectoribus (Gn. litt. I, 14; 21, 2–3). – Zur Frage der Leserschaft von Gn. litt. s. Fladerer (2010: 69): „Einen Sonderfall im Hinblick auf den Konnex von exegetischer Methode und anvisierten Adressaten stellt Gn. litt. insofern dar, als in diesem Werk von einer weltanschaulich genau fixierbaren Leserschaft nicht mehr auszugehen ist.“ Vgl. ferner Teske (2010: 114). Gleichwohl ist vom Titel des Werks her bereits klar, dass eine „literale Auslegung“ in impliziter Abgrenzung gegen die Manichäer erfolgt (vgl. Pollmann 2008: 105, 110–1; 2007: 209), die eine solche fordern (Teske 2009: 117), nur um das Alte Testament mit einem „crude literalism“ ad absurdum zu führen (Kelly 1997: 119) und generell zu verwerfen (s. u. Kap. 25), allegorische Interpretationen dagegen nur für die Mythen Manis akzeptieren (Pollmann 2010: 74–75). Insofern klassifiziert Pollmann (2009a: 315) Gn. litt. zu Recht als „an interpretative work with an apologetic edge“ und spricht von „Augustine’s strategy of offering literal interpretations to critical non-believers and allegorical ones to the initiated“ (ibd., 322, Anm. 55). 118 Gn. litt. I, 14; 21, 6. 119 Gn. litt. I, 15; 21, 7. 120 Explizit macht Augustinus diese Unterscheidung z. B. in Gn. litt. XII, 16; 402, 3–4 (tempore posterius – natura prius), s. u. Kap. 38 sowie Anm. 422. – Sachlich früher ist z. B. die Eins vor der Zwei, aber es hat nie eine Zeit gegeben, in der nur die Eins und nicht auch die Zwei als Zahlen denkbar gewesen wären. Insofern ‚Zwei‘ (auf rein mathematischer, nicht auf prinzipienontologischer Ebene) die Synthese zweier Einheiten ist, zeigt genau dieser Umstand, dass die Zwei bereits die Möglichkeit, ‚Einheit zu sein‘, impliziert, da sie gleich zwei Einheiten zusammen ist. Als ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie im Platonismus ein sachliches Früher gedacht wird, sei hier an die berühmte Stelle in der Politeia erinnert, wo Platon das absolute Gute selbst als der Würde und dem Vermögen nach jenseits des wahrhaften, intelligiblen Seins beschreibt: Auch hier ist keine zeitliche Reihenfolge, sondern eine sachliche Rangfolge gemeint (Platon, resp. 509b). 117
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nach zugleich vor. Gleiches gelte auch für Gottes Erschaffung der Materie: Der Schöpfer habe nicht zeitlich zuerst die Materie und dann später „gleichsam durch eine zweite Überlegung“ (quasi secunda consideratione) ihre Formung vorgenommen. Die Heilige Schrift konnte, so Augustinus, durch die Zeitlichkeit der Sprache das trennen, was Gott der Schöpfungszeit nach nicht getrennt hatte.121 Damit scheint Augustinus in seiner Exegese einen gewichtigen Schritt vom Bibeltext weg hin zum Platonismus zu vollziehen. Denn es erweist sich nun einmal als die grundsätzliche Schwierigkeit, dass der Schöpfungsbericht in zeitlichen Kategorien von etwas spricht, das sich gemäß Augustins Verständnis nur auf überzeitliche Weise sinnvoll verstehen lässt. Die Begründung, welche der Kirchenvater anführt, wird noch mehr als ein Jahrtausend später von John Milton in seinem Epos Paradise Lost geteilt:122 Immediate are the Acts of God, more swift / Than time or motion, but to human ears / Cannot without procéss of speech be told, / So told as earthly notion can receive […] ( John Milton, PL VII, 176–9).
Die Schöpfungs- und Erkenntnisakte Gottes sind in überzeitlicher Weise „schneller als Zeit oder Bewegung“ – sie müssen dem Menschen, damit er ihre Komplexität ahnend erfassen kann, jedoch im zeitlichen Nacheinander kundgetan werden. Was für Augustinus der theologischen Sache nach gilt, stellt für den Epos-Dichter Milton noch ein ungleich schwierigeres Problem dar: Wenn Gott wirklich ewig-überzeitlich sein sollte, wie lässt ein inspirierter Dichter ihn dann im Epos reden? Darf Gott überhaupt reden, d. h. zeitliche Worte ‚in den Mund‘ nehmen? Und wenn nicht, wie stellt man überzeitliche Ewigkeit mit Hilfe sich zwangsläufig zeitlich vollziehender Sprache dar? Diese theologisch-philosophische Position hat einen starken didaktischen Impetus, der nicht übersehen werden sollte: Einen überzeitlichen Zusammenhang vermitteln zu wollen, wird in den meisten Fällen misslingen, da sich für sehr viele Rezipienten überhaupt nicht die Frage nach Überzeitlichkeit stellt. Man müsste zunächst einmal einen triftigen Grund einsehen, weshalb es denn etwas Überzeitliches geben sollte; sodann müsste man begreifen, was Überzeitlichkeit genau meint und inwiefern etwas derartig ‚Kontraintuitives‘ angenommen werden sollte. Aus platonischer Perspektive gehört zum Begriff des absoluten Eines- bzw. Einer-Seins die alle zeitlichen Wechselfälle transzendierende ewige Bestandhabensweise:123 Wenn also Gott bzw. das höchste Überwesen absolut Einer ist, dann kann er nicht selbst auch der Zeitlichkeit unterworfen sein wie seine Geschöpfe, sonst verlöre er seine absolute Einheit. Den Geschöpfen, also auch den Menschen, ist die zeitliche Wirklichkeit jedoch etwas derart Selbstverständliches, dass es sehr schwer ist, aus dieser zeitlichen Bedingtheit des Erfahrungshorizonts heraus etwas Unzeitliches überhaupt zu denken. Um dennoch 121 122 123
Gn. litt. I, 15; 21, 8–19. Vgl. in ähnlicher Weise Gn. litt. II, 15; 57, 1–4. Zur Stelle vgl. Drews (2009: 744–764). Vgl. Anm. 120.
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jedenfalls Andeutungen über die Ewigkeit vornehmen zu können, erscheint eine indirekte Ausdrucksweise zweckdienlich, indem ein eigentlich überzeitlich aufzufassender Zusammenhang ins zeitliche Nacheinander entfaltet wird. Genau dies meint Augustinus (und mit ihm z. B. auch noch Milton). Aus diesem Grund, so der Kirchenvater, habe die Heilige Schrift die Erschaffung der aller Formung zugrunde liegenden, in sich selbst gleichwohl unbestimmten Materie getrennt von ihrer nur sachlich späteren Formung erzählt, also die sachliche Differenzierung in ein zeitliches Nacheinander entfaltet. In der Tat folgt er damit zunächst einmal dem Denken Plotins und Platons:124 Die Materie ist als sie selbst, für sich genommen, im Grunde unerkennbar bzw. nur indirekt erschließbar. Im Sinne einer adäquaten Ontologie kann gemäß Augustinus indes nicht bestritten werden, dass zwischen eidetischer Formbestimmung einerseits und Geformtem andererseits zu unterscheiden ist – dies sollte ja gerade sein Beispiel von der Stimme als Materie der Worte zeigen: Das gesprochene Wort ist nicht unabhängig von Stimme, und doch ist Stimme nicht dasselbe wie das gesprochene Wort, sondern die Materie, in welcher das Wort artikuliert wird. Vor diesem Hintergrund hat Augustinus – wie schon zuvor bei der Darlegung, warum die Schöpfungsworte: „Und Gott sprach … Und es wurde“ in den ersten Versen der Genesis fehlen125 – nun recht gute exegetische Gründe, den biblischen Schöpfungsbericht mit den Mitteln platonischer Philosophie zu erklären: Die Heilige Schrift musste beides, die Grundlage aller seinsspezifischen Formung und den Form verleihenden Akt, zum Ausdruck bringen.126 Die Bezeichnung der Erde als „unsichtbar und ungeordnet“ (invisibilis et inconposita) weist nun genau die uneigentlichen Attribute auf, welche platonisch von der absoluten, ungeformten Materie gelten: ‚Unsichtbare Unordnung‘ stellt einen Mangel gegenüber der in den Folgeversen thematisierten Formgebung dar, die z. B. das trockene Land gegenüber dem Meer substantiell abgrenzen wird (V. 10). Derselbe Materieaspekt der Unbestimmtheit (informitas) werde mit der „finsteren Tiefe“ (tenebrae erant super abyssum) angedeutet, während der „Geist Gottes“ auf den gegenüber der Materie transzendenten Schöpfergott hinweise (V. 2).127 Beide Aussagen sind platonisch ohne Weiteres anschlussfähig; für seine überzeitlich-unzeitliche Interpretation des im zeitlichen Nacheinander Erzählten kann Augustinus zumindest auf den textimmanenten Kontext verweisen, dass so etwas wie Zeit im spezifischen Sinne an dieser Stelle des Schöpfungswerks und -berichts noch gar nicht existieren kann. Mit dem Erreichen dieser philosophisch-ontologischen Ausdeutung der ersten Verse des Schöpfungsberichts kann Augustinus nun auch die vorher erwogene In124 125 126 127
Vgl. Halfwassen (2004: 112, 122). S. o. Kap. 4. Gn. litt. I, 15; 21,23–22,2. Gn. litt. I, 15; 22, 15–20. Zum Materiebegriff bei Augustinus vgl. Tornau (2014).
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terpretationsmöglichkeit ausschließen, eine „kugelförmige“ (globosa) bzw. „geformte Masse“ (formata moles), noch ganz von Wasser bedeckt, hätte dann auf der einen Seite durch die Anwesenheit des Lichts Tag, auf der anderen wegen der Abwesenheit des Lichts Nacht gehabt. Überhaupt scheide die Annahme aus, den Wechsel von Tag und Nacht am Schöpfungsbeginn als „Ausstrahlung und Zurücknahme jenes Lichts“ zu verstehen, da es noch keine Lebewesen gab, denen dieser Wechsel zuträglich gewesen wäre.128 Alles deutet also darauf hin, das zuerst geschaffene Licht auf geistige Weise als eine lux spiritalis zu begreifen, wobei der Kirchenvater sogleich darauf hinweist, dass damit nicht das Gott Vater gleichewige Licht, durch welches alles geschaffen, das aber selbst unerschaffen sei, sondern vielmehr „die früher als alles [sc. Andere] geschaffene Weisheit (sapientia)“ (Sirach 1, 4) gemeint sei. So habe Gottes unerschaffene Weisheit den (in Vers 1 unter dem Wort „Himmel“ zu verstehenden) geistigen Geschöpfen die rationale Begabung als eine geschaffene Weisheit eingegeben.129 Der innere Kontext des Schöpfungsberichts führt Augustinus also erneut dazu, einen geistigen Literalsinn des Textes geltend zu machen. Wie ist dann aber die Nacht in Vers 5 zu interpretieren? Da die primaria lux geistig gedeutet wurde, erwägt Augustinus analog ein geistiges Verständnis der Nacht. Gab es etwa schon „törichte Sünder, die vom Licht der Wahrheit abgefallen“ wären, die Gott von den im Lichte Verharrenden hätte scheiden sollen im Sinne von „Tag und Nacht“, gleichwohl „nicht als Verursacher (operator) der Sünden, sondern als ihr Ordner (ordinator) durch die Zuteilung der Verdienste?“130 Dieser letzte Zusatz ist in systematisch-theologischer Hinsicht für Augustinus von entscheidender Relevanz: Jegliche Ursächlichkeit Gottes an Sünde und Bösem ist kategorisch auszuschließen, da Gott aus christlich-platonischer Perspektive nur als gut zu denken ist.131 Selbst wenn Gott in seinem überzeitlichen Allwissen den Sündenfall auf zeitfreie Weise erkennt, macht ihn dies gemäß Augustinus auf keinen Fall zu dessen Verursacher: Der Sündenfall ist auch nicht (in einem calvinistischen Sinne) ‚prädestiniert‘, sondern vorherbestimmt ist nur Gottes Wirken zum Guten. Der wesentliche Unterschied besteht also darin, 128 129
130 131
Gn. litt. I, 16; 22,24–23,6 unter Rückbezug auf Gn. litt. I, 12; 18, 15–24. Gn. litt. I, 17; 23,20–24,10. Vgl. Tornau (2014: 198) zu Augustins Auffassung (conf. XII, 15, 20), dass die geschaffene Weisheit nicht Gottes eigene, ihm gleichewige Weisheit bedeuten kann: Augustinus unterscheide zwischen dem zeugenden Aussprechen des Logos-Sohnes durch Gott-Vater und dem Hören des Logos durch die Engel als geschaffener Weisheit. Die Unterscheidung der ungeschaffenen von der geschaffenen Weisheit findet sich bereits bei Origenes (s. dazu Drews 2018: 224–237), später z. B. bei Eriugena (ibd., 316) und Nikolaus von Kues (ibd., 386). Gn. litt. I, 17; 24, 17–22. Für den Primat des Guten bzw. Gottes Gutheit vgl. in der Bibel: Ps 25, 8.10; Ps 33, 5; Gen 50, 20; 2 Ch 5, 13 und 6, 41; Mt 19, 17; Mk 10, 18 [= Lk 18, 19]); 1 Pt 2, 3; Jak 1, 17 (im Zusammenhang mit Gottes Unwandelbarkeit, vgl. dazu auch Mal 3, 6 und 1 Sm 15, 29). Neben Gottes Gutheit wird – auf sie zurückführend, trotzdem von ihr unterschieden – die Gutheit der Schöpfung hervorgehoben: Gen 1, 31; Ps 139, 14; 1 Ti 4, 4. S. außerdem Platon, resp. 379b1, 379c4–7, 380b6–7, 617e5.
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dass der Sündenfall von den jeweiligen Sündern selbstverschuldet, weder in sich selbst noch für Gott ‚notwendig‘ bzw. unumgänglich ist. Gleichwohl kann Gott auch aus dem Schlechten noch etwas Gutes entstehen lassen, jedoch benötigt er für dieses Gute nicht das Schlechte.132 Augustinus vertritt also nicht die Theorie eines deterministischen Weltenlaufs, und auch ist für ihn die Welt nicht erst inklusive des Bösen vollständig oder gar die beste aller möglichen Welten.133 Vielmehr ist die Welt gut angelegt, gut geschaffen – jedoch frei, in diesem Guten zu verbleiben oder sich von ihm zu distanzieren, mit entsprechend schweren Konsequenzen. Diese systematisch-theologischen Auffassungen sind für den Kirchenvater also nicht von der ‚reinen Exegese‘ zu trennen: Eine radikale Trennung dieser theologischen Disziplinen gibt es für ihn aus guten Gründen nicht.134 Wolle man indes wirklich die „Nacht“ in Vers 5 im geistigen Sinn als Prolepsis des Sündenfalls und folglich den „einen Tag“ (der ‚erste‘ Schöpfungstag ist im lateinischen wie auch im griechischen und hebräischen Text nicht mit einer Ordinal-, sondern der Kardinalzeit unus, mia bzw. ächad bezeichnet) als Inbegriff der Zeitalter und Weltläufe begreifen, dann wäre dies, wie Augustinus selbstkritisch einwendet, eine „prophetische Allegorie“, die er in diesem Traktat eigentlich nicht unternehmen wollte. Immerhin wäre die Abfolge von Abend (vespera) und Morgen (mane) sinnvoll interpretierbar, insofern ‚Abend‘ auf den „Sündenfall der rationalen Kreatur“, ‚Tag‘ aber auf „ihre Erneuerung“ hindeute.135 Obgleich Augustinus, wie oben genauer erörtert,136 durchaus allegorisch-geistige Elemente in seine literale Interpretation zu integrieren vermag – besonders wenn kein historischer Sinn zu ermitteln ist –, so setzt er sich hier selbst exegetische Grenzen und sucht explizit nach einem spezifischen Verständnis der „Tatsachen“ (proprietas rerum gestarum) und nicht nach „Rätselbildern für zukünftige Dinge“ (aenigmata futurarum).137 Diese methodische Selbstbeschränkung überrascht zunächst – warum sind an anderer Stelle geistige Deutungen zulässig, nicht aber hier? Ein Grund dafür könnte darin zu sehen sein, dass die proleptische Allegorie eben keine bloß geistige Ausdeutung des Textinhalts in seiner vorliegenden Gestalt darstellt: Während etwa das Wort „Himmel“ (Vers 1) ein geistiges Verständnis im Sinne der intellekthaften Naturen (Engel) zulässt, ohne dass dieses mit dem literalen Inhalt ‚Himmel‘ unvereinbar wäre, und während das Licht (Vers 3) vor der Erschaffung der Sonne sich nach Prüfung aller Deutungsvarianten am ehesten widerspruchsfrei deuten lässt, wenn es geistig verstan132 133 134 135 136 137
Diese Punkte scheinen mir der Extrakt aus einer Zusammenschau der verschiedenen, einschlägigen Texte Augustins zu diesem Themenkreis zu sein (s. Drews 2009: 105–238). Zur Auseinandersetzung mit dieser maßgeblich von Leibniz vertretenen Position in Abgrenzung zu platonisch-christlichen Auffassungen vgl. Drews (2018: 509–518). S. o. Anm. 50. Gn. litt. I, 17; 24,22–25,4. – Vgl. in dieser Hinsicht das Schriftzitat: „So fern der Morgen ist vom Abend, hält er unsere Übertretungen fern von uns“ (Ps 103, 12). S. Kap. 4. Gn. litt. I, 17; 25, 4–6.
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den wird, scheint eine prophetische Allegorie bei genauerer Betrachtung über diesen literal-geistigen Sinn hinauszugehen. „Abend“ (Vers 5) ist nicht ohne Weiteres im Sinne einer geistigen Bedeutungsebene mit ‚Sünde‘ zu assoziieren: Während ein geistiges Licht eben immer noch den Erleuchtungsaspekt, den es z. B. mit der sichtbaren Sonne gemeinsam hat, zeigt und analog der geistige mit dem sichtbaren Himmel den Aspekt des ‚Schwebens‘ über allem Irdischen (der Erde respektive einer ‚irdischen Gesinnung‘) teilt, lässt sich eine vergleichbare einheitliche Semantik, die einen geistigen ebenso wie einen sinnlich-materiellen Referenzpunkt möglich erscheinen lässt, für ‚Abend‘ und ‚Sünde‘ so nicht finden. Es fehlt das verbindende Spezifikum: die proprietas. Zu dem fehlenden eindeutigen semantischen Aspekt, welcher eine Verbindung von ‚Abend‘ und ‚Sünde‘ nahe legen würde, kommt ein weiterer hinzu – der „prophetische“ bzw. proleptische. Denn anders als die rein geistige Auslegung von Licht und Himmel könnte eine prophetische Antizipation des Sündenfalls nicht bei einer geistig und sinnlich auslegbaren proprietas verbleiben, sondern müsste ausdrücklich auf ein späteres Geschehen ausgreifen. Damit nicht genug, wäre mit dem ‚Abend von Tag eins‘ bereits der Makel des Sündhaften verbunden. Dies müsste theologisch zwar noch nicht dahingehend gedeutet werden, dass der Sündenfall irgendwie auf die Grundanlage der Schöpfung und letztlich auf Gott zurückgehe – denn dieses Deutungsmuster schließt Augustinus, wie gesehen, aus systematisch-theologischen Gründen aus. Der Kirchenvater verwirft eine solche prophetische Deutung daher auch nicht grundsätzlich, sondern sagt nur, dass er diese Methode in De Genesi ad litteram eigentlich nicht verfolgen will. Möglicherweise erkennt er – abgesehen von den gerade erörterten methodisch-exegetischen Aspekten, die eine prophetische von einer geistigen, gleichwohl immer noch spezifisch-eigentümlich literalen Deutung unterscheiden – in der Assoziation des Abends mit ‚Sünde‘ jedoch die theologische Gefahr, dass damit die Ursache für den Sündenfall seitens des Lesers irgendwie in Gott selbst hineinprojiziert werden könnte. Zumindest erscheint eine prophetische Allegorie für ein solches Missverständnis anfällig. Entsprechend geht es ihm um die ratio factarum conditarumque naturarum, also um „eine vernünftige Auslegung im Hinblick auf Erschaffung und Begründung der Wesen“, d. h. um die Schöpfungsanlage selbst.138 Denn die Anlage der Schöpfung ist das eigentümlich-spezifische Thema in Genesis 1, und dieses muss im Sinne eines Literalsinns ergründet werden: Genau in diesen Kontext passt die geistig-literale Auffassung von Himmel und Licht ohne Weiteres, auch die allegorische Andeutung der Trinität steht dazu nicht in einem sachlichen Widerspruch, weil es im Schöpfungsbericht um Gott als Schöpfer geht, sein kreatives Sprechen (Wort) und den Geist Gottes – drei Aspekte, die sich trinitarisch-monotheistisch interpretieren lassen. Dagegen ginge
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eine prophetische Allegorisierung von ‚Abend‘ als ‚Sünde‘ explizit über das Thema ‚Schöpfung‘ bzw. den Urzustand alles Geschaffenen hinaus, da Gott – nach Augustins christlich-platonischem Credo – auf keinen Fall Verursacher der Sünden und des Sündenfalls sein kann. Methodisch zeigt sich nun auch noch einmal prägnanter, weshalb für den Kirchenvater Exegese und systematische Theologie keine zueinander bezugslosen Disziplinen sind, obgleich Augustinus seine Ablehnung einer prophetischen Allegorie durchaus auch ohne Zuhilfenahme systematischer Gesichtspunkte rein exegetisch zu begründen vermag – eben aus dem Unterschied zwischen einem spezifisch literal-geistigen Verständnis auf der Basis einer Geistiges mit Sinnlich-Materiellem verbindenden Semantik einerseits und einer nicht mehr spezifischen, sondern nur mittels einer Prolepse in den Text hineinprojizierten Sinnebene andererseits. Genau diese sich aus der ‚reinen‘ Exegese ergebende Methode steht in ihren inhaltlichen Resultaten dann aber wieder im Einklang mit Augustins systematisch-theologischen Überzeugungen – Gott ist auf keinen Fall Ursache des Bösen und des Sündenfalls. Im Hinblick auf eine ratio factarum conditarumque naturarum, d. h. auf die Schöpfungsanlage der geschaffenen Wesen, erwägt Augustinus als Deutung von „Finsternis und Licht“, ob beides die „Unterscheidung der formlosen von der seinsspezifisch geformten Sache und die Benennung von Tag und Nacht die Andeutung einer Verteilung (distributio)“ sei, wodurch bezeichnet werde, dass Gott nichts ungeordnet lasse und dass selbst „Formlosigkeit“ (informitas) nicht ohne bzw. außerhalb der schöpferischen Ordnung (indisposita) liege. Schließlich sei das Schwinden und das Fortschreiten der Schöpfung im Sinne eines zeitlichen Wechsels eine „Verstärkung der universalen Schönheit“ (subplementum decoris universi). In diesem Sinne sei „Nacht“ bereits „geordnete Finsternis“ (ordinatae tenebrae) – und kein formlos-ungeordneter Mangel an Licht.139 Im Folgenden geht Augustinus dem Detail nach, weshalb Gott bereits direkt nach der Erschaffung des Lichts sieht, dass es gut ist, und danach das Licht von der Finsternis scheidet (Gen 1, 3–4). Dagegen folge später, als die Gestirne geschaffen werden und mit ihnen der vertraute Wechsel von Tag und Nacht (Verse 16–18), der Zusatz: „Und Gott sah, dass es gut ist“ erst nach der Nennung von Tag und Nacht. Nach der Erschaffung der Gestirne, die für Ordnung bei Tag und Nacht sorgen, ist auch die Nacht selbst gut, weil sie Teil der Ordnung und nicht mehr ungeformt ist – im Unterschied zu der ersten, ungeformten Finsternis in Vers 4, aus der anderes geformt werden sollte.140 Die Ausdeutung dieses Details, wann Gott innerhalb der einzelnen, in der Erzählung entfalteten Schöpfungsschritte das von ihm Erschaffene jeweils als gut erkennt, zeigt erneut, wie genau der Kirchenvater seinen Bibeltext studiert und versucht, jeder
139 Gn. litt. I, 17; 25, 6–15. 140 Gn. litt. I, 17; 25,16–26,16. Vgl. Alexanderson (2006: 8; 2007: 369).
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noch so kleinen Nuance einen präzisen Sinn zu entlocken – gemäß der Prämisse, dass eine vom Heiligen Geist inspirierte Schrift nichts geist- oder grundlos erwähnt. Bei dieser exegetischen Methode handelt es sich keineswegs um einen hermeneutischen Zirkel, als ob das jeweils Vorausgesetzte bereits das Zu-Findende enthalte bzw. das Definiens schon das Definiendum bestimmte: Denn allein die Prämisse, mit einem inspirierten (oder wenigstens ‚geistreichen‘) Text zu rechnen, sagt ja noch nichts darüber aus, in welcher Form sich eine solche Inspiriertheit der Schrift jeweils zeigen wird. Es macht methodisch einen gewichtigen Unterschied, ob ein Exeget noch ganz allgemein-unspezifisch mit der Möglichkeit rechnet, dass sich die Untersuchung jedes Details auszahlen werde,141 und sich entsprechende Mühe bei seiner Schrift-Auslegung zumutet oder ob mit der Streichung der Inspiration möglicherweise auch die Achtsamkeit für Details abnimmt. Im Hinblick auf den aus „Abend und Morgen“ entstehenden „Tag eins“ deutet Augustinus „Abend und Morgen“ auf andere Weise als die eigentlich analog anmutenden Termini Licht und Finsternis, Tag und Nacht. Dabei wird ersichtlich, wie schwer „Abend und Morgen“ als den Gestirnen vorausgehende Differenz für Augustinus zu interpretieren sind – auch die gerade angesprochene Liebe zum Detail und die hermeneutische Voraussetzung, mit der Inspiriertheit der Schrift zu rechnen, bewirken eben nicht automatisch, dass der Exeget jedes Detail ohne Weiteres zu erklären vermag. Wenn bei der Finsternis zwischen ungeformter/ungeordneter und geformt/geordneter Finsternis sinnvoll unterschieden werden kann und wenn doch, wie gesehen, eine Assoziation des Abends mit Mangelhaft-Sündhaftem aus guten Gründen ausscheidet, dann muss eine andere ratio gesucht werden. Der Kirchenvater findet sie darin, dass „Abend“ bei den ersten drei Tagen die „Grenze des abgeschlossenen Werks“ (consummati operis terminus) bezeichne, „Morgen“ dagegen das „zukünftige Wirken“ (futura operatio).142 Dies erscheint freilich ganz im Einklang mit der Erwartung des künftigen, heilbringenden Morgens, dem kein Sabbat mehr folgt – wie es am siebenten Schöpfungstag (Gen 2, 3) bzw. am „ewigen Sabbat“ sein wird: Von beidem spricht Augustinus am Ende sowohl seiner Confessiones wie auch von De civitate Dei.143 Die entzeitlichende und versachlichende Deutung von Abend und Morgen im Sinne einer ersten Grenze zwischen Geschaffenem und noch Zu-Schaffendem ermöglicht Augustinus nicht nur, einer Beantwortung der schwer zu lösenden Frage, wie bereits vor Erschaffung der Gestirne ‚Tag‘ und ‚Nacht‘, ‚Abend‘ und ‚Morgen‘ unterschieden werden könnten, einen wesentlichen Schritt näher zu kommen. Denn die Antwort, 141
Diese Methode operiert mit einer systemimmanenten Vorsicht: Man solle, so Augustinus, sich nicht vorschnell auf eine bestimmte Interpretation der Schrift festlegen, weil diese möglicherweise bei genauerer Prüfung erschüttert werde. Denn es gehe nicht darum, sich die Schrift nach der eigenen Meinung zurechtzulegen, sondern umgekehrt die Meinung von der Schrift her abzusichern (Gn. litt. I, 18; 27, 14–20). S. o. Anm. 42. 142 Gn. litt. I, 17; 26, 16–19. 143 conf. XIII, 35–38; civ. XXII, 30.
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welche sich nun für ihn abzeichnet, versucht den biblischen Text jedenfalls in seiner Rede von ‚Tag‘ und ‚Nacht‘, ‚Abend‘ und ‚Morgen‘ vor aller (irdischen) Zeit ernst zu nehmen. Zugleich ergibt sich auch hier wieder eine Übereinstimmung mit Augustins systematisch-theologischen Überzeugungen: Gott als wesentlich, seiner Natur nach, Einer (gleichwohl in der relationalen Dreiheit der drei Personen144) kann nicht der Zeit unterliegen.145 Zeit ist also keine absolute, für alle Wesen (einschließlich Gottes) immer schon geltende Kategorie, sondern – zumindest als durch Sonnenauf- und -untergang bestimmter Wechsel zwischen Tag und Nacht – auch gemäß dem Bibeltext eine nicht am Beginn der Schöpfung stehende Bedingung der Geschöpfe. Gott selbst kann als Schöpfer der Welt also nur aus seinem überzeitlichen Sein heraus seine Schöpfung hervorbringen (inklusive der Zeit). Dazu passt die Deutung von Abend und Morgen im Sinne einer Grenze zwischen Geschaffenem und noch Zu-Schaffendem. Nicht zufällig, sondern vom argumentativen Duktus seiner Ausführungen her stimmig betont Augustinus im Folgenden daher, dass Gott nicht „durch zeitliche Bewegungen“ wirke (wie z. B. Menschen oder Engel), sondern aus den „ewig-unveränderlichen Vernunftgründen seines gleichewigen Wortes und der Brutwärme (fotus) seines gleichfalls gleichewigen Heiligen Geistes“, denn das „Schweben des Geistes“ (Gen 1, 2) sei nach syrischer Theologie weniger als „Schweben“ denn als „brütende Wärme“ aufzufassen.146 An dieser Stelle wird also deutlich, dass Augustinus – gemäß seiner hermeneutischen Grundüberzeugung – andere, von seiner eigenen Auffassung differierende theologische Interpretationen durchaus zu integrieren vermag, solange kein innerer Widerspruch entsteht und andere Deutungsaspekte die Wahrheit der Schrift nicht verdecken, sondern ergänzend unterstreichen.147 Der Kirchenvater sieht diese Interpretation von Gen 1, 2 nicht zuletzt durch ein Herrenwort aus dem Neuen Testament gedeckt: Die Mensch gewordene Weisheit selbst habe die Kinder Jerusalems sammeln wollen wie eine Henne ihre Küken unter ihren Flügeln (Mt 23, 37). Augustinus verwendet diesen neutestamentlichen Vers jedoch gar nicht primär, um dem ungenannten syrischen Theologen in seiner speziellen Genesis-Interpretation beizupflichten, sondern um darauf hinzuweisen, dass die Christen gerade nicht dazu aufgerufen seien, in jeder Beziehung kindlich-naiv zu bleiben, sondern, wie der Apostel sagt,148 nur in Bezug auf die Bosheit (malitia) – der menschliche Geist (mens) jedoch müsse die kindliche Naivität abstreifen. Und dieser Aspekt gelte nicht zuletzt von der zu begreifenden Überzeitlichkeit Gottes.149
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Zu Augustins Trinitätstheologie vgl. Drews (2018: 258–266). S. o. Kap. 6. Gn. litt. I, 18; 26,20–27,5. S. o. Anm. 31 und 55. 1 Kor 14, 20. Gn. litt. I, 18; 27, 5–11.
8. Eine Rückschau auf die hermeneutischen Prinzipien Pluralität, Abwehr von Fundamentalismen, Wahrheitsanspruch und die unbekannte Autorintention Am Ende des ersten Buches von De Genesi ad litteram weist Augustinus noch einmal auf die grundsätzliche Pluralität der Deutungsmöglichkeiten innerhalb seiner Hermeneutik hin. So sei das Schöpfungswort: „Es werde Licht!“ eben grundsätzlich sowohl im geistigen wie auch im körperlichen Sinne verständlich. Dass die geistige Schöpfung, also die rein intellektiven Wesen, durch Licht charakterisiert werden könne, stehe außer Frage – Intellekthaftigkeit impliziert Erkenntnis, also Licht im geistigen Sinne. Aber auch die Annahme eines körperlichen Lichts widerspreche – obwohl Augustinus sie mit viel exegetischer Mühe als nicht-zielführend erwiesen hat – so lange nicht dem Glauben, wie sie eben nicht eindeutigerweise widerlegt sei.150 Dies erscheint durchaus ernst gemeint: Sein eigenes vorsichtiges Herantasten an den Bibeltext, das Prüfen verschiedener Deutungsvarianten, ihr Durchdeklinieren und die Offenlegung ihrer Mängel, um schließlich zu einer jedenfalls näherungsweise überzeugenden Gesamtdeutung zu gelangen, dieses Prozedere rechnet klarerweise mit der Möglichkeit verschiedener, potentiell wahrer Meinungen, wie er es in den Confessiones formuliert.151 Werde aber eine Meinung zurückgewiesen, so liege ihr Fehler nicht in der zu interpretierenden Schrift selbst, sondern in der menschlichen Unwissenheit. Insofern etwas Wahres über bzw. in der Schrift gefunden werde, sei damit nicht zugleich gesichert, dass dies auch die Intention des Autors gewesen sein müsse. Vor diesem Fehlschluss kann Augustinus deshalb warnen, weil nicht die Spekulation um einen historischen Autor die Wahrheit des Textes verbürgen kann, sondern die Wahrheit im Inhalt der Schrift selbst gesucht werden muss, wobei Garant der Wahrheit letztlich der ewige, Heilige Geist Gottes selbst ist, der ermögliche, die Wahrheit(en) in der Schrift zu erkennen. Das Bemühen, einen historischen Autor mit genau einer einzigen Inten-
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Gn. litt. I, 19; 27,21–28,2. S. o. Anm. 31.
8. Eine Rückschau auf die hermeneutischen Prinzipien
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tion des Textes eruieren zu wollen, verkennt für Augustinus offenbar, dass dies methodisch letztlich immer Vermutung bleiben muss. Denn ein solcher Autor gehört der Vergangenheit an und kann – jedenfalls im Falle der Bibel – auch zu Augustins Zeiten schon längst nicht mehr befragt werden, der Text selbst dagegen lässt sich im Lichte des Heiligen Geistes zu jeder Zeit reflektieren. Wenn also etwas Wahres in der Schrift gefunden werde, schließe dies methodisch eben gerade nicht aus, dass der (vermutete) Autor etwas anderes, nicht weniger Wahres gemeint haben könne.152 Auch hier rechnet Augustinus gewissermaßen mit allen ‚logischen Möglichkeiten‘, die sich gemäß seinen hermeneutischen Grundannahmen ergeben, und zeigt erneut einen methodisch abgesicherten Pluralismus.153 Ebenso rechnet Augustinus mit der Möglichkeit, dass Nicht-Christen ein Wissen über bestimmte Dinge erwerben können, und weist eine fundamentalistische und in der Sache falsche Kritik von christlicher Seite an einem solchen Wissen unter vermeintlicher Berufung auf die Heilige Schrift scharf zurück – denn dies diene dem christlichen Anliegen nicht, sondern sorge nur für Spott154 und errege die Vermutung, die biblischen Texte selbst verträten etwas derart Unsinniges. Der Effekt wäre aus christlicher Sicht, so Augustinus, kontraproduktiv: Wenn die Schrift (obgleich zu Unrecht) einmal mit etwas Unsinnigem in Verbindung gebracht worden sei, dann sei ihre Autorität insgesamt untergraben: Niemand werde dann noch an die Auferstehung der Toten, die Hoffnung des ewigen Lebens und das Himmelreich glauben.155 Damit kreist der Kirchenvater das Herz des christlichen Glaubens ein, welches für ihn offenbar ‚unverhandelbar‘ als in jedem Fall zentrale Aussage feststeht. Ein weiteres hermeneutisches Prinzip wendet Augustinus im Hinblick auf sog. „dunkle Stellen“ der Bibel an: Diese versteht er gerade nicht als mangelhaft oder gar als Grund dafür, die Schrift zu belächeln bzw. herabzusetzen, sondern sie hätten vielmehr die Funktion, den Exegeten „intensiv zu beschäftigen“ (exercitatio), also seinen Geist
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Gn. litt. I, 19; 28, 2–15. Vgl.: „Wie es also diese vielen und verschiedenen Dinge gibt, die die Menschen im Lichte der Sonne sehen und zu ihrer Freude auswählen, das Licht selbst jedoch eines (lux tamen ipsa una) ist, in dem man sieht und festhält, woran man sich bei einem jeden Anblick freut, so ist es – auch wenn diese Güter viele und verschiedene sind, aus denen ein jeder sich auswählen möge, was er will, und dieses beim Ansehen und Festhalten zum Genuss des für ihn höchsten Gutes rechtmäßig und wahrhaftig bestimmen möge – so ist es dennoch möglich, dass dasselbe Licht der Weisheit (lux ipsa sapientiae), in dem diese Dinge geschaut und erfasst werden können, allen Verständigen ein einziges gemeinsames ist. […] Halten wir einstweilen fest, dass Weisheit ist; aber ob sie allgemein und eine für alle ist oder ob die einzelnen Weisen ihre [sc. Weisheiten] haben wie auch ihre Seelen und Intellekte, dies erfassen wir noch nicht“ (Augustinus, lib. arb. II, 106–109). S. zur Stelle Drews (2009: 74–80). Vgl. Fladerer (2010: 69), Weed (2008: 149) und Catapano/Moro (2018: IX–X, 355–6) zur Abgrenzung der exegetischen Methode Augustins von jeglicher, nur behauptender fundamentalistischen Verengung. Gn. litt. I, 19; 28,16–29,11. Vgl. Alexanderson (2007: 368).
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zu trainieren und herauszufordern.156 Damit in gewisser Weise vergleichbar ist Platons Rede, dass die sinnliche Wahrnehmung mitunter „nichts Gesundes“ erbringt, wenn sie überfordert ist: In dem berühmten Fingerbeispiel aus der Politeia zeigt Platon, dass der Sehsinn zwar schon erkennt, dass der Ringfinger größer als der kleine Finger, aber kleiner als der Mittelfinger ist. Auf die Frage, was denn nun das Große an sich sei, vermag die Aisthesis hingegen „nichts Gesundes“ mehr zu vermelden: Die Sinneswahrnehmung bleibt an den wahrgenommen Einzelbefund gebunden und folglich hinsichtlich der Frage, ob der Ringfinger nun klein oder groß sei (denn er ist einmal das eine, das andere Mal das andere) in einer Aporie. Genau diese Aporie besteht aber nur dann, wenn man auf der Erkenntnisebene der Sinneswahrnehmungen verharrt: Denn gemäß Platon fordert ein solcher aporetischer Befund die Noesis (Intellekterkenntnis) bzw. Dianoia (diskursive Ratio) heraus, „weckt sie auf “ (egertika) und zwingt sie dazu, eine Klärung auf begrifflicher Ebene herbeizuführen:157 ‚Das Große‘ ist nie ein Einzelgegenstand (wie z. B. der Urmeter) – sonst könnte der Ringfinger nicht einmal klein und einmal groß sein. Vielmehr beinhaltet ‚das Große‘ bzw. das Eidos ‚Größe‘ begrifflich den Sachgehalt des Überragens in Relation zu etwas anderem. Dieses Eidos ist am Ringfinger also in Relation zum kleinen Finger realisiert, aber nicht in Relation zum Mittelfinger. Die begriffliche Eingrenzung von ‚Größe‘ im Sinne ‚des Überragenden‘ ist als Eidos, d. h. als begreifbarer Sachgehalt, widerspruchsfrei ermittelbar und erkennbar. Auf der Ebene des begreifbaren, eidetischen Seins sind zugleich alle Möglichkeiten, inwiefern etwas ‚überragend‘ sein kann, komplexiv vereint: Auch die geistige Größe, welche einer Sinneswahrnehmung ja überhaupt nicht zugänglich ist, beinhaltet denselben Seinsunterschied, dass jemand in seiner Erkenntnis bzw. seinem Wissen andere überragt. Augustinus zeigt an anderer Stelle, dass er diesem begrifflichen Verständnis von ‚Größe‘ im Sinne Platons durchaus folgt.158 Vor allem aber verwendet er den Befund, dass die Sinneswahrnehmungen allein eine solche Konfusion über das, was jeweils groß ist, nicht aufzulösen vermögen und daher in Unterscheidung zu ihnen das rational-intellektive Denken auf den Plan rufen, für seine Hermeneutik: Denn ganz analog sollen die zunächst „obskuren“ Schriftpassagen das Denken herausfordern. Letztlich veranschlagt Augustinus dabei gar nichts anderes als das, was er zu Beginn von De Genesi ad litteram bereits zugrunde gelegt hatte: Die sinnlich-wahrnehmbare, empirisch auswertbare, physikalisch-historische Realität kann nicht der einzige Bezugspunkt oder gar das alleinige Kriterium dafür darstellen, was als ‚Wirklichkeit‘ gelten darf.
156
157 158
Gn. litt. I, 20; 29, 23. Wie bereits von De doctrina Christiana her bekannt ist, müssen die ‚dunkleren‘ Passagen durch die eindeutigen, ‚klaren‘ erhellt werden: Augustinus betrachtet „the obscurities and difficulties in scripture as part of the divine plan and as such they serve to spur the reader on to greater understanding“ (Greene-McCreight 1999: 36–37). Platon, resp. 523a10–524d5. Augustinus, trin. V, 10, 11; 217,1–11, 12; 218,4. Zur Stelle s. Drews (2018: 259–264).
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Entsprechend war Augustinus eingangs davon ausgegangen, dass die geistig-intellektive Interpretation der Schrift sowieso Aufgabe der Exegese sei, während es aber nicht klar sei, ob „alles ausschließlich gemäß dem intellektiven Begreifen figürlicher Rede“ aufzufassen oder auch „gemäß dem Glauben an historische Tatsachenberichte“ zu verteidigen sei.159 Prägnant interpretiert160 heißt das: Die Dimension des Geistig-Intelligiblen ist bei der Bibelexegese immer zu berücksichtigen, bisweilen – aber nicht immer – auch die Dimension der historisch-materiellen, ereignishaften Realität. Gibt es aber Schriftpassagen, die auf der Ebene der dem Menschen leichter fallenden, weil ‚einleuchtenderen‘ Dimension des Historischen respektive Sinnlich-Wahrnehmbaren keinen Sinn erkennen lassen und insofern „obskur“ erscheinen, dann, so Augustinus, sei gerade eine größere exercitatio des Exegeten gefordert – und zwar intendierterweise, weil die Heilige Schrift genau dies beabsichtige, indem sie solche Passagen enthalte. Dieses also erkenntnistheoretisch begründete hermeneutische Prinzip ermöglicht es dem Kirchenvater erneut, den Pluralismus der Deutungsvielfalt der Schrift zu verteidigen: Gerade wenn es unklare Passagen gibt, steht es einem einzelnen Interpreten nicht an, seine eigene Auslegung über andere zu stellen. Freilich bedeutet dies für Augustinus andererseits nicht, unkritisch alle x-beliebigen Deutungen pauschal zu akzeptieren: Sie müssen begründet, am Text und inhaltlich-systematisch sinnvoll entwickelt und mit der Wahrheit der Schrift insgesamt vereinbar sein. So hält Augustins Hermeneutik eine methodisch abgesicherte Mitte zwischen unkritischer Beliebigkeit und fundamentalistischer Verengung. „Jeder“, d. h. der Leser, „möge auswählen, was er zu fassen vermag“ (eligat quisque quod capere possit). Dies ist im Grunde nichts anderes als das Wort Jesu: „Wer Ohren hat, der höre“ (Mt 11, 15): Der Rezipient vermag nur das zu hören und zu verstehen, was er auch erfassen kann. Fehlt das spezifische „Ohr“, kann das Entscheidende auch nicht gehört werden. Analog: „Wer es fassen kann, der fasse es“ (Mt 19, 12). Augustinus übersieht dabei gleichwohl nicht diejenigen, die eben etwas nicht fassen können (zumal er selbst auch die Erfahrung kennt, dass theologische Schwierigkeiten bisweilen durch deren wiederholtes Traktieren gerade nicht abnehmen161): Wer nicht verstehe, „gebe Gott die Ehre“ – dies kann theologisch betrachtet nie falsch sein – und übe sich in „(Ehr-)Furcht“. Menschen, die sich mit „weltlicher Gelehrsamkeit“ (litterae saeculariae) über die Schrift erhöben, verkennten, dass die Bibel „fromme Herzen“ nähre, und glichen selbst Kriechtieren, welche die Nester der Vögel verlachen wollten. Schlimmer noch stehe es indes um diejenigen Gläubigen, welche angesichts solch ‚höhnender Gelehrsamkeit‘ sogleich verstummten und sich beeindrucken ließen und aus den „Büchern der heilbringendsten Frömmigkeit“ keine Kraft mehr schöpften, „am Sabbat“ 159 Gn. litt. I, 1; 3, 10–13. 160 S. o. Kap. 2. 161 Reditur enim ad illas difficultates non solum sua obscuritate sed etiam nostra tam multa repetitione molestiores (Simpl. I, 2, 10).
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keinen geistigen Hunger mehr verspürten, obgleich „der Herr“ aufgetragen habe, „die Ähren so lange zu rupfen, in den Händen zu drehen und die geriebenen zu reinigen, bis sie zur Speise“ geworden seien.162 Damit zeigt Augustinus eine geistige Deutung der neutestamentlichen Passage, in welcher Jesus mit seinen Jüngern am Sabbat Ähren sammelt und isst und dafür von den Pharisäern getadelt wird (Mt 12, 1–8): Auch hier geht es für ihn nicht nur vordergründig um einen historischen Sinn (‚Was tat Jesus am Sabbat?‘), sondern um ein lebendiges, geistiges Verständnis dieser Verse, die so im Hinblick auf die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen zu einer geistigen Nahrung werden und als Beispiel dafür dienen können, was man am Sabbat sinnvollerweise tue. Ganz am Ende des ersten Buchs von De Genesi ad litteram reagiert der Kirchenvater auf den Einwurf eines fingierten Interlocutors, was denn diese große Mühe des Dreschens erbracht habe und ob nicht im Grunde „alles in seinen Fragen verborgen“ bleibe und stattdessen lieber etwas hätte „behauptet/bekräftigt“ werden sollen.163 Damit rekurriert Augustinus auf seine hermeneutische Praxis,164 den Bibeltext ausgehend von vielen möglichen Fragen einzukreisen und so die von den Anfragen auf den Text geworfenen Perspektiven durchzugehen, ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen und zu schauen, was aus den Anfragen jeweils an Folgerungen erwächst und ob diese mit dem Textbefund vereinbar erscheinen. Auf die fingierte Frage antwortet Augustinus, dass wissenschaftliche Wahrheit und die Wahrheit des Glaubens miteinander in Einklang gebracht werden müssten: Wissenschaftliche Wahrheit kann nicht im Widerspruch zu der des Glaubens stehen, da – dies erscheint impliziert – Wahres immer miteinander kompatibel ist, insofern man auf den sachlichen Aspekt achtet. Umgekehrt beruhe freilich nicht jede Behauptung auch auf Stichhaltigkeit und müsse, wenn sie falsch sei, auch aus der Wahrheit des christlichen Glaubens heraus zurückgewiesen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, sei der Blick auf den „Mittler, ‚in welchem alle Schätze der Weisheit und des Wissens verborgen sind‘“ (Kol 2, 3), notwendig, auf dass man weder von der Geschwätzigkeit falscher Philosophie verführt noch vom Aberglauben falscher Religiosität erschreckt“ werde.165 Christus ist hier also nicht nur allgemein-grundsätzlich der Mittler zwischen Gott und Mensch,166 sondern offenbar auch der Vermittler zwischen Glaube und Vernunft bzw. die ‚rechte Mitte‘ zwischen einem in den Aberglauben abgleitenden Glauben und einer ungläubigen Wissenschaft. Der Blick auf den mediator ersetzt nicht die Mühe des Nachdenkens, wie allein das erste Buch von De Genesi ad litteram bereits hinreichend dokumentiert; vielmehr eröffnet
162 Gn. litt. I, 20; 30, 2–20. 163 Gn. litt. I, 21; 30, 21–24. 164 S. o. Kap. 3. Vgl. Teske (2009: 139) zum Ineinandergreifen von hermeneutischer Theorie und Praxis bei Augustinus. 165 Gn. litt. I, 21; 31, 4–12. Vgl. Alexanderson (2007: 364). 166 Zu Christus als Mittler kraft seiner Inkarnation bei Augustinus vgl. Drews (2018: 254–5).
8. Eine Rückschau auf die hermeneutischen Prinzipien
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dieser Blick eine sachlich angemessene Perspektive, die extreme ‚Irrwege‘ vermeidet und die Exegese auf eine ertragversprechende Fährte leitet. Augustinus kann in der ihm zur Verfügung stehenden Begrifflichkeit von „der so großen Vielheit der wahren Intellekte“ (in tanta multitudine verorum intellectuum) sprechen, in der die Heilige Schrift gelesen werde: Damit sind keine beliebigen Deutungsvarianten gemeint, die gleichsam nach gusto ausgewählt würden. ‚Intellekthaftes Begreifen‘ bedeutet gemäß Augustins platonischer Erkenntnistheorie ein sachlich angemessenes Verständnis des geistigen Gehalts, ein Erfassen seiner intelligiblen Wahrheit. Auch von hier aus wird somit noch einmal deutlich: Für Augustinus geht es nicht einfach um das Dilemma eines ‚alten Textes‘, der in seiner (vermeintlichen) historischen Verortbarkeit belassen werden muss, die jedoch ihrerseits uns zwangsläufig nicht mehr zugänglich sein kann. Schriftinterpretation ist, methodisch betrachtet, für Augustinus keine von sich selbst her geschichtswissenschaftliche Aufgabe. Die Rekonstruktion der Vergangenheit und die Ermittlung der Autorintention wären zwar, wie er ausführt, wünschenswert; es führt aber kein Weg daran vorbei, dass die Vergangenheit selbst eben vergangen und der Autor nicht mehr zu befragen ist. Der Vorteil einer auf platonischen Koordinaten fußenden Exegese besteht nicht zuletzt darin, dass die platonische Philosophie einen geistig-intelligiblen Wirklichkeitsbereich kennt, der zwar in Bezug zur empirisch-historisch-sinnlich-wahrnehmbaren Realität steht, aber doch nicht in ihr aufgeht, sondern sie transzendiert.167 Wenn Gott selbst Geist ist und seine Unsichtbarkeit „geistig-intellekthaft geschaut“ werden kann, wie der Apostel Paulus schreibt,168 dann bleibt als Bezugsrahmen für die Heilige Schrift eben nicht nur die immer schon den Händen entronnene Vergangenheit übrig, sondern es ist in besonderer Weise mit Gottes ewigem Sein zu rechnen und dieses als Referenzpunkt für das in der Schrift Formulierte anzusetzen: Gottes Ewigkeit, seine geistige Wirklichkeit schließt die Schrift gleichsam auf, ermöglicht eine „große Vielheit wahrer Intellekte“ und verengt sie nicht auf eine (vermeintlich) eindeutige, vergangene Ereignishaftigkeit. Das bedeutet freilich nicht, dass die Schrift keine menschlichen Autoren und diese keine Intentionen gehabt hätten. Bleibt aber die Einzelintention des (aus der Perspektive des Lesers) ‚in der Vergangenheit abwesenden‘ Autors unklar, dann stünden der Zusammenhang der Schrift und die sanitas fidei, „der gesunde Glaube“, als Koordinaten der Exegese zur Verfügung.169 Dieses Vorgehen erscheint mit einem modernen Verständnis von Subjektivität, Kritik, Exegese und Wahrheitsfindung schwer vereinbar. Inwiefern ist dies aber tatsächlich so bzw. sollte dieser Erstbefund nicht ebenfalls kritisch hinterfragt werden? Zunächst ist im Kontext des gerade Erörterten daran zu erinnern, dass eine rein innerhalb einer historischen Zeitspanne eingeengte Subjektivität nicht dem augustinischen 167 S. o. Kap. 2. 168 Rö 1, 20 zur Stelle s. Drews (2018: 200 f.). 169 Gn. litt. I, 21; 31, 13–24.
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Verständnis menschlichen Seins entsprechen dürfte – und dies nicht aufgrund von ‚Unaufgeklärtheit‘, sondern aus sachlichen Gründen: Ist der Mensch nach dem Bilde Gottes (Gen 1, 27) erschaffen, dann lebt er von Gott her und auf ihn hin. Dabei spielt die gerade angesprochene ewige Gegenwart des Schöpfers – die eben aus menschlicher Perspektive zu jeder Zeit präsent ist – eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wenn menschliches Sein vom Sein Gottes herrührt und von ihm gleichsam ‚umfangen‘ ist, dann gründet analog menschliche Subjektivität in Gott selbst, ist auf ihn bezogen. Die sanitas fidei aber rekurriert nicht zuletzt auf Gottes ewige Gegenwart – und zwar deshalb, weil christlicher Glaube, wie Reiser gezeigt hat, jedenfalls in seinem Ursprung lebendiges Glauben und Durchdenken der Glaubensinhalte ist und sich im Leben der Kirche, v. a. im gottesdienstlichen Vollzug ereignet. In ihrer allmählichen schriftlichen Fixierung verdanken sich die biblischen Texte selbst der Lebendigkeit dieses ursprünglichen Glaubens,170 der mit der ewigen Gegenwart Gottes lebt und rechnet. Die Bibel geht also weder sachlich noch historisch dem Glauben voraus, ist nicht früher als Kirche (respektive Synagoge), sondern mit ihr und durch sie. Nur vor diesem Hintergrund ist die Rede von einer sanitas fidei sowie regula fidei überhaupt logisch und denkbar, welche den Grundkonsens und die Quintessenz des Glaubens zusammenfasst und Richtschnur für schwierige (Einzel-)Fragen darstellt.171 Eine solche sanitas fidei bzw. regula fidei bedingt also keinen hermeneutischen Zirkel, sondern eröffnet gerade eine Vielzahl konkreter Deutungsperspektiven. Ohne Gottes ewige Wirklichkeit bliebe dem Exegeten nur die Spekulation über historisch Vergangenes, und dabei wäre – aus moderner, historisch-kritischer Perspektive – keinesfalls klar, ob überhaupt noch spezifisch Theologisches, Gott selbst Betreffendes in den Blick käme: Wenn selbstverständlich erscheint, dass die empirisch-materielle Realität ein in sich geschlossenes System ist, in welchem für Gott kein Platz ist, dann än-
170 Reiser (2007: 1), s. o. Kap. 1. Die sanitas bzw. regula fidei steht (zumindest ursprünglich) nicht separiert neben den biblisch-christlichen Texten, sondern geht und entsteht mit ihnen zusammen. Dabei umgreift sie die inhaltlichen Fundamente des christlichen Glaubens, auf welche die Exegese im Sinne eines begründeten theologischen Wissens zurückkommen kann, um weiter fortzuschreiten (s. o. Anm. 14). Vgl. im Unterschied zu dieser Auffassung Greene-McCreight (1999: 49–52), welche die regula fidei als „ruled reading“ begreift, also als Einschränkung der Exegese und nicht als ein die Vielfalt adäquater Interpretationen eröffnendes und einendes Zentrum. Pollmann (2007: 212, Anm. 43) verwendet (sicher cum grano salis) folgendes Bild: „One could rather see dogmatics as the marital contract, and exegesis as the life-long attempt to abide by it and make it alive and meaningful for oneself and one’s environment.“ 171 Vgl. Reiser (2007: 253, 33) sowie Fladerer (2010: 177). Hebb (2007: 378–9, 365–6) arbeitet „the Incarnate Word as the key to the Rule of Faith“, wie Augustinus die regula fidei verstehe, heraus und sieht darin zugleich eine freie, sich von der vorausgegangenen Tradition emanzipierende Applikation der regula: „The distinctive element of the Rule of Faith, in this Augustinian re-application, is the thing (res) of the divine Word“ (ibd., 369). Obwohl dies einleuchtend und im weiteren Kontext für Augustinus absolut zutreffend erscheint (vgl. Drews 2018: 254), unterstreicht Gn. litt. doch vorwiegend die Relevanz des Logos als solchen für die Exegese, nicht immer liegt also der Akzent auf der Menschwerdung (vgl. Hebb selbst 2007: 374–5).
8. Eine Rückschau auf die hermeneutischen Prinzipien
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dert sich der Bezugsrahmen für theologische Texte noch weitaus massiver. Denn dann bestünde nicht nur die allgemeine historische Schwierigkeit, über Vergangen-Entzogenes zu spekulieren, sondern unabhängig von aller Geschichtswissenschaft wären kraft einer methodischen Setzung die spezifisch theologischen Fragen für obsolet erklärt.172 Die regula fidei hält dagegen gewissermaßen das Zentrum des christlichen Glaubens in Erinnerung, obgleich sie als ‚Regel‘ nicht das Durchdenken gerade auch der ‚geregelten‘ Inhalte ersetzen kann oder will. Von Augustinus her besehen besteht diese hermeneutische Gefahr auch gar nicht: De Genesi ad litteram gibt Zeugnis davon, wie tief der Kirchenvater in den Text und bisweilen sehr entlegene Interpretationsansätze eindringt, bevor erst nach langen diskursiv-rationalen Durchgängen eine große multitudo verorum intellectuum aufzuscheinen vermag. Gemäß dieser Hermeneutik sind Gottes ewige Präsenz, kirchlicher Glaube, Schrift und Exegese methodisch nicht voneinander zu trennen; sie befruchten sich gegenseitig und eröffnen die Freiheit des Geistes – auch in der exegetischen Praxis, beim ‚Sammeln und Dreschen der Ähren am Sabbat‘ für das geistige Brot: Denn „der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes geht“ (Mt 4, 4); das Wort aber ist das geistige Brot.
172
S. o. Kap. 2.
9. Natur und Wunder – Wasser über dem Himmel? Naturwissenschaft, philosophische Theologie und Narration
Buch II von De Genesi ad litteram beginnt mit der Betrachtung der Verse Gen 1, 6–8. Dabei stellt sich Augustinus die Frage, ob mit dem Firmament „jener Himmel jenseits aller Lufträume“ gemeint sei oder allein die Luft als Himmel bezeichnet werde. Außerdem sei es nach Meinung vieler unmöglich, dass über dem Sternenhimmel Wasser existiere: Wasser befinde sich vielmehr entweder auf ländlichem Boden oder als Dunst in der Luft. Augustinus weist ausdrücklich das ‚Totschlagargument‘ zurück, dass der Allmacht Gottes schließlich alles möglich sei. Denn es müsse – vom Skopos des Schöpfungsberichts her – nach der natürlichen Einrichtung der Schöpfung gefragt werden und nicht nach den Wundern, die Gott aus oder in der Schöpfung wirke. So könne zwar Gott kraft seiner Allmacht tatsächlich bewirken, dass etwa Öl unterhalb der Wasseroberfläche bleibe; von Natur aus sei es jedoch so, dass Öl immer nach oben steige und auf dem Wasser schwimme.173 Dieses kurze Beispiel ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens zeigt sich erneut, dass Augustinus systematisch-theologische Fragen (Thema: Wunder) aus guten Gründen nicht aus seiner exegetischen Praxis heraushält. Vielmehr ist immer wieder der grundsätzliche Wirklichkeitshorizont, mit dem ein Exeget rechnet, bestimmend dafür, wie er den Bibeltext auslegt. Zweitens wird deutlich, dass der Kirchenvater offenbar keine einfältig-fideistische ‚Lösung‘ bei heiklen Fragen favorisiert: Der unreflektierte Hinweis auf die Allmacht ist für ihn hier offenbar ‚zu platt‘. Das heißt umgekehrt freilich nicht, dass Augustinus nicht aus guten philosophisch-theologischen Gründen mit der Allmacht Gottes rechnet: Der Schöpfer der Welt besitzt selbstverständlich Allmacht, die Welt so hervorzubringen, wie es seinem guten Willen und ewigen Schöpfungslogos entspricht. Von enormer Relevanz ist aber der Hinweis, wie Augustinus Allmacht und natürliche Schöpfungsordnung zusammendenkt: Die Schöpfung ist
173
Gn. litt. II, 1; 32,14–33,9. Zur Stelle und zu Augustins Abgrenzung gegen Ambrosius und Porphyrius s. Pollmann (2008: 105–6) und Alexanderson (2007: 365–6).
9. Natur und Wunder – Wasser über dem Himmel?
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Hervorbringung der Naturen, also ihres wesentlichen Gut-Seins als diese oder jene Natur. Diese Schöpfungsordnung geht bereits auf Gottes Allmacht zurück, sie beinhaltet zugleich eine Ordnung zwischen den und innerhalb der Naturen. So steigt Öl im Wasser immer nach oben, weil es z. B. seinem natürlichen Ort entspricht, auf dem Wasser zu schwimmen. Im Sinne der Schöpfungsordnung, um die es dem biblischen Schöpfungsbericht geht, ist genau nach solchen natürlichen Bestimmungen, nach der Ordnung der Naturen zu fragen. Freilich neigt Augustinus nicht zu einem naturwissenschaftlichen Determinismus, gemäß welchem ‚Naturgesetze‘ von selbst da und absolut unhintergehbar sind. Eine solche rein materialistische Weltsicht – es gibt nur die physikalisch-historische Welt als geschlossenes System mit den ihr immanenten Gesetzen – teilt der Kirchenvater schon deshalb nicht, weil solche Gesetze zumindest irgendeine Ursache, einen Gesetzgeber haben müssten. Insofern sich gemäß allgemein platonisch-christlichem Weltbild die materielle Welt einem sie strukturierend-hervorbringenden Denken verdankt, sind ‚Naturgesetze‘ weniger unabänderbare Vorgaben als vielmehr Ausdruck einer die Schöpfung begründenden kreativen Ordnung. Das impliziert aber zugleich, dass diese Schöpfungsordnung nicht ‚gesetzlich-deterministisch‘, sondern dynamisch zu verstehen ist und dass Gott qua Schöpfer dieser Ordnung logischerweise nicht selbst an diese Ordnung gebunden ist, sondern die Ordnung an ihn, so dass es vernünftig erscheint, anzunehmen, dass er diese Ordnung ändern bzw. außer Kraft setzen könnte. Für den Wunderbegriff jedenfalls ist entscheidend, dass er die Schöpfungsordnung zuallererst voraussetzt: Es gibt keine Wunder, insofern sie nicht die ‚normale Ordnung der Dinge‘ außer Kraft setzen; gäbe es aber diese Ordnung nicht, dann auch keine Wunder; vielmehr ist die Schöpfungsordnung die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Wunder überhaupt denkbar erscheinen. (Freilich kann auch diese Schöpfungsordnung selbst aus einer bestimmten Perspektive als ein Wunder betrachtet werden, zu welchem dann aber die innerkosmische Schöpfungsordnung dazugehört, so dass die vorausgegangenen Überlegungen nichtsdestotrotz gültig bleiben.) Danach kehrt Augustinus zu der Frage zurück, inwiefern Wasser über dem Himmel (vgl. Ps 148, 4b) lokalisiert sein könne, und geht eine Reihe naturwissenschaftlicher und theologischer Erwägungen durch (z. B. dass das Element Luft immer den im Vergleich zum Wasser, das Feuer aber immer den im Vergleich zur Luft „höheren Ort erstrebt“), um schließlich die Deutung eines ungenannten Exegeten zu loben, dass der Lufthimmel als Firmament verstanden werden und mit der Scheidung der Wasser die Trennung zwischen den an der Erde befindlichen Gewässern und den Wasserdämpfen in der Luft gemeint sein könne: Bildeten sich in größerer Höhe Wolken, dann lasse sich der Luftbereich zwischen Wolken und den Wassern auf der Erde als ‚Himmel zwischen Wassern‘ begreifen.174 Eine weitere Theorie in Bezug auf die Frage, ob Wasser
174
Gn. litt. II, 1–4; 33,14–37,25.
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über dem Himmel angenommen werden könne, wird von Augustinus referiert: Die angebliche Kälte des Saturn sei letztlich vielleicht nur dadurch zu erklären, dass eisiges Wasser jenseits des Himmels dieses Gestirn kühle. Zwar forciert der Kirchenvater diese naturphilosophische Spekulation nicht, scheint sich aber an dieser Stelle doch zu einer fideistischen Reduktion hinreißen zu lassen: Wie auch immer man die Wasser jenseits des Himmels auffassen möge – sie ließen sich nicht bezweifeln, da die Autorität der Heiligen Schrift in jedem Falle größer als das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes sei.175 Auf die Frage, wie denn ein Firmament „inmitten der Wasser“ habe geschaffen werden können, findet Augustinus im Schöpfungsbericht eine überraschende Antwort, die er philologisch und theologisch begründet. Die Schöpfungsworte: „Es werde …“ seien jeweils als Hinweis zu verstehen, dass das Zu-Werdende zuerst „im ewigen Worte Gottes war, auf dass es werde.“176 Der Schöpfungsbericht formuliere also keine Tautologie nach dem Motto: „Es werde … Und es wurde …“, sondern sei theologisch prägnant zu lesen: Da alles Leben aus Gottes Logos komme,177 der alle Vernunftgründe der Schöpfung einshaft umfasse,178 seien diese Schöpfungsworte gewissermaßen als ‚ontologische Initialzündung‘ der Schöpfung zu begreifen und zugleich die Abhängigkeit der Schöpfung vom Logos zum Ausdruck gemacht. Wird der Primat des Logos platonisch im Sinne des Primats des eidetisch-intelligiblen Seins gegenüber der materiellen Welt verstanden,179 dann erscheint er nicht nur philosophisch abgesichert, sondern beantwortet tatsächlich in grundsätzlicher Weise die Frage nach dem Wie der Schöpfung: Ist Gottes Schöpfungslogos einmal als Ursache der Welt erkannt, dann erzählt der Schöpfungsbericht nicht bloß eine sonderbar anmutende Geschichte bzw. fingiert nicht nur ‚ein theologisches Narrativ‘, sondern weist ganz grundsätzlich auf die Prinzipiierung der Welt durch Gottes intelligiblen Logos hin – die Frage, wie das Schöpfungsgeschehen habe vonstatten gehen können, wird dann zweitrangig gegenüber der philosophisch begründeten Erkenntnis, dass hier tatsächlich (und nicht nur im Sinne einer lediglich literarischen Ausschmückung) mit einer schöpferischen Vernunft zu rechnen ist, die nach ihren Prinzipien verfährt. Für Augustinus jedenfalls ist die philosophisch begründete Annahme, dass Gott ist und dass seine Vernunft größer ist als die menschliche, offenbar Grund genug, um in genau dieser Erkenntnis ein literales Verständnis des Schöpfungsberichts zu verankern und ihr die Frage nach dem Wie berechtigterweise unterzuordnen. Entsprechend besitzt die philosophische Theologie und der ihr korrespondierende geistig-intelligible Wirklichkeitsbereich den Primat gegenüber naturwissenschaftlichen Detailfragen.
175 176 177 178 179
Gn. litt. II, 5; 38,18–39,18. Vgl. Harrison (2017: 212). Gn. litt. II, 6; 41,26–42,4. S. o. Kap. 3 und 4. Vgl. Augustinus, div. qu. 46 und zur Stelle Drews (2018: 272 ff.). S. o. Kap. 2.
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Dabei ist in Abgrenzung zu einer modern-theologischen Denkweise hinzuzufügen, dass mit der Erkenntnis, dass Gott ist, Gott dabei nicht auf eine bloß abstrakte, nicht näher begründbare „Daseinsgewissheit“ reduziert wird:180 Denn die Erkenntnis eidetisch-intelligiblen Seins als Quell und Bedingung der Möglichkeit für materiell verwirklichte Realität181 ist und bleibt eine konkrete, argumentativ begründete und begreifbare Einsicht – ebenso der Rückschluss auf Gottes Logos als komplexive, alle substantiellen Seinsbestimmungen in sich umgreifende und einende Erstursache des Seins schlechthin. Während aus moderner Perspektive der maßgeblich vom naturwissenschaftlichen und historisch-kritischen Denken herrührende Vorbehalt, man könne über Gott entweder gar nichts oder doch nichts wissenschaftlich Präzises sagen, dazu führt, dass eine thetische „Daseinsgewissheit“ postuliert wird (woher hat man eigentlich diese ‚Gewissheit‘ und worauf fußt sie?), liefert für die christlich-platonische Tradition gerade der Aufweis des intelligiblen Seins einen gesicherten, argumentativ begründbaren philosophischen Rahmen, in welchem Theologie als sie selbst, d. h. als höchste Wissenschaft überhaupt, in rationaler Weise möglich ist. Wie entscheidend die platonische Differenzierung zwischen eidetischem Sein, das in seiner intelligiblen Begreifbarkeit selbst (jenseits der Ebene von Imagination und sinnlicher Wahrnehmbarkeit) subsistiert und ist, und materieller, sinnlich-wahrnehmbarer Realität für Augustinus generell und speziell für seine Exegese ist, zeigt der Fortgang seiner Argumentation. Dabei verhilft diese zunächst dual erscheinende Unterscheidung Augustinus effektiv zu einer Dreier-Differenzierung: Analog dazu, dass für den Platonismus allgemein kein Dualismus zwischen Leib und Seele besteht, sondern die Seele vielmehr aus dem Geist kommend Leib erzeugt und belebt, also eine Dreier-Unterscheidung anzusetzen ist,182 ergibt sich in Augustins Prinzipienontologie mutatis mutandis ebenso wenig ein Dualismus. Denn der Kirchenvater differenziert zwischen erstens der Begründung der Geschöpfe in dem Gott (Vater) gleichewigen, gezeugt-ungeschaffenen Logos (dort sind sie gemäß dem göttlichen Vernunftgrund [ratio] als in ihrer Gutheit begründete Geschöpfe immer schon vorgedacht und prinzipiiert), zweitens der Erschaffung der Geschöpfe in ihrer wesentlichen, geschaffenen intelligiblen Natur, drittens der materiellen Ausprägung dieser intelligiblen Natur. 180 So z. B. Huber (2008: 197–8), der den (christlichen) Glauben dadurch in Schutz nehmen möchte, dass es sich dabei um eine „allem Wissen“ vorausliegende „Daseinsgewissheit“ handele. Da diese „Daseinsgewissheit“ unabhängig von „allem Wissen“ ihren Grund haben soll, bleibt sie folglich unbegründbar, also auch nicht rational einholbar. Es läuft dann auf eine subjektive Entscheidung, eine letztlich beliebige Setzung hinaus, entweder (woran auch immer) zu glauben oder nicht zu glauben. In ähnlicher Weise vgl. Reinmuth (2002: 101): „Wo es um den Sinn geht, ob nun meines Lebens oder meiner Welt […] – solcher Sinn kann letztlich nicht begründet werden, und er kann deshalb argumentativ nicht zur Disposition gestellt werden. Hier verlieren sich rationale Begründungsmechanismen […]“; ebenso ders. (2004: 160, 246). – Zur Auseinandersetzung mit Huber vgl. Drews (2018: 14–15). 181 S. o. Kap. 2. 182 Vgl. Drews (2018: 194–5).
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Diese Dreier-Differenzierung ist aber erst möglich und gewinnt ihren rationalen Anspruch nur aufgrund der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen intelligiblem Sein und materieller Realität. Am Beispiel des Himmels erklärt Augustinus, dass dieser zuerst in Gottes Logos (als transzendenter, in Gott selbst vorausliegender Ursache) begründet, dann in der geistigen Kreatur (Engel) und schließlich als der sinnlich-wahrnehmbare Himmel geschaffen sei.183
183
Gn. litt. II, 8; 43,19–44,4.
10. Die Erkenntnis der Engel und die Stufen der Schöpfung Logos – Engel – Natur
Gemäß ihrem Sein als Licht-Wesen bzw. Geschöpfe des Lichts vollziehe sich die Erkenntnis der Engel auf besondere Weise: Die Engel erkennten die Welt nicht vermittels sinnlicher Wahrnehmung (wie z. B. die Tiere), sondern im göttlichen Vernunft-Wort (Logos) selbst, von welchem sie erleuchtet würden.184 Wesentlich ist bei dieser Aussage, dass sie auf einer differenzierten, philosophisch fundierten Erkenntnistheorie aufruht und nicht ‚mystisch-nebulös‘ ist: Der platonische Aufweis des intelligiblen Seins, welches nicht abstrakt-leblos ist, sondern gerade mehr Sein, höhere Komplexität und Einshaftigkeit bedeutet (so wie z. B. das Eidos ‚Dreieck‘ mehr Dreieck-Sein umfasst als jede partikuläre Dreiecksinstanz), führt zu der begründeten Annahme, dass eine geistig-intelligible Wirklichkeit ist, die in Bezug zur materiellen Realität steht und zugleich über diese hinausweist. Sind die Engel also wie die intelligiblen Ideen rein geistig-begreifbare, aber auch selbst aktiv denkende, weil Erkenntnis stiftende Wesen,185 so kommt ihnen eine höhere Erkenntnisform zu als die sinnliche Wahrnehmung, welche immer an die Partikularität der materiellen Realität gebunden bleibt (so kann die Wahrnehmung z. B. immer nur ein einzelnes Dreieck als rechtwinkliges oder gleichseitiges erfassen, nicht aber den spezifischen, intelligiblen Sachunterschied des Dreiecksseins, in welchem alle diese Einzelmöglichkeiten, Dreieck zu sein, komplexiv geeint sind und zusammengeschaut werden können). Diese hier nur kurz angedeuteten Aspekte stehen der Sache nach im Hintergrund, wenn Augustinus in rational verantworteter Weise von Engeln spricht und seine Ausführungen über die Engel mit einer philosophisch konkreten und differenzierten Erkenntnistheorie verbindet. Auch hier gilt wieder:186 Wird die Differenzierung zwischen Sinnlichkeit und Intelligibilität nicht getroffen bzw. außer Acht gelassen, bleibt nur ein ‚mystisch-nebulöser‘ Eindruck zurück, häufig verbunden mit dem im- oder expliziten 184 Gn. litt. II, 8; 44, 5–10. 185 Vgl. Platon, soph. 248e6–249a2. 186 S. o. Kap. 9.
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Werturteil, ‚wie unaufgeklärt die Antike doch war!‘ Der Kirchenvater hat zumindest gute Gründe, weshalb er sich gegen ein solches Urteil verwahren würde – wobei er nicht mit der geistigen Situation seiner modernen Rezipienten rechnet. Für ihn ist gewissermaßen evident, dass das Kriterium der Wahrheit letztlich nie auf der Ebene der Sinneswahrnehmung, sondern nur auf der Ebene des begreifenden Denkens gesucht werden kann.187 Im Kontext seiner Bibelexegese veranschlagt Augustinus für die Engel nicht nur eine im weitesten Sinne intelligible Seinsform, sondern auch eine entsprechende Erkenntnisweise: Wenn das Intelligible wirklich über der materiellen Realität steht, dann kommt ihm eine nicht materiehaft, nicht durch die körperliche Sinneswahrnehmung vermittelte Erkenntnisform zu. Deshalb sagt der Kirchenvater, dass die Engel die materielle Welt zwar durchaus erkennen, aber eben nicht auf einer Ebene, die an das partikulär-eingeschränkte Sein der sinnlichen Wahrnehmbarkeit gebunden wäre, sondern auf der Ebene der reinen Lichtwesen im geistigen Sinne: Die Engel würden durch Gottes Logos selbst erleuchtet und in dem Logos die Welt erkennen. Anders als die Menschen würden sie daher auch nicht erst „Gottes Unsichtbarkeit durch das Geschaffene intellektiv einsehen“, wie es im Römerbrief 1, 20 heißt.188 Vielmehr vollziehe sich für sie eine direktere und höhere Erkenntnis aller Dinge in der Erleuchtung durch den Logos selbst, in welchem die Vernunftgründe und das Wesen aller Geschöpfe auf primärere Weise umfasst seien als in den vereinzelten, materiellen Naturen.189 Alle diese Aspekte kann Augustinus also sowohl mit der Aussage des Schöpfungsberichts, dass das Licht das erste Geschöpf sei, wie auch mit der neutestamentlichen Theologie eines Paulus sinnvoll verbinden: Für die Menschen ist Gottes Unsichtbarkeit durch die (sinnlich-wahrnehmbare) Schöpfung hindurch intellektiv einsehbar, die Engel – als reine Licht- und Geistwesen – stehen von vornherein auf der Ebene der intellektiven Einsicht, indem sie von Gottes Logos erleuchtet werden. Mit Hilfe der platonischen Ontologie und Erkenntnistheorie lassen sich diese Theologoumena philosophisch-argumentativ begründen. Eng mit der Angelologie verbunden ist die Entfaltung der einzelnen Schöpfungsstufen, die Augustinus in seiner Exegese entwickelt. Nachdem „Licht geworden ist“ – nämlich durch Gottes ewiges Licht in der Formung der erschaffenen rationalen Lichterkenntnis der Engel (quapropter iam luce facta, in qua intellegimus ab aeterna luce formatam rationalem creaturam) –, rekurriere „die Intention der Schrift“ (nicht des Autors!) bei den folgenden Schöpfungsakten mit dem Wort „Und Gott sprach: ‚Es werde …!‘“ nämlich „auf die Ewigkeit von Gottes Logos“ (cum in ceteris creandis audimus: ‚et dixit deus: fiat‘, intellegamus ad aeternitatem verbi dei recurrentem scripturae intentionem). Dagegen sei „Und es wurde/geschah so“ als das Erkanntwerden „des in 187 188 189
S. Augustinus, civ. VIII, 7. Zur Stelle vgl. Drews (2018: 267–270). S. o. Kap. 2. Gn. litt. II, 8; 44,10–45,4.
10. Die Erkenntnis der Engel und die Stufen der Schöpfung
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Gottes Logos bestehenden Vernunftgrunds [sc. eines Geschöpfs] in der intellektualen Kreatur“ der Engel zu begreifen (cum vero audimus: ‚et sic est factum‘, intellegamus in creatura intellectuali factam cognitionem rationis, quae in verbo dei est, condendae creaturae).190 Noch einmal bestätigt sich also, dass Augustinus die Aussagen „Es werde … Und es wurde“ nicht als Tautologie begreift,191 sondern sie im Sinne einer vom Heiligen Geist inspirierten Schrift192 prägnant versteht in einem jeweils spezifischen Sinn. Diese durch die Worte „Und es wurde/geschah so“ bezeichnete Engelerkenntnis korrespondiert damit, dass die Erleuchtung der Engel erst in ihrer bekehrenden Rückwendung zu ihrem Schöpfer erfolgt („Es werde Licht! Und es wurde Licht“, Gen 1, 3), während die Engel zuvor bereits als geistige Kreatur geschaffen worden sind (Erschaffung des Himmels, Gen 1, 1): Die Unterscheidung der schöpfungsontologischen Aspekte ‚Erschaffung‘ und ‚Bekehrung/Hinkehr zu Gott‘ entspricht, wie gesehen, der neuplatonischen Prinzipiierung durch Hervorgang (Erschaffung) – Rückwendung (Erleuchtung).193 Es lässt sich also feststellen, dass nach Augustins Auffassung die erleuchtende Hinkehr der Engel zu Gott durch das „Es werde Licht! Und es ward Licht“ innerhalb des Schöpfungsberichts gleichsam narratologisch wiederholt („Und es wurde/geschah so“) bzw. der theologischen Sache nach im Schöpfungsbericht genauer entfaltet wird: Die einzelnen Schöpfungsschritte, welche mit „Und es wurde/geschah so“ (z. B. Gen 1, 6+11) abgeschlossen werden, offenbaren die Erkenntnis der zu Gott zurückgewendeten „himmlischen Kreatur“, der Engel, im Einzelnen mit Blick auf das jeweils zu Erschaffende. Während das „Es werde …“ den Hervorgang bewirkenden Schöpfungsakt aus dem ewigen Logos heraus bezeichne, schließe „Und es wurde/geschah so“ den Akt der Rückwendung/Bekehrung ab als Vollendung der Engelerkenntnis. Dabei sei das aus dem ewigen Logos in der Engelerkenntnis und -natur intellektiv Erschaffene „in dieser (Engel-)Natur auf bestimmte Weise vorher geschaffen“ (in ea natura prius quodam modo facta), insofern die Engel die jeweils zu erschaffende Kreatur zuvor schon durch Erleuchtung des Logos in diesem selbst erkannt habe (quae anteriore quodam motu in ipso dei verbo prior faciendam esse cognovit), bevor diese Kreatur jeweils selbst in ihrer eigenen Art (in suo genere) erschaffen werde, was durch die Worte „Und Gott machte“ (Et fecit deus, z. B. Gen 1, 7+16) signalisiert sei: Die Wiederholung, welche sich aus dem „Es werde …!“ und dem „Und Gott machte“ ergebe, soll also diese Differenzierung des Zu-Erschaffenden in der Engelerkenntnis und -natur einerseits und in der eigenen Natur des Zu-Erschaffenden andererseits implizieren.194 Erwähnt werden muss an dieser Stelle, dass Augustinus diese Interpretation mit der systematisch-theologisch durchaus einleuchtenden Unterscheidung der einzelnen
190 191 192 193 194
Gn. litt. II, 8; 45, 5–11. Vgl. zur Stelle Kim (2006: 136–7). S. o. Kap. 9. S. o. Kap. 4 mit Anm. 55. S. o. Kap. 4. Gn. litt. II, 8; 45, 11–15. Vgl. analog Gn. litt. II, 12; 50,24–51,8.
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Schöpfungsaspekte zwar gemäß der ihm vorliegenden Textversion des Schöpfungsberichts durchaus vornehmen kann, dass sie sich aber anhand des Vulgata-Textes (und entsprechend anhand des hebräischen Urtextes) so nicht ergibt: Dort nämlich lässt sich eine „Wiederholung“ zwar bei der Erschaffung der Lichter nachweisen: Zuerst wird das Zu-Erschaffende mit den Schöpfungsworten benannt („Und Gott sprach: Es werden Lichter …“, V. 14; „Und es wurde so“, V. 15), danach seine materielle Hervorbringung geschildert („Und Gott machte zwei Lichter …“, V. 16), wodurch sich narratologisch-vordergründig eine Wiederholung ganz in Augustins Sinne ergibt. In Vers 6–7 bei der Erschaffung des Firmaments stellt sich hingegen im hebräischen Ur- und im lateinischen Vulgata-Text keine derartige Wiederholung ein bzw. die Reihenfolge, in der die einzelnen Aspekte geschildert werden ist anders: Nach dem „Es werde …“ folgt zuerst „Und Gott machte …“ und zum Schluss „Und es geschah so“. Diese textlichen Abweichungen sprechen theologisch nicht per se gegen Augustinus und seine Interpretation: Bei verschiedenen Textvarianten geht es ja nicht nur um das historisch früher Nachweisbare und vermeintlich ‚Ursprüngliche‘, sondern auch um das inhaltlich eher Überzeugendere. Freilich wäre es genauso verfehlt, die Augustinus vorliegende Version gegenüber der kanonisch gewordenen einfach zu privilegieren. Für die innere Stimmigkeit von Augustins Exegese spricht jedoch aus systematischen Gründen einiges; vor allem lässt sich dem Kirchenvater gegenüber kein Vorwurf dafür erheben, dass der Schöpfungsbericht ihm nun einmal in dieser Version bekannt war.195 Augustinus schließt seine Überlegungen zu den Stufen der Schöpfungskonstitution damit ab, dass der Satz „Und Gott sah, dass es gut ist“ (Gen 1, 4+10 … par) anzeige, dass Gottes Güte, aus der heraus die Welt geschaffen sei, „das Geschaffene gefallen hat, auf dass nach dem Maß seiner Art bleibe, was zu werden gefallen hat, als der ‚Geist Gottes über dem Wasser schwebte‘ (Gen 1, 2b).“196
195
Zu der von Augustinus verwendeten Vetus Latina vgl. Greene-McCreight (1999: 82–83, Anm. 16) sowie O’Donnell (1999: 100/2–101/1). Zum Kanon – Augustinus erwähnt ihn explizit in Gn. litt. XII, 33; 429, 22 (s. u. Kap. 41) – vgl.: „Augustine speaks (doct. Chr. II, 8, 13) of a ‚canon of scriptures‘ by way of introducing a list of his own. Making such lists was a fourth-century Christian practice of great subsequent importance (as ‚canon‘ for this purpose was a word of quite recent innovation in Augustine’s time), and though the lists would be argued over in matters of detail, all such lists as we know them have substantial agreement on their contents“ (O’Donnell 1999: 100/1–100/2). S. ebenso Lienhard (1999: 121/1): „Augustine never considered the canon of either Testament uncertain or problematic.“ 196 Gn. litt. II, 8; 45, 15–19. Zum Schweben des Geistes über dem Wasser s. o. Kap. 5.
11. Der sichtbare Himmel, das trockene Land und das Wasser, die Reihenfolge der Geschöpfe und die vorzeitlichen Tage Die Schöpfungsprinzipien ‚Tag‘ und ‚Nacht‘ Wie die gerade explizierten, komplexen Gedankengänge Augustins zeigen, liegt das Hauptaugenmerk seiner literalen Interpretation auf einer stimmigen theologischen Deutung: Die Ausdifferenzierung von Schöpfer (Gott – Gottes Wort/Sprechen – Gottes Geist), geistiger und materieller Wirklichkeit steht im Vordergrund, während spezifisch naturwissenschaftlichere Probleme, wie schon gesehen, in den Hintergrund treten.197 Entsprechend erachtet der Kirchenvater solche Fragen, ob der Himmel eine die Erde umschließende Kugel sei oder ob die Erde als Scheibe nur auf einer Seite von ihm bedeckt werde, auch für zeitraubend und weniger relevant, weil für die Erlangung der beata vita schlicht nicht notwendig.198 Auffällig sei bereits, dass die Schrift unterschiedliche Aussagen über den Himmel treffe: So werde er einmal mit einem „Fell“ (pellis) verglichen (Ps 104, 2), andernorts aber als „Gewölbe“ (camera) (Jes 40, 22, LXX) bezeichnet – für Augustinus vermutlich schon ein Indiz, dass es müßig sein könnte, diese Frage entscheiden zu wollen. Immerhin hält er mit Blick auf die unterschiedlichen Aussagen, gemäß welchen der Himmel eine Kugel oder gewölbt sei, die Lösung für möglich, der Himmel sei eine gewölbte Kugel – allerdings müsse dies erst bewiesen werden, dass es sich so verhalte. Vielleicht habe die Heilige Schrift aber auch nur über einen „Teil“ des Himmels sprechen wollen, „der über uns ist“, und über seine Gestalt. Im Hinblick auf das Verständnis des Himmels als Fell verweist Augustinus auf das dreizehnte Buch seiner Confessiones, wo er eine allegorische Auslegung dieser Aussage vorgenommen habe.199 Schließlich seien beide Angaben – Fell und Gewölbe – vielleicht am besten allegorisch (figurate) aufzu-
197
S. o. Kap. 9. Fladerer (2010: 184) weist zu Recht darauf hin, dass „eine grundsätzlich negative Haltung gegenüber der naturwissenschaftlichen Bildung […] daraus allerdings nicht abgelesen werden“ könne. 198 Gn. litt. II, 9; 45,20–46,1. Zur Stelle vgl. Pollmann (2008: 107). 199 conf. XIII, 15.
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fassen, auch wenn eine literale Deutung nach Kräften gesucht werden sollte: So gebe es nicht nur runde, sondern auch ebene Gewölbe, und umgekehrt könne ein Fell nicht nur nur in die Ebene, sondern auch zu einem runden Bausch entfaltet werden.200 Unter dasselbe Verdikt des Nicht-Heilsnotwendigen fällt für Augustinus auch die Frage, ob der Himmel steht oder sich bewegt. Es könne scheinen, dass der Himmel, von einem anderen Drehpunkt aus betrachtet, sich wie eine Kugel bewege, sonst aber wie eine Scheibe. Diese Probleme zu entscheiden schickt sich der Kirchenvater nicht an: Wesentlich sei aber, dass der Begriff „Firmament“ nicht „Stillstehen“ (statio) bedeute, sondern „Festigkeit“ (firmitas) und im Kontext des Schöpfungsberichts „die Grenze zwischen den oberen und unteren Wassern“ darstelle.201 In Bezug auf die Verse Gen 1, 9–10 geht Augustinus der Frage nach, warum das durch die Sammlung des Wassers erscheinende trockene Land nicht von Gott „geschaffen“, sondern nur „geschieden“ (discreta) werde.202 Erneut zeigt der Kirchenvater einen scharfen Blick für das philologische Detail und ringt ihm einen theologischen Sinn ab: Wie schon zuvor Erde und Wasser als Symbole der ungeformten Materie interpretiert wurden,203 sieht Augustinus auch jetzt eine besondere Nähe dieser beiden, „leicht verderblichen“ Elemente zur völlig formlosen Materie gegeben. Während der sichtbare Himmel zwar ebenfalls aus der Körpermaterie geschaffen worden sei, aber eine entsprechende Formung bzw. Gestalt (species) empfangen habe, sollte Erde und Wasser „wegen der zurückbleibenden Unförmigkeit“ keine vergleichbare species zuteil werden wie dem Himmel. Daher spreche die Heilige Schrift nicht spezifisch von ihrer Erschaffung, sondern nur von der Weisung des Schöpfers: „Es sollen sich sammeln“ und „Es erscheine …“. Beide Ausdrücke seien adäquat: Aufgrund seiner von sich selbst her bestehenden fließenden Beweglichkeit werde das Wasser „gesammelt“, die Erde wegen der ihr eigenen Unbeweglichkeit „erscheine“ dagegen einfach als festes Land, nachdem das Wasser sich gesammelt hat. Der frühere Rhetoriker Augustinus bringt dies sprachlich mit einem pun zum Ausdruck: aqua enim est labiliter fluxa, terra stabiliter fixa.204 Über die Verse Gen 1, 11–13, die von der Erschaffung der Pflanzen handeln und das Schöpfungsgeschehen des dritten Tages beschließen, vermerkt Augustinus zunächst nichts Besonderes. Die oben schon erörterte dreigliedrige Abfolge205 findet ihre Bestätigung: „Und Gott sprach: Es …“ – „Und es wurde/geschah so“ – Hervorbringung des Besagten.206 Den vierten Schöpfungstag betreffend (Gen 1, 14–19) stellt Augustinus die 200 Gn. litt. II, 9; 46,11–47,21. Zur Stelle vgl. Jaskiewicz (2007: 714). 201 Gn. litt. II, 10; 47,22–48,20. Zur Stelle vgl. Pollmann (2008: 108), Alexanderson (2007: 363–4) und Jaskiewicz (2007: 714). 202 Gn. litt. II, 11; 49, 9–11. 203 S. o. Kap. 5. 204 Gn. litt. II, 11; 49,24–50,14. 205 S. o. Kap. 10. 206 Gn. litt. II, 12; 50,15–51,8.
11. Himmel, Land, Wasser – Reihenfolge der Geschöpfe – vorzeitliche Tage
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naheliegende Frage, warum Sonne und Gestirne erst jetzt erschaffen werden, nachdem bereits am dritten Tag die Pflanzen aus der Erde hervorgesprossen waren.207 Folgenden Antwortversuch gibt der Kirchenvater mit Blick auf die Reihenfolge und Zählung der Schöpfungstage: Wie bereits erörtert, sei als erstes Geschöpf das Licht (Gen 1, 3) hervorgebracht worden im Sinne der „Formung der geistigen Schöpfung“ (spiritalis creaturae formatio), durch die der geistige Himmel (Gen 1, 1) zum Schöpfer zurückgewendet und erleuchtet worden sei (Tag 1; Gen 1, 1–5).208 Danach sei die sichtbare Welt aufgrund ihres Bestehens aus den zwei wichtigsten Teilen, Himmel und Erde, innerhalb von zwei Tagen geschaffen worden (Tag 2 und 3; Gen 1, 6–13). Der Ordnung der „gesamten Körpermasse“ (universitas molis corporeae) entspreche es nun, dass sie „mit Teilen gefüllt“ sei, „die in passenden Bewegungen von Ort zu Ort geführt“ würden. Was zunächst an der Ausgangsfrage vorbeizugehen scheint, entwickelt Augustinus nun durch einen Umkehrschluss zu einem Lösungsvorschlag für diese Frage: Auf Bäume und Pflanzen nämlich treffe genau dies nicht zu, sie seien unbewegt und wurzelten fest in der Erde, woran auch ihr Wachstum nichts ändere – eine Ortsbewegung (von a nach b) sei ihnen unmöglich. Insofern gehörten sie mehr der ebenfalls unbewegten Erde, dem festen Land, an als den anderen Arten von Lebewesen, die selbst eine Ortsbewegung vollziehen. Aufgrund dieser Verbindung zur Erde, so Augustinus, entspreche es einer bestimmten Ordnung, dass zunächst die Erschaffung der Pflanzen sich an diejenige des trockenen Landes anschließt. Nachdem das Firmament etabliert ist (Tag 2; Gen 1, 6–8) und der sichtbare Himmel, die sichtbare Erde und das Meer hervortreten, gehört also gemäß Augustinus die Erschaffung der unbewegten, in der ebenso unbewegten Erde wurzelnden Lebewesen (Pflanzen) unmittelbar zur Erschaffung der (sichtbar-trockenen) Erde hinzu (Tag 3; Gen 1, 9–13). Nach Tag 1 zur Erschaffung des Lichts als Formung der geistigen Schöpfung sowie nach den Tagen 2 und 3 für das Hervortreten der sichtbaren Schöpfung in ihren grundsätzlichsten Teilen Himmel und Erde (inklusive der unbeweglichen Lebewesen) folge nun mit den nächsten drei Tagen (4–6) die Erschaffung der „beweglich-sichtbaren Teile“ innerhalb der sinnlich-wahrnehmbaren Welt. Diese ‚Kategorie‘ betreffend habe der Himmel, da er als erstes von der gesamten sichtbaren Schöpfung hervorgebracht worden sei, den Primat, folglich würden die sich am Himmel (im Sinne der sinnlichen Wahrnehmbarkeit) bewegenden Gestirne auch als erstes erschaffen (Tag 4; Gen 1, 14–19).209 Die innere Ordnung, welche Augustinus also in der Abfolge der einzelnen Schöpfungstage erblickt, ist eine sachlich-prinzipientheoretische: Was sachlich sinnvollerweise zusammengedacht werden kann, wird zusammen respektive direkt nacheinander erschaffen. Die Ordnung ist also eine intelligible, ist begreifbarer Natur und keine naturwissenschaftliche Entstehungsgeschichte. Die Tagesanzahl für die Einheiten der 207 Gn. litt. II, 13; 51, 21–24. 208 S. o. Kap. 4. 209 Gn. litt. II, 13; 52,13–53,13.
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einzelnen Schöpfungsabschnitte ist ebenfalls inhaltlich motiviert: Die geistige Schöpfung ist die erste Kreatur in der Einheit des sie erleuchtenden Lichts und umfasst folglich Tag 1. Die sichtbare Schöpfung ist gemäß dem Schöpfungsbericht grundsätzlich zweigeteilt, steht gleichsam im Zeichen der 2 und umfasst zwei Tage, Tag 2 und 3. Die beweglichen Wesen der sichtbaren Schöpfung beinhalten Gestirne, Tiere und Menschen, also drei Teilbereiche, folglich auch drei Tage, Tag 4 bis 6. Zahlentheoretisch betrachtet wird die jeweilige Tagesanzahl für einen Schöpfungsabschnitt folgerichtig entwickelt (Augustinus kommt auf derartige Überlegungen erst in Buch IV zu sprechen): Die 1 steht am Anfang; als nächste zahlhafte Möglichkeit ergibt sich die aus zwei Einsen bzw. Einheiten synthetisierte 2 als neue zahlhafte Einheit; daran schließt sich sodann als nächste zahlhafte Möglichkeit die aus 1 und 2 synthetisierte Zahl 3 an. Während der erste Schöpfungsabschnitt einen Tag, der zweite zwei und der dritte drei Tage umfasst, ergeben die drei Abschnitte addiert die Gesamtzahl 6, also die Zahl des Sechstagewerks. Nicht irritieren sollte dabei, dass Augustinus die Gestirne (ungeachtet der Unterscheidung von Fixsternen und Planeten) einfach als „bewegliche Teile“ der sichtbaren Schöpfung einstuft. Der Bibeltext wendet sich gemäß Augustinus an den Menschen mit dem darauf gerichteten skopos, was den Menschen zur vita beata, zum seligen Leben, führt und nimmt dabei Bezug auf das für den Menschen unmittelbar Erkennbare, also vor allem auf die Sinneswahrnehmungen210 und auf das rational-intellektive Vermögen, sachlich Zusammenhängendes als innere, intelligible Einheit zu begreifen. Im Hinblick auf die Erschaffung der Gestirne211 am vierten Schöpfungstag, die den Wechsel von Tag und Nacht sowie die Zeiten (Tage und Jahre212) anzeigen sollen (Gen 1, 14), bemerkt Augustinus, dass jeder hier sogleich sehen müsste, wie „obskur festgesetzt“ sei, dass „am vierten Tag die Zeiten begonnen“ hätten, „als ob die drei Tage
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Explizit macht Augustinus diese erkenntnistheoretisch entscheidende Prämisse im Zusammenhang mit den unterschiedlich großen Gestirnen Sonne und Mond (Gen 1, 16): Dies sei mit Blick auf „unsere [sc. menschlichen] Augen“ gesprochen (Gn. litt. II, 16; 59, 20–22). D. h., Die Größe der Gestirne und die Stärke des Lichts „auf der Erde“, wie sie der Mensch sinnlich wahrnehmen kann, werden im Schöpfungsbericht thematisiert, es gehe nicht um absolute Aussagen darüber, welches Gestirn im All das größte bzw. hellste ist. Wird diese Prämisse prägnant verstanden, dann spricht der Schöpfungsbericht in Bezug auf die Gestirne also gezielt ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit für den Menschen an, und seine Aussagen müssen genau darauf bezogen werden, nicht auf absolute Sterngrößen bzw. absolute Helligkeitsgrade (wenn es diese denn gibt). Die später diskutierten Fragen, in welchem Zustand bzw. in welcher Mondphase der Mond erschaffen worden sei, die Augustinus selbst als irrelevante Spitzfindigkeiten erachtet, da der Mondkörper sich ja nicht verändere, werden in dieser Untersuchung nicht weiter diskutiert, ebenso wenig das Referat bestimmter Meinungen über die unterschiedliche Helligkeit der Sterne und die Widerlegung der Wahrsager (Gn. litt. II, 15; 56,3–62,3). Vgl. dazu Jaskiewicz (2007: 717–721). Augustinus präzisiert dies später dahingehend, dass die Gestirne genau genommen keine „Zeiträume“, sondern die „Wechsel der Affektionen dieses Himmels“ anzeigen (Gn. litt. II, 14; 54, 25– 26).
11. Himmel, Land, Wasser – Reihenfolge der Geschöpfe – vorzeitliche Tage
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zuvor ohne Zeit hätten vorübergehen können.“ Ganz im Sinne seiner sich in Fragen213 vortastenden Exegese fragt Augustinus auch jetzt, wer dies durchschauen könne, wie Tage ohne Zeit vergehen konnten, bevor die Zeiten begonnen hätten und: ob die ersten drei Tage überhaupt vergangen wären. In der Tat wirft der biblische Schöpfungsbericht diese Frage auf: Wenn erst am vierten Tag die Gestirne als ‚Zeitmesser‘ geschaffen werden, welche Art Zeit soll dann vorher verflossen sein? Als platonisch versierter Denker hat Augustinus zumindest gute philosophische Gründe, Zeit im allgemeinen Sinn nicht als ein absolutum, ein unhintergehbares, immer schon gesetztes Bestimmungsmoment von Wirklichkeit anzusehen.214 Wenn Zeit ein Spiegel der Ewigkeit ist, dann liegt die zeitlose Ewigkeit grundsätzlich zeitlicher Veränderung voraus, ist ihr transzendent.215 Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage, ob die ersten drei, vorzeitlichen Tage überhaupt hätten vergehen können, keineswegs naiv. In einem ersten Zugriff versucht Augustinus den Begriff ‚Nacht‘ (nox) im Sinne der ungeformten Materie und ‚Tag‘ (dies) „in Bezug auf das Eidos (species) der geschaffenen Sache“ zu begreifen: Dabei weist er in philosophisch subtiler Weise darauf hin, dass die Veränderlichkeit (mutabilitas) immer schon Ungeformtheit (informitas) impliziere und dass diese Ungeformtheit als Bedingung der Möglichkeit jeder Formbarkeit zugrunde liege, jedoch weder im Sinne eines zeitlichen noch örtlichen Abstands unterschieden werden könne.216 Dies erinnert an Platons und Plotins „Bastardschluss“ (nothos) bezüglich der Materie – diese sei zwar begrifflich ermittelbar, jedoch selbst nichts eidetisch Bestimmtes, weil sie ja nur Grundlage eidetischer Formung, von sich selbst her aber bestimmungslos sei.217 Obgleich die Materie als Zugrundeliegendes Formbarkeit – und somit auch Bestimmungsmomente wie Ort und Zeit – ermögliche, ist sie von sich selbst her nicht schon etwas Zeitliches bzw. unterliegt in ihrer Ungeformtheit noch nicht der Zeit. Von daher erscheint die Deutung der Nacht als Privation bzw. als ungeformte Materie nicht nur von ihrem Aspekt der Dunkelheit her im Sinne des Mangels an Licht stimmig, sondern ermöglicht zugleich, ‚Nacht‘ und ‚Tag‘ als vorzeitliche Bedingungen von Zeit zu begreifen: Erst die Veränderung an der Materie (‚Nacht‘) durch eidetische Formung (‚Tag‘) bewirkt infolge der verschiedenen Zusammensetzungen (composita, syntheta)
213 S. o. Kap. 3. 214 Das unterscheidet Augustinus in grundsätzlicher Weise von der neuzeitlichen klassischen Physik eines Newton und mutatis mutandis von der Philosophie Kants. Vgl. unter Bezug auf Kant, KrV B52 Mesch (1998: 156): „Die Zeit ist nach Kant also nur insofern real, als sie objektiv ist, und objektiv ist sie durch ihren Status als einer subjektiven Bedingung der Erkenntnis.“ Zum fundamentalen Unterschied zwischen Newton und Kant einerseits und platonischem Denken andererseits in Bezug auf die ‚andere absolute Kategorie‘ des Raumes vgl. Thiel (2004: 287, Anm. 30). 215 Vgl. conf. XI. Zum Zeitverständnis Augustins jenseits der Alternative von naivem Objektivismus und radikalem Subjektivismus erarbeite ich derzeit eine eigene Studie. 216 Gn. litt. II, 14; 53,24–54,10. 217 Vgl. Platon, Tim 52b und Plotin, enn. II, 4 (12), 10.
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Zeit und Zeithaftes – Materie (‚Nacht‘) und Eidê (‚Tag‘) selbst aber unterliegen als übergeordnete Prinzipien nicht der Zeit. So verstanden, wären auch ‚Abend‘ und ‚Morgen‘ im ersten Schöpfungsbericht nicht mehr das simple Produkt des Vergehens und Anbrechens von Zeit, sondern würden – wie Augustinus es nun philosophisch konkreter zu fassen vermag – „durch die bestimmte Grenze [sc. entstehen], wodurch begriffen wird, wie weit das Maß einer spezifischen Natur [sc. reicht] (per quendam terminum, quo intellegitur, quousque sit naturae propriae218 modus) und von wo aus in der Folge der Anfang einer anderen Natur [sc. beginne].“219 Wenngleich der Kirchenvater diese Gedankengänge in Form von an den Text gestellten Fragen entwickelt, eröffnet er in seiner Exegese so doch einen konkreten Weg zu einem besseren Verständnis, wie denn überhaupt vorzeitliche Nächte und Tage bzw. Abende und Morgen sinnvoll gedacht werden können, und löst so eine weitere Forderung ein, die der biblische Text beim literal-konkreten Lesen an den Exegeten richtet. ‚Tag‘ und ‚Nacht‘ wären somit die beiden kreativen Prinzipien, mit denen der Schöpfer operiert und deren Zusammenspiel sich die einzelnen Geschöpfe verdanken: ‚Tag‘ die spezifisches Wesen verleihende Eidos-Ursache, ‚Nacht‘ die materiehafte Formlosigkeit bzw. Ungeformtheit, welche durch den ‚Tag‘ spezifiziert wird. All dies ergibt in mehrfacher Hinsicht einen stimmigen theologischen Sinn: Das erste Geschöpf ist das Licht (Gen 1, 3),220 von ihm wird die Finsternis geschieden, das Licht wird ‚Tag‘ und die Finsternis ‚Nacht‘ genannt, und erst danach – also insofern diese Prinzipien ihrerseits bereits hervorgedacht und wirksam sind – folgt der „erste Tag aus Abend und Morgen“ (Gen 1, 4–5). ‚Abend‘ und ‚Morgen‘ sind dann ebenfalls keine bloßen Zeitangaben mehr, sondern weisen als Abschluss eines jeden ‚vorzeitlichen Schöpfungstages‘ (im Sinne des aus Gottes Überzeitlichkeit heraus erfolgenden Schöpfungswirkens221) in umgekehrter Reihenfolge auf die Ur-Prinzipien ‚Tag‘ und ‚Nacht‘ zurück: Während zuerst das Licht geschaffen und als zweites in Abgrenzung dazu die Nacht bestimmt wird, beginnt die ‚Zählung‘ der Tage mit dem ‚Abend‘ und wird mit dem ‚Morgen‘ beschlossen. Diese Reziprozität in der Abfolge korrespondiert im platonischen Kontext durchaus mit der prinzipienontologischen Trias ‚Verharren – Hervorgang – Rückwendung‘, deren Spuren sich oben schon bei Augustinus gezeigt hatten.222 Der platonische Bezugsrahmen lässt sich sogar noch weiter spannen, wenn man zum Vergleich mit ‚Tag‘ und ‚Nacht‘ an die besonders bei (dem gegenüber Augustinus historisch späteren) Proklos nachweisbaren Prinzipien peras („Grenze“) und apeiria („Nicht-Grenze“) denkt: Diese beiden Prinzipien gehen als Zweiheit gemäß Proklos zuerst von dem allerhöchsten, absoluten, überseienden Einen (hen) hervor
218 219 220 221 222
propriae scheint mir hier die stimmigere Lesart (gegenüber proprie und proprius) zu sein. Gn. litt. II, 14; 54, 13–16. S. o. Kap. 4. S. o. die Kap. 5-7. S. o. Kap. 4.
11. Himmel, Land, Wasser – Reihenfolge der Geschöpfe – vorzeitliche Tage
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und begründen den Bereich des bestimmten Seins.223 In nicht unähnlicher Weise bringt Gott im biblischen Schöpfungsbericht zunächst das ‚Tag‘ genannte Licht hervor und scheidet davon die als ‚Nacht‘ bezeichnete Finsternis: Augustinus deutet beide – wie gesehen, aus guten Gründen, da der Text ein unzeithaftes Verständnis vermeintlich zeithafter Begriffe einfordert – als Schöpfungsprinzipien, wobei er die aus ihnen prinzipiierten Bestimmungen ‚Morgen‘ und ‚Abend‘ explizit im Kontext der Grenze bzw. Eingrenzung (terminus) begreift, die das Maß „einer spezifischen Natur“ bestimmen. Nicht zuletzt hatte er diese Exegese bereits in Buch I vorbereitet: Dort wurde ‚Abend‘ als die „Grenze des abgeschlossenen Werks“ (consummati operis terminus) interpretiert, ‚Morgen‘ als das „zukünftige Wirken“ (futura operatio).224 Die auf den ersten Blick etwas anders erscheinende Deutung verdankte sich dort der Reihenfolge ‚Abend – Morgen‘: Während Augustinus in Buch II zwar ‚Tag‘ als eidetisches Prinzip (im Sinne einer Grenzziehung der Wesensnatur eines Geschöpfs) einführt, widerspricht die Stelle aus Buch I nicht der Sache nach dieser Interpretation: ‚Abend‘ bezeichnet hier einfach den Endpunkt des schöpferischen Hervorbringens von etwas, welcher ebenfalls eine Grenze im Sinne des Abschlusses bedeutet (im Unterschied zur wesensspezifizierenden Begrenzung der Geschöpfe). Beide Aspekte lassen sich einerseits unterscheiden und andererseits inhaltlich zusammenschauen: Die wesensspezifizierende Begrenzung durch das Prinzip ‚Tag‘ findet am ‚Abend‘ eines Schöpfungstages ihren Abschluss; der ‚Morgen‘ zielt auf das Ende der ‚Nacht‘ im Sinne des jeweils neu beginnenden Bestimmtwerdens der nächtlichen Unbestimmtheit der Materie. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die reziproke Verschränkung von ‚Tag und Nacht‘ vs. ‚Abend und Morgen‘ als theologisch-philosophisch sinnvoll, insofern sie sich im Sinne der inneren, über- bzw. vorzeitlichen Einheit dieser schöpfungsontologischen Aspekte begreifen lässt.
223 Vgl. dazu Drews (2018: 121–133). 224 Gn. litt. I, 17; 26, 16–19 (s. o. Kap. 7).
12. Elemente und intelligible Schöpfungsordnung Intellektives Begreifen und nicht-faktisches/ nicht-fiktionales Erzählen Das dritte Buch von De Genesi ad litteram beginnt mit einer Erörterung darüber, dass die Lebewesen des Wassers (und der Luft) gemäß dem Schöpfungsbericht (Gen 1, 20) als erstes geschaffen werden (und nicht diejenigen, welche das Land bewohnen): Denn das Element Wasser stehe der Luft am nächsten und diese wiederum dem Himmel der Gestirne.225 Diese Nähe des Wassers zur Luft begründet Augustinus mit der Verdunstungsfähigkeit des Wassers.226 Wenn der Himmel einen Primat über die Erde hat und in der Konsequenz die Luft über das Wasser und das Wasser über die Erde, dann, so der Kirchenvater, entsprach es dem ordo rerum, der sachangemessenen Schöpfungsordnung, dass die Erschaffung der Wasser- früher als die der Erdentiere erzählt wird: ut intellegamus servatam esse ordinem rerum, quo prius oportuit aquarum animalia quam terrarum creata narrare.227 Der Wortlaut ist hier beachtenswert: Erstens geht es um den ordo rerum, die Schöpfungsordnung, welche offenbar nicht einfach als ‚naturwissenschaftliches Faktum‘ beobachtbar oder experimentell nachweisbar ist, sondern, zweitens, gemäß Augustinus intellektiv eingesehen und begriffen werden muss: „auf dass wir begreifen“ (ut intellegamus), formuliert der Kirchenvater – dieses Begreifen ist als Erkenntnisakt vom Menschen zu leisten („auf dass“), es wird ihm nicht abgenommen, ohne diesen ‚intellektiven Sprung‘ kann jener ordo andernfalls auch übersehen werden. Denn die intellektive Erkenntnis – ganz im Sinne von Römer 1, 20 – ist nicht einfach von der materiellen Realität ‚vorgegeben‘:228 Deshalb spricht Augustinus, drittens, auch nicht davon, dass sich 225 226 227 228
Gn. litt. III, 1; 63, 6–9. Gn. litt. III, 2; 64, 11–16. Gn. litt. III, 3; 65, 15–16. Vgl. Schmitt (2019: 17): „Wenn man diese mittelalterlichen und antiken Philosophien ‚Seinsphilosophien‘ nennt, darf man aber nicht an eine dem Denken vorgegebene Welt-Ordnung (Kosmos) denken. Das wäre auf der Ebene des Denkens dieselbe Konfusion der dem Denken objektiv vorgegebenen Gegenstände mit den Gegenständen, die es selbst unterscheidet, wie sie Aristoteles
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dieses Begreifen auf naturwissenschaftliche Erwägungen stützen sollte, sondern auf das „Erzählen“ (narrare) im Schöpfungsbericht, welches „notwendigerweise“ (oportuit) diese Reihenfolge des Erzählten wahre. Wenn also die Schöpfungsordnung als etwas Begreifbar-Intelligibles Bestand hat, dann ist es gerade notwendig, diesen begreifbaren Sachgehalt sprachlich darzustellen, ihn also im Schöpfungsbericht entsprechend zu „erzählen“. Damit kommt, viertens, dem Erzählen ein besonderer Rang zu: Erzählt werden kann etwas, das so nicht allgemein zugänglich oder offensichtlich ist. Gleichwohl scheint Augustinus dabei das narrare nicht zu überhöhen, als ob das Erzählen unabhängig von seinem Wahrheitsgehalt ein ‚Wert an sich‘ wäre.229 Der Kirchenvater nimmt hier insgesamt eine mittlere Position ein: Wahrheit ist nicht einfach faktisch vorgegeben, mit Sinneswahrnehmungen (bzw. modern: vermittelt über genaue Messgeräte) beobachtbar; das Erzählen von Wahrheit muss sich folglich auch nicht an einen vermeintlich technisch-naturwissenschaftlich verifizierbaren ‚Wahrheitswert‘ halten oder alternativ sich als ‚freies literarisches Spiel‘ im Sinne einer autark agierenden produktiven Imaginationskraft jenseits jeglichen Wahrheitskriteriums entfalten. Vielmehr kann die Narration eine verborgene, weil nur begreifbare Wahrheit zu erkennen geben und andeuten, die als tertium jenseits der Alternative ‚naturwissenschaftliche Faktizität vs. literarische Fiktion‘ besteht.230 Die Erzählung des Schöpfungsberichts ist im Sinne Augustins also weder bloß ein literarisches Spiel noch ein naturwissenschaftliches Protokoll, sondern stellt den Leser vor eine intellektiv zu bewältigende Erkenntnisaufgabe: nämlich die Schöpfungsordnung zu begreifen. Für Augustinus ist es im Sinne der ihm vorliegenden lateinischen Genesis-Übersetzung entscheidend, dass sowohl die Wasser- wie auch die Lufttiere beide „aus dem Wasser hervorgebracht“ werden.231 Der sachliche Grund dafür bestehe darin, dass die Vögel
bereits bei der Wahrnehmung kritisiert.“ In diesem Sinne lässt sich in der Tat auch für Augustinus zeigen, dass die intelligible Schöpfungsordnung in Gen 1 nichts ‚objektiv (Vor-)Gegebenes‘ ist, sondern sich in der intellektiven Erkenntnis der Engel ereignet, insofern diese als Geschöpfe des intellektiven Lichts jeweils Bestimmtes im Lichte von Gottes Logos unterscheidend erkennen (genauer dazu s. u. Kap. 17). 229 Diese Fragestellung über die Rolle und den Rang des ‚Erzählens an sich‘ (entweder als über dem Wahrheitswert seines Inhalts stehend oder ihm, wie z. B. bei Augustinus, untergeordnet und von ihm abhängig) ist von allgemeiner literaturwissenschaftlicher Relevanz. Am Beispiel von Homer und der jüngeren Homer-Forschung gehe ich kurz auf dieses Thema ein in Drews (2018b: 284). 230 Die hier angesprochene Problematik scheint mir auch von entscheidender Wichtigkeit dafür zu sein, wie man die vermeintlich ‚autobiographischen‘ Confessiones einordnet: Augustinus will darin keine historische Autobiographie im modernen Sinn schreiben, sondern den Prozess seiner Selbsterkenntnis darstellen bzw. spiegeln. Es muss also gar nicht alles historisch, aber ebenso wenig nur rein fiktional bzw. autofiktional aufgefasst werden. Auch hier geht es um ein tertium, das schwer auf einen einzigen Begriff zu bringen ist. Zu diesem Thema möchte ich in Bälde eine eigene Untersuchung vorlegen. 231 utrumque hoc animantium genus ex aquis productum esse narratur (Gn. litt. III, 3; 66, 4–5). Entsprechend der von Augustinus kommentierte Wortlaut von Gen 1, 20–21: Et dixit deus: educant aquae reptilia animarum vivarum et volatilia super terram secundum firmamentum caeli. et factum est sic. et
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nicht dauerhaft in der reinsten Luft zu leben und zu bleiben vermögen232 (dazu seien sie nur in der Lage, weil sich die untere Luft durch Aufnahme von Ausdünstungen aus Meer und Erde verdicke und den Vögeln Auftrieb gebe, so dass die Vögel sich kraft ihrer Flügel in der feuchten Luft analog zu den Fischen im Wasser mit ihren Flossen bewegen könnten). Diese Beobachtung ist gemäß Augustins Exegese für den Aufbau des sich an der besagten intelligiblen Ordnung orientierenden Schöpfungsberichts deshalb relevant, weil so das Fortschreiten des Berichts von den Gestirnen (Himmel) über die aus dem Wasser stammenden Tiere bis zu den Erdentieren im Sinne des Absteigens der Elemente gedeutet werden kann:233 Die Gestirne sind dem Element Feuer zugeordnet, die aus dem Wasser erschaffenen Tiere dem Wasser, die Erdenbewohner entsprechend der Erde (im Sinne des spezifischen Elements). In dieser Reihe könnte es so scheinen, als ob das Element Luft übergangen worden sei: Dies sei aber deshalb nicht der Fall, da Luft als Teil des Himmels aufgefasst werden müsse – entweder weil in der höchsten Luft sowieso kein Vogel mehr fliegen könne oder weil die Luft keinen sichtbaren Bewohner habe (der dauerhaft in der Luft lebte und als solcher erkennbar wäre). Daher werde sie als Element nicht bei der Erschaffung der Lebewesen erwähnt, finde aber insgesamt im Schöpfungsbericht eben unter dem Begriff Himmel ihre Berücksichtigung im Sinne des „himmlischen Teils der Welt“: Die Luft fällt so keineswegs mit dem geistigen Himmel in eins, sondern gehört als materieller Himmel der Welt an, die wiederum als ganzes mit dem Oberbegriff ‚Erde‘ zusammengefasst werde (in Unterscheidung zum Element Erde).234 In diesem Sinne kann Augustinus sagen, dass die Vögel nur an demjenigen Himmel fliegen, der als Teil der Erde zu begreifen ist.235 Sprachgebrauch und sachlicher Referenzpunkt müssen also bei der Exegese genau differenziert werden. Sodann diskutiert Augustinus die bei Apuleius belegte Auffassung,236 dass die daemones (die platonischen Mittlerwesen zwischen Mensch und Gott) Bewohner der Luft seien und die himmlischen Wesen die Götter: Gemäß dem Kirchenvater seien davon die einen jedoch als Engel, die anderen als Gestirne zu verstehen.237 fecit deus cetos magnos et omne animal reptilium, quae eduxerunt aquae secundum genus eorum, et omne volatile pennatum secundum genus (Gn. litt. III, 1; 62,21–63,2). 232 Vgl. analog Apuleius, De deo Socratis, Kap. 8. 233 Im Zusammenhang mit den Elementen schiebt Augustinus einen Exkurs zur Seele als Ursache der Sinneswahrnehmungen ein, die sich als Belebungsursache des Körpers desselben als Instrument bediene und „durch den Körper“ sinnlich wahrnehmend tätig werde; die Wahrnehmungsfähigkeit (vigor sentiendi) gehe also auf die Aktivität der Seele (agit, agitat) zurück (Gn. litt. III, 5; 67,14– 68,2). Vgl. Alexanderson (2007: 366) und Cizewski (1993: 367). Augustins Wahrnehmungstheorie ist damit genuin platonisch-aristotelisch (vgl. Bernard 1988); zur Relevanz der Wahrnehmungstheorie für die Ergründung der Seele und ihrer unabdingbaren Funktion als Belebungsursache eines lebendigen Körpers bei Augustinus s. Drews (2013a). – Zur Diskussion der Elemente und der ihnen zugeordneten Lebewesen s. auch Gn. litt. III, 9; 71,25–72,21. 234 Gn. litt. III, 6; 68, 3–23. 235 Gn. litt. III, 7; 70, 14–17. 236 Apuleius, De deo Socratis, Kap. 9. 237 Gn. litt. III, 9; 72, 4–5. S. ferner Gn. litt. III, 10; 72,22–74,22.
13. Gattungen der Tiere, aber nicht der Menschen Die in sich gute Schöpfungsordnung und die Folgen des Sündenfalls An diese Ausführungen schließt sich unmittelbar die Exegese der Verse Gen 1, 24–25 über die Erdentiere an, wobei Augustinus erörtert, welche Arten von Tieren jeweils unter Vierfüßern, Kriechtieren etc. zu verstehen sind. Im Hinblick auf das „nach seiner Art“ (secundum genus) zieht der Kirchenvater in dem schon bekannten, fragenden Duktus238 mehrere Mutmaßungen in Betracht, bevor er schließlich als spezifischen Sinn dieser Junktur ergründet, dass die Tiere eben tatsächlich nach vielfältiger Art erschaffen sind und sich entsprechend unterscheiden, während der Schöpfungsbericht dies vom Menschen deshalb nicht sage, weil es nicht verschiedene Menschenarten im analogen Sinn gebe. Die Menschen partizipieren am Mensch-Sein ohne Artenspezifikation, wie es sie im Tierreich bei Fischen, Vögeln, Schlangen, Löwen, Tigern etc. gebe.239 Diese Beobachtung ist nicht zuletzt deshalb hervorhebenswert, weil sich darin ein Sachargument gegen jeglichen ‚biologisch begründeten Rassismus‘ verbirgt: Augustinus lehnt explizit die Denkfigur ab, dass verschiedene Ethnien als differente Gattungen von ‚Mensch‘ zu begreifen seien und auf unterschiedliche Ursprünge im Sinne verschiedener Samen- bzw. Menschenarten zurückgeführt werden könnten, denn es gebe „keine vielen Gattungen von Menschen“ (non enim multa genera hominum) wie bei Pflanzen und Tieren. Zum Thema der Schöpfungsordnung gehört ferner die Frage, warum lediglich bestimmten Lebewesen die positive Weisung „Wachset und mehret euch“ (Gen 1, 22) zuteil wird. Der vermeintlich sexualfeindliche Kirchenvater erwägt, ob diese „Segnung“ nur den Lebewesen bestimmt worden sei, die leidenschaftliche Affekte bei der Zeugung empfänden (wodurch gerade diejenigen Geschöpfe, welche zu körperlicher Lust
238 S. o. Kap. 3. 239 Gn. litt. III, 11–12; 74,23–78,25.
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fähig sind, besonders gesegnet und zur Fortpflanzung aufgefordert wären). Diese Weisung wird später im Hinblick auf den Menschen (V. 28) wiederholt und hat gemäß Augustinus den Sinn, – gerade auch im Hinblick auf die Manichäer – unmissverständlich deutlich zu machen, dass dem Zeugungsakt an sich keinerlei Sünde innewohne, sondern nur dem Ehebruch bzw. der maßlosen Lust auch innerhalb ehelicher Sexualität.240 In gleicher Weise ist die Frage der Schöpfungsordnung von dem Problem tangiert, ob (alle) Insekten als Teil der ursprünglichen Schöpfung zu begreifen sind oder nicht. Augustinus urteilt scharf, dass man nicht zu Recht sagen könne, Gott sei nicht der Schöpfer dieser Lebewesen.241 Denn es sei eindrucksvoller, die Bewegung einer Fliege zu verfolgen als die eines Lasttiers oder die Arbeit (opera) der Ameisen zu sehen als die Last (onera) von Kamelen – der geübte Rhetoriker lässt das Wortspiel nicht aus, in welchem der Unterschied in der Leistung von Ameisen und Kamelen im Lateinischen nur durch einen Konsonanten markiert wird. Gleichwohl gebe es einen Unterschied zwischen den allerkleinsten Tieren, die aus dem Wasser und der Erde ihren Ursprung nehmen, und denjenigen, welche nur aus den toten Körpern anderer Lebewesen entstehen: Erstere seien Teil des ursprünglichen Schöpfungswerks, Letztere dagegen nicht, weil sie den Tod anderer Wesen voraussetzten. Diese Differenzierung ist insofern rational, als die Voraussetzung des Sterbens anderer Lebewesen für das Werden neuer Wesen nicht zum ursprünglichen Schöpfungsplan gehören kann, gemäß welchem der Tod nicht an sich vorgesehen ist, sondern – wie der Sündenfall242 – eine nicht-notwendige Folge der geschöpflichen Abkehr vom Schöpfer darstellt.243 Als ein Theologe, der jedoch aus guten Gründen von einem Allwissen Gottes ausgeht, welches sich sowohl auf Gottes eigenes Wirken wie auch auf das Wissen um das von den Geschöpfen autark zu verantwortende, nicht von Gott selbst gewollte bzw. initiierte Handeln erstreckt,244 vermag Augustinus zu ergänzen, dass in einem weiter gefassten Sinne auch diese Tiere nicht außerhalb des Schöpfungswerks stehen.245 Damit rekurriert Augustinus auf seinen Obersatz, dass es dem Menschen nicht zustehe, zu behaupten, bestimmte Kreaturen seien nicht Werk des Schöpfers. Trotzdem nimmt der Kirchenvater keine ‚fatalistische Nivellierung‘ vor, als ob in der Welt ohnehin schon alles in allem prädeterminiert sei.246 Denn hätte der Sündenfall, d. h. die geschöpfliche Abkehr von Gott, nicht stattgefunden und wäre somit die Realität des
240 Gn. litt. III, 13; 78,26–79,13. Vgl. Cizewski (1993: 369) zur Abgrenzung Augustins gegenüber der manichäischen „condemnation of the material creation in general.“ 241 Gn. litt. III, 14; 79, 20–21. Ein ähnliches Argument, dass kein Geschöpf als unnötig bzw. überflüssig zu bezeichnen sei, da alle Geschöpfe ihre „Maße, Zahlen und Ordnungen“ besäßen, findet sich in Gn. litt. III, 16; 82, 1–6 und III, 18; 83, 22–23. Vgl. Cizewski (1993: 370). 242 S. o. Kap. 7 sowie unten Kap. 27 und 33–35. 243 Vgl. Rö 6, 23. 244 S. Drews (2009: 143–185). 245 Gn. litt. III, 14; 79,14–80,22. 246 Eine solche Prämisse stoischer Couleur teilt Augustinus dezidiert nicht (s. Anm. 244).
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Todes nicht in die gut geschaffene Welt eingedrungen,247 dann stellte sich nicht die Frage, ob aus verwesenden Tieren neue Lebewesen entstehen. Die Realität der innerweltlichen Kontingenz spielt hier also eine nicht zu unterschätzende Rolle:248 Der ‚Lauf der Welt‘ ist gemäß Augustinus nicht immer schon vorherbestimmt, sondern ändert sich in maßgeblicher Abhängigkeit vom Handeln der Geschöpfe. Gott kann zwar aus seinem überzeitlichen Erkenntnismodus249 heraus um alle zeitlichen Ereignisse – sei es, dass sie aus der ursprünglichen, von Gott so gedachten Schöpfungsordnung entspringen, sei es, dass sie aus deren Perversion resultieren – wissen; davon bleibt jedoch genau diese Differenzierung zwischen ursprünglicher Schöpfungsordnung und nicht-necessitierten Degenerationen unberührt. Die interessante Frage, ob wirklich alle Lebewesen schon von vornherein auf das Sechstagewerk zurückgehen, führt der Kirchenvater also einer differenzierten Antwort zu: 1. Die Prämisse, kein Geschöpf hat sein Sein unabhängig von dem Schöpfer, erscheint als Obersatz zweifellos richtig. 2. Die Differenzierung zwischen Tieren, welche zu Gottes ursprünglicher Schöpfungsordnung gehören, und solchen, die erst aus der von Gott so nicht gewollten, nicht-ursprünglichen Realität des Todes ihr Entstehen beziehen, ist ebenfalls aufrechtzuerhalten. Es müssen also nicht zwangsläufig, im Sinne eines fatalistischen Weltenlaufs sowieso alle Tiere zum ursprünglichen Sechstagewerk gezählt werden, da Augustinus die Prämisse eines Fatalismus andernorts vehement zurückweist.250 3. Trotzdem bleibt die erste Aussage theologisch stimmig, da Gott gemäß seinem umfassenden Allwissen auch die nicht-ursprünglichen Realitäten Sündenfall und Tod und deren Folgen sowie sein eigenes Erlösungshandeln ‚vorhersieht‘ und insofern letztlich nichts außerhalb des providentiellen Wirkens Gottes steht.251 Analog argumentiert Augustinus im Hinblick auf giftige und verderbliche Tiere (z. B. Schlangen): Ihre schädliche Wirkung hätte sich durchaus erst nach dem Sündenfall ergeben können, so dass sie erst danach „Sündern zu schaden begonnen“ hätten. Auch hier ist in Augustins Augen kein Geschöpf an sich schlecht: Wenn sogar Paulus von seinem „Stachel im Fleische“ spricht, der ihn vor Überheblichkeit bewahrt habe,252 dann zeigt dies gemäß dem Kirchenvater, dass sich in einer gefallenen Welt die Frage, was einfach nur böse und was gerechte Strafe im Sinne eines guten Korrektivs253
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Vgl. Drews (2009: 105–143). S. dazu Drews (2009: 185–220). S. Drews (2009: 167–185). Zu nennen sind De libero arbitrio, De civitate Dei sowie die antisemipelagianischen Werke (deren Aussagen in Drews 2009 interpretiert werden, s. die vorhergehenden Anm.). 251 Vgl. civ. XI, 23. 252 2 Kor 12, 7–9. 253 Augustins Strafbegriff ist nicht sadistisch, sondern steht in der christlichen sowie platonischen Tradition, gemäß welcher Strafe positiv einem Zurechtbringen von etwas Verkehrtem dient und nicht der Lust des Strafenden am Leid des Bestraften (dies wäre in sich eine Form der Sünde). Zum Begriff der poena emendatoria s. Drews (2009: 4, Anm. 8).
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ist, nicht undifferenziert beantworten lässt. In jedem Fall seien die für den Menschen gefährlichen Tiere nicht per se schlecht oder böse, zumal es auch Beispiele gebe, wo sie einem Menschen – durch göttliches Eingreifen – keinen Schaden zugefügt hätten (z. B. Daniel und Paulus254).255 Auf den ersten Blick ließe sich gegen Augustins Argumentation einwenden, dass ja dieses besondere Eingreifen nur Beweis dafür sei, worin ‚die eigentliche Natur‘ dieser Tiere bestehe. Vom Duktus seiner Argumentation her besehen, würde der Kirchenvater diese Schlussfolgerung vermutlich als vorschnell zurückweisen, denn: Gerade dieses Wirken Gottes lässt sich genauso gut dahingehend verstehen, dass es die ursprüngliche, nicht-schädliche Natur der Tiere offenbare, die sie eigentlich besaßen und hätten bewahren sollen, wenn nicht der Sündenfall den Zustand der Schöpfung insgesamt ‚zum Fallen‘, also zur Depravation gebracht hätte. Entscheidend ist hier noch einmal: Der Weltenlauf vollzieht sich gemäß Augustinus nicht deterministisch. Dies bedeutet, mit der Anlage der Schöpfung und gemäß ihrer ursprünglichen Ordnung ist das, was sich in ihrem Rahmen und infolge frei agierender Geschöpfe (z. B. Engel – Menschen – Tiere) ereignet, nicht vorherbestimmt. Betont werden muss dies deshalb so nachdrücklich, weil – gerade in der Moderne – nur allzu leicht ein geschichtliches Modell konstruiert und als gleichsam ‚alternativlos‘ verabsolutiert wird, in welchem der Sündenfall immer schon notwendig erscheint, möglicherweise sogar als positive Initialzündung für den ‚zu sich selbst erwachenden‘ Menschen, mindestens aber als ein unvermeidliches Übel, das auch Gott als Schöpfer leider nicht umgehen konnte und welches deshalb (mehr oder weniger ‚zähneknirschend‘) als bedauernswerter Teil der trotzdem, aufs Ganze besehen, guten (!) Schöpfungsordnung zu betrachten sei. Letztere Argumentation ist von keinem Geringeren als Leibniz vertreten worden, und es scheint bis heute nicht ausreichend problematisiert worden zu sein, dass das Leibniz’sche Projekt der Theodizee einerseits auf der Prämisse eines deterministischen Weltenlaufs aufbaut und ob andererseits genau diese Prämisse überhaupt in sich rational ist und nicht für eine Menge ungelöster philosophisch-theologischer Probleme verantwortlich sein könnte:256 Jedenfalls ist Leibniz’ ‚Theodizee‘ letztlich nichts anderes als der Versuch, innerhalb eines als gesetzt geltenden, durchgehenden Determinismus den Sündenfall entsprechend als notwendig-unvermeidliches Ereignis zu sehen und trotzdem mit einem allgültigen Schöpfergott, der dann zwingend für den gesamten Weltenlauf und für jedes Einzelereignis verantwortlich zeichnet, zusammenzudenken. Aus der christlichen Perspektive eines Augustinus wie auch aus der pagan-platonischen eines Proklos, um nur zwei Repräsentanten zu nennen, erscheint
254 Dan 6, 23 und Apg 28, 3–5. 255 Gn. litt. III, 15; 80,23–81,22. 256 Ein Lösungsversuch ist angedeutet in Drews (2018: 502–518).
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ein solches Unterfangen nicht nur irrational, sondern auch von vornherein zum Scheitern verurteilt.257 Ist man für deterministisch-stoisierende Interpretationen sensibilisiert und achtet darauf, mit welcher Mühe Augustinus sowohl den freien Willen der Geschöpfe verteidigt wie auch Gottes umfassendes Allwissen gegen (in Augustins Augen) deterministische Fehldeutungen abgrenzt,258 dann lassen sich Behauptungen wie: Augustinus neige zu einer „ästhetisierenden Relativierung“ der Übel,259 nicht aufrechterhalten. Für die Exegese in De Genesi ad litteram zeigen diese philosophisch-systematischen Überzeugungen nicht nur ihre sachliche Relevanz, sondern die Exegese demonstriert, dass Augustinus genau diese Überzeugungen vom Bibeltext bestätigt sieht: Bei der Frage, warum Disteln und Dornen überhaupt erschaffen worden sind, wehrt der Kirchenvater die Deutungsvariante ab, diese seien erst nach dem Sündenfall aus der Erde gesprossen, weil sie danach dem Menschen zur Plage geworden seien (Gen 3, 18). Wären Disteln und Dornen nur Instrumente zur Strafe für den Menschen, dann hätten sie nicht vor dem Sündenfall schon erschaffen werden dürfen, denn für Augustinus ist der Sündenfall nicht schon in der guten Schöpfungsordnung impliziert, schon gar nicht vorherbestimmt. Der Kirchenvater erachtet Disteln und Dornen daher auch nicht primär als schlecht (was innerhalb einer guten Schöpfungsordnung irrational wäre), sondern verweist auf bestimmte Formen des Nutzens (z. B. für Vögel und Vieh), welche auch die Samen von Disteln und Dornen hätten, und darauf, dass sie zunächst nicht dem Menschen zum Schaden dienten. Innerhalb seines nicht-deterministischen, differenzierten Weltbildes kann Augustinus aber sehr wohl den Vers Gen 3, 18 integrieren: Denn die in sich gut geschaffenen Disteln und Dornen können freilich dann von Gott als Strafinstrumente benutzt werden, wenn ein Feld nichts anderes als Disteln und Dornen mehr trägt und dem Menschen nichts anderes zu ernten bleibt. Es ist also zu differenzieren, ob etwas in sich gut erschaffen ist und einen (wenn auch noch so geringen) Nutzen zeigt oder ob ein geringeres Gut notfalls auch als Strafe für den in Sünde gefallenen Menschen dienen kann, insofern höhere und durchaus benötigte Güter (wie z. B. reiche Ernte) ausbleiben und stattdessen nur weitaus geringere als Lebensgrundlage dienen. All dies macht weder Disteln noch Dornen zu etwas ‚an sich‘ Schlechtem, noch den Sündenfall zu
257 Zu Augustinus und Proklos s. Drews (2009), die Aufzählung ließe sich auf Platon, Origenes, Plotin, Dionysius Areopagita, Boethius u. a. christlich-platonische Autoren ausdehnen (s. Drews 2018: 511–3). 258 S. Drews (2009: 105–238). 259 So z. B. Kreuzer (2005: passim): „An die Stelle der Frage nach einem Grund oder dem Woher des Übels trat [sc. bei Augustinus, in seiner Abkehr vom Manichäismus] seine ästhetisierende Relativierung und Rechtfertigung. Es [sc. das malum] ist in der ästhetisierenden Harmonie einer alles leitenden Ordnung aufgehoben“ (ibd., 30–31). Zum „platonisierende[n] Panästhetismus“ bei Augustinus vgl. ibd., 23; zu Augustins „gnostische[r] Verdammung der Welt, die von der Überreaktion eines enttäuschten Ästheten zeugt“, s. ibd., 139.
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etwas Notwendigem oder den Schöpfer zum Urheber des Übels: Die Abstufung der in sich guten Geschöpfe ist Teil der guten Schöpfungsordnung und nicht mit einem der Schöpfung inhärierenden Mangel zu verwechseln.260 Genau aus diesem Grund verweist der Kirchenvater auf die Gutheit auch der Disteln und Dornen, welche zwar auf einer niedrigeren Ebene, aber doch als Gutheit ohne Mangel besteht.261
260 Augustinus ist sogar der Meinung, dass sich die Schöpfungsordnung und Gutheit aller Geschöpfe letztlich auflöste, wenn geringere Güter nicht mehr als Güter, sondern entgegen der Schöpfungsanlage als Mängel missinterpretiert würden (s. Drews 2009: 129–133). 261 Gn. litt. III, 18; 83,10–84,19. Vgl. Cizewski (1993: 370) und Pollmann (2010: 70–72), die eine aufschlussreiche Abgrenzung von Augustins Denkansatz gegenüber anderen Optionen im paganen wie im christlichen Kontext vornimmt (z. B. im Vergleich zu Hesiod, Aischylos, Basilius, Ambrosius) und „Augustine’s originality and independence as a thinker“ hervorhebt: „I do not know of any other early Christian thinkers who admit that thistles existed already before the Fall“ (ibd., 82). Eine gewisse Nähe bestehe indes zwischen Vergil und Augustinus. S. ferner Pollmann (2007: 210).
14. Der Mensch als Abbild des dreieinigen Gottes – Schöpfung als Dialog Wie kritisch ist ein historisch-kritisches Wirklichkeitsverständnis oder weshalb bei Augustinus systematische Theologie, Exegese und Inspiriertheit der Schrift ineinander greifen Bei den Versen Gen 1, 26–31 fällt vermutlich jedem Exegeten auf, dass sie in allen Überlieferungen mit der eigenartigen Aufforderung beginnen: „Lasst uns den Menschen machen (faciamus, poiêsômen, na‘asäh) nach unserem Bild.“ Der Plural überrascht – und lässt sich philologisch doch unzweifelhaft vom lateinischen Text über die griechische Septuaginta bis zur hebräischen Bibel zurückverfolgen. All dies ist bekannt. Während für die historisch-kritische Exegese die Frage nach der historischen Ursprünglichkeit, nach einem geschichtlich verortbaren Verständnis des Textes vordringlich sein muss und somit alle späteren ‚Zutaten‘ christlicher Theologie als ‚historisch unzutreffend‘ von vornherein entfallen, stellt sich die hermeneutische Situation für Augustinus grundsätzlich anders dar. Schaut man aus einer historisch-kritischen Perspektive auf den Kirchenvater, wäre zumindest in Rechnung zu stellen, dass die geschichtliche Situation eines Augustinus eben genau die ist, in welcher er sich mit seiner hermeneutischen, philosophisch begründeten Praxis dem Text nähert. Vor allem aber ist unabhängig von einer ‚historischen Einordnung‘ zu wiederholen, dass Augustinus selbst die Kriterien historisch-kritischer Exegese aus philosophischen Gründen so nicht teilen würde.262 Die platonische Philosophie, derer sich Augustinus immer wieder als ontologie- und erkenntniskritischer Basis für seine Exegese bedient, eröffnet mit der Ergründung des intelligiblen Seins einen weiteren Rahmen als die historisch-kritische Methode: Während für Letztere auch das an einem Text (oder an einem sachlichen Problem) Begreifbare immer nur ein Produkt sein
262 Vgl. Fladerer (2010: 175), s. o. Anm. 78 und sowie Kap. 2.
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kann, welches Menschen in einer bestimmten historischen Situation so ‚konstruiert‘ haben, stellt der Platonismus die Frage, was das Wesen einer Sache ausmacht, und kommt zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass alle Verallgemeinerungen von Äußerlichkeiten, d. h. von sinnlich-wahrnehmbaren ‚Daten‘ immer am Wesen vorbeizielen:263 Ein gleichseitiges Dreieck ist eben nur ein gleichseitiges Dreieck, es kann als solches nicht das Wesen von ‚Dreieck‘ umfassen, weil sonst alle anderen Dreiecksarten nicht mehr Dreieck wären. Auch ein Tisch, wie er in europäischen Ländern üblich ist, kann als ‚äußerliches Ding‘ nicht ‚ein Wesen‘ des ‚Tisch-Seins‘ darstellen, sonst wären chinesische Tische, die eine viel niedrigere Höhe aufweisen, keine Tische – was absurd wäre. Welche Gefahren die Verabsolutierung von Äußerlichkeiten in Bezug auf das Mensch-Sein nach sich zieht, bedarf kaum einer Erläuterung: Wird das Mensch-Sein an eine bestimmte Hautfarbe gekoppelt, dann handelt es sich nicht nur um einen Denkfehler – bildet dieser doch die vermeintliche ‚Begründung‘ für jeglichen Hautfarbenrassismus.264 Ohne abschweifen zu wollen, sind diese Ausführungen nötig, um deutlich zu machen, dass die platonische Frage, was das Wesen von etwas ausmacht, nicht auf die Verallgemeinerung von Äußerlichkeiten, d. h. sinnlich wahrnehmbarer Qualitäten zielt, sondern diese gerade verhindern will: Es kann nach platonischer Auffassung daher auch nicht darum gehen, Einzelfälle (z. B. einen einzelnen Tisch, einen einzelnen Menschen oder ein Einzeldreieck) als Ideatoren265 zu begreifen, als ob sie ‚das Wesen‘ von etwas idealiter abbilden würden – dies ist platonisch ausgeschlossen, da partikuläre Instanzen eben immer Einzelfälle bleiben. Dies bedeutet aber nichts Geringeres, als dass auch historische Einzelereignisse an sich nicht als absolute Gradmesser bzw. Bezugspunkte für das Wesen von etwas taugen. Die Suche nach dem Wesen einer Sache ist also aus platonischer Perspektive unmöglich, sobald man ausschließlich auf Einzelfälle respektive historisch Partikuläres blickt. Es lohnt sich, diese oft nicht explizit gemachten Voreinstellungen, welche die platonische Wirklichkeitsbetrachtung von modern-historischer Forschung unterscheidet, in ihren Konsequenzen für die Bibelexegese zu bedenken. Während gemäß historischer Kritik auch der Bedeutungsgehalt eines Textes immer schon an den postulierten Autor in seiner historischen Situation gebunden zu sein scheint – die moderne Literaturwissenschaft versucht im Gefolge von Roland Barthes diese Form der ‚Schubladisierung‘ auf radikale Weise zu umgehen und den Text sowie den Leser aus den engen Grenzen dieser ‚Verortbarkeit‘ zu emanzipieren266 –, ergibt sich aus einem platoni-
263 264 265 266
Vgl. Drews (2018: 23–46). Vgl. Drews (2018: 324–5). Zum Begriff vgl. Schmitt (2003: 412). Zum „Tod des Autors“ s. Roland Barthes: La mort de l’auteur, in: Barthes (1984). Le bruissement de la langue. Paris.
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schen Blickwinkel ein differenzierteres Bild: Auch ein Platoniker würde nicht bestreiten wollen, dass ein Autor qua Mensch immer einen historischen und kulturellen Ort hat, dass sich deshalb z. B. chinesische von europäischen Tischen signifikant unterscheiden. Der Platonismus – und das ist das Entscheidende – bleibt aber nicht bei der Betrachtung äußerer, historisch verortbarer Daten stehen und muss deshalb auch nicht die Frage nach dem Wesen von etwas auf die bloße Betrachtung von Einzelfällen als Einzelfälle und von äußerlichen Merkmalen als genau diesen Einzelmerkmalen beschränken: Denn das Begreifbare an einer Sache – dass z. B. ein Tisch die Möglichkeit bietet, an ihm zu sitzen oder zu liegen, etwas auf ihn zu stellen, an ihm zu essen oder zu arbeiten (etc.) – ist etwas, das die Einzelfälle zugleich sowohl bestimmt wie auch transzendiert. Man muss also, um bei dem Beispiel ‚Tisch‘ zu bleiben, gar nicht die augenfälligen Unterschiede von Tischen in verschiedenen Kulturen leugnen, um trotzdem die ‚Funktion‘, das ergon ‚Tisch‘ in ihnen verwirklicht zu begreifen (mutatis mutandis ließe sich auch an die Verschiedenheit von Häusern denken: Backsteinhäuser, Blockhäuser, Plattenbauten, Iglus etc. sind äußerst verschieden, verwirklichen aber alle irgendwie das ergon ‚Haus‘). Genau dieser Akt des Begreifens bezieht sich also einerseits zwar durchaus auf Einzelfälle, bleibt aber nicht an ihnen verhaftet oder auf sie beschränkt. Dies bedeutet nichts Geringeres, als dass die menschliche Fähigkeit, zu begreifen, was eine Sache jeweils ausmacht, auch eine historische ‚Verortbarkeit‘ bzw. ‚Einordbarkeit‘ transzendieren kann, wenn sie das intelligible, eidetische ergon von etwas erkennt. Man kann in einem Iglu oder einem Backsteinhaus sitzen und in beiden Fällen begreifen: ‚Ich sitze in einem Haus, denn es schützt mich vor widriger Witterung wie z. B. Kälte/Wärme, Regen/Schnee, Sonne, Wind etc.‘ Denn in beiden Fällen ist die Schutzfunktion, welche jedem Haus eignet, verwirklicht, wenn auch auf komplett unterschiedliche Weise. Man kann ebenso im Jahre 2018 an einem Schreibtisch in Deutschland oder etliche Jahrtausende früher an einem chinesischen Tisch sitzen und in beiden Situationen das ergon des Tisch-Seins begreifen, welches tatsächlich in beiden Fällen verwirklicht ist, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Entscheidend ist dabei, dass eben nicht Äußerlichkeiten einfach als ‚Wesensmerkmale‘ von etwas ausgegeben werden, sondern das in dem jeweiligen Einzelfall anteilhaft verwirklichte ergon begriffen werden muss. Damit werden gerade keine kulturellen bzw. historischen Spezifika geleugnet, sondern vielmehr ernst genommen und zugleich auf ihre interkulturelle Vergleichbarkeit hin – etwa das ergon des Tisch-Seins – zusammengeschaut. Wird nun in beiden Fällen das ergon von ‚Tisch‘ gedacht, bleibt dieser Erkenntnisakt aber nicht strikt an die zeitlichen Bedingungen historischer Verortbarkeit gebunden, sondern kann zu ganz verschiedenen Zeiten, in unterschiedlichen Kulturen und von verschiedenen Menschen vollzogen werden. Damit weist die Ergründung des intelligiblen, eidetischen Seins von etwas – ausgehend von der Einzelinstanz einer Sache (‚Tisch‘, ‚Dreieck‘, ‚Haus‘) – zugleich über diese Einzelinstanz hinaus auf die Sache selbst, die als sie selbst nur intelligibler Natur sein kann und somit als sie selbst nicht
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an die limitierten Bedingungen historischer Verortbarkeit gebunden bleibt.267 Dies ist deshalb zu betonen, weil z. B. eine konstruktivistisch-subjektivistische Sichtweise genau dies bestreiten würde:268 Von der Voraussetzung aus, dass jeder Mensch als Subjekt
267 S. o. Kap. 2. 268 Vgl. Lampe (2009), in dessen ersten Sätzen sich bereits die innere Widersprüchlichkeit des Konstruktivismus offenbart: „Aufbauend auf der den naiven Realismus verabschiedenden Negativerkenntnis, dass Wahrnehmen und Erkennen nicht in einer gesicherten Abbildbeziehung zur ontischen Realität stehen, auch verfeinerte Erkenntnismethoden nicht zu einer gesicherten Annäherung an diese Realität zu führen vermögen, heißt die konstruktivistische Grundthese: Das Subjekt stellt seine Wirklichkeit her. Es konstruiert sie. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des Gehirns. […] Gegenstand unseres Beschreibens ist nicht die ontische Realität, sondern die von uns konstruierte Wirklichkeit. Letztere wird von unserem Gehirn hervorgebracht; dieses entwickelt alle Unterscheidungen, die unsere Erlebniswelt, die phänomenale Welt, ausmachen“ (ibd., 186; Kursive Lampe). Erstens überwindet der Konstruktivismus nicht den naiven Realismus, weil er immer noch davon ausgeht, dass es objektive Realität gibt, die freilich – gemäß konstruktivistischer Dogmatik – unerreichbar sein ‚muss‘. Woher weiß man jedoch überhaupt, dass es eine solche objektive Realität geben soll? 2. Die vermeintliche Flucht aus dem naiven Realismus führt in einen Subjektivismus: „Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des Gehirns.“ Es gibt also nur die subjektiv ‚zusammengebaute Wirklichkeit‘. 3. Und diese ist natürlich nichts Geistiges, sondern nur noch ein Produkt des menschlichen Körpers, welcher wundersamerweise ein Gehirn ausbildet, welches – als Körper – noch wundersamererweise Geistig-Begreifbares zusammenkonstruiert. 4. Folglich gibt es nur noch Konstrukte verschiedener Ordnung, jedoch: „Eine Aussage über die Distanz eines Konstrukts zur ontischen Realität ist dem Konstruktivismus zufolge prinzipiell unmöglich“ (ibd., 191). Begriffen werden keine Sachgehalte mehr, sondern nur „Datenmaterial“ (ibd., 189). Lampes „Modellfall Auferstehung“ selbst ist dann nur noch ein abstraktes „Datenmaterial“, das, seines theologischen Gehalts beraubt, zu einem beliebigen „Modellfall“ degeneriert und von den alles unterschiedslos zermalmenden Mühlen des Konstruktivismus ‚entsorgt‘ wird. Dagegen hilft auch kein beschönigender Schlusssatz mehr: „Mit der Erkenntnis, dass Geschichtsschreiben immer ein Teil der Konstruktion gegenwärtiger Wirklichkeit ist, verträgt sich durchaus die traditionelle theologische Position, dass ich als Theologe Jesusgeschichte, will ich ihrem Anspruch gerecht werden, nicht ohne die ‚emische‘ Perspektive des Betroffenseins kommunizieren kann – in diesem Falle eines Betroffenen, der mit der Gegenwart eines erhöhten und lebendigen Kyrios rechnet (ibd., 193). – Aus rein geschichtswissenschaftlicher Perspektive sollte die Defizienz des konstruktivistischen Modells anhand des folgenden Beispiels ersichtlich sein: Würde man als „Modellfall“ nicht die dem Zeitgeist inzwischen ‚entsorgbar‘ erscheinende Auferstehung Jesu ‚beliebig wählen‘, sondern den Holocaust, dann wäre sehr schnell klar, dass man sich – aus guten Gründen – eine derartige ‚historische Nonchalance‘ keinen Augenblick länger leisten könnte: Vor der Behauptung, der Holocaust sei ein subjektives Konstrukt, über dessen historische Objektivität man nichts sagen könne, würden – hoffentlich – auch Konstruktivisten (noch) zurückschrecken. (Zudem stünde eine solche Behauptung, die einer Leugnung doch recht nahe käme, zumindest in Deutschland – zum Glück – unter Strafe.) Allerdings: Der immer größer werdende historische Abstand zu den Ereignissen könnte gemäß dem konstruktivistischen Modell schon in absehbarer Zeit, wenn der Schrecken des Naziregimes in beträchtliche Ferne gerückt wäre, auch im Falle des Holocaust zu ähnlich absurden konstruktivistischen ‚Einschätzungen‘ führen. Wäre dies nicht wenigstens ein Anlass, die philosophisch-erkenntnistheoretischen Defizienzen des Konstruktivismus aufzuarbeiten? Mit weltgeschichtlich bedeutsamen, kulturell-gesellschaftlich prägenden historischen Zäsuren, die von Zeitzeugen bezeugt werden oder worden sind, wäre ein behutsamerer Umgang vielleicht empfehlenswert, auch im Sinne der Achtung vor den „Betroffenen“: Zeugen und Opfern. – Als philosophische Alternative zu konstruktivischen Ansätzen vgl. die Neuinterpretation der aristotelischen Erkenntnistheorie von Bernard (1988) und Schmitt (2003: 215–340).
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völlig autark die Kriterien seiner Weltbetrachtung ‚entwirft‘ und sich entsprechend die Welt ‚zusammenkonstruiert‘, erscheint auch das, was einen Tisch zum Tisch macht, nur als subjektives Konstrukt eines bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit. Der Platonismus leugnet diese Denkweise nicht kategorisch: Denn natürlich kann das, was unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten an einem Tisch begreifen, nicht nur differieren, es kann auch kulturell-zeitlich unterschiedlich geprägt und insofern historisch, d. h. in eine bestimmte Zeitspanne, einzuordnen sein. Es besteht für den Platonismus jedoch zugleich die gut begründete Möglichkeit, dass solche unterschiedlichen Menschen, ausgehend von ihren differenten Lebensbedingungen, das ergon von ‚Tisch‘, ‚Haus‘, ‚Dreieck‘ etc. spezifisch und insofern auch als ein selbiges Wesen erfassen, das aber – als umfassendes Wesen – nie einer Einzelinstanz von Tisch (etc.) inhäriert, sondern in dieser nur partikulär aufscheint, als es selbst aber universell im Sinne eines begreifbaren Eidos subsistiert (wobei es eine weiterführende Frage wäre, ob solchen verschiedenen Eidê unbedingt derselbe ontologische Status zukäme: ‚Tisch‘ und ‚Haus‘ erscheinen eher als logoi technikoi, während ‚Dreieck‘ eine rein als sie selbst begreifbare, intelligible Idee darstellt269). Das wichtige Resultat dieses langen Vorlaufs besteht also darin: Aus platonischer Perspektive sind nicht alle Akte menschlichen Begreifens vom Inhalt des Begriffenen her betrachtet immer schon gebunden an einen einzelnen historischen Ort, weil der Inhalt des Begriffenen, insofern er eidetischer Natur ist, selbst nicht an eine einzige Zeitstelle bzw. Zeitphase gekoppelt sein muss und vor allem nicht als völlig autarke Projektion bzw. Konstruktion eines Subjekts gelten kann bzw. muss. Dass ein Tisch dazu dient, etwas auf ihn zu stellen; dass ein Haus die Funktion erfüllt, vor widrigen Umwelteinflüssen zu schützen; dass das Dreieck-Sein letztlich darin besteht, eine geradlinig-ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein – all dies vermag ein Mensch zwar selbst, subjektiv zu erfassen, er legt aber diese Spezifika nicht einfach autark fest (ein euklidisches Dreieck kann nicht die Innenwinkelsumme von drei rechten Winkeln umfassen). Während eine moderne, historisch-kritische Wirklichkeitsbetrachtung das intellektive Begreifen wie auch die intelligiblen, eidetischen Bestimmungen gleichsam selbstverständlich (um nicht zu sagen ‚unkritisch‘) als Produkt des menschlichen Bewusstseins betrachtet und daraus die einer nicht unerheblichen Hypothek gleichkommende These ableiten zu können meint, dass es ausschließlich historisch bedingte Begriffe und Wesensbestimmungen gebe,270 gelangt ein platonisches Wirklichkeitsverständnis zu der Auffassung, dass man genau darauf achten und differenzieren muss, was jeweils ein Produkt historisch gewachsener Singularitäten ist und was – auf der Ebene des intelligiblen Seins – die Bedingungen der Zeitlichkeit möglicherweise transzendiert. Nur 269 Vgl. analog Drews (2018: 48) zu Platons Beispiel von der ‚Idee des Betts‘. 270 S. o. Anm. 268 und vgl. den dem Thema „Konstruktion von Wirklichkeit“ gewidmeten Band von Schröter/Eddelbüttel (2004). Zur historischen Bedingtheit der Begriffe vgl. ibd., 79–80.
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diese Überlegungen weisen überhaupt einen philosophisch-argumentativ begründeten Weg hin zu der Annahme, dass jenseits zeitlich-historischer Realität eine ewige, göttliche Wirklichkeit bestehen könnte. Im Hinblick auf die Bibelexegese ergibt sich also vor dem Hintergrund platonisch-kritischer Wirklichkeitsauffassung: Nicht jede Deutung – besonders eines theologischen, also die höchste, göttliche Wirklichkeit umkreisenden Textes – muss als ihr alleiniges Fundament einen historischen Ort haben bzw. in die Abfassungszeit des Textes ‚eingeordnet‘ werden. (Kritisch betrachtet, erscheint dies ohnehin als ein schwieriges Unterfangen, weil Textdatierungen je nach gerade vorherrschender Wissenschaftsmeinung changieren können und weil kaum belastbar zu begründen wäre, dass eine bestimmte Deutung wirklich zu einer bestimmten Zeit vorgenommen worden ist bzw. sein muss – dies ist kaum beweisbar und bleibt letztlich historische Spekulation, wie schon das Problem vermeintlich eindeutiger Datierbarkeit zeigt.271) Vielmehr ist zu differenzieren zwischen solchen Deutungen und Begriffsinhalten, die klar an eine bestimmte Zeit gebunden bleiben (dies trifft z. B. zweifellos auf Irrtümer, überholte Meinungen zu), und solchen, die darüber hinaus einen zeitunabhängigen begrifflichen Gehalt einkreisen. Wenigstens mit dieser philosophisch-kritisch begründeten Differenzierung sollte auch bei Augustinus gerechnet werden. Hinzu kommt, dass die Ergründung des geistig-intelligiblen, wahren und ewigen Seins nicht nur eine wissenschaftliche Begründung dafür liefert, weshalb überhaupt in rational verantworteter Weise von Gott gesprochen werden kann, sondern für Augustins Bibelexegese zugleich auch die Systemstelle markiert, weshalb er in seiner Exegese tatsächlich mit dem Wirken des Heiligen Geistes rechnet: Ohne eine philosophische Begründung, weshalb überhaupt rein geistiges Sein angenommen werden sollte, bliebe diese Voraussetzung völlig nebulös und müsste dann tatsächlich als historisch einzuordnendes, seltsames Konstrukt spätantiken Denkens erscheinen. Dass eine solche Abqualifizierung zu kurz greift und in sich unbegründet ist, sollten die vorangegangenen Überlegungen andeuten. Zurück zum Text der Genesis: Während also aus historisch-kritischem Blickwinkel jegliche spezifisch christliche Deutung des hebräisch-alttestamentlichen Verses: „Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild“ (Gen 1, 26), als ‚historisch spä-
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Als ein besonders prominentes Beispiel dafür, wie sich innerhalb der philologischen Forschung die Datierung einer ganzen Gattung verschoben hat, kann der antike Roman gelten: Während man früher Heliodor für einen frühen und Chariton für einen späten Vertreter dieser Gattung angesehen hatte, gilt heute das Gegenteil, vgl. Morgan (1996: 417) und Paulsen (2004: 372). Hinsichtlich dieser Datierungsfragen spricht Holzberg (2006: 39) daher zu Recht von „Wahrscheinlichkeitsüberlegungen“. – Mit Bezug auf Augustinus hält Pollmann (2008: 110, Anm. 44) fest, dass z. B. aus fehlenden Bezügen zwischen Werken „nicht zwingend auf eine bestimmte Chronologie […] geschlossen werden kann.“ Dies gelte ferner auch „for his exegesis […] of Gen. 3, 18, a fact which makes it impossible to establish a relative chronology of Augustine’s works on the basis of the type of exegesis he employs in any particular case“ (Pollmann 2010: 84).
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tere Überformung‘ gelten muss, stellt sich auf der Basis der vorausgegangenen Überlegungen die Situation für einen Augustinus grundlegend anders dar. Augustinus rechnet mit dem wahren intelligiblen Sein, welches als es selbst keine historische Existenz meint, sondern als wahres Sein zugleich ewig und nur deshalb auch in Identität mit sich selbst begreifbar ist.272 Dieses wahre Sein eignet gemäß der philosophisch begründeten Überzeugung des Kirchenvaters Gott selbst, der als Schöpfer aller Seienden und Lebenden diese transzendiert und in sich selbst pulsierendes, unvergängliches Leben ist und dessen innere schöpferisch-liebende Dynamik im nizänischen Trinitätsdogma festgehalten ist: Gott ist wesentlich – also seiner Natur und seinem Sein nach – Einer, gleichwohl in der Einheit der drei sich wechselseitig durchdringenden Personen Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist.273 Weil dieses Dogma zusammenfasst, was sich für Augustinus einerseits philosophisch begründen lässt und andererseits zur Realität des geschichtlich verortbaren Christus-Ereignisses passt, stellt nur deshalb – und somit auf philosophisch-argumentativ abgesicherte Weise – für den Kirchenvater es keinen hermeneutisch-methodischen Fehler dar, auch einen alttestamentlichen Text mit diesen systematisch-theologischen Inhalten zu konfrontieren. Da Augustinus die Frage, was der (vermutete) historische Autor des Buchs Genesis bei der Abfassung des Verses Gen 1, 26 gedacht und gemeint haben könnte, für nicht beantwortbar hält und als eher müßige Spekulation274 erachtet, jedoch zugleich mit einer „Fülle sehr wahrer Meinungen“275 über den Bibeltext rechnet, deren Wahrheit in der Inspiration des durch den biblischen Text zu dem gläubigen Christen sprechenden Heiligen Geistes garantiert ist,276 ist für ihn die Frage, inwiefern überhaupt der historische jüdische Autor auf das spätere christliche Trinitätsverständnis vorausblicken konnte, letztlich wenig zielführend. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass der Kirchenvater kaum ‚blind‘ dafür gewesen sein dürfte, dass das Judentum natürlich keinen trinitarischen Monotheismus vertritt. Entscheidend ist für ihn vielmehr Folgendes: Das Rätsel um den Plural des Verses Gen 1, 26 im Zusammenhang damit, dass der Text trotzdem sogleich wieder eindeutig von dem einen Gott als Schöpfer spricht (V. 27), lässt sich im Sinne eines trinitarischen Monotheismus stimmig lösen. D. h. methodisch, dass Augustinus hier gar nicht – was ihm die historische Kritik freilich trotzdem massiv vorwerfen würde – ein historisch späteres Interpretament in den alttestamentlichen Text zu importieren intendiert bzw. dies zu tun meint: Der Kirchenvater muss und will gar nicht zu diesen Kategorien greifen, wonach ein ‚später‘ verortbarer Inhalt unzulässigerweise in einen ‚früheren‘ Text eingeführt würde, weil er aus guten
272 Der philosophischen Sache nach berührt sich Augustinus hier mit dem Vorsokratiker Parmenides aus Elea, vgl. Drews (2018: 20–23, 264). 273 Zur philosophischen Basis von Augustins Trinitätstheologie s. Drews (2018: 258–266). 274 S. o. Kap. 4. 275 S. o. Anm. 31. 276 S. o. Kap. 8 und Anm. 55.
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Gründen277 nicht davon ausgeht, dass jeder Interpret einfach nach Belieben seine Interpretation ‚zusammenkonstruiert‘ bzw. rein subjektiv mittels einer autark agierenden Einbildungskraft seine ‚Deutung(en)‘ entwirft. In besonderer Weise würde Augustinus eine solche Vorstellung im Hinblick auf den Gottesbegriff ablehnen, da Gott nicht von Gnaden des Menschen sein Sein beziehen kann, sondern umgekehrt der Mensch von Gott geschaffen ist – eine „Gotteserfindung“278 kann es für den Kirchenvater sinnvollerweise nicht geben, sehr wohl aber eine ‚Gottesfindung‘.279 Die vordringliche hermeneutische Frage, welche sich der Kirchenvater stellt, lautet daher ausschließlich: Welche philosophisch-argumentativ begründete Erklärung lässt sich am besten mit dem Wortlaut des biblischen Textes in Einklang bringen, welche Auslegung wird dem Text so, wie er überliefert ist und ‚da steht‘, am besten gerecht und ist zugleich in systematischer Hinsicht theologisch fundiert und abgesichert? Nur wenn diese Fragestellung als Leitlinie seines exegetischen Bemühens ernst genommen, stringent verfolgt und ihr eine hermeneutische ‚Daseinsberechtigung‘ zugestanden wird, nur dann kann wirklich verstanden werden, weshalb Augustinus – scheinbar mühelos – die Verse Gen 1, 26–27 mit dem christlichen Trinitätsdogma zu verbinden weiß: Dabei verweisen die Worte „nach unserem Bilde“ (ad imaginem nostram) auf die Einheit der Trinität – der Mensch wird nicht nach dem Bilde des Vaters oder des Sohnes oder des Heiligen Geistes geschaffen, sondern nach dem Bilde des drei-einigen Gottes. Gottes Einheit werde durch den folgenden Vers unterstrichen: „Und Gott machte den Menschen, nach dem Bilde Gottes machte er ihn“ (et fecit deus hominem, ad imaginem dei fecit eum), denn dies sei gemeint im Sinne von: „Gott machte nach seinem Bilde“ (fecit deus ad imaginem suam), wie Augustinus präzisierend interpretiert.280 Dabei ist wiederum zu beobachten, wie genau der Kirchenvater dem ihm überlieferten, auf die griechische Septuaginta-Fassung zurückgehenden Text folgt und diesen zu interpretieren weiß: Dem theologischen Sinn nach steht das Interpretationsergebnis 277 S. o. die einleitenden Ausführungen dieses Kapitels. 278 Zu erinnern wäre im Sinne einer „Gotteserfindung“ an das berühmte Diktum Voltaires: „Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer“ (Épitre à l’auteur du livre des trois imposteurs, 1770), außerdem – sicher nicht unabhängig davon – z. B. an den letzten Satz der Tetralogie Joseph und seine Brüder von Thomas Mann: „Und so endigt die schöne Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern“ (Roman IV, S. 541). 279 Dies würde auch noch angesichts von Augustins Gnadenlehre gelten: Wenn der Mensch Gott findet, so wurde er dabei, ohne dass es ihm vermutlich zunächst bewusst war, schon von Gott geleitet. Der Mensch hat auch für den sog. ‚späten Augustinus‘ klarerweise immer noch einen existentiell bedeutsamen Spielraum seines freien Willens: Wenn er das (objektiv) Gute will, so will er dies im Einklang mit Gottes Führung; er kann aber auf jeden Fall sich der Führung Gottes widersetzen, sich von ihm abkehren, so dass beide Male das Freiheitsmoment gewahrt bleibt (genauer dazu s. Drews 2009: 185–238). 280 Gn. litt. III, 19; 84,20–86,4. Dass der Mensch zum Abbild des dreieinigen Gottes – und nicht ‚nur‘ des Sohnes‘ – geschaffen wird, markiert einen Unterschied zur Auslegung eines Origenes (s. dazu Drews 2018: 243), aber auch zu Augustins eigener früherer Exegese (s. Teske 2009: 271–8 und Kamimura 2014: 16–18; ferner Tábet 1993: 479).
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sogar im Einklang mit dem Vulgatatext, der ebenfalls das präzisierende, am hebräischen Text (bezalmo) orientierte suam enthält: Et creavit Deus hominem ad imaginem suam (Gen 1, 27). Die Frage, in welcher Hinsicht das ad imaginem suam zu verstehen ist, beantwortet Augustinus dahingehend, dass es sich dabei selbstverständlich nicht um „körperliche Umrisse“ (corporis liniamenta) handele (unmöglich ist dies schon vom Gottesbegriff her: wenn Gott unkörperlich ist, kann die Abbildrelation zu ihm nicht in etwas Körperlichem bestehen). Im Vers Gen 1, 26b erblickt der Kirchenvater einen Hinweis dafür, dass der Abbildcharakter allein in der geistigen Begabung des Menschen zu suchen ist – nur deshalb sei ihm nämlich die Herrschaft über alle vernunftlosen Tiere (animalia rationis expertia) geschenkt.281 Die Vernunftbegabung umgrenzt der Kirchenvater etwas unscharf, indem er die Begriffe ratio, mens, intellegentia synonym dafür gebraucht: Während platonisch präziser zwischen diskursivem Denken (ratio, dianoia) und dem die Sache selbst ergreifenden Erkennen (intellectus, nous) unterschieden werden sollte, umfasst dieser gesamte Bereich des rationalen bis intellektiven Erkennens für Augustinus die spezifisch menschliche Erkenntnisbegabung, aus welcher sich alle übrigen dem Menschen eigentümlichen Fähigkeiten (z. B. zur Mathematik, Musik, Literatur, Arztkunst) ableiten. In philosophischer Hinsicht pflichtet Augustinus so der aristotelischen Bestimmung des Menschen als animal rationale et mortale bei (von welcher trotz gradueller Abstufungen dieser Potenz kein Mensch grundsätzlich ausgeschlossen ist).282 Zugleich begründet er seine Argumentation aber auch theologisch mit einem neutestamentlichen Schriftzitat: Der „innere“ bzw. „neue Mensch“ (2 Kor 4, 14–18)283 wird gemäß dem Kolosserbrief (3, 10) „angezogen und erneuert zur Erkenntnis gemäß dem Abbild dessen, der ihn geschaffen hat.“ Abbildhaftigkeit und Erkenntnis erscheinen so schriftgemäß miteinander gekoppelt: Die Erkenntnis des neuen Menschen vollzieht sich gemäß der ursprünglichen (bzw. durch Christus wiederhergestellten) Abbildhaftigkeit des Menschen in Relation zu Gott. Die „Erkenntnis gemäß dem Abbild“, also gemäß der dem Menschen eigenen, durch Christus wieder zu sich selbst befreiten Vernunftbegabung,284 beinhaltet zugleich Gotteserkenntnis, wenn die menschliche Ratio sich als Abbild ihres Schöpfers, also Gottes, begreift und sich so „gemäß dem Abbild dessen, der ihn geschaffen hat“, entfaltet. Die allgemeine philo-
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Daraus sollte nicht geschlussfolgert werden, dass Augustinus in die Reihe derjenigen eingereiht werden könnte, welche Tiere einfach als ‚Automaten‘ bzw. ‚Maschinen‘ abqualifizieren (zu Descartes und Kant s. Bernard 1988: 229–230, Anm. 32). Augustinus unterscheidet zwar die Vernunftbegabung im spezifischen Sinne als Wesen des Menschen, spricht aber z. B. den Tieren andere seelische Begabungen zu wie Sinneswahrnehmung und auch Formen des Wollens bzw. Erstrebens (vgl. Drews 2009: 49–50, ferner 2013a). 282 Vgl. dazu Drews (2018: 75–77). Auch bei sog. ‚geistig behinderten‘ Menschen lässt sich eine rationale Begabung nachweisen (ibd., Anm. 224). 283 Zur Stelle vgl. Drews (2018: 190–1). 284 Vgl. Gn. litt. III, 20; 87, 15–19.
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sophische Bestimmung der Vernunftbegabung als Spezifikum des Mensch-Seins ist daher für Augustinus ergänzungsbedürftig: Es geht nicht nur um die ‚mens an sich‘, sondern der Mensch zeichnet sich aus durch eine „bestimmte intelligible Form des erleuchteten Geistes“ (forma quadam intellegibilis mentis inluminatae).285 Der Geist des (gefallenen) Menschen bedarf, um zum erneuerten und somit zugleich ursprünglichen Abbild Gottes zu werden, der hinzukommenden Erleuchtung durch Christus bzw. Gottes Gnade – ein theologischer Gedanke, der sich schon für die neutestamentliche Theologie eines Paulus nachweisen lässt.286 Der aufmerksame Exeget bemerkt in den Versen Gen 1, 26–27, dass sich die Erschaffung des Menschen ohne ein „Und es wurde/geschah so“ vollzieht. Diese Merkwürdigkeit hatte Augustinus schon bei der Erschaffung des „Himmels und der Erde“ (Gen 1, 1) behandelt und dahingehend interpretiert, dass unter dem „Himmel“ die geistige Kreatur (der Engel) erschaffen wurde, die ihre Erleuchtung durch das Fiat lux (Gen 1, 3) erhalte: Auch die Engel werden nicht einfach nur erschaffen, sondern müssen als vollendete Geschöpfe zu ihrem Schöpfer zurückgewendet werden durch die Erleuchtung. Die Worte „Und Gott machte“ fehlen gemäß dem Kirchenvater aber zu Recht, weil sowohl die Erschaffung wie auch die vollendende Rückwendung der Engel sich nicht in etwas anderem, in keiner körperlichen Materie vollziehen, sondern in ihrem Sein als intelligible bzw. intellektbegabte Geschöpfe. Dagegen ist bei den ‚irdisch-materiell‘ verwirklichten Kreaturen immer die Differenz zwischen einerseits ihrem logos-gemäßen Hervorgedachtwerden als begrifflich-ontologisch so bestimmte Geschöpfe durch Gottes Logos im geschaffenen Licht, d. h. im primären Erkanntwerden dieser Kreaturen durch die Engel, und zwischen andererseits ihrer sekundären materiellen Verwirklichung zu bedenken: Ersteres werde durch die Worte „Und es wurde/geschah so“ markiert, Letzteres durch die Worte „Und Gott machte“.287 Diese in früheren Überlegungen durch subtile Exegese und philosophische Schärfe gewonnenen, wichtigen Ergebnisse erweisen sich auch jetzt mit Blick auf die Erschaffung des Menschen als fruchtbar. Denn als erstes Geschöpf überhaupt habe das als intelligibel verstandene Licht bzw. hätten die erleuchteten Engel „Anteil an der ewigen und unveränderlichen Weisheit Gottes“ (facta lux intellectualis particeps aeternae atque incommutabilis sapientiae dei): Augustinus macht noch einmal explizit, dass sich die Erschaffung des (Engel-)Lichts als des ersten Geschöpfs nicht in etwas anderem 285 Gn. litt. III, 20; 86, 5–17. 286 Vgl. 2 Kor 4, 6–7 und dazu Drews (2018: 189–190). 287 S. o. Kap. 4 und 10. Augustinus wiederholt diese Zusammenhänge am Ende des zwanzigsten Kapitels des dritten Buchs (Gn. litt. III, 20; 87, 21–26). Dass die Engel also – als geschaffenes Licht bzw. geschaffene Intellekte – in ihrer Intellekterkenntnis die irdisch-materiellen Geschöpfe vorher erkennen (im Sinne eines sachlichen Früher), bevor diese als Körperwesen geschaffen werden, kann auf der Ebene der Engel als Analogie dafür verstanden werden, wie Augustinus letztlich auch das göttliche Allwissen als zeitfreies, ewiges, das Zeitliche komplexiv überblickendes ‚Vorherwissen‘ begreift (vgl. Drews 2009: 167–238).
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vollzieht bzw. nicht gemäß dem „Und Gott machte“ erst materiell verwirklicht werden muss, um abgeschlossen zu sein, sondern als erschaffenes Licht bereits in sich selbst vollendet ist, weil in diesem geschaffenen Licht die Erkenntnis von Gottes Logos geschieht, durch welchen es überhaupt geschaffen und so von seiner Ungeformtheit zum formend-vollendenden Schöpfer „zurückgewendet/bekehrt“ wird (ipsa primo creabatur lux, in qua fieret cognitio verbi dei, per quod creabatur, atque ipsa cognitio illi esset ab informitate sua converti ad formantem deum et creari atque formari).288 Dagegen bezeichne das „Und es wurde/geschah so“ gemäß der Interpretation der Augustinus vorliegenden Genesis-Übersetzung289 das Erkanntwerden des jeweiligen, neu hervorgebrachten Geschöpfs im Geist-Licht der Engel, während das „Und Gott machte“ die Entstehung der Gattung/Art (genus) zum Ausdruck bringe. Wenn nun bei der Erschaffung des Menschen in Gen 1, 26–27 die Worte „Und es wurde/geschah so“ fehlen, so markiert dies einen wichtigen Unterschied zu der Art und Weise, wie zuvor z. B. die Himmelskörper, Pflanzen und Tiere hervorgebracht wurden. Für Augustinus ist dies kein Zufall: Denn qua seiner Vernunftbegabung gleiche der Mensch den Engeln. Als geistige Natur (natura intellectualis) wird auch der Mensch nicht erst in etwas anderem, in einer Materie verwirklicht, sondern ist in sich selbst als Geistwesen bereits vollendet wie die Licht-Engel durch das Fiat lux: Deshalb sei das „Werden (fieri) für sie [sc. die geistige menschliche Natur] das Erkennen von Gottes Logos, durch den sie wird“ (quia et ipsa natura scilicet intellectualis est sicut illa lux, et propterea hoc est ei fieri, quod est agnoscere verbum dei, per quod fit).290 Schöpfungstheologisch wird hier bestätigt, was philosophisch-anthropologisch zuvor abgeleitet wurde: Das Mensch-Sein im spezifischen Sinne ist die Geistbegabung des Menschen. Dieses Ergebnis ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Erstens kann Augustinus nur deshalb zu diesem schöpfungstheologisch bemerkenswerten Resultat gelangen, weil er zuvor die Abbildhaftigkeit des Menschen in Relation zu Gott strikt im Hinblick auf die Vernunftbegabung erklärt hat, wodurch zugleich die anthropologisch wichtige Grundlegung vollzogen ist, dass keine bloß körperlichen Besonderheiten (wie z. B. die Hautfarbe) einen Menschen zu einem ‚besseren Abbild Gottes‘ erheben können. Zweitens ermöglicht, wie nun deutlich wird, gerade die systematisch-theologische Bestimmung, dass der Mensch nur als animal rationale Abbild Gottes ist, eine schlüssige Lösung des exegetischen Problems, dass die Worte „Und es wurde/geschah so“ in Gen 1, 26–27 fehlen. Erneut greifen Systematik und Exegese eng ineinander. Drittens kann der Kirchenvater hier exemplarisch zeigen, wie und warum die Prämisse der Inspiriert-
288 Gn. litt. III, 20; 86, 21–27. 289 Zu den Besonderheiten dieser Fassung s. o. den Schluss von Kap. 10. 290 Gn. litt. III, 20; 86,18–87,10. Vgl. zur Vervollkommnung der rationalen Kreatur (als geistiger Natur) durch die Erkenntnis [sc. des Logos]: quia vero et ista rationalis creatura est, et ipsa eadem agnitione perfecta est (Gn. litt. III, 20; 87, 14–15). Vgl. Catapano/Moro (2018: 369).
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heit der Schrift291 durch den Heiligen Geist gerade an dieser Stelle berechtigt erscheint: Wenn das Wesen des Menschen philosophisch-anthropologisch sinnvollerweise als animal rationale bestimmt wird, dann ist der Interpretationshorizont für die Wirklichkeit des Geistes geöffnet, und zwar sowohl mit Blick auf die Ähnlichkeit der Geschöpfe Mensch und Engel als primär geistige Kreaturen wie auch auf Gottes Geist hin. Dass ausgerechnet eine solche Interpretation, die vom Aspekt der Vernunftbegabung ihren Ausgangspunkt nimmt, dann auch ein exegetisches Problem einer Lösung zuführt (warum fehlen bestimmte Schöpfungsworte?), zeigt, unter welchen Umständen dieser zu einem prägnanten Bibelverständnis führende Quell zu ‚sprudeln‘ beginnt: unter der Voraussetzung einer philosophisch begründeten geistigen Wirklichkeitsdimension, die schlüssigerweise Engeln und Menschen zugesprochen werden kann und welche zugleich die einzig rationale Basis darstellt, auf der ein Exeget überhaupt eine Schriftinspiration zu (be-)gründen vermag. Lösen nun ausgerechnet philosophische Argumente für die Wirklichkeit des Geistes exegetische Probleme, greifen Exegese und Systematik also ineinander und schließen einen biblischen Text von innen her auf, dann erscheint die Wirklichkeit des Geistes als inspirierende Quelle und Ursache für diese fruchtbare Symbiose nicht mehr nur als ein ‚Postulat‘, sondern wird konkret während der Exegese erahnbar – jedenfalls auf den Fährten, welche Augustinus in De Genesi ad litteram abschreitet. Der Umkehrschluss gilt jedoch ebenfalls: Wer zu ‚wissen‘ meint, dass es keine eigene Wirklichkeit des Geistes gibt bzw. dass diese historisch-kritisch und naturwissenschaftlich (etwa evolutions- und neurobiologisch) wegerklärt werden muss,292 wird keine Abbildhaftigkeit des Menschen zu Gott mehr sehen, weder mit Gott selbst noch mit einer göttlichen Inspirationsquelle rechnen, vielleicht auch nicht das Fehlen bestimmter Schöpfungsworte in Gen 1, 26–27 erklären können. In seiner Exegese der nun folgenden Verse findet Augustinus eine Spannung zu dem von ihm gerade erarbeiteten Interpretationsergebnis: Wenn das Mensch-Sein im spezifischen Sinne die Geistbegabung des Menschen ist, wieso werden ihm dann sogleich die samentragenden Pflanzen als Nahrung zugewiesen (Gen 1, 29) und der Auftrag zur Vermehrung (Vers 28) erteilt, die doch nur durch körperliche Vereinigung von Mann und Frau möglich erscheint? Beide Aspekte – die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme und der sexuellen Vereinigung – entsprächen der Natur des Menschen, wie sie nach dem Sündenfall (verändert) vorliegt. Gemäß seiner Grundüberzeugung, dass der Sündenfall nicht prädeterminiert, also in sich nicht notwendig und schon gar nicht göttlicherseits verursacht ist,293 kann die in sich gut erschaffene Menschennatur, von deren Hervorbringung der Schöpfungsbericht erzählt, nicht dieselbe sein wie die später durch den Fall depravierte: Daher weist Augustinus vorsichtig das möglicherweise implizite, dem Leser gar nicht bewusste Missverständnis zurück, man könne den 291 S. o. Anm. 55. 292 S. o. Anm. 17 und 19. 293 S. o. Kap. 7 und 13.
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Menschen als Geschöpf nur so begreifen, wie er eben als irdisches Körper-Wesen ‚uns‘ immer schon bekannt sei.294 Unter der Voraussetzung, dass der prälapsarische Mensch sich vom gefallenen grundsätzlich unterscheide, erwägt der Kirchenvater, dass es bei „unsterblichen Leibern“ eine andere Form der Zeugung von Kindern geben könnte, ohne dass „Begierde zu etwas Verwesendem“ (nulla corruptionis concupiscentia) im Spiel wäre noch dass Kinder als Nachfolger ihrer gestorbenen Eltern fungierten und selbst sterben müssten. Analog komme auch das Bedürfnis nach Nahrung nicht zwingend nur sterblichen Leibern zu.295 Entsprechend dem oben schon angeklungenen Verweis auf den „inneren“ bzw. „neuen Menschen“ (2 Kor 4, 14–18; Kol 3, 10), der „angezogen und zur Erkenntnis gemäß dem Abbild dessen, der ihn geschaffen hat, erneuert“ werden soll,296 erwägt Augustinus im Folgenden die Deutung, dass mit der Erschaffung des Menschen in Gen 1, 27 allein der rein geistige, innere Mensch (interior homo) gemeint sein könnte in Unterscheidung zur Hervorbringung seiner körperlichen Existenz in Gen 2, 7, wobei sich das Erschaffen (fecit) auf die geistige Dimension (spiritus) beziehe und das Bilden (finxit) auf den Körper (corpus).297 Diese ‚rein geistige‘ Interpretation verwirft der Kirchenvater jedoch umgehend, weil sie sich nicht mit dem Text vereinbaren lässt: Nach Gen 1, 27 wird der Mensch als Mann und Frau erschaffen, wodurch eine körperliche Konstitution bereits an dieser Stelle der Bibel vorausgesetzt sei. Denn obwohl dem Apostel zufolge (1 Kor 11, 7) „gemäß figürlicher Rede“ (figura) – im Kontext der Frage, warum die Frau im Gottesdienst eine Kopfbedeckung tragen solle – „nur der Mann Abbild und Ruhm Gottes, die Frau dagegen Ruhm des Mannes“ sei, spricht sich Augustinus sogleich explizit dafür aus, dass, unbeschadet der körperlichen Verschiedenheit von Mann und Frau, beide gleichermaßen geistbegabt, Frau und Mann in der Hinsicht des Geistes nicht unterschiedlich erschaffen seien. So gelte für die Frau in selbiger Weise, dass sie „im Geist ihres Intellekts (in spiritu mentis suae) erneuert werde (Eph 4, 23) 294 Auch Aristoteles weist bereits (freilich in einem anderen Kontext und natürlich unabhängig von Bibelexegese und christlicher Theologie) darauf hin, dass das Eidos ‚Mensch‘ immer „in Fleisch und Knochen“ erscheine; diese seien aber nicht Teil des Eidos und der maßhaften Bestimmtheit (logos), sondern der Materie: Als Menschen seien wir nur nicht in der Lage, das Eidos davon abzutrennen, weil es nicht an anderer Materie realisiert werde (metaph. 1036b3–7). Der Sache nach ist das mutatis mutandis das Problem, welches auch Augustinus oben erörtert: Nur weil die in Sünde gefallenen Menschen keine andere Menschennatur als die gefallene, ‚normal-irdisch‘ körperliche kennen, heißt dies nicht, dass es kein Mensch-Sein in einer nicht-gefallenen Weise geben könne: Jedenfalls rechnen beide Denker, der pagane Philosoph wie auch der Kirchenvater, damit, dass sich das Mensch-Sein grundsätzlich auf verschieden realisierte Weise zeigen könnte, in unterschiedlichen Materien bzw. gemäß einem ursprünglichen oder einem gefallenen Status. 295 Gn. litt. III, 21; 88, 1–19. 296 Gn. litt. III, 20; 86, 12–15. 297 Diese begriffliche Differenzierung lässt sich bis zum hebräischen Urtext zurückverfolgen: Im ersten Schöpfungsbericht heißt es bara’ („er schuf “, von der Wurzel b-r-’), im zweiten dagegen waj-jizzär („und er gestaltete, bildete“, von der Wurzel j-z-r); in der Septuaginta analog epoiêsen bzw. eplasen.
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zur Erkenntnis gemäß dem Abbild dessen, der geschaffen hat,298 wo nicht Mann und Frau ist“ (ubi non est masculus et femina). Die Geistbegabung sei also von der Anlage her bei Frau und Mann „identisch“ und der Grund, weshalb die Frau gleichermaßen „nach dem Abbild Gottes geschaffen“ sei.299 Die von Mann und Frau in grundsätzlich identischer Weise – d. h., ohne dass es von der Schöpfungsanlage her hier bereits eine Differenz gäbe – geteilte Vernunft präge sich in zwei körperlich verschiedenen Geschlechtern aus: Wegen der „Einheit der Verbindung“ (propter unitatem coniunctionis) habe Gott den Menschen nach dem Abbild Gottes geschaffen, und diese Abbildhaftigkeit des Menschen manifestiere sich „allein“ in der Vernunftbegabung. Es sei jedoch falsch, daraus ableiten zu wollen, der erste Schöpfungsbericht spräche deshalb nur von einem ‚Geist-Menschen‘, weshalb hinzugefügt sei: Gott „machte den Menschen, als Mann und Frau machte er sie“ (Gen 1, 27). Augustinus würdigt also ausdrücklich und nebeneinander sowohl die leibliche Dimension des Menschen wie auch seine Abbildhaftigkeit gemäß seiner Geistbegabung. Zugleich wehrt er das Missverständnis, der erste Mensch sei ein androgynes Zwitterwesen, ab: Der Singular („den Menschen“) sei um der „Einheit der Verbindung“ willen gewählt sowie deshalb, weil die Frau, wie später in der Genesis zu lesen sei, „vom Mann her gemacht“ sei (de viro mulier facta est). Das später „sorgfältiger“ (diligentius) Explizierte sei gleichwohl hier schon angedeutet durch den Plural: „als Mann und Frau machte er sie und segnete sie.“300 Den Schluss des dreißigsten Verses: „Und es wurde/geschah so“ würdigt Augustinus einer besonderen Betrachtung, denn diese Schöpfungsworte beschließen die Weisung, welche Nahrung dem Menschen und welche den Tieren zugeteilt ist (Gen 1, 29–30). „Und es geschah so“ bringe zum Ausdruck, dass der Mensch diese Weisung erkannt habe (cognovit) – nicht aber, dass die Menschen sogleich auch gegessen hätten: Sonst nämlich wäre, so Augustinus, gemäß der „Gewohnheit der Schrift“ (consuetudo scripturae) der Akt (operatio) des Essens extra erwähnt worden: „Und sie empfingen und aßen.“301 Diese Deutung scheint auf den ersten Blick nicht gerade zwingend: Wieso soll das charakteristische Schöpfungswort: „Und es wurde/geschah so“ ausgerechnet die Tatsache bezeichnen, dass der Mensch die Weisung verstanden habe, und nicht Gottes 298 Im Unterschied zur obigen Stelle Gn. litt. III, 20; 86, 12–15 lässt Augustinus hier, was im Lateinischen möglich ist, explizit das Pronomen eum („ihn“) aus und bezieht so die Erneuerung des Menschen neutral auf beide Geschlechter. 299 Gn. litt. III, 22; 89, 9–18. 300 Gn. litt. III, 22; 88,19–90,7. Eine literale Exegese von Gen 1, 27 muss die leibliche Dimension des Mensch-Seins miteinschließen – dies ist der Grund, weshalb De Genesi ad litteram liber imperfectus genau an der Stelle abbricht, wo der Schluss von Gen 1, 27 („als Mann und Frau“) auszulegen gewesen wäre (s. Teske 2009: 276). Als weiteren Grund für den Abbruch des Werks betrachtet Kamimura (2010: 234): „At the time when he started attempting his first literal reading, Augustine could not open himself to the possibility of expounding the Scriptures as both according to history and according to allegory“ (= Kamimura 2012: 142, spanische Übersetzung desselben Artikels). 301 Gn. litt. III, 23; 90,8–91,7.
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Weisung selbst? Im Kontext von Augustins bisheriger Exegese ergeben sich jedoch wichtige Kongruenzen, welche diese Interpretation als stimmig erweisen: Erstens hatte der Kirchenvater schon zuvor die Worte: „Und es wurde/geschah so“ immer als Hinweis auf die im Licht der Engel (als erstem Geschöpf überhaupt) geschehende intellekthafte Erkenntnis des Zu-Erschaffenden begriffen,302 noch bevor dieses materiell realisiert wird (ausgedrückt in den Worten: „Und Gott machte“). Da er zuvor schon die Erschaffung des Menschen mit derjenigen der Engel parallelisiert und dies dadurch begründet hatte, dass der Mensch allein qua seiner geistigen Natur Abbild Gottes (Gen 1, 27) sei und als solche – wie die Engel – nicht erst in etwas anderem, in einer Materie verwirklicht werde, ergibt, zweitens, die Deutung der Worte: „Und es wurde/geschah so“ in Gen 1, 30 als Hinweis darauf, dass der Mensch die Weisung Gottes erkannt habe, einen guten Sinn, da diese Worte auch jetzt den Erkenntnisakt einer intellekthaften Kreatur zum Ausdruck bringen: Während zuvor als erstes jeweils die Engel das aus Gottes gleichewigem Logos Zu-Erschaffende intellektiv begreifen und diese Erkenntnis in den Engeln „geschieht“ („Und es geschah so“), bringen dieselben Worte nun die analoge Erkenntnis der Weisung in den Menschen zum Ausdruck. Dies erscheint stimmig, da Engel und Menschen grundsätzlich eine intellekthafte Geistbegabung gemeinsam haben, die als solche nur ihnen zukommt, wenngleich – wie der Kirchenvater zuvor gerade erklärt hatte – der Mensch (im Unterschied zu den Engeln) kein ausschließlich geistiges Geschöpf, sondern zugleich auch Körperwesen sei. Drittens ist das Fehlen einer Aussage wie ‚Und sie empfingen und aßen‘ im Hinblick auf die intellekthafte Natur des Menschen passend: Dieser ist eben nicht nur ein Körperwesen und empfängt sein aktuales Sein qua Mensch – anders als Pflanzen, Tiere, Gestirne – nicht allein durch die körperlich-materielle Verwirklichung; er muss also auch nicht erst real etwas essen, um Mensch zu sein und der Weisung Gottes zu entsprechen, sondern primär entscheidend ist das aktuale Begreifen (und das damit verbundene An-Erkennen) dieser Weisung. Viertens zeigt der allgemeine Duktus von Augustins Interpretation, dass mit dieser vermeintlichen ‚Beschränkung‘ auf die rein geistige Ebene gerade keine ‚Reduktion‘ bzw. ‚blutleere Abstraktion‘ gemeint ist:303 Das intellekthafte Begreifen ist keine gegenüber einem aktualen Verzehr von Nahrung realitätslose Worthülse, es ist auch keine bloß abstrakte oder ‚artige‘ Zustimmung zu Gottes Gebot. Speziell vor dem Hintergrund, dass das „Und es wurde/geschah so“ bei allen zuvor genannten Schöpfungsakten die primäre, vor der materiellen Hervorbringung des Zu-Erschaffenden sich ereignende Erkenntnis desselben in den Engeln meint, wird deutlich: Das intel-
302 S. o. Kap. 10. 303 Für Augustinus gilt eben nicht, dass Begriffe immer erst sinnlich zu machen wären, bevor sie realitätshaltig werden können (so Kant, KrV, B 74–75). Allgemein kennt der Platonismus mit dem inhaltlich bestimmten, wahren Sein der Ideen eine in sich selbst konkrete, inhaltlich prägnante geistige Wirklichkeit (s. o. Kap. 2).
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lekthafte Begreifen ist selbst ein lebendiger Schöpfungsakt, ist Ereignis, ja gleichsam die ‚Initialzündung‘, bevor körperlich-materiell Existierendes überhaupt wird. Insofern ist, fünftens, der Sinn des dreißigsten Verses dann auch ein viel prägnanterer: Es geht nicht nur um ein ‚diktatorisches‘ Gottesgebot, welche Nahrung wer essen darf, nicht um eine bloße ‚Regel‘, welche Mensch und Tier dann wie Marionetten zu befolgen hätten. Für Augustinus ist vielmehr das aktuale sowie freie Gehört- und Erkanntwerden dieser Weisung entscheidend, nicht ihre sozusagen ‚gewaltsame Durchsetzung‘: Wie das Werden der Geistnatur das Erkennen von Gottes Logos, durch den sie wird, ist,304 so wird Gottes Weisung erst in ihrem intellekthaften Begriffenwerden durch die Geschöpfe auch aktual Weisung. Schließlich wird sechstens deutlich, dass ein so, im Sinne Augustins verstandenes Schöpfungsgeschehen sich dialogisch vollzieht: Gott schafft nicht einfach, was er will, sondern ist auf sein Gehört- und Verstandenwerden durch seine Kreaturen aus – keinen anderen Sinn könnte das Insistieren Augustins auf der Intellektbegabung der Engel und Menschen haben. Das Begreifen ist aktuales Erkennen und so zugleich Antwort auf Gottes schöpferischen Akt: Nicht umsonst hatte der Kirchenvater die neuplatonische Trias Verharren – Hervorgang – Rückwendung/ Bekehrung im biblischen Schöpfungsbericht wiedererkannt305 – die Rückwendung, welche sich gemäß Augustinus als erstes bei den Engeln im Fiat lux, d. h. in der seinsspezifischen Formung durch die Lichtwerdung als ‚Bekehrung‘ zum Schöpfer ereignet, ist höchste Lebendigkeit, intelligibles Licht-Ereignis, dem mehr Seinsfülle innewohnt als den späteren Körperwesen, welche nur ein für die geistige Wirklichkeit blinder Positivist als ‚eigentliche‘ bzw. ‚einzige Realität‘ ausgeben kann. Gleichwohl hatte bei Augustinus die Ergründung der geistigen Dimension des Mensch-Seins nicht dazu geführt, die Erschaffung des Menschen als Körper-Wesen zu leugnen – vielmehr hält der Kirchenvater diesbezüglich eine sehr ausgewogene Balance. Eine besondere Schwierigkeit bei der Interpretation des sechsten Schöpfungstages stellt die Tatsache dar, dass zwar die an diesem Tag erschaffenen Tiere als „gut“ befunden werden (Gen 1, 24–25), nicht aber der Mensch. Augustinus stellt entsprechend fest, dass doch auch dem Menschen dieses Prädikat „zunächst einzeln“ (primo singillatim) hätte zugesprochen werden können. Scheinbar ratlos erwägt der Kirchenvater, ob vielleicht wegen des Abschlusses des ganzen Schöpfungswerks nur insgesamt konstatiert werden konnte, dass „alles sehr gut“ ist (Gen 1, 31). Verdienten die Tiere, separat als „gut“ ausgezeichnet zu werden, der Mensch als Gottes Abbild dagegen nur „zusammen mit den übrigen“? Oder war der Mensch noch nicht „vollkommen“, weil er noch nicht ins Paradies gesetzt war? Wird er nur deshalb zusammen mit den anderen Geschöpfen gut genannt, weil Gott vorherwusste, dass der Mensch zukünftig sündigen und nicht in seiner spezifischen Abbildhaftigkeit verbleiben würde? Mit dieser Vermu-
304 S. o. zu Gn. litt. III, 20; 87, 9–10. 305 S. o. Kap. 4.
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tung verlässt Augustinus zunächst die literale Exegese und erwägt eine prophetische Allegorie, die er oben schon einmal aus methodischen Gründen, und zwar auch im Zusammenhang mit dem späteren Sündenfall, abgelehnt hatte.306 Es scheint, als ob er an dieser Stelle jedoch keinen anderen Ausweg als Sinngebung für diese Besonderheit im Text sieht: Schließlich verbleibe die übrige Schöpfung in ihrer seinsspezifischen Gutheit, entweder weil diese Geschöpfe nicht sündigten oder nicht sündigen konnten und so als einzelne „gut“ und zusammen „sehr gut“ waren. Schließlich sei z. B. auch das Auge an sich gut, aber nur in der Gesamtheit des Körperganzen „sehr gut“. Der Mensch verliere zwar durch den Sündenfall seinen „spezifischen Schmuck“ (decus proprium), falle aber trotzdem nicht aus der göttlichen Gesamtordnung: Zwar sei er nur davor auch „in seiner Art durchaus gut“ (in suo genere utique bonus) – genau dieses erwähne die Schrift jedoch nicht, um stattdessen lieber Zukünftiges anzudeuten. Nach dem Fall sei der Mensch nur noch mit allen anderen gemeinsam gut, nicht aber als einzelnes Geschöpf. Über diesen argumentativen ‚Umweg‘ kann Augustinus nun doch noch wieder zu einer literalen Deutung dieses schwierigen exegetischen Problems zurückkehren: In „maßvoller“ Weise betone die Schrift eben sowohl die allgemeine Gutheit des Menschen zusammen mit allen anderen Geschöpfen am Anfang der Schöpfung (denn dies sei ja auch vor dem Sündenfall wahr, wo die Gutheit des Menschen an sich unstrittig und natürlich zusammen mit den übrigen Geschöpfen noch größer sei: „sehr gut“), als auch verweise sie zugleich auf Gottes Vorherwissen zukünftigen Geschehens (moderatum est itaque, ut id diceretur, quod et in praesenti verum esset et praescientiam significaret futuri). Gott aber sei „der beste Schöpfer der Naturen, der gerechteste Ordner der Sünder“ (naturarum optimus conditor, peccantium vero iustissimus ordinator),307 so dass auch, wenn etwas für sich genommen seine gute Seinsform einbüße, es immer noch zusammen mit allen anderen schön sei.308 Damit fasst Augustinus nichts Geringeres als die wesentlichen Koordinaten seiner Vorsehungstheorie sowie Theodizee zusammen: (1) Nicht der Sündenfall selbst ist etwas Gutes, sondern das Geschöpf in seiner ursprünglichen Geschaffenheit. (2) Nicht der Sündenfall ist notwendig, sondern das Vorher- bzw. Allwissen Gottes, welches auch das von Gott nicht selbst Verurachte (wie z. B. Sünden) umgreife. (3) Nicht bedarf Gott also des Sündenfalls für die Schönheit seiner Schöpfung, sondern er ordnet das von ihm nicht gewollte Schlechte – im Sinne seines providentiellen Gut-Wirkens – wieder in die gute Schöpfungsordnung ein, so dass diese ingesamt trotzdem gut bleibt, ohne dass deshalb das Schlechte im Nachhinein zu etwas Gutem deklariert würde. (4) Denn die ‚gute Einordnung des Bösen und Schlechten‘ zielt ultimativ auf dessen Überwindung und ‚Wieder-gut-gemacht-Werden‘, hat also einen soteriologischen Impetus,
306 S. o. Kap. 7. 307 Vgl. o. Kap. 7 mit Anm. 130. 308 Gn. litt. III, 24; 91,8–92,27.
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insofern Christus das Böse entmachten und die Auferstehung der alten Welt in das zukünftige Heil initiieren wird.309
309 Detailliert erarbeite ich die hier nur kurz umrissene Providenzlehre Augustins in Drews (2009: 1–238), dort ebenfalls thesenhaft zusammengefasst ibd., X–XI. Vgl. auch Mendelson (1998: 55) zu „Augustine’s long-standing concern to provide an anti-Manichaean theodicy that defends the Christian view of creation without making God responsible for evil.“
15. Sechs Tage – wie und warum? Maß, Zahl und Gewicht: Der ontologische Status eidetischer Bestimmungen und ihre Abhängigkeit von dem transzendent-unpartizipierbaren Gott Das vierte Buch von De Genesi ad litteram kommt erneut auf die Fragen zu sprechen, auf welche Weise die ‚Tage‘ in dem Sechstagewerk zu verstehen und warum es ausgerechnet sechs an der Zahl seien (plus den siebenten Ruhetag).310 Obwohl Augustinus die Intention des Autors sonst wenig kümmert311 und er stattdessen gern von der „Intention der Schrift“ spricht,312 die eben eine höhere Form der Intentionalität als die singuläre eines einzigen Autors zu beinhalten und auch mehrere Deutungsvarianten in sich zu umgreifen vermag, kommt er hier auf die voluntas scriptoris zu sprechen – nur um hinzuzufügen, wie schwer in diese beim Übergang des ersten zum zweiten Kapitel der Genesis „einzudringen“ sei (penetrare). Wie schon zuvor, hinterfragt der Kirchenvater ohne Umschweife, ob die Tage des ersten Schöpfungsberichts tatsächlich „vorübergegangen“ seien (praeterierint) oder nur dem Wort nach wiederholt werden, denn viele Tage kämen, den vorangegangenen ähnlich, wobei keiner in identischer Weise wiederkehre. Augustinus hält es offenbar für möglich, dass die Tage in ihren „selbigen sachlichen Bedingungen verharren“ (in ipsis rerum conditionibus maneant), so dass nicht nur bei den ersten drei Schöpfungstagen – bevor die Gestirne hervorgebracht und überhaupt so etwas wie Zeiten im herkömmlichen Sinne existent werden –, sondern bei allen sechsen insgesamt das Wort ‚Tag‘ in der „seinsspezifischen Eidos-Form (species) der Sache, die erschaffen wird“, verstanden werden sollte, ‚Nacht‘ dagegen als „Beraubung“ (privatio) bzw. „Schwinden“ (defectus) von seinsspezifischer Formung.313
310 311 312 313
Zu diesen Fragen s. bereits oben Kap. 11 und 7. S. o. Anm. 55 sowie Kap. 4 und 8. Vgl. o. Kap. 10. Gn. litt. IV, 1; 93, 8–21.
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Der Kirchenvater drückt sich hier etwas weniger deutlich aus – zumindest bleibt unklar, wieso die Nacht rein negativ als Privation eingestuft wird: In den vorangegangenen Büchern hatte Augustinus zumindest darauf verwiesen, dass jede Form der Veränderlichkeit immer schon einen Aspekt der Ungeformtheit impliziere und die Nacht dahingehend gedeutet, dass nicht einmal die Formlosigkeit außerhalb der Schöpfungsordnung bleibe, sondern in Letztere von Gott integriert werde und die so ‚geordnete Nacht‘ nicht mehr mit dem reinen Mangel zu verwechseln sei.314 Nichtsdestoweniger wurden auch zuvor bereits die Termini ‚Tag‘ und ‚Nacht‘ im Sinne des platonischen Eidos respektive als unbestimmte Materie verstanden – also als vorausliegende Prinzipien, derer sich der Schöpfer zur Entfaltung seines Werks bedient.315 Bei der Deutung der Begriffe ‚Abend‘ und ‚Morgen‘ wiederholt Augustinus seine früheren Ausführungen:316 ‚Abend‘ bezeichne bei allen Geschöpfen „gleichsam die bestimmte Grenze der vollendeten Erschaffung, ‚Morgen‘ dagegen den Anfang einer beginnenden [sc. Erschaffung]“ (vespera vero in omnibus perfectae conditionis quasi terminus quidam sit, mane autem incipientis exordium).317 Wie schon des Öfteren bemerkt, zeichnet sich Augustins exegetische Praxis und hermeneutische Methode dadurch aus, dass sie einerseits den biblischen Text in seinem Wortlaut ernst nimmt und diesen entweder im geistig-intelligiblen oder ereignishaften Sinne auslegt und andererseits die Textexegese in den Kontext systematisch-theologischen Fragens einbettet, also den textlichen Gehalt mit philosophischen bzw. theologischen Theoremen konfrontiert und umgekehrt, so dass beide Ansätze einander fruchtbar begegnen können: Mit einer strikten fachlichen Separierung von Exegese und (systematischer) Theologie, wie sie an modernen Fakultäten üblich ist, könnte der Kirchenvater – aus guten Gründen – nichts anfangen. Daher hört De Genesi ad litteram – von Augustins eigener Methode her betrachtet – auch nicht auf, ein Genesis-Kommentar zu sein, wenn er sich nun einer zahltheoretischen Betrachtung widmet: nämlich der Frage, weshalb das Schöpfungswerk in seinen ‚Tagen‘ durch die Zahl ‚sechs‘ gegliedert sei. Die wichtigsten Punkte dieser arithmetischen Erörterung seien hier zusammengefasst: Zunächst weist Augustinus darauf hin, dass die Zahl ‚sechs‘ die erste vollkommene Zahl sei, weil sie durch ihre Teile vollständig gemacht werde. Zwar seien auch andere Zahlen aus anderen Gründen vollkommen, aber die ‚Sechs‘ sei das Produkt ihrer Teile, also 1 × 2 × 3 = 6, und natürlich auch die Summe ihrer Teile, also: 1 + 2 + 3 = 6. Im Vergleich mit anderen Zahlen und der Frage, inwiefern ihre Teile addiert oder multipliziert sich zum Ganzen der Zahl verhalten, weist Augustinus die besondere Vollkommenheit
314 315 316 317
S. o. Kap. 7. S. o. Kap. 11. S. o. Kap. 7 und 11. Gn. litt. IV, 1; 93,27–94,1.
15. Sechs Tage – wie und warum?
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der Zahl ‚Sechs‘ nach.318 Danach lasse sich erst wieder die Zahl 28 aus der Summe ihrer Teile konstituieren (1 + 2 + 4 + 7 + 14 = 28). Entsprechend der aus Nikomachos’ Arithmethik bekannten Terminologie bezeichnet Augustinus die Zahlen, deren Teilzahlensumme weniger als das Ganze der Zahl ausmachen, als „unvollkommene“ (inperfecti), diejenigen, deren Teilzahlensumme mehr als das Ganze der Zahl ausmachen, als „übervollkommene“ (plus quam perfecti).319 Augustinus stellt abschließend fest, dass Gott seine Schöpfung durch eine „vollkommene Zahl von Tagen vollendet“ habe – die Sechszahl. Wie diese sich „schrittweise zum Dreieck erhebt“ (sicut enim idem numerus gradatim partibus suis in trigonum surgit) – die Zahlen 1 und 2 ergeben zusammen die erste Dreieckszahl (3) und figurieren durch Hinzufügung der Zahl 3 sodann die zweite Dreieckszahl (6) –,320 so sei an Tag eins das Licht, an zwei Tagen der „Bau dieser Welt“ (fabrica mundi huius), d. h. das obere Firmament am zweiten und am dritten Tag der untere Teil geschaffen worden, nämlich Meer und Erde (inklusive der sich nicht örtlich bewegenden Pflanzen). An den übrigen drei Tagen – vier bis sechs – seien alle Geschöpfe hervorgebracht worden, die sich innerhalb des „sichtbaren Universums“ (universitas visibilis) mit ihren entsprechenden Ortsveränderungen sichtbar bewegen: die Gestirne (Tag vier), die Tiere des
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Dieser Nachweis erscheint einem modernen Leser zunächst ‚naiv‘. Ein solches Urteil erweist sich aber als vorschnell, wenn einmal die besonderen philosophischen Voraussetzungen platonischer Zahltheorie ergründet und beachtet werden, die Augustinus hier anwendet, ohne sie selbst näher zu reflektieren. Eine umfassende Darstellung dieser Zusammenhänge hat Radke (2003) vorgelegt; vgl. z. B. zu den zahltheoretischen Begriffen ‚gerademalgerade‘, ‚gerademalungerade‘, ‚ungerademalgerade‘, ‚vollkommene Zahl‘, ‚übermäßige Zahl‘, ‚defiziente Zahl‘, ‚epimore Zahl‘, ‚epimere Zahl‘, ‚Quadratzahl‘, ‚heteromeke Zahl‘ etc. ibd., 366 ff. sowie Heilmann (2007: 376). Dass Augustinus selbst sich mit zahltheoretischen Fragestellungen intensiv beschäftigt hat, zeigt sein Werk De musica (vgl. Heilmann 2007: 267–272; Radke 2003: 492–3); außerdem habe Augustinus sehr wahrscheinlich die Arithmetik des Nikomachos in einer Übersetzung des Apuleius gekannt (ibd., 493). Zur „allegorischen Zahlendeutung“ und „Auslegung der Sechs in der Genesisexegese“ s. Suntrup (2012). 319 Gn. litt. IV, 2; 94,11–97,18. 320 Zur Konstitution von Dreieckszahlen im Kontext platonischer Zahlentheorie s. Radke (2003: 377): „Die verschiedenen Arten der Dreieckszahlen könnten, so Nikomachos, dadurch aufgefunden werden, daß der erste Term der Quadratzahlen zu dem ersten Term der heteromeken Zahlen hinzuaddiert werde; dann der erste Term der heteromeken Zahlen zu dem zweiten Term der Quadratzahlen; dann der zweite Term der Quadratzahlen zu dem zweiten Term der heteromeken Zahlen usw.: also (1+2=) 3; (2+4=) 6; (4+6=) 10; (6+9=) 15 usw.“ Radke weist auf die inneren zahlhaften Strukturelemente und Relationen als Konstituenten komplexerer Zahlen (wie Dreieckszahlen) hin, also auf das „Verhältnis […], in dem die durch die Arten von Zahlrelationen ermittelten Erkenntnisse über Eigenschaften und Spezifika von Zahlen zu den in den Figurierungen vermittelten Erkenntnissen über die Möglichkeit der Synthese von komplexen Einheiten stehen“; letztlich entscheidend ist der Aufweis, dass auch eine Dreieckszahl „das Ergebnis einer einfachen Synthese zweier Zahlen [sc. ist], die zueinander im Verhältnis der primären Verschiedenheit stehen“, also auf die ontologische Differenz zwischen 1 und 2 zurückführbar sind (ibd., 378–9). Für den Zusammenhang bei Augustinus genügt es bereits, an den Aspekt der Figurierbarkeit der Dreieckszahlen zu denken (vgl. ibd., 364).
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Wassers (Tag fünf) und die Lebewesen der Erde (Tag sechs).321 Zurückkehrend zu seiner Erwägung am Beginn des vierten Buchs, konstatiert Augustinus, dass wohl niemand bestreiten würde, dass Gott, wenn er es gewollt hätte, auch alles an einem einzigen Tag hätte erschaffen können oder aber an zweien, nämlich die geistige Schöpfung an einem, die sichtbare an einem anderen Tag.322 Die zahltheoretischen Betrachtungen betreibt der Kirchenvater keineswegs nur um einer ‚Spekulation‘ willen, um gleichsam etwas Mysteriöses in das Sechstagewerk hineinzuprojizieren: Vielmehr gebe es eine innere Entsprechung zwischen der „abgestuften“ Schöpfungsordnung, wie sie in den sechs Tagen entfaltet sei, und der inneren Vollkommenheit der Zahl Sechs.323 Unwillkürlich sieht Augustinus das berühmte Schriftwort aus dem Buch der Weisheit bestätigt: „Alles hast du nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (Sap 11, 21). Ebenso unwillkürlich aber taucht für ihn auch die Frage auf, ob „Maß, Zahl und Gewicht“ schon vorher irgendwo existiert haben sollen, bevor die „universale physikalische Natur“ (universa natura324) geschaffen worden sei: Die Seele, welche es vermag, möge dies bedenken, nachdem sie „Gott zur Hilfe gerufen“ habe – die Erkenntnis solcher Geheimnisse kann gemäß dem Kirchenvater nicht ohne Gottes Unterstützung und Gnade gelingen.325 Die Stoßrichtung seiner Frage zielt implizit auf den ontologischen Status eidetischer Bestimmungen und die Frage, ob sich der christliche Gott – als höchster und einziger Gott überhaupt – an etwas orientiert haben könnte, was ihm selbst vorausliegt, wie dies z. B. Platon von dem Demiurgen ausführt, welcher ‚nur‘ die sinnlich-wahrnehmbare, materielle Welt hervorbringt und dabei auf die ihm vorausliegenden, ewigen paradeigmata blickt, nicht aber der höchste Gott selbst ist (das Eine-Gute).326 Augustinus benennt diese philosophisch-theologischen Streitpunkte nicht explizit; klar ist aber für ihn, dass vor der Schöpfung nichts außer Gott, dem Schöpfer, war (neque enim ante creaturam erat aliquid nisi creator). Sollten „Maß, Zahl und Gewicht“ schon vor der Schöpfung gewesen sein, dann müssten sie also in Gott bzw. Gott sein, dennoch sei Gott aber nicht selbst Maß, Zahl und Gewicht, da er als transzendenter Gott nicht pantheistisch seiner Schöpfung inhäriert. Gott könne höchstens in dem Sinne als „Maß, Zahl und Gewicht“ verstanden werden, insofern sein Maß jeder Sache ihr Maß 321 322 323 324
S. o. Kap. 11. Gn. litt. IV, 2; 97,19–98,23. Vgl. Catapano/Moro (2018: 372). Gn. litt. IV, 3; 98, 25–27. Der Zusatz „physikalisch“ erscheint hier notwendig, weil Augustinus mit der „universalen Natur“ freilich nicht pantheistisch alles Seiende schlechthin identifiziert, sondern allein die physikalische Natur meint – in Unterscheidung z. B. zum Sein Gottes und der intelligiblen Ideen (s. dazu bei Augustinus Drews 2018: 266–278). 325 Gn. litt. IV, 3; 98,23–99,7. 326 Platon, Tim. 29a2–6 (vgl. Drews 2018: 27–28). S. auch Suntrup (2012: 214): Augustinus „wehrt […] entschieden die Vorstellung ab, Gott habe die Welt in Abhängigkeit von Zahlengesetzen erschaffen müssen; vielmehr sind die Zahlengesetze gerade der Ausdruck der Weisheit des Schöpfers.“
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vorgibt, seine Zahl die seinsspezifische Form (species), seine Gewichtung jeder Sache ihre Zielgerichtetheit, ihre „wesensgemäße Intentionalität“327 verleiht: So verstanden, würde damit zum Ausdruck gebracht, dass Gott „alles begrenzt, seinsspezifisch formt und ordnet“ (qui terminat omnia et format omnia et ordinat omnia). Eine solche Bestimmung steht nicht nur im Einklang mit der in den ersten drei Büchern bereits entwickelten Theologie,328 sie führt auch, womit Augustinus seinen Gedankengang abschließt, zum „Transzendieren (excedere) alles Messbaren, auf dass eine Maßhaftigkeit ohne Maß aufscheine, zum Transzendieren alles Zählbaren, auf dass eine Zahlhaftigkeit ohne Zahl, zum Transzendieren alles Wägbaren, auf dass eine Gewichtung ohne Gewicht erscheine.“329 Hinter Augustins hymnischer Sprache steht ein entscheidender argumentativer Duktus, der sich im Vergleich mit einer Passage aus dem zeitgleich zu De Genesi ad litteram verfassten opus magnum De Trinitate genauer herausschälen lässt.330 Der Kirchenvater setzt hier nichts Geringeres voraus als den platonischen Teilhabe-Gedanken und vermag diesen – gerade auch in Abgrenzung zu Platons Timaios, wie gerade gesehen – im christlich-theologischen Kontext sinnvoll zu entfalten:331 Wie wir also [sc. bei der göttlichen Trinität] nicht von drei Substanzen/Wesen (essentiae) sprechen, so sprechen wir [sc. auch] nicht von drei Großheiten noch von drei Großen. Bei den Dingen nämlich, welche durch Partizipation an der Großheit (magnitudo) groß sind, denen als etwas Verschiedenes (aliud) das Sein (esse) zukommt, als etwas [sc. wiederum] Verschiedenes das Groß-Sein (magnas esse) wie ‚großes Haus‘, ‚großer Berg‘ und ‚großer Geist‘ (animus), bei diesen Dingen also ist etwas Verschiedenes die Großheit, etwas [sc. wiederum] Verschiedenes das, was von dieser Großheit her groß ist, und mit einem Wort ist nicht dieses die Großheit, was ‚großes Haus‘ ist. Sondern jene ist die wahre Großheit, durch die nicht nur das Haus, welches groß ist, ‚groß‘ ist, und durch die jeder beliebige große Berg ‚groß‘ ist, sondern durch die auch ‚groß‘ ist, was immer sonst groß genannt wird, so dass einerseits etwas Verschiedenes die Großheit selbst ist, andererseits etwas Verschiedenes diese Dinge, die von jener her ‚groß‘ genannt werden. Diese Großheit jedenfalls ist primär groß und auf weitaus überragendere Weise als diese Dinge, welche durch Partizipation an ihr ‚groß‘ sind. Gott aber, weil er nicht durch diese Großheit ‚groß‘ ist, welche nicht ist, was er selbst [sc. ist] – als ob Gott an ihr partizipieren sollte, wenn er groß ist (sonst wird jene Großheit größer sein als Gott; im Vergleich zu Gott ist aber nicht irgendetwas größer) –, ist also durch diejenige Großheit ‚groß‘, aufgrund der er selbst [sc. durch sein Gott-Sein] eben diese Großheit ist. Und wie wir deshalb nicht von drei Sub-
327 328 329 330 331
Vgl. dazu Beierwaltes (1969: 58 ff.). S. Gn. litt. I, 17; 24,17–25,15 (s. o. Kap. 7) sowie III, 24; 92, 24 (s. o. Kap. 14). Gn. litt. IV, 3; 99, 7–27. Zur Chronologie der Werke s. Fuhrer (2004: 61–62). Das Folgende ist eine Zusammenfassung meiner andernorts dargestellten Ausführungen zur platonischen Teilhabe-Ontologie bei Augustinus (Drews 2018: 258–266).
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stanzen sprechen, so auch nicht von drei Großheiten; dieses Sein (esse) nämlich kommt Gott zu, welches [sc. zugleich von sich selbst her] Groß-Sein (magnum esse) ist. Aus eben diesem Grund sprechen wir nicht von drei Großen, sondern einem Großen, weil Gott nicht durch Partizipation an der Großheit groß ist, sondern durch sich selbst als Großen ‚groß‘ ist, weil er selbst seine Großheit ist. Dasselbe sei auch über Gottes Gutheit, Ewigkeit und Allmächtigkeit gesagt und überhaupt über alle Prädikate, die über Gott ausgesagt werden können, wovon in Hinsicht auf ihn selbst gesprochen wird, nicht auf übertragene Weise (translate) und gemäß einem Gleichnis (per similitudinem), sondern in eigentümlicher Weise (proprie), wenn denn überhaupt über Gott in eigentümlicher Weise irgendetwas aus menschlichem Munde gesagt werden kann. – Soweit aber in eigentümlicher Weise von jeweils einzelnen [sc. Prädikaten] in derselben Trinität die Rede ist [sc. die nur eine einzelne Person der göttlichen Dreifaltigkeit betreffen], sind sie überhaupt nicht in Hinsicht auf sich selbst, sondern in wechselseitig-relationaler Hinsicht [sc. der trinitarischen Personen untereinander] oder in Hinsicht auf die [sc. Relation Gottes zu seiner] Schöpfung gemeint, und deshalb ist offenkundig, dass diese [sc. einzelnen Prädikate] relational und nicht substantial gemeint sind (trin. V, 10, 11; 217,1–11, 12; 218,4).
Als Schöpfer aller Seienden überragt Gott seine Geschöpfe. Das Überragen ist also ein Zeichen seiner Größe. Wäre es nun sinnvoll, zu sagen, dass Gott seinerseits an der Großheit im Sinne einer platonischen Idee der Größe partizipiert? Augustinus verneint dies: Die Idee der Größe bzw. des Großseins, wie sie etwa einem Haus oder einem Berg anteilhaft zukommen mag, kann nur als in Gott selbst, insofern er alles Seiende überragt, bereits impliziert oder von ihm prinzipiiert/abgeleitet gedacht werden; sie kann nicht qua Großheit noch über Gott selbst stehen, denn sonst müsste sie ja gleichsam der höchste Gott sein. Gott aber ist mehr, ‚größer‘ als nur groß – z. B. gerecht, gut, ewig etc., wie Augustinus darlegt. Nicht erst durch Partizipation an der Idee der Großheit ist Gott folglich groß – die Ebene der Partizipation transzendiert er, weil er alle Attribute wie Größe, Ewigkeit, Allmacht nicht durch sekundäre Anteilhabe, sondern aus sich selbst qua seiner Seinsfülle als einziger Gott besitzt. Wäre Gott aber ein bloß Anteilhabender an ihm überlegenen Wesen bzw. Bestimmungen, wäre er kein wahrer Gott, sondern stünde ontologisch auf der Ebene der von dem Kirchenvater kritisierten ‚falschen Götter‘. Augustinus setzt hier explizit die platonische Partizipationsontologie philosophisch voraus: Denn bei den partikulären Dingen sind ihr wesenhaftes Sein und die ihnen eigenen Attribute voneinander verschieden und fallen – anders als bei Gott – nicht zusammen. Ein Haus ist von seinem Wesen her ‚Haus‘; ob es abgesehen davon auch noch groß ist, ist von seinem Wesen, d. h. seinem Haus-Sein her, nicht zwingend. Erst im Vergleich mit anderen Häusern oder anderen kleineren bzw. größeren Gegenständen ist zu entscheiden, ob ein Haus als ‚groß‘ gelten kann; tut es dies, hat es zusätzlich zu seiner Wesensbestimmung als Haus Anteil an der intelligiblen, rein begreifbaren Idee der Großheit, welche es im Vergleich zu etwas anderem groß sein lässt. Das Gleiche gilt
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von einem hohen Berg; sogar bei einem „großen Geist“ lässt sich erst im Vergleich mit anderen denkenden Wesen erschließen, ob er zusätzlich zu seinem Wesen als Geist das Attribut ‚groß‘ verdient, insofern er andere Geister durch seine Denkleistung überragt. Ursache des Überragens ist bei allen Beispielen jeweils die Großheit; diese aber ist – als platonisches Eidos – zu unterscheiden von denjenigen Dingen, denen sie insofern und ausschließlich nur dann beiwohnt, als diese im Vergleich zu anderen Dingen groß sind: Es ist die partizipierte Großheit, welche als eidetisches Bestimmungsmoment einem Zugrundeliegenden (wie ‚Haus‘, ‚Berg‘) zukommen kann. Denn die Großheit selbst liegt als intellektiv begreifbarer Sachunterschied nicht in dem Haus- oder Berg-Sein begründet, noch kann ein einzelnes Haus der absolute Gradmesser von Größe sein. Idee und Instanz sind daher zu unterscheiden: Die Großheit ist kein Haus, und kein Haus ist die Großheit. Überragender als alles einzelne Große ist die Großheit selbst im Sinne einer platonischen Idee: Sie kommt anteilhaft all dem zu, was als Einzelnes andere Singularitäten überragt; ihnen beiwohnend macht die Idee der Größe Einzelnes zu etwas Großem, welches dann an der Idee der Größe bzw. Großheit partizipiert. Auf Gott, Ursache allen Seins, treffe diese Teilhabe an (eidetischem) Sein jedoch nicht zu: Gott partizipiert nicht an Sein, sondern ist als das absolute Sein Schöpfer aller Seienden. Als solcher kann er nicht an der Idee der Großheit partizipieren, auf dass er groß werde – sonst wäre die Idee größer als Gott und Gott nicht mehr Schöpfer allen Seins. Vielmehr sei Gottes Großheit kein bloßes, sekundäres Attribut, welches einem Wesen (wie einem Haus) zukommen könne oder auch nicht, sondern seinem Wesen qua Gott immer schon eigen: Gott ist also kein großer Gott im Sinne einer Addition des Gott-Seins plus Größe, sondern er ist qua Gott diese seine wesenseigene Großheit: Gottes Sein ist immer schon Groß-Sein, wie Augustinus sagt, ebenso wie Gut-Sein, Ewig-Sein, Allmächtig-Sein. Gerade durch die Tatsache, dass Gott nicht anders denn als gut und ewig und groß etc. denkbar ist, wird deutlich, warum der drei-einige Gott qua seiner Wesenseinheit (homoousios) unterschiedslos einer und ein Wesen, nämlich das Sein selbst als Quell des geschaffenen Seins aller Seienden ist: Dem Sein selbst können diese Prädikate nur als Einheit eignen, nicht als Qualitätsmerkmale, die seinem Wesen erst akzidentell zukämen. In De Trinitate erörtert Augustinus also den partizipationslogischen und -ontologischen Zusammenhang zwischen (a) Gottes unpartizipierter Transzendenz als des einen, wahren, seienden Gottes, der immer schon alle seine Geschöpfe überragt, und (b) der partizipierbaren Idee der Größe und (c) den durch diese Partizipation an ihr großen Instanzen. Diese Differenzierung steht der Sache nach im Einklang mit der historisch später greifbaren Unterscheidung, welche der Neuplatoniker Proklos in seinem Theorem über die Teilhabe mit den drei Termen (a) amethekton, (b) metechomenon und (c) metechon ableiten sollte.332 Für den Kontext von De Genesi ad litteram
332
S. dazu Drews (2018: 101–184).
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fällt von hier aus ein Licht darauf, weshalb Augustinus einerseits nicht einfach „Maß, Zahl und Gewicht“ (Sap 11, 21) in Gott selbst hineinverlegt: Gott ist nicht dasselbe wie Maß, Zahl und Gewicht eines bestimmten Geschöpfs, er hat auch von sich selbst her nicht ein bestimmtes Maß, Zahl und Gewicht. Gott ist daher nicht identisch mit den eidetischen Bestimmungsmomenten, gemäß welchen er seine Schöpfung „begrenzt, seinsspezifisch formt und ordnet“. Andererseits ist aber auch ersichtlich, dass genau diese Bestimmungsmomente nicht ohne Gott ‚gleichsam von allein‘ bestehen. Mit seiner Abgrenzung zur Theologie des Timaios kann der Kirchenvater sozusagen mit Platon eine gleichwohl pagan-platonische Denkfigur umgehen: Insofern Gott selbst nicht Maß, Zahl und Gewicht ist oder hat, aber qua seines Gott-Seins Maß, Zahl und Gewicht als von den Dingen partizipierte Ideen hervorbringt, braucht Augustinus den Ideen zwar kein separates Sein zuzusprechen, kann sie aber als Bestimmungsmomente für die Geschöpfe zugleich aufrechterhalten und stark machen in dem Sinne, dass Gott selbst zwar diese Bestimmungsmomente Maß, Zahl und Gewicht transzendiert, sie jedoch eingefaltet in sich umgreift (wie analog die Zahl 1 alle späteren aus ihr entfalteten zahlhaften Bestimmungen) und sie im Schöpfungsakt entfaltet in seine Schöpfung hinein. Diesen partizipationsontologischen Begründungszusammenhang deutet der Kirchenvater in De Genesi ad litteram nur an, rekurriert jedoch deutlich auf die Ergebnisse, welche aus ihm resultieren. Trinitätstheologisch können die eidetischen Bestimmungen Maß, Zahl und Gewicht nicht zuletzt als in Gottes schöpferischem Logos, der zweiten trinitarischen Person, umfasst gedacht werden. Die Wortwahl in De Genesi ad litteram zeigt nicht zuletzt, wie hymnische Sprache und philosophischer Gehalt hier eine innere Einheit bilden – auch dies steht in gut neuplatonischer Tradition.333 Entsprechend der gerade anhand von De Trinitate erläuterten Differenzierung zwischen (a) Gottes unpartizipierter Transzendenz, (b) der partizipierbaren Idee der Größe und (c) den durch diese Partizipation an ihr großen Instanzen erläutert Augustinus im folgenden Kapitel von De Genesi ad litteram Beispiele, wo sich in der Schöpfung Instanzen der partizipierten Bestimmungen von Maß, Zahl und Gewicht finden lassen: Maß z. B. bei Körpern, aber auch im ethischen Handeln; Zahl bestimme die Erleidungen und Tugenden der Seele, auf dass sie von „deformierter Dummheit zur Schönheit und Form der Weisheit gelange“;334 Gewicht zeige sich im Willen und der Liebe, insofern Bestimmtes erstrebt oder vermieden, vorgezogen oder hintangestellt werde. Maß, Zahl und Gewicht der „Geiste und Intellekte“ (animorum atque mentium) würden jeweils durch eine andere Art von Maß gezügelt, eine andere Art von Zahl geformt und eine andere Art von Gewicht gezogen. Diese seien das unmessbare Maß, die unzählbare Zahl und das unwägbare Gewicht, die jeweils nicht von „woandersher“ 333 Vgl. Dionysius Areopagita; zu seiner hymnischen Sprache s. Drews (2011: 51–70). 334 Zum Zusammenhang von Zahl- und Seelentheorie sowie Ethik im Platonismus vgl. Drews (2020: 316–7).
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ihr Sein beziehen, sondern als Bestimmungen alles Maß-, Zahl- und Gewichthaften diesem absolut vorausliegen.335 Gemeint ist damit das absolut-transzendente, nicht messbare Maß, die nicht zählbare Zahl und das nicht wägbare Gewicht, welches Gott selbst als schöpferische Vernunft für seine Schöpfung ist. Wie Gott den Geschöpfen transzendent ist, so sind Gottes Maß, Zahl und Gewicht in ihm selbst jeglichem geschöpflichen Maß, Zahl und Gewicht transzendent und unpartizipierbar.336 Augustinus erläutert also genau den Zusammenhang (freilich ohne Aspekte der Partizipationstheorie), die oben in der Passage aus De Trinitate abgeleitet werden konnten. Diesem geistigen Aufschwung entsprechend ermahnt der Kirchenvater seine Leser, dass man Maß, Zahl und Gewicht nur „auf sklavische Weise“ kenne (serviliter), wenn man sie nur „sichtbar“ (visibiliter) kenne. Denn die sinnlich-wahrnehmbaren Instanzen von Maß, Zahl und Gewicht stehen noch nicht einmal auf der geistig-intelligiblen Ebene der Seelen und Intellekte, geschweige denn auf der absolut-transzendenten Gottes. Wer also nur die körperliche Realität kenne, an den geht die Aufforderung: transcendat itaque omne, quod ita novit – „er möge daher alles übersteigen, was er auf diese Weise kenne.“ Es komme darauf an, die aus der untersten Wirklichkeitsebene des „Fleisches“ (caro) bekannten Bestimmungen möglichst auf „jene höheren Seinsebenen zu beziehen“ (transferre ad illa sublimia) – jedoch könne niemand dazu gezwungen werden.337 Es geht Augustinus bei Maß, Zahl und Gewicht also gerade nicht darum, dass man (im modernen Sinn) etwas an einem Körper ‚abmessen‘ kann, äußerliche ‚Daten‘ feststellt oder ‚berechnet‘, sondern Maß, Zahl und Gewicht im geistigen Kontext als dynamische Prinzipien der Seinskonstitution intellektiv begreift: das Maß als Bestimmung einer ethisch guten Handlung, insofern sie von einer inneren Mitte getragen ist und Depravationsformen des Zuviel und Zuwenig vermeidet; Zahl als in sich selbst schöne Einheit aus vielen Einheiten, wie sie die verschiedenen Vermögen der Seele auf- und zueinander ordnet und die Seele so zu einem tugendhaften Habitus, zu seelisch-zahlhafter Schönheit führt; Gewicht als dynamisches Prinzip, insofern die Seele Gutes erstrebt, Schlechtes aber abstößt. Während im körperlichen Bereich vordringlich abstrakt vermessbare, leblose Instanzen von Maß, Zahl und Gewicht beobachtbar sind,338 335 Gn. litt. IV, 4; 100, 1–16. 336 Diese Argumentation ist philosophisch in sich selbst schlüssig und sogar notwendig: Käme die Suche nach dem Prinzip von Maß, Zahl und Gewicht nicht in Gott selbst – als dem höchsten (Über-) Wesen – zu einem Halt, drohte sonst das Problem des sog. ‚dritten Menschen‘, dass ein immer noch höheres Prinzip angesetzt werden müsse und die Suche nach dem Erstprinzip in einen infiniten Regress mündete. Das Problem einer solchen philosophischen Sackgasse wird bereits von Platon und Aristoteles kritisiert und angegangen; nicht zuletzt Aristoteles’ vermeintliche Kritik an einer platonischen Ideenlehre, speziell an einer sog. ‚Abtrennbarkeit‘ (chôrismos) der Ideen, ist wohl darin motiviert, dem ‚dritten Menschen‘ und infiniten Regress zu entgehen (s. Drews 2018: 35–39). 337 Gn. litt. IV, 4; 100,17–101,4. 338 Das bedeutet freilich – auch für Augustinus – nicht, dass das Körperliche radikal verachtet werden sollte, wie dies z. T. in der Stoa propagiert wurde (vgl. Mark Aurel, Med. II, 2; VIII, 38; XII, 1; IV,
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erweisen sich Maß, Zahl und Gewicht auf der Ebene des Seelisch-Geistigen bereits als Prinzipien der Lebendigkeit. Wer diese Ebene nicht zu erreichen vermag, bleibt jedoch „sklavisch“ an ‚Daten‘ der bloßen Körperlichkeit gebunden, erkennt nicht das dynamische Potential von Maß, Zahl und Gewicht für Seele und Intellekt – erst recht bleibt ihm Gottes Transzendenz auch der Ebene der geistigen Kreatur verborgen. All dies steht grundsätzlich im Kontext der Frage, ob die sichtbare Schöpfung – gemäß Römer 1, 20339 – noch „durchsichtig“ ist für die ihr vorausliegenden intelligiblen Bestimmungen, durch welche Gott die Welt hervorbringt und ordnet: Falls nicht, wäre darin ein sehr konkreter Grund dafür zu sehen, weshalb eine dann nur noch positivistisch verstandene Rationalität und Wissenschaft zu einer atheistischen Weltsicht führt – für sie ist die materielle Welt eben nicht mehr durchsichtig auf Gottes Unsichtbarkeit hin, weil sie „sklavisch“ dem Sichtbaren verhaftet bleibt und nicht mehr den sich darin spiegelnden Geist (Gottes und der Menschen) ‚sieht‘ bzw. erkennt. Als transzendente Bestimmungen können Maß, Zahl und Gewicht in Gott nicht selbst ihrerseits ‚nur‘ Geschöpfe sein, weil vielmehr diese nach jenen geordnet und bestimmt sind. Augustinus fasst seine Überlegungen damit zusammen, dass die Schöpfungsordnung nach Maß, Zahl und Gewicht bedeute, dass die Geschöpfe jeweils seinsspezifisch Maß, Zahl und Gewicht besäßen und zugeteilt bekämen. Dies aber impliziere eben nicht, dass Gott als Schöpfer genau diese geschöpflichen Bestimmungen, d. h. genau dasselbe Maß, Zahl und Gewicht wie seine Geschöpfe, auch selbst schon besäße. Erläutern kann der Kirchenvater das Gemeinte an einem einfachen Beispiel: Wenn etwa Körper verschiedene Farben aufwiesen und Gott ihnen diese zugeteilt habe, dann bedeute dies natürlich nicht, dass Gott alle diese Farben als Farben bereits vorher in sich getragen haben müsse (er also grün, gelb, rot etc. zugleich wäre), sondern vielmehr nur, dass er diese Körper „so geordnet hat, auf dass sie Farben hätten“ (omnia corpora sic disposuisti, ut haberent colores).340 Der entscheidende Punkt, den Augustinus anhand des Beispiels prägnant herausarbeitet, ist somit, dass Gott nicht in sich selbst „farbig“ sein muss, um Körpern bestimmte Farben zuzuteilen, weil er genau diese Zuteilung nicht wie ein Maler mit einer Farbpalette vornimmt, sondern durch eine bestimmte, schöpferische ratio, welche das Wesen eines Geschöpfs und seiner Eigenschaften hervordenkt: Eine solche schöpferische Vernunft müsse selbstverständlich in Gott sein, nicht aber die Farben als Akzi41). Denn auch die körperlichen Maße zeugen ja von intelligibler Maß- und Zahlhaftigkeit, sind dessen Aus-Druck nach außen in die sinnlich-wahrnehmbare, materielle Welt hinein. Augustinus selbst betont selbst immer wieder, dass z. B. in der Auferstehung der Mensch nicht zu ‚bloßem Geist‘ werde, sondern zu einem geistigen Leib, so dass eine körperliche Dimension auch hier bewahrt bleibt (civ. XIII, 20; s. Drews 2009: 386, Anm. 29). In ähnlicher Weise unterstreicht er bei der Erschaffung des Menschen in Gen 1, 27, dass der Mensch eben nicht nur als geistiges Wesen (insofern er Abbild Gottes ist), sondern als Körperwesen erschaffen wird. 339 S. o. Kap. 2. 340 Gn. litt. IV, 4–5; 101, 5–25.
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dentien von Körpern (schließlich ist Gott gemäß Augustinus als höchstes Geistwesen überhaupt unkörperlich, so dass ihm keine akzidentellen Bestimmungen, sondern nur wesentliche zukommen können, welche er kraft seines Gott-Seins – also nicht durch Partizipation an ihm vorausliegenden Seinsprinzipien – in sich vereint, z. B. Liebe, Gerechtigkeit, Größe etc.341). Augustinus geht die Frage, woher Gott Maß, Zahl und Gewicht genommen bzw. wo er sie „gesehen“ haben könnte, noch einmal von Neuem an: Auf keinen Fall habe Gott Maß, Zahl und Gewicht „außerhalb von sich selbst“ (extra se ipsum) gesehen so, wie die Menschen mit ihren Augen auf äußere Körper blickten, die es schließlich vor ihrer Erschaffung ja auch noch nicht geben konnte. Aber auch „in sich selbst“ (intra se ipsum) habe er sie nicht so gesehen, wie Menschen kraft ihrer Einbildungskraft Bilder von etwas imaginierten.342 Diese Abgrenzungen haben einen beachtenswerten Impetus, weil sie einer (gerade in der Moderne) durchaus verbreiteten Auffassung von Äußer- und Innerlichkeit eine Absage erteilen: Gott bzw. das wahre Sein ist nicht ‚reine Innerlichkeit‘ in Unterscheidung zu allem (möglicherweise vernachlässigbar erscheinenden) Äußerlichen. Die Innerlichkeit der puren Imagination unterscheidet sich in Bezug auf ihren Inhalt keineswegs dimensional von der ‚äußerlichen Welt‘. Sind doch auch ‚rein innerlich‘ vorgestellte Bilder gemäß ihrem Inhalt von äußerlich beobachtbaren Situationen, Darstellungen nicht so grundverschieden, wie man meinen könnte: Ein innerlich vorgestelltes Bild von einer schönen Frau reproduziert möglicherweise nur dieselbe, auch äußerlich wahrnehmbare Schönheit (steigert sie vielleicht noch, indem diese zusätzlich ‚idealisiert‘ wird). Beide Male werden jedoch die äußerlichen Qualitäten eines menschlichen Körpers gesehen bzw. vorgestellt: Sinnliche Wahrnehmung und Imagination zielen also auf denselben Erkenntnisgegenstand und fragen z. B. nicht nach den prinzipienhaften Ursachen dieser Schönheit, sind möglicherweise ‚blind‘ für die seelisch-charakterlichen Wesenszüge dieses Menschen. Die ‚reine Innerlichkeit‘ liefert und hat insofern keinerlei Kriterium dafür, ob sie etwas Wahres erkennt oder ‚moralisch gut‘ ist usw.343 Augustinus deutet diesen Einwand an, wenn er Gott abspricht, dieser habe sich Maß, Zahl und Gewicht vielleicht innerlich vorgestellt und sie dieser inneren Imagination ‚entnommen‘. Gott müsse also auf eine andere, höhere Weise, die nur ihm möglich und für den Menschen letztlich undurchschaubar ist, Maß, Zahl und Gewicht erkannt (bzw. er-se341 S. o. zur Stelle trin. V, 10, 11; 217,1–11, 12; 218,4. 342 Gn. litt. IV, 6; 102, 9–17. 343 Prägnant zum Ausdruck kommt die Tatsache, dass ‚innerlich‘ und ‚äußerlich‘ kein hinreichendes Kriterium für die Wahrheit rational-intelligibler Sachgehalte darstellen, bereits zu Beginn von Augustins Soliloquia: Dort ist nicht klar, ob die Augustinus erscheinende Ratio ein Teil von ihm (also ‚innerlich‘) ist oder nicht (‚äußerlich‘): […] ait mihi subito sive ego ipse sive alius quis, extrinsecus sive intrinsecus, nescio: nam hoc ipsum est quod magnopere scire molior, ait ergo mihi Ratio (sol. I, 1, 1). S. Drews (2009: 1).
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hen) haben. Dies ist für Augustinus nicht nur eine ‚fromme Rede‘, sondern lässt sich erkenntnistheoretisch untermauern: Zurückkehrend zur Zahl Sechs, welche ja den Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu Maß, Zahl und Gewicht gemäß Sap 11, 21 bildete, erklärt der Kirchenvater, dass auch wir Menschen die „Vollkommenheit der Sechszahl nicht außerhalb von uns unterscheiden, wie Körper mit den Augen“ (senarii numeri perfectionem nec extra nos ipsos cernimus, sicut oculis corpora), aber eben auch nicht „innerhalb von uns selbst, wie Vorstellungen von Körpern und Abbilder sichtbarer Dinge, sondern auf eine bestimmte andere, bei weitem verschiedene Weise“ (nec ita intra nosmet ipsos, quemadmodum corporum phantasias et visibilium imagines rerum, sed alio quodam longe differenti modo). Denn auch die körperliche Figuration der Sechszahl ‚vor dem geistigen Auge (!)‘ sei ja nicht die Sechs selbst, da die Ratio sehr wohl Figuration und Sein der Zahl zu unterscheiden wisse und gemäß rationaler Innerlichkeit das „Vermögen der Zahl zusammenschaue“ (interiusque vim numeri contuetur [sc. ratio]). Durch „diese Zusammenschau“ urteile die Ratio „beherzt“, dass „das, was das Eine in den Zahlen genannt wird, sich in keine Teile dividieren lässt“ (per quem contuitum fidenter dicit344 id, quod dicitur unum in numeris, in nullas partes dividi posse). Es sei sogar leichter, „Himmel und Erde zu überschreiten“ als zu bewirken, dass die Sechs nicht durch ihre Teile vollkommen gemacht werde. Der „menschliche Geist“ (animus humanus) möge deshalb seinem Schöpfer immer danken, dass er so geschaffen sei, dieses einsehen zu können, was den Tieren nicht möglich sei, obwohl sie zusammen mit den Menschen Himmel, Erde, Gestirne, Meer und Land sinnlich wahrnehmen könnten. Das Sechstagewerk schließlich sei nicht deshalb in sechs Tagen vollendet worden, damit die Sechszahl vollkommen sei, sondern umgekehrt wäre die Sechs immer noch vollkommen, wenn es gar kein Sechstagewerk gäbe. Das Umgekehrte gelte also: Gott habe sein Werk in sechs Tagen vollendet, weil die Sechs vollkommen sei. Wäre sie nicht vollkommen, dann wären Gottes Werke nicht ihr-gemäß vollendet worden.345 344 Ich übersetze dicit hier mit „urteilt“, weil das wörtliche „(Aus)-Sagen“ vor dem Hintergrund modern-sprachphilosophischer Annahmen über ‚Sagen‘ und ‚Aussagen‘ sonst im Deutschen missverständlich sein könnte. Augustinus meint, dass die Ratio nicht irgendetwas Beliebiges einfach ‚aussagt‘, über dessen Wahrheitsgehalt dann debattiert werden könnte, sondern dass sie tatsächlich etwas Wahres „sagt“ im Sinne von: ‚sie urteilt wahr, gibt wahre Auskunft, sagt etwas sachlich Stichhaltiges‘. 345 Gn. litt. IV, 6–7; 102,18–103,21. Vgl. Suntrup (2012: 213). Die erkenntnistheoretische Dimension von Gn. litt. IV hebt Gersh (2012: 116) hervor; ob sich die Abgrenzungen „God, Intellect, and Body“ in Gn. litt. gegen „God, Soul, and Body“ in De musica (ibd., 115) sinnvoll durchhalten lassen, bleibt vielleicht zu fragen ebenso wie die Gegenüberstellung: „It is notable that the causal relation between hypostases in Latin Neoplatonism generally follows the model in which the cause confers on the effect what it pre-contains rather than that – most typical of Plotinus – in which the cause confers on the effect what it does not contain“ (ibd., 116). Zwar gibt es im griechischen Neuplatonismus in einem bestimmten Sinn eine Differenz zwischen Eidos und Instanz; dass aber das Eidos etwas erzeuge, was es nicht in sich selbst vorausgehend besitzt, scheint auf Plotin kaum zuzutreffen (zum Verhältnis von immaterieller Idee und materieller Instanz anhand der Beispiele ‚Feuer‘ und ‚Dreieck‘ bei Plotin vgl. Drews 2018: 67–78). Gersh führt dafür auch keine Belegstelle an. Auch
15. Sechs Tage – wie und warum?
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Unübersehbar ist hier die volle Relevanz der platonischen Erkenntnistheorie: Augustinus rekurriert auf die Differenzierung zwischen sinnlichem Wahrnehmen, bildlicher Vorstellung (beides komme Tieren346 und Menschen zu), rational-diskursiver Erkenntnis und intellektiver Zusammenschau. Während Tiere, grob gesprochen, jedoch nicht über die Ebenen der Wahrnehmung und Vorstellung hinauskämen, sei dies dem Menschen durchaus möglich – daher die zunächst vielleicht überraschende Rede davon, es sei leichter Himmel und Erde zu transzendieren als die Sechs nicht aus ihren Teilen bestehen zu lassen: Himmel und Erde sind als materielle Geschöpfe etwas Sinnlich-Wahrnehmbares, die Natur einer in sich bestimmten Zahl ist dagegen etwas Begreifbares. Augustinus fügt daher nachdrücklich hinzu, dass die das rationale Denken begleitenden Vorstellungen, welche sich beim Durchdenken der Natur der Sechszahl einstellen, nicht mit der Natur dieser Zahl verwechselt werden dürfen, denn die Ratio unterscheide nicht nur die bestimmte Natur einer Zahl als solche im Sinne des rationalen Gehalts, sondern zugleich auch die bildlichen Figurationen einer Zahl von dieser Zahl selbst. Daher sei es sowohl unmöglich, die Vollkommenheit der Sechs äußerlich, d. h. durch körperliche Sinneswahrnehmungen, zu erfassen wie auch innerlich durch bildliche Vorstellungen. Der „menschliche Geist“ sei aber in der Lage, alle diese Differenzierungen vorzunehmen: die Sechs als sie selbst, aber auch die Leistungen der Sinneswahrnehmungen, Imagination und Ratio zu unterscheiden – die Erkenntnistheorie entwickelt sich mit Hilfe der Zahltheorie und umgekehrt. Im Hinblick auf die Gotteserkenntnis sei es dem Menschen daher immerhin möglich, zu erahnen, dass Gott Maß, Zahl und Gewicht nicht vermittels sinnlicher Wahrnehmung oder Imagination erschaut habe. Vielmehr müsse Gott – qua Gott – die Erkenntnisweise des Menschen transzendieren; wenn aber dieser schon kraft seiner Vernunftbegabung Himmel und Erde „überschreiten“ könne, dann müsse von Gottes Vernunft noch Höheres gelten. Entscheidend ist, dass Augustinus mit Blick auf die Natur der Zahl eine andere Art des innerlichen, intrinsischen Seins aufzeigt: gemäß rationaler Innerlichkeit werde „das Vermögen der Zahl zusammengeschaut“. Die Sechszahl hat von sich selbst her ein spezifisches Sein als Einheit aus sechs Einheiten und weist kraft ihres inneren Bestimmt-Seins eine vollkommene Natur auf, indem sie die Summe, aber auch das Produkt ihrer Teile ist. Diese vollkommene Natur vermag der menschliche Geist zu entdecken, nicht aber zu verursachen oder zu setzen – sie ist ‚objektiv‘, aber gerade nicht im Sinne vermeintlich ‚äußerlich-positivistischer Objektivität‘, sondern als intelligible Tatsache, die sich aus dem inneren Bestimmt-Sein der Sechs ergibt. Diese Innerlichkeit ist also auch kein mit Blick auf Primärtexte präsentiert er in rhapsodischer Abwechslung verschiedene Abschnitte dreier Autoren (Augustinus, Macrobius, Boethius) aus unterschiedlichen ihrer Werke im Sinne von „philosophemes“ (nach Derrida, ibd., 117) als „certain minimal units from which philosophical ‚systems‘ can be constructed“ (ibd., 113). 346 Augustinus spricht Tieren auf der Ebene der Wahrnehmung Erkenntnis, Streben nach dem Angenehmen, Vermeiden des Unangenehmen und Gedächtnis zu, vgl. lib. arb. II, 26–28; civ. V, 9; V, 11; XI, 27; XII, 4; mus. I, 4, 8; trin. IV, 1, 3.
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‚inneres Bewusstsein‘ von etwas (wie z. B. bildliche Imaginationen, die nicht an das begreifbare Wesen von etwas heranreichen), sondern ein rationales In-sich-selbst-bestimmt-Sein als genau diese Zahl. Der Intellekt vermag die Sechszahl in ihrer Natur, ihrem Vermögen und ihrer zahltheoretischen Vollkommenheit „zusammenzuschauen“ (contueri) – in seiner aktualen Erkenntnis ist z. B. gleichzeitig präsent, dass die Sechs eine Einheit aus sechs Einheiten ist und die Summe, aber auch das Produkt ihrer Teile. Die Ratio ‚ent-wickelt‘ diese Zusammenschau in ein diskursives Nacheinander, sie erfasst Einzelnes von dem Ganzen der Zahl und leitet sich insofern (der Sache nach) von der Erkenntnis des Intellekts ab, ist ihm nachgeordnet und ent-faltet seine Zusammenschau. Auch wenn sie das Ganze der Intellekterkenntnis nicht zugleich erfassen kann, vermag sie dies jedoch im diskursiven Nacheinander zu leisten und urteilt in Abhängigkeit davon, dass „das, was das Eine in den Zahlen genannt wird, sich in keine Teile dividieren lässt.“ Die Natur einer Zahl ist als solche unveränderbar und unzerteilbar – an dieser Natur ist sozusagen ‚kein Vorbeikommen‘, eher noch an Himmel und Erde, wie Augustinus sich getraut auszuführen. Aus der lateinischen Formulierung ist nicht ganz eindeutig abzuleiten, was er genau mit dem „Einen in den Zahlen“ meint: Das Naheliegendste wäre, an die Eins als Prinzip aller Zahlen zu denken, die – selbst teillos – sich nicht zerteilen lässt. Das „Eine in den Zahlen“ könnte aber vielleicht auch das Eins-Sein z. B. der Zahl Sechs meinen: Denn die Sechs, obgleich aus Teilen bestehend, ist ja in sich eine unveränderliche Einheit, die gerade durch den Aufweis ihrer inneren Vollkommenheit noch einmal unterstrichen wurde. Das Vermögen der ‚natürlichen‘ Zahlen unterliegt somit keinem Wechsel: Die Sechs ist immer ‚6‘, die Sieben immer ‚7‘ usw. Insofern eignet jeder natürlichen Zahl (gemäß platonischem Mathematikverständnis) ein unveränderliches, einheitliches Sein als genau diese Zahl, und über diese ‚Einheit in den Zahlen‘ gibt die Ratio Auskunft (in sachlicher Abhängigkeit von dem zusammenschauenden Zugleich des Intellekts).347 Die Vollkommenheit des Sechstagewerks ist gemäß Augustinus somit in Abhängigkeit zur Vollkommenheit der Zahl Sechs zu sehen: Weil Gott um die Vollkommenheit dieser Zahl weiß und weil er seine Schöpfung gemäß dieser intelligiblen, zahlhaften Vollkommenheit hervorbringen wollte, vollendet er sein Werk in sechs Tagen. 347 Wenn diese Interpretation zutrifft und mit dem „Einen in den Zahlen“ die jeweilige innere Einheit einer Zahl gemeint ist, dann stünde Augustins Argumentationslinie hier vielleicht in sachlicher Verwandtschaft zur Unterscheidung zwischen dem intelligiblen Eidos und seinem überseienden Einheitsgrund (Henade) bei Proklos: Während die Forschung zumeist meint, Proklos hätte mit seiner Henadenlehre einfach die Ebene der Ideen verdoppelt, lässt sich bei genauer Analyse zeigen, dass er einerseits zwischen der seienden Einheit eines Eidos im Sinne seiner begreifbaren, seienden Bestimmtheit und andererseits zwischen seinem über-begreifbaren, über-seienden Einheitsgrund differenziert, insofern ein Eidos seine Einheit letztlich vom absoluten Einen (hen) bezieht über die in ihm, dem Eidos, partizipierte überseiende Henade (s. Drews 2018: 133–167). Analog zu dieser proklischen Differenzierung wäre bei Augustinus mit der Unterscheidung zwischen der Einheit einer Zahl aus Einheiten (z. B. Sechs) und ihrer inneren Einheit als diese bestimmte Zahl zu rechnen.
16. „Und Gott ruhte von seinen Werken“ Augustins Hermeneutik zwischen theologischer Bibelkritik und literaler Exegese sowie die Entfaltung der Zeit aus der Wiederholung des einen Tags Wenn Gen 2, 2 davon spricht, dass „Gott am siebenten Tag von allen seinen Werken ruhte“, so muss man gemäß Augustinus versuchen, den Sinn des Gesagten „mit dem Intellekt zu berühren, und vorher die fleischlichen Vermutungen von Menschen aus unseren Geisten vertreiben“ (intellectu conemur adtingere, prius de hoc carnales hominum suspiciones a nostris mentibus abigamus). Wäre es nicht sogar unfromm, zu meinen, Gott hätte im Wirken seiner Schöpfung mühevoll „gearbeitet“ (laborasse), während er doch einfach „sprach, und sie wurden“ (dicebat, et fiebant)? Da kein Mensch so arbeite, wenn er etwas vollbringen wolle, ist für Augustinus allein schon aus der Beschreibung des ersten Schöpfungsberichts zu entnehmen, dass Gottes Wirken nicht mit ‚fleischlichen‘ Analogien ermessen werden kann – sein Erschaffen durch das Sprechen des Schöpfungslogos unterscheidet sich dimensional vom menschlichen Arbeiten. Auch die Erwägung, Gott habe intensiv darüber „nachdenken“ müssen (cogitando), was entstehen sollte, und sich hernach am siebenten Tag davon erholen müssen, weist der Kirchenvater als unsinnig zurück.348 Das Ruhen Gottes ist also gemäß Augustinus nicht literal im Sinne eines historisch-wörtlichen Verständnisses aufzufassen, sondern eine literale Exegese erfordert hier – wieder einmal349 – ein geistig-intellektives Verständnis in Beziehung zur „geistig-rationalen Kreatur“, zu der Engel und Menschen gehören: Dieser geistigen Schöpfung habe Gott die „Ruhe in sich selbst gewährt“ (creaturae rationali, in qua et hominem creavit, in se ipso requiem praebuisse) nach ihrer Vollendung durch den Heiligen Geist,
348 Gn. litt. IV, 8; 103,22–104,16. Bereits von De doctrina Christiana her gehört die Warnung vor einem fleischlichen Verständnis geistiger Sachgehalte zu Augustins Hermeneutik: „The interpreter must beware of taking figurative expressions literally, for a ‚carnal understanding‘ will result“ (Greene-McCreight 1999: 37). Ebenso Teske (2009: 137). 349 S. o. Kap. 4.
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durch den die „Liebe in unsere Herzen ausgegossen ist“ (Rö 5, 5). Das „sehnsuchtsvolle Verlangen“ führe die Gläubigen dorthin, wo die ewige Ruhe ohne jegliches weitere Bedürfnis sei. Das Ruhen Gottes versteht Augustinus also literal, indem er es geistig begreift als Ruhen des Geistes, wobei Gottes Ruhen allegorisch als Bewirken der Ruhe in den geistigen Geschöpfen aufgefasst wird. Systematisch-theologisch begründet der Kirchenvater diesen letzten Teilaspekt damit, dass alle guten Werke des Menschen letztlich Werke Gottes seien,350 so dass auch Gottes Ruhen als das „Geschenk“ der Ruhe an seine Geschöpfe zu begreifen sei: „So wird zu Recht gesagt: Gott ruht, wenn wir durch sein Geschenk ruhen.“ Analog sei auch vom Erkennen Gottes die Rede, wenn er Erkenntnis in seinen Geschöpfen bewirke: Denn Gott erkenne nicht einfach etwas „zeitlich“ (temporaliter), d. h. im Sinne einer sich plötzlich innerhalb der Zeit einstellenden Erkenntnis.351 Wenn er z. B. zu Abraham spreche: „Jetzt habe ich erkannt, dass du Gott fürchtest“ (Gen 22, 12), dann sei dies so zu verstehen, dass Gott bewirke, dass Abraham erkenne. Diese zunächst als Umdeutung erscheinende Interpretation ist nicht zuletzt deshalb theologisch sinnvoll, weil Gott als Schöpfer aller Seienden und insofern alles Erkennbaren352 in seinem Erkennen zugleich Seiendes begründet: Bezogen auf die Abrahamsgeschichte erkennt Gott auch bei literaler Deutung (im Sinne bloßer Buchstäblichkeit353) nicht nur selbst Abrahams Glauben, sondern bewirkt dadurch zugleich, dass Abraham selbst das Erkanntsein seiner Gottesfurcht durch Gott erkennt und so „in der Erkenntnis Gottes wächst“ (Kol 1, 10). Diese Stelle aus dem Buch Genesis führt Augustinus also als Schriftbeleg dafür an,354 weshalb ein bestimmter Akt Gottes (ruhen, erkennen) theo-
350 Solange der Mensch Gutes tut, handelt er gemäß Augustinus nicht nur im Einklang mit Gottes Gebot, sondern wird durch Gottes Gnade auch zum Tun dieses Guten geführt, so dass sich eine Art Kooperation zwischen Gott und Mensch ergibt, welche den Menschen gleichwohl nicht unfrei macht, sondern zu seiner höchsten Möglichkeit führt. Der Mensch behält jedoch (sogar für den sog. ‚späten Augustinus‘) immer auch den Freiraum, sich dem Guten zu widersetzen und die Kooperation mit Gott gleichsam ‚aufzukündigen‘. Insofern bleibt die Entscheidungsfreiheit auch auf Seiten des Menschen real bestehen, nur das Tun des objektiv Guten ist bei theologisch differenzierter Betrachtung nicht das alleinige, subjektive Werk des Menschen, weil er sich bereits am Guten orientiert, das letztlich von Gott kommt bzw. Gott selbst ist (dazu genauer s. Drews 2009: 221–238). 351 Zum überzeitlichen Erkenntnismodus bei Augustinus vgl. Drews (2009: 167–185). 352 Zum platonischen Zusammenhang von Sein und Erkennbar-Sein s. Proklos, in Parm. 994, 31–32 (vgl. Drews 2009: 249–250; 2018: 125). Dieser Zusammenhang findet seine Grundlegung schon bei Parmenides von Elea, frg. 3 (vgl. Drews 2018: 20–23). 353 Die gleichwohl „töten“ kann, wie der Apostel Paulus ausführt (2 Kor 3, 6; Rö 2, 29; 7, 6). Zum Verhältnis von Geist und Buchstabe (im Kontext von göttlicher Gnade in Relation zum ‚buchstäblichen‘ Gesetz des Alten Testaments) vgl. Augustinus, De spiritu et littera. 354 In gleicher Weise zitiert Augustinus außerdem Gal 4, 9 („Jetzt habt ihr Gott erkannt, vielmehr aber seid ihr erkannt von Gott“): Gott habe die Galater nicht erst zu einem bestimmten Zeitpunkt „erkannt“, sondern die Galater hätten Gott erkannt und dies als seine Gnadengabe (munus) verstanden, da er sich ihnen zu erkennen gab (cum eis cognoscendum se praestitit): Auch hier stiftet Gott als Erkennender die Erkenntnis in seinen Gläubigen, die ihrerseits ein Erkanntwerden durch Gott voraussetzt, daher die „tropische Redeweise“ des Apostels (maluit tropice loqui; Gn. litt. IV, 9;
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logisch sinnvoll nicht allein in Bezug auf Gott selbst verstanden werden sollte (Gott weiß und erkennt ohnehin alles), sondern als Wirken in seinen Geschöpfen. Analog erklärt der Kirchenvater, dass z. B. die Rede, man solle nicht den Heiligen Geist betrüben (contristare; Eph 4, 30), nicht bedeute, dass Menschen die vollkommene Glückseligkeit Gottes wirklich beeinträchtigen, d. h. Gott selbst und seinen Heiligen Geist gleichsam ‚entheiligen‘ könnten; vielmehr sei damit gemeint, dass die heilig gewordenen Gläubigen durch den Abfall anderer zu Recht und lobenswerterweise in ihrem Glauben betrübt würden, insofern sie als Christen Anteil am Heiligen Geist hätten.355 Gleichwohl übersieht der Kirchenvater nicht, dass bei dieser exegetischen Methode, welche den Literalsinn sozusagen in seiner Gerichtetheit (nicht allein auf Gott selbst, sondern auf sein Wirken in den Geschöpfen hin) umkehrt, Vorsicht geboten ist: Dies sei nur gestattet, solange es der „Gebrauch der Schrift“ (scripturarum usus) erlaube. Denn man dürfe nicht einfach irgendetwas Beliebiges „aufs Geratewohl“ (temere) über Gott behaupten, was man nicht in der Schrift lese.356 Augustinus zeigt hier also eine philosophisch-kritische Exegese (in Unterscheidung zur modernen historisch-kritischen Methode): Theologische Inhalte müssen stimmig begründbar sein und reflexiv erschlossen werden können, so dass es dem Kirchenvater gerade nicht um einen unkritischen Biblizismus geht. Dabei hält er methodisch durchaus die Balance zwischen berechtigter, philosophisch motivierter Kritik einerseits und der gläubigen Ehrfurcht vor dem heiligen Text andererseits: Die Philosophie ist mit ihrem kritischen Potential nicht in einer übergeordneten Sphäre beheimatet, jedoch bleibt die Theologie auf sie angewiesen und kann nicht an ihr vorbeigehen; obgleich den Offenbarungsereignissen und der sich von diesen herleitenden Heiligen Schrift Autorität zukommt, gilt es, Offenbarung und Schrift rational zu durchdringen. Aus dem befruchtend wirkenden Wechselverhältnis zwischen Offenbarung/Heiliger Schrift sowie philosophischer Vernunft erwächst eine den biblischen Text wertschätzende, ehrfurchtsvolle und doch kritisch-prüfende Exegese. In jedem Fall hat Augustins Interpretation von Gottes Ruhen einen unmittelbar eschatologischen Impetus: Zwar formuliert er, Gott habe bereits bei der Schöpfung der „geistigen Kreatur“ die Ruhe gewährt (praebuisse), zugleich ist dieses Ruhe-Geschenk Ausblick auf den „ewigen Sabbat“, von dem er nicht zuletzt jeweils am Ende seiner Confessiones und von De civitate Dei spricht.357 Aber auch in De Genesi ad litteram formuliert er sehr eindeutig, dass das Erreichen dieser Ruhe in der Liebe zu Gott für die Menschen bedeute, kein weiteres Verlangen mehr zu haben, was nur im Eschaton 106, 4–13). Vgl. außerdem im Kontext des Neuen Testaments: „Dann werde ich erkennen, wie ich auch erkannt bin“ (1 Kor 13, 12b) und dazu conf. X, 1, 1. Zum kreativen Ersehen Gottes s. o. Kap. 5. 355 Zur Partizipationsontologie bei Augustinus s. o. Kap. 15. 356 Gn. litt. IV, 9; 104,16–106,13. Zum Begriff der Ruhe bei Augustinus s. Sieben (2012), mit Blick auf die „regula locutionis“ vom Bewirken der Ruhe in Gen 2, 2 s. ibd., 164, 178. MacCormack (2008: 36–37) betrachtet diese Redeweise als Form der Metonymie. 357 S. o. Anm. 143.
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wirklich erreicht sein kann. Vielleicht lässt sich dieser Endpunkt, also das Gestilltsein allen Verlangens, vergleichen mit dem Erreichen des Guten als Ziel des Strebens nach dem Schönen, wovon Diotima in Platons Symposion (204d–205a) spricht. Mit einer etwas kühnen Analogie könnte man im Sinne eines religionswissenschaftlichen Vergleichs sogar an die buddhistische Vorstellung vom Nirvana (wörtlich: „Verwehen“, das Erlöschen der Lebensflamme) denken, wobei diese Analogie nur das Nicht-Vorhandensein von „Verlangen“ (desiderium) respektive „Durst“ (Pali: tanhâ) einkreist, keinesfalls aber eine Identität zwischen dem christlichen Himmel und dem buddhistischen Nirvana suggerieren soll. Obwohl der Kirchenvater in seinen folgenden Ausführungen an seinem bisher zum Ruhen Gottes erreichten exegetischen Ergebnis festhält und die zukünftig zu erhoffende Ruhe für die Gläubigen unterstreicht, stellt er – ganz im Sinne seiner sich fragend an den biblischen Text wendenden Exegese358 – trotzdem die selbstkritische Rückfrage, ob damit schon der ganze Sinn von Gen 2, 2 ausgeschöpft sei. Müsste nicht doch ein auf Gott strikt selbst zu verstehendes Ruhen eingeräumt werden? Denn auch bei den Werken Gottes wäre es ja nicht so, dass man diese einfach auf die Gläubigen übertragen könne: Was Gott wirkt, wirkt Gott, nicht aber die Menschen; daher sollte analog auch Gottes Ruhe nicht allein auf das Gewähren der Ruhe für die Gläubigen bezogen werden, sondern – sozusagen ‚ganz literal‘ – zunächst einmal auf Gott selbst als seine eigene Ruhe. Methodisch fällt hier also auf, dass Augustinus nicht nur aus systematisch-theologischen Erwägungen kritisch mit dem biblischen Textbefund, sondern darüber hinaus auch aus exegetischen Gründen kritisch mit seiner eigenen theologischen Interpretation umgeht. Noch einmal zeigt sich so das befruchtende Wechselverhältnis zwischen philosophischer Theologie und literaler Exegese – nur dieses Mal in anderer Weise: Jetzt wird die systematisch-philosophisch begründete Theologie von der Exegese hinterfragt. Dies aber sei, wie angedeutet, methodisch notwendig, denn zuerst müsse das „Faktische“ aufgezeigt werden, danach sei, wenn nötig, eine „bestimmte Bedeutung“ zu lehren (ut prius omnia, quae scripta sunt, facta monstrentur et deinde, si opus est, etiam aliquid significasse doceantur).359 Dabei darf im Sinne der oben bereits gewonnenen Interpretationsergebnisse zu Augustins hermeneutischer Methode in De Genesi ad litteram auch hier ergänzt werden, dass der Kirchenvater verschiedene ontologische Ebenen von Tatsächlichkeit/Faktizität kennt: nicht nur auf historischer, sondern (durchaus primär) auch auf geistig-intelligibler Ebene.360 Daher entspricht es Augustins Hermeneutik, dass er gleich im Anschluss an die Frage nach den facta eine geistige und soteriologische Deutung entwickelt, und zwar im spezifisch christlichen Kontext, insofern die Heilige Schrift als innere Einheit verstan-
358 S. o. Kap. 3. 359 Gn. litt. IV, 10; 106,14–107,9. 360 S. o. Kap. 12 sowie 2 (mit Anm. 9 und 13).
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den wird,361 gemäß dem Herrenwort: „Mein Vater wirkt bis jetzt, [sc. so] wirke auch ich“ (Jh 5, 17). Mit dieser Entgegnung verteidigt sich Jesus gegen den Vorwurf, er hätte das Sabbatgebot verletzt, da er einen Kranken geheilt habe. Augustinus hat also einen in der Schrift selbst verankerten, exegetischen Grund, weshalb er dieses neutestamentliche Zitat im Zusammenhang mit Gottes Ruhe am siebenten Tag zusammenbringt, da diese Ruhe konstitutiv ist dafür, dass der siebente Tag nach jüdischem Gebot geheiligt werden soll (entsprechend Gen 2, 3). Jesus bezieht im Sinne einer für den Christen autoritativen Antwort eine zunächst einmal eher schockierend wirkende Position: Der Sabbat gelte nicht so, wie die Schriftgelehrten es meinen – es sei besser einen Kranken am Sabbat zu heilen, als ihn nicht zu heilen. Und an anderer Stelle heißt es sogar, „der Menschensohn“ sei „Herr über den Sabbat“.362 Die von Jesus in Anspruch genommene Autorität „über den Sabbat“ ist die denkbar höchste – sie ist die Autorität Gottes selbst, entsprechend seinem Anspruch, „mit dem Vater eins zu sein“ (Jh 10, 30),363 so dass aus Augustins Perspektive das Herrenwort auf selbiger Ebene steht mit der Heiligung des Sabbats im Schöpfungsbericht. Das „Wirken des Guten“ steht also nicht im Widerspruch zum Sabbatgebot (Mt 12, 12), so dass Augustinus zu zeigen versucht, wie „beides wahr“ ist, dass Gott am siebenten Tage geruht habe und doch „bis jetzt“ (d. h. unaufhörlich) wirkt, denn es muss sich beides zusammendenken lassen, wenn denn die Aussagen im Alten und Neuen Testament dieselbe Autorität besitzen sollen. Zum einen erwägt der Kirchenvater, dass das Sabbatgebot den Juden als „Schatten“ der künftigen Ruhe gegeben sei, die „Gott den Gläubigen, welche gute Werke tun, in geheimer Bedeutung versprach“. Gemäß Augustinus ist also die verheißene Ruhe sogar gekoppelt an das Tun des Guten – ganz im Sinne der Schriftauslegung Jesu. Zum andern habe Jesus selbst das „Geheimnis“ (mysterium) der Ruhe Gottes sogar „bekräftigt“, da er sich zuerst am Rüsttag/Karfreitag willentlich dem Leiden unterwarf (nonnisi quando voluit passus est), um dann am Sabbat im Grabe zu ruhen. Denn das Leiden habe er am sechsten, dem Rüsttag „vollbracht“ (consummavit, gemäß der Augustinus vorliegenden lateinischen Fassung von Gen 2, 2), wie sich an den entsprechenden Worten: „Es ist vollbracht“ (consummatum est, Jh 19, 30) zeige.364 Wie zuvor mit seiner eschatologischen Deutung der Ruhe Gottes (= die den Gläubigen verheißene Ruhe im ewigen Sabbat), unternimmt der Kirchenvater auch jetzt
361 S. o. Kap. 4. 362 Mt 12, 8–12. In diesem Kontext sind auch die unmittelbar vorausgehenden Verse Mt 12, 3–4 (vgl. o. Kap. 8) zu lesen, wo Jesus das Ährenpflücken am Sabbat damit verteidigt, dass David aus Hunger sogar die Schaubrote im Tempel gegessen habe (Lev 24, 9). 363 S. dazu Drews (2018: 212–4). 364 Gn. litt. IV, 11; 107,10–108,8. Vgl. Catapano/Moro (2018: 374–5). Sieben (2012: 179, 188) hebt hervor, dass die Deutung von Gen 2, 2 in Beziehung auf die Grabesruhe Christi „unter den Kirchenvätern singulär“ sei. S. ebenso Suntrup (2012: 215–9), der zudem eine Vielzahl von Schriftzitaten, in welchen die Sechszahl eine besondere Rolle spielt, bringt.
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eine geistige Interpretation, und zwar im soteriologischen Sinne:365 Der Erlöser selbst, Jesus Christus, habe sein Leiden am sechsten Tag „vollendet“ und am siebenten „geruht“, damit also auch dem Wesen des Sabbats entsprochen. In seinem irdischen Wirken habe sich Jesus jedoch zugleich als „Herr über den Sabbat“ gezeigt, also ein rein formales Verständnis des Sabbats im Sinne bloßen Nichts-Tuns bzw. der Vermeidung von Tätigkeiten zurückgewiesen: Gute Werke scheinen den Sabbat nicht zu verletzen. Augustinus schaut so verschiedene Aspekte um den Sabbat herum zusammen: Gutes zu tun steht nicht im Widerspruch zum Sabbat, wie Jesus selbst gesagt habe (Mt 12, 12b); umgekehrt werde die Ruhe des Sabbats gerade denjenigen zuteil, die selbst Gutes vollbringen. Diese geistigen, eschatologisch-soteriologischen Dimensionen verbindet Augustinus mit dem Genesis-Text, weil sich das Ruhen Gottes, insofern Gott selbst Geist ist, zunächst auch nur auf geistige Weise begreifen lässt.366 Die literale Exegese eines geistigen Inhalts muss auch selbst ein geistiges Resultat zeitigen. Gleichwohl wendet der Kirchenvater selbstkritisch ein, dass ein literales Verständnis der Ruhe Gottes diese Ruhe auf ihn selbst beziehen können muss. Dabei hilft ihm die soteriologische Entsprechung, dass Jesus sein Erlösungshandeln am Kreuz am sechsten Tag vollendet, am siebenten Tag aber davon geruht habe: Gemäß der Identität von Jesus und Gott (Jh 10, 30) lässt sich so Jesu Leiden und die darin gewirkte Erlösung der Gläubigen mit dem Schöpfungshandeln Gottes zusammenschauen, so dass Gen 2, 2 zwar wiederum im geistigen Sinne (hier: einer Prophetie), aber doch auf Gott rückbezogen verstanden werden kann. Was Augustinus nicht mehr explizit macht: Die Auferstehung Jesu von den Toten zeigt sein eigenes sowie das Wirken Gottes „bis jetzt“ (Jh 5, 17). Die Ruhe verharrt nicht im Sinne eines bloßen Nichts-Tuns und steht nicht im Widerspruch zu Gottes ewiger Aktivität und dem Tun des Guten, zu dem auch die Gläubigen aufgefordert sind, damit sie die ewige Ruhe erlangen. Eine weitere Perspektive, die Augustinus auf den Vers Gen 2, 2 wirft, ist systematisch-philosophischer Natur: Was würde eigentlich geschehen, wenn Gott auch nur für einen Moment sein schöpferisches regimen, sein kreatives Ersehen und Ordnen der Schöpfung aussetzen würde? Die Welt würde, so Augustinus, sofort kollabieren. Denn auch die Erklärung, Gott habe mit dem sechsten Tag einfach die Erschaffung neuer Kreaturen beendet, weshalb er am siebenten von diesen Werken ruht, könne nicht umhin, zuzugestehen, dass die „Lenkung“ (gubernatio) der Schöpfung in ihren geordneten Bahnen am siebenten Tage nicht einfach unterbrochen wurde: Gottes Allmacht habe sich auch ‚an diesem Tag‘ nicht von dieser Lenkung zurückgezogen – sonst wäre die Schöpfung „sofort zerronnen“ (alioquin continuo dilaberentur), ebenso alle eidetisch-substantielle Form (species) und jegliches Wesen (natura). Denn für die gesamte Schöpfung sei „die Macht des Schöpfers und das Vermögen des Allmächti365 Beide Perspektiven, die eschatologische wie die soteriologische, schaut Augustinus später noch einmal zusammen (Gn. litt. IV, 13; 110,8–111,2). 366 S. o. Kap. 8.
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gen und Allerhaltenden der Grund ihres Bestandhabens“ (creatoris namque potentia et omnipotentis atque omnitenentis virtus causa subsistendi est omni creaturae). Augustinus weist ausdrücklich darauf hin, dass sich zwar ein Architekt nach Abschluss der Bauarbeiten zurückziehen kann und der Bau trotzdem bestehen bleibe – für Gott und seine Schöpfung etwas Analoges anzunehmen, sei jedoch aus den gerade genannten Gründen philosophisch-theologisch unsinnig.367 Aus dieser Perspektive erfährt nun auch das oben schon diskutierte Herrenwort über das Wirken Gottes „bis jetzt“ (Jh 5, 17) eine neue, sachliche Bestätigung: Insofern alles Sein gemäß platonischer Philosophie nur als aus dem Einen heraus als seiend und bestehend gedacht werden kann und in christlich-theologischer Analogie dazu Gott Schöpfer aller Seienden ist, kann die in Gott selbst zentrierte Aktivität des Gott-Seins als heraustretende, universale Schöpfungsmacht nicht nachgelassen haben, vielmehr ergibt sich aus den bereits erörterten Gründen der Gedanke einer kontinuierlichen Schöpfung (continuatio operis eius). In diesem Sinne sei gerade das Wort „bis“ inhaltlich schwerwiegend, weil allein der Gedanke ‚Gott wirkt auch jetzt‘ (et nunc operatur) nicht das kontinuierliche Wirken zum Ausdruck brächte. So aber müsse die kontinuierliche Schöpfung als „stehend-stabile Bewegung“, die Gott erzeugt (stabilis motus suus),368 begriffen werden, welche das Sein und die Ordnung der Schöpfung garantiert. Entsprechend sei auch das Wort, welches der Apostel aus dem Werk des Arat zitiert, zu verstehen: „In ihm nämlich leben wir und werden bewegt und sind wir“ (Apg 17, 28). Denn, so Augustinus, die Menschen seien ja nicht in dem Sinne ‚in Gott‘, dass sie gleichsam „seine Substanz“ wären (neque enim tamquam substantia eius sic in illo sumus), sondern seien etwas anderes als Gott, aber insofern „in Gott“, als sie von dessen kontinuierlicher Schöpfungsaktivität überhaupt erst ihr Sein als Menschen beziehen. Zur exegetischen Ausgangsfrage zurückkehrend, inwiefern Gott selbst am siebenten Tage von seinen Werken geruht habe, resümiert Augustinus, dass Gott mit dem sechsten Tag alle Naturen und Gattungen erschaffen,369 nicht aber von der „Erhaltung und Lenkung“ seiner Schöpfung abgelassen habe und daher „bis jetzt“ wirke. Beide Aussagen seien systematisch-theologisch sowie exegetisch aufrechtzuerhalten – wobei das „Wirken bis jetzt“ durch das Herrenwort aus dem Neuen Testament370 maßgeblich gestützt wird.371
367 Gn. litt. IV, 12; 108, 9–22. 368 Zu diesem Begriff vgl. civ. XVI, 6; 133,4; sachlich ist er dem platonischen Verständnis der stehend-ewigen Bewegung im Intelligiblen verwandt (s. dazu Radke 2003: 620). 369 Wobei hier zu fragen wäre, ob ‚alle Naturen und Gattungen‘ im Sinne realexistierender Wesen zu verstehen ist oder als spezifische Seinsmöglichkeiten im Sinne platonischer Eidê: Im letzteren Fall würde dies zwar die Vollständigkeit der Schöpfung im Sinne der Vollständigkeit wesentlicher Seinsmöglichkeiten bedeuten, nicht aber, dass auch schon alle Seinsmöglichkeiten materiell verwirklicht sein müssten, als ob bereits nach den wie auch immer genau zu deutenden sechs Tagen auch schon alle Gattungsvertreter überhaupt im materiellen Universum präsent gewesen wären. 370 Vgl. im alttestamentlichen Kontext die Rede, dass Gott nicht schlafe (Ps 121, 3–4). 371 Gn. litt. IV, 12; 108,23–110,7. Vgl. Sieben (2012: 179, 188).
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In den folgenden Kapiteln schaut Augustinus die hier gewonnenen exegetischen Ergebnisse und deren systematische Reflexion noch einmal zusammen und konstatiert explizit: Gott „wirkt und ruht zugleich“ (qui simul et operatur et quiescit).372 Geheiligt habe Gott deshalb die Ruhe (und nicht sein Wirken), weil er in den Gläubigen das „Verlangen nach Ruhe“ entzünden wollte und weil die Ruhe mehr gelte als das Tun (plus quies quam operatio valeat), wie auch das Evangelium des Erlösers in der Geschichte von Maria und Martha zeige (Lk 10, 38–42): Zwar habe auch Martha Jesus gedient und „immerhin ein gutes Werk gewirkt“. Ohne dass er dies explizit ausspricht, zeichnet sich hier bei Augustinus dennoch ab, dass die zuvor aus dem Handeln Jesu abgeleitete Schlussfolgerung, gute Werke würden nicht im Widerspruch stehen zum Sabbatgebot,373 ihrerseits differenzierungsbedürftig ist: Eine Geschäftigkeit, die von dem „Ruhen im Wort“ des Herren (requiescere in verbo eius) ablenkt bzw. diese kontemplative Ruhe verhindert, hat genau diesen negativen Effekt – und auch eine gute Tat, obgleich sie gut ist und möglicherweise sogar am Sabbat ausgeübt werden kann, verliert in dem Moment etwas von ihrer Gutheit, wenn sie das „Ruhen im Wort“ unterbindet.374 Es kommt also ganz darauf an, ob – wie Jesus es im Neuen Testament tut – einerseits das Heilen eines Kranken am Sabbat besser ist, als ihn mit seiner Krankheit allein zu lassen, oder ob andererseits eine pausen- bzw. ruhelose Aktivität das eigene Betrachten des Wortes ausschließt. Diese aus moderner Perspektive heikel wirkende Unterscheidung hat gleichwohl eine sehr rational begründbare Mitte: Nicht das Wirken des Guten an sich ist schon Verletzung des Sabbatgebots; wird indes das telos des Sabbats im Sinne der auf Gott zielenden, sich auf ihn und die Heilige Schrift konzentrierenden Ruhe umgekehrt geopfert, weil eine an sich gute Tätigkeit ausschließlich in eine für den Agierenden ruhelose Geschäftigkeit mündet, dann scheint die seelische Ausrichtung des einzelnen Menschen in ihrer Grundsätzlichkeit letztlich wertvoller zu sein als sein aktives Tun noch so vieler guter Werke: Verliert er Gott vor lauter Aktivität gleichsam aus dem Blick, so ist der Schaden, d. h. die Opferung der Ruhe in Gott, für ihn größer als das Gute, welches aus gutem Handeln resultiert. Dadurch wird das Wirken des Guten, besonders im Interesse anderer, keineswegs wertlos. Es geht, wenn man Augustins Exegese hier folgen möchte, um eine innere Waage, auf der das Wirken noch so vieler guter Taten im Letzten nicht so viel Gewicht erlangt wie die kontemplative Ruhe in Gott und das Hören auf ihn. In der neutestamentlichen Geschichte gibt Jesus daher nicht von vornherein oder gar generell Maria einen Vorzug gegenüber Martha: Erst auf Marthas selbstsicher-auftrumpfende Frage hin, wieso er Maria nicht befehle, ihr zu helfen, lobt er Maria dafür, dass sie ihm aufmerksam zuhört, und nimmt Martha so die Selbstgefälligkeit, mit der sie sich für besser (und wichtiger) hielt als die 372 Gn. litt. IV, 13; 110, 24. 373 S. o. in diesem Kapitel. 374 Gn. litt. IV, 14; 111, 3–17.
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vermeintlich ‚faule Maria‘.375 Augustinus selbst hatte in De Genesi ad litteram bereits auf eine sabbatgemäße Handlung hingewiesen: Das Sammeln der Ähren, um den Hunger zu stillen, findet in der Kontemplation der Heiligen Schrift sein Pendant, wenn die Bibel-Lektüre zur geistigen Nahrung wird, die zumindest ultimativ noch wichtiger zu sein scheint als die leibliche.376 Jedoch ist dabei nicht allein die Frage berührt, inwiefern Vielgeschäftigkeit die Ruhe in Gott raubt. Im Folgenden geht der Kirchenvater noch einen Schritt weiter und weist auf das „Laster“ und eine „Schwäche der Seele“ hin, dass sie sich „lieber an den eigenen Werken erfreut und in ihnen als in sich von diesen ruht“ (ut potius in eis [sc. operibus] quam in se requiescat ab eis). Denn etwas Bestimmtes in der Seele, durch das die guten Werke getan würden, sei besser als diese selbst – genau dies aber sei in der Ruhe Gottes von seinen Werken in Gen 2, 2 angedeutet: Der Schöpfer sei von seinen Geschöpfen nicht so sehr ‚angetan‘, dass er gleichsam zwingend dieser seiner Schöpfungstat bedurft hätte (quasi faciendi eius eguerit). Die Geschöpfe verdankten ihm ihr Sein, er jedoch niemandem und habe seine Glückseligkeit in sich selbst und nicht erst aus seinem Schöpfungshandeln heraus. Daher seien nicht die sechs Schöpfungstage, sondern die Ruhe des siebenten geheiligt worden: Freilich habe Gott niemals (auch nicht während der sechs Tage) seiner Ruhe entbehrt, sondern habe seine Ruhe „uns“, d. h. den Menschen, „durch den siebenten Tag offenbart“ (et ipse quidem numquam ista requie caruit, sed nobis eam per diem septimum ostendit). So stehe die geheiligte Ruhe dieses Tages sogar höher als die Vollendung der Schöpfungswerke.377 Dieses exegetische Resultat ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Einerseits steht es im Einklang mit der christlichen Gnaden- und Rechtfertigungslehre, wie Augustinus sie begreift: Auch die guten Werke eines Menschen können letztlich nicht seine Beziehung zu Gott aus dem Glauben heraus ersetzen. Als ein Produkt menschlichen Tuns sind sie nicht schon ‚in Gott‘, sondern können außerhalb der Beziehung zu Gott stehen, ohne ihn auskommen oder sogar sich selbst genug und Ursache dafür 375
Dieser Duktus, mit welchem Jesus im Neuen Testament regelmäßig Erwartungen seiner Mitmenschen zunächst ‚enttäuscht‘ bzw. anders als vermutet agiert, ist z. B. in seiner Replik auf den Vorwurf der Schriftgelehrten, er selbst würde den Sabbat verletzen, greifbar (Mt 12) oder bei der Heilung eines Gelähmten, welchem er zunächst die Sündenvergebung zuspricht und damit göttliche Autorität beansprucht (Mk 2, 5–11). Immer wieder, wenn sich Menschen ihrer Sache und der damit verbundenen Bewertung allzu sicher zu sein scheinen, entzieht sich Jesus der ihm vorgelegten ‚bipolaren Alternative‘ (vgl. Mt 22, 15–22) und fordert dies auch von anderen (etwa Mt 21, 23–27). Vielleicht gebündelt zu einer zentralen Aussage erscheint diese Besonderheit seines Auftretens darin, dass nicht jeder, der einfach „Herr, Herr“ sage (Mt 7, 21), bereits dadurch schon ‚zu ihm gehört‘: Interessanterweise erwidert Jesus hier, dass es darauf ankomme, den „Willen meines Vaters im Himmel“ zu tun (ibd.) – auf Augustins Bahnen interpretiert, wäre dann damit zu rechnen, dass dieses ‚Tun‘ sowohl kontemplative (Maria) als auch aktive Aspekte (Martha) implizieren könnte, ohne dass die vita activa die vita contemplativa verdrängt. 376 Auch hier kann analog an den grundsätzlichen Vorrang der Seele vor dem Leib gedacht werden (Mt 10, 28). Zur sabbatgemäßen Handlung s. o. Kap. 8. 377 Gn. litt. IV, 15; 112, 5–23.
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werden, sich in Überheblichkeit aufzublähen und lieber in den eigenen Werken als in Gott selbst zu ‚ruhen‘. Zumindest aber können sie nicht den Glauben an Gott und das Hören auf ihn ersetzen, wie an der Geschichte von Maria und Martha exemplarisch deutlich wird. Genau diesen Zusammenhang kann Augustinus in seiner Genesis-Exegese bereits im Schöpfungsbericht vorausgenommen sehen, denn auch Gott selbst heiligt nicht seine Werke, auch nicht die Tage seines schöpferischen Handelns, sondern die Ruhe in Gott, d. h. in sich selbst. Ist aber die Sabbatruhe deshalb ebenso für den Menschen heilig, damit auch er von seinen Werken in Gott und somit aus Gottes Gnade in ihm ruhe, so steht dies in ausdrücklicher Analogie zu Gottes eigenem Ruhen in Gen 2, 2. Die Ruhe von den Werken in Gott antizipiert die paulinische Rechtfertigungslehre:378 Rechtfertigung findet der Christ nicht in seinen Werken, wenn er diese überhöht und sich selbst rühmt, sondern in der Glaubens-Ruhe,379 in der Hinwendung zu Gott und dem kontemplativen Hören auf ihn. Dass daraus indes nicht abgeleitet werden kann, das Wirken des Guten würde aufgrund dieser Lehre für den Menschen wertlos, wird besonders durch die Analogie mit Gottes eigenem Schöpfungshandeln deutlich: Auch der Schöpfer bleibt ja in der ihm wesenseigenen Ruhe nicht untätig, obgleich diese Ruhe ‚über‘ seiner schöpferischen Aktivität steht und auch bestehen bleibt. Andererseits ist Augustins Auslegung der Ruhe Gottes ebenso anschlussfähig an die neuplatonische Lehre von Gottes Selbstgenügsamkeit und seinem „neidlosen“ Anteilgeben an sich selbst:380 Auch nach platonischer Auffassung bedarf Gott nicht der Schöpfung, um selbst Gott zu sein oder gar zu sich selbst zu kommen, sondern ruht in sich. Aus dieser Ruhe heraus vollzieht sich das neidlose Anteilgeben an sich selbst: Aus seiner Überfülle381 heraus konstituiert er das Sein und die Seienden, ohne diesen seine Anteilgaben, die ihnen zuteil werden, zu neiden, d. h. ohne das Geschenkte gleichsam ‚zurückhaben‘ zu wollen und neidvoll darauf zu blicken. Denn ein solcher Neid stünde in diametralem Gegensatz zu seiner eigenen Ruhe in sich selbst. Das göttliche Wirken vollzieht sich aus der in sich ruhenden Überfülle heraus und steht somit nicht im Gegensatz zur Ruhe, wie auch Augustinus bereits festgestellt hatte.382 Im Folgenden unterstreicht der Kirchenvater, dass die „Ruhe Gottes in uns [sc. Menschen]“ als Gewähren seiner Ruhe zu begreifen sei – womit ein aktives Moment innerhalb der Ruhe Gottes impliziert scheint, insofern Gott Ruhe schenkt (in se requiem praestat et nobis). An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, dass die Polarität ‚Aktivität vs. Passivität‘ letztlich der Sache nach an Gottes Sein vorbeizielt: Als der absolut
Vgl. Rö 3,21–5,11. Augustinus macht diesen Zusammenhang später explizit (Gn. litt. IV, 17; 113,28–114,18). S. o. Anm. 87. Zum neuplatonischen Verständnis der göttlichen Überfülle s. Drews (2018: 81–83 mit Anm. 238; 120, 128–138 mit Anm. 342; 168–182, 405–6). 382 S. o. in diesem Kapitel. 378 379 380 381
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Eine383 transzendiert er jede Polarität. Dies ist jedoch nicht nur ein Implikat platonischer Philosophie und Theologie, sondern lässt sich am Beispiel des Ruhens und Ruhe-Schenkens Gottes konkreter durchdenken: Wenn Gott die absolute Ruhe ist und zugleich Schöpfer, dann ruht er in seinen Werken und nicht nur ‚von ihnen‘. Dass damit keine pantheistische Identifikation von Gott und Welt intendiert ist, wird Augustinus nicht müde zu betonen: Zwar benötigen die Geschöpfe die seinskonstituierende Gutheit Gottes, nicht aber umgekehrt Gott des Guten seiner Geschöpfe (quia et nos beatificamur bono, quod ipse est, non ipse bono, quod nos sumus), da er selbst das einzige unerschaffene Gut sei. Gewährt Gott also Ruhe für seine Geschöpfe, dann ist dieses Ruhe-Gewähren einerseits eine Folge seines Ruhens (‚passiver‘ Aspekt), andererseits aber eine Wirkung (‚aktiver‘ Aspekt) – beide Aspekte gehören jedoch unmittelbar zusammen, bilden also keinen polaren Gegensatz in Gott: Nur aufgrund seines Ruhens ruht er selbst und gibt Anteil an seiner Ruhe; nur aufgrund der ‚Wirkung‘ dieser Ruhe erlangen die Geschöpfe ihre Ruhe in Gott, wobei diese ‚Wirkung‘ bzw. ‚Aktivität‘ keine Un-Ruhe bedeuten kann, da sie sonst nicht Ruhe erzeugen und ‚wirken‘ würde. Wenn Gott jedoch keines seiner Werke bedurfte, um in sich zu ruhen, warum schuf er sie? Augustins Antwort lautet: Zur Gutheit Gottes gehöre die „Macht“ (potentia) zu erschaffen; würde sie nicht aktualisiert, dann wäre dies Zeichen von „Neid“ (invidentia) und stünde im Gegensatz zu seiner Güte. Dies aber ist unmöglich, wenn Gott absolute Gutheit und absolute Einheit ist, die keinen Gegensatz zulässt. Von seiner Ruhe habe Gott nie abgelassen (requies, a qua numquam recessit). Der Schöpfungsbericht führe diese Ruhe nicht schon zu Beginn ein, da sonst das Missverständnis entstehen würde, Gott wäre irgendwann nicht erschaffend tätig gewesen, wodurch zugleich eine unangemessene Verzeitlichung Gottes suggeriert würde.384 Die Ruhe am siebenten Tag dagegen verdeutliche, dass er seiner Werke nicht bedürfe für seine eigene Ruhe – genau dieser Aspekt sei aber theologisch notwendig zu betonen, weshalb der Schöpfungsbericht ihn zu Recht an dieser Stelle unterstreiche: Schließlich sei das Schöpfungswerk in der Vollkommenheit der Sechszahl hervorgebracht worden,385 daher sei das Seligwerden (beatificari) den Geschöpfen an dem folgenden, siebenten Tag als „zu begehrende Ruhe“ (requies concupiscenda386) in Aussicht gestellt, ja die Geschöpfe würden sogar zum Begehren dieser Ruhe „aufgerichtet“ (quo erigeremur), auf dass „wir selbst in ihm ruhen“ (ut et nos in illo requiescamus).387 Was Augustinus nicht weiter ausführt: Während die Sechs als vollkommene Zahl dadurch, dass sie sowohl das Produkt wie auch die Summe ihrer Teiler ist, in sich die Entfaltung und Produktivität ihres zahl-
383 384 385 386
Vgl. o. Kap. 7. S. o. Kap. 5-7. S. o. Kap. 15. Man beachte hier die positive Konnotation des Begriffs concupiscere! Es gibt gemäß Augustinus eine angemessene, auf das richtige Ziel orientierte Begierde (concupiscentia). 387 Gn. litt. IV, 16; 112,24–113,27.
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haft-schöpferischen Potentials zeigt, eignet der Sieben als Nachfolger der Sechs nichts Vergleichbares: Als Primzahl zeigt und ist sie in sich reine Einheit, welche so auf die Ruhe Gottes in sich als dem absolut Einen verweist. Augustinus legt Wert darauf, dass die Ruhe von den Werken nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen werden kann: Wenn der Mensch meinte, einfach von seiner Arbeit in sich selbst ruhen zu können, würde er gerade keine Ruhe finden. Gott dagegen ruhe von seinen Werken in sich selbst, weil er sich selbst das Gut der Ruhe ist, d. h. seine Ruhe von keiner ihm verschiedenen Ursache empfängt. Die Ruhe des Menschen kann jedoch ebenfalls nur in Gott, also nicht in sich selbst begründet sein. Hier liegt noch eine weitere Analogie verborgen: Denn der Mensch ist nicht nur hinsichtlich seines Ruhens auf Gott angewiesen, sondern verrichtet auch seine Werke, insofern sie gut sind, nicht ohne Gott und seine Gnade. Augustins Ausführungen sind kein bloßer Reflex auf seine Gnadenlehre, als ob er diese hier nun auch noch ‚unterbringen‘ müsste: Vielmehr ist Gott als das Summum bonum, das höchste Gut in Person,388 Schöpfer des Seins; die Schöpfung gibt es also nur, weil Gott selbst Quell des Guten ist. Nur deshalb bringt er sowohl die Geschöpfe hervor als auch ruht er in sich selbst. Für Augustinus ist klar, dass alles Gute, insofern es gut ist, ohne den Quell des Guten, also ohne Gott, gar nicht existieren würde: Und dies betrifft eben auch die guten Handlungen des Menschen, welche dieser, insofern sie gut sind, nicht nur in Orientierung auf Gott hin, sondern auch in Begleitung durch Gottes gute Gnade vollbringt. Die Forschung hat dies – prominenterweise Kurt Flasch389 – mitunter als Nivellierung der menschlichen Freiheit (miss-)verstanden: Der Mensch wird durch die ihm vorausliegende Gnade Gottes jedoch nicht unfrei, da er innerhalb bestimmter Grenzen die durchaus reale Möglichkeit (mit einer Vielzahl leidvoller Konsequenzen) besitzt, sich dem Guten zu widersetzen.390 Deshalb weist Augustinus immer wieder darauf hin, dass der Abfall vom Guten (Sünde) keinesfalls Gottes Wille oder gar vorherbestimmt ist, sondern allein das Werk des Menschen. Umgekehrt bedeutet dies aber nicht, dass beim Tun des Guten die menschliche Willensfreiheit außer Kraft gesetzt wäre: Denn der Mensch tut das Gute, welches er wirkt, selbst, aber auch Gott ‚tut es, dass er es tut‘ – beides, göttliches Verursachen und menschliches Tun, konvergiert hier im Guten und macht den Menschen erst wahrhaft frei.391 Seine Gnadenlehre ermöglicht es Augustinus in De Genesi ad litteram also, sowohl die erhoffte Ruhe als auch das Wirken guter Taten für den Menschen als in Gott zentriert zu denken: Wirken und Ruhen erscheinen hinsichtlich ihrer Gott-Zentriertheit also analog. Die Gnade Gottes und die durch sie gewirkte Rechtfertigung der Menschen (iustificati) vor Gott eröffnen die Hoffnung der ewigen Ruhe und das Vollbringen guter Werke. Wenn aber Gott wirkt, dass Menschen 388 389 390 391
S. dazu Drews (2009: 68–104). Zur Auseinandersetzung mit Flasch s. Drews (2009: 185–220). S. Anm. 350. S. dazu Drews (2009: 221–238).
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im Einklang mit ihm Gutes wirken, dann ruhen nach diesen guten Taten nicht nur die Menschen, sondern auch Gott selbst. Die ewige Ruhe ‚verdient‘ sich jedoch weder Gott noch der Mensch durch gute Taten – Rechtfertigung wie Ruhe sind Wirkungen der Gnade Gottes, welche in Gott und seiner ihm immer eigenen Ruhe gründen. Deshalb wird diese Ruhe – und so in der Schöpfungsgeschichte der siebente Tag – geheiligt, nicht aber die Tage des Wirkens.392 Eine Konsequenz daraus, dass Gottes Ruhe immer ist und nie aufhört, besteht darin, wie Augustinus feststellt, dass diese Ruhe weder Morgen noch Abend hat (quieti eius nec mane nec vespera est). Zwar gebe es nach der Vollendung der Werke einen Morgen auch für den siebenten Tag, jedoch keinen Abend: Denn die vollendete Schöpfung besitze einen „bestimmten Anfang ihrer Hinkehr/Bekehrung zur Ruhe ihres Schöpfers“ (perfecta quippe creatura habet quoddam initium suae conversionis ad quietem creatoris sui), die Ruhe jedoch selbst keinen Endpunkt in dem Sinne, dass die Vollendung der Ruhe begrenzt sei (quasi terminum perfectionis suae). Obwohl Augustinus – nur scheinbar ‚gegen den Literalsinn‘ – Gottes Ruhe also als ewig-während denkt, vermag er den Schöpfungsbericht mit seiner Tageszählung nun doch literal auszulegen: Wenn erst der siebente Tag geheiligt werde, dann bedeute dies eben nicht, dass die Ruhe für Gott, sondern für die Vollendung seiner Geschöpfe begonnen habe (ac per hoc requies dei non ipsi deo, sed rerum ab eo conditarum perfectioni inchoatur). Die Ruhe der Geschöpfe beginne in Gott, insofern sie von ihm vollendet würden, und habe in dieser Hinsicht einen Morgen, weil die Geschöpfe in ihrer Gattung bereits „gleichsam am Abend“ begrenzt seien. Gemeinsam ist Gott und seiner Schöpfung also gemäß Augustins Exegese, dass Schöpfer wie Geschöpfe ihre Vollendung in der Ruhe des Morgens haben (bzw. auf Seiten der Geschöpfe: empfangen). Gottes Ruhe besitze keinen Abend, weil nichts vollkommener sein könne als Gottes Vollkommenheit selbst.393 Die ewige Ruhe steht also sowohl über wie auch am Ende aller Schöpfung: Aus seiner ewigen, ‚morgendlichen‘ Ruhe (als Zukunft des jeweils Zu-Erschaffenden) heraus schafft Gott die Geschöpfe, die ihrerseits – als zeitliche Wesen – am ‚Abend‘ ihr gattungsspezifisches Sein,394 jedoch erst am ‚Morgen‘ des siebenten Tages ihre Ruhe empfangen bzw. empfangen werden. Damit wird zugleich die im Schöpfungsbericht vorliegende Reihenfolge ‚Abend – Morgen‘ (nicht umgekehrt)395 sinnvoll ausgelegt sowie das Fehlen des Abends am siebenten Tag, weil nach Abschluss der Schöpfung nur die ewige, abendlose Ruhe Gottes ist, die, wie Augustinus scharfsinnig bemerkt, zwar
392 393 394 395
Gn. litt. IV, 17; 113,28–114,26. Gn. litt. IV, 18; 114,27–115,10. S. o. Kap. 7 und 11. Vgl. Gen 1, 5+8+13+19+23+31.
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für Gott „weder Anfang noch Ende“, für die Schöpfung jedoch einen Anfang ohne Ende habe.396 Der Kirchenvater wird seinem Anspruch, die Genesis literal auszulegen, also durchaus gerecht, auch wenn er seine Exegese, wie gewohnt, in enger Verzahnung mit systematischer Reflexion vornimmt: Genau diese Kombination erbringt das bemerkenswerte Resultat, dass er die zeitlichen Angaben, welche zunächst mit der Ewigkeit Gottes im Widerspruch zu stehen scheinen, sinnvoll auf den Schöpfungsprozess, genauer: auf den Akt des Hervorgebrachtwerdens der Geschöpfe beziehen kann. Dadurch wird nicht Gott selbst verzeitlicht, sondern die Entfaltung der Zeit als Abbild der Ewigkeit397 und als Bedingung geschöpflichen Seins gedeutet. In diesem Sinne sieht freilich auch ein Augustinus, dass die Anzahl der Tage einer Woche, wie sie uns bekannt ist, zwar mit derjenigen der Schöpfungstage korrespondiert, versteht aber die Tage des Sechstagewerks als durch eine „uns unbekannte und ungewohnte seinsspezifische Eidos-Form entfaltet“ (illos autem primos sex dies inexperta nobis atque inusitata specie […] explicatos): Bei ihnen sei der Wechsel von Tag und Nacht nicht von derselben Art wie bei der uns gewohnten, durch den Umlauf der Gestirne festgelegten Folge der (Wochen-)Tage – auf jeden Fall gelte dies von den drei ersten Tagen, von welchen der Schöpfungsbericht vor der Erschaffung der Himmelslichter erzähle.398 Während die sechs Tage des Schöpfungswerks genau das sind: die intelligiblen Konstitutionsbedingungen des Sechstagewerks, beginnen erst nach dessen Abschluss die zeitlich wiederkehrenden Umläufe (Wochen, Monate, Jahre). Die intelligible Bedingung der Möglichkeit dafür ist gemäß Augustins Auslegung der abendlose siebente Tage, den Gott heiligt: Denn nach der Erschaffung aller Geschöpfe wende Gott, der in sich selbst, seiner ewigen Ruhe verharre, alle Seienden wieder zu sich zurück (et ideo, cum ipse manet in se, quidquid ex illo est retorquet ad se). So habe jedes Geschöpf die „Grenze seiner Natur in sich“, erhalte aber seinen „Ort“ in der ewigen Ruhe Gottes, so dass es innerhalb der Schöpfungsordnung sein Bleiben empfange und seine spezifische Natur bewahre. Diese Ordnung ist gleichsam die der Schöpfung geschenkte Anteilgabe an der ewigen Ruhe Gottes, da auch das (jedenfalls grundsätzliche) Bleiben in dieser Ordnung eine „eigene Form des Ruhens“ (propria stabilitas) sei, die aus der Offenheit des abendlosen siebenten Schöpfungstags resultiere. Augustinus ergänzt, dass Gottes Ruhe selbstverständlich kein Ort im herkömmlichen Sinne sei, da Ort (physikalisch) ein Platz sei, der von einem Körper eingenommen werde. Analog 396 Gn. litt. IV, 18; 115,11–116,5. Vgl. Augustinus zu Anfang und Endpunktslosigkeit der Seele: Inventa est enim animae beatitudo, quae cum initium temporis habuerit, finem temporis non habebit (civ. X, 31; 454, 17–19). 397 Zu Augustins Zeitverständnis (conf. XI) möchte ich in Bälde eine separate Untersuchung vorlegen, die u. a. eine neue, zwischen objektiver und subjektiver Zeit ausgewogen vermittelnde Deutung beinhaltet. 398 Gn. litt. IV, 18; 116, 6–24.
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dazu, dass Körper durch ihr Gewicht ihren naturgemäßen Ort erstrebten, könne jedoch auch im geistigen Sinne – um den es hier geht – davon gesprochen werden, dass die Geschöpfe den von ihnen erstrebten ‚Ort‘, d. h. ihre Ruhe in Gott fänden. Wenn sie auch ihr wesensmäßiges Sein bereits in sich, durch ihre jeweilige Natur besäßen, werde ihnen ihre „Vollendung“ (perfectio) nur vom Schöpfer selbst zuteil, von dem her sie sind und ihre Ruhe finden müssen. Damit greift Augustinus den schon früher entwickelten Gedanken auf, dass Gott seine Geschöpfe durch Rückwendung zu sich selbst vollende.399 Wesentlich ist dabei die subtile, sprachlich zunächst kaum greifbare Differenzierung, welche der Kirchenvater zwischen den Begriffen perfectio („Vollendung“) und consummatio („Abschluss“) vornimmt: Während das Schöpfungswerk am sechsten Tage „abgeschlossen“ sei (sexto die consummatis omnibus), beginne die fertige Schöpfung erst am Morgen des darauffolgenden siebenten Tages in Gott zu ruhen, weil sie in der Ruhe, welche Gott selbst ist und in sich selbst hat, auch ihre Ruhe finde als vollendete Schöpfung (non enim posset in eo nisi perfecta requiescere).400 Noch einmal bemüht sich der Kirchenvater – ganz im Sinne seines Projekts, die Genesis literal auszulegen – darum, ob die Ruhe Gottes nicht doch auch in einer bestimmten Hinsicht auf Gott selbst bezogen gedacht werden kann. Zwar verwirft Augustinus keinesfalls seine theologische Überzeugung, dass Gottes Ruhe immer währe, ohne Anfang und Ende, jedoch lässt sich die Vollendung der Schöpfung als Ursache dafür ausmachen, dass von einem Beginn des Ruhens die Rede ist: nämlich in dem Sinne, dass die hervorgebrachte Schöpfung selbst – im Unterschied zu Gott – ja der Zeit unterworfen ist, also ihre Vollendung einen zeitlichen Abschluss auf Seiten des Geschaffenen bedeutet. Augustinus betont die Schwierigkeit, dies präzise zu verstehen und zu erklären, denn man darf dabei nicht den Fehler machen, von der Zeitlichkeit des Geschaffenen auf eine Zeitlichkeit Gottes schließen zu wollen: Genau ein solches Missverständnis will der Kirchenvater unbedingt ausschließen. Gleichwohl kann man, auf den Aspekt des Hervorgebrachtwerdens der Schöpfung in der Zeit achtend, genau diesen Abschluss des Schöpfungsprozesses als einen Zeitpunkt der Ruhe verstehen: Innerzeitlich gedacht könnte es insofern so scheinen, als habe Gott ‚jetzt‘ angefangen zu ruhen. Dieses Verständnis ist für Augustinus jedoch nur dann theologisch zu rechtfertigen, wenn dabei die innerzeitliche Perspektive korrekterweise auf die Hervorbringung der Schöpfung selbst bezogen wird: Es ist gleichsam eine uneigentliche Blickrichtung, aus der es nur so scheint, als habe Gott zu ruhen begonnen. Diese uneigentliche Perspektive lässt sich aber aus Gründen der literarischen Ausschmückung und bildlichen Darstellung dessen, was von sich selbst her nur das begreifende Denken, welches die Ebene der Vorstellung übersteigt, zu erfassen vermag, zumindest bis zu einem gewissen Grad verteidigen: Man darf den Beginn der Ruhe Gottes eben
399 S. o. Kap. 4 und 10. 400 Gn. litt. IV, 18; 116,25–118,7.
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nicht direkt auf Gott beziehen, sondern nur indirekt, indem sein Wirken in die Zeit hinein durch die Vollendung der Schöpfung scheinbar zu einer Ruhe kommt. Der theologischen Sache nach ist für Augustinus jedoch immer klar, dass Gottes Ruhe, aber auch seine Schöpfungsaktivität nicht in einem zeitlichen Sinne plötzlich endet, da sonst die Welt unmittelbar kollabierte, wenn der Schöpfer sein ruhevolles hervorbringend-bewahrend-ordnendes Wirken aufheben würde. Da Gott als das Summum bonum Quell aller Gutheit ist und seine Glückseligkeit aus sich selbst bezieht, sei diese in keiner Weise durch den Schöpfungsakt vergrößert oder verringert worden – daher erzähle der Schöpfungsbericht angemessenerweise davon, dass der siebente Tag keinen Abend habe, die Ruhe Gottes also end- und zeitlos sei.401 Sind die ersten sechs Tage gleichsam die Konstitutionsbedingungen des Schöpfungswerks, dann stellt sich für Augustinus die Frage, inwiefern eigentlich der siebente Tag, an dem nichts geschaffen wird, einen Zeitraum markieren kann: Denn die sechs Tage seien dadurch in einem zeitlichen Sinne abgrenzbar, dass an ihnen jeweils Bestimmtes hervorgebracht werde – jeweils ein Tageszeitraum sei der an ihm geschaffenen Kreatur concreatum, „miterschaffen“. Da nun aber am siebenten Tag nichts erschaffen worden sei, könne dieser Tag nicht im eigentlichen und gleichen Sinne als „erschaffen“ gelten. Diese Beobachtung ist für Augustinus deshalb entscheidend, weil er von hier aus das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit und in diesem sein Verständnis der ‚Tage‘ genauer entwickeln kann: Wenn die sechs Tage nur im zeitlichen Sinne Tage sind, weil an ihnen bestimmte Geschöpfe hervorgebracht werden, dann ist klar, dass die Zeitlichkeit nicht auf Gott selbst als den Schöpfer zu beziehen ist. Diesen bereits bekannten theologischen Sachverhalt entwickelt Augustinus nun konsequent weiter: Wenn am siebenten Tage nichts erschaffen wird, dann ist dieser Tag kein Zeitraum und hat konsequenterweise kein Ende. Von diesem siebenten Tag her fällt nun aber auch noch einmal Licht auf die vorhergehenden sechs Schöpfungstage: Bei subtiler Differenzierung sind diese sechs ja nicht von Gott her bereits Zeiträume, sondern nur von den an ihnen geschaffenen Kreaturen her. Dies aber bedeute doch eigentlich nichts anderes, als dass Gott gar keine abstrakten Zeiträume geschaffen habe: Zeit und Raum sind ja gemäß Augustins platonischem Verständnis nichts Absolutes, immer schon Existierendes (weder objektiv noch als ‚Anschauungsform‘402), sondern verdanken sich der Formung von Materie, durch deren Gestaltwerdung etwas Bestimmtes, dem Werden und Vergehen Unterworfenes, entsteht, so dass damit zugleich als concreatum auch Raum und Zeit Gestalt gewinnen – ohne bestimmte Formung von Materie gibt es weder Zeit noch Raum. Auch aus dieser Perspektive gilt also, dass Gott weder selbst der Zeit unterworfen ist noch abstrakt-leere Zeiten schafft. Deshalb nimmt Augustinus nun den entscheidenden Interpretationschritt vor und formuliert diesen wieder
401 Gn. litt. IV, 19; 118, 11–26. 402 Zu Newtons und Kants Zeitverständnis s. o. in aller Kürze Anm. 214.
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einmal als vorsichtige Frage: Hat Gott vielleicht „nur einen Tag geschaffen, auf dass durch dessen Wiederholung die vielen, die Tage genannt werden, vorübergehen und vorbeilaufen sollten, und es gar keines Werkes bedurfte, dass er den siebenten Tag schaffte, weil jenes [sc. Tages], den er erschaffen hatte, siebente Wiederholung diesen durchaus machte?“ Denn mit der Erschaffung des Lichts als des ersten Geschöpfs habe Gott auch den Tag erschaffen (Gen 1, 3–5), dessen Wiederholung die Schrift den zweiten, dritten bis hin zum sechsten Tag nenne, an dem das Schöpfungswerk abgeschlossen wurde. Daher sei der siebente Tag auch kein Geschöpf, sondern nur die siebente Wiederholung der am ersten Tag geschaffenen Unterscheidung, „als Gott das Licht ‚Tag‘ und die Finsternis ‚Nacht‘ nannte.“403 Es könnte so scheinen, als ob Augustinus sich hier selbst widerspricht: Wenn am siebenten Tag nichts erschaffen wird und dieser deshalb nicht als Geschöpf gelten könne, dann wäre es widersprüchlich, ihn im Sinne der siebenfachen Wiederholung irgendwie doch mit den geschaffenen sechs Tagen in Verbindung zu bringen, wie der Kirchenvater dies hier tut. Seine Exegese lässt sich jedoch von ihrem systematischen Aspekt als in sich stimmig erweisen: Wenn klar ist, dass Gott keine Tage im Sinne von abstrakten Zeiträumen hervorbringt und er selbst nicht der Zeitlichkeit unterliegt, sondern in Ewigkeit verharrt, dann besteht der erste (und im Grunde einzige) Möglichkeitsraum – womit nichts äußerlich ‚Räumliches‘ gemeint ist, sondern die intelligible Bedingung der Möglichkeit – von Schöpfung in der primären Unterscheidung von Licht und Finsternis. Denn in der Tat ist es (sogar von einem ganz alltäglichen Verständnis her betrachtet) plausibel, dass der Wechsel von Tag und Nacht irgendwie immer schon den Unterschied zwischen Licht und Finsternis impliziert. Auf den exegetischen Gedankenbahnen Augustins werden also die Tage ganz generell nicht selbst als Abstrakta geschaffen, sondern verdanken sich der Ur-Differenzierung von Licht und Finsternis, welche sich als selbige wiederholt, in dieser Wiederholung jedoch zugleich Unterscheidbarkeit generiert: die Unterscheidung selbst; ihre Wiederholung, die als solche zwar einerseits selbig erscheint, zugleich als Wiederholung jedoch die Differenz zur ersten Unterscheidung mit sich bringt usw. So entwickelt sich Zahlhaftes und Zählbares: Die Eins ist immer Eins; nur durch ihre ‚Wiederholung‘, durch die in primärer Verschiedenheit zu Eins erfolgende Synthese mit sich selbst generiert sie die Zwei; die Zwei ist dann von der Eins als etwas zu ihr Differentes unterscheidbar; die Synthese aus Eins und Zwei generiert die Drei usw.404 403 Gn. litt. IV, 20; 118,27–120,7. 404 Die oben angedeutete Generierung von Zahlhaftem ist aus platonischer Perspektive nur die einfachste, die auf mathematisch-arithmetischer Ebene verbleibt. Bei genauerer, dialektischer Differenzierung ist die Zwei noch gar keine wirkliche Zahl, da sie nur die Differenz zur Eins, d. h. die primäre Verschiedenheit und Möglichkeit der noch unbestimmten Vielheit eröffnet und beinhaltet, während erst die in einem nächsten Konstitutionsschritt geeinte Vielheit spezifisch Zahlhaftes erzeugt, insofern diese primäre, von sich selbst her offen-unbestimmte Verschiedenheit der Zwei geeint wird – in der ersten wirklichen Zahl, der Drei. Vgl. Radke (2003: 478, 798–801). Zur platoni-
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Vielleicht darf man Augustinus also dahingehend verstehen, dass im Grunde überhaupt keine Tage (als Plural), sondern nur der eine Tag durch die Ur-Differenzierung von Licht und Finsternis hervorgebracht wird. Deshalb ist auch der siebente Tag kein Geschöpf; er verweist jedoch in besonderer Weise, weil ohne Abend, darauf, dass auch die im Schöpfungsbericht vorhergehenden sechs Tage nicht von sich selbst her, als Abstrakta schon zeithaft sind, sondern höchstens aufgrund des an ihnen jeweils Hervorgebrachten: Nur diese einzelnen Geschöpfe machen auch die Schöpfungstage zu unterscheidbaren und unterschiedlichen Tagen, weil an ihnen Verschiedendes erschaffen wird, und dieses Verschiedene bewirkt zeithafte Differenz. Was an Tag 2 geschaffen wird, ist nicht dasselbe wie an Tag 3 usw. – nur deshalb sind die Tage 2 und 3 (usw.) voneinander als bestimmte Tage zu unterscheiden. Von ihrer intelligiblen Möglichkeitsbedingung – der Ur-Differenzierung von Licht und Finsternis – her wären sie dies noch keineswegs. Nach Abschluss des Sechstagewerks ist der neue, siebente Tag nichts anderes als genau diese Ur-Differenzierung von Licht und Finsternis, also der selbige erste Tag in siebenter Wiederholung. Noch genauer betrachtet, ist dieser siebente Tag nur ‚Tag‘, d. h. nur Licht, weil an ihm nichts Bestimmtes geschaffen wird, so dass er keinen Abend besitzt, der eine seinsspezifizierende Grenze bestimmter Kreatur(en) darstellte. Gottes schöpferische Entfaltung aus der Ewigkeit in die Zeit scheint von der Perspektive der Zeit her beendet, ruht in Wahrheit aber in seiner ewigen Transzendenz.
schen Zahlentheorie und primären Verschiedenheit als ontologischer Bedingung von Zahlhaftem s. o. Anm. 318 und 320.
17. Der sich im Intelligiblen wiederholende eine Schöpfungstag und das Fehlen der Nacht Hinkehr zu Gottes Logos, die Differenzierung zwischen geistiger Erschaffung und materieller Verwirklichung sowie ein spezifisch-geistiges Schriftverständnis
Indem die Entfaltung der Zeit aus der Ewigkeit und die Erschaffung der Tage aus der Wiederholung des einen Tags abgeleitet wird, an welchem Gott das Licht von der Finsternis schied (Gen 1, 3–5), springt die Argumentation auf das schon in Buch I erörterte Problem zurück, wie das Licht als erstes Geschöpf noch vor der Erschaffung der Gestirne den Wechsel von Tag und Nacht habe bestimmen können. Augustinus bemerkt, wie er in Buch I jenes Licht als eidetische Formung (conformatio) der geistigen Schöpfung,405 die Nacht aber als noch zu formende Materie aufgefasst hatte.406 Diese Rekapitulation ist zwar inhaltlich nicht unstimmig, scheint jedoch in systematischer Hinsicht hinter dem präzisen Interpretationsergebnis aus Buch I etwas zurückzubleiben: Dort hatte der Kirchenvater die Finsternis (!) in Gen 1, 2 als ungeformte Materie interpretiert, während „die Benennung von Tag und Nacht“ bereits „die Andeutung einer Verteilung (distributio)“ sei, wodurch bezeichnet werde, dass Gott nichts ungeordnet lasse und dass selbst „Formlosigkeit“ (informitas) nicht ohne bzw. außerhalb der schöpferischen Ordnung (indisposita) liege. So sei „Nacht“ bereits „geordnete Finsternis“ (ordinatae tenebrae) – und kein formlos-ungeordneter Mangel an Licht.407 Jetzt – in Buch IV – scheint Augustinus verkürzt-zusammenfassend zu sprechen, wenngleich er auch hier, nachdem er die Nacht als zu formende Materie bezeichnet, sofort hinzufügt, dass die Hervorbringung der (absoluten) Materie bereits im ersten Vers (Gen 1, 1) stattfinde, als Gott „Himmel und Erde“ schafft. Überraschenderweise erwägt Augustinus erneut, das primäre, ersterschaffene Licht auch in körperlicher Hinsicht zu verstehen: 405 S. o. Kap. 4 und 11. 406 Gn. litt. IV, 21; 120, 15–19. 407 Gn. litt. I, 17; 25, 6–15. Vgl. Alexanderson (2007: 369).
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Diese Interpretationsmöglichkeit führt jedoch in die früher schon diskutierten Aporien, weshalb es leichter sei, die „Unwissenheit“ einzugestehen (facilius est, ut nos ignorare fateamur) als gegen die Schrift zu argumentieren, dass Gott etwa den siebenten Tag „erschaffen“ habe, an welchem er doch von allen seinen Werken geruht habe und welcher daher viel sinnvoller als Wiederholung jenes ersten Tages, den Gott geschaffen habe, zu verstehen sei. Dieser erste-eine Tag sei jedoch nichts anderes als die Gegenwart des Lichts, des ersten Geschöpfs überhaupt, die bei allen seinen Werken an allen Tagen in Wiederholung gegeben war und so auch am siebenten Tag.408 Augustinus unterstreicht daher auch jetzt noch einmal, dass das primäre Licht seiner Ansicht nach als geistiges zu begreifen sei, welches „nach der Finsternis“ geschaffen und so aus materieller Formlosigkeit zu Gott hingewendet/bekehrt und geformt wurde (a sua quadam informitate ad creatorem conversa atque formata). Während der Abend des ersten Tages auf Seiten des ersten Geschöpfs die Erkenntnis der eigenen Natur bedeute, aufgrund der es „nicht selbst ist, was Gott ist“, beinhalte der folgende Morgen die Rück- bzw. Hinwendung zum Lob des Lichts, dass Gott selbst es ist, durch dessen Schau (contemplatio) es geformt werde. Alle anderen Geschöpfe jedoch würden „nicht ohne die Erkenntnis“ dieses Lichts entstehen: Daher sei die Interpretation der sechs Tage, an denen die „Gattungen der Erschaffenen“ im einzelnen erfolge, als Wiederholung des einen Tags gerechtfertigt, da an ihnen immer wieder die prinzipienhafte Bedingung des Schöpfungsaktes, nämlich die Unterscheidung von Licht gegenüber der Unbestimmtheit der Finsternis, die entscheidende Voraussetzung darstellt. Abend bedeute also die geschöpfliche Erkenntnis des Lichts, nicht selbst Gott zu sein; der folgende Morgen dagegen, welcher zugleich „den einen Tag“ (dies unus) beschließe und den folgenden eröffne, sei die Bekehrung des Geschöpfs (= des Lichts), wodurch das Geschaffene sich „zum Lob des Schöpfers zurückwendet und von Gottes schöpferischem Logos die Erkenntnis der daraufhin zu erschaffenden Kreatur (= des Firmaments) erfasst“ (conversio sit eius, qua id, quod creata est, ad laudem referat creatoris et percipiat de verbo dei cognitionem creaturae, quae post ipsam fit, hoc est firmamenti). Diese Erkenntnis sei in dem „Und so geschah es“ (Gen 1, 6) gemeint, während das „Und Gott machte“ die materielle Verwirklichung des Firmaments als eigenständige Natur bedeute, wie Augustinus schon in Buch II erörtert hatte.409 Der folgende Abend bedeute für jenes primär erschaffene geistige Licht, dass es nun das Firmament nicht mehr, wie vorher, im Logos Gottes, sondern in dessen eigener Natur erkenne: Das Erkennen der materiellen Natur sei jedoch geringer als das geistige Erfassen im Schöpfungslogos, weshalb dieser Aspekt zu Recht als ‚Abend‘ bezeichnet werde. Der zweite Morgen, der den zweiten Tag beschließe und den dritten eröffne, bedeute wiederum die Hinwendung des Lichts zum Lobe Gottes, weil er das Firmament erschaffen habe, 408 Gn. litt. IV, 21; 120,8–121,10. 409 S. o. Kap. 10, mit dem Hinweis, dass Augustins Text in Gen 1, 6 ein Sic est factum enthält. Zur Entfaltung der Schöpfung in der Erkenntnis der Engel s. auch Alexanderson (2006: 7).
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und zum Erfassen der Erkenntnis aus dem Logos, welche Kreatur daraufhin erschaffen werde. In den Worten „Es sammle sich das Wasser …“ (Gen 1, 9) spreche der ewige Schöpfungslogos das Zu-Erschaffende aus; dieses wird vom Licht im Logos selbst erkannt, und diese Erkenntnis ereignet sich mit den Worten „Und so geschah es“. Mit den Worten „Und es sammelte sich das Wasser …“410 sei wiederum die Hervorbringung der materiellen Natur gemeint. Der folgende Abend beinhalte analog dessen „abendliche Erkenntnis“ durch das geistige Licht, weil das Erkennen der materiellen Verwirklichung entsprechend geringer sei als das Erkennen der Kreatur im sich auswortenden411 Schöpfungslogos selbst. Die Unterscheidung zwischen abendlicher und morgendlicher Erkenntnis wendet Augustinus gleichwohl nicht statisch an: Denn auch die abendliche Erkenntnis einer bestimmten äußeren Natur in dem gerade beschriebenen Sinne könne im Vergleich zu denjenigen, welche nicht einmal diese Natur erkennten, als Tag bezeichnet werden. Entsprechend könne in Abgrenzung zu dem Leben der Ungläubigen, das die Schrift als „Finsternis“ bezeichne (Eph 5, 8; Rö 13, 12), auch das Leben der Gläubigen als ‚Tag‘ betrachtet werden, obwohl dieses im Vergleich mit dem Tag der Erlösung, an welchem die Gläubigen, den Engeln gleich, Gott selbst schauen würden, wiederum eher wie Nacht erscheine.412 Diese geistig-geistlichen Interpretationen stehen deshalb nicht im Widerspruch zu Augustins Anspruch, eine literale Auslegung der Genesis vorzunehmen, weil er (wie in den früheren Büchern geschehen) argumentativ begründen kann, dass das zuerst erschaffene Licht jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach kein körperliches Licht sein kann. Dieses Datum legt der Bibeltext tatsächlich nahe, da kein Interpret an der Tatsache vorbeigehen können wird, dass weit vor der Erschaffung der leuchtenden Gestirne hier Licht geschaffen wird, welches logischerweise deshalb nicht mit dem sichtbaren Licht der Gestirne identisch sein kann. Dieses Licht, insofern es geistig zu begreifen ist, beinhaltet Erkenntnis und Leben, kann also kein Abstraktum sein, weshalb Augustinus es als Namen für die Engel begreift.413 Im Folgenden führt der Kirchenvater diese Gedankengänge noch einmal konkret durch: Ewig ist nur Gott und in ihm gleichewig sein Logos. In den Engeln ist als erstes die Weisheit erschaffen worden (also die geschaffene Weisheit in Unterscheidung zu der gleichewigen im Logos414). Den Engeln werden die Menschen in der Auferstehung „gleich gemacht“, wenn sie an Christus als Weg festhalten, während die Engel selbst jetzt schon das „Antlitz Gottes“ (facies dei) schauen und sich vom Logos her nähren, ihn genießen. Da der Logos die „ewigen Vernunftgründe“ (aeternae rationes) der gesamten Schöpfung in sich komplexiv-vorausnehmend enthält, erkennen die En-
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Wiederum eine Abweichung in dem Augustinus vorliegenden Text von dem der Vulgata. Zum Begriff des Auswortens s. o. Anm. 63. Gn. litt. IV, 22–23; 121,11–123,18. Vgl. zur Stelle Kim (2006: 138). S. o. Kap. 6. Vgl. Drews (2018: 316, Anm. 1050).
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gel in der Schau des Logos folglich die Geschöpfe schon in ihren Vernunftgründen, also bevor die Geschöpfe im Zuge der zeitlichen Entfaltung ihre materielle Verwirklichung finden. Erkennen sie indes auch die materiell geschaffene Natur selbst, dann schauen die Engel „herab“, insofern sie ihre Erkenntnisaktivität in prinzipien-ontologischer Hinsicht eben nicht nach „oben“ zum Logos, sondern nach „unten“ zu den Geschöpfen wenden. Gleichwohl beziehen sie die unten stehenden Geschöpfe in das Lob des Schöpfers ein und leisten somit einen Beitrag zur Rückwendung der niedrigen Geschöpfe zu Gott hin, indem sie die materiell verwirklichten Kreaturen wieder zurückwenden zu ihren „ewigen Vernunftgründen“ in Gottes Logos, gemäß welchen sie geschaffen sind. Nach oben auf den Logos schauend ereignet sich die Tageserkenntnis, nach unten auf die Materie blickend die Abenderkenntnis. In dem prinzipienhaft-ersten Tag ist auch „die einträchtigste Einheit der Engel durch die Teilhabe an derselben Wahrheit“ des Logos erschaffen worden (unde et concordissima unitas eorum eiusdem veritatis participatione dies est primitus creatus). Solange die Engel in dieser Wahrheit verbleiben, ist es Tag – im intelligiblen, geistigen Sinne. Wendete sie sich indes zu sich selbst, weil sie sich lieber an sich selbst als an Gott erfreute, durch dessen aktuale Partizipation sie allein selig ist, dann würde sie „von Hochmut aufgebläht fallen“ (intumescens superbia caderet), wie der Teufel.415 Auch wenn es nicht explizit gemacht wird, klingt hier doch das Schriftzitat an: „Hochmut kommt vor dem Fall“ (Sprüche 16, 18). Im Zuge dieser geistigen Interpretation vermag Augustinus nun auch eine Besonderheit des Bibeltextes sinnvoll zu deuten: Denn es ist ja auffällig, dass es innerhalb der sechs Schöpfungstage kein einziges Mal Nacht wird! Zwar wird nach der Erschaffung des Lichts das Licht ‚Tag‘ und die Finsternis ‚Nacht‘ genannt (Gen 1, 4–5). Die folgenden Tage sind jedoch durch ‚Abend‘ und ‚Morgen‘ bestimmt, nie wird es Nacht. Augustinus vermag dies im geistig-literalen Sinne sinnvoll zu erklären, indem er ‚Abend‘ als das abendliche Erkanntwerden der materiell verwirklichten Naturen, ‚Morgen‘ dagegen als das prinzipienhafte Erkanntwerden der Geschöpfe im Logos durch die Engel interpretiert. Die Tage mögen Nächte gehabt haben – als Exeget verweist der Kirchenvater jedoch völlig zu Recht darauf, dass von Nächten nichts erzählt werde. Dann nämlich gehöre die Nacht zum Tag (und nicht umgekehrt), wenn die heiligen Engel „die Kreatur in der Kreatur“, d. h. in ihrer materiellen Verwirklichung, „erkennen“ (quod creaturam in ipsa creatura noverunt) und diese „zur Ehre und Liebe Gottes zurückführen“, wo die ewigen Vernunftgründe geschaut werden: Dort liege der „eine Tag“ (unus dies), „den der Herr macht, an dem wir jubeln und uns freuen sollen“, wie Augustinus unter Rekurs auf Psalm 119, 24 interpretiert. In diesem Sinne macht Gott tatsächlich nur den „einen Tag“, der sich innerhalb des Sechstagewerks wiederholt und als ewiger Tag Quell der Freude und Erlösung ist.416
415 Gn. litt. IV, 24; 123,19–124,17. 416 Gn. litt. IV, 25; 124,18–125,2.
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Von hier aus vermag Augustinus nun eine besonders schwierige Interpretationsfrage näher einzukreisen und einem Lösungsvorschlag zuzuführen: Wie kommt es zu einer Abfolge von Tagen, ohne dass schon Gestirne erschaffen sind? Natürlich liegt als Antwort jetzt nahe, dass diese Tage in geistig-intelligibler Hinsicht verstanden werden müssen. Man könnte also denken, dass der Kirchenvater diese Tage weginterpretiert zugunsten der Ewigkeit Gottes. Damit wäre eine literale Deutung nicht mehr möglich. Augustinus tut dagegen etwas anderes, was sowohl methodisch wie inhaltlich bestechend erscheint: Er nimmt die Abfolge der Tage im zeitlichen Sinne ernst, ohne sie gegen den Text bereits als die uns gewohnten Tage (mit Sonnenauf- und -untergang) zu interpretieren, und verfährt dabei nach seiner inzwischen wohlerprobten Methode, Sachverhalte, welche in einem dinglich-literalen Verständnis keinen Sinn ergeben, auf geistige Weise wörtlich zu nehmen. Dadurch eröffnet sich nun die Möglichkeit, den Wechsel zwischen der Morgen- und Abend-Erkenntnis der Engel als Konstitutionsbedingung einer geistig-intelligiblen Zeitlichkeit zu interpretieren, ohne bereits eine ‚Raumzeit‘, d. h. eine durch körperliche Umläufe von Gestirnen raumhaft bestimmte Zeitlichkeit, einführen zu müssen (sed dies ille, quem fecit deus, per opera eius ipse repetitur non circuitu corporali, sed cognitione spiritali). Dies steht im Einklang mit Augustins früher schon geäußerter Überzeugung, dass die Engel die ersten der Zeit unterliegenden Geschöpfe sind.417 Wenn Gott-Vater seinen ihm gleichewigen Logos ausspricht: „Es werde“, dann ist dessen erste Wirkung die Morgen-Erkenntnis des Zu-Erschaffenden in den Engeln, was ausgedrückt ist durch: „Und so wurde/geschah es“ (cum illa beata societas angelorum et primitus contemplatur in verbo dei, quo dicit deus: ‚fiat‘, atque ideo prius in eius cognitione fit, cum dicitur: ‚et sic est factum‘); erst die Abend-Erkenntnis, in welcher die Engel das Geschaffene gemäß seiner eigenen, materiellen Natur erkennen, bezieht sich auf das, was mit den Worten: „Und Gott machte“ bezeichnet ist (et postea rem ipsam factam in ea ipsa cognoscit – quod significatur facta vespera […]).418 417 S. o. Kap. 5. 418 Hier besteht in der Forschung – vermutlich bedingt durch moderne Übersetzungen – bisweilen eine Unklarheit bzw. Verunklarung des Sinns. So meint z. B. MacCormack (2008: 18; Kursive FD): „By way of explanation, Augustine came to see in the first narrative an account of creation unfolding in the mind of God all at once and in potentiality, and in the second the historical unfolding of creation in time.“ Ausgeklammert werden hier nicht nur die Engel, in deren rationaler Erkenntnis die intelligiblen Schöpfungslogoi (rationes) gemäß Augustinus zuerst erschaffen werden, bevor dieselben Logoi materiell verwirklicht werden; vor allem spricht Augustinus m. W. nicht von einer „sich in Gottes Geist entfaltenden Schöpfung“. Ein paar Seiten später zitiert MacCormack (ibd., 23; Kursive FD) die oben referierte Passage aus Gn. litt. in einer „translation after J. H. Taylor“: „when the blessed society of angels from the beginning contemplates these works in the Word of God who says ‚let it be made‘ and thus it is first made in the knowledge of God, where Scripture says, ‚and so it was made‘“. Ähnlich übersetzt Perl (1961: 146; Kursive FD): „wenn jene selige Genossenschaft der Engel auch zuallererst im Worte Gottes die Schaffenstat zu betrachten beginnt, mit dem Gott spricht: ‚Es werde‘. Und deshalb geschieht das, was mit den Worten ‚Und so geschah es‘ bezeichnet wird, früher in der Erkenntnis des Wortes Gottes.“ In beiden Übersetzungen bezieht sich in the knowledge of God bzw. in der Erkenntnis des Wortes Gottes auf das lateinische: atque ideo prius
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Entsprechend erstrecke sich die grundlegend-prinzipienhafte Scheidung zwischen Tag und Nacht in Gen 1, 4–5 zwar auf alle sechs Schöpfungstage (welche der wiederholte eine Tag sind), müsse aber unterschieden werden von der Differenzierung zwischen Nacht und Tag gemäß dem Umlauf der Gestirne nach deren Erschaffung in V. 14–19: Jener „prinzipienhafte, zuerst geschaffene Tag“ dagegen habe schon drei Tage durchlaufen lassen, bevor die Gestirnlichter in der vierten Wiederholung des einen Tages geschaffen worden seien (ille autem dies primitus conditus iam triduum peregerat, cum haec luminaria illius diei quarta repetitione creata sunt). Die Tage bzw. der eine sich wiederholende Tag des Sechstagewerks seien also völlig andere Tage als die uns Menschen gewohnten irdischen Wochentage, so dass auch die Tage und Nächte, welche später durch den Umlauf der Gestirne angezeigt werden (ab Gen 1, 14 f.), von dem einen-sechsfachen Schöpfungstag zu unterscheiden sind. Dennoch imitierten die
in eius cognitione fit. Sprachlich geht es also um den grammatischen und inhaltlichen Bezug des Pronomens eius: In den beiden zitierten Übersetzungen wird der Bezug zu the knowledge of God bzw. des Wortes Gottes hergestellt. Dabei entsteht die Frage: Ist der Erkennende somit Gott selbst? Vom inhaltlichen Kontext her erscheint klar, dass die erkennende Instanz nicht Gott selbst sein kann, sondern die societas angelorum. Tatsächlich ließe sich das eius in der Junktur in eius cognitione grammatisch sowohl auf die societas angelorum wie auch das verbum dei beziehen: Entweder geschieht etwas „in der Erkenntnis dieser [sc. nämlich der Engelgemeinschaft]“, oder es geschieht etwas „in der Erkenntnis von diesem [sc. nämlich dem Wort/Logos Gottes]“. In beiden Fällen muss es aber um das aktive Erkennen der Engel gehen, nicht Gottes. Perl votiert offenbar für die zweite Variante, wobei im Deutschen nicht mehr ganz eindeutig ersichtlich ist, ob bei Erkenntnis des Wortes Gottes mit des Wortes Gottes wirklich ein Genitivus obiectivus oder subiectivus gemeint ist. Mir scheinen der Kontext sowie weitere Passagen (z. B. Gn. litt. II, 8; 43–44; s. o. Kap. 10) bei Augustinus hingegen für die erste Variante zu sprechen: In der Engelerkennntnis werden die Vernunftgründe der Schöpfung erschaffen, d. h. im Erkanntwerden durch die Engel ereignet sich das „Und so geschah es.“ Taylors englische Übersetzung verunklart diesen Gedanken völlig, da bei in the knowledge of God anstatt der Engel plötzlich Gott die erkennende bzw. wissende Instanz zu sein scheint; so kommt es dann zu der krassen Umdeutung bei MacCormack, dass sich – gleichsam pantheistisch oder auch an Eriugena erinnernd (vgl. Drews 2018: 315–7) – eine Schöpfung in Gott selbst abspielen soll („creation unfolding in the mind of God all at once and in potentiality“) anstatt in der Schöpfung, d. h. mit Blick auf das Sechstagewerk im primär erschaffenen Licht der rational begabten Engel. MacCormacks Ausführungen gehen an dem von Augustinus Gemeinten klar vorbei: Denn es muss differenziert werden zwischen den Engeln als Erkennenden und dem Ziel, auf welches ihr Erkenntnisblick gerichtet ist: Gottes Logos bzw. das verbum dei. Letztlich scheint MacCormack (2008: 23; Kursive FD), vermutlich aufgrund anderer Textzeugnisse, dann von der Erkenntnis Gottes zu derjenigen der Engel zurückzuschwenken: „Therefore the six days of creation are thoughts of God – as it were – and each of their evenings and mornings are expressions for the way the angels know these days and the creatures made in them.“ – Vgl. in zutreffender Weise Hebb (2007: 377) und Tornau (2014: 200–1): Augustinus unterscheide zwischen dem zeugenden Aussprechen des Logos-Sohnes durch Gott-Vater, dem Hören des Logos durch die Engel; Letzeres beinhalte „the angels’ contemplation of the created being’s eternal ratio […] contained in the divine Word“. Schöpfungstheologisch bedeutet dies: „The existence of the creation qua creation (and not qua uncreated ratio) thus begins, not in the external world, but in the mind of the angels“ (ibd.).
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späteren Zeit-Tage der Woche entfernt den Wechsel der bzw. des unzeithaften Schöpfungstage(s), ohne ihnen ähnlich zu sein.419 Augustinus unterstreicht noch einmal, dass er seine Exegese nicht als „figürlich-allegorisch“ (figurate atque allegorice) missverstanden wissen will, sondern in „eigentümlich-spezifischer Weise“ (proprie) vorgenommen hat, also literal. Dieser Anspruch lässt sich vor allem deshalb rational-argumentativ untermauern, weil es tatsächlich keine physikalische Auslegungsmöglichkeit zu geben scheint, mit der man eine Erschaffung des Lichts vor derjenigen der Himmelskörper plausibilisieren könnte. Der biblische Text verlangt hier nach einer anderen Lösung – sofern man ihn denn ernst zu nehmen bereit ist. Methodisch grenzt der Kirchenvater hier in aller Deutlichkeit seine Auslegung von einer vermeintlich ‚übertragenden‘ Interpretation ab: Es sei nämlich nicht so, dass die uns bekannten Tage die ‚eigentlichen Tage‘ im spezifischen Sinne und die Schöpfungstage nur „auf figürliche Weise“ Tage wären (non tamen tamquam hic proprie, ibi figurate). Vielmehr sei das Umgekehrte der Fall: „Wo nämlich besser und sicherer ist das Licht, dort ist auch wahrer der Tag“ (ubi enim melior et certior lux, ibi verior etiam dies).420 Damit bringt Augustinus der Sache nach dasselbe zum Ausdruck
419 Gn. litt. IV, 26–27; 125,3–126,18. Auch Origenes verweist bereits darauf, dass beide Wirklichkeitsbereiche des Intelligiblen (noêta) und des Sinnlich-Wahrnehmbaren (aisthêta) in bestimmter Weise auf die sechs Schöpfungstage verteilt seien, s. Genesis-Kommentare (Metzler), S. 46–47 (= Contra Celsum VI, 50 f.). 420 Vgl. zur Stelle Alexanderson (2007: 364). Obwohl Greene-McCreight (1999: 44) die gerade referierte Passage zitiert: „‚But it is not true that material light is literally ‚light‘ and light referred to in Gen is metaphorical ‚light‘. For where light is more excellent and unfailing, there day also exists in a truer sense‘“, kehrt sie deren Sinn in der direkt folgenden Interpretation sofort um und verfehlt ihn daher: „Here ‚literal‘ is clearly being distinguished from ‚material‘ and ‚ordinary‘. The ‚truer sense‘ of light in the Gen narrative is not the ‚material‘ light but the ‚metaphorical‘ light. […] Here Augustine is making an ontological claim that the understanding of light as angelic knowledge is ‚truer‘ than the material understanding of light because angelic contemplation is unchangeable. This is thus an example of Augustine’s ontology playing a role in distinguishing between the categories of literal and figurative. In fact, this causes the distinction between the two categories to begin to blur“ (ibd.; Kursive FD). Nicht nur vertauscht Greene-McCreight die von Augustins explizierte Zuweisung von Metaphorizität und macht aus dem (in seinem Sinne) nicht-metaphorischen Licht der Engel geradewegs „the ‚metaphorical‘ light“ und verkennt so das Anliegen des Kirchenvaters; vor allem aber ist der daraus abgeleitete Vorwurf, dass Augustinus selbst (!) wegen seiner Ontologie diese Unterscheidung „verwische“, schlicht Greene-McCreights eigener Verwechslung der Metaphorizität anzulasten. Es erstaunt dann nicht mehr, dass sie auch das folgende Beispiel (Christus im literalen Sinn als wahres Licht, aber im metaphorischen Sinn als Stein, s. o. im Haupttext) als „a comment that appears almost as if out of nowhere“ (ibd.) betrachtet und sich darüber wundert, dass ‚Stein‘ an verschiedenen Stellen von Gn. litt. (VIII, 4) sowohl auf geistige Weise literal wie auch in materieller Hinsicht literal verstanden werden kann – je nachdem, ob das intelligible Sein literal oder etwas materiell Existierendes literal zum Ausdruck gebracht werden soll und unter welchem dieser beiden Aspekte eine Aussage betrachtet wird: Obwohl dies methodisch von Augustinus her abgesichert ist, sieht Greene-McCreight darin „a slippage in the use of the term ‚literal‘“ (ibd., 45). Der erkenntnistheoretisch-ontologische Kontext und die eigentliche Zielrichtung in Augustins Argumentation bleibt daher unverstanden – so resultieren Vorwürfe gegenüber dem Kirchenvater tatsächlich aus Mangel an Verstehen und einer unreflektierten Verabsolutierung mo-
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wie Aristoteles mit seiner Differenzierung zwischen dem „dem Sein/Wesen nach Früheren“ (proteron tê physei) und dem „für uns Früheren“ (proteron pros hêmas):421 Während die Menschen ihren Erkenntnisweg ausgehend vom Sinnlich-Wahrnehmbaren nehmen (z. B. ein Dreieck im Sinne einer Figur mit drei Ecken), ist genau dieses nicht dem Sein nach das Erste: Dieses muss vielmehr das sachliche Prinzip des bestimmten Etwas-Seins sein (für das Dreieck: eine ebene, geradlinige Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein), welches rein begreifbar-intelligibler Natur ist. „Für uns“ ist aber das der Sache nach Frühere gerade nicht der Beginn, sondern (idealerweise) der Schlusspunkt des Erkenntniswegs. Augustinus kennt diesen Unterschied422 und kann deshalb methodisch-begründeterweise eine ‚metaphorisierende Theologie‘ zurückweisen: Wenn eingesehen ist, dass Gottes Sein als Schöpfer der Seienden immer schon geistiges Sein meint, dann ist klar, dass das ihm am nächsten Stehende mehr Sein und mehr Erkenntnis besitzt als die ihm gegenüber Entfernteren. Folglich kann der wahre Tag im Sinne des Lichthaftesten überhaupt nur bei Gott sein, nicht aber ‚bei uns‘, wo das Licht mit Dunkelheit wechselt.423 Das Lichthafteste ist die Gotteserkenntnis im Logos, die nur den Engeln zuteil wird, d. h. den ersten und als intellekthafte Wesen Gott am nächsten stehenden Geschöpfen: Deshalb sind sie gemäß Augustinus das Licht, welches als erstes und vor allen Gestirnen von Gott geschaffen wird (Gen 1, 3). Folglich liegt das Maß dafür, was als wahrer Tag gelten kann, nicht in der Materie und den durch Himmelskörper bestimmten, sinnlich-wahrnehmbaren Tagen, sondern im Intelligiblen; daher kann nicht davon die Rede sein, dass die ‚uns‘ bekannten Tage die eigentlichen Tage wären und der Bibeltext das Taghafte von hier aus auf die Engel ‚übertragen‘ hätte, sondern bestenfalls umgekehrt: Weil bei Gott immer lichthafter Tag im geistig-literalen Sinne ist, deshalb gibt es auch innerhalb der sinnlich-wahrnehmbaren Welt Taghaftes. Das eigentümlich-spezifische Verständnis (proprie) ist also gerade das geistige: Entsprechend werde auch Christus proprie „Licht“ genannt (Jh 8, 12), weil es seinem geistigen Sein entspricht, und nur „figürlich“ derner Maßstäbe: „It is this interpenetration of the two [sc. the notions of ‚literal‘ and ‚allegorical‘] which makes his ‚literal‘ interpretation often seem far from what we might otherwise understand to be literal“ (ibd., 48; Kursive FD; Greene-McCreight zeigt durch ihren Verweis auf Agaësse, dass sie die Sichtweise der älteren Forschung fortschreibt.) Problematisch ist hier nicht zuletzt, dass ein (post-)modernes we im Sinne eines vereinnahmenden ‚Kollektivs‘ implizit als ‚Tribunal‘ eingeführt wird, vor dem ein voraufgeklärter Autor wie Augustinus sich gewissermaßen verantworten muss: Wer ist eigentlich dieses ‚Wir‘ – ist es ‚erlaubt‘, sich davon abzugrenzen? Zur Kritik an Greene-McCreight s. auch oben Anm. 28 sowie bereits Hebb (2007: 371) mit dem Hinweis: „However, ontology does not lie outside Augustine’s exegetical principles.“ 421 Vgl. Aristoteles, Analytica Posteriora 71b34. Vgl. Schmitt (2003: 180, 198, 215–7). 422 mens itaque humana prius haec, quae facta sunt, per sensus corporis experitur eorumque notitiam pro infirmitatis humanae modulo capit et deinde quaerit eorum causas, si quo modo possit ad eas pervenire, principaliter atque incommutabiliter manentes in verbo dei, ac sic invisibilia eius per ea, quae facta sunt, intellecta conspicere (Gn. litt. IV, 32; 130, 1–10). Zum sachlichen Früher s. auch Anm. 120. 423 Auch für Platon, resp. 521c besteht der „wahre Tag“ nur im Intelligiblen im Unterschied zum „nächtlichen Tag“ auf Erden. Vgl. dazu Schmitt (2003: 12).
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(figurate) „Stein“ (Mk 12, 10), weil er eben kein materieller Stein ist, sondern im übertragenen Sinne Grundstein (der Kirche) ist; Licht ist Christus jedoch nicht von Gnaden einer Übertragung des körperlichen Lichts auf das geistige, sondern umgekehrt von sich selbst her als Quell des geistigen Lichts. Mit Blick auf seine Exegese bleibt der Kirchenvater indes bescheiden und hält seine geistige Auslegung der Genesis nicht für die einzig-mögliche: Es könne auch andere, vielleicht sogar bessere Deutungen geben. Unbestreitbar ist für ihn jedoch, dass Gott seine Ruhe am siebenten Tag nicht infolge von Ermüdungserscheinungen begonnen habe.424 Denkbar sei es auch, dass die zwar sachlich angemessene Unterscheidung zwischen der Morgen- und Abenderkenntnis der Engel für diese zugleich möglich, also nicht zwingend im Sinne zeitlicher Differenz (non alternatim) aufzufassen sei. Auch die Erde habe ja sogar in einem bestimmten Sinne zugleich Tag und Nacht, weil die Sonne jeweils zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten präsent sei, so dass die Erde als ganze zugleich durch Tag und Nacht bestimmt sei. Während diese unterscheidbaren Aspekte innerzeitlich freilich auseinanderfallen, könnten sie im Intelligiblen, obwohl unterscheidbar, doch zugleich präsent sein: „In der geistigen Heimat“ dagegen währe der „Tag der Schau der unveränderlichen Wahrheit immer“, ebenso wie der Abend im Sinne der Erkenntnis der materiellen Kreatur (ubi semper est dies in contemplatione incommutabilis veritatis, semper vespera in cognitione in se ipsa creaturae). Den Grund für diese Annahme sieht Augustinus darin, dass es abwegig wäre, anzunehmen, dass der Wechsel von Morgen und Abend im Intelligiblen durch eine Abnahme des Lichts (abscessus lucis superioris) verursacht wäre. Vielmehr resultiere dieser nur aus dem Wechsel der Erkenntnis des Höheren respektive Niederen. Augustinus will mit dieser vorsichtigen kritischen Rückfrage an seine eigene Exegese nun jedoch nicht sein gerade erreichtes Interpretationsergebnis konterkarieren, mit dem er im Grunde die Entfaltung der Zeit aus der Ewigkeit erklärt hatte: Denn es wäre ja seltsam, wieso er einerseits den Wechsel zwischen Morgen- und Abenderkenntnis in den Engeln mühsam herausarbeitet, um ihn daraufhin wieder zurückzunehmen in ein simultanes, ewiges Zugleich. Wenngleich es seiner exegetischen Methode, wie schon oft gesehen, entspricht, sich Problemen in vorsichtig fragender Weise zu nähern, gibt es in diesem Fall erneut auch einen systematischen Grund, weshalb der Kirchenvater das Sein der Engel in gewisser Weise als zwischen Ewigkeit und Zeit behaftet begreift: Die Engel erkennen die Schöpfung bereits im ewigen Schöpfungslogos, sind aber selbst auf keinen Fall mit Gott gleichewig. Sie haben also die Potenz, gleichsam in der Ewigkeit gegründet zu sein und dennoch von sich selbst her eine nicht-ewige, also zeitliche Natur zu besitzen.425 Genau dieser Zwischenstatus der Engel zwischen Ewigkeit und Zeit könnte also in systematischer Hinsicht dafür verantwortlich sein, dass Augustinus
424 Gn. litt. IV, 28; 126,19–127,21. Vgl. zur Stelle Hebb (2007: 378) und Kim (2006: 139). 425 S. o. Kap. 5.
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aus guten Gründen sowohl das zeitliche Nacheinander von engelhafter Morgen- und Abenderkenntnis erwägt wie auch das unzeithafte Zugleich beider. Entscheidend ist für ihn, dass in jedem der beiden Fälle die Unterscheidung von Morgen- und Abenderkenntnis bereits eine innere „Ordnung von vorhergehenden respektive folgenden Ursachen“ aufweise (nec ideo tamen sine ordine, quo adparet conexio praecedentium sequentiumque causarum): Denn der Logos geht sachlich der Engelerkenntnis der zu erschaffenden Kreaturen im Logos voraus; diese Engelerkenntnis sachlich wiederum jener Erkenntnis, welche die Kreaturen in ihrer eigenen (materiellen) Natur erfasst. Ob man also die Differenzen in der prinzipienhaften Ordnung ‚Logos – Engelerkenntnis der Schöpfung im Logos – Engelerkenntnis der Schöpfung in deren eigener Natur‘ nur sachlich-prinzipienhaft oder sogar (mit Blick auf die Engel) als zeitlich unterscheidet, ist insofern zweitrangig. Als erstes Geschöpf sei jedenfalls die mens angelica, der Intellekt der Engel, geschaffen und mit dem Fiat lux „geformt“ worden, so dass dieses Engel-Intellekt-Licht sogleich in sich Bestand hatte und nicht erst noch „anderswo“, d. h. in einer Materie, entstehen musste. Deshalb werde auch nicht zuerst gesagt „Und so wurde/geschah es“ und danach „Und Gott machte“, weil die geistige Natur der Engel bereits in dem „Es werde Licht“ als sie selbst hervorgebracht und seinsspezifisch geformt ist und sogleich als Licht besteht (et ideo non prius dictum est: ‚et sic est factum‘, et postea dictum est: ‚et fecit deus lucem‘, sed continuo post verbum dei facta est lux). Denn als geistige Natur muss diese weder von jemand anders als den Engeln selbst erkannt noch ferner in materieller Hinsicht eine Verwirklichung finden. Auch hier kann Augustinus also wieder das Fehlen markanter Schöpfungsworte wie „Und so wurde/geschah es“ bzw. „Und Gott machte“ deshalb literal auslegen, weil er sie geistig auffasst. Das Resultat seiner Exegese am Text erweist diese im Nachhinein noch einmal als methodisch begründet. Die Engel sehen in Gottes erschaffendem Licht sogleich sich selbst als erschaffenes Licht, erkennen daher unmittelbar ihren Vernunftgrund, durch den sie – als engelhafte Vernunft – geschaffen sind (adhaesitque creanti luci lux creata, videns illam et se in illa, id est rationem, qua facta est). „Abend“ sei es für die Engel nur deshalb geworden, weil sie ihre Differenz gegenüber Gott erkannt hätten. Am folgenden Morgen hätten die Engel, wie Augustinus wiederholt, im Logos die Erschaffung des Firmaments „vorauserkannt“ (praenoscere) und entsprechend die anderen Geschöpfe an den folgenden Tagen. Die Ruhe Gottes dagegen kenne auch deshalb keinen Abend, weil ihr keine doppelte Erkenntnis im Logos selbst und einer davon zu unterscheidenden ‚eigenen Natur‘ korrespondiere.426 Warum wird aber im Schöpfungsbericht alles im Nacheinander erzählt? Augustins Antwort auf diese Frage lautet, dass der menschliche Geist sonst nicht die unterschiedlichen Aspekte der Schöpfungsordnung in ihren verschiedenen Differenzierungsgra426 Gn. litt. IV, 29–32; 127,22–131,22. Zur hierarchischen Stufung der Schöpfung und ihrem Erkanntwerden vgl. Catapano/Moro (2018: 368). Zum begründeten Fehlen bestimmter Schöpfungsworte (et fecit deus lucem) s. Alexanderson (2006: 7).
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den erfassen könnte. An dieser Stelle geht Augustinus nun so weit – und es erscheint zunächst einmal fraglich, ob dies eine gute und angemessene exegetische Entscheidung ist – zu sagen, dass Gott die materielle Welt auch im physikalischen Sinne in all ihren Bestimmungsmomenten zugleich erschaffen hätte. Gleichwohl hat er auch dafür einen Beweggrund in der Bibel, weil es dort an anderer Stelle heiße: „Der in Ewigkeit lebt, hat alles zugleich erschaffen“ (Sirach 18, 1). Augustinus zititert nur die zweite Hälfte dieses Verses und will daraus ableiten, dass Gott bei der Erschaffung der materiellen Welt in dem Sinne alles „zugleich erschaffen“ habe, dass er die schöpferischen, „zahlhaften Vernunftgründe unkörperlicherweise“ (numerosae rationes incorporaliter corporeis rebus intextae) der Schöpfung „samenhaft eingesät“ habe (seminaliter sparsit). Dies versteht er dahingehend, dass somit der materiellen Welt gleich zu Beginn alle Schöpfungsprinzipien inhäriert hätten. Zugute halten kann man Augustinus erneut, dass er seine Exegese biblisch fundiert – unter der bekannten Voraussetzung, dass er die Heilige Schrift als Einheit, welche der Heilige Geist Gottes garantiert, begreift und deshalb Schriftbelege aus anderen Büchern miteinbezieht.427 Entscheidend ist, dass Augustinus hier nicht die zeitliche Entwicklung der Welt in Abrede stellt, sondern darauf hinaus will, dass ihre „Einrichtung“ (institutio) seitens des Schöpfers sich nicht „langsam“ (tarda) vollzogen habe, sondern an dem einen, sechsmal wiederholten Schöpfungstag.428 In philosophisch-systematischer Hinsicht ergibt sich gemäß seiner Auslegung jedoch folgende Wegscheide: Man kann die „eingesäten schöpferischen Vernunftgründe“ im Sinne stoischer spermatikoi logoi verstehen, als ob bereits von Beginn aller Zeit an ein der Welt durch und durch inhärierender Weltenlogos diese Welt prädeterministisch, also nach Art einer Vorherbestimmung begründet hätte. Diese Deutung liegt zumindest in Reichweite, steht aber in verschiedener Hinsicht im Widerspruch zu Augustins sonstigen theologischen Basisprämissen: Erstens steht Gott nicht in dem Sinne ‚am Beginn der Zeit‘, als ob er selbst der Zeit unterworfen wäre, sondern über der Zeit, ist ihr transzendent, weshalb zweitens die Welt nicht in toto, d. h. nicht in allen ihren Aspekten und Ereignissen als direkte Spiegelung Gottes gelten kann; denn Augustinus ist drittens gerade kein Anhänger eines deterministischen Weltbildes stoischer Couleur, wie er andernorts dezidiert deutlich macht.429 Vielmehr verteidigt er
427 S. o. Anm. 55 sowie Kap. 8 und 14. 428 Gn. litt. IV, 33; 131,23–133,19. Zur Stelle vgl. Kim (2006: 141). 429 Vgl. civ. V, 10 und dazu Drews (2009: 13–14, 156–166, 184–5). Catapano/Moro (2018: XII) erachten es jetzt bezeichnenderweise als unpassend, Augustinus eine landläufige Theorie von rationes seminales zu unterstellen („una dottrina che nella manualistica è impropriamente nota come ‚dottrina delle ragioni seminali‘ e che bisognerebbe invece ridenominare ‚dottrina delle ragioni causali‘“). Zu diesem Thema s. ebenso Moro (2012). Pollmann (2007: 210) sieht Augustinus hier jedoch in der Nähe zu „the philosophical, especially Stoic, model of the causal reasons“. Ebenso Harrison (2017: 210) und Kim (2006: 145–8), die jedoch auf die platonische Ausdeutung des Begriffs der
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vom Früh- bis zum Spätwerk die geschöpfliche Freiheit in der Welt und als eine zentrale Bedingung ihrer Möglichkeit die Kontingenz des Weltenlaufs.430 Im Sinne der gerade angesprochenen Wegscheide lassen sich Augustins Ausführungen über die „eingesäten schöpferischen Vernunftgründe“ jedoch auch anders interpretieren, d. h. im Einklang mit den gerade kurz referierten Säulen seines die Freiheit der Geschöpfe verteidigenden Denkens. Es kommt hier auf das Verständnis des „Eingesäten“ an: Denn dies kann auch bedeuten, dass die schöpferischen rationes insofern „eingesät“ sind, dass die einzelnen Kreaturen zwar alle für ihr natürliches Sein notwendigen Bestimmungsmomente von Anfang an bereits besitzen, aber dadurch nicht gesagt ist, auf welche Weise und bis zu welchem Grad sie in ihrer freien Entwicklung das in ihnen mitgegebene Potential auch aktualisieren. Es besteht hier – so betrachtet – ein konkreter Spielraum der Variabilität in der Entwicklung eines Geschöpfs. Ein Mensch z. B. kann bestimmte körperliche Anlagen besitzen, die ihn dazu befähigen würden, ein besonders guter Sportler zu werden; nutzt er sie jedoch nicht, weil er lieber Klassischer Philologe werden will, dann verkümmern sie und bleiben ungenutzt. D. h., trotz eines möglicherweise ‚eingesäten Potentials‘ ist somit in keiner Weise gesagt oder vorherbestimmt, was aus diesem Potential wird und ob es überhaupt genutzt wird – es kann auch ‚brach‘ liegen bleiben und verkümmern. Das gilt mutatis mutandis zunächst einmal für jedes Potential, welcher Art auch immer. Genau diese Prämisse garantiert auch angesichts von spermatikoi logoi eine reale Freiheit in der geschöpflichen Entwicklung.431 Und genau diese Freiheit kann Augustinus dadurch argumentativ verteidigen, weil er eben – im Unterschied zur prominenten Gegenposition der Stoiker – nicht davon ausgeht, dass Gottes Logos pantheistisch-immanentistisch in der Welt ‚drinsteckt‘,432 so dass kein Möglichkeitsraum mehr bliebe für tatsächlich freiheitliche Selbstbestimmung.433 Augustinus will explizit beide Schriftaussagen – dass Gott alles auf bestimmte Weise in sechs Tagen (Gen 1) und doch alles zugleich (Sirach) erschaffen habe – nebeneinander gelten lassen und zusammenschauen, da sie beide zu der einen Heiligen Schrift gehörten, welche „der eine Heilige Geist der Wahrheit“ inspiriert habe (et utraque una est, quia uno spiritu veritatis inspirante conscripta est). Als Platoniker verweist er zudem darauf, dass es Sachverhalte gebe, bei denen, was früher bzw. später sei, nicht durch „Zeitintervalle“ (intervalla temporum) angezeigt werde – sondern im Sinne eines
logoi spermatikoi bei Plotin, enn. V, 9 [5], 6 verweist sowie auf deren Gebrauch in der Bibelexegese durch Basilius und Gregor von Nyssa. 430 S. Drews (2009: 185–238). Vgl. auch Catapano/Moro (2018: 366). 431 Dieses Freiheitspotential zeigt, dass eine rein naturalistische Wirklichkeitserklärung nicht ausreichend ist. S. dazu Halfwassen (2018: 82–83). 432 Zu dieser Position, die besonders für die Theodizeefrage zu folgenschweren Dilemmata führt, vgl. Drews (2018: 15 mit Anm. 13, 312–3, 502–513 mit Anm. 1921). 433 S. dazu Drews (2009: 153–167).
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sachlichen Früher im Unterschied zu einem zeitlichen Früher.434 Dabei bemüht der Kirchenvater eine Analogie: Wenn unsere Augen zur Sonne hinschauten, dann durchbzw. überblickten sie – im Sinne eines schlagartigen Hinübers – alle Lufträume, die zwischen uns und der Sonne bestünden. Wenn dies schon für das körperliche Sehen gelte, wieviel mehr dann für „die menschliche oder gar engelhafte Geistesschärfe“ und erst recht für die „Schnelligkeit der höchsten Weisheit Gottes“? Abschließend stellt Augustinus mit Blick auf das Verhältnis von Zeit und überzeitlicher Ewigkeit fest: Hinsichtlich Gottes schöpferischer Wirksamkeit sei „alles zugleich“; „früher oder später“ sei es nur im Zusammenhang mit den Geschöpfen (prius et posterius habens in conexione creaturarum, in efficacia vero creatoris omnia simul). Entsprechend habe Gott „das Zeitliche auf unzeitliche Weise erschaffen“ (ut non temporaliter faceret temporalia), und die sieben Tage „unserer“, menschlichen Woche ermahnten uns wie ein „Schatten“ (umbra) nach den Tagen zu suchen, „in denen das erschaffene geistige Licht allen Werken durch die Vollkommenheit der Sechszahl gegenwärtig war“. Am siebenten Tag ohne Abend habe Gott nicht aus Bedürftigkeit,435 sondern „im Anblick seiner Engel geruht“ (in conspectu angelorum suorum requieverit), die Ruhe aber sei in ihm selbst, nicht von seinen Geschöpfen her gewesen: Denn die Engel hätten Gott selbst erst in dieser Ruhe wahrhaft erkannt, weil er nur in dieser seiner eigenen Ruhe wirklich seinem Wesen gemäß erkannt werden könne.436
434 S. o. Kap. 7 mit Anm. 120 sowie Anm. 422. 435 Ein ganz anderes Bild ergibt sich – um ein krasses Gegenbeispiel zu wählen – etwa im Märchen von den Händen Gottes aus den Geschichten vom lieben Gott von Rainer Maria Rilke: Dort hat Gott „Mühe, sich alle [sc. seine Pflichten]“ überhaupt „zu merken“ (S. 16), hat „einen ganz falschen und […] sehr schlechten Begriff von den Menschen“ (15); seine Hände sind „ganz von Lehm befleckt, heiß und zitternd“ und „verstellen ihm die Aussicht über die Erde“ und er ruht nur, „weil er auf seine Hände böse ist“ (14). Rilkes Erzählung zeigt exemplarisch, wohin ein scheinbar wörtliches Verständnis von Gen 1+2 führt, wenn ein ernst zu nehmendes philosophisch-theologisches Fundament fehlt, Gott anthropomorphisiert und entsprechend körperlich verstanden wird: in die Ironisierung und Karikatur. 436 Gn. litt. IV, 34–35; 133,20–136,27.
18. Von Gen 1 zu Gen 2 Der Übergang von Gottes Wirken aus der Ewigkeit in die Zeit, die zahlhaften Vernunftgründe und ‚historisch-kritisches Problembewusstsein‘ bei Augustinus Zu Beginn von Buch V sieht sich Augustinus in seiner Interpretation bestätigt, dass Gott alles an einem einzigen, sich wiederholenden Tag geschaffen habe, da Gen 2, 4 in der ihm vorliegenden Textfassung in Abweichung zur Vulgata heißt: „als der Tag gemacht worden ist, da machte Gott Himmel und Erde“ (cum factus est dies, fecit deus caelum et terram). Während in den vorangegangenen Büchern von De Genesi ad litteram davon die Rede war, dass „Himmel und Erde vor jedem Tag“ hervorgebracht wurden, scheint die Erschaffung des Tages in dieser Textgestalt von Gen 2, 4 merkwürdigerweise einen Primat des Tages nahe zu legen. Dies ist aber für Augustinus nicht der entscheidende Punkt: Ihm ist primär der Singular wichtig, wenn von der Erschaffung des Tages die Rede ist. Es spricht jedoch für seine Methodik, dass er genau diese Diskrepanz zu seiner vorausgegangenen Exegese direkt anspricht und schlussfolgert, dass die Heilige Schrift hier „alles zusammenfassend“ (concludens quodammodo cuncta) benenne. Dadurch gelangt er zu einer sinnvollen Interpretation: Jetzt, an dieser Stelle der Genesis, werde die Gesamtheit der Schöpfung „in allen ihren Teilen und Gattungen“ (iam formatis atque distinctis partibus) zum Ausdruck gebracht. Mit der Erschaffung des sich wiederholenden Tages wird der Akzent auf den Abschluss des Schöpfungshandelns gelegt, denn jeder Tag (bzw. der eine wiederholte Tag) bezeichnete ja die Vollendung eines bestimmten Teils der Schöpfung. Augustinus kann also mit gutem Grund von dem ihm vorliegenden Wortlaut der Genesis darauf schließen, dass hier eine Zusammenfassung des Schöpfungshandelns, wie es in dem vorausgegangenen ersten Kapitel des Alten Testaments beschrieben wurde, intendiert ist. Der Kirchenvater diskutiert die philologischen Alternativen, worauf sich der Nebensatz cum factus est dies am besten beziehe: entweder auf den vorausgehenden oder den folgenden Satzteil. Letztlich sei diese Frage aber nicht entscheidend, denn der Satz fecit deus caelum et terram geht in Augustins Fassung nahtlos über zu et omne viride agri („und alles Grün des Feldes“, Gen
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2, 5).437 Da aber somit auf das Schöpfungswerk des dritten Tages aus Gen 1 rekurriert, also ein ‚einzelner Tag‘ als Bezugspunkt genommen werde, sei es umso deutlicher, dass in dem Nebensatz cum factus est dies in allgemeiner Weise der eine, sich wiederholende Schöpfungstag gemeint sei. Wenn in dem Satzgefüge: „Als der Tag gemacht worden ist, da machte Gott Himmel und Erde und alles Grün des Feldes“ einerseits allgemein auf den einen Tag, andererseits spezifisch auf den dritten Schöpfungstag angespielt werde, so sieht Augustinus sein exegetisches Resultat erhärtet, dass die vielen Schöpfungstage aus Gen 1 den einen, reiterierten Tag meinen.438 Philosophisch betrachtet, erklärt der Kirchenvater hier den Übergang von der Einheit in die Vielheit, welcher einen entscheidenden Aspekt besonders platonischer Philosophie darstellt.439 Dabei sei durch den Konnex zum dritten Schöpfungstag klar, dass der Tag, von dem hier die Rede ist, keinesfalls ein herkömmlicher Tag sein könne, da ja die Gestirne erst am vierten Tag erschaffen werden: Der gemeinte Tag sei also entweder im Sinne eines uns unbekannten körperlichen oder eines geistigen Lichts, wie es der Gemeinschaft der Engel eigne, aufzufassen. Augustinus bemerkt, dass die Redeweise: „Als der Tag gemacht worden ist, da machte Gott Himmel und Erde und alles Grün des Feldes“ gegenüber dem gewohnten Sprachgebrauch abweicht. Mit seiner üblichen exegetischen Vorsicht konstatiert Augustinus nicht einfach die Bestätigung seiner vorangegangenen Auslegungen, sondern stellt die Frage, ob mit dem „einen Tag“, von dem nun die Rede sei, jene Zusammenfassung der sechs Schöpfungstage im Sinne des einen sich wiederholenden Tages gemeint sei (nunc ad unum diem omnia rediguntur?). Entsprechend seiner hermeneutischen Methode, die Heilige Schrift im Zusammenhang zu betrachten, und unter der Voraussetzung, dass sich ihre Einheit nur durch den Heiligen Geist – d. h. durch die Zusammenschau ihrer Teile im Einheitsblick des göttlichen Lichts – ergründen lässt, wenn „man langsam voranschreitet“, erachtet der Kirchenvater seine Auslegung als berechtigt und ergänzt, dass die „sechs- bzw. siebenfache Wie-
437 Dieser Übergang ist bemerkenswert, weil er einen tiefgreifenden Unterschied zur Vulgata (und zum hebräischen Text) darstellt: „An dem Tag, als Gott der Herr Himmel und Erde machte: Und alle Sträucher des Feldes, bevor sie waren auf Erden …“ In modernen Übersetzungen liest es sich geglättet folgendermaßen: „Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden.“ Während also nach moderner Lesart das Noch-Nicht die Aussage dominiert, ist der Anschluss in dem Augustinus vorliegenden Text so, dass die Sträucher analog zu Himmel und Erde als direktes Objekt zu fecit („er machte“) fungieren. Dies ergibt prima facie einen völlig anderen Sinn. Allerdings kann man Augustinus zugute halten, dass der Vers Gen 2, 4b in allen Fassungen syntaktisch schwer zu beziehen ist, woraus sich die Schwierigkeit des Übergangs zu Gen 2, 5 ergibt. Dadurch werden die angesprochenen Divergenzen in den Textfassungen nicht geringer oder weniger gravierend; jedoch sind Probleme, den Vers 2, 4b sinnvoll zu beziehen, nicht zu leugnen, und dies liegt zumindest nicht an Augustins Exegese: Vielmehr kreist diese zu Recht ein textliches Problem ein. 438 Gn. litt. V, 1; 137,2–139,16. Vgl. zur Stelle Kim (2006: 144). 439 Im paganen Kontext etwa bei Proklos, vgl. dazu Drews (2018: 109–167).
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De Genesi ad litteram: Buch V
derholung“ des einen Tages „ohne Zwischenräume von Verzögerungen und zeitlichen Abständen“ (sine intervallis morarum spatiorumque temporalium) erfolgt sei.440 Was aber ist gemeint, wenn gesagt ist, Gott habe „alles Grün des Feldes geschaffen, bevor es auf der Erde war, und alles Gras, bevor es aufgegangen ist“ (Gen 2, 5)? Augustinus betrachtet diese Aussage offen als kontraintuitiv, da man doch geneigt wäre, dass Gott all dies geschaffen habe, als es aufblühte. Nur ein frommer Leser würde dem Sinn der Schrift nachspüren, während sich ein unfrommer nicht dieser Mühe unterzöge. Für den Kirchenvater stellt sich vor allem die Frage, „wo“ Gott dies alles geschaffen haben sollte. Die Auslegung, dass es sich auf die Schöpfung im Verbum Dei bezöge, schließt er sogleich aus, denn „Gottes Wort“ sei von sich selbst her unerschaffen und Gott Vater gleichewig, vor allem Tag.441 Auch die Samen könnten nicht gemeint sein, da sie ja Produkte bereits existierender Pflanzen seien. Vielmehr bringe Gen 1, 11 zum Ausdruck, dass die Erde selbst Kraut hervorsprossen lasse. In dem Wort „Und so wurde/geschah es“ verankert Augustinus wiederum die „Tagerkenntnis“ der Engel,442 während „Und es brachte hervor die Erde“ die Erschaffung der materiellen Natur meine. Augustinus differenziert zwischen verschiedenen Schöpfungsebenen im Sinne von unterscheidbaren ontologischen und epistemologischen Hierarchien: Die Engel in ihrer „Gemeinschaft und Einheit“ (societas atque unitas supercaelestium angelorum atque virtutum) sind der ewige Tag, in ihnen wird die Schöpfung zuerst als intellektive geschaffen; von dieser unterschieden und ihr vorgeordnet ist der unerschaffene Schöpfungslogos, welcher Gott selbst ist. Auffällig ist dabei, dass der Kirchenvater den Engeln sowohl die Einsicht in Gottes Schöpfungslogos zuspricht, „durch den alles geschaffen ist“ (quod eam [sc. creaturam] in verbo dei noverunt, per quod facta sunt omnia), als auch die Erkenntnis der Schöpfung „in sich selbst“ (etiam in se ipsa), insofern sie primär und in „uranfänglicher Weise“ (primordialiter443) geistiges Geschöpf ist. „Uns jedoch“ (nobis autem), d. h. den Menschen, sei die Schöpfung bekannt „gemäß der schon durch zeitliche Ordnungen erfolgenden Lenkung der zuvor geschaffenen Sachgehalte“ (secundum rerum antea conditarum administrationem iam per ordines temporum): Die materielle
440 441 442 443
Gn. litt. V, 2–3; 139,17–141,26. Zur „unerschaffenen Weisheit“ s. o. Kap. 7 mit Anm. 129. Vgl. dazu Kap. 17 sowie conf. XII, 13, 16; civ. XI, 29. Die primordiales causae spielen im Mittelalter z. B. in der philosophischen Theologie Eriugenas eine besondere Rolle, vgl. Drews (2018: 310–318). Pollmann (2009b: 33) stellt heraus, dass Eriugena „die Theorie von der Simultanschöpfung und auch die ‚primordiales causae‘ […] von Augustinus“ übernehme; außerdem gelinge es Eriugena „das erste Mal, eine systematisch geschlossene Erklärung zu entfalten, wie die Entstehungsgründe zu ihren Wirkungen fortschreiten: Die ‚primordiales causae‘ sind sowohl ewig als auch geschaffen, sie sind göttliche Ideen als Prinzipien der Schöpfung und zugleich deren Manifestationen“ (ibd., 34). Dabei dürfte freilich der Einfluss eines Dionysius Areopagita nicht zu unterschätzen sein; außerdem ist in systematischer Hinsicht der Unterschied zwischen der ungeschaffenen Weisheit Gottes und der geschaffenen Weisheit der Engel sicher ein Paradigma, welches sich sowohl bei Augustinus wie auch bei Origenes findet (s. o. Kap. 7 mit Anm. 129) und Eriugenas Lösung vorwegnimmt bzw. wesentlich vorbereitet.
18. Von Gen 1 zu Gen 2
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Verwirklichung des zuvor geistig Erschaffenen setzt immer schon zeitliche Intervalle voraus; das, was in materieller, sinnlich-wahrnehmbarer Weise geschaffen wird, hat jedoch seinen zeitfreien intelligiblen Seinsgrund, den als solchen die Engel schauen und der von Gottes ewigem Schöpfungslogos herrührt. Mit Blick auf Gen 2, 5 veranschlagt Augustinus ein rein begriffliches Verständnis: Die Erde habe damals Pflanze und Holz auf rein „ursächliche Weise“ (causaliter) hervorgebracht, indem sie das „Vermögen des Hervorbringens empfangen“ habe (producendi accepisse virtutem), denn z. B. der Paradiesgarten sei erst später von Gott gepflanzt worden. Auch stehe die jetzt erfolgte Gabe des Hervorbringungsvermögens nicht im Widerspruch zur abgeschlossenen „ersten Schöpfung“ (prima conditio) in Gen 1: Jener Schöpfungsakt bezeichne die rein „geistige und intellektuale Schöpfung“ (spiritalis videlicet atque intellectualis creatura). Vielmehr gehe es in Gen 2, 5 – und damit kreist Augustinus tatsächlich einen ganz konkreten systematischen Aspekt ein – um die Bewegung der geistigen Schöpfung hin zur Materie, d. h. um die Ingangsetzung des sich materiell vollziehenden Entstehungsprozesses, welcher sich eben nur als aus den geistigen Prinzipien heraus sinnvoll verstehen lasse: Deshalb spricht Augustinus von der geistigen Schöpfung als der „ersten“. Gott „bewegt und lenkt jene durch zeitliche Läufe“ (movens deinde administrans per temporales cursus), und zwar auch jetzt, weil er bis heute wirke (qui usque nunc operatur), wie der Bischof von Hippo unter Verweis auf Jh 5, 17 schon früher konstatiert hatte.444 Es geht gemäß seiner Exegese an dieser Stelle um nichts Geringeres als um den Übergang des rein geistigen Wirkens Gottes hinein in die Materie.445 Damit ist zugleich der Übergang aus der zeitfreien Ewigkeit in die Zeit impliziert: Zeit beginnt mit den Bewegungen der Schöpfung, und diese können körperlicher (corporalis), aber auch geistiger (spiritalis) Natur sein, so dass für das Aufkommen von Zeit keineswegs nur physikalische Erklärungen hinreichen, weil auch die Seele Zeit bereits mit sich bringt. In diesem Sinne erklärt Augustinus gut neuplatonisch, dass Zeit eher vom jeweiligen Geschöpf als umgekehrt das Geschöpf von der Zeit herrühre; beides indes von dem Schöpfer (potius ergo tempus a creatura quam creatura coepit a tempore, utrumque autem ex deo). Daher sei auch die Zeit selbst Geschöpf; aber sie ist gemäß dem Kirchenvater offensichtlich kein für sich selbst bestehendes Abstraktum (auch keine ‚verstandesmäßige Kategorie‘446), sondern sie nimmt ihren Lauf mit den Veränderungen der Schöpfung „von einem in einen anderen Zustand gemäß Gottes lenkender Ordnung“. Philosophisch entscheidend ist dabei, dass Augustinus die Ordnung der Schöpfung nicht selbst in „Zeitabständen“, sondern durch Gottes „kausale Verknüpfung“ gewährleistet sieht (praestans eis etiam ordinem non intervallis temporum, sed conexione causarum): Dies bedeutet nichts Geringeres, als dass der historische Wel-
444 S. o. Kap. 16. 445 Gn. litt. V, 4; 142,1–145,11. Vgl. zur Stelle Kim (2006: 149–152). 446 S. o. Anm. 214.
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tenlauf gemäß dem Kirchenvater eben nicht, wie mitunter behauptet,447 deterministisch zu verstehen ist.448 Vielmehr ist die Welt ein dynamisches Ganzes,449 in welchem sich geistbegabte Geschöpfe frei bewegen können (innerhalb bestimmter Grenzen): Diese pulsierende Ganzheit verschiedenster Akteure hindert gleichwohl nicht, dass sie trotzdem von Gott gelenkt wird, aber eben nicht durch einen fatalistischen Totaldeterminismus, sondern im Sinne einer dynamischen Kausalität.450 Da Gott nicht durch zeitliche Prädetermination, sondern durch eine aus seiner Überzeitlichkeit erfolgende Kausalität wirkt, ist auch der Primat der „formlosen, aber formbaren Materie“ nicht auf zeitliche Weise zu verstehen, sondern allein gemäß einem sachlichen Früher,451 wobei der Kirchenvater zwischen einer geistigen und körperlichen Materie differenziert452 (non itaque temporali, sed causali ordine prius facta est informis formabilisque materies, et spiritalis et corporalis). Die Schöpfungsordnung, welche Gen 1 narrativ entfaltet, versteht Augustinus nun auf sehr viel konkretere Weise in rein geistig-ursächlicher Hinsicht im Sinne des ersten Tages: Dieser erste Tag, mit dem die intellektual begabten Engel gemeint sein müssen, sei notwendigerweise das erste Geschöpf, weil dieses „durch den Schöpfer die Schöpfung erkennen konnte“ und nicht in umgekehrter Weise453 (quae creaturam per creatorem, non creatorem per creaturam posset agnoscere). Mit der Erschaffung des Firmaments beginne die „körperliche Welt“. Gemäß Augustins rein geistig-kausaler Exegese empfängt die Erde hier bezeichnenderweise „potentiell (potentialiter) die Natur der Kräuter und Hölzer“. Diese Potentialität ist jedoch schon eine sachlich bestimmte und bezeichnet die Formprinzipien, welche Augustinus als zahlhafte Bestimmtheiten (numeri) begreift: In dieser Hinsicht „hat die Erde diese Dinge hervorgebracht, (noch) bevor sie aufgegangen waren, indem sie alle deren [sc.
447 448 449 450
Etwa von Flasch (1993: 98); s. kritisch dazu Drews (2009: 181 f.). S. o. Kap. 13. S. o. Kap. 9. Gerade das Überschauen der sich frei entfaltenden und agierenden Geschöpfe ist charakteristisch für Gottes Providenz, die das Ganze miteinander kausal verknüpft: Dies bedeutet jedoch nicht, dass das jeweils Verknüpfte immer auch primärursächlich auf Gott zurückgeht, sondern gerade in sich selbst freie Handlungen einzelner Geschöpfe werden gemäß Augustinus von Gott auf bestimmte Weise verknüpft. Zum Zusammenspiel von geschöpflicher Freiheit, Gottes Allwissen und rein überzeitlich zu verstehender Prädestination s. Drews (2009: 143–238) sowie Gn. litt. VI, 11; 185, 2–4. – Ähnlich argumentiert Boethius – sicher nicht, ohne darin von Augustinus beeinflusst zu sein –, wenn er verschiedene Ursachenketten, die von der Freiheit der Geschöpfe ihren Anfang nehmen, durch Gottes Providenz verknüpft sieht. Allein diese Verknüpfung selbst bezeichnet er als „unvermeidlich“ – nicht aber das jeweils Verknüpfte (Boethius, cons. V, 1p, 19). Dieser Unterschied hat eine immense Tragweite für die Bewertung der Theodizeefrage. Eine totaldeterministische Interpretation stünde zudem im Widerspruch zu der auf diese Stelle bei Boethius unmittelbar folgenden Verteidigung der Willensfreiheit (cons. V, 2p, 1 ff.), die ebenfalls analog zu Augustins philosophischer Position vorgenommen wird. 451 Zu diesem Begriff s. o. Anm. 120 und 422 sowie s. u. Kap. 38. 452 S. o. Kap. 3 mit Anm. 38. 453 Hier steht der Kontext von Rö 1, 20 im Hintergrund. S. o. Kap. 2.
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wesensbestimmende] Zahlen454 empfängt“ (sic enim terra ad dei verbum ea produxit, antequam exorta essent, accipiens omnes numeros eorum), die sich später auf zeitliche Weise entfalten sollten. Damit rekurriert Augustinus auf seine zuvor schon geleistete Explikation der für die Schöpfung wesentlichen Prinzipien „Maß, Zahl und Gewicht“ (Sap 11, 21): Alle drei Prinzipien verleihen jeglichem Geschöpf auf maßhafte Weise seine jeweilige seinsspezifische Form und Zielgerichtetheit.455 Auch den schwierigen Übergang zwischen Gen 2, 4 und 2, 5, wie er sich in der ihm vorliegenden Fassung darstellt, vermag der Kirchenvater nun textimmanent aufzuhellen: Die unerwartete Aufzählung: „da machte Gott Himmel und Erde und alles Grün des Feldes“ lässt sich so verstehen, dass die Erde im Sinne der Materie die aus ihr (später, auf zeitliche Weise) hervorgehenden Wesen zunächst als sachlich-zahlhaft bestimmte Seins-Potenzen empfängt. Genau diese Interpretation dehnt Augustinus sodann auf alle in Gen 1 genannten Geschöpfe aus, die sämtlich als jeweils in sich bestimmte Seins-Potentiale auf geistige Weise kausal von Gott begründet und von der Materie aufgenommen werden. Erkannt sind diese Seins-Potentiale von demselben, einen Tag, welcher an sich noch keine Zeitlichkeit entfaltet, sondern durch sechsfache Wiederholung eine rein sachlich-zahlhafte Schöpfungsordnung456 in sich umgreift, „deren Zahlen die Zeit später auf sichtbare Weise entfalten sollte“ (quorum numeros tempus postea visibiliter explicaret): Dieser eine Tag bzw. die Engel erkennen somit die Schöpfungsordnung (ordo conditorum) in ihrem bestimmten Potential auf geistige, zeitfreie Weise „durch den Schöpfer“, noch bevor sie auf sichtbare, materielle Weise ihre Verwirklichung findet. Obwohl Augustinus nun zu einer in sich stimmigen Erklärung der schwierigen exegetischen Probleme gelangt ist, schließt er auch jetzt nicht aus, dass jemand anders vielleicht zu einer schlüssigeren Interpretation vordringen könnte.457 Seiner vorsichtigen exegetischen Methode entsprechend formuliert der Kirchenvater nun eine Fülle von Fragen angesichts des folgenden Textabschnitts: „Denn nicht hatte regnen lassen Gott über dem Land, und es war kein Mensch, der das Land bestellte“ (Gen 2, 5b). Diese müssen nicht im Einzelnen rekapituliert werden, weil sie wenig Zielführendes generieren außer dem einen Resultat: Das Grün des Feldes (Gen 2, 5a) müsse Gott am Beginn der Schöpfung auf andere Weise hervorgebracht haben als jetzt, wo es regne und Menschen das Land bearbeiteten; jetzt geschehe dies in Zeiträumen, zu Anfang der Schöpfung – vor aller Zeit – aus dem ewigen Zugleich des einen (wiederholten) Tages.458 Aus der Ewigkeit des einen Tages fließen also bestimmte Kausalitäten und konstituieren Raum und Zeit mit ihren sinnlich wahrnehmbaren 454 Dass Augustinus eine platonische Auffassung der Zahlen vertritt, zeigt er besonders in De musica. Zum zahlhaft bestimmten Erkenntnisakt der sinnlichen Wahrnehmung in De musica vgl. Drews (2009: 55, Anm. 99). 455 S. o. Kap. 15. 456 S. o. Kap. 12-13. 457 Gn. litt. V, 5; 145,12–147,27. 458 Gn. litt. V, 6; 147,28–150,2.
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Bestimmungsmomenten in ihrer Verschiedenheit. Diese Verschiedenheit wird an der Materie als Nacheinander konstituiert; das Konstituierende ist jedoch der Schöpfer, welcher die Materie formt mittels seiner schöpferischen Logoi, d. h. der zahlhaft bestimmten Seinsgründe, die einshaft im einen Tag von den intellektualen Engelwesen geschaut werden. Gottes Wirken aus der Ewigkeit heraus hin zur Materie konstituiert Zeitliches: D. h., in diesem Zusammenhang muss die Zeit mit ihren für den ‚innerkosmischen Blickwinkel‘ der Menschen gewohnten Abläufen ihren Anfang nehmen; die zahlhaft bestimmten Seinsgründe, welche die Materie als Potential empfängt, müssen sich in und mit der Materie zu entwickeln beginnen. Genau dies, so Augustinus, deutet der folgende Vers an: „Aber ein Quell stieg auf aus der Erde und bewässerte das ganze Antlitz der Erde“ (Gen 2, 6). Die erste Schöpfung des zeitlosen ‚Alles Zugleich‘ entfaltet sich ins Werden. In seiner Exegese denkt der Kirchenvater hier also Geistiges und Materielles zusammen: Der Quell symbolisiere das Element des Wassers, ohne welches keinerlei körperliche Lebewesen existieren und „ihre den spezifischen Naturen zugeteilten zahlhaften Wesensbestimmungen zeitlich“ entfalten könnten (ut agant temporales numeros suos naturis propriis distributos). Die „wirksamsten“ Zahlen als intelligible Seinsgründe eines jeden Geschöpfs strukturieren die Materie und „ziehen unmittelbar folgende Potenzen mit sich aus jenen vollendeten Werken Gottes, von denen er am siebenten Tag geruht hat“ (efficacissimi numeri trahentes secum sequaces potentias ex illis perfectis operibus dei, a quibus in die septimo requievit). Das Potential dieser zahlhaften Wesensbestimmungen entfaltet sich also dadurch, dass ihm in materieller Hinsicht die für diese Entfaltung notwendige Grundlage – das Wasser – zuteil wird (welches seinerseits freilich ebenso seinen intelligiblen Seinsgrund hat). Wenn mit der Strukturierung der Materie zugleich die Zeit ihren Anfang nimmt, stellt sich nun auch die historische Frage, was für ein Quell dies denn gewesen sein könnte, der die ganze Erde bewässerte. Als Exeget zeigt Augustinus an dieser Stelle ein nahezu ‚historisch-kritisch‘ anmutendes Problembewusstsein, wenn er schreibt: „Wenn es ihn [sc. den Quell] denn gab …“ (si enim fuit). Obwohl der Kirchenvater immer darum bemüht ist, die Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit der Heiligen Schrift zu erweisen,459 hindert ihn dies offensichtlich nicht daran, kritisch zu fragen, ob ein solcher Urquell tatsächlich in materieller Hinsicht existiert haben könnte, denn „jetzt“ (auch schon zu Augustins Zeiten) sei so ein Quell, der die ganze Erde bewässert habe, nicht zu sehen. Augustinus fragt, ob Gott den einen Urquell später „eingedämmt“ und „die Erde mit vielen Quellen erfüllt“ und „vom Paradies her den einen Quell in die vier Flüsse geteilt“ habe. Bezüglich der Einheit des besagten Quells erwägt der Kirchenvater verschiedene Deutungsmöglichkeiten: Entweder sei dies wie ein bisweilen an- bzw. abschwellender Fluss, etwa der Nil, zu verstehen, oder aber der Singular stehe als Oberbegriff für eine
459 Dies wird z. B. in den kleineren Kapiteln Gn. litt. V, 8–9; 152,3–153,4 deutlich.
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Vielzahl von fontes, wie auch „die Farbe“ eines bunten Kleidungsstückes viele Farben umgreift. Ohne dass dies explizit benannt wird, bemüht Augustinus der Sache nach die platonische Einheitsphilosophie: Einheit ist jeweils Prinzip der von ihr prinzipiierten Vielheit; Vielheit ist nicht ohne Einheit möglich, aber Einheit ohne Vielheit.460 Die „Größe bzw. Vielheit“ (magnitudo vel multitudo) des Quells könne analog zu der Ausdrucksweise betrachet werden, wie der Begriff „Soldat“ kollektiv für „Heer“, also viele Soldaten stehe. Als wesentliches exegetisches Resultat resümiert Augustinus: Der überzeitliche Gott, der von keiner Zeitlichkeit betroffen ist (non enim et ipsi accidit tempus), habe nach der aus seinem ewigen Logos heraus erfolgenden ersten, rein intellektiven Schöpfung des ewigen ‚Alles Zugleich‘ die materielle Entwicklung dieser geistig erschaffenen zahlhaften Seinsgründe beginnen lassen. Den Übergang zwischen der geistig-ewigen ersten Schöpfung und der zweiten zeitlichen Schöpfung markiere der gerade erörterte Vers Gen 2, 6, welcher anzeige, dass alles von nun an Erzählte sich innerhalb der Zeit und nicht alles zugleich ereigne (ab hac commemoratione fontis huius et deinceps ea, quae narrantur, per moras temporum facta sunt, non omnia simul). Nur die letztere, sogenannte zweite Schöpfung sei „der sinnlichen Wahrnehmung und der Gewohnheit dieses [sc. irdischen] Lebens“ zugänglich, die erste Schöpfung sowie der ewige Logos selbst ihr dagegen entzogen.461 Mit dieser erkenntnistheoretischen Reflexion begründet der Kirchenvater hier, wie schon zu Beginn von De Genesi ad litteram,462 nichts Geringeres, als dass eine rein an empirischer Beobachtbarkeit orientierte Methode zu sehr den Befunden der Sinneswahrnehmungen verhaftet bleibt, weil sie die theologisch primär bedeutsamen, geistig-intelligiblen Zusammenhänge im wahrsten Sinne des Wortes ‚nicht sehen‘ kann.
460 S. o. Anm. 439. 461 Gn. litt. V, 7–12; 150,3–156,8. 462 S. o. Kap. 2.
19. Der überzeitliche dreifaltige Gott, die geistigen Seinsgründe der Welt und ihre Erhaltung „bis jetzt“ Die leichte Gotteserkenntnis, Erlösungstheologie sowie das Verhältnis von sprachlicher Ausdrucksweise und theologischem Gehalt
Im Folgenden wendet sich Augustinus zunächst systematisch-theologischen Fragen463 zu und betont unter Rekurs auf Jh 1, 1–3,464 dass Gott in seiner ihm wesenseigenen Weisheit, durch die er alle Dinge geschaffen habe, diese schon im Voraus gekannt habe (priusquam fierent, ea noverat). Denn niemand sonst habe sein „Ratgeber“ sein können (Rö 11, 34–36; Jes 40, 13). In dem mit der Weisheit identischen ewigen Wort, dem Schöpfer-Logos (per quod facta sunt omnia), sei das Leben465 deshalb, weil alles Leben und das „Licht der Menschen“ (Jh 1 4) aus dem Geist komme: Kraft seiner rationalen Geistbegabung sei der Mensch „Abbild Gottes“ (Gen 1, 27), da er – wie alle geistbegabten Wesen (rationales mentes) – durch die Ausrichtung seines Geistes auf Gott und dessen Logos, den Sohn, an dessen Licht werde „partizipieren“466 können, wenn er von „aller Schlechtigkeit und allem Irrtum gereinigt“ sei (cuius participatione esse poterunt ab omni iniquitate et errore mundatae). In sich selbst, seinem lebendigen Logos-Leben, also „hat Gott alle Geschöpfe geschaut, als er sie machte, und, wie er sie schaute, so machte er sie“ (in qua [sc. vita] vidit omnia, quando fecit et, sicut vidit, ita fecit, non praeter se ipsum videns). Der Logos-Sohn wie Gott-Vater besitzen dieselbe Schau, da sie dasselbe Wesen sind (nec alia visio ipsius [sc. verbi] et patris, sed una, sicut una substantia). Damit rekurriert der Kirchenvater auf die nizänische Trinitätslehre von Gottes
463 Dazu, dass dies für Augustinus nicht von der Textexegese zu trennen ist, s. o. Kap. 4. 464 Vgl. o. Kap. 3-4. 465 Augustinus legt explizit dar, dass Jh 1, 3b-4 quod factum est in illo vita est so zu untergliedern sei: quod factum est, in illo vita est, wie es der biblischen Versgrenze entspricht. Untermauert sieht er diese Auffassung durch die Schriftzitate Ps 104, 24 und Kol 1, 16. 466 Zur Teilhabe-Ontologie bei Augustinus s. o. Kap. 15 sowie Drews (2018: 253–278).
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Wesenseinheit der drei einander rein relational durchdringenden Personen.467 Die Wesensidentität von Gott Vater und Gott Sohn sieht Augustinus dadurch untermauert, dass Vater und Sohn gemäß Jh 5, 26 jeweils „Leben in sich selbst haben“. Aber auch das Alte Testament verweise bereits auf die schöpferische Weisheit, welche allein Gott gehört, wenn über sie gesagt ist (Hiob 28, 13+23): „Es kennt nicht ein Sterblicher ihren Weg, und sie wird nicht gefunden werden unter den Menschen. […] Der Herr hat ihren Weg gewiesen, und er selbst kennt ihren Ort.“ In Gottes Weisheits-Logos sind die Geschöpfe gemäß ihren göttlichen Wesensgründen „auf bessere, wahrere, ewige und unveränderliche“ Weise (ibi meliora, ubi veriora, ubi aeterna et incommutabilia), als geschaffene sind sie jedoch so, dass „ein jedes Geschöpf in seiner Art ist“ (facta autem eo modo, quo unaquaeque creatura in genere suo est). Gott besitzt also sowohl die Wesensgründe seiner Geschöpfe in sich, als auch ist er seinen Geschöpfen immer schon transzendent:468 Dieses philosophische Theologoumenon sieht Augustinus in dem bekannten Selbstoffenbarungswort Gottes grundgelegt: „‚Ich bin, der ich bin‘“ (‚ego sum, qui sum‘, Ex 3, 14). Denn damit sei nichts anderes als Gottes Verschiedenheit gegenüber seinen Geschöpfen (longe scilicet aliter quam ista), also seine Transzendenz, ausgesagt. Trotzdem hat er als Schöpfer die prinzipienhaften Seinsgründe469 in sich selbst. Gottes Wesen sei kraft seiner Transzendenz somit „unaussprechlich“ (ineffabilis), weil er „vor aller Zeit und vor allem Ort“ sei (cum sit ante omnia tempora et ante omnes locos). Dennoch sei der Schöpfer „uns Menschen“ näher als viele Geschöpfe, denn „‚in jenem leben, bewegen uns und sind wir‘“ (tamen propinquior nobis est, qui fecit, quam multa, quae facta sunt. ‚in illo enim vivimus et movemur et sumus‘, Apg 17, 28). So konstatiert Augustinus das vordergründige Paradox, welches sich gleichwohl als rational erweist: Der Mensch könne nämlich viele Geschöpfe aufgrund ihrer Körperhaftigkeit viel schwieriger erkennen und ergründen, da sie ihm entzogen seien und aufgrund ihrer Materialität etwas Unerkennbares an sich hätten;470 auch ihre Seinsgründe in Gott selbst zu schauen, sei dem menschlichen Geist unmöglich. Paradoxerund doch begründeterweise gelangt der Kirchenvater so zu dem Schluss, dass es mehr Mühe bedürfe, um jene Geschöpfe zu erkennen als ihren Schöpfer zu finden (ex quo fit, ut maior ad illa invenienda sit labor quam ad illum, a quo facta sunt): Dies habe indes einen guten Grund, weil es für die Seele viel beglückender sei, den Schöpfer selbst „mit frommem Geist zu spüren,471 als jene Dinge sämtlich zu erfassen“ (cum sit incomparabili felicitate praestantius illum […] pia mente sentire quam illa universa conprehendere). 467 468 469 470
S. o. Kap. 14 mit Anm. 273. Vgl. Drews (2018: 261–274). S. o. Kap. 2 und Kap. 9-10 zum Beispiel ‚Dreieck‘. Denn die Materie ist nach platonischer Auffassung immer von sich selbst her unbestimmt und daher unerkennbar: Um Körperwesen genau zu erkennen, muss man also sich auf das fokussieren, was die Materie an relativer Bestimmtheit aufweist; jedoch wird immer ein ‚Rest‘ bleiben, der unerkannt ist bzw. möglicherweise besser erkannt werden müsste. 471 Dass dies auch noch im sogenannten ‚aufgeklärten Zeitalter‘ unverändert möglich ist, zeigt Sophie
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Bereits Sapientia 13, 9 kritisiere zu Recht, wie es sein könne, dass die Klugen, wenn sie so viel vermögen, nicht in der Lage waren, „den Herrn“ zu finden? Dieses Unvermögen stellt gewissermaßen das negative Gegenstück zu Rö 1, 20472 dar, wo es darum geht, mit dem Vernunftblick von den sichtbaren Geschöpfen auf Gottes Unsichtbarkeit zu schließen und diese intellekthaft zu schauen. Wenn sich indes die menschliche Ratio weder anmaßt, tatsächlich alles erkennen zu können, noch sich ferner im Kleinteiligen der Materie verliert und vor lauter Details blind wird für den unsichtbaren Einen, der als Schöpfer die Materie transzendiert, dann könne dem Menschen, so Augustinus, diese Glückserfahrung zuteil werden.473 Im Kontext seiner an dieser Stelle verstärkt systematisch orientierten Interpretationsarbeit kündigt der Kirchenvater an, nacheinander Folgendes zu betrachten: das, was Gott „alles zugleich“ erschaffen (Sirach 18, 1) und am sechsten Tag vollendet hat; danach dasjenige, was er „bis jetzt wirkt“ (Jh 5, 17). Gott ist selbst „vor der Zeit“ (ante saecula); die Welt aber ist „von der Zeit her“ (a saeculo) und „in ihr“ (in saeculo) und „von der formlosen Materie her“ geschaffen (de materia informi, Sap 11, 18). Vor der Erschaffung der Kreaturen in ihrer eigenen Natur waren sie und waren sie nicht (antequam fierent, et erant et non erant): nicht in ihrer eigenen Natur, aber in Gottes Schöpfungslogos. „Jener [sc. eine] Tag“, d. h. die Engel, aber erkannte Gottes Werke in Gott selbst (in deo) als morgendliche Erkenntnis (matutina cognitio) und in der spezifischen Natur der Werke (in se ipsis) als abendliche Erkenntnis (vespertina cognitio).474 Gott aber machte alles, weil er es schon kannte – und nicht weil er es erkannte, nachdem es gemacht war (nota ergo fecit, non facta cognovit), denn „bei ihm ist kein Wandel noch ein Schatten von Veränderung“ (Jak 1, 17). Die Aufgabe der Engel besteht nicht darin, dass sie Gott über etwas in Kenntnis setzen, das dieser nicht schon wüsste; sondern um der Menschen willen (propter nos) und um ihrer selbst willen (et propter ipsos) stehen sie im Dienste Gottes, fragen ihn um Rat bezüglich der niedrigeren Wesen und gehorchen seinen Anweisungen (ut eum de inferioribus consulant eiusque supernis praeceptis et iussis obtemperent). Die Engel sind die „himmlische Bürgerschaft“, welche Augustinus als „den zuerst geschaffenen Tag“ begreift. Den Engeln war das „Geheimnis des Himmelreiches“ nicht verborgen, welches den Menschen erst „zur geeigneten Zeit“ (opportuno tempore) geoffenbart werden sollte, wenn der „Mittler“ (mediator) als „Herr“ der Engel „sowohl in Gestalt Gottes und eines Knechts“ (et in forma dei et in forma servi, Phl 2, 6–7) erscheinen sollte. Dieses Geheimnis sei, wie der Apostel schreibe (Eph 3, 8–11), „vom Beginn der Zeiten in Gott verborgen gewesen“. Durch die Kirche aber sei den „himmlischen Mächten“, d. h. den Engeln, „die vielgestaltige
Scholl in ihren Tagebüchern, wenn sie von einer „Ahnung“ des Schöpfers spricht. S. dazu Drews (2011b: 166) sowie oben Kap. 1. 472 S. o. Kap. 2. 473 Gn. litt. V, 13–16; 156,9–160,10. Vgl. Harrison (2017: 217) sowie unten Anm. 967. 474 S. o. Kap. 17.
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Weisheit Gottes“ (multiformis sapientia dei) offenbar geworden, weil „dort auf prinzipienhafte Weise die Kirche“ ist (quia ibi primitus ecclesia), wo sich die irdische Kirche nach der Auferstehung mit den Engeln vereinigen werde (quo post resurrectionem et ista ecclesia congredienda est, ut simus ‚aequales angelis dei‘, Mt 22, 30). Während den Engeln also „vom Beginn der Zeiten“ dieses Geheimnis bekannt wurde, ist der eingeborene Logos-Sohn „vor den Zeiten“ (unigenitus autem ante saecula), wie über ihn als Weisheit Gottes gesagt ist: „Vor den Zeiten hat er mich gegründet“ (ante saecula fundavit me, Sprüche 8, 23). Auf intellektive Weise erkennen die Engel das Geheimnis der Erlösung also sowohl in seinen geistigen Seinsgründen als auch in seiner irdischen Manifestation (1 Tim 3, 16). Wenn aber von Gott gesagt werde, dass er etwas zu einer bestimmten Zeit erkenne (tamquam ad praesens tempus cognoscere), dann bedeute dies, dass er entweder den Engeln oder den Menschen etwas zu erkennen gebe (quia cognosci facit). Denn dies sei eine übliche Ausdrucksweise der Bibel, dass sie die Ursache statt der Wirkung bezeichne, besonders wenn „die unseren Geisten vorstehende Wahrheit ruft, dass etwas mit Blick auf die Eigentümlichkeit der Sprechweise ihm [sc. Gott] nicht angemessenerweise zukommt“ (maxime cum de deo aliquid dicitur, quod ei ad proprietatem locutionis non convenire praesidens mentibus nostris ipsa veritas clamat).475 Mit dem letzten Satz hält Augustinus einen in exegetischer Hinsicht wichtigen Punkt fest: Das Wahrheitskriterium ist nicht der ‚Buchstabe an sich‘, welcher – obgleich der Kirchenvater dieses Zitat hier nicht anführt – auch zu „töten“ vermag, während nur der „Geist lebendig macht“ (2 Kor 3, 6b). Anstatt des Geistes spricht er hier von der veritas, die noch über den rationalen Geisten (mentes) stehe: Nicht der Buchstabe, sondern der geistig-geistliche Gehalt stellt die Wahrheit dar, welcher in letzter Instanz Gott selbst in seinem schöpferischen Logos ist. Insofern steht die Textexegese nicht isoliert für sich,476 sondern in Relation zur Wahrheit, die sie aufzeigen will. Während Augustinus zuvor bereits das Kriterium der proprietas, des „spezifisch-eigentümlichen Verständnisses“ nicht auf den historischen Sinn bzw. einen materiellen Referenten beschränkt hatte, scheint er proprietas hier auf den ersten Blick anders zu begreifen: Beim genaueren Hinsehen fällt aber auf, dass er von der proprietas locutionis spricht, dass es also nicht um den spezifischen geistigen Gehalt, sondern um die spezifische sprachliche Ausdrucksweise als solche geht. Der Begriff der proprietas kann also auch selbst verschiedene Referenten haben: Bei der Entfaltung intelligibler Sachverhalte kann sich die Sprache der inspirierten477 Heiligen Schrift einer Ausdrucksweise bedienen, deren rein sprachliche Spezifik vordergründig etwas anderes aussagt als das vom geistigen Kontext her in sachlicher Hinsicht spezifisch Angemessene und Gemeinte. Dieses Resultat hatte sich schon in leichter nachvollziehbarer Weise gezeigt, als von Christus
475 Gn. litt. V, 17–19; 160,11–163,19. 476 S. o. Kap. 14. 477 S. o. Kap. 4, 7 und 14.
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als „Licht“ bzw. „Stein“ die Rede war, was offensichtlicherweise nur in geistiger Weise gemeint sein kann.478 Der zuletzt besprochene Abschnitt ist jedoch nicht nur in methodisch-exegetischer Hinsicht von besonderer Relevanz. Denn zugleich vermag der Kirchenvater etliche komplexe systematische Zusammenhänge auf der Basis der in den vorangegangenen Büchern etablierten Exegese nun in gedrängter Form zusammenzufassen: Der Schöpfungslogos ist als Gott-Sohn wesensgleich mit Gott-Vater. Durch die Inkarnation des Logos in dem Menschen Jesus Christus nimmt der Logos zugleich die menschliche Natur an und erlöst die in Sünde gefallene Menschheit durch seinen Tod und seine Auferstehung von den Toten. Als Logos ist der Sohn Gott selbst und vor aller Zeit, auch wenn sich seine Menschwerdung und die daraus letztlich erwirkte Erlösungstat nur in der Zeit vollziehen kann. In besonderer Weise schwer zu verstehen ist Augustins These, dass die Kirche ebenfalls schon im Himmel auf prinzipienhafte Weise ihr Sein hat und den Engeln das Erlösungsmysterium offenbart. Trotzdem erscheint auch dieses Theologoumenon gerade von Augustins Genesis-Exegese her wenigstens nachvollziehbar: Wenn der erste Tag die „himmlische Bürgerschaft“ der Engel darstellt, welche die Werke Gottes nicht erst aus deren materieller Verwirklichung als „abendliche Erkenntnis“, sondern schon vor aller Zeit als intellektive Seinsgründe im Sinne der „morgendlichen Erkenntnis“ schaut, dann müsste genau diese Schöpfungstheologie auch für das Mysterium der Kirche gelten, welche den Engeln ebenfalls nicht erst durch ihre materielle Existenz, sondern bereits in intellektiver Weise bekannt ist. In dieser Hinsicht, d. h. durch die intellektiv erkennbare Kirche, wird den Engeln Gottes Erlösunghandeln geoffenbart. In ihrer irdischen Form werde die Kirche jedoch erst nach der Auferstehung mit den Engeln eins werden: Insofern wird die leibliche Existenz der Kirche keineswegs nebensächlich, sondern muss am Ende der Zeiten ihre Vereinigung mit den (nicht-gefallenen) Engeln Gottes finden. Jedoch handelt es sich bei der irdisch-materiellen um dieselbe Kirche, welche in ihren geistigen Seinsgründen – wie alle Geschöpfe – den Engeln im ewigen Tag auf intellektive Weise bekannt ist. Mit Blick auf den Aspekt, dass Gott „bis jetzt wirkt“ (Jh 5, 17), schließt Augustinus eine theologische Position aus, welche in neuzeitlicher Terminologie als Deismus zu bezeichnen wäre: Gott hätte dann zwar die Welt geschaffen, alles Übrige entstehe aus der Welt selbst, ohne dass er selbst in ihr wirke. Gottes Wirken erstrecke sich jedoch sogar auf die kleinen Dinge, wie der Apostel schreibe (1 Kor 15, 38).479 Hörte der Schöpfer indes auf zu wirken, würde alles zugrunde gehen (ut, si conditis ab eo rebus operatio eius subtrahitur, intercidant). Diese letztere Position ist spezifisch christlich und zugleich kompatibel mit der philosophischen Theologie Platons, wenn dieser den Demiurgen im Timaios sagen lässt, dass zwar alles im Schöpfungsakt „Gebundene 478 S. o. Kap. 17. 479 In Kap. Gn. litt. V, 21 ergänzt Augustinus diese Ausführungen durch Rekurs auf Ps 148, 7 f., Mt 6, 30 und Mt 10, 29.
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auflösbar“ sei, das durch ihn „Gewordene aber unauflösbar“, solange er es nicht auflösen wolle.480 Gottes Wirken „bis jetzt“ sei jedoch umgekehrt nicht so zu verstehen, dass Gott noch jetzt – innerhalb der Zeit – Seinsprinzipien bestimmter Geschöpfe hervorbringe, denn diese seien alle im Sechstagewerk in zeitfreier Weise vollendet worden. Alles innerhalb der Zeit Neue werde gemäß den ‚damals‘, d. h. überzeitlich geschaffenen Arten hervorgebracht (secundum illa enim genera rerum, quae primo condidit, nova eum multa facere). „Mit verborgener Macht“ bewege Gott „seine universale Schöpfung“ (movet itaque occulta potentia universam creaturam suam), während ihm Engel gehorchen, die Gestirne ihre Umläufe vollziehen, Samen sich entwickeln und auch Ungerechte Gerechten zusetzen. In diesem Kontext betont Augustinus also die nicht nachlassende Schöpfungsaktivität Gottes. Wie aus anderen Werken mit anderem skopos deutlicher hervorgeht, redet er gleichwohl keinem Determinismus das Wort, als ob die Ungerechtigkeiten und der Ursündenfall gewissermaßen auch noch von Gott ‚geschaffen‘ bzw. ‚intendiert‘ wären – dies wäre vielmehr in Augustins Augen theologischer Unsinn.481 Die Welt ist von Gott gut geschaffen und wird auf gute Weise erhalten, aber die freie Entfaltung freier Seelen – zum Guten oder zum Schlechten – steht dabei nie außer Frage, ebenso wenig wie die Ächtung des Bösen, weil dieses im Widerspruch zur guten Schöpfungsanlage steht.482 Die Ungerechtigkeiten, die es auch nach Augustinus zweifellos in der Welt gibt, widerlegen seiner Auffassung nach deshalb nicht das Bestehen von Gottes Providenz, weil die Grundanlage der Schöpfung insgesamt, aber auch die eines jeden körperlichen Wesens intelligible Prinzipien wie Maß, Zahl und Gewicht zeigt,483 die in ihrer wesentlichen Bestimmung eine erkennbare Ordnung und Einheit offenbaren und auf den Schöpfergeist verweisen. Wenn schon auf leiblicher Ebene die Schöpfungsordnung zu beobachten ist, dann gelte dies umso mehr für die Natur der Seele, die den Leib übertreffe (cum animae natura naturae corporis antecellat), und für „das Urteil der Vorsehung über die ethisch-moralische Beschaffenheit“ der Seelen: Nur diejenigen, deren Denken dem Sichtbaren verhaftet bleibt, vermögen über die sinnliche Wahrnehmbarkeit hinaus keine Ordnung zu begreifen, obwohl der Geist gerade der Quell genau dieser Ordnung ist. Für den Kirchenvater ist Gott durch seine Geschöpfe erkennbar:484 Die „Schönheit eines Baumes“ zeige eine 480 Platon, Tim 41a7–41b2. 481 Vgl.: Sed nec boni haec nisi quantum deus iubet, nec mali haec iniuste faciunt nisi quantum iuste ipse permittit. Nam iniqui malitia voluntatem suam habent iniustam; potestatem autem non nisi iuste accipiunt sive ad suam poenam sive ad aliorum vel poenam malorum vel laudem bonorum (trin. III, 7, 13). Allgemein ist aus Augustins Perspektive zu sagen, dass mit dem Wirken des Bösen, weil von Gott Abgefallenen, zu rechnen ist, welches zwar – wie alles Böse – das vorgängig geschaffene Gut voraussetzen muss und insofern nicht selbst Schöpfer von Etwas ist, aber gut Geschaffenes auf bestimmte Weise verändern und naturwidrig vermischen und so Unnatürliches erzeugen kann (vgl. trin. III, 8, 13–14; civ. XVIII, 18). 482 S. o. Kap. 7 (mit Anm. 132 und 133), Kap. 13-14 und Kap. 17 mit entsprechenden Literaturhinweisen. 483 S. o. Kap. 15. 484 S. Rö 1, 20 (Kap. 2).
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eidetische Bestimmtheit (species), die nicht einfach so aus dem Boden hervorkomme, sondern sich aus dem Samen heraus entfalte, welchem eine zahlhafte Bestimmtheit als geistig-begreifbares „ursächliches Potential“ (potentia causalis) innewohne. Dieses Potential sei in einem kleinen Korn deshalb umso wundersamer (mirabilior), weil es die es umgebende Materie (Wasser, Erde) so verwandeln könne, dass daraus ein Baum mit Stamm, Ästen, Zweigen, Blättern und Früchten entstehe (materies verti in ligni illius qualitatem). Augustinus vergleicht den Samen daher mit einem „verborgenen Schatz“ (occultus thesaurus). Ein Samen jedoch stammt nicht von einem Samen, sondern setzt immer einen Baum voraus, so dass die eidetische Bestimmtheit ‚Baum‘ letztlich früher ist als der Same, wie auch die geistige Schöpfung der Seinsgründe der materiellen Schöpfung vorausliegt. In Analogie zu einem Samen habe Gott in der Schöpfung des ‚Alles Zugleich‘ (Sirach 18, 1) alle Wesensbestimmungen der Geschöpfe „nach Art der Möglichkeit und Ursächlichkeit“ (potentialiter et causaliter) der Welt gegeben. Diese Aussage ist, wie bereits betont, jedoch nicht deterministisch zu verstehen, da grundsätzlich jedes Wesen sein Seinspotential (innerhalb bestimmter Grenzen) frei entfaltet. Noch einmal unterstreicht Augustinus, dass sich diese Schöpfung des ‚Alles Zugleich‘ von der Art und Weise, wie Gott „jetzt“ innerhalb der bestehenden Welt wirkt, strikt unterschieden haben muss. Diesen Aspekt bringe der Satz zum Ausdruck: „Denn nicht hatte regnen lassen Gott über dem Land, und es war kein Mensch, der das Land bestellte“ (Gen 2, 5b). In der Schöpfung des ‚Alles Zugleich‘ habe Gott die Schöpfungsordnung des einen Tages in sechsfacher Wiederholung ohne Zeit „auf ursächliche Weise in geordneter Erkenntnis seinen Geschöpfen gegenwärtig gemacht.“ Die Ruhe aber des siebenten Tags sei geheiligt worden, weil die erste Schöpfung des ‚Alles Zugleich‘, d. h. der Seinsursachen, abgeschlossen war. Die innerzeitliche Entfaltung dieses Schöpfungswerks lenke Gott, indem er „zugleich sowohl ruhe als auch wirke“485 (simul et requiescens et operans).486
485 S. o. Kap. 16-17. 486 Gn. litt. V, 20–23; 163,20–169,22.
20. „Und Gott bildete den Menschen“ (Gen 2, 7) Das vorzeitliche ‚Damals‘ (tunc) eidetischer Seinspotenz und das zeitliche ‚Jetzt‘ (nunc) materieller Existenz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Autorität der Bibel: sola scriptura – und Aristoteles?
Mit Beginn von Buch VI wendet sich Augustinus der Frage zu, inwiefern die in Gen 2 erzählte Erschaffung des Menschen zu verstehen ist und in welchem Verhältnis sie zu Gen 1 steht: „Und es bildete Gott zum Menschen den Staub von der Erde und blies in sein Gesicht den Lebensodem. Und es wurde der Mensch zur lebendigen Seele“ (Gen 2, 7).487 Zunächst erwägt der Kirchenvater, ob es sich in Gen 2 um eine „Wiederholung“ handeln oder ob Gott in Gen 1 den Menschen vor aller Zeit auf „verborgene Weise geschaffen haben“ (latenter fecit) könnte, wie „das Gras, bevor es aufgegangen war“ (Gen 2, 5).488 „Vielleicht“ sei der Mensch am „sechsten Tage“ so erschaffen worden, wie „der Tag selbst zuerst gemacht worden ist“, wie das Firmament, die Erde und das Meer. Denn von diesen könne nicht gesagt werden, dass sie „in irgendwelchen Uranfängen als schon gemachte verborgen gewesen“ und danach „durch Hinzutritt der Zeit“ (accessu temporis) hervorgegangen wären; vielmehr sei „ab Beginn der Zeit, als gemacht worden ist der Tag, die Welt gegründet worden, in deren Elementen zugleich gegründet wurden, die durch Hinzutritt der Zeit aufgehen sollten“ (sed ab exordio saeculi, cum factus est dies, conditum mundum, in cuius elementis simul sunt condita, quae post accessu temporis orerentur). Auch seien die Gestirne nicht „in den Elementen der Welt zuerst gemacht“, sondern „durch jene Sechszahl der Vollkommenheit“489 seien sie „alle zugleich erschaffen, als gemacht wurde der Tag.“ Augustinus unterscheidet hier zwi-
487 Zur modernen Exegese dieser Bibelstelle, insbesondere der hebräischen Begriffe nefesch chajjah („lebendige Seele“) und nischmat chajjim („Lebensodem“) im Verhältnis zum cartesianischen Dualismus und zur platonischen Seelenauffassung s. Drews (2018: 193–8). 488 S. o. Kap. 18. 489 S. o. Kap. 15.
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schen Geschöpfen, die vor der Zeit geschaffen wurden (z. B. Firmament, Erde, Meer), und solchen, die mit der Zeit ihre Entfaltung nehmen (Pflanzen, Tiere). Dabei ist an diesem Punkt seiner Exegese nicht eindeutig, wo genau die Trennungslinie zwischen vor- und innerzeitlicher Schöpfung verläuft: Es scheint so, als wenn er nicht nur die intelligible Schöpfung als solche, sondern auch bestimmte Teile der Materiewelt als vorzeitlich begründet auffasst. Im Kontext dieser Erwägungen – und Augustinus macht deutlich, dass er diese Interpretation gleichsam ‚nur durchspielt‘ (videndum est utrum; accipiamus) – erörtert er die Deutung, ob der Mensch bereits gemäß Gen 1, 27 „aus Erdenschlamm gebildet“ worden sei, ohne dass dies in Gen 1 Erwähnung gefunden hätte, obwohl der Zusammenhang zumindest die Pflanzung des Paradieses voraussetze. Allein die Erschaffung Evas aus Adams Rippe, von der im weiteren Verlauf von Gen 2 erzählt werde, erfordere die Voraussetzung der Zeit, so dass die beiden Einzelmenschen nicht gemäß dem ‚Alles Zugleich‘ erschaffen worden sein können. Als Rhetoriker sieht Augustinus in den später überlieferten Worten Adams selbstredend die Zeit in noch eindrücklicherer Weise präsupponiert. Wenn also die Vermutung, dass der Mensch in Gen 1, 27 bereits „aus Erdenschlamm gebildet“ worden sei, aufrechterhalten werden sollte, dann wäre das bisher erreichte exegetische Resultat, dass „jener Tag“ auf geistige Weise aufzufassen sei, widerlegt – wobei der Kirchenvater sogleich anmerkt, dass er nicht wisse, wie (nescio quomodo) dies alles dann widerspruchsfrei zu Ende gedacht werden könne. Methodisch zeigt er hier erneut seine Offenheit, gegebenenfalls alle zuvor getätigten Voraussetzungen und exegetischen Resultate noch einmal neu zu hinterfragen. Gleichwohl schließt er aufgrund der in den vorangegangenen Büchern bereits geleisteten Überprüfung von Interpretationsmöglichkeiten eine zeitliche Interpretation von Gen 1 aus, zumal die Schöpfung des ‚Alles zugleich‘ durch Sirach 18, 1 von der Schrift nicht nur gedeckt, sondern sogar gefordert ist. Aus genau dieser erneut sehr metikulös vorgenommenen Argumentation erwächst somit das Resultat: Die Erschaffung Adams aus dem Schlamm und die Evas aus seiner Rippe sowie die Pflanzung des Paradieses gehören nicht mehr zum Schöpfungsakt des ‚Alles Zugleich‘ (iam non ad conditionem, qua simul omnia facta sint, pertinere), sondern zu Gottes innerzeitlichem Wirken „bis jetzt“ (Jh 5, 17; sed ad eam operationem, quae fit iam per volumina saeculorum, qua usque nunc operatur).490 Aus der Formulierung des folgenden Verses: „Und er ließ außerdem hervorgehen (eiecit adhuc) von der Erde jegliches Holz, schön anzusehen“ (Gen 2, 9) schließt Augustinus erneut, dass damit nun ein anderes Schöpfungshandeln (aliter nunc) gemeint sein müsse als dasjenige des Sechstagewerks. Besonders das eiecit adhuc bezeichne etwas, das über das zeitfreie Sechstagewerk hinausgehe.491 Zu beachten ist in methodischer Hinsicht, dass der Kirchenvater mit „damals“ (tunc) kein zeitliches Früher meint,
490 Gn. litt. VI, 1–3; 170,2–173,19. 491 Vgl. ebenso Gn. litt. V, 4; 144, 21–23.
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sondern die erste Schöpfung vor der Zeit, in welcher auf „potentielle und ursächliche Weise alles zugleich“ erschaffen wurde (tunc utique potentialiter et causaliter in opere pertinente ad creanda omnia simul), während „nun“ (nunc) das sich durch Zeitverlauf in die Sichtbarkeit entfaltende Schöpfungshandeln gemeint sei (nunc autem visibiliter in opere pertinente ad temporum cursum). Das Abhängigkeitsverhältnis des Zeitlichen zum Überzeitlichen lässt sich sprachlich kaum anders als durch zeitliche Relationen benennen, wobei sich also auch innerhalb der exegetischen Methode selbst – und nicht allein im zu interpretierenden Text – bestimmte Begriffe nicht im herkömmlichen Sinne literal verstehen lassen: Trotzdem handelt es sich hier nicht um eine beliebige Metapher, sondern die sachliche Priorität wird in analoger Semantik durch zeitliche Priorität zum Ausdruck gebraucht, so dass der neue Sprachgebrauch sachlich kohärent und nachvollziehbar wird.492 Dieselbe Terminologie verwendet Augustinus im Folgenden immer wieder und konsequent: „Damals“ bezieht sich auf das Sechstagewerk, in welchem auf „potentielle und ursächliche Weise alles zugleich“, d. h. als intelligible Seinsgründe im Sinne eidetischer Ursachen, erschaffen wurde, wohingegen z. B. Eva (als Körperwesen aus Adams Seite) „im Verlauf dieser bekanntesten Tage körperlichen Lichts, die durch den Sonnenumlauf entstehen“, erschaffen wurde ebenso wie die Tiere und Vögel aus der Erde und Adam aus dem Schlamm. Die materielle Hervorbringung der Lebewesen geschieht bereits in und mit der Zeit im so verstandenen „Jetzt“. In diesem Zusammenhang wehrt Augustinus – und dies ist besonders im Kontext heutiger Gender studies und der Gleichberechtigung der Geschlechter zu würdigen – auf der Grundlage des biblischen Textes eine Herabsetzung der Frau ab: Es sei widersinnig, zu behaupten, nur der Mann wäre Teil des Sechstagewerks, nicht aber die Frau, denn die Schrift bezeuge eindeutig die Erschaffung von Mann und Frau am sechsten Tag (Gen 1, 27). Beide seien ebenfalls „auf andere Weise“ (aliter) „damals“ (tunc) und „jetzt“ (nunc) hervorgebracht worden: „damals gemäß dem Potential, welches durch Gottes Logos gleichsam samenhaft der Welt eingegeben wurde“ (tunc scilicet secundum potentiam per verbum dei tamquam seminaliter mundo inditam), aber „nun gemäß dem den Zeiten zu gewährenden Wirken“ (nunc autem secundum operationem praebendam temporibus).493 Etwas unspezifisch bleibt erneut Augustins Redeweise von der ersten Schöpfung: Während er einerseits das platonische Verständnis rein eidetischer Seinsursachen voraussetzt und veranschlagt, mischt er es mit dem Gedanken, dass diese Seinspotenzen bereits der Welt „eingegeben“ wurden – was eher zur Auffassung von spermatikoi logoi („samenhaften Bestimmungsursachen“) passen würde, wie sie aus der Stoa bekannt sind.494 Die Frage ist, was er hier genau unter mundus versteht: Die Seinsgründe der Welt selbst oder bereits das materielle Substrat, welches der Formung durch jene Seinsgründe zugrunde liegt. 492 Vergleichbar ist im nicht-christlichen Neuplatonismus z. B. Proklos, in Parm. 1237. 493 Gn. litt. VI, 4–5; 173,20–176,14. 494 Vgl. Helmig (2012: 194). S. o. Anm. 429.
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Angesichts dieser exegetischen Unschärfe erscheint es keineswegs unmotiviert, dass Augustinus im Folgenden ein mögliches Missverständnis auf Seiten seiner Leserschaft zu entkräften sucht: Er habe versucht, so gut er konnte, seinen „Leser vorzubereiten“ (quantum potuerim, lectorem praestruxerim); dennoch würden „trägere“ (tardiores) nicht in der Lage sein, „das schwierige Verständnis“ der jetzt dargelegten Gedanken wirklich zu erreichen. Denn er wolle gerade nicht sagen, dass der Mensch, insofern er im überzeitlichen Sechstagewerk erschaffen sei, sich bereits in irdischer Konstitution befunden und ein entsprechendes zeitlich-körperliches Leben habe führen können (ita fuisse prius hominem in illo dei opere quo simul omnia creata sunt, ut aliquam vitam duceret). Wenn er aber sagte, dass der Mensch im ersten, vorzeitlichen Schöpfungsakt weder als Erwachsener noch als Kind, weder als Baby im Mutterleib noch als sichtbarer Samen existiert habe, dann würden manche wohl meinen, dass überhaupt kein Mensch gewesen sei. Wer dieser Meinung anhänge, den verweist Augustinus auf den Text der Heiligen Schrift (redeat ergo ad scripturam). Methodisch ist dies deshalb bemerkenswert, weil der Kirchenvater hiermit mehrere Kritikpunkte gleichsam mit einem Schlag aus dem Weg räumt: Erstens führt er die Autorität der „Schrift Gottes“ ins Feld – und zwar sowohl gegenüber seinen Kritikern wie auch zur Selbstabsicherung. Obgleich der Exeget Augustinus selbstredend darum bemüht ist, die Sinnhaftigkeit der Bibel durch stimmige Interpretation zu erweisen, würde er nie die eigene Exegese und ihre Resultate selbst als Richtschnur veranschlagen, sondern immer die Heilige Schrift selbst. Die Theologie als Wissenschaft steht also keinesfalls über der Schrift – an Letzterer muss sich Erstere messen lassen. Zweitens hat diese Methode, welche die Autorität der Bibel anerkennt, den Vorteil, dass sich nicht nur der philosophisch anspruchsvolle Exeget, sondern auch die einfacheren Leser auf denselben Text berufen können – und aus innerchristlicher Perspektive gemäß Augustinus sogar müssen. Auch wenn es überspitzt formuliert wäre, dem Kirchenvater bereits ein protestantisches sola scriptura-Prinzip zu unterstellen, wird an einem solchen Punkt seiner Genesis-Exegese doch greifbar, warum Augustinus später für die Reformatoren ein willkommener Anknüpfungspunkt sein sollte, und zwar neben der Bibel.495 Auf diese Weise mag ein Leser Augustins, welcher seiner Exegese intellektiv zu folgen nicht imstande ist, sich einfach an den Wortlaut der Schrift halten, welcher klarstellt, dass Mann und Frau sowohl ‚damals‘ am sechsten Schöpfungsakt geschaffen wurden als auch ‚später‘ aus Schlamm bzw. Eva aus Adam (ergo et tunc et postea). Und nicht seien andere Menschen ‚später‘, sondern dieselben Menschen auf eine Weise ‚damals‘ und auf andere, nämlich sichtbare Weise ‚später‘ erschaffen worden (nec alii postea, sed idem ipsi aliter tunc, aliter postea). Schließlich sei auch die Interpretation des ‚Alles Zugleich‘ keine Erfindung des Kirchenvaters, sondern schriftgemäß (Sirach 18, 1). Der Kirchen-
495 Man denke nur an Luthers Diktum: „Augustinus ist ganz mein“ (De servo arbitrio, in: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff., WA XVIII, 640).
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vater benennt offen die Schwierigkeit, ein rein geistiges Verständnis des Menschen zu erreichen, wenn ein an die körperlich-materielle Existenz strikt gebundenes Denken gewissermaßen gezwungen wäre, „alles Bekannte“ fortzulassen – ganz im Sinne Plotins,496 dessen Schriften Augustinus in Übersetzungen bekannt waren.497 Im Einklang mit der oben konstatierten exegetischen Unschärfe möchte der Kirchenvater wenigstens den körperlichen Samen als Analogie für das Geistige gelten lassen, weil ihnen ein späteres, zukünftiges Potential innewohne (datur quidem de seminibus ad hanc rem nonnulla similitudo propter illa, quae in eis futura conserta sunt), und doch seien „jene (eidetischen) Ursachen vor allen sichtbaren Samen“, d. h. unsichtbar (verum tamen ante omnia visibilia semina sunt illae causae).498 In negativer Ausgrenzung bringt Augustinus vor, welche Verständnisweisen die Schrift nicht zulasse: In dieser uns gewohnten körperlich-sichtbaren Konstitution seien Adam und Eva am sechsten Tage beide nicht erschaffen worden; trotzdem seien sie aber aber beide durchaus am sechsten Tage erschaffen worden. Auch der nächste Ausweg, dass die Menschen an jenem sechsten Tag nur als Seelen geschaffen worden seien, da doch die menschliche Abbildhaftigkeit im Geiste liege, sei nicht schriftgemäß.499 Denn schon der „Abschluss jener Werke“ (illa operum consummatio) verbiete ein Verständnis, dass irgendetwas „damals“, im Sechstagewerk, „nicht auf ursächliche Weise erschaffen worden ist, was später auf sichtbare Weise geschaffen werden sollte“, zumal die Unterscheidung zwischen Mann und Frau nur in körperlicher Hinsicht verstehbar sei. Schließlich deute auch die Nahrung, welche dem Menschen zugeteilt sei, auf eine leibliche Konstitution des Menschen gemäß Gen 1, 29 hin: Wollte man sie „figürlich-allegorisch“ auffassen, entfernte man sich von der „Eigentümlichkeit der Tatsachen“, um die es Augustinus vorrangig geht (nam si et hanc escam figurate quisquam accipere voluerit, recedet a proprietate rerum gestarum).500 Damit widerspricht sich der Kirchenvater indes nicht selbst, sondern führt – philosophisch konsequent – nur aus, dass im Sechstagewerk schlichtweg alles bereits auf eidetisch-ursächliche Weise geschaffen worden sein muss, inklusive der körperlichen Konstitution. Genau dies entspricht einer nicht-dualistischen, platonisch-aristotelischen Auffassung von Seele und Leib, insofern die Seele dem Leib als ganzem seine Lebendigkeit verleiht, der Leib also umgekehrt wesentlicher ‚Ausdruck‘ der Seele ist.501 Zugleich entspricht Augustins Interpretation des biblischen Textes in philosophischer Hinsicht dem Anliegen eines Aristoteles, ein der Sache nach falsches platonisches Ideenverständnis auszuschließen: Eidos-Ursachen können gemäß Aristoteles nicht in einer
496 497 498 499 500 501
Vgl. das berühmte: „Lass alles fort!“ (aphele panta, Plotin, Enn. V, 3; 17, 38). Vgl. conf. VII, 9, 13. Gn. litt. VI, 6; 176,15–178,11. S. zur Stelle Kim (2006: 150). S. o. Kap. 14. Gn. litt. VI, 7; 178, 11–28. Vgl. Drews (2018: 195–6).
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Weise den Einzeldingen gegenüber transzendent und ‚abgetrennt‘ sein, dass überhaupt kein Bezug zwischen beiden bestünde; denn dann drohte ein infiniter Regress und das Problem des sog. ‚dritten Menschen‘, dass immer weiter nach den ‚eigentlichen‘ eidetischen Wesensursachen gefragt werden müsse, ohne dass hier ein Endpunkt zu erreichen wäre, weil das Mensch-Sein des ersten Menschen vom zweiten, das des zweiten vom dritten usw. abhängig wäre. Überdies implizierte der ‚dritte Mensch‘ die Hypostasierung von Einzeldingen zu Ideen, weil tatsächliche Eidê im Sinne begreifbarer Wesensursachen wegen des Regresses gar nicht erreicht werden könnten.502 Auf Augustins Bibelexegese appliziert heißt dies: Die Eidos-Ursachen des Menschen müssen in ursächlicher Weise (causaliter) bereits alle Bestimmungen des Mensch-Seins enthalten, also auch eine körperliche Dimension, insofern der Mensch ein Körper-Wesen sein soll. Wenn Aristoteles ausführt, dass „Fleisch und Knochen“ nur potentiell ‚Mensch‘ sind,503 so ist auch dies insofern mit Augustins Genesis-Exegese vereinbar, als dass nicht die Materie für sich allein genommen das Kriterium des Mensch-Seins (oder gar die Abbildhaftigkeit Gottes!) darstellen kann, sondern dass auch die leibliche Konstitution des Mensch-Seins ihre letzte Ursache im vorzeitlichen intelligiblen Sechstagewerk haben muss, weshalb bereits in Gen 1, 27 gesagt sei, dass Gott den Menschen „als Mann und Frau“ erschaffen habe. Sowohl gemäß Augustinus wie auch Aristoteles ist – unbeschadet aller systematischen und geistesgeschichtlichen Unterschiede im Einzelnen – also zwischen eidetischen Ursachen, insofern sie intelligible Seinsgründe eines bestimmten Wesens bzw. Geschöpfs sind, und zwischen ihrer Verwirklichung in bzw. an der Materie zu differenzieren: Als solche sind diese Verwirklichungen zwar etwas Körperliches und insofern von den eidetischen Seinsprinzipien selbst zu unterscheiden, aber dennoch von genau diesen wesentlich abhängig, insofern eben prinzipienontologisch kein Einzel-Mensch ohne die Eidos-Ursache ‚Mensch‘ möglich ist – unabhängig davon, dass jeder Mensch ein sowohl in geistiger wie leiblicher Hinsicht individuelles Wesen ist und in dieser Hinsicht über ein spezifisches Eidos als dieser bestimmte Mensch verfügt. Denn als genau dieser Einzel-Mensch verwirklicht er das allgemeine Eidos ‚Mensch‘ auf spezifische Weise, da kein einzelner Mensch die Fülle des gesamten Mensch-Seins, welche das Eidos ‚Mensch‘ in sich umfasst, zu verwirklichen in der Lage ist.504
502 Zu Aristoteles’ Kritik an einem verfehlten Platon-Verständnis s. Drews (2018: 29–46). 503 Aristoteles, metaph. 1036b3–7. S. dazu Drews (2018: 39 mit Anm. 83). 504 S. dazu Drews (2018: 41–42; 77 mit Anm. 229 und 230).
21. Gottes Sprechen vor und in der Zeit: Schöpfungshierarchien und das Fehlen der Engel; Sündhaftigkeit ist nicht im Intelligiblen begründet Der Mensch als ganzheitliches Wesen zwischen Tier und Gott und das Kriterium von Wundern
Im Zuge der Differenzierung zwischen der Erschaffung des Menschen gemäß seinem eidetischen Seinsprinzip und derjenigen als existentes Körperwesen tangiert Augustinus erneut das Problem, inwiefern Gott im Kontext von Gen 1, 26–29 zu dem causaliter, seinem intelligiblen Eidos gemäß erschaffenen Menschen habe sprechen können.505 Als Analogie führt er ins Feld, dass Gott vielleicht so gesprochen habe, wie Christus zu den später Geborenen rede: „‚Seht, ich bin bei euch bis an das Ende der Welt‘“ (Mt 28, 20). Als Unterschied bleibt jedoch bestehen, dass der Mensch gewordene Gott als solcher „mit der zeitlichen Stimme eines Körpers“ gesprochen habe, während Gott als Schöpfer vor aller Zeit und allem Körper nur „in seiner höchsten Weisheit, durch die alles geworden ist“, also in einem rein intelligiblen Sprechakt506 ‚gesprochen‘ habe, insofern er dadurch den bereits geschaffenen Sachen die Ursachen für später zu erschaffende einsäte“ (rebus factis rerum faciendarum causas inserebat).507 So gingen bestimmte Geschöpfe anderen entweder der Zeit oder den Ursachen ge-
505 Diese Frage hatte Augustinus bereits in Buch I erörtert (s. o. Kap. 3 und 6). 506 Zu den intellegibiles locutiones s. o. Kap. 6 507 Dieser Aspekt hat eine pagan-platonische Analogie bei Proklos, gemäß welchem das primär Verursachte und Begründete zur Grundlage für sekundäre Ursachen wird: „Alles, was unter den prinzipienhaften Ursachen eine universellere und höhere Ordnung besitzt, wird in seinen Wirkungen gemäß den von ihnen [sc. den Ursachen gewirkten] Erleuchtungen auf bestimmte Weise Grundlage für die Anteilgebungen der partikuläreren [sc. Ursachen]; und die Erleuchtungen von den höheren [sc. Ursachen] nehmen die Hervorgänge aus den sekundären [sc. Ursachen] auf, jene aber [sc. die Hervorgänge von den sekundären] erhalten ihren Sitz auf diesen [sc. hervorgeleuchteten Wirkungen]; und so gehen bestimmte Partizipationen anderen voran […]“ (Proklos, ETh 71, 31–4).
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mäß voraus, Gott aber sei allen in seiner Ewigkeit transzendent und erkenne sie entsprechend, wie Jeremia vor seiner Geburt (‚priusquam te formarem in utero, novi te‘, Jer 1, 5): Ob Gott den Propheten dabei in Adam als Vater des Menschengeschlechts, ob bei Erschaffung Adams gemäß der ersten intelligiblen Schöpfung des ‚Alles Zugleich‘ oder bei seiner körperlichen Formung aus dem Schlamm oder ob er Jeremia vor aller Schöpfung im Sinne der überzeitlichen Prädestination508 „vor der Begründung der Welt“ (Eph 1, 4) erkannt habe – dies sei letztlich nicht entscheidend, weil klar sei, dass das eigene Leben des Propheten erst mit seiner Geburt begonnen habe. Im Folgenden schließt Augustinus den Gedanken einer Reinkarnation aus: Vor der Geburt habe „niemand, insofern es seine eigene Person betreffe, etwas Gutes oder Schlechtes getan“. Wie aber verhält sich dieser Befund zu der Sünde Adams und Evas, welche auf das Menschengeschlecht übergeht? Hier hält Augustinus im Kontext seiner bisherigen exegetischen Ergebnisse fest, dass „niemand vor seiner Erschaffung aus Staub“ gesündigt haben könne. Das Menschengeschlecht hätte „nicht in Adam gesündigt, wenn selbst nicht gesündigt hätte Adam; Adam hätte nicht gesündigt, wenn er nicht bereits innerhalb seiner Zeit lebte, in welcher er leben konnte entweder auf gute oder auf schlechte Weise“ (nec genus humanum peccasse in Adam, si ipse non peccasset Adam – non autem peccasset Adam, nisi iam suo tempore viveret, quo posset vivere sive bene sive male). Weder Sünde noch gutes Handeln sei in den überzeitlichen Seinsursachen begründet, bevor das zeitliche Leben eines Menschen beginne. In „jener ersten Schöpfung der Welt, als Gott alles zugleich erschaffen hat“, sei der (sachlich) später sein irdisches Leben führende Mensch als „Vernunftgrund des zu erschaffenden Menschen“ gemacht worden, „nicht das Handeln des erschaffenen“ (in illa enim prima conditione mundi, cum deus creavit omnia simul, homo factus est, qui esset futurus, ratio creandi hominis, non actio creati).509 Dieses Resultat, welches durch das Schriftzitat Rö 9, 11 gedeckt erscheint, ist deshalb in systematischer Hinsicht von entscheidender philosophischer wie theologischer Relevanz, weil der Kirchenvater hier ausschließt, dass Sündhaftigkeit bereits von den intelligiblen Seinsgründen der ersten, überzeitlichen Schöpfung gemäß dem ‚Alles Zugleich‘ herrühren könnte: Eine gegenteilige Auffassung würde die Theodizeefrage ohne jegliche Lösungsmöglichkeit aufbrechen lassen – Gott hätte sonst bereits selbst das Übel ‚metaphysisch begründet‘. Diese Option entfällt aber für Augustinus vom christlichen Kontext her, sie entfällt aber auch aus platonischer Perspektive.510 Alles Schlechte und Sündhafte hat seine Ursache also nicht in den ewigen Seinsgründen des
508 Zur Prädestination, die Augustinus nicht als innergeschichtlichen Determinismus, sondern von Gottes überzeitlichem Erkennen her begreift, s. Drews (2009: 167–238). 509 Gn. litt. VI, 8–9; 179,1–182,17. 510 Gott ist gemäß Platon nur Ursache von Gutem (resp. 379b-c), s. dazu Drews (2018: 598, 373 mit Anm. 1294). Der Neuplatoniker Proklos (in Parm. 832,35–833,18) schließt intelligible Eidê von Schlechtem kategorisch aus, s. zur Stelle Drews (2009: 347–8).
21. Gottes Sprechen vor und in der Zeit – Schöpfungshierarchien – der Mensch – Wunder
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‚Alles Zugleich‘, sondern entsteht innerzeitlich dann, falls sich Geschöpfe von Gutem auf nicht-necessitierte Weise abwenden.511 Erneut resümiert der Kirchenvater die kausalen Hierarchien: In Gottes ewigem Schöpfungslogos sind die Seinsgründe „unerschaffen“ (non facta); auf davon verschiedene Weise sind sie „in den Elementen der Welt, wo alles zugleich als Zukünftiges geschaffen ist“ (in elementis mundi, ubi omnia simul facta futura sunt); auf wiederum verschiedene Weise sind sie „in den Dingen, welche gemäß den zugleich erschaffenen Ursachen nicht schon zugleich, sondern alle zu ihrer Zeit erschaffen werden“ (in rebus, quae secundum causas simul creatas non iam simul, sed suo quaeque tempore creantur), worunter auch die Erschaffung Adams „aus dem Schlamm“ falle; auf wiederum „andere Weise in den Samen, in welchen erneut gleichsam die uranfänglichen Ursachen wieder aufgegriffen werden, insofern sie von den Sachen (res) abgeleitet sind, welche gemäß den Ursachen, die Gott als erstes begründet hat, hervorgegangen sind, wie z. B. das Kraut aus der Erde, der Samen aus dem Kraut“ (aliter in seminibus, in quibus rursus quasi primordiales causae repetuntur de rebus ductae, quae secundum causas, quas primum condidit, extiterunt, velut herba ex terra, semen ex herba). Augustinus unterscheidet hier also (mindestens) vier Stufen: 1. Gott selbst und seinen Schöpfungslogos; 2. die Erschaffung des ‚Alles Zugleich‘ „in den Elementen der Welt“; 3. die sich zeitlich entfaltende Erschaffung von (2); 4. die Samen aus (3). Auffällig ist, dass er bei der Schöpfung des ‚Alles Zugleich‘ (2) nun gar nicht mehr von dem einen Tag, der sich sechs- bzw. siebenmal wiederholt, spricht, mit welchem er in den vorausgegangenen Büchern von De Genesi ad litteram noch die intellektualen Engelwesen identifiziert hatte. Dies könnte man – bei wohlwollender Interpretation – mit dem Duktus des jetzt im Fokus stehenden Bibeltextes Gen 2 begründen, wo es um die zeitlich-materielle Entfaltung der Schöpfung geht. Trotzdem ergibt sich an dieser Stelle eine Spannung: Warum werden die Engel hier zum einen übergangen und – vor allem – warum ist statt der ersten intellektualen Schöpfung im Sinne des einen Tages und des zuerst erschaffenen Lichts512 nun von „den Elementen der Welt“ die Rede? Dies stellt eine stillschweigend vorgenommene, massive Verschiebung dar, die, wie oben bereits erwähnt,513 eher zu einer stoisierenden Weltsicht im Sinne der spermatikoi logoi („samenhaften Bestimmungsursachen“) passen würde. Während Augustinus zuvor die Erschaffung des Menschen gemäß den intelligiblen Seinsgründen (Gen 1, 27) noch gegen ein irdisch-körperliches (Miss-)Verständnis abgegrenzt und darauf verwiesen hatte, man müsse für dieses Verständnis „alles Bekannte fortlassen“, verlegt er nun scheinbar die Systemstelle der Engel in die „Elemente der Welt“. Zwar hatte er bereits vorher die Analogie (!)
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S. Drews (2009: 105–143). Zu den Engeln als dem zuerst erschaffenen, intellektualen Licht (Gen 1, 3) s. o. Kap. 6, 7, 14, 17. Zur Identifikation der Engel mit dem ersten Tag (Gn. litt. V, 4; 144, 7–8) s. Kap. 18. S. o. Kap. 20 sowie Anm. 429.
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zwischen Samen und geistiger Schöpfung bzw. intelligiblen Ursachen gelten lassen;514 trotzdem bleibt jetzt nicht nur in der Schwebe, was er genau mit den „Elementen der Welt“ meint, sondern es fehlt in seiner kausalen Hierarchie die Stufe der Engel bzw. des erschaffenen Geistes: Die Rede ist stattdessen nur noch von den „geheimen und unsichtbaren Vernunftgründen, welche in der Schöpfung auf ursächliche Weise verborgen sind“ (occultis atque invisibilibus rationibus, quae in creatura causaliter latent), während die Erschaffung des vorzeitlichen Tages mit den schöpferischen uranfänglichen Ursachen, durch welche die Seinsgründe in die geschaffene Welt eingesät wurden, parallelisiert wird (illis primordiis causarum suarum, in quibus creato mundo, cum factus est dies […], inserta sunt).515 Erneut ist an diesem Punkt seiner Exegese also nicht eindeutig, wo gemäß Augustinus genau die Trennungslinie zwischen vor- und innerzeitlicher Schöpfung verläuft, da nicht mehr allein die intellektualen Engel als vorzeitliche Kreatur des ‚Alles Zugleich‘ ins Feld geführt werden, sondern die „Elemente der Welt“.516 Diese scheinen von der ersten, in sich unbestimmten Materie auf irgendeine Weise verschieden zu sein. Im Folgenden bekräftigt der Kirchenvater, dass die Schöpfung einerseits „vollendet“ (perfecta) bzw. „abgeschlossen“ (consummata) ist und andererseits „begonnen“ (inchoata): Ersteres gilt für die intelligiblen Seinsursachen des überzeitlich verstandenen Sechstagewerks, Letzteres für die zeitliche Veränderung derjenigen Geschöpfe, welche zwar einem Entwicklungsprozess unterworfen sind, währenddessen gleichwohl ihre jeweilige geschöpfliche Natur von den überzeitlich begründeten, intelligiblen Seins- und Wesensgründen her beziehen (consummata quidem, quia nihil habent illa in naturis propriis, quibus suorum temporum cursus agunt, quod non in istis causaliter factum sit). Beides werde durch die Schrift zum Ausdruck gebracht: Gott habe „Himmel und Erde vollendet“ und doch „geruht von den Werken, die er begonnen hat zu machen“ (‚et consummata sunt caelum et terra […]; requievit ab omnibus operibus suis, quae inchoavit deus facere‘, Gen 2, 2–3).517 Angewendet auf die Erschaffung des Menschen heißt das, dass sie in Hinsicht der intelligiblen Schöpfungsprinzipien (in rationibus primordialibus) zwar immer schon abgeschlossen ist, sich aber hinsichtlich der Zeit entfaltet habe, indem der Mensch „auf sichtbare Weise in seinem Leib, auf unsichtbare Weise in seiner Seele“ geschaffen wurde, da er aus beiden bestehe (sed creatus in tempore suo visibiliter in corpore, invisibiliter in anima, constans ex anima et corpore). Im Sinne einer einfachen Formel sei, so Augustinus, also zwischen intelligiblen „Ursachen“ (causae) und zeitlichen „Wirkungen“ (effecta) zu differenzieren. Dass Gott bei der zeitlichen Erschaffung des Menschen gleichsam im Wortsinn ‚Hand angelegt‘ haben könnte, weist Augusti-
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Gn. litt. VI, 6; 176,15–178,11. Gn. litt. VI, 10; 182,18–183,12. S. o. Kap. 20. Dies zumindest gilt für die Augustinus vorliegende Genesis-Übersetzung, während Gen 2, 3 gemäß der Vulgata heißt: quia in ipso cessaverat ab omni opere suo quod creavit Deus ut faceret.
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nus als „knabenhaften Gedanken“ zurück. Alles sei durch Gottes schöpferischen Logos geworden (Jh 1, 3518), wie z. B. der Himmel, und doch würden die Himmel als seiner „Hände Werke“ bezeichnet (Ps 102, 26b). Beide Ausdrucksweisen beinhalteten dasselbe: den mit seiner „Weisheit“ (sapientia) und seinem „Vermögen“ (virtus) identischen „Logos“ (verbum), dessen „schöpferische Macht“ (efficiendi potentia) metaphorisch „Hand“ genannt werde. Der Mensch habe mit den Tieren gemeinsam, dass Gott sie leiblich aus der Erde gebildet habe (finxit) – in dieser Hinsicht bestehe zwischen Tier und Mensch kein Unterschied. Was den Menschen indes spezifisch auszeichne und seine Abbildhaftigkeit mit Gott (Gen 1, 27) begründe, sei der „Intellekt seines Geistes“ (intellectus mentis), wie Augustinus pleonastisch formuliert. Und obwohl sich dies so verhalte, manifestiere sich doch gerade diese Geistbegabung des Menschen auch in leiblicher Hinsicht: durch den aufrechten Gang (erecta statura). Damit substituiert der Kirchenvater nicht den Geist mit der Materie, sondern stellt unter Beweis, inwiefern der Mensch gemäß seiner christlich-platonischen Auffassung in ganzheitlicher Weise ein Geist-Seele-Körper-Wesen ist: Der Geist kommt nicht einfach dualistisch519 zum bereits bestehenden Leib hinzu, sondern er drückt sich als Geist durch die Seele in leiblicher Hinsicht aus (congruit ergo et corpus eius animae rationali). Denn der aufrechte Gang sei dem Menschen leibhaftige „Warnung“, den Blick seines Geistes – nicht wie die Tiere – vornübergeneigt auf die Erde fixiert zu halten, sondern dem „Himmel entgegen zur Schau“ (in caelum erectum ad intuenda) dessen, was „im Geistigen von Natur aus am meisten hervorragt“ (quae in spiritalibus natura maxime excellunt), auf dass er geistig „‚schmecke, was droben ist‘“520 (ut ‚quae sursum sunt sapiat‘, Kol 3, 2).521 Bei der Frage, wie Gott Adam erschaffen habe, nimmt Augustinus noch einmal Bezug auf das Bibelzitat, gemäß welchem Gott den Propheten Jeremia erkannt habe, bevor er ihn im Mutterleib formte (Jer 1, 5): Damit sei gesagt, dass auch das Heranwachsen eines Menschen im Mutterleib Gottes Werk sei. Im Unterschied zu allen anderen sei Adam freilich nicht von menschlichen Eltern geboren worden, habe aber mit sämtlichen Menschen gemeinsam, dass in der Entwicklung seines Alters die „Zahlen der Zeiten erfüllt“ wurden (temporum numeri complerentur). Wie auch immer Gott Adam geformt haben mag – sein Wirken sei im Einklang mit seiner „Allmacht und Weis518 S. o. Kap. 3, 4 und 5. 519 S. o. Kap. 20. 520 Vgl. Tábet (1993: 479): „Sobre el contenido de la expresión ‚imagen‘, si bien san Agustín considera que la imagen de Dios se encuentra fundamentalmente en el alma racional, afirma que de algún modo esta imagen se encuentra en el cuerpo, manifestada en particular en su posición erguida, por la que puede mirar hacia lo alto, signo de que el alma está llamada contemplar las cosas divinas. Este pensamiento emerge con bastante originalidad en san Agustín.“ – Die Analogie zwischen der rationalen Geistbegabung und dem aufrechten Gang ist, selbst wenn man Augustins christlich-platonisches Weltbild überhaupt nicht teilt, auch heute noch nachvollziehbar, ihr warnungshaftes Potential sogar aktuell: Was würde ein Augustinus sagen, wenn er unzählige Menschen auf der Straße erblickte, die „vornübergebeugt“ ihrer Wege gehen, nach unten schauend – auf ihr Smartphone? 521 Gn. litt. VI, 11–12; 183,13–187,17.
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heit seines Vermögens und Wirkens“ geschehen, auf dass sein guter (Schöpfungs-) Wille „über allem sei“ (ut eius voluntas sit super omnia). In diesem Zusammenhang bringt der Kirchenvater eine schöpfungstheologisch und ontologisch signifikante Differenzierung vor: Gottes schöpferische „Macht“ habe zwar „der Kreatur ihre [sc. wesensbestimmenden] Zahlen“ gegeben, Gott habe seine Macht selbst jedoch „nicht an dieselben Zahlen gebunden“ (potentia quippe sua numeros creaturae dedit, non ipsam potentiam eisdem numeris adligavit). Damit ist nichts Geringeres zum Ausdruck gebracht, als dass Gott nicht an Naturgesetze jedweder Art gebunden ist: Was auch immer Gott in seiner Weisheit in Form von zahlhaften Wesensbestimmungen geschaffen hat – der Schöpfer selbst ist diesen Bestimmungen nicht unterworfen, weil er sie ja selbst begründet hat. Diese systematisch-theologische Feststellung ist zum einen deshalb von unmittelbarer exegetischer Relevanz, weil sie ein ‚Kontrastprogramm‘ zur modernen historisch-kritischen Exegese darstellt, welche als eine ihrer argumentativen Prämissen die ‚normale‘, d. h. empirisch belegte Naturgesetzlichkeit der Welt wenigstens implizit voraussetzt: Nicht Gott, sondern diese besagten Naturgesetze (im Sinne der klassischen, ‚alten‘ Physik) erscheinen so als Messlatte des Möglichen und als Rahmenbedingungen dafür, was ein Exeget als vertretbaren Inhalt des von ihm untersuchten Textes behaupten darf.522 Genauer betrachtet, operiert Augustinus in seiner Exegese nicht einmal mit ‚Naturgesetzen‘: Die wesensgemäßen, wesensbestimmenden „Zahlen“ eines Geschöpfs sind vielmehr die Seinsgründe, welche es als diese bestimmte Kreatur genau so sein lassen, wie es ihrer spezifischen natura entspricht. Den Begriff von „Gesetzen“ verwendet der Kirchenvater nur mit Blick auf die temporum leges, also die „Gesetze der Zeiten“ und die zeitliche Entfaltung des vorzeitlich geschaffenen Sechstagewerks. Aber auch diese „Gesetze“ ‚unterwerfen‘ nicht den Schöpfer, sondern, wenn überhaupt, dann nur die Geschöpfe bestimmten Bedingungen. Erneut rekurriert der Kirchenvater auf Gen 1, 2b,523 wo bereits durch den über dem Wasser schwebenden Geist Gottes dessen Transzendenz symbolisiert sei, welche – wie Augustinus scharfsinnig ergänzt – sich nicht nur auf die erst noch zu erschaffende, sondern genauso auf die geschaffene Welt beziehe, und zwar im geistigen und nicht im örtlichen Sinne (nam spiritus eius ita faciendo mundo superferebatur, ut et facto superferatur, non corporalibus locis, sed excellentia potestatis). Die durch philosophisch-systematische Reflexion gewonnene Einsicht, dass die Schöpfermacht nicht an Gesetze und Zeiten gebunden ist, um etwas Bestimmtes zu erschaffen, sieht der Exeget Augustinus nicht zuletzt vom biblischen Text bezeugt: Weder Jesus habe beim Verwandeln von Wasser in Wein eines natürlich-zeitlichen Werdevorgangs bedurft, noch wurde Aarons Stab zu einer Schlange durch einen Wachstumsprozess. Freilich vertraut der Kirchenvater hier unumwunden dem literalen Gehalt der biblischen Texte. Trotzdem ist die
522 S. o. Kap. 2. 523 S. o. Kap. 4 und 5.
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theologische Einsicht, dass die Natur und ihre Gesetzmäßigkeit nicht für die Schöpfermacht selbst gelten, begründet: Nur weil den Menschen nichts anderes als der natürliche Werdevorgang bekannt sei, bedeute dies nicht, dass Gott, welcher die Natur transzendiere, die Naturen nicht auch auf andere Weise hervorbringen könne; vielmehr sei alles für ihn „Natur“, was er hervorbringe (nec ista cum fiunt, contra naturam fiunt, nisi nobis, quibus aliter naturae cursus innotuit, non autem deo, cui hoc est natura, quod fecerit). Man müsse, so Augustinus, also mit beiden Möglichkeiten rechnen, dass Gott etwas nicht nur den beobachtbaren, gewöhnlichen Werdeprozessen gemäß erschaffe, sondern auch instantan Geschöpfe so hervorbringen könne, wie es seinem Ratschluss gut dünke: etwa bei der Erschaffung Adams „im Mannesalter“ oder beim Wirken von Wundern. Deren Kriterium bestehe darin, dass sie lediglich „entgegen dem gewohnten Lauf der Natur geschehen“ (miracula, quae contra naturae usitatum cursum fiunt).524 Präzise formuliert sind Wunder also nichts ‚Widernatürliches‘, sondern nur wider die Gewohnheit. Es ist die ‚natürliche Gewohnheit‘, welche der Mensch kurzerhand als ‚gesetzmäßig‘ zu interpretieren neigt: Dies aber erweist sich als Trugschluss, da nicht der Mensch Naturgesetze diktiert und festschreibt, sondern lediglich ihm Gewohntes als Gesetz deutet. Wenn darauf reflektiert wird, dass ‚Naturgesetze‘ nicht menschengemacht sind, dann sollte auch die Einsicht folgen, dass der Mensch nicht in der Position ist, festzulegen, was in der Natur möglich sein ‚darf ‘ und was nicht. Das Gewohnte ist insofern nicht mehr als etwas in vielen Einzelfällen Erfahrenes,525 dessen ‚unumkehrbare Allgemeingültigkeit‘ nicht erwiesen ist. Gewohntes beinhaltet von sich selbst her keineswegs automatisch das Kriterium des Wahren526 – vor allem, wenn kein deterministisches, sondern ein dynamisch-elastisches Weltbild vorausgesetzt wird.527
524 Gn. litt. VI, 13–14; 187,18–189,19. Zur Stelle und zur Verursachung von Wundern vgl. Alexanderson (2007: 365) sowie Moro (2012: 39) mit dem Hinweis auf „l’incontraddittorietà della voluntà divina in rapporto alla duplice azione della stessa voluntas dei e delle rationes causales create“ (ibd., 42; ferner 50). 525 Es handelt sich dabei um ein praedicabile de pluribus, welches über vieles ausgesagt wird, ohne wesentliches Konstituens einer Sache zu sein (vgl. Drews 2018: 36, mit Anm. 80; 76–77). 526 Vgl. Drews (2018: 357). 527 S. o. Kap. 7, 9, 13, 15, 18.
22. Die in sich bestimmten Seinsmöglichkeiten des Sechstagewerks (Gen 1) und ihre kontingente Verwirklichung in der Materie (Gen 2) Philosophische Konsequenzen aus der differenzierten Zusammenschau der beiden Schöpfungsberichte, Gottes Allwissen und verschiedene Formen der Leiblichkeit Zu Adams Erschaffung zurückkehrend, hält Augustinus noch einmal fest, dass Gott im Sechstagewerk die (eidetisch-intelligible) „Ursache“ des Mensch-Seins gewirkt habe, „durch die“ Adam „in seiner Zeit(lichkeit) zukünftig Mensch sein und gemäß welcher er von jenem [sc. Gott] erschaffen werden sollte“ (in quibus [sc. in illorum sex dierum operibus] cum dicitur factus, ipsam causam utique fecerat deus, qua erat suo tempore homo futurus et secundum quam fuerat ab illo faciendus). Denn „zugleich“ hätte Gott „sowohl das Begonnene wegen der Vollendung der ursächlichen Vernunftgründe abgeschlossen als auch das Abgeschlossene wegen der Ordnung der Zeiten begonnen.“ Erneut unterscheidet der Kirchenvater also die intelligiblen Seinsgründe des vorzeitlichen Sechstagewerks im Sinne der sachlich in sich selbst bestimmten Seinspotenz (vis possibilitatis) und deren materielle Verwirklichung innerhalb der zeitlichen Entstehung. Die intelligible Seinsmöglichkeit ‚Mensch‘ beinhaltet gemäß Augustinus nicht die „Notwendigkeit“, dass der Mensch „so“, d. h. aus Schlamm, gebildet werden musste (quia ibi erat etiam sic fieri posse, quamvis non ibi erat ita fieri necesse esse). Die materielle Verwirklichung ist somit nicht das Kriterium des bestimmten Seins – analog zur Aussage eines Aristoteles, dass „Fleisch und Knochen“ nur potentiell ‚Mensch‘ sind528 und nicht das Kriterium des Mensch-Seins. Die erste Schöpfung des Sechstagewerks beinhaltet also nicht die Notwendigkeit, dass der Mensch aus Schlamm gebildet werden musste, sondern nur die notwendige Wesensbestimmung dessen, was den Menschen
528 Aristoteles, metaph. 1036b3–7. S. dazu Drews (2018: 39 mit Anm. 83).
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gemäß seinem intelligiblen Eidos zum Menschen macht (ein vernunftbegabtes Wesen als Mann und Frau zum Abbild Gottes zu sein, Gen 1, 27). Adams Erschaffung aus Schlamm liege im „Ratschluss des Schöpfers“ begründet – und nur dessen „Wille“ sei die eigentliche „Notwendigkeit der Dinge“ (hoc enim non erat in conditione creaturae, sed in placito creatoris, cuius voluntas rerum est necessitas).529 Auch hier gilt genau zu unterscheiden: Nicht die Welt als solche ist nach Augustins Auffassung ‚notwendig‘ – ein stoisierender Totaldeterminismus wird nicht behauptet. Die Notwendigkeit des Schöpferwillens besagt dagegen, dass es an Gott liegt, dass überhaupt Geschöpfe sind und worin ihre spezifischen Seinsmöglichkeiten bestehen. Aus diesen Ergebnissen seiner systematisch reflektierten Exegese kann Augustinus wichtige Schlussfolgerungen für seine allgemeine Wirklichkeitsauffassung ableiten: Zwar sei es dem Menschen aufgrund von Erfahrung möglich, bestimmte Rückschlüsse auf die zeitlich entstandenen Wesen, also hinsichtlich der Biologie und Physik, vorzunehmen. Zugleich schränkt der Kirchenvater diese Annahme aber entscheidend ein – und dies ist eine Konsequenz seiner nicht-deterministischen Weltsicht: Was nämlich sich tatsächlich in der Zukunft ereigne, d. h. was von den biologischen Anlagen faktisch zur Verwirklichung kommen werde, dies könne kein Mensch wissen (sed utrum etiam futurum sit, ignoramus). Z. B. gehöre es zur Natur eines jungen Menschen, dass er älter werde; ob es jedoch auch Gottes Wille sei, dass es so kommt, wisse man nicht, unabhängig davon, dass die natürliche Wesensbestimmung als solche selbst nicht bestünde, ohne dass der Schöpfer sie zuvor so gewollt hätte. Der wesensgemäße „Vernunftgrund“ (ratio) des Alterns sei im jugendlichen Körper angelegt, jedoch nicht in der Weise, dass er für die Augen sichtbar wäre (neque enim oculis cernitur), sondern in der Form „verborgener zahlhafter Bestimmtheiten, welche in die Sichtbarkeit“ geführt werden sollen (quo educantur in promptu numeri occulti). Wenn auch der wesensgemäße „Vernunftgrund“ nicht sinnlich wahrnehmbar sei, so sei er doch „dem begreifenden Geist nicht verborgen“ (menti autem non est occulta). Augustinus differenziert also zwischen dem, was die Sinne, und dem, was der Verstand unterscheiden kann:530 Der wesensgemäße „Vernunftgrund“ ist etwas rein geistig Begreifbares, welches den auf das Äußerlich-Materielle gerichteten Sinnen unzugänglich ist. Aus der etablierten Differenzierung zwischen dem intelligiblen Sechstagewerk einerseits und seiner materiellen Verwirklichung andererseits vermag der Kirchenvater somit wichtige Konsequenzen zu ziehen: Dass ein junger Mensch zum Wachsen und Älterwerden tendiert, liegt in seiner intelligiblen Bestimmtheit, ein vernunftbegabtes Wesen zu sein und, insofern es eine leibliche Verwirklichung hat, in der materiellen Welt innerhalb eines Zeitprozesses zu einem solchen Wesen heranzureifen. Inwieweit diese ratio jedoch bei einem einzelnen Menschen innerzeitlich zur Verwirklichung kommt, ist für
529 Gn. litt. VI, 15; 189,20–190,16. 530 S. o. Kap. 10 und 15.
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den menschlichen Blick unbekannt: Die intelligible Seinsmöglichkeit ist in der Leiblichkeit eines Menschen präsent (et illam [sc. rationem] quidem, qua fit, ut esse possit, esse in natura ipsius corporis novimus) – jedoch besteht deshalb keine innerweltliche Notwendigkeit, dass diese Seinsmöglichkeit auch tatsächlich zur vollen Entfaltung kommt (illam vero, qua fit, ut necesse sit, manifestum est illic non esse).531 Hiermit stellt Augustinus klar, dass der Lebenslauf eines einzelnen Menschen kontingent ist: Ob jemand z. B. Opfer eines tödlichen Unfalls wird, ist aus der allgemeinen Seinspotenz seines Mensch-Seins nicht ableitbar. Zwar ist das Intelligible bzw. das Sechstagewerk in sich selbst sachlich vollkommen bestimmt; aber aus dieser Bestimmtheit selbst lässt sich gerade kein innerweltlicher Determinismus ableiten,532 weil die Materiewelt in sich wesentlich unbestimmt ist und insofern den Raum für Kontingenz offen lässt – anders als z. B. in der Stoa, gemäß welcher der göttliche Weltenlogos der Materiewelt in Gänze inhäriert und diese deshalb total determiniert.533 Als platonischer Christ differenziert Augustinus zwischen rein geistigen Wesenheiten und ihrer materiellen Realisierung: Für diese philosophisch-argumentativ begründete Unterscheidung bieten ihm die beiden Schöpfungsberichte in Gen 1 bzw. 2, wenn sie zusammen betrachtet werden, eine biblisch-schriftgemäße Grundlage. Allein der überzeitlich-ewige, transzendente Gott kennt sowohl die ewigen Seinsgründe, als auch überschaut er die kontingente Materiewelt und weiß darum, was in ihr konkrete Wirklichkeit wird. Nur weil Gott überzeitlich erkennt und aus seiner Überzeitlichkeit auch den Raum der Kontingenz innerhalb gewisser Grenzen gewährt, steht sein göttliches Allwissen nicht im philosophischen Widerspruch zur in sich selbst kontingenten Materiewelt.534 In diesem Sinne präzisiert Augustinus, dass die menschliche Redeweise über Zukünftiges sachlich inadäquat ist: Man nimmt an, dass ein Mensch altern wird; stirbt er jedoch wider Erwarten früher, erweist sich diese Annahme logischerweise nicht als zukünftig, weil ihre Verwirklichung nicht mehr möglich ist. Ausdrücklich verweist der Kirchenvater auf „andere Ursachen, sei es dass sie mit der Welt verflochten sind oder Gottes Vorherwissen vorbehalten sind“ (aliae causae sive mundo contextae sive in dei praescientia reservatae): Denn Gottes Vorherwissen bezieht sich, wie er in De libero arbitrio, De civitate Dei, aber auch noch im Spätwerk seiner antisemipelagianischen Werke expliziert, keineswegs nur auf das, was Gott selbst aktiv und unmittelbar verursacht, sondern auch auf das, was innerhalb bestimmter Grenzen frei agierende Geschöpfe verursachen. Deshalb macht es einen tatsächlichen Unterschied, ob z. B. jemand OpGn. litt. VI, 16; 190,17–191,8. Vgl. Drews (2018: 249, Anm. 779) sowie oben Kap. 21: Nur weil es in der Materiewelt Kontingenz gibt, kann Augustinus auch den Gedanken fernhalten, dass Übel und Schlechtes bereits vom geistig aufgefassten Sechstagewerk herrührten; denn dieses sei nicht von den intelligiblen Seinsmöglichkeiten her ‚vorgegeben‘, sondern das Resultat einer freien Abwendung von Gott und seinen schöpferischen Vernunftgründen. 533 S. o. Kap. 17 mit Anm. 429. 534 S. dazu Drews (2009: 143–185). 531 532
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fer eines Unfalls wird, für den er selbst nicht ursächlich verantwortlich ist, sondern ein anderer Mensch: Genau dieses Ursachengeflecht wird von Gott jedoch aus überzeitlicher Warte erkannt, auch wenn Gott nicht selbst einen solchen Unfall verursacht oder ‚prädeterminiert‘ hat, sondern dieser als Einzelereignis aus „anderen, mit der Welt verflochtenen Ursachen“ entsteht.535 Von Gottes überzeitlicher Perspektive aus argumentierend kann Augustinus sagen, dass nur das wirklich zukünftig ist, was er in diesem überzeitlichen Sinne „vorausgewusst hat“ (et ea vere futura sunt, quae ille praescivit). Dieses überzeitliche Wissen impliziert jedoch deshalb keinen innerweltlichen Determinismus, weil Gott auch die frei agierenden Geschöpfe und ihre Verursachungen überblickt.536 Ihre Freiheit, Ursächlichkeit und Eigenverantwortung wird dadurch nicht beschnitten, sondern bleibt real, weshalb Augustinus in seinem Frühwerk sogar argumentieren kann, dass die Tatsache, dass Gott das freie menschliche Wollen und Handeln vorausweiß, die Realität genau dieses Wollens und Handelns nur „umso gewisser“ macht, sie also gerade untermauert.537 In De Genesi ad litteram führt er dies am Beispiel Hiskias aus (2 Kö 20, 1–6; Jes 38, 2–5): Dessen Leben war aufgrund „untergeordneter Ursachen“ bereits am Ende; aber Gott gab ihm 15 weitere Lebensjahre hinzu, nachdem Hiskia zu Gott gebetet und dieser ihn erhört hatte. Allein deshalb handele es sich tatsächlich um eine „Zugabe“: Hiskias Tod stand bereits bevor, nur auf sein Gebet hin wurde ihm – wider Erwarten – Zeit geschenkt. Dieses Ursachengeflecht sei in seiner Gesamtheit von Gott, der alles „aus der Ewigkeit“ erkennt, vorausgewusst, also das Gebet Hiskias, Gottes eigene Antwort auf das Gebet und die aus menschlicher Perspektive ungeahnte Verlängerung seines Lebens. Nur in diesem Sinne sei das, was Gott vorausweiß, notwendig.538 Wie Hiskias freier Entschluss zum Gebet zeigt, bleibt die menschliche Eigenverantwortung nicht nur erhalten, sondern ist entscheidend für
535 S. civ. XI, 21 sowie die vorhergehende Anm. 536 Dass das göttliche Vorherwissen ‚aktive‘ (Gottes eigenes providentes Wirken) und ‚passive‘ Elemente (das Wissen um das Denken, Wollen und Handeln seelischer Wesen wie der Menschen) besitzt, ist zunächst deshalb wichtig, weil Augustinus keinen machtlosen Gott glaubt (der nur weiß, was die Menschen tun, aber selbst nicht eingreifen kann) und auch keine deistische Position vertritt. Vgl. imm. an. 14, 6; vgl. und conf. V, 2, 2. 537 „Der Wille wird also sein, weil [sc. Gott] den Willen vorherweiß. Nicht aber könnte der Wille sein, wenn er nicht innerhalb seiner [sc. eigenen] Möglichkeit sein wird. Also weiß [sc. Gott] auch die Möglichkeit voraus. Nicht also wird mir durch sein Vorherwissen die Möglichkeit [sc. des freien Wollens] genommen, die mir deshalb umso gewisser zur Verfügung stehen wird, weil jener, dessen Vorherwissen nicht getäuscht wird, vorhergewusst hat, dass sie mir zur Verfügung stehen wird“ (Voluntas ergo erit, quia voluntatis est praescius. Nec voluntas esse poterit si in potestate non erit. Ergo et potestatis est praescius. Non igitur per eius praescientiam mihi potestas adimitur; quae propterea mihi certior aderit, quia ille cuius praescientia non fallitur adfuturam mihi esse praescivit, lib. arb. III, 34–35); „Gott weiß alles vorher, wovon er selbst der Urheber ist; dennoch ist er nicht von allem, das er vorherweiß, selbst der Urheber“ ([…] ita deus omnia quorum ipse auctor est praescit, nec tamen omnium quae praescit ipse auctor est, lib. arb. III, 40). Zu diesen Stellen s. Drews (2009: 167–185). 538 Gn. litt. VI, 17; 191,9–192,8.
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den Verlauf seines Lebens. Was ein Mensch will und tut oder eben nicht, macht gemäß Augustinus einen Unterschied für den Weltenlauf im Kleinen wie im Großen. Mit Blick auf Adams Erschaffung resümiert der Kirchenvater, dass sein materielles Geformtwerden aus Schlamm zu „vollkommener Männlichkeit“ (perfecta virilitas) gemäß Gen 2 in Übereinstimmung mit den intelligiblen Ursachen des Mensch-Seins im Sechstagewerk gemäß Gen 1, 27 geschehe, wo bereits die Geschlechterdifferenzierung begründet sei. An dieser Stelle könnte es zunächst so scheinen, als ob Augustinus sich selbst widerspräche: Im Sechstagewerk sei nicht nur die Seinsmöglichkeit des Menschen begründet, sondern auch die „Notwendigkeit, dass er so entstehe“ (ibi enim erat non solum, ut ita fieri posset, verum etiam ut ita eum fieri necesse esset). Dies lässt sich auf den ersten Blick so lesen, als ob Adams Erschaffung aus Schlamm also bereits im intelligiblen Sechstagewerk beschlossen sein müsse – es stünde aber im Widerspruch zur gegenteiligen Aussage, die Augustinus kurz zuvor vorgenommen hatte, wonach die erste Schöpfung des Sechstagewerks nicht die Notwendigkeit beinhalte, dass der Mensch aus Schlamm gebildet werden musste.539 Bei der jetzigen Formulierung, dass im Sechstagewerk auch die „Notwendigkeit, dass er so entstehe“, begründet sei, ist das „so“ (ita) also vermutlich nicht auf die Entstehung aus Schlamm zu beziehen, sondern auf die Geschlechterdifferenzierung, welche ja in der Tat expressis verbis bereits in Gen 1, 27 begründet ist. In diesem Sinne bekräftigt Augustinus, dass im Sechstagewerk die konkreten Seinsmöglichkeiten erschaffen worden sind (istas ergo sic condidit, ut ex illis esse illud, cuius causae sunt, possit, sed non necesse sit). Von der notwendigen Voraussetzung der intelligiblen Seinsgründe her sei jedoch nicht ableitbar, wie deren materielle Realisierung vonstatten gehe, welche vielmehr einzig von Gottes zunächst verborgenem, sich erst im Weiteren entfaltendem Schöpfungswillen abhänge (non sunt quidem illae, quas in sua voluntate servavit, ex istarum, quas creavit, necessitate pendentes). Zwar sei freilich auch das Sechstagewerk Ausdruck von Gottes Willen; die Art und Weise der materiellen Verwirklichung umfasse jedoch einen Aspekt im Schöpferwillen, der zum rein intelligiblen Sechstagewerk hinzutreten müsse und in diesem noch nicht geoffenbart sei: „Jene [sc. die materielle Realisierung bewirkenden Ursachen] aber hat er so verborgen, auf dass aus ihnen dies sein müsse, was er aus denen dort [sc. aus den Ursachen des Sechstagewerks] gemacht hat, auf dass es sein könne“ (illas autem sic abscondidit, ut ex eis esse necesse sit hoc, quod ex istis fecit, ut esse possit). ‚Die Ursachen dort‘ (ista) beinhalten die intelligiblen Seinsmöglichkeiten, ‚jene im Schöpferwillen noch verborgenen Ursachen‘ (illa) bewirken dagegen, dass das Intelligible auch seine materielle Realisierung findet. Auch hier gilt: Die Notwendigkeit (ut necesse sit), von welcher Augustinus spricht, begründet keinen innerweltlichen Determinismus, sondern ist eine rein logische Notwendigkeit zwischen der Fülle der intelligiblen Seinsmöglichkeiten und ihrer materiellen Verwirklichung: Die Erschaffung Adams aus Schlamm ist
539 Gn. litt. VI, 15; 190, 13–15 (s. den Anfang von Kap. 22).
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gemäß den ewigen Vernunftgründen des Sechstagewerks nicht notwendig; sie wird erst dadurch verursacht, dass Gott diese intelligible Seinsmöglichkeit auch in der Materie realisieren will. Insofern ist Gottes Wille die notwendige Ursache dafür, dass es Adam als Körperwesen in materieller Entsprechung zu seiner intelligiblen (Erst-)Erschaffung gibt (und per analogiam die Materiewelt überhaupt).540 Augustinus bekräftigt, dass Adam bereits vor dem Sündenfall einen seelischen, irdischen Leib (corpus animale) besaß und keinen geistigen (corpus spiritale), wie er gemäß der christlichen Verheißung gemäß 1 Kor 15, 44541 erst in der Auferstehung geschenkt werde. Der Kirchenvater begreift den Auferstehungsleib von seiner Verwandlung her (1 Kor 15, 51): „Nicht das, was wir in jenem [sc. irdischen Leib] verloren haben, werden wir wieder empfangen, sondern etwas um so viel Besseres, wie das Geistige dem Seelischen vorzuziehen ist, wenn wir gleich sein werden den Engeln Gottes“ (Mt 22, 30; non hoc recipiemus, quod in illo perdidimus, sed tanto melius quanto spiritale animali praeponendum est, quando erimus aequales angelis dei). Da der Sündenfall gemäß Augustinus, wie er auch andernorts explizit macht, nicht prädeterminiert war, hätte der Mensch, wenn er nicht gesündigt hätte, durch den Gehorsam gegenüber Gottes Gebot später den geistigen Leib empfangen, welcher den Christus-Gläubigen nun in der Auferstehung der Toten geschenkt werde.542 Dies aber impliziert, dass Adam bereits im Paradies vor dem Sündenfall einen seelischen, irdischen Leib besaß – schließlich wurde er von der Erde gebildet –, wie Augustinus in Abgrenzung zu anderen Meinungen, die hier nicht im Einzelnen resümiert werden müssen, festhält. Entsprechend fasst Augustinus auch die Schilderung des Paradieses nicht nur allegorisch, sondern „gemäß der Eigentümlichkeit von Tatsachenberichten“ auf (praeter figuratam significationem prius accipere ad rerum gestarum proprietatem). „Unsterbliche geistige Leiber“ hätten leiblicher Früchte nicht bedurft. Hätte Adam nicht gesündigt, hätte er nicht sterben müssen und wäre folglich auch in seinem seelischen Leib ohne Sterblichkeit gewesen, denn der Leib sei gemäß dem Wort des Apostels (Rö 8, 10) ausschließlich „wegen der Sünde tot“, nicht aber von vornherein sterblich. Wie aber könne von „unserer Erneuerung“ in der Auferstehung gesprochen werden (quomodo […] renovari dicimur), wenn gar nicht das wiedererlangt werde, was der erste Adam verloren habe? Hier unterscheidet Augustinus zwei Hinsichten: Die Unsterblichkeit des geistigen Leibes werde „nicht zurückerlangt“, da Adam sie noch nicht besaß, sehr wohl aber die „Gerechtigkeit“, die Adam durch die Sünde verloren hatte (non itaque inmortalitatem spiritalis corporis recipimus, quam nondum habuit homo, sed recipimus iustitiam, ex qua per peccatum lapsus est
540 Gn. litt. VI, 18; 192, 9–26. 541 Zur Paulus-Stelle und der dort begründeten Leiberdifferenzierung vgl. Drews (2018: 191–211). Dazu, dass der irdische Leib nach lateinischer Terminologie ein seelischer Leib ist und diese Konnotation bei Augustinus explizit mitschwingt, vgl. Gn. litt. XII, 7; 389, 7–9. 542 Vgl. civ. XIII, 20, civ. XIV, 10–11 (s. zu diesen und weiteren Stellen aus Augustins Œuvre Drews 2009: 158–161, mit Anm. 346 und 351).
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homo). Vom „Alter der Sünde“ würden die Christus-Gläubigen in der Auferstehung in eine neue, geistige Leiblichkeit verwandelt, die nicht mehr verderblicher Nahrung bedürfe:543 Erneuert werden werden wir also im Geist unseres Intellekts gemäß dem Bilde dessen, der uns geschaffen hat, welches durch das Sündigen Adam verloren hat. Erneuert werden werden wir aber auch im Fleische, wenn dieses vergängliche [sc. Fleisch] wird anziehen die Unvergänglichkeit (1 Kor 15, 53), auf dass es ein geistiger Leib sei, in welchen noch nicht verwandelt war, sondern zukünftig verwandelt werden sollte Adam, wenn er nicht den Tod auch des seelischen Leibes durch das Sündigen verdient hätte. Renovabimur ergo spiritu mentis nostrae secundum imaginem eius, qui creavit nos, quam peccando Adam perdidit. renovabimur autem etiam carne, cum hoc corruptibile induet incorruptionem, ut sit spiritale corpus, in quod nondum mutatus, sed mutandus erat Adam, nisi mortem etiam corporis animalis peccando meruisset.
Seine Theologie von Sünde und Erlösung fasst Augustinus also so zusammen, dass (1) Adam auch in seiner seelisch-irdischen Leiblichkeit nicht von vornherein sterblich, (2) die Sterblichkeit vielmehr eine Folge der Sünde war: (3) Damit habe Adam die Abbildhaftigkeit Gottes (Gen 1, 27) verloren – das eigentlich zentrale, durch die Sünde hervorgerufene Problem. (4) Da Augustinus schon zuvor544 die Art und Weise, wie der Mensch Abbild Gottes sein könne, von der Geistbegabung des Menschen her begriffen hatte, muss sich auch die Erneuerung und Wiederherstellung des Menschen durch Christus in der Auferstehung gemäß dieser Abbildhaftigkeit „im Geist des Intellekts“ vollziehen. In dieser Hinsicht erlangt der Mensch durch Christus zurück, was er durch Adam verloren hatte. (5) In anderer Hinsicht ist die „Erneuerung“ jedoch etwas völlig Neues und geht über den Zustand Adams hinaus: Das Fleisch, der seelisch-irdische Leib muss die Unvergänglichkeit in einer Weise „anziehen“, welche Adam noch nicht eignete, und ein geistiger Leib werden. (6) Freilich wäre auch Adam dies zuteil geworden, wenn er ohne Sünde gegenüber Gott gehorsam geblieben wäre.545 Aus dem Adam eigenen Vermögen, „nicht sterben zu können“ (posse non mori), wäre dann das Vermögen geworden, „sterben nicht zu können“ (non posse mori). Das Vermögen, „nicht sterben zu können“, besaß Adam nicht aus der „Konstitution seiner Natur“, sondern „vom Baum des Lebens“ her, von dem er infolge der Sünde „getrennt“ wurde, „so dass er sterben konnte“, obgleich er, hätte er nicht gesündigt, fähig war, nicht zu sterben (quod ei praestabatur de ligno vitae, non de constitutione naturae: a quo ligno separatus est, cum peccasset, ut posset mori, qui nisi peccasset posset non mori). Auch hier zeigt sich erneut das kontingente Geschichtsbild Augustins: Adam 543 Vgl. oben. Kap. 14 zur Stelle Gn. litt. III, 21; 88, 1–19. 544 S. o. Kap. 14. 545 Gn. litt. VI, 19–24; 192,27–197,6.
22. Seinsmöglichkeiten des Sechstagewerks und kontingente Verwirklichung
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hatte seine Zukunft gewissermaßen ‚in der Hand‘ – freilich in Abhängigkeit von der Gerechtigkeit Gottes, ohne welchen gemäß Augustinus ohnehin kein Geschöpf sein Sein besäße. Das Vermögen, überhaupt nicht mehr sterben zu können, eigne indes einem geistigen Leib (neque enim inmortale, quod mori omnino non possit, erit nisi spiritale), welchen Adam nach seinem Gehorsam gegenüber Gottes Gebot erhalten hätte, nun aber zukünftig der durch Christus mit Gott versöhnte und vereinte Mensch erlangen werde (quod nobis futurum in resurrectione promittitur).546 Gemäß seiner die Heilige Schrift als Einheit begreifenden hermeneutischen Methode vermag Augustinus zu begründen, dass Paulus nur deshalb den menschlichen Leib verallgemeinernd als „tot“ (Rö 8, 10) zu bezeichnen vermag – obwohl die Adressaten seiner Rede offensichtlich noch nicht gestorben sind –, weil „die Bedingung des Sterbens von der Sünde“ (condicio moriendi ex peccato) herrühre: D. h., die Behauptung der Faktizität, ‚tot zu sein, obwohl man noch lebt‘, erscheint nur deshalb angemessen, weil mit der Sünde Adams das Mensch-Sein bzw. die Menschheit generell die Potenz, nicht sterben zu können, eingebüßt hat und nun unter der „Notwendigkeit zu sterben“ steht, unter der Adam in seinem Erschaffungszustand noch nicht stand (habet enim necessitatem moriendi, quod illud non habuit). Da aber gemäß dem Apostel „alle in Adam sündigen und sterben“ (Rö 5, 12; 1 Kor 15, 22), habe die Verfasstheit des irdischen Menschen die Potenz, nicht sündigen und sterben zu können, eingebüßt. Umso dringlicher sei es, durch Christus und „die Gnade der Gerechtigkeit“ (per gratiam iustitiae) den „neuen Menschen anzuziehen“ (Eph 4, 20–24; Kol 3, 9) – sowohl in geistiger wie auch leiblicher Hinsicht. In diesem Sinne begreift der Kirchenvater, das „beste Gewand“, welches in dem von Jesus im Neuen Testament erzählten Gleichnis der Verlorene Sohn nach seiner Rückkehr zum Vater neu geschenkt bekommt (Lk 15, 22), entweder im geistigen Sinn als die von Christus neu erwirkte „Gerechtigkeit“ oder im leiblichen Sinn als „körperliche Unsterblichkeit“.547 In beiden Deutungen ist ein allegorisches Verständnis zugrunde gelegt: Dies widerspricht deshalb nicht Augustins literaler Auslegungsmethode, weil er (obgleich primär das Buch Genesis fokussierend) eingangs die geistige Exegese sowieso als zutreffend und die literale als zu jener hinzutretend erachtet hatte.548 D. h., es besteht nicht nur ein Zusammenhang zwischen geistigem und literalem Verständnis,549 sondern, wie die Auslegung des jesuanischen Gleichnisses zeigt, ist eine allegorische Exegese keineswegs auf eine ‚rein geistige‘ Bedeutungsebene beschränkt; vielmehr eröffnet sie ihrerseits die Möglichkeit, als allegorische Exegese sowohl geistige wie auch körperlich-leibliche Referenzpunkte zum Inhalt zu haben. Von der theologischen Sache her hängen
546 547 548 549
Vgl. civ. XIII, 24 und zur Stelle Drews (2009: 386, Anm. 29). Gn. litt. VI, 25–27; 197,7–200,9. S. o. Kap. 2. Z. B. ist das zuerst erschaffene Licht (noch bevor irgendwelche Gestirne existieren) gemäß literaler Exegese nur als geistiges Licht zu verstehen (s. o. Kap. 4).
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De Genesi ad litteram: Buch VI
beide, die geistige wie die leibliche Wirklichkeitsebene, zusammen, da erst die Gerechtigkeit Christi in ihrer geistigen Dimension auch die leibliche Verwandlung („körperliche Unsterblichkeit“) nach sich zieht.
23. Augustins christliche Seelenauffassung als Argumentation mit Platon gegen Platoniker Die mit ihrer Veränderlichkeit gut erschaffene Seele in ihrer trinitarischen Struktur, ihr Einwirken auf die materiellen Elemente und das Gehirn als ihr Werkzeug
Wie Augustinus ganz am Ende des sechsten Buchs von De Genesi ad litteram ankündigt, will er sich nun der „Seele“ zuwenden – einem Thema, in welches es immer noch tiefer einzudringen gelte. Wie es der Kirchenvater auch in anderen seiner Werke zu tun pflegt,550 schickt er mit Blick auf das nächste Buch voraus, dass er so viel über die Seele zu entfalten gedenke, wie der „Herr“ sein Bemühen gelingen lasse. Nach seiner christlichen Überzeugung gebiert der Mensch seine Erkenntnisse der Sache nach nicht auf autarke Weise, sondern ist darauf angewiesen, dass Gott durch sein Licht das menschliche Nachdenken erleuchtet und leitet; der Mensch hat die Freiheit, sich diesem Licht auszusetzen, es zu empfangen oder aber abzulehnen und sich von ihm zu entfernen. Zu Beginn des siebenten Buchs greift Augustinus den besagten Schluss des sechsten auf: Kriterium der Untersuchung über die Seele ist, wie schon zuvor,551 entweder die „offenkundigste Rationalität der Sachverhalte oder die sicherste Autorität der Schrift“ (vel rerum ratione apertissima vel scripturarum auctoritate certissima).552 Philologisch-exegetischer Ausgangspunkt ist der Vers Gen 2, 7: Augustinus diskutiert verschiedene lateinische Übersetzungen des im griechischen Septuaginta-Text überlieferten Verbums enephýsêsen („er flößte ein“): flavit („er blies“), adflavit („er blies ein“), spiravit („er hauchte“) bzw. inspiravit („er hauchte ein“). Letztlich stellen diese Textvarianten keinen großen Unterschied dar; wesentlicher ist für Augustinus, dass Gott genauso wenig mit Lippen auf körperliche Weise „geblasen“ habe wie die Rede von sei-
550 Vgl. lib. arb. II, 9 ff. und s. dazu Drews (2009: 31–36). 551 S. o. Kap. 6. 552 Gn. litt. VI, 29 – VII, 1; 200,10–201,13.
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nen „Händen“ leibliche Hände bedeuteten.553 Die im literalen Sinne körperlich wirkende Ausdrucksweise könne aber als Hinweis genommen werden, dass Gott im Akt der ‚Einhauchung‘ etwas von seinem Wesen Verschiedenes Adam eingeflößt habe, so dass die Seele auf keinen Fall als mit Gott wesensgleich aufgefasst werden dürfe – ein solcher Gedanke widerspräche Augustins Verständnis von der Transzendenz Gottes.554 Gott selbst sei „gänzlich unwandelbar“, während sich die Seele in ihrer Freiheit „entweder zum Schlechteren oder zum Besseren wandeln“ könne. Die Seele sei also in dem Sinne „von Gott her“ wie eine von ihm geschaffene Sache (animam sic esse a deo tamquam rem, quam fecerit). Im Folgenden bemüht der Kirchenvater eine Analogie: Auch ein Mensch könne durch seine Seele, also kraft seiner geistigen Konstitution, den willentlichen Entschluss fassen, aus- und einzuatmen. Der Atem ist also gemäß Augustins Auffassung nicht einfach ‚autarke Natur‘, sondern verdankt sich als Teil der Akte, welche den Körper beleben, der in diesem aktiven Seele. Das, was dabei jedoch aus- und eingeatmet werde, sei freilich Luft, also etwas Körperliches, so dass auch gemäß dieser Analogie der Mensch nicht seine Seele selbst ‚ein- und aushauche‘, sondern durch seine Seele seinen der Seele unterworfenen Körper dazubringe, etwas von der Seele Verschiedenes ein- oder auszuatmen, denn „aus der Körpernatur, nicht aus sich selbst“ wirke die Seele den Hauch (anima utique ipsa subiacentem sibi naturam corporis movet et de illa, non de se ipsa flatum facit). Wie die menschliche Seele ihren Körper beherrsche, so – per analogiam – Gott die Welt, auch wenn Gott aufgrund seiner Transzendenz freilich nicht der Welt inhäriert, als wäre sie ‚sein Leib‘. Warum sollte Gott nicht aus „einer ihm unterworfenen Natur“ die Seele gemacht haben – analog dazu, dass die menschliche Seele den Atem aus der ihr unterworfenen Natur des Körpers hervorbringt? Durch sein Hauchen erschaffe Gott die Seele im Menschen in dem Sinne, dass er diesen von seinem eigenen Gott-Wesen verschiedenen „Hauch“ bewirke, der nichts anderes als die Seele selbst sei (hoc ipsum esse sufflare, quod est flatum facere, quod autem flatum facere, hoc animam facere). Diese Interpretation sieht Augustinus durch die Heilige Schrift belegt: „‚Denn der Geist geht von mir aus, und allen Hauch habe ich gemacht‘“ (Jes 57, 16, LXX). Der „gemachte Hauch“ sei nichts anderes als die Seele.555 Woraus ist aber die Seele gemacht worden? Da Gott in dem überzeitlichen Sechstagewerk alles zugleich erschaffen habe, könne nicht geglaubt werden, dass er danach noch etwas aus dem Nichts hervorgebracht habe. Vielmehr habe er in der überzeitlich abgeschlossenen Schöpfung des ‚Alles Zugleich‘, von der er am siebenten Tag ruhte, alle Seinsgründe erschaffen, die er aber in anderer Hinsicht, insoweit sie eine zeitliche Entfaltung haben sollten, erst „zu machen begonnen“ hatte.556 Obgleich Augustinus also ausführt, dass Gott die Seele Adams nicht aus nichts geschaffen habe, weil 553 554 555 556
S. o. Kap. 21 und 5. S. o. Kap. 5 und 15. Gn. litt. VII, 1–4; 201,14–204,9. Zur Auslegung von Gen 2, 2–3 gemäß der Vetus Latina s. o. Kap. 21 mit Anm. 517.
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ja schon die intelligiblen Seinsprinzipien und die Materie erschaffen worden waren, sieht er doch die Seele als sich selbst und für sich selbst noch nicht im Sechstagewerk hervorgebracht, sondern erst in dem Akt der Einhauchung. Systematisch betrachtet ist diese Interpretation insofern stimmig, als das Sechstagewerk die rein intelligiblen Seinsgründe umfassen soll, während die animatio, die „Beseelung“ von Materie, den Aspekt betrifft, inwiefern das Intelligible an bzw. in einer Materie seine lebendige Realisierung findet. Gemäß seiner sich vorsichtig vortastenden exegetischen Methode erwägt der Kirchenvater, ob in der Erschaffung des Menschen am sechsten Tag nicht nur bereits der Vernunftgrund des zukünftigen menschlichen Körpers (futuri corporis humani causalis ratio), insofern dort bereits die Unterscheidung von Mann und Frau begründet ist,557 sondern auch der Vernunftgrund der Seele (animae ratio) mitumfasst sei. Außerdem sei mit der Erde auch die Materie, aus welcher der menschliche Körper geformt werden sollte, bereits geschaffen gewesen (Gen 1, 9–10), so dass sich analog die Frage stellt, ob vielleicht auch die Seele aus einer bereits zuvor erschaffenen Geistmaterie gebildet wurde. Wie zu Beginn von De Genesi ad litteram wirft Augustinus auch jetzt eine Fülle von Fragen auf, was die geistige Materie sei, ob sie als solche bereits vor der Erschaffung der Seele lebendig und vernunftbegabt war. Erneut zieht er eine Analogie heran: Auch bei einem heranwachsenden Kind würde man nicht behaupten, dass seine Seele bereits „die Vernunft zu gebrauchen begonnen“ habe, und doch würde man auch die kindliche Seele zu Recht als vernunftbegabt bezeichnen (infantilem animam […] nondum coepisse uti ratione et tamen eam rationalem iam dicimus). Die bestimmte Seinspotenz der menschlichen Seele ist bei dem Kind bereits vorhanden, auch wenn die aktuale Verwirklichung ihrer Rationalität noch aussteht. Allgemein sei die Seele nichts von sich selbst her Unwandelbares, weil dieses nichts Materielles sein könne. Sollte die Seelenmaterie eine Art glückseliges Leben besessen haben, dann sei die Seele selbst „etwas Schlechteres geworden“ (deterius ergo facta est) und selbst nur ein „Ausfluss“ (defluxio). Dies aber wäre mit Gottes guter Schöpfung unvereinbar: Jede Formung von Materie durch Gott sei eine Verbesserung (nam materies aliqua cum formatur, praesertim a deo, in melius sine dubitatione formatur) – analog zur Hinkehr der ersten Geschöpfe zu Gottes Licht, wodurch sich der eigentliche Akt der Formung der Geschöpfe ereigne.558 Da die Schöpfung gemäß Augustinus insgesamt eine positive Entfaltung des Seins und Lebens darstellt, habe die Seele erst dann ihre Bestform realisieren können, als sie Seele eines bestimmten Leibes wurde, ihn beseelte und sich dabei selbst lebendig in ihrem Wollen, Begreifen und Erinnern erkannte (dum anima facta est animans carnem […] atque in se ipsa se vivere sentiens sua voluntate, intellectu, memoria). Wenn Gott indes aus etwas bereits Glückseligem einen etwaigen „Ausfluss“
557 558
S. o. Kap. 22. S. o. Kap. 4.
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dem Fleisch eingehaucht hätte, dann würde sich dieses nicht verändern und seine Glückseligkeit gefährden bzw. verlieren.559 In seinem vorsichtig-vorläufigen Gedankengang kombiniert Augustinus verschiedene Teil-Argumente, die ihrerseits eine größere Komplexität aufweisen: Erstens ist das zuletzt genannte Argument nichts anderes als eine seelentheoretische Adaption von Platons Ausführung, dass Gott – als das höchste Gute – sich nicht verändern könne, ohne eine Verschlechterung zu erleiden.560 Zweitens wendet sich der Kirchenvater mit seiner Kritik an dem defluxio-Modell offenbar gegen eine Spielart des neuplatonischen Emanationsgedankens: Die Welt und die Seienden emanieren nicht einfach, gehen nicht auseinander hervor ohne den christlich verstandenen Gott, welcher zugleich der Allerhöchste und Weltenschöpfer ist.561 Vor allem wäre es für Augustinus eine widersprüchliche Annahme, dass Gott etwas Besseres (eine Seelenmaterie) genommen und etwas anderem „eingehaucht“ haben könnte, wobei sich dieses Bessere dann unmittelbar verschlechtert hätte. Deshalb verweist er auf die wesentliche Veränderlichkeit (mutabilitas)562 der Seele, welche diese folglich von sich selbst her haben müsste – allerdings nicht um zu degenerieren bzw. in Sünde zu fallen, denn der Sündenfall ist gemäß Augustinus nicht notwendig,563 sondern um ihre gute Seinspotenz auch zum Guten zu entfalten, indem sie Gottes Gebot gehorsam wäre und so letztlich das Verdienst des geistigen Leibes erwürbe. Auf diese Weise macht Augustinus das christlich-platonische Axiom, Gott könne nur gut sein und Gutes bewirken,564 so stark, dass jegliche in der Schöpfung bereits angelegte Verfallsform ausgeschlossen erscheint. Dies ist zunächst auch aus platonischer Perspektive vertretbar: Es gibt keine ewigen Seinsprinzipien vom Bösen und Schlechten.565 Jedoch schließt Augustinus die vermutlich von Plotin her motivierte Denkmöglichkeit aus, eine vormals glückselige Seele könne aus sich heraus zu etwas Schlechterem herabgestiegen sein.566 Daher bleibt nur die Schlussfolgerung übrig, dass die Seele in ihrer Veränderlichkeit von Gott geschaffen wurde – und zwar als etwas Gutes und mit der Zielrichtung hin zum noch gesteigerten Guten, insofern die Seele ihre Freiheit in bestmöglicher Weise für sich selbst durch den Gehorsam gegenüber Gott nutzte. Diesen Freiheitsaspekt betont Augustinus durch den Verweis auf das eigene Wollen, Begreifen und Erinnern der Seele.
559 560 561 562 563 564 565 566
Gn. litt. VII, 5–8; 204,10–207,18. Platon, resp. 381b-c. Vgl. oben Kap. 15. Zu diesem Begriff vgl. auch oben Kap. 11. S. o. Kap. 7 und 13. S. o. Anm. 131. S. o. Kap. 21. Zur Diskussion, inwiefern die Materie gemäß Plotin als ‚Prinzip des Bösen‘ verstanden werden könnte (Schäfer 2002: 122), vgl. Horn (1995: 171–3) und Drews (2009: 317–8, mit Anm. 186).
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Dabei zeigt sich drittens das trinitarische Abbild des Geistes bzw. der Seele im Verhältnis zum Schöpfer, wie er es in De Trinitate erläutert: Diese drei also, Erinnerung (memoria), intellektives Erkennen (intellegentia) und Wille (voluntas), da sie nicht drei Leben, sondern ein Leben (vita), nicht drei Geiste, sondern ein Geist (mens) sind, sind folglich auch nicht drei Substanzen, sondern eine Substanz. […] Drei jedoch sind sie dadurch, dass sie wechselseitig aufeinander bezogen sind. […] Denn ich (1) erinnere mich, dass ich Erinnerung, intellektives Erkennen und Willen habe, und ich (2) erkenne, dass ich erkenne, will und erinnere, und ich (3) will, dass ich will, erinnere und erkenne, und als ganze erinnere ich meine Erinnerung, mein Erkennen und meinen Willen zugleich. Was ich nämlich an meiner Erinnerung nicht erinnere, ist nicht in meiner Erinnerung. Nichts aber ist so in der Erinnerung wie die Erinnerung selbst. Als ganze also erinnere ich sie. Ebenso: was auch immer ich erkenne, von dem weiß ich, dass ich es erkenne; und ich weiß, dass ich will, was ich will; was auch immer aber ich weiß, erinnere ich. […] Auf ähnliche Weise gilt: Da ich diese drei erkenne, erkenne ich sie ganz und zugleich. Denn nicht erkenne ich irgendetwas Intelligibles nicht außer deshalb, weil ich es nicht weiß. Was ich aber nicht weiß, erinnere ich weder noch will ich es. Was auch immer ich also von dem Intelligiblen nicht erkenne, erinnere ich folglich auch weder, noch will ich es.567 Was immer also ich vom Intelligiblen erinnere und will, erkenne ich folglich. Auch mein Wille umfasst mein Erkennen und Erinnern jeweils ganz, solange ich als ganzes gebrauche, was ich erkenne und erinnere. Deshalb, weil sie wechselseitig sowohl alle wie auch ganz von jedem Einzelnen [sc. von ihnen] umfasst werden, ist jedes Einzelne als ganzes den anderen Einzelnen als ganzen gleich; und jedes Einzelne ist als ganzes zugleich allen als ganzen gleich, und diese Drei sind Eines, ein Leben, ein Geist, ein Wesen (trin. X, 11, 18).
Der menschliche Geist, die mens, kann nach Augustinus also nicht erkennend tätig werden, ohne sich gleichzeitig zu erinnern und sich selbst als mens liebend zu wollen.568 Trotzdem ist der Geist als solcher einer, denn die Erinnerungsfähigkeit steht nicht neben der Erkenntnisfähigkeit; die wollende Liebe zur Erkenntnis ist nicht ohne Erkennen; das Erkennen aber ist auch nicht ohne das liebende Wollen und Erinnern genau dieses Erkennens. Der Geist ist all dieses zugleich und nicht etwas viertes neben dem Erkennen, Erinnern und Wollen, sondern umfasst als einer diese drei von ihm und voneinander nicht zu trennenden Bestimmungsmomente. Auffällig ist, dass Augustinus diese drei, welcher er in der Passage aus De Trinitate der mens zuschreibt, in De Genesi ad litteram auf die Seele (anima) überträgt. Da beide Werke im Grunde gleichzeitig verfasst wurden,569 kommt eine entwicklungsgeschicht567 Wollen und Erkennen können sich aber auf ein Erkenntnisziel hinwenden – dieses Wollen ist streng genommen schon von der Erkenntnis begleitet, dass dort etwas zu erkennen ist. 568 trin. XV, 3, 5. 569 Vgl. Fuhrer (2004: 61–62).
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liche Erklärung, dass Augustinus seine Position gewandelt habe, kaum infrage; vielmehr ist zunächst mit einer generellen begrifflichen Unschärfe zwischen anima, mens, intellectus und spiritus zu rechnen.570 In De Trinitate verortet er die mens explizit in der Nähe des Intelligiblen, also des platonisch verstandenen nous bzw. intellectus. Wenn er in De Genesi ad litteram die Bestimmungen voluntas, intellectus, memoria der anima zuspricht, so bleibt als systematisch-philosophische Erklärungsmöglichkeit zugleich, dass die Seele gemäß ihrer platonisch-aristotelischen Mittelstellung zwischen reinem Geist und der Körperwelt freilich das Geistige dem Körper vermittelt (dum anima facta est animans carnem, s. o.). In dieser Hinsicht besteht also kein sachlicher Widerspruch, wenn der Kirchenvater voluntas, intellectus, memoria der Seele zuschreibt, da sie diese drei von der mens her bezieht, d. h. insofern die Seele selbst „beseelender Geist des Fleisches“ ist. Als Unterschied zur ‚rein‘ platonischen Auffassung bleibt, wie oben erörtert, bestehen, dass der Christ Augustinus eine bloß emanationstheoretische Erklärung der Seele aus dem Geist ablehnt und stattdessen auch die Seele in ihrer positiven Veränderlichkeit als von Gott gewolltes Geschöpf begreift. In seiner Erörterung der Frage, woraus die rationale, menschliche Seele erschaffen worden sein könnte, weist Augustinus die Möglichkeit zurück, dass sie aus einer vernunftlosen Seele oder gar aus einer körperlichen Grundlage bzw. einem Tier habe entstehen können. Rigoros betrachtet er die Annahme der Seelenwanderung als mit dem „katholischen Glauben“ unvereinbar. Gleichwohl anerkennt der Kirchenvater die Möglichkeit, dass Menschen sich den Tieren verähnlichen, und sieht dies auch durch die Heilige Schrift bezeugt (Ps 48, 14, LXX). Wenn gemäß der Bibel davon die Rede sei, dass Gott nicht die Seele „Tieren ausliefern“ möge (Ps 74, 19; 73, 19, LXX), so deutet Augustinus dies metaphorisch im Sinne des Herrenwortes, dass man sich vor denen in Acht nehmen solle, die, mit Schafskleidern bedeckt, innerlich Wölfen gleichen (Mt 7, 15); ebenso könnten der Teufel und seine Engel gemeint sein, da er „Löwe“ bzw. „Drache“ genannt werde (Ps 91, 13). Augustins Hauptargument gegen die pagan-platonische Seelenwanderungslehre besteht darin, dass eine aus einem moralischen Verfall resultierende Verähnlichung des Menschen mit Tieren nicht beweise, dass menschliche Seelen zu Tieren würden, zumal die Tiere in ihrem Habitus keine Nähe zum Menschen zeigten: Wenn Löwen sanfter erschienen, dann würden sie eher „Hunden oder Schafen“, aber nicht Menschen gleichen. Etwaige Erinnerungen an frührere Inkarnationen als Tier bezeichnet Augustinus als Irrtum bzw. Täuschung durch Dämonen, denen dies infolge eines „gerechten und geheimen Urteils Gottes erlaubt“ werde. Immerhin hält der Kirchenvater den paganen Philosophen zugute, dass sie das Wesen der Seele von demjenigen Gottes unterschieden hätten, wohingegen die Manichäer, deren Anhänger Augustinus bekanntlich selbst über viele Jahre war, genau diese Differenzie-
570 S. o. zur bezeichnenden, schwer übersetzbaren Junktur in spiritu mentis Gn. litt. VI, 7; 178, 11–28 (Kap. 20) und Gn. litt. VI, 19–24; 192,27–197,6 (Kap. 22).
23. Augustins christliche Seelenauffassung als Argumentation mit Platon gegen Platoniker
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rung nicht vornähmen (isti autem, cum aliud nihil dicant esse animam quam ipsam dei substantiam), da sie mit „ihrem fleischlich denkenden Herzen“ die Unveränderlichkeit des der Welt transzendenten Gottes nicht erkannt hätten. Auch die irrationale, tierische Seele kann also nicht als Materie für die vernunftbegabte Seele fungieren. Gleiches gilt für die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer, die als etwas Körperartiges nicht Materie einer geistigen Seele sein können, denn auch eine pantheistische Identifikation von Gott und Welt und entsprechend der Seele mit der Luft scheidet gemäß Augustinus als rationale Erklärung aus.571 Ebenso weist Augustinus eine physiologistische Identifikation der Seele mit Körperfunktionen und -organen zurück, obgleich er z. B. Kenntnisse von Gehirn, Rücken- und Knochenmark etc. besitzt: Denn die Seele bediene sich zwar all dieser körperlichen Dinge, sei aber von ihnen verschieden. Die „Materie ihres gröberen Körpers“, d. h. die „feuchte Erde“, lenke die Seele vermittels einer „feineren Körpernatur durch Licht und Luft.“ Damit lässt Augustinus eine aristotelisch anmutende Hierarchie erkennen:572 Die feuchte Erde ist (bzw. Wasser und Erde sind) das passive Prinzip, Licht (bzw. Feuer) und Luft stellen das benachbarte aktive Prinzip auf materieller Ebene dar. Jedoch sind Feuer und Luft gemäß Augustinus keine autarken Elemente, da es die Seele sei, welche sich ihrer „spontan“ bedient (ab anima spontaneus motus), weil diese – als körperliche Elemente – dem Unkörperlichen am nächsten stünden; über diese feineren, aktiven Elemente wirke die Seele auch auf die gröberen, passiven Elemente, Wasser und Erde, ein, die sich zum fleischlichen Körper verdichteten.573 Damit leistet Augustinus nichts Geringeres, als dass er einerseits die Aktivität der Seele hin zum Körper mittels aristotelischer Naturwissenschaft einbettet, und andererseits zugleich – implizit – einen Rückbezug herstellt zum ersten Schöpfungsbericht der Bibel und dem dort zuerst genannten Geschöpf, dem geistig verstandenen Licht als Inbegriff der Engelnatur:574 Das körperliche Licht ist freilich etwas anderes als das geistige, aber der hierarchische Vorrang des Lichts gilt in prinzipienhafter Weise sowohl im geistigen wie auch im körperlichen Kontext, so dass sich die Seele gemäß dem Kirchenvater der Aktivität des Licht-Feuers als des ihr am nächsten stehenden Elements bedient. Den Bibelvers: „Und es wurde der Mensch zu einer lebendigen Seele“575 (et factus est homo in animam vivam) erklärt Augustinus entsprechend als Akt der Beseelung 571 572
S. o. Kap. 15 und 17. Vgl. Grewe (2009: 69–70, 74) zu Aristoteles, De generatione et corruptione II, 5, 329b und 332a sowie Müller (2006: 98). Toulouse (2009: 237) zeigt die Bezüge zwischen Augustins Elementenlehre in Gn. litt. VII und seiner spiritus-Konzeption in Buch XII auf (s. u. Kap. 39). Zum Körper als Instrument der Seele bei Augustinus s. Drews (2013a: 95–96). 573 Gn. litt. VII, 9–15; 207,19–213,27. 574 S. o. Kap. 3 und 4. 575 Mir scheint die übliche Übersetzung „lebendiges Wesen“ das lateinische anima viva unzureichend wiederzugeben. Zur modernen Exegese von Gen 2, 7 vgl. Drews (2018: 196–9).
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des Leibes, insofern der Mensch sein leibliches Empfinden empfangen und begonnen habe (quia sentire coepit in corpore). Die innere Bewegtheit eines Körpers, beginnend mit dem Wachstum und der Erhaltung der Körperprozesse gilt als Kriterium der Beseeltheit, welche folglich auch bereits den Pflanzen eigne, obgleich der Kirchenvater diesen eine „spontane Bewegung“ abspricht, welche nur den mit sinnlicher Wahrnehmung begabten Lebewesen eigne. Trotzdem gingen sowohl die spontane Körperbewegung wie auch die rein vegetativen Prozesse auf das Wirken einer Seele zurück. Die Stelle: „Und er blies in sein Gesicht den Lebensodem“ (Gen 2, 7) erklärt Augustinus vom zentralen Begriff facies her: Das Gesicht des Menschen zeige die Organe aller Sinneswahrnehmungen (Seh-, Hör-, Geruchs- und Geschmackssinn mit Ausnahme des über den gesamten Körper verteilten Tastsinns), und diese seien mit dem vorderen Teil des Gehirns verbunden. Insgesamt unterscheidet Augustinus drei Gehirn-Kammern (tres tamquam ventriculi cerebri) entsprechend den seelischen Vermögen der Sinneswahrnehmungen, der Bewegung und des Gedächtnisses. Entscheidend für seine anthropologisch-psychologisch-physiologische Position ist, dass die Seele gemäß dem Kirchenvater mit keiner dieser Gehirn-Kammern identifiziert werden darf,576 da sie vielmehr das Gehirn wie den Körper insgesamt als „Werkzeuge“ gebrauche, für den Leib und das durch sie an ihn vermittelte Leben sorge, „‚in welchem geworden ist der Mensch zur lebendigen Seele‘“ (sed anima in istis tamquam in organis agit, nihil horum est ipsa; sed vivificat et regit omnia et per haec corpori consulit et huic vitae, in qua ‚factus est homo in animam vivam‘). Von diesen wesentlichen philosophischen Aspekten, welche das Verhältnis von Seele und Körper – insbesondere das Gehirn – betreffen, kehrt er zurück zu der immer noch ungelösten Frage nach einer potentiellen Seelenmaterie: Denn nun ist in viel konkreterer Weise klar, dass die Seele selbst weder mit etwas Körperlichem verwechselt werden darf noch irgendein Körper in eine Seele verwandelt werden kann, auch wenn sie den Körper über die dem Geistigen näher stehenden und aktiven Elemente Licht und Luft lenke. Wenn die Seele bestimmte Körperorgane jedoch nicht mehr spezifisch gebrauchen könne und somit kein Grund mehr bestehe, weshalb sie diese zu beleben versuchen sollte, weiche sie aus diesen zurück (tamquam non habens cur adsit abscedit) bzw. werde ihre Absicht, den Körper entsprechend zu lenken, gestört (turbatur eius intentio). Auch dieses Argument ist der Sache nach aristotelisch,577 ebenso Augustins Beobachtung, dass die Seele, wenn ihre Aufmerksamkeit ganz auf etwas anderes gerichtet ist, mitunter nicht das aktiv wahr576 Zur Diskussion von Augustins Auffassung zu Gehirn und Seele im Kontext moderner Hirnforschung, welche die Annahme einer Seele bisweilen rigoros als überflüssig bezeichnet hat, vgl. Drews (2013a). Wenig in Rechnung gestellt worden ist bei der Bewertung der modernen neurobiologischen Erkenntnisse bisher, dass diese wie selbstverständlich einen cartesianischen Seelenbegriff (als angeblich-implizit einzig möglichen) zugrunde legen und entsprechend auch nur einen solchen widerlegen, nicht aber ein platonisch-aristotelisches Seelenverständnis, welches auch Augustinus im weitesten Sinne teilt. 577 Vgl. Bernard (1988: 93–94) zu Aristoteles, De anima 424a.
23. Augustins christliche Seelenauffassung als Argumentation mit Platon gegen Platoniker
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nimmt, was sie vermittels des Auges im Normalfall zu sehen in der Lage wäre.578 Gegen eine mit Aristoteles in Verbindung gebrachte Erklärung der Seele bzw. des Geistes aus einem quintessentialen körperlichen Element579 grenzt sich Augustinus ab.580 Platonisch-aristotelisch begreift der Kirchenvater die Seele von ihrem Erkenntnispotential her: „Da also die Seele sich als suchende weiß, weiß sie als ganze sich, daher weiß sie auch sich als ganze“ (cum itaque se quaerentem novit, tota se novit, ergo et totam se novit). Die Selbsterkenntnis eignet der Seele in der Weise, dass seelisches Erkennen nichts anderes ist als die Seele selbst; nur deshalb weiß die Seele sich selbst als Suchende; die Einheit von seelischem Erkennen und Sein ist das stärkste Argument gegen die Vermutung, die Seele sei etwas Körperliches. Auch die Tiere seien beseelt, auch wenn ihre seelische Aktivität nahezu vollständig ‚nach außen‘ auf die Körperwelt ausgerichet sei (so wüssten z. B. die Vögel die Orte ihrer Brutstätten). Entsprechend seiner philosophischen Grundüberzeugung, dass eine Diskussion um bloße Worte nie entscheidend sei,581 greift Augustinus die Bezeichnung der Seele als „Odem des Lebens“ gemäß Gen 2, 7 jetzt mit der Formulierung spiritus (nicht: flatus) vitae auf und legt den Akzent auf Leben, denn genau dieser Zusatz grenze den „Geist“ von einem „Hauch“ im Sinne eines Lufthauches ab. Die menschliche Seele sei weder Körper noch Gott, weder Leben ohne sinnliche Wahrnehmung (wie die Pflanzen) noch Leben ohne Rationalität (wie die Tiere), sondern ein Leben, welches nun dem der Engel nachstehe, aber einst diesem gleichen werde. Die Frage nach einer Seelenmaterie möchte der Kirchenvater nicht weiter erörtern, denn klar sei, dass die Seele von Gott geschaffen worden sei – unabhängig von der Frage, ob sie zuvor schon irgendetwas war oder nun von Gott zur „lebendigen Seele“ gemacht worden ist.582
578 Vgl. Bernard (1988: 86, 106–7) dazu, dass Aristoteles sinnliche Wahrnehmung als Aufmerksamkeitsphänomen begreift und deshalb nicht als „‚erkenntnistheoretischer Realist‘“ zu bezeichnen ist. 579 S. das Zeugnis bei Cicero, Tusc. I, 10, 22, wobei er bezeichnenderweise die quinta essentia als unkörperlich zu verstehen scheint. Zur Diskussion, inwieweit die Lehre einer quinta natura Aristoteles zugeschrieben werden kann, und zur Frage ihrer (Im-)Materialität und zur Überlagerung aristotelischer und stoischer Positionen bei Cicero s. Kennedy (2010: 50/1). 580 Vgl. De quantitate animae 14, 23, wo Augustinus der Seele jegliche Art von Ausdehnung (Körper, Fläche, Linie) abspricht. 581 Vgl. civ. IX, 23; 398, 5–9 sowie Drews (2018: 255). 582 Gn. litt. VII, 16–21; 213,28–219,24.
24. Die Seele will von Natur aus im Leib sein Überzeitliches Sechstagewerk und innerzeitlicher Werdeprozess. Augustins exegetische Methode, die Notwendigkeit der Interpretation und das Prinzip des zusammenschauenden Geistes
Noch einmal stellt Augustinus die Frage, ob die Seele im vorzeitlichen Sechstagewerk miterschaffen wurde. Wie schon zuvor beobachtet, nimmt der Kirchenvater keine konsequente Differenzierung zwischen mens und anima vor583 und verortet die Abbildhaftigkeit des Menschen zu Gott nun nicht mehr strikt im Geist (intellectus mentis),584 sondern direkt in der Seele, was – bezeichnenderweise – das intellekthaft (!) angemessene Verständnis sei (quando fecit deus hominem ad imaginem suam, quod nisi secundum animam non recte intellegitur). Der „ursächliche Vernunftgrund“ (ratio causalis) der Seele könne, da er sich auf die Seele und somit etwas Geistiges beziehe, nicht in einer Materie
583 S. o. Kap. 23. 584 S. o. Kap. 21-22. Wie auch immer man das Verhältnis von mens und intellectus begreift – ob als Identität oder mittels einer subtilen Differenzierung –, ausgeschlossen scheint mir, dass „mens est l’organe de l’intellectus“, wie Lagouanère (2007: 516) meint: Die Junktur intellectus mentis würde, wenn überhaupt, eher die umgekehrte Relation nahe legen; sachlich zutreffender dürfte man sie als Pleonasmus begreifen. Die folgende, von Lagouanère (2007: 521, Anm. 46) selbst zitierte Passage lässt erkennen, dass der Kirchenvater mens und intellectus identifiziert: tertium [sc. genus visionum] vero intellectuale ab intellectu, quia mentale a mente ipsa vocabuli novitate nimis absurdum est ut dicamus (Gn. litt. XII, 7; 388, 10–11); s. ebenso die weiteren Belegstellen bei Lagouanère (ibd., 527, Anm. 68), welche für eine Identifikation der beiden Termini sprechen. Die Begriffe „organe“, „fonction“ und „élément“ (ibd., 523) sind zur Beschreibung des höchsten geistigen Erkenntnisvermögens vielleicht nur bedingt geeignet. Auch die Unterscheidung, dass der Intellekt nicht „lux“ im Sinne der „source lumineuse“ sei, sondern nur „lumen“, welches „désigne la lumière par laquelle nous percevons un objet et qui caractérise une fonction opératoire de différenciation des objets“ (ibd.), scheint sich terminologisch nicht zwingend durchhalten zu lassen, wenn man daran denkt, dass bereits das erste Geschöpf in der von Augustinus verwendeten Bibelübersetzung lux genannt wird (Gen 1, 3) und umgekehrt Gott selbst explizit lumen (Gn. litt. XII, 31; 425, 22–24; s. u. Kap. 40). Zu Lagouanère vgl. unten Anm. 904.
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‚geschlummert‘ haben – im Unterschied zum Vernunftgrund des Leibes, der als etwas Materielles nach Art der Samen in der Erde verborgen gewesen sein könne, woraus der Leib schließlich geformt werden sollte. Sei der Vernunftgrund der Seele daher in einer geistigen Kreatur (creatura spiritalis) erschaffen worden? Diese Interpretation lehnt Augustinus ab – mit gutem Grund, weil es sonst einer Verdopplung der Geistnatur bzw. einem infiniten Regress gleichkäme, wenn für die Erschaffung der Seele eine – im Schöpfungsbericht nicht erwähnte – geistige Kreatur Voraussetzung wäre, in welcher die Seele als in ihrer Erzeugungsursache erschaffen worden sein sollte. Denn auch eine solche Erzeugungsursache hätte gemäß einem ursächlichen Vernunftgrund erschaffen worden sein und somit im Schöpfungsbericht erwähnt werden müssen. Offensichtlich steht im Hintergrund von Augustins hypothetischen Erwägungen die Geist-Natur der Engel, welche aber keine mit Gott selbst als Schöpfer konkurrierende Rolle einnehmen können – anders als etwa bei Platon die jüngeren Götter.585 Erwartungsgemäß lehnt der Kirchenvater den Gedanken, dass Engel die Seelen zeugten, ab. Als Lösung schlägt Augustinus vor, dass die Seele als in den intelligiblen Seinsgründen des Alles-Zugleich im Sechstagewerk auf verborgene Weise miterschaffen gedacht werden müsse (creata lateret in operibus dei) und dass Gott ‚später‘, d. h. in sachlich nachgeordneter Weise, die Seele gemäß der zeitlich-materiellen Entfaltung dieser Seinsgründe dem Leib des Menschen eingehaucht habe, wobei dieser Leib ebenfalls bereits gemäß den ihm eigenen Vernunftgründen ursächlich im Sechstagewerk erschaffen war, diesen gemäß er später als menschlicher Leib geformt wurde (deum in illis primis operibus, quae simul omnia creavit, animam etiam humanam creasse, quam suo tempore membris ex limo formati corporis inspiraret, cuius corporis in illis simul conditis rebus rationem creasse causaliter, secundum quam fieret, cum faciendum esset, corpus humanum). Denn die Differenzierung zwischen Mann und Frau gemäß Gen 1, 27 könne nur in Bezug auf den Leib verstanden werden, der Mensch als Abbild Gottes dagegen – unabhängig von der leiblichen Geschlechterdifferenzierung – nur gemäß der Seele.586 Wodurch aber ist die Einkörperung der Seele in einen Körper motiviert? Augustinus erwägt eine pagan-platonische Antwort, dass es der Seele, wäre sie im Reich des Geistes verblieben, besser ergangen wäre und dass es ihr willentlicher Entschluss gewesen sein könnte, sich in die Körperwelt zu begeben.587 Ohne dass der Kirchenvater dies explizit macht, wäre damit eine Negativsicht auf die Körperwelt von vornherein impliziert, die dem christlichen Verständnis von der guten Anlage der gesamten Schöpfung, inklusive der Körperwelt, widerspräche. Im Einklang mit dieser christli-
585 Vgl. Platon, Tim. 41c. 586 Gn. litt. VII, 22–24; 219,25–223,9. 587 Vgl. Plotin: Zwar kann von der Materie, insofern sie bar aller Bestimmtheit ist, keine eigene Wirkung ausgehen, sie bekommt aber dadurch eine Wirkung, dass eine Seele ihren erkennenden Blick auf sie lenkt und sich dadurch von ihrem eigentlichen Seele-Sein abwendet (enn. I, 8, 4, 20–22). Insofern hat die Seele gemäß Plotin eine eigene Verantwortung für ihre Einkörperung.
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chen Perspektive favorisiert er die Antwort, dass die Seele „auf Gottes Geheiß zum Leib gekommen“ sei (quod dei nutu ad corpus venerit) und in ihrer leiblichen Existenz entweder durch Gehorsam gegenüber Gott ihren Lohn oder aber infolge seiner Verachtung Strafe empfangen sollte.588 Dabei habe die Seele weder ein Vorherwissen darüber gehabt, dass sie sündigen werde, noch sei es aufgrund des freien Willens unvermeidlich gewesen zu sündigen:589 Vielmehr sei die willentliche Freiheit der Seele Teil ihrer guten, von Gott erschaffenen Natur; die Sünde dagegen der nicht-necessitierte Missbrauch dieser an sich guten Freiheit, durch welche sich der Mensch gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet (natura quippe hominis ex deo est, non iniquitas, qua se ipse involvit male utendo libero arbitrio: quod tamen si non haberet, in natura rerum minus excelleret). Während also der Mensch im Unterschied zu Gott zwar über kein Vorherwissen, als Gottes Abbild jedoch über seine Freiheit verfügt, sei es dem (ungefallenen) Menschen möglich, „aus dem Glauben zu leben“ und so das Gebot des Gehorsams zu erfüllen. Damit spielt Augustinus auf das schon im Alten Testament überlieferte, später für die paulinische Rechtfertigungslehre zentrale Wort an: „Der Gerechte wird aus dem Glauben leben“ (Habakuk 2, 4; Rö 1, 17; Gal 3, 11; Hebr 10, 38). Diese Möglichkeit besteht für den nicht in Sünde gefallenen Menschen, indem er Gott gehorcht; für den postlapsarischen Menschen aus dem Glauben an das Erlösungswerk Christi. Von der Prämisse aus, dass Gott „alles sehr gut“ geschaffen habe, interpretiert Augustinus das Verhältnis von Seele und Körper als naturgemäß, so dass die Seele von Natur aus im Leib leben wolle, wie es auch natürlich sei, überhaupt leben zu wollen (sicut naturale nobis est velle vivere). Im abschließenden Kapitel des sechsten Buchs von De Genesi ad litteram resümiert Augustinus seine Auffassungen über „die Seele, welche Gott dem Menschen eingehaucht hat, indem er sie in sein Angesicht einblies“: Sie sei in dem Sinne „aus Gott“, dass sie nicht sein „Wesen“, sondern „unkörperlich“ und „Geist“ sei, weder von Gottes Wesen „gezeugt“ noch einfach aus diesem „hervorgehend“,590 sondern von Gott „erschaffen […] aus nichts“. Hinsichtlich ihres unverlierbaren Lebens sei die Seele „unsterblich“, hinsichtlich ihrer Veränderlichkeit zum Schlechteren oder Besseren könne sie in einer bestimmten Hinsicht jedoch als „sterblich“ verstanden werden (secundum quandam vero mutabilitatem, qua potest vel deterior vel melior fieri, non inmerito etiam mortalis possit intellegi), denn die wahre Unsterblichkeit eigne gemäß der Schrift nur Gott allein (1 Tim 6, 16). Zugleich stellt Augustinus noch einmal die Widersprüche zusammen, welche sich aus einer von seiner eigenen abweichenden Exegese ergäben, wobei er dies in rein sachlicher Weise und nicht in einem besserwisserischen Habitus vornimmt (sed si possunt haec melius intellegi, non solum non resisto, verum etiam
588 S. o. Kap. 22-23. 589 Zu Augustins Willenstheorie im Kontext seiner Gnaden- und Prädestinationslehre und Theodizee s. Drews (2009: 1–238). 590 Diese beiden Prädikate kommen gemäß Augustins Trinitätstheologie der zweiten (dem Logos als Gottes Sohn) bzw. dritten trinitarischen Person (dem Heiligen Geist) zu.
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faveo): Wer bereits die Erschaffung des Menschen aus Schlamm im Sechstagewerk veranschlagte, müsse annehmen, dass in Gen 2, 4 die Schöpfungsgeschichte noch einmal von vorn beginne. Dies widerspräche aber der philologischen Tatsache, dass die Differenzierung zwischen Mann und Frau bereits im Sechstagewerk auf bestimmte Weise bestehe, dort aber nicht von der Erschaffung der Frau aus der Rippe Adams die Rede sei usw. Am Ende äußert Augustinus die Hoffnung, dem Leser gezeigt zu haben, auf welche Weise man Probleme untersuchen sollte, welche die Schrift „nicht offen“ darlege, ohne aufs Geratewohl Beliebiges zu behaupten (cetera […] ad hoc valeant legenti, ut aut noverit, quemadmodum sine adfirmandi temeritate quaerenda sint, quae non aperte scriptura loquitur). Wer bessere Fährten aufzuzeigen wisse, möge dies kundtun.591 Aus einer historistischen Perspektive ist es prima facie sehr leicht, Augustins Zusammenschau der beiden Schöpfungserzählungen als haltlos darzustellen, als ob er sich bemühte, von der präsupponierten Einheit der Heiligen Schrift aus vermeintliche Widersprüche zwischen den beiden Schöpfungsberichten auszuräumen, die deshalb gar nicht existierten, weil diese Berichte ja separat nebeneinander stünden. Für den ‚reinen Historiker‘ wäre das Problem somit gar nicht länger existent. Liegt die Sache aber so einfach? Müsste nicht auch eine moderne, ‚aufgeklärte‘ Exegese zumindest der Frage begegnen, warum zwei so unterschiedliche Schöpfungserzählungen in direkter Abfolge in einem als heilig angesehenen Text ‚seit Urzeiten‘ koexistieren konnten? Aus klassisch-philologischem Blickwinkel bleibt hinsichtlich ähnlich gelagerter Problemzonen der älteren Homer-Exegese heute als methodische Leitlinie festzuhalten: „Das ungelöste Problem der [sc. Text-]Genese enthebt uns nicht der Notwendigkeit der Deutung.“592 Angewendet auf die ersten beiden Kapitel der Genesis heißt das: Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der beiden Schöpfungserzählungen bleibt bestehen und erfordert Interpretation(en) als Ansatz zur Beantwortung genau dieser Frage, so dass die Exegese auch hier „nicht der Notwendigkeit der Deutung“ enthoben ist. Aus dieser Perspektive erweist sich Augustins exegetisches Unterfangen alles andere als obsolet – ebenso wenig wie seine Annahme, dass eine schlüssige Antwort auf das vordergründig merkwürdige Nebeneinander von Gen 1 und Gen 2 nur auf der Basis einer im wahrsten Sinne ‚geistreichen‘ Zusammenschau dieser beiden konträr erscheinenden Texte möglich sein kann. Augustinus macht immer wieder deutlich, dass er seine eigene Exegese niemals für die einzig mögliche hält und schon aus methodisch-erkenntnistheoretischen Gründen mit der Möglichkeit, mehrerer stimmiger Interpretationen rechnet.593 Sein behutsames Vortasten beim Abklopfen, Verwerfen und Neubetrachten verschiedener Deutungsansätze weist methodisch einen äußerst mühsamen Weg, den auf sich zu nehmen Augustinus deshalb nicht müde wird, weil er den heiligen Texten einen Sinn zutraut, der sich erst durch Tiefenbohrungen eruieren lässt. 591 Gn. litt. VII, 25–28; 223,10–228,21. 592 Grethlein (2017: 26). Vgl. als Rezension zu Grethleins Buch Drews (2018b). 593 S. o. Kap. 2 mit Anm. 31.
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Dieses Zutrauen von und das Rechnen mit Sinnhaftigkeit ist die methodische Prämisse, welche den Kirchenvater unermüdlich nach ‚geistreichen Kombinationen‘ der beiden Schöpfungstexte suchen lässt. Würde sich ein moderner Exeget ohne Weiteres einer solchen Mühe unterziehen oder wäre er oder sie eher geneigt, die vermeintliche ‚Abkürzung‘ zu suchen und alle inhaltlichen, exegetisch-theologischen Probleme ‚historistisch wegzuerklären‘? Den Mut und die Ausdauer, nach geistreichen Textinterpretationen Ausschau zu halten, bezieht Augustinus zweifellos aus der philosophisch-systematisch gewonnenen Erkenntnis, dass es überhaupt eine Wirklichkeit des Geistes gibt, die nur in Gott selbst gründen kann. Handelt aber die Schrift von Gott, spiegelt sich sein Geist in ihr, dann geht es nicht nur um menschliche Autoren und ihre geschichtliche Verortbarkeit, sondern Gottes Geist verbürgt die Berechtigung, nach einer geistvollen Zusammenschau von Texten und einer ebensolchen Interpretation derselben ohne Resignation zu suchen. Nichts anderes besagt Augustins Prämisse, dass die Heilige Schrift als ganze inspiriert sei. Exegetisch ergründen lässt sich diese Inspiriertheit dann, wenn ein verborgener Gesamtsinn zunächst gegensätzlich erscheinender Texte aufscheint. Nur wer diese Voraussetzung nicht als obsolet über Bord wirft, vermag ihn zu finden – so muss man Augustinus wohl verstehen. Es ist diese geistreiche Kombination auch von platonischer Philosophie und akribischer Bibelexegese, welche den Kirchenvater dahin bringt, nicht nur das Nebeneinander von Gen 1 und 2 – unbeschadet einzelner Abweichungen im lateinischen Text – in einer sinnvollen Weise zu bestimmen, sondern dabei auch zu neuen Resultaten zu kommen, welche von einer partikulär-singulären Betrachtung dieser beiden biblischen Texte und von bestimmten platonischen Inhalten abweichen, wenn er z. B. zu einer durchweg positiven Bewertung der Materiewelt und der Vereinigung von Leib und Seele im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Menschen gelangt. Das exegetische Ergebnis, sowohl eine überzeitliche Schöpfung der intelligiblen Vernunftursachen wie auch einen sich zeitlich entfaltenden Schöpfungsprozess anzunehmen, liest Augustinus aus der Zusammenschau der beiden Schöpfungsberichte heraus – und sichert seine Exegese zugleich immer wieder dadurch ab, dass die Schrift explizit von einer Schöpfung des „Alles zugleich“ (Sirach 18, 1) und des innerzeitlichen Wirkens Gottes „bis jetzt“ (Jh 5, 17) spricht. Insofern erscheint sein exegetisches Projekt vom biblischen Textbefund her wie aus dessen systematischer Reflexion durchaus begründet.
25. Das Paradies und die Balance zwischen geistig-allegorischer und literal-historischer Exegese: tunc et nunc – das Intelligible als Möglichkeitsraum des Geschichtlichen Rückblick auf De Genesi contra Manichaeos
Mit dem Beginn des achten Buchs von De Genesi ad litteram widmet sich Augustinus der Frage, in welcher Weise das Paradies, in das Gott Adam hineinlegte (Gen 2, 8), zu verstehen sei. Entsprechend seiner hermeneutischen Grundlegung in Buch I, dass die Interpretation der Bibel im geistigen Sinne sowieso immer möglich ist und die Frage nach der historischen Ereignishaftigkeit der Berichte sich erst im zweiten Schritt anschließe,594 spricht sich der Kirchenvater auch jetzt für eine mittlere Position aus: Die Paradies-Geschichts sei in beiderlei Sinn (utroque modo), teils in körperlicher, teils in geistiger Hinsicht zu verstehen (alias corporaliter, alias autem spiritaliter). Auch hier verweist Augustinus darauf, auf die Inspiration des Geistes angewiesen zu sein: Gemäß dem, „was der Herr zu schenken für würdig erachten wird“, werde er seine Auslegung über das Paradies vornehmen. Die Bildung des Menschen „aus Schlamm“ sei offenkundig in körperlicher Weise zu begreifen ebenso wie der Ort, wo der irdische Mensch wohnen sollte. Was die „Gattung der Rede“ betreffe, zeige das Buch Genesis, anders als z. B. das Hohelied, keine grundsätzlich allegorische, sondern faktische Erzählweise. Gegen Deutungen, welche die Faktizität der Genesis erst mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnen lassen wollen, weil dies am ehesten mit der ‚realen Natürlichkeit‘ vereinbar sei, grenzt sich Augustinus mit dem Argument ab, dass auch nach der Vertreibung noch ebenso wundersame Dinge erzählt werden: Zudem sei die Differenzierung zwischen Wunderberichten und natürlichen Ereignissen speziell aus der Perspektive der Genesis zweifelhaft, da man die vermeintlich ‚natürlich‘ erscheinende Weltschöpfung als ein beispielloses Wunder par excellence verstehen könne bzw. sogar müsse.
594 S. o. Kap. 2.
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Diesem theologischen Argument inhäriert eine fundamentale Schlagkraft: Wenn die Welt ohne Gottes Schöpfungshandeln gar nicht existiert, dann ist die Welt das erste, geradezu ungeheuerlich anmutende Wunder. Gilt dieses Argument, dann lässt sich in der Tat kein Rückschluss mehr rechtfertigen, dass die Hervorbringung des Paradieses deshalb undenkbar sei, weil sie der menschlichen Naturerfahrung widerspreche, da auch Letztere nur das Produkt eines vorausliegenden, als solches lediglich nicht mehr erkannten Wunders ist. Daher fragt Augustinus zu Recht, warum man die Erschaffung des Paradieses nicht mit dem beobachtbaren Entstehen von Wäldern vergleichen sollte. Freilich setzt, wie Augustinus selbst unterstreicht, diese Argumentation die „Autorität“ der Bibel voraus. Dennoch will er die Erörterung möglichst so führen, dass niemand einen Grund finde, um die biblischen Texte zu widerlegen. Mit Blick auf den gleichsam ‚internen Kreis‘ der Christen verweist der Kirchenvater darauf, dass es doch unsinnig sei, die Erschaffung Adams allein im allegorischen Sinne aufzufassen – wären dann Kain und Abel etwa auch nur in figürlich-symbolischer Weise Adams Söhne? Daher sei der Versuch zu unternehmen, alles, was als faktisch erzählt werde, „zuallererst“ auch gemäß der „Ausdrucksweise der Eigentümlichkeit aufzufassen“ (conentur nobiscum, cuncta primitus, quae gesta narrantur, in expressionem proprietatis accipere). Dies schließe ein später erfolgendes allegorisches Verständnis nicht aus. Nur wenn der „Glaube an die Wahrheit“ eine körperliche Deutung des ebenso Beschriebenen gänzlich verhindere, sei ein allegorisches Verständnis als Ausweg geboten.595 Die Wahrheit der Heiligen Schrift bildet also ein Kriterium, von dem aus zu entscheiden ist, was ausschließlich geistig-allegorisch und was zudem auch faktisch aufzufassen sei: Dieses Wahrheitskriterium ist nichts anderes als die innere Stimmigkeit, welche die biblischen Texte gemäß Augustinus eint unter der Voraussetzung des Prinzips dieser Stimmigkeit: des inspirierenden Geistes Gottes. Die Richtung einer solchen Schriftexegese weist die regula fidei, auf welche der Kirchenvater hier explizit anspielt – bezeichnenderweise, um ein Kriterium für die Faktizität biblischer Redeweise zu etablieren, nicht um geistige Deutungen zu rechtfertigen: Die Glaubensregel wird nicht in erster Linie benötigt, um ein geistiges, sondern um ein literal-körperliches Verständnis zu untermauern bzw. methodisch abzusichern oder auch zu hinterfragen. Auch hier bleibt Augustinus seiner hermeneutischen Methode treu:596 Eine geistig-allegorische Exegese ist im Grunde immer möglich; nicht alles aber muss ausschließlich allegorisch erklärt werden, weil die körperliche Realität der Welt selbst auf den Schöpfergeist, der diese erschafft, zurückzuführen ist.
595 Gn. litt. VIII, 1; 229,2–232,10. Zur Stelle s. Kim (2006: 85) sowie zu Augustins früherer Auffassung in De Genesi contra Manichaeos ibd., 71–83. S. ferner Pollmann (2009a: 323) zu Augustins impliziter Abgrenzung gegenüber Origenes, Hieronymus und Philon. 596 S. o. Kap. 2.
25. Paradies und Balance zwischen geistig-allegorischer und literal-historischer Exegese
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Im Folgenden blickt der Kirchenvater kurz auf sein Frühwerk De Genesi contra Manichaeos597 zurück: Die Manichäer seien freilich im doppelten Irrtum umfangen, weil sie das Alte Testament nicht nur „anders als nötig auffassen, sondern überhaupt blasphemischerweise ablehnen und verabscheuen.“ Augustins Absicht damals sei es gewesen, die Manichäer nicht nur „schnell zu widerlegen“, sondern sie dazu zu bewegen, den „christlich-evangeliumsgemäßen Glauben“ in diesen alttestamentlichen Schriften zu suchen. Freilich habe er damals sein Anliegen, das Alte Testament möglichst wörtlich zu interpretieren, noch nicht angemessen zur Durchführung bringen können, so dass er schnell die Zuflucht bei einer allegorischen Exegese genommen habe. Dieser uneingelösten Aufgabe stellt sich nun De Genesi ad litteram. Die exegetische Herangehensweise, möglichst alles „im Wortsinn“ aufzufassen und nur, wenn ein solches Verständnis „Gottes unwürdig“ sei, gemäß dem „Beispiel des Apostels“ den „Ausweg“ der figürlich-allegorischen Deutung zu wählen, erachtet Augustinus auch noch in De Genesi ad litteram als maßgebend. Jedoch spricht er in dem Selbstzitat aus De Genesi contra Manichaeos nur von der Alternative ‚Geschichte vs. Prophetie‘, beschränkt dort also die geistige Deutungsebene auf den prophetischen Sinn,598 während er in den ersten Büchern von De Genesi ad litteram die Möglichkeit eines geistig-literalen Sinns im Unterschied zur prophetischen Allegorie entfaltet.599 Mit Blick auf den Vers Gen 2, 8 interpretiert Augustinus den Namen des Garten „Eden“ korrekt als „Wonne“ (deliciae), wie sich das hebräische ‘eden übersetzen lässt. Sogleich geht er jedoch zu der fideistischen Feststellung über, dass dies „so geschrieben steht, weil es so geschehen ist.“ Wer Augustinus eine unkritische Lesehaltung vorwerfen will, wird hier fündig – die philosophischen Argumente, welche in den ersten Büchern teils explizit gemacht wurden, teils im Hintergrund standen, scheinen zurückzutreten. Jedoch trügt dieser Eindruck beim genaueren Hinsehen: Wenn der Kirchenvater Gottes Erschaffen der Bäume (Gen 2, 9) mit dem entsprechenden Passus Gen 1, 11–12 verbindet, dann spricht er davon, dass die „Erde damals schon, am dritten Tag“ die Pflanzen „hervorgebracht hatte“. Obwohl der aufmerksame Leser irritiert darüber sein könnte, dass Augustinus scheinbar ‚plötzlich‘ Gen 1 im Sinne eines historischen Berichts wörtlich nimmt, während er sich in den vorangegangenen Büchern alle Mühe gegeben hatte, aufgrund der literalen Lektüre Gen 1 in einem geistigen Sinne ernst zu nehmen,600 erweist sich diese Irritation beim Weiterlesen als unbegründet: Sogleich wird präzisiert, dass das „Damals (tunc) natürlich“ vorzeitlich im Sinne der ursächlichen Seinsgründe der Schöpfung zu verstehen sei, welche die Erde, d. h. die Materie, damals freilich im Sinne eines „Hervorbringungsvermögens auf verborgene Weise empfangen“ hätte, gemäß welchem sie die Pflanzen „jetzt“, d. h. „offenkundig 597 598 599 600
Geschrieben zwischen 388–390 (s. Fuhrer 2004: 61). Gn. litt. VIII, 2; 232,11–233,23. Vgl. zur Stelle Pollmann (2007: 210). S. o. Kap. 7. S. o. Kap. 4-7.
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und in der – angemessenen – Zeit“ erzeuge. Beim genaueren Hinsehen vereint Augustinus also auch hier wiederum die geistig-überzeitliche Interpretation von Gen 1 mit der körperlich-zeitlichen Deutung von Gen 2: Die im Licht der Engel geschaffenen ewigen intelligiblen Seinsgründe gewinnen ihren materiellen Niederschlag durch ihre zeitliche Entfaltung. Der Kirchenvater erinnert noch einmal daran, dass Gottes Sprechen in Gen 1 kein akustisches sei, sondern die Schöpfermacht (creandi potestas) seines ewigen Logos bedeute: Dabei sei es hermeneutisch unmöglich, Gottes „ohne zeitliche Laute“ erfolgendes Sprechen menschlichen Ohren „anders als durch zeitliche Laute“ kundzutun (dici autem hominibus, quid sine temporalibus sonis deus dixerit, nonnisi per temporales sonos potuit).601 Aus der Perspektive der Ewigkeit erscheint die von jener in sekundärer Weise abhängige Dimension der Zeit als „zukünftig“ (futurum), ohne dass damit die Ewigkeit verzeitlicht würde: So verstanden meint „zukünftig“ das sachliche Später etwa der Erschaffung Adams aus Schlamm und seiner Beseelung.602 Gottes ‚Sprechen‘ im Sinne des Hervorbringens der intelligiblen Seinsgründe seiner Schöpfung erfolgt, wie Augustinus scharfsinnig hervorhebt, so, „als wenn“ diese auch materiell „schon existierte“, weil die ewigen Seinsgründe genau diese Prinzipien der ‚später‘ materiell verwirklichten Welt und insofern in Gottes „innerer und innigster Wahrheit“ immer schon gegenwärtige Ewigkeit sind. Diese Wahrheit Gottes und ihr Ausgesprochensein in den Schöpfungsgründen hat „weder ein Auge gesehen, noch ein Ohr gehört, sondern sein Geist hat sie dem Schreiber [sc. der Genesis] offenbart.“603 Dabei kommt es nicht darauf an, ob die ‚Schreiber-Instanz‘ einer oder mehrere Menschen waren. Entscheidender ist, dass Augustinus das Wort des Apostels: „Was kein Ohr gesehen und kein Ohr gehört hat und nicht in das Herz eines Menschen gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“ (1 Kor 2, 9; Jes 64, 3), ontologisch sinnvoll zu deuten vermag: Gottes Schöpfungslogos und seine Wahrheit sind per se nicht sinnlich wahrnehmbar, aber sie finden ihre Offenbarung in der Schöpfung und in den diesen Schöpfungsprozess geistig aufschließenden Worten der Heiligen Schrift. Und dies ist ein zentraler Grund, weshalb ein Christ wie Augustinus diesen Texten eine solche Wertschätzung entgegenbringt, weil in ihnen seiner Auffassung nach etwas offenbar ist, was allzu leicht übersehen werden kann. Denn auch hier gilt: Denn seine [sc. Gottes] Unsichtbarkeit wird von der Gründung des Kosmos an anhand der Schöpfungen [sc. Gottes] geschaut als etwas geistig-intellekthaft Erkennbares, die Ewigkeit sowohl seiner vermögenden Macht als auch seiner Gottheit (Paulus, Rö 1, 20).604
601 S. o. Kap. 7 mit dem Verweis auf eine diese Stelle vielleicht sogar direkt aufgreifende Formulierung in Miltons Paradise Lost. 602 S. o. Kap. 24. 603 Gn. litt. VIII, 3; 233,24–235,11. 604 Zur Stelle s. o. Kap. 2.
25. Paradies und Balance zwischen geistig-allegorischer und literal-historischer Exegese
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Dadurch, dass der Kirchenvater zu Beginn des Kapitels Gn. litt. VIII, 3 den Anschein erweckt, er würde auch Gen 1 scheinbar als zeitliche Ereignisse lesen und begreifen, erzielt er – entgegen der ersten Erwartung – ein hermeneutisch bedeutsames Resultat: Denn auch eine unkritische Lektüre von Gen 1, welche das im temporalen Duktus Erzählte zeitlich auffasst und nicht philosophisch-hintergründig auslegt, ist offenbar nicht gänzlich unangemessen. Zwar erfordert gerade die literale Exegese eine Lösung für das Problem, wie Tage ohne Gestirne, Licht ohne Sonne usw. möglich sein könnten;605 aber Augustinus belässt dem ‚naiven Leser‘ – wenn auch nur scheinbar – die Möglichkeit, Gen 1 auch ohne Fokussierung dieser Probleme ernst zu nehmen. Dadurch wahrt er auch hier die Balance zwischen einem geistigen und einem historischen Verständnis. Gelingen kann dies deshalb, weil die Worte tunc („damals“) und nunc („jetzt“) zum einen naiv-buchstäblich, aber eben auch gemäß der von Augustinus in den vorangegangenen Büchern entwickelten Exegese gelesen werden können: So verstanden ist tunc eine Metapher für die Ewigkeit, welche im überzeitlichen Sinne immer schon vor der Zeit ist („damals“), nunc dagegen Inbegriff der zeitlichen Ereignisse („jetzt“).606 Dieselbe Balance zwischen geistiger und körperlich-materieller Wirklichkeit veranschlagt der Kirchenvater auch mit Blick auf die in Gen 2, 9 erwähnten Bäume: den „Baum des Lebens“ und den „Baum des zwischen Gut und Böse unterscheidenden Wissens“. Ein allegorisches Verständnis wehrt er rigoros ab. Während dies auf den ersten Blick vielleicht nicht allzu überzeugend erscheint,607 hat Augustinus für seine exegetische Entscheidung gerade in diesem Fall gute Gründe, die er anhand etlicher Beispiele aus der Bibel entwickelt: So würde auch die Annahme des ewig-himmlischen Jerusalems gerade nicht die Existenz des irdischen Jerusalems ausschließen (Gal 4, 25–26), welches jedoch auf das himmlische verweise (verum tamen cum sit Hierusalem aeterna in caelis, etiam in terra civitas, qua illa significaretur, condita est). In hermeneutischer Sicht ist höchst aufschlussreich, dass Augustinus erstens mit dem himmlischen Jerusalem beginnt (dies entspricht seiner Auffassung, dass es immer einen geistigen Sinn der Heiligen Schrift geben muss), zweitens auf die unbestreitbare Existenz der irdischen Stadt zu sprechen kommt (bestimmte Aussagen der Schrift haben einen materiell-historisch verortbaren Sinn608) und drittens dem Irdischen eine Verweisfunktion auf das Geistige zuerkennt. (Obgleich Augustinus es nicht explizit macht, ließe sich dies mit der neuplatonischen Trias von Verharren – Hervorgang – Rückwendung parallelisieren.609) Dem Geistig-Intelligiblen kommt also durchaus ein prinzipienon-
605 S. o. Kap. 4-7. 606 S. o. Kap. 20. 607 Vgl. Reiser (2007: 366–7): „Mit dem proprie hat er [sc. Augustinus] freilich nicht selten seine liebe Not.“ Zur Auseinandersetzung mit Reisers Kritik s. u. Anm. 633 und 636. 608 S. o. Kap. 2. 609 S. o. Kap. 4.
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tologischer Primat zu – aber dieser entwertet nicht die materialisierte Realität, im Gegenteil, denn diese verweist auf das Geistige zurück.610 In derselben Stelle seines Galaterbriefs (4, 24) führt der Apostel Hagar als Sinnbild für das Alte und Sarah als solches für das Neue Testament an: Niemand käme auf die Idee, beide nicht trotzdem als konkrete Frauen zu verstehen. Analoges gelte für Christus selbst: Durch sein Leiden am Kreuz erquicke er die Gläubigen „mit einem geistigen Quell“, aber dies stelle seine menschliche Existenz nicht infrage. Daher gelte für alle die genannten Beispiele: „Etwas anderes, als sie waren, haben jene alle bedeutet, aber dennoch sind sie auch selbst auf leibliche Weise gewesen“ (aliud quam erant illa omnia significaverunt, sed tamen etiam ipsa corporaliter fuerunt). Dies sind für Augustinus sowohl schriftgemäß wie inhaltlich-systematisch fundierte Argumente, auch den Baum des Lebens im Paradies auf keinen Fall auf eine bloße Allegorie für etwas Geistiges zu reduzieren. „Nicht ohne dass die Mysterien geistiger Sachgehalte auf leibliche Weise gegenwärtig waren, wollte den Menschen Gott im Paradies leben lassen“ (nec sine mysteriis rerum spiritalium corporaliter praesentatis voluit hominem deus in paradiso vivere). Es geht also um eine ontologische Entsprechung und Bezogenheit zwischen Geistigem und Leiblichem:611 Augustinus deutet explizit die anderen Bäume und ihre Früchte zum Zweck der leiblichen Ernährung des paradiesischen Menschen, den Baum des Lebens aber als „Sakrament“, welches die Weisheit bedeute, die gemäß der Schrift (Spr 3, 18) „ein Baum des Lebens für alle sie Umarmenden“ sei (erat ergo ei in lignis ceteris alimentum, in illo autem sacramentum, quid significans nisi sapientiam, de qua sic dictum est: ‚lignum vitae est amplectentibus eam‘). Der Baum des Lebens ist also als Sakrament die Weisheit Gottes, welche identisch mit Gottes Logos, d. h. Christus selbst ist.612 Christus ist daher gemäß Augustins Exegese bereits im Paradies im Baum des Lebens präsent – in Analogie zu seiner späteren Inkarnation, wobei diese als die Menschwerdung zugleich spezifisch vom Baum des Lebens im Paradies unterschieden bleibt. Wesentlich ist hier nicht zuletzt Augustins Sakramentsverständnis, welches – aus historischen wie systematischen Gründen – der nominalistischen Disjunktion ‚historisch-leiblich real‘ vs. ‚leere Worte‘
610 Ein solches Verständnis Jerusalems ist noch bei Nikolaus von Kues in De pace fidei zu finden, vgl. Drews (2018: 374–5). 611 Genau eine solche Entsprechung ist auch bei Dionysius Areopagita der Grundgedanke seiner Kirchlichen Hierarchie (s. dazu Drews 2011). 612 S. o. Kap. 7, 17 und 19. Insofern erscheinen Kims (2006: 89) Kategorien fragwürdig: „This notion of history [sc. in Gn. litt.] does not allow him to interpret the text only in a figurative sense as if it is just written to signify something else.“ Denn, genau genommen, würde es ja gar nicht um „something else“ gehen, sondern darum, dass das Geistig-Intelligible im Paradies auch leibhaftig gegenwärtig war; dies bedeutet dann aber, dass nicht ‚irgendetwas anderes‘ gemeint ist, sondern etwas sachlich Identisches, welches von sich selbst her geistig und doch in leibhaftiger Weise im Paradies präsent ist. Eine solche Identität ist gemäß der in Gn. litt. vertretenen Auffassung von Literalität ohne Weiteres möglich; Kims Gegensatzpaar ‚historisch‘ vs. ‚figürlich‘ fängt diese Möglichkeit dagegen nicht ein.
25. Paradies und Balance zwischen geistig-allegorischer und literal-historischer Exegese
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vorausliegt:613 Der Baum des Lebens ist gemäß dem Kirchenvater genau deshalb „Sakrament“, weil ihm sowohl leibhaftige Präsenz wie auch ein prägnanter, nicht-leerer Verweischarakter auf die rein geistige Weisheit Gottes eignet. Dabei vermag Augustinus eine wesentliche Differenzierung auf der Basis der Bibel vorzunehmen: Während Christus, da er am Kreuz gestorben ist, tatsächlich das Lamm Gottes und ferner das Pascha-Lamm im jüdischen Ritus ein leibhaftiges ist, welches gleichwohl auf Christus als das wahre Lamm vorausverweist, ist genau diese Relation von Geistigem und Leiblichem in der Gleichnisrede Jesu ganz in das Geistig-Gleichnishafte, also nicht materiell Realisierte zurückgenommen, wenn bei der Rückkehr des Verlorenen Sohns das beste Kalb geopfert wird (Lk 15, 23). Die Heilige Schrift kenne also beides: Im Gleichnis beziehe sich die Erzählung auf „Figürlich-Allegorisches, nicht aber auf unter einer allegorisch bezeichneten Bedeutung geschehene Dinge“ (ibi quippe ipsa narratio figurarum est, non rerum figurata significatione gestarum). Denn das Gleichnis werde „nicht vom Evangelisten, sondern vom Herrn selbst erzählt“, so dass der Ereignischarakter die Erzählung – das Gleichnis – selbst ist, nicht aber eine sich historisch-materiell zugetragen habende Geschichte.614 Augustinus kann seine Hermeneutik der Balance zwischen geistiger und sinnlich-materieller Wirklichkeit also von der Heiligen Schrift selbst herleiten und rechtfertigen, so dass diese – zumeist neutestamentlichen – Beispiele in methodischer Hinsicht direkt für seine literale Exegese der Genesis anschlussfähig sind. Der intelligible Sachgehalt macht gemäß Augustinus die körperliche Realität gerade nicht überflüssig, sondern er erfordert sie, um so selbst als geistig-begreifbare Sache in äußerlich-materialisierter Weise Gestalt zu gewinnen und offenbar zu werden. 613
Dies berührt unmittelbar Augustins Eucharistie-Verständnis: Da Geistiges und Leibliches gemäß Augustinus nicht ohne Bezug zueinander stehen, vielmehr die Gestaltung der Materie sich dem Geist verdankt und deshalb die gestaltete Materie auf den Geist zurückverweist, geht es darum, dass die materiellen Symbole aufgrund ihrer Beziehung zum Geistigen dies real darstellen: Das materielle, geheiligte Brot ist Ausdruck des geistigen Brotes, welches Christus selbst ist (vgl. Jackson 1999). Der Akzent liegt somit auf der geistigen Dimension, die prinzipienontologisch der materiellen Wirklichkeit vorausliegt: Deshalb ist das geheiligte Brot nicht einfach ein materieller Laib, sondern in seiner Bezogenheit auf das geistige Brot genau dieses in materieller Gestalt. So, wie Christus als prinzipienhafter Logos des Vaters in der Inkarnation Seele und Fleisch annimmt und dadurch die Seele und das Fleisch der Gläubigen reinigt (civ. X, 24), werden umgekehrt auch die Gaben der Erde, Brot und Wein, „durch das mystische Gebet geweiht und zum geistlichen Heil [sc. der Gläubigen] empfangen in Erinnerung an das Leiden des Herren für uns“ (sed illud tantum quod ex fructibus terrae acceptum et prece mystica consecratum rite sumimus ad salutem spiritalem in memoriam pro nobis dominicae passionis, trin. III, 4, 10). Augustinus denkt die beiden Aspekte der Eucharistie, das Erinnerungsmahl und die Transsubstantiation der sichtbaren Gaben, unmittelbar zusammen: Die, welche von ihrem Glauben her zum geistigen Leib Christi gehören, essen auch den Leib Christi (civ. XXI, 25). Letztlich geht es für Augustinus nicht vorrangig um die Wandlung der empfangenen Gaben, sondern um die durch das Empfangen Christi im Sakrament ausgelöste Wandlung der Empfangenden in Christus hinein (‚Cibus sum grandium: cresce et manducabis me. nec tu me in te mutabis sicut cibum carnis tuae, sed tu mutaberis in me‘, conf. VII, 10, 16). 614 Gn. litt. VIII, 4; 235,12–237,2.
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Entsprechend expliziert der Kirchenvater noch einmal: Die „Weisheit, Christus selbst“, sei „der Baum des Lebens im geistigen Paradies“ (sic et sapientia, idem ipse Christus, lignum vitae est in paradiso spiritali, quo misit de cruce latronem). Und in einem bloßen Halbsatz deutet er an, warum Christus vom Kreuz aus dem mit ihm gekreuzigten Räuber verheißen konnte: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“, denn durch das Eingeständnis seiner Schuld und seine Gottesfurcht hatte sich der Mitgekreuzigte (Lk 23, 40–43) – so muss man Augustinus wohl verstehen – der Weisheit Gottes, dem leibhaftigen Erlöser geöffnet, und der Weg ins geistige Paradies war ihm nicht mehr versperrt. Auch hier hält Augustinus die Waage zwischen geistiger und leibhaftiger Exegese: Der „Baum des Lebens“ sei in leibhaftiger Form, um die Weisheit leibhaftig zu bezeichnen, im körperlichen Paradies erschaffen worden (creatum est autem quod eam significaret, lignum vitae etiam in paradiso corporali). Im Einklang mit seiner vorsichtig voranschreitenden Exegese615 lässt sich der Kirchenvater nicht auf einen Streit darüber ein, ob sich Seelen nach dem Tod und dem Verlassen ihres Leibes an einem körperlichen Ort befinden können, „denn besser ist es, über Verborgenes unschlüssig zu sein als zu streiten über Unsicheres.“616 Sollte diese Möglichkeit bestehen, dann habe auch der zusammen mit Christus Gekreuzigte nach seinem Tod sogar im leibhaftigen Paradies sein können. Klar sei aber auch, dass die Weisheit von sich selbst her „kein Körper“, also auch „kein Baum“ sei, aber „vermittels einer körperlichen Kreatur gleichsam durch ein heiliges Geheimnis bezeichnet werden“ konnte. Wenn Sarah und Hagar typologische Präfigurationen des Alten und des Neuen Bundes sein können und trotzdem ihre menschliche Existenz als Frauen außer Frage steht, dann kann Augustinus es „kaum ertragen“, dass manche die Paradiesgeschichte zwar als „bildlich gesprochen“, nicht aber „als bildlich geschehen“ verstehen wollen (mirum est autem et vix ferendum, quemadmodum velint homines paradisum figurate dictum et nolint etiam figurate factum. quodsi concedunt sicut de Agar et Sarra […]). Da Gott auch hernach noch wundersame Nahrung gespendet habe (1 Kö 17, 16), warum sollte etwas Vergleichbares im Paradies durch den Baum des Lebens unmöglich gewesen sein, auf dass der Mensch ohne Krankheit, Alter und Tod gelebt hätte?617 Von primärer Bedeutung ist also auch hier die geistige Wirklichkeit, das geistige Paradies, welches am Kreuz dem Räuber durch Christus, die Weisheit selbst, verheißen wird; gleichwohl schließt diese geistige Dimension nicht aus, dass ihr eine leibliche korrespondiert. Dies steht in unmittelbarem Einklang mit Augustins zu Beginn von De Genesi ad litteram grundgelegter hermeneutischer Methode, dass das geistige Ver615 S. o. z. B. Kap. 8. 616 Zu berücksichtigen sind hier Augustins später erfolgende Überlegungen darüber, dass die Seele selbst an keinem räumlichen Ort ist, sondern nur Körper räumlich bewegt, während sie selbst keine räumliche, sondern nur eine zeitliche Ausdehnung kennt (s. u. Kap. 28, mit Anm. 665). Zur Exegese der Stelle Lk 23, 40–43 s. auch unten Kap. 41. 617 Gn. litt. VIII, 5; 237,3–239,14. Vgl. Rémy (2008: 115): „L’insistance d’Augustin se fait tenace pour lier indissolublement faits et figures et unifier ainsi la réalité et la symbolique de l’arbre de vie.“
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ständnis der Heiligen Schrift sowieso immer notwendig ist, die Frage der historischen Tatsächlichkeit, welche eine körperlich-materialisierte Wirklichkeit impliziert, sich erst sekundär anschließt.618 Um es in negativer Ausgrenzung zu formulieren: Worum es Augustinus nicht geht, ist ein historistisch die materielle Realität absolut setzendes Wirklichkeitverständnis, welches eine für sich selbst bestehende geistige Dimension nicht (mehr) kennt: Denn unter Ausblendung einer intelligiblen Wirklichkeit bleibt zwangsläufig nur eine historistisch-materialistische Sicht auf ‚die Realität‘ übrig; wird aber die aus Augustins Perspektive primäre Wirklichkeit des Geistes verkannt, dann ist die Bibel ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘ und ihr Sachgehalt verschlossen, da dieser aus Sicht des Materialismus nur noch absurd, weil ‚nicht existent‘ erscheinen kann. Von besonderer Tragweite für die literale Exegese der Genesis erweist sich die Balance zwischen geistiger und körperlich-geschichtlicher Auslegung deshalb, weil Augustinus dem buchstäblich-leiblichen Sinn so nicht nur seine ‚Berechtigung‘ belässt, sondern eine besondere Relevanz zuweisen kann: Das körperliche Paradies ist mehr als ein lediglich nominalistisches ‚heiliges Zeichen‘, welches gegenüber dem von ihm Bezeichneten letztlich verzichtbar würde; vielmehr braucht das Geistig-Intelligible gemäß Augustinus eine leibliche Entsprechung. Und wenn Gott „Himmel und Erde“, die geistige und die irdische Wirklichkeit, geschaffen hat, dann darf die leiblich-körperliche Dimension ihr Eigenrecht behaupten, braucht aber ebenso sehr die Realität des Geistes, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos zu werden, da Vernunft und Sinnhaftigkeit nur vom Geistigen herkommen können. In der Ausrichtung auf Gottes Geist jedoch erfährt die körperliche Realität in doppelter Weise ihre größte Seinsmöglichkeit: einmal als leibliche Manifestation und Repräsentation des Geistes; zum andern dadurch, dass vor dem Hintergrund der intelligiblen Wirklichkeit auch der Möglichkeitsraum dafür geweitet wird, was innerhalb der materiellen, historischen Welt als real möglich vorstellbar erscheint. Denn gemäß Augustinus wird der leiblichen Realität gerade nicht nachträglich ein ‚übertragener Sinn untergeschoben‘, sondern die Denkbarkeit eines leiblichen Paradieses wird begründet durch die philosophisch-argumentativ sicher (‚objektiv‘) erschlossene Wirklichkeit des Geistes. Bedingung der Möglichkeit eines literal-historischen Verständnisses der Paradiesgeschichte ist somit das Intelligible: Dies ist der folgenreiche Unterschied zwischen einem philosophisch begründeten und einem auf genau eine solche Begründung dezidiert verzichten wollenden Geschichtsverständnis, welches seine ‚objektive Wahrheit‘ von außen, aus der (subjektiv vorgestellten) beobachtbaren Ereignishaftigkeit ableiten müsste (inklusive aller damit verbundenen Schwierigkeiten). Für Augustinus ist Letzteres hingegen keine sinnvolle Option, weil Theologisches per se nicht ‚beobachtbar‘, d. h. nicht durch eine verselbständigte, für sich allein betrachtete Sinnlichkeit ‚erlebbar‘ ist: Ein positivistisches Geschichtsbild ist insofern zwangsläufig für die geistige Wirklichkeit blind,
618
S. o. Kap. 2.
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kann also weder mit einem intelligiblen Sachgehalt als solchem etwas anfangen, geschweige denn mit dessen körperlicher Manifestation. Die Weichenstellung, was man im leiblich-historischen Sinn als real möglich erachtet, liegt also der Geschichtswissenschaft voraus, ist nur durch eine ihr vorgeordnete Reflexion entscheidbar.619 Augustinus votiert dafür, dass die Möglichkeit leiblicher Repräsentation von etwas Geistigem nicht nur gegeben ist, sondern gewissermaßen die Ur-Motivation dafür darstellt, dass überhaupt eine materiell-körperliche Realität existiert: Jede leibliche Handlung orientiert sich ultimativ an einem geistigen Erkenntnisakt, bei Menschen wie bei Tieren620 – dies kann kein Zufall sein, sondern hat mit der Anlage der Schöpfung zu tun. Für den Kirchenvater ist die Genesis somit kein bloßes ‚Narrativ‘, das lediglich so ‚daherkommt wie‘ ein historischer Bericht; die „Bedingung für eine historische Auslegung“ ist nicht eine ‚Erzählung an sich‘,621 sondern der Möglichkeitsraum, wie er in dem gerade beschriebenen Sinn aus der Wirklichkeit des Geistes heraus für die materielle Realität eröffnet wird. Seine literale Exegese fortführend, erklärt Augustinus, dass der „Baum des zwischen Gut und Böse unterscheidenden Wissens“ (Gen 2, 17) ebenfalls ein körperlicher, sinnlich-wahrnehmbarer Baum gewesen sein müsse.622 In Übereinstimmung mit seiner generellen christlich-platonischen Überzeugung, dass Schlechtes und Übles nicht auf Gott selbst zurückzuführen sei, unterstreicht der Kirchenvater, wie sehr ihm die Meinung gefalle, dass auch jener Baum nicht von sich selbst her „durch seine Frucht schädlich“, sondern dass die „Übertretung des Gebots das Übel“ gewesen sei (quantum placeat [sc. mihi] illa sententia non fuisse illam arborem cibo noxiam […], sed malum fuisse transgressionem praecepti). D. h., nicht die materielle Beschaffenheit des Baumes ist gemäß Augustinus bereits etwas Schlechtes, sondern das Böse und Üble resultiert aus dem geistigen Vergehen des Menschen gegen Gottes Weisung, die den Menschen in seiner Freiheit anerkennt, aufgrund welcher sich dieser durch die geistige Tugend des Gehorsams623 als freiheitliches geistiges Wesen bewähren sollte. Die Bezeichnung
619 S. o. Anm. 30. 620 S. o. Kap. 23 sowie Anm. 346. 621 Vgl. aber z. B. Fladerer (2010: 68): „Bedingung für eine historische Auslegung ist also nicht ausschließlich das historische Ereignis, sondern eine Erzählung, deren innere Struktur so aufgebaut ist, als ob sie Geschehenes berichtete“ (Kursive FD). 622 Dies markiert einen wesentlichen Unterschied zu der Augustinus vorausgegangenen, ganz überwiegend allegorisch (im Sinne freier Assoziationen) vorgenommenen Exegese-Tradition, die von Morlet (2016) ausgezeichnet dargestellt und zusammengefasst wird. Vgl. ebenso Hebb (2007: 368–9): „Nonetheless, despite the successful legacy of figurative exegesis, Augustine insists on pursuing literal interpretations of just those problematic texts“, d. h. v. a. der Genesis. Trotzdem stehe der Kirchenvater insofern im Einklang mit der Vätertradition, als auch er seine Exegese im Rahmen der regula fidei vornehme, obgleich er „aware of a deficiency“ (ibd., 372) rein allegorisierender Exegese sei und sich insofern kritisch gegenüber sowohl seinen eigenen früheren exegetischen Bemühungen wie auch denen anderer zeige (z. B. Ambrosius). 623 S. o. Kap. 22-24.
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als „Baum des zwischen Gut und Böse unterscheidenden Wissens“ sei indes nicht von der inneren Frucht des Baumes selbst, sondern vom Effekt der – potentiellen – Übertretung des Gebots her motiviert. Notwendig mache dies den Sündenfall jedoch auch im Nachhinein nicht.624
624 Gn. litt. VIII, 6; 239,15–240,14.
26. Flüsse, Ackerbau und Gottes Gnade im Paradies Das Ineinandergreifen von körperlich-literalen und geistig-literalen Aspekten: ein close reading von Gen 2, 15 Da die Deutung des „Baums des zwischen Gut und Böse unterscheidenden Wissens“ bereits im Vorgriff auf Gen 2, 17 erfolgte, muss sich Augustinus im Folgenden noch den vorausgehenden, bisher ausgelassenen Versen zuwenden, in denen von den vier Paradies-Flüssen die Rede ist: Erwartungemäß interpretiert er auch diese als real-körperliche Flüsse, wobei Euphrat und Tigris ihre biblischen Namen bewahrt, die beiden anderen, Phison (= Pischon) und Geon (= Gihon), wären nun als Ganges bzw. Nil bekannt, und genau dies sei ein weiteres Indiz, das Buch Genesis nicht nur allegorisch, sondern literal zu verstehen. Dies gelte im Übrigen sogar für die rein geistig aufzufassenden Gleichnisse Jesu im Neuen Testament: Auch dort sei von real existierenden Städten die Rede, auch wenn die Gleichnisebene „figürlich“ sei (Lk 10, 30). Augustinus räumt ein, dass sogar eine lediglich allegorische Exegese der Genesis nichts am Realitätsgehalt der Flüsse ändere, obgleich er eine solche rein geistige Interpretation für unangemessen erachtet. Mit der Erschaffung des körperlichen Paradieses ist in der Exegese nunmehr ein Punkt erreicht, wo die Erzählung gemäß Augustinus auf einen geschichtlichen Referenzpunkt zielt, so dass sich das Verständnis von ‚literal‘ immermehr dem landläufigen im Sinne von ‚historisch‘ angleicht.625 Da in Gen 2, 6 jedoch von einem Quell die Rede sei, könne man annehmen, dass sich dieser in die vier besagten Flüsse geteilt habe; zudem gebe es Flüsse, die unterirdisch verlaufen und an ganz anderen Orten wieder sichtbar würden. Bereits zuvor hatte Augustinus deutlich gemacht, dass der eine Quell als Oberbegriff bzw. Prinzip für die vielen Flüsse gelten könne, zumal sich gemäß seiner Exegese mit Gen 2, 6 der Übergang von der überzeitlichen Schöpfung des ‚Alles zugleich‘ hin zur materiellen Schöpfung ereigne.626 Die in 625 Dass dies für die vorderen Bücher von De Genesi ad litteram, die sich einem anderen Referenzpunkt widmen, so nicht gilt, ist oben erörtert worden, s. o. Kap. 4, 6–7, 16. 626 S. o. Kap. 18.
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Vers 15 berichtete Zwecksetzung, dass der Mensch den Paradiesgarten bewirtschafte und hüte, legt der Kirchenvater nicht im Sinne einer ‚harten Pflicht‘ aus, zu welcher der Mensch „verdammt“ wäre, sondern als beglückende Tätigkeit, wie sie auch noch heute von einigen praktiziert werde, „so dass es für sie eine große Strafe sei, von ihr zu etwas anderem weggerufen zu werden.“ Im Paradies müsse man sich die Freude daran umso größer vorstellen, weil „nichts Widriges“ diese Arbeit mühevoll machte und sie im Einklang mit Gottes Schöpfungswirken geschah, welches durch den Menschen unterstützt wurde. Dieses Konzept der Kooperation, die später durch den Sündenfall verloren ging, ist gewissermaßen das Spiegelbild zu Augustins Gnadenlehre, gemäß welcher der sich von Gott abgewendet habende Mensch durch die ihn bekehrende Gnade Jesu – sofern er sich ihr nicht widersetzt – wieder zurückgeführt werden soll zu einem befreiten Willen, dem so auch seine wahre Freiheit als freier Wille neu geschenkt wird.627 Im Paradies ist diese Eintracht zwischen Gott und Mensch noch ungestört, so dass „die menschliche Vernunft mit der Natur auf gewisse Weise zu sprechen vermag“ und Freude daran haben sollte, die Natur zu beobachten, das „unsichtbare innere Vermögen der [sc. für die Pflanzen wesensbestimmenden] Zahlen“628 und das Werk der dazukommenden Bewirtschaftung zu „durchschauen“. In diesem Zusammenspiel von Natur und in Freiheit agierender geschöpflicher Vernunft (Menschen, Engel) erblickt Augustinus ein „doppeltes Wirken der Vorsehung“, die sich einerseits auf das Ordnen und Lenken der Natur, andererseits auf das Ermöglichen von „Lernen und Lehren, Ackerbau, Künste und die Lenkung von Gemeinschaften“ beziehe. Der Mensch selbst habe durch seinen Leib an der natürlichen, durch seine Seele an der willentlichen Vorsehung Anteil, wobei die Seele ihrerseits eine eigene Natur besitze. Wie dem Baum der Ackerbau, so verhelfe dem menschlichen Leib die Heilkunst zu seiner natürlichen Bestform und analog der Seele die Unterweisung zu der ihrigen; entsprechend führe ein Mangel an diesen gut-wirkenden Einflüssen zu Degenerationsformen in der Natur, im Leib und in der Seele. Über allem stehend, erschaffe der transzendente Gott aus seiner Gutheit heraus „alle Naturen und ordnet alle Willensakte aufgrund seiner Gerechtigkeit“ (deus itaque super omnia, qui condidit omnia et regit omnia, omnes naturas bonus creat, omnes voluntates iustus ordinat).629 Warum empfängt der Mensch im Paradies gemäß Gen 2, 15 den Auftrag, „zu bestellen und und zu bewachen“ (ut operaretur et custodiret)? Zunächst verweist Augustinus auf die philologische Besonderheit, dass ein eindeutiges Objekt zu beiden Verba fehle. Schon vom griechischen Text her sei uneindeutig, ob gemeint sei: „dass er [sc. der Mensch] bestelle und bewache“, oder: „dass er das Paradies bestelle und bewache“ (et
627 S. dazu genauer Drews (2009: 185–238) in Abgrenzung gegen Flaschs Interpretation der Gnade als „Automatik“ und gegen sein ‚Konkurrenzmodell‘. Entscheidend für diese Abgrenzung ist Augustins Konzept der angemessenen Berufungsintensität (vocatio congrua). 628 S. dazu Kap. 18-22. 629 Gn. litt. VIII, 7–9; 240,15–245,9. Vgl. Jaskiewicz (2007: 720).
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posuit eum in paradiso operari eum et custodire). Das lateinische Pronomen eum lässt sich wie das griechische auton im Septuaginta-Text entweder auf den Menschen als AcI-Subjekt beziehen oder auf das Paradies als AcI-Objekt – grammatisch ist dies nicht eindeutig zu entscheiden, auch wenn die doppelte Verwendung des Pronomens eum für denselben inhaltlichen Referenten ungewöhnlich erscheint und dann eher eine Ellipse zu erwarten wäre.630 Die Vorstellung, dass der Mensch das Paradies beschützen müsste, ist für Augustinus kontraintuitiv: Erst nach dem Sündenfall hätte dies notwendig erscheinen können, da zuvor nicht einmal wilde Tiere den Menschen angefallen hätten. Daher betrachtet es der Kirchenvater als sinnvoller, dass der Mensch im Paradies schützend handeln sollte (et videtur magis exigere locutio, ut non dicatur: operaretur paradisum, sed in paradiso). Worauf könnte sich dieses Schützen also richten? Da sich sinnvollerweise kein direktes Zielobjekt anbietet, erwägt Augustinus, dass im geistigen Sinn der Mensch sich selbst schützen sollte, indem das äußere Bestellen des Ackers eine Entsprechung in der Seele des Menschen hätte, die sich durch Gottes Unterweisung (disciplina im doppelten Sinne als „Lehre“ bzw. „Unterweisung“ zur „Disziplin“) selbst ebenfalls bestellt und „bewacht“: So sollte der Acker dem Menschen gehorchen, der ihn bebaut, dieser aber der Unterweisung seines Herrn. Auf diese Weise hätte der Mensch die „Frucht des Gehorsams“ und nicht „Dornen und Disteln“ zurückgegeben. Allerdings habe der Mensch „nicht gewollt, das Gleichnis des von ihm gepflegten Paradieses in sich selbst gehorsam zu bewachen, und schließlich als Verdammter einen ihm [sc. seiner Seele] gleichen Acker empfangen“ (denique, quoniam similitudinem a se culti paradisi in se ipso custodire subditus noluit, similem sibi agrum damnatus accepit), nämlich Dornen und Disteln (Gen 3, 18). Noch einmal verweist Augustinus auf die Möglichkeit, welche der Mensch ursprünglich hatte: „für sich selbst dieses Paradies zu bewachen, damit er nicht etwas zuließe, weshalb er von dort verdientermaßen vertrieben würde.“631 Erneut schlägt Augustinus also eine geistig-literale632 Deutung vor, indem er Gottes Gebot – welches geistiger Natur, weil etwas Begreifbares ist und als solches erkannt werden soll – tatsächlich im geistig-literalen Sinne ernst nimmt: Auf diese Weise folgt er dem Text buchstäblich. Da er das „Beschützen“ im starken Sinne versteht (‚Abwehren von äußeren Gefahren‘), ergibt sich ein sachlich-theologischer Widerspruch zur friedvollen Vollkommenheit des Gartens Eden: Nur deshalb ist es gemäß Augustins hermeneutischer Methode legitim und textgemäß, auch in einer literalen Exegese nach einem geistigen Referenzpunkt zu suchen.633 Entsprechend versteht er das Be630 Im hebräischen Text scheinen sich beide Verbalhandlungen auf den Garten zu richten. Dies entzieht sich freilich Augustins Kenntnis – trotzdem zielt auch seine geistige Exegese, wonach sich der Mensch selbst als „Garten“ zu bestellen habe, strukturell dann wieder auf den „Garten“ als grammatisches Objekt. 631 Gn. litt. VIII, 10; 245,10–247,9. 632 S. o. Kap. 7. 633 S. o. Kap. 25 zu Gn. litt. VIII, 1; 232, 1–5.
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stellen des Ackers als Gleichnis für das Bestellen der Seele – und zwar in doppelter Richtung: Zunächst soll die Seele den Acker als Gleichnis für sich begreifen, sich also an ihm orientieren; später wird zuerst die Seele ‚unfruchtbar‘ und auf sekundäre Weise auch der äußere Acker, der nun das gleichnishaft spiegelt, was die Seele zuerst verloren hatte – sich selbst und Gott. Diese komplexe, aber stimmige Wechselbeziehung kann Augustinus durch geistig-literale Exegese aus dem Text herausarbeiten, denn: Das Gebot Gottes gehört als etwas Begreifbares eindeutig zum Textbefund, so dass die Grundkonstellation von äußerer Tätigkeit (Ackerbau) und geistigem Gehorsam keineswegs künstlich an den Text herangetragen wird. Für die theologische Lösung des Spezialproblems ut custodiret („auf dass er schütze, bewache“) ist die oben angesprochene syntaktische Schwierigkeit letztlich nur der Auslöser, da die Frage der inhaltlichen Interdependenz von Gehorsam und Tätigkeit auch unabhängig davon einer Antwort harrt. Das theologische Sachargument, dass zur vollkommen guten Erschaffung des Paradieses dessen natürliche Ungefährdetheit gehört, erscheint logisch und zeigt einmal mehr das Ineinandergreifen von Textexegese und systematischer Reflexion in Augustins Theologie. Aus der alle Aspekte vereinenden Zusammenschau folgt, dass bei literaler Interpretation die körperliche Bestellung des Ackers nicht nur als Gleichnis für das geistige Befolgen von Gottes Gebot steht, sondern der Mensch in dem ihm befohlenen Gehorsam auch genau dieses Gleichnis selbst in seiner Seele bewachen soll, wie der Kirchenvater herausarbeitet. Eine abgerundetere Exegese des Textbefunds in allen seinen Teilen erscheint (auf der Basis der Augustinus vorliegenden Genesis-Version) kaum möglich, denn das Ineinandergreifen von körperlich-literalen und geistig-literalen Aspekten verhilft dem Text zu einer neuen, weil so zunächst nicht erahnbaren Tiefe und Prägnanz. Diese scheinen nur deshalb auf, weil Augustinus dem Text im Sinne eines close reading tatsächlich literal folgt und ihn in alle Richtungen hin ausleuchtet. Nichtsdestotrotz erwägt der Kirchenvater noch einen anderen Sinn des Verses Gen 2, 15: Schließlich bestellte und bewachte Gott den Menschen selbst (est alius in his verbis sensus, quem puto non inmerito praeponendum, ut ipsum hominem operaretur deus et custodiret). In Analogie zur Bestellung des Ackers gehe es darum, den Menschen „gerecht und glückselig“ zu machen. Augustinus zieht hier also erneut eine Interpretation in Betracht, gemäß welcher der Literalsinn in seiner Gerichtetheit gleichsam umgekehrt wird:634 Das Adam gebotene Handeln ist gleichsam ein von Gottes Seite her schon realisiertes Wirken. Man darf bereits hier an die „vorher schon bereiteten Werke“ Gottes, die der Mensch ergreifen soll (Eph 2, 10), denken, obgleich Augustinus erst ein wenig später auf den Epheserbrief verweist.635 Das Bewahrtwerden durch Gott bringt er in Verbindung mit der „Hinwendung/Bekehrung“ hin zu Gott, welche
634 S. o. Kap. 16 zu Gn. litt. IV, 9; 104,16–106,13. 635 Zu dem für seine Gnadenlehre wichtigen Vers s. praed. sanct. 10, 19 (s. Drews 2009: 178 f.).
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in den früheren Büchern von De Genesi ad litteram als Abschluss der Seinskonstitution interpretiert worden war:636 Auch jetzt sei diese Hinkehr entscheidend, denn der „hinsichtlich seiner Seele und seines Leibes veränderliche Mensch kann nicht wesensmäßig geformt werden, auf dass er gerecht und glückselig sei, wenn er nicht zum unveränderlichen Gut, welches Gott ist, hingewendet seinen Stand gewinnt.“ Umgekehrt sei der „Hochmut“ die Ursache dafür, dass der Mensch von Gott abfalle und so seine natürliche Bestimmung verfehle (Sirach 10, 12). Wie die schon existente Erde, auf dass sie Frucht bringe, von dem Menschen, so müsse analog auch der bereits geschaffene Mensch selbst von Gott im geistigen Sinne ‚bestellt‘ werden, auf dass er „fromm und weise“ sei; außerdem bedürfe der Mensch Gottes Schutz, auf dass er sich nicht mehr an seiner eigenen Macht erfreue und die über ihm stehende Gottes verachte. In diesem Kontext verweist Augustinus darauf, dass passenderweise (in der ihm vorliegenden Übersetzung) im Vers Gen 2, 15 Gott das erste Mal „Herr“ genannt wird:637 Denn dies sei in besonderer Weise für den Menschen von Nutzen, weil er auf Gottes Schutz am meisten angewiesen sei. Dabei ist das Abhängigkeitsverhältnis nicht reziprok: Gott braucht nicht für sich (aus ‚egoistischen‘ Motiven) seine Herrschaft und entsprechend den Dienst der Menschen, sondern umgekehrt:638 Der Mensch benötigt die Herrschaft Gottes (ille quippe nostra servitute non indiget, nos vero dominatione illius indigemus). Denn Gott ist das Gute selbst, von welchem der Mensch ontologisch und teleologisch abhängig ist und deshalb „den höchsten Nutzen und das Heil“ von ihm empfängt, wie es auch im Psalm 73, 28 zum Ausdruck komme. Denn von allein, aus sich heraus und ohne Gott sei der Mensch nicht in der Lage, etwas Gutes zu wirken (neque enim tale aliquid est homo, ut factus deserente eo, qui fecit, possit aliquid agere bene tamquam ex se ipso). Dies ist nicht zuletzt die Quintessenz von Augustins Gnadentheologie:639 Nur in der Gegenwart Gottes empfängt der Mensch das Licht der Gnade, Rechtfertigung und Glückseligkeit – sobald er sich seelisch-willentlich abwendet (voluntatis aversione), verliert er dieses Rückgewendet-Sein zu Gottes Licht.640
636 S. o. Kap. 4. 637 Im Vulgata-Text ist dies bereits in Gen 2, 8 der Fall. 638 Der Gedanke dieser nicht-reziproken Abhängigkeitsrelation ist auch im nicht-christlichen Platonismus geläufig, etwa unter dem Begriff des ascheton bei Proklos (vgl. Drews 2009: 274). 639 S. Drews (2009: 221–238), 640 Gn. litt. VIII, 10–12; 247,10–250,26.
27. Der gute Baum der Erkenntnis, der positive Schmerz über den Verlust des Guten, die nicht-notwendige Sünde, das Wissen um das Nichts und die vollkommen gute Natur des Erlösers Der Kirchenvater wird nicht müde, zu betonen, dass es im ursprünglichen, paradiesischen Zustand der Welt kein Übel gab641 (nec ulla ibi natura mali erat, quia nusquam est mali ulla natura). Dies steht nicht nur im Einklang mit dem biblischen ‚Basso continuo‘, dass Gott alles „sehr gut“ erschaffen hat, sondern auch mit dem platonischen Philosophem, dass alles Böse immer etwas primär Gutes voraussetzt, an welchem es als dessen krebsgeschwürartige Beraubung überhaupt erst auf sekundäre Weise seine wucherartige Existenz findet.642 Auch dem Verbot, vom Baum der Unterscheidung von Gut und Böse zu essen, inhäriert gemäß Augustinus kein ‚präexistentes Übel‘: Denn es ziele auf das Gut des Gehorsams, welches der Mensch erwerben sollte – was nur möglich ist, wenn der Mensch einen Freiraum besitzt, sich dem Gebot gegenüber zu verhalten. Entscheidend dabei ist, dass dieser Freiraum nicht bereits ein real existentes Böses impliziert und voraussetzt: Weil das Böse eine nicht-notwendige Privation des Guten ist, muss es gemäß Augustinus auch nicht zur Realisierung kommen.643 Seiner Überzeugung nach weiß und intendiert Gott als das Summum bonum in Person immer das, was für seine Geschöpfe „von Nutzen“, also gut ist (de quo [sc. deo] metuendum non est, ne iubere quod inutile est possit). Deshalb erachtet der Kirchenvater das Streben, sich Gottes guter Herrschaft zu widersetzen bzw. zu entziehen, als das Grundübel schlechthin, während die vollkommene Glückseligkeit für den Menschen darin besteht, Gottes Willen zu lieben. Daher hat dieses vollendete Glück Bestand ohne jegliche Notwendigkeit des Bösen, das nur dann entsteht, falls das Gute pervertiert wird, also die Gutheit Gottes nicht mehr anerkannt, sondern sich ihr widersetzt, sein gutes Gebot hochmütig gebrochen wird in „perverser Imitation Gottes und schädlicher Frei641 S. o. Kap. 21. 642 S. o. Kap. 7 mit Anm. 131. 643 S. Drews (2009: 105–143).
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heit“ (malum autem inoboedientiae, id est superbiae et contumaciae, perversae imitationis dei et noxiae libertatis): Der Mensch versucht, wie Gott zu sein, und verliert so sich selbst und Gott, indem die Schöpfungsordnung ‚auf den Kopf gestellt‘ wird. Ohne die Erfahrung, welche im Übertreten des Gebots liegt, hätte der Mensch – hätten „wir“ – kein Übel erlitten, ja es hätte überhaupt kein Übel gegeben, „hätten wir es nicht begangen“ (quia nullum [sc. malum] esset, si non fecissemus). Auch hier zeigt sich also noch einmal die nicht-deterministische Grundüberzeugung in Augustins Denken.644 Der Mensch ist zwar in seiner geschöpflichen Gutheit veränderlich und insofern dem unveränderlichen Gut Gottes unterstellt; aber genau diese Möglichkeit, die ontologische Beziehung zu Gott als dem Summum bonum „liebend und dienend“ zu wahren, eröffnet ihm einen unverlierbaren Halt und so ein noch „besseres Gut“ zu werden.645 Die höchste Möglichkeit des Menschen besteht gemäß Augustinus also darin, dem wahrhaft höchsten Gut anzuhangen (quia et hoc accepit, ut possit summi boni adhaerere naturae). Insofern ist es „gerecht“, wenn die Entkopplung646 von dem höchsten Gut exakt in dem selbst erzeugten Mangel dieses Guten besteht. Zum Lob des Schöpfers gereicht es, dass der Verlust des Guten schmerzvoll erlitten wird – denn genau dieser Schmerz zeuge noch von dem Rest der gut erschaffenen menschlichen Natur, weil der Verlust des Guten beklagt und nicht einfach gleichgültig hingenommen wird (nam nisi aliquod bonum remansisset in natura, nullus boni amissi dolor esset in poena).647 Wer indes ohne Erfahrung des Bösen das Gute vorziehe, stehe über den Menschen. Dies treffe nur auf den Erlöser, Jesus, den Immanuel („Gott mit uns“), zu, der als „Mittler“ die Menschen wieder mit Gott „versöhnt hat“ und als „Logos bei Gott“, als „Fleisch bei uns“ und als „Logos-Fleisch zwischen Gott und uns ist“ (qui ex genere Israhel factus Emmanuhel nobiscum deus reconciliavit nos deo, hominum et dei homo mediator, verbum apud deum, caro apud nos, verbum caro inter deum et nos). Über diesen habe der Prophet Jesaja (7, 16, LXX) gesprochen, dass er bereits als Knabe das Gute erwähle, bevor er das Böse kenne. Dies sei nur möglich, weil „durch die Klugheit des Guten auch das Böse gewusst wird, auch wenn es nicht [sc. durch Erfahrung] empfunden wird“ (per prudentiam boni malum scitur, etsi non sentitur). Anders als Adam, der seinen eigenen Willen über denjenigen Gottes stellte, wollte Jesus nicht verlieren, was er besaß, und so durch „einzigartigen Gehorsam“ nicht seinen, sondern den Willen des Vaters tun, der ihn geschickt hatte. Dieser Gehorsam (Jh 6, 38) beinhaltet gemäß Augustinus das Geheimnis der Erlösung, weil der Ungehorsam Adams rückgängig gemacht, durchkreuzt wird durch den Gehorsam des Erlösers (1 Kor 15, 22).648
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S. o. Kap. 7, 9, 13, 15, 18. So Augustinus bereits in seinem Frühwerk De libero arbitrio (s. Drews 2009: 31–104). Zum Konzept der Entkopplung in Augustins Denken s. Drews (2009: 189–231). Gn. litt. VIII, 13–14; 251,1–253,18. Gn. litt. VIII, 14; 253,19–254,17.
27. Der gute Baum der Erkenntnis und die nicht-notwendige Sünde
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Damit unterstreicht Augustinus nicht nur die herausgehobene Stellung des Gott-Menschen Jesus Christus, wie sie in einer die Heilige Schrift als Ganzheit begreifenden Lektüre bereits vom Alten Testament her durch die Propheten vorgezeichnet ist. Zugleich steht diese göttliche Fähigkeit, das Schlechte ohne dessen Erfahrung zurückzuweisen und auszugrenzen, in philosophischer Hinsicht im Einklang mit der neuplatonischen Überzeugung, dass das Göttliche zwar auch das Schlechte als Mangel des Guten erkenne, ohne jedoch einen solchen Wesensmangel in sich, im Göttlichen, in irgendeiner Weise zu enthalten: Das Göttliche kennt in sich keinen Mangel und nichts Schlechtes; es weiß aber nichtsdestoweniger um den Mangel, der durch seelische Abwendung vom Guten in den Seelen entstehen kann.649 Das Wissen um das Schlechte und Böse ist selbst nichts Schlechtes und verortet dieses gerade nicht selbst bereits im Göttlichen650 – anders als in dualistischen Religionsphilosophien wie dem Manichäismus, gegen welchen sich Augustinus nach seiner Abkehr von dieser Sekte immer wieder abgrenzt.651 Noch einmal wird hervorgehoben, dass der „Baum des zwischen Gut und Böse unterscheidenden Wissens“ seinen Namen von dem Effekt her besitzt, sollte von ihm verbotenerweise gegessen werden: Weder der Baum in sich selbst noch seine Frucht sind also bereits in prädeterminiert-prälapsarischer Weise ein Übel noch das Verbot, von ihm zu essen. Das Übel ist so lange nicht existent und daher auch nicht necessitiert, wie der Gehorsam gegenüber Gottes guter Weisung eingehalten und so der paradiesische Zustand vollkommener Gutheit und Glückseligkeit bewahrt wird. Der Name selbst hat also eine positive Motivation und Zielsetzung, insofern der Mensch, Gottes Gebot folgend, diesen Baum nicht berühre. Erneut wird somit deutlich, dass es primär um die geistige Dimension, nämlich die des Gehorsams, geht und nicht um eine materielle bzw. um diesen Baum als Pflanze – und doch haben der Baum und das Gebot des Gehorsams ihr jeweiliges spezifisches Gut-Sein gemeinsam. Der Verstoß, die Ursünde, ist nicht notwendig, wie Augustinus wiederum betont, denn der Name des besagten Baumes wäre derselbe, auch wenn niemand jemals das Gebot verletzt hätte. Das Gegenargument, der Mensch habe ja vor dem Sündenfall noch gar nicht wissen können, was denn das Böse und der Tod sei, vermag Augustinus mit einer ganzen Phalanx schlüssiger Entgegnungen zu widerlegen: Sehr oft begreife man Unbekanntes von seinem Gegenteil her (a contrariis), z. B. ‚nichts‘ im Sinne der Negation an Bestimmtheit. Mit dem Gehörsinn urteile man nicht nur über Töne, sondern auch über die Stille. Der Tod werde als Abwesenheit von Leben erkannt und entsprechend vermieden, sogar von Tieren. Auch ‚Auferstehung‘ werde nicht aus Erfahrung, sondern begrifflich aus der Rückkehr vom Tod in ein (verwandeltes) Leben erschlossen. Entsprechend sei auch den ersten Menschen „das Leben süß“ gewesen, ohne die Erfahrung des Todes 649 S. o. Kap. 21 mit Anm. 510. 650 Vgl. Drews (2009: 105–143). 651 S. o. Kap. 25.
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zu kennen. Nur infolge der Überredung durch die Schlange, dass sie gar nicht sterben würden, wenn sie von dem einen Baum äßen, hätten sie ihre Vorsicht aufgegeben, weil sie nicht mehr glaubten, das Leben wirklich zu verlieren. Jedoch: Ergeht Gottes Gebot nur an Adam, d. h. den ‚Mann-Menschen‘? Denn eine Frau hat er zu diesem Zeitpunkt der Erzählung noch nicht. Erstaunlicherweise geht Augustinus an dieser Stelle nicht auf Gen 1, 27 ein, wo bereits die Erschaffung des Menschen nach Gottes Bilde als Mann und Frau formuliert ist, was der Kirchenvater im Sinne der intelligiblen Seinsursachen interpretiert hatte. Zu Gen 1, 27 gibt es in der Augustinus vorliegenden Textfassung von Gen 2, 16–17 jedoch eine Entsprechung: Das Gebot, von allen Bäumen essen zu dürfen, beginnt im Singular (edes); das Verbot, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, endet dagegen im Plural (manducabitis), ebenso wie die Folge des Ungehorsams (moriemini). Zumindest kann Augustinus nicht nur dem Sinn nach schließen, dass Gottes Gebot natürlich auch für Eva gilt, sondern sieht diese theologische Interpretation auch in der lateinischen Fassung, die er liest, philologisch angedeutet. Außerdem gelte gemäß dem Apostel allgemein, dass die Frau vom Mann unterwiesen werde (1 Kor 14, 35): Entsprechend seiner die Bibel als innere Einheit begreifenden Hermeneutik kann der Kirchenvater also seine systematisch-theologische Position, dass Eva von dem Gebot nicht ausgenommen ist, erneut schriftgemäß-exegetisch absichern.652
652 Gn. litt. VIII, 15–17; 254,18–257,17.
28. Gottes Substanz und sein Sprechen im Paradies im literalen Sinn Systematische Rekapitulation der Schöpfungstheologie und Providenztheorie, die Hierarchie ‚Ewigkeit – Zeit – Raum‘ und der Vorrang der Ruhe gegenüber der Bewegung
Während Gottes Sprechen im überzeitlichen Schöpfungsakt des Sechstagewerks (Gen 1) gemäß Augustinus sinnvollerweise nur als „intelligibler Sprechakt“ begriffen werden konnte,653 erscheint dem Kirchenvater die Möglichkeit, dass gemäß Gen 2, 16–17 Gott auch zu Adam „innerlich im Geist gemäß dem Intellekt“ (intus in mente secundum intellectum) gesprochen habe, als unzutreffend. Vielmehr habe Gott zu Adam so, wie auch später zu Mose und den Vätern, „in einer bestimmten körperlichen (Eidos-)Form“ (in aliqua specie corporali) gesprochen. Im Vorgriff auf Gen 3, 8, wo vom Wandeln Gottes im Paradies die Rede ist und davon, dass Eva und Adam seine Stimme hörten, votiert Augustinus also für eine literal-leibhaftige Interpretation von Gottes Präsenz und seiner Stimme. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass hier nichts „Unwürdiges“ über Gottes Wesen gesagt sein soll, über „den höchsten, wahren, einen und alleinigen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, d. h. über Gott und seinen Logos und den Geist beider, über die weder vermischte noch getrennte654 Dreifaltigkeit selbst“ (trinitatem ipsam neque confusam neque separatam). In Gottes Wesen gebe es weder Teilhaftes, das geringer als das Ganze, noch Früheres oder Späteres, das noch nicht oder nicht mehr sei – Gott transzendiert die Kategorien von Raum und Zeit.655 Augustinus resümiert seine bisher entwickelte Schöpfungstheologie: Aus
653 S. o. Kap. 6, 21 sowie 25. 654 Diese beiden Attribute, welche Augustinus hier in Bezug auf die Trinität formuliert, sind auf dem späteren Konzil von Chalkedon (451 n. Chr.) mit Blick auf die Inkarnation des Logos in Jesus Christus dogmatisch festgehalten worden: Die menschliche und die göttliche Natur sind in Jesus Christus „unvermischt und ungetrennt“. 655 S. o. Kap. 16 und 18 sowie Drews (2009: 167–185).
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seiner ewigen Überzeitlichkeit heraus habe Gott „alles zugleich“ erschaffen und aus dem (intelligiblen) Alles-Zugleich die zeitlich-räumliche Materie-Welt.656 Die formlose Materie sei nur dem sachlichen Ursprung, nicht aber der Zeit nach früher als ihre primäre Formung657 (ut formationem suam non tempore, sed origine praeveniret). Als erstes Geschöpf besitze die geistige Kreatur (Engel) die Potenz allein der zeitlichen Veränderung und stehe deshalb zwar hierarchisch unter Gottes überzeitlicher Ewigkeit,658 aber über der ins Räumliche entfalteten körperlichen Kreatur, die sowohl zeitlich wie auch räumlich veränderlich sei (spiritalem autem creaturam corporali praeposuit, quod spiritalis tantummodo per tempora mutari posset, corporalis autem per tempora et locos). Konkret bedeute dies, dass sich die geistige Kreatur rein zeitlich bewege, wenn sie sich an Früheres erinnere, Neues lerne oder wolle. Während also die Zeit als erstes in der Geist-Seele ihre Aktualisierung findet,659 ohne deshalb Räumlichkeit zu implizieren, setzt jegliche räumliche Veränderung bereits die Kategorie der Zeit voraus: Zeit könne ohne Raum, Raum aber nicht ohne Zeit Bestand haben. „Der erschaffene Geist bewegt sich selbst durch die Zeit sowie durch die Zeit und durch Raum Körper; der Schöpfergeist hingegen bewegt sich selbst ohne Zeit und Raum,660 den erschaffenen Geist durch Zeit ohne Raum, Körper durch Zeit und Raum“ (sed spiritus creatus movet se ipsum per tempus et per tempus et locum corpus; spiritus autem creator movet se ipsum sine tempore ac loco, movet conditum spiritum per tempus sine loco, movet corpus per tempus et locum).661 So ergibt sich in Augustins neuplatonisch geprägter Philosophie eine Stufung der Wesen: Als unveränderlich-ewiger Schöpfer transzendiert Gott sämtliche Kreaturen; ihm stehen als erste Kreatur die geschaffenen Geist-Wesen (Engel) am nächsten, insofern sie nur in zeitlicher Hinsicht potentiell veränderlich sind, nicht aber räumlich; unter ihnen stehen die Körperwesen, welche sowohl zeitlich wie auch räumlich veränderlich sind. Als Christ betont der Kirchenvater, dass der transzendente Gott aus seiner Überzeitlichkeit heraus auch Körpernaturen zu bewegen vermag. Dieser Aspekt wird im Folgenden genauer begründet, wobei als Ausgangspunkt die Bewegung als solche dient: Nur die „an die fleischlichen Sinne gewöhnte Seele“ würde meinen, „auch sich selbst mit dem Leib räumlich zu bewegen, während sie diesen räumlich bewegt“ (adfecta quippe anima carnalium sensuum consuetudine etiam se ipsam cum corpore per locum moveri putat, dum id per locum movet). Das sei aber ein Trugschluss, weil die Seele in Wahrheit gar nicht der Räumlichkeit unterliege, sondern lediglich der ihr verbundene Leib. Dieser werde dadurch bewegt, dass jeweils das Bewegende selbst
656 657 658 659 660 661
S. o. Kap. 17-19 und 24. S. o. Kap. 7. S. o. Kap. 6. Zu Augustins Zeit-Theorie erarbeite ich eine eigene Monographie. Im Sinne der innergöttlich trinitarisch-pulsierenden Aktivität (s. o. Kap. 14 und Anm. 40). Gn. litt. VIII, 18–20; 257,18–259,25.
28. Gottes Substanz und sein Sprechen im Paradies im literalen Sinn
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ruht und nur das Bewegte auch bewegt werde,662 wie Augustinus an vielen Beispielen plausibilisiert: So ruhe etwa beim Gehen ein Fuß und trage den Leib, während der jeweils andere (mit dem Bein) bewegt werde. Bewegung kann also immer nur in relativer Abhängigkeit zu etwas Ruhendem erfolgen. Als Bewegungsursache des Leibes setze die Seele willentlich zwar körperliche Bewegungen in Gang, aber vermittelt über einen gegenüber dem bewegten in relativer Hinsicht unbewegten Körperteil. Trotzdem ist die Seele selbst nichts Körperliches, sondern sei „wunderbarerweise durch einen unkörperlichen Willen dem zu belebenden Körper vermischt“ (miris modis ipso incorporeo nutu commixta sit vivificando corpori). Als unkörperlich-geistige Substanz unterliegt die Seele also nicht einer räumlichen Veränderung, ist auch selbst nichts räumlich Ausgedehntes (per loci spatia non distenditur), sondern transzendiert den Leib in dieser Hinsicht und befindet sich selbst gegenüber räumlichen Bewegungen in Ruhe.663 Die seelentheoretischen Überlegungen eröffnen eine wichtige Analogie zu Gott als Schöpfer, auch wenn beide, wie gesehen, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind: Die Seele ist kein Körper und vermag ohne eigene räumliche Bewegtheit allein durch ihre eigene zeitliche Bewegung Körper räumlich zu bewegen; wie die Seele Räumlichkeit an sich und Ortsbewegung transzendiert,664 so liegt in analoger Weise Gott sogar jeglicher zeitlichen Veränderung voraus. Wer die relative Transzendenz der Seele gegenüber Körper und Raum argumentativ durchschaut, dem eröffnet sich so ein systematisch begründetes Verständnis für die absolute Transzendenz Gottes. Letztere pflegt Augustinus mit den Begriffen der absoluten Unveränderlichkeit und Ewigkeit zum Ausdruck zu bringen (omnino incommutabilis est illa natura trinitatis et ob hoc ita aeterna). Dem Wesen des dreieinigen Gottes ist nichts „gleichewig“; vielmehr ist die Trinität „selbst bei sich selbst und in sich selbst ohne Zeit und Raum, bewegt aber durch Zeit und Raum die ihr unterstellte Schöpfung, indem sie Wesen erschafft aus ihrer Gutheit, Willen ordnet durch ihre Macht.“ Jede Wesensnatur ist von dem dreieinigen Gott erschaffen worden, jede gute Willensregung ist von Gott unterstützt (hier kommt Augustins Gnadenlehre ins Spiel665), jede schlechte wird trotzdem noch auf gute Weise von Gottes Vorsehung genutzt, ohne dass das Schlechte damit zu etwas in sich selbst Gutem deklariert würde.666 Innerhalb der Schöpfungsordnung stehen die mit Willensfreiheit begabten Kreaturen über denjenigen, welchen diese Fähigkeit fehlt. Da ein sich vom Guten abgewendet habender Wille im Widerstreit mit 662 Hier besteht eine sachliche Verwandtschaft mit dem unbewegten Beweger bei Aristoteles, metaph. 1072b. 663 Gn. litt. VIII, 21–22; 259,26–261,28. 664 Somit erscheint die von Augustinus zuvor nicht ausgeschlossene Möglichkeit, die Seele könne sich eventuell nach dem irdischen Tod an einem anderen Ort, etwa dem Paradies, befinden, eher unplausibel, obwohl sie theoretisch an eine andere leibliche Wirklichkeit gebunden und insofern an einem anderen ‚Ort‘ sein könnte (s. o. Kap. 25, mit Anm. 616). 665 S. o. Kap. 16 sowie Anm. 279 und 350. 666 Vgl. Drews (2009: 158–9; 107–8, mit Anm. 227).
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Gottes Schöpfungsordnung steht, wird dieser schlechte Wille bestraft, ohne jedoch „die Würde des betreffenden Wesens zu zerstören“ (qui numquam ita punit voluntatem malam, ut naturae perimat dignitatem). Dabei erfolgt die Strafe nicht aus sadistischen Motiven, sondern mit dem Ziel, das Schlechte wieder zum Guten zurückzuführen.667 Bezeichnend ist dabei, dass Augustinus den Begriff der Würde eines Geschöpfs ins Spiel bringt: Diese Würde dürfe durch keine Strafe aufgehoben werden; vermutlich gehört es zur Würde eines Wesens, eine gerechte Strafe, die auf die Rückwendung zum Guten zielt, zu erleiden.668 Die gesamte Schöpfung – die vernunftbegabten und freien Wesen wie die ohne diese Auszeichnungen versehenen – lenkt Gottes Vorsehung gleichermaßen, „die Wesen, auf dass sie sind, die Willensakte aber, auf dass die guten nicht fruchtlos und die schlechten nicht unbestraft bleiben“ (ergo dei providentia regens atque administrans universam creaturam, […], naturas, ut sint, voluntates autem, ut nec infructuosae bonae nec inpunitae malae sint). Dabei ist die gesamte Schöpfung Gott unterworfen, innerhalb der Schöpfung aber „die körperlichen Kreaturen den geistigen und die vernunftlosen den vernunftbegabten, die irdische der himmlischen und die weibliche der männlichen.“ Diese für einen modernen Leser zweifellos schwer erträglichen Zeilen finden im Kontext der Frau und Mann gemeinsamen Gottesebenbildlichkeit ein entscheidendes Korrektiv; auf die Rolle der Frau kommt Augustinus später genauer zu sprechen.669 „Unter den Willensbestrebungen sind die guten der Vorsehung unterstellt, die übrigen denjenigen, welche sich im Einklang mit der Vorsehung befinden, auf dass ein schlechter Wille erleidet, was der gute aus dem Gebot Gottes heraus tut.“ Bereits „in sich selbst haben die bösen Willensregungen als ihre innere Strafe diese ihre eigene Ungerechtigkeit selbst“ (nam in se ipsis malae voluntates habent interiorem poenam suam eandem ipsam iniquitatem suam).670 Das jeweils Geringere ist somit dem Höheren unterstellt; das Schlechte aber, was in sich selbst nicht notwendig ist, erscheint dadurch in Gottes Ordnung integriert, dass es seine angemessene Strafe findet, um wieder zu seiner Gutheit zurückzukehren, weil es der Grundansatz allen providentiellen Wirkens ist, das Gute entweder zu bewahren oder wiederherzustellen.671 Die gesamte Schöpfung steht somit unter Gottes Ordnung, weil er als der selbst Unbewegt-Unveränderliche die zeitlich veränderlichen Seelen sowie die zeitlich und räumlichen Veränderungen unterliegenden Körper im Rahmen seiner Schöpfungsordnung672 lenkt und in diese integriert. Den Engelseelen, die Gottes Wahrheit schauen (veritatem incommutabilem vident)673 und genießen, ist gemäß Augustinus „die gesamte körperliche Natur, alles unvernünf667 668 669 670 671 672 673
Zu Augustins christlich-platonischem Strafbegriff vgl. Drews (2009: 4–5, mit Anm. 8). Dies ist sachlich gemeint, nicht zynisch-missbräuchlich. S. Drews (2009: 24–29, 163). S. u. Kap. 29. Gn. litt. VIII, 23; 262, 1–29. Vgl. Drews (2009: XI, 134). S. o. Kap. 12-13. S. o. Kap. 10.
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tige Leben, jeder schwache oder verkehrte Wille unterstellt, auf dass sie das über sie bringen oder zusammen mit ihnen tun,674 was die Schöpfungsordnung in allem auf Gottes Geheiß hin fordert.“ Die Engel setzen also, insofern sie nicht von Gott abfallen, Gottes Schöpfungswillen um und unterliegen, da sie Seelen sind, potentiell der Zeitlichkeit, insofern sie aber Gottes Wahrheit schauen und auf die Ewigkeit ausgerichtet sind, gewinnen sie gleichwohl „ohne Raum und Zeit“ Anteil an ihr (fiunt ergo illi participes aeternitatis, veritatis, voluntatis eius semper sine tempore et loco). Dies steht im Einklang mit Augustins bereits zu Beginn von De Genesi ad litteram erwogener Möglichkeit, dass die Engel ihre Zeitlichkeit nicht zwangsläufig im Sinne eines ständigen Umschlagens von einem Zustand in einen anderen aktualisieren müssen, sondern Anteil an der Ewigkeit erlangen: „Anteil“ bedeutet aber genau dies – einen An-Teil zu empfangen, ohne dass die Engel deshalb Gott gleichewig wären.675 „Auf Gottes Willen hin bewegen sie sich jedoch auch auf zeitliche Weise, während er zeitlich unbewegt ist.“ Den Engeln kommt also die entscheidende Systemstelle zu, zwischen Gottes ewiger Wahrheit, die sie zeitfrei schauen, und ihrer zeitlich-räumlichen Umsetzung zu vermitteln, indem sie als Engel zeitliche Bewegungen raumlos vollziehen, dadurch aber die Körperwesen bewegen, die zeitlich und räumlich bewegt sind. Auf diese Weise ist Gottes Vorsehungswirken zweigeteilt, insofern er bei den Wesen wirkt, „dass sie werden bzw. sind“, und bei den willensbegabten Wesen, „dass sie ohne seinen Befehl oder sein Erlauben nichts ausrichten.“676 Als stützende Seins- und Erhaltungsgrundlage des körperlichen Universums (universitas corporalis) finde sich keine weitere körperliche Ursache, weil diese sonst außerhalb des Universums gesucht werden müsste, womit dieses nicht mehr allumfassender Inbegriff der Körpernatur wäre. Vielmehr werde das materielle Universum von innen auf unkörperliche Weise von Gott erhalten (intrinsecus autem adiuvatur incorporaliter deo id agente), wie Augustinus unter Rekurs auf Rö 11, 36a unterstreicht. Im Unterschied zum Universum als ganzem gelte für die Teile des Universums jedoch, dass sie neben Gottes geistiger Providenz zugleich auch von außen auf körperliche Weise durch Ernährung, Ackerbau, Heilkunst usw. erhalten und verschönert werden. Während Augustinus also mit Blick auf die Erhaltung der Körperwelt eine Differenzierung zwischen ihrer Ganzheit und ihren Teilen veranschlagt, gilt diese für die geistige Kreatur der Engel, „wenn sie vollkommen und glückselig ist“, d. h. wenn die Engel nicht von Gott abfallen, nicht: Denn die Geistnatur werde ausschließlich auf geistige Weise von Gott unterstützt, nämlich durch sein „inneres Sprechen“ (nonnisi intrinsecus incorporaliter adiuvatur. intus ei quippe loquitur deus), welches nicht nur ohne Schrift oder akustisch
674 Dies entspricht Augustins Überzeugung, dass Gottes Wille entweder von den Geschöpfen selbst kooperativ umgesetzt wird oder aber – bei verweigerter Kooperation – „an ihnen“ geschieht (ench. 28, 107; corrept. 14, 43). Vgl. Drews (2009: 161, mit Anm. 351). 675 S. o. Kap. 5. 676 Gn. litt. VIII, 24; 263, 1–16.
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vernehmbare Stimmen auskomme,677 sondern auch die Ebene der bildlich-spirituellen Vorstellung transzendiere (neque per corporum similitudines, quales in spiritu imaginaliter fiunt), da der „rationale und intellektuale Geist“ der Engel Gottes Wort „in der unveränderlichen Wahrheit selbst schaut“ (quod in ipsa incommutabili veritate mens rationalis et intellectualis intuetur). Auf diese Weise würden die Engel „von innen her durch die Ewigkeit, Wahrheit und Liebe des Schöpfers“ unterstützt und äußerlich bestenfalls dadurch, dass die Engel einander in ihrer Gemeinschaft sehen, sich über diese in Gott freuen und den Schöpfer gemeinsam loben. Aus dieser Schau heraus würden die Engel Gottes Vorsehung für alle Wesen und speziell für die Menschen entfalten, sei es durch Visionen oder die Körper, welche der Macht der Engel unterlägen. Abschließend resümiert der Kirchenvater, dass Gott, der Zeit und Raum transzendiere, die geistige Natur (der Engel) zeitlich, die Körpernatur zeitlich und räumlich bewege, wobei ihm die untergebenen Willen der Engel zu Dienste stehen. Der spezifische Zeitpunkt und Ort der Bewegung habe seinen Vernunftgrund in Gottes zeit- und ortlosem Leben. Auf keinen Fall dürfe von dem sich zeitlich und räumlich entfaltenden Wirken der Vorsehung auf eine Veränderung in Gott zurückgeschlossen werden, da nicht einmal das Erschaffen der Seinsgründe sich zeitlich vollziehe, sondern nur „das äußerliche Lenken der innerlich geschaffenen Naturen“. So sei Gott einerseits „jeder Sache innerlicher, weil alles in ihm sei (Rö 11, 36a), andererseits jeder Sache äußerlicher, weil er selbst über allem“ sei (interior omni re, quia in ipso sunt omnia, et exterior omni re, quia ipse est super omnia). Dies kann Augustinus deshalb ohne sachlichen Selbstwiderspruch behaupten, weil die intelligiblen Seinsgründe eben selbst „von innen“ durch Gottes Logos erschaffen und prinzipiiert werden und ihre Innerlichkeit von Gottes Logos übertroffen wird; andererseits ist damit freilich kein Pantheismus intendiert, weil Gott nie in seinen Geschöpfen ‚drinsteckt‘ oder in ihnen aufgeht, sondern selbst als der Ewige alles transzendiert. In diesem Sinne sei Gott „älter und jünger“ als alles: älter, weil er allem vorausliege; jünger weil er immer noch derselbe ist und auch nach allem sein wird (incommutabili aeternitate et antiquior est omnibus, quia ipse est ante omnia, et novior omnibus, quia idem ipse post omnia; vgl. Jes 41, 4).678 Diese letzten Ausführungen stehen in sachlicher Nähe zu Platon, welcher die Transzendenz des Guten durch das „Vorrecht des Alters“ (presbeia) beschreibt679 und in gewisser Weise auch zu Proklos, der über den Bereich des Werdens ausführt, dass z. B. Sokrates nicht nur älter, sondern auch jünger als er selbst werde, da auch das Jüngere immer noch in Veränderung begriffen sei und nicht unverändert ‚jünger‘ bleibe:680 Je älter etwas wird, desto jünger wird das, was jung an ihm war, und desto älter das, was alt ist, da die zeitliche Ausdehnung insgesamt zunimmt und die Extre677 678 679 680
S. o. Kap. 3, 6 und 21. Gn. litt. VIII, 25–26; 263,17–265,22. epekeina tês ousias presbeia kai dynamei hyperechontos [sc. tou agathou] (Platon, resp. 509b). Proklos, in Parm. 1230,32–1231,5.
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me daher größer werden. Die innerzeitlichen Kategorien ‚jünger‘ und ‚älter‘ werden jedoch transzendiert von dem, in welchem diese Gegensätze zusammenfallen: von der Ewigkeit bzw. dem Ewigen, wie Augustinus ausführt. Am Ende des achten Buchs von De Genesi ad litteram kommt der Kirchenvater noch einmal auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurück, auf welche Weise Gott zu Adam gesprochen habe (Gen 2, 16–17). Zunächst schickt er voraus, dass dieses Sprechen nicht im „eigentümlichen Sinn verstanden werden“ könne. Entsprechend seiner schon zu Beginn des Werks über Gottes Sprechen vorgenommenen Reflexion geht Augustinus auch jetzt von grundsätzlich zwei Möglichkeiten aus, wie Gott habe sprechen können: entweder durch sein Wesen oder durch eine ihm unterworfene Kreatur. Während er letztere Option mit Blick auf Gen 1 verworfen hatte – da ja zu Beginn der Schöpfung noch gar kein Geschöpf erschaffen war, dessen sich Gott hätte bedienen können681 –, wird sich die Sache im Kontext von Gen 2 jetzt anders darstellen. Zuvor resümiert der Kirchenvater jedoch, dass Gott durch seine Substanz den Schöpfungslogos ‚ausworte‘,682 um die Geschöpfe zu erschaffen und die geistige Kreatur, also die Engel, „zu erleuchten“,683 da diese sein „Sprechen“ im Sinne seines intelligiblen Sprechakts „erfassen“ könnten so, wie es in seinem gleichewigen Logos innerhalb von Gottes Substanz sei (cum iam possunt capere locutionem eius, qualis est in verbo eius). Zu denjenigen Geschöpfen jedoch, welche dazu nicht in der Lage sind, spreche Gott vermittelt durch eine Kreatur, entweder eine geistige (wie im Traum) oder eine körperliche.684 Wenngleich Augustinus noch einmal erwägt, dass Gott ‚direkt‘ zu Adam (wie zu den Engeln) gesprochen und Adams „Geist zeitlich bewegt“ haben könnte entsprechend der biblischen Aussage, dass die göttliche „Weisheit zu den frommen Seelen übergeht“ (Sap 7, 27), erscheint es ihm doch naheliegender, dass es dem Menschen Adam nicht in gleicher Weise wie den Engeln möglich war, Gottes intelligibles Sprechen als solches zu vernehmen, sondern dass er auf eine zeichenhafte Vermittlung angewiesen war685 so, wie die gewöhnlichen Menschen auf Propheten oder die Propheten selbst auf Engel. Für einen gläubigen Christen sei es daher nicht vorstellbar, dass Gott durch seine geistige Substanz im Paradiesgarten gewandelt sei, wie es später heißt (Gen 3, 18), sondern dies habe sich nur zutragen können, indem Gott sich einer von ihm erschaffenen Kreatur bedient habe (quia non per ipsam dei substantiam, sed per subditam ei creaturam factum est, nullo modo dubitat, qui fidem catholicam sapit). Explizit wendet sich Augustinus gegen Häretiker (Arianer), die meinen, die Substanz von Gott-Sohn sei 681 682 683 684
S. o. Kap. 3 und 6. S. o. Anm. 63. Vgl. o. Kap. 4, 6, 7, 10, 11 und 14. Diese Differenzierung erinnert an die Daimonologie des Mittelplatonikers Apuleius in De Deo Socratis: Auch im paganen Kontext sprechen Götter nicht direkt, sondern durch ihnen verbundene Mittlerwesen (daimones) zu Menschen (s. dazu Drews 2009: 538–557). 685 Davies (2009: 261) konstatiert in Abgrenzung zu einigen Forschungsmeinungen: „Adam never enjoyed an intellectual intuition […] that would qualify as full and angelic vision.“
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von sich selbst her, auch ohne Annahme eines Leibes, sinnlich wahrnehmbar. Augustinus argumentiert dagegen, dass „niemand Gott je gesehen hat noch sehen kann“ (1 Tim 6, 16), also sein Wesen unsichtbar, rein geistig ist und dies nicht nur von Gott-Vater gelte. Dies aber impliziert zweierlei: 1. Die Menschwerdung Gottes ist umso ‚skandalöser‘, außerordentlicher, weil der Sohn, selbst göttlichen Wesens, die menschliche Natur annimmt. 2. Auch für die Paradiesgeschichte muss gelten, dass Gottes Wesen von sich selbst her nicht sinnlich wahrnehmbar, also unkörperlich ist.686 Methodisch erscheint es für Augustins Projekt einer literalen Exegese der Genesis durchaus angemessen, dass er für Gen 1 und 2 verschiedene Auslegungsformen veranschlagt – und dies lässt sich, auch modern bzw. historisch-kritisch argumentierend, keineswegs einfach dadurch erklären, dass man von zwei verschiedenen Texten ausgeht oder dass der Kirchenvater eben im Laufe von Buch VIII ‚heimlich‘ seine Methode gewechselt habe.687 Denn auch eine historistische ‚Erklärung‘ kommt letztlich nicht um die systematisch-theologische Frage herum, dass gemäß Gen 1 Gottes Sprechen nicht in einem akustischen Sinn zu begreifen ist, weil gemäß dem Text weder die Bedingungen für ein solches Sprechen und Hören noch entsprechend zu hören fähige Kreaturen bereits existieren. Dieses Interpretationsproblem muss auch eine moderne Exegese, wenn sie Gen 1 ernst nehmen will, in irgendeiner Weise zu klären versuchen. Augustinus stellt sich dieser exegetischen Hürde in einer dem Text wie der systematischen Fragestellung adäquaten Art und Weise, obgleich er stets betont, dass seine Interpretation nur ein Vorschlag ist und vielleicht noch bessere gefunden werden können. Zumindest hat er berechtigte Gründe auf seiner Seite, von ganz verschiedenen Rahmenbedingungen für Gen 1 und 2 auszugehen: In Gen 2 spricht Gott zu Adam, nachdem das Paradies bereits erschaffen wurde, während zumindest der Anfang von Gen 1 darüber handelt, wie überhaupt Himmel, Erde, Licht etc., also die Bedingungen des Seins, Lebens und Erkennens erst konstituiert werden: Es macht einen Unterschied, ob Gottes Sprechen dazu führt, dass z. B. Licht hervorgebracht wird, oder ob dem Menschen ein konkretes Gebot erteilt wird. Freilich verläuft die Grenze für diese beiden verschiedenen Kontexte nicht exakt entlang der Kapitelunterteilung des Buchs Genesis (vgl. Gen 1, 22+28). Trotzdem hat Augustins Erklärung, dass Gen 1 von den intelligiblen, eidetischen Seinsprinzipien handelt, insofern ihre Berechtigung, als in besonderer Weise die Erschaffung des Lichts vor derjenigen der Gestirne eine andersartige Interpretation dieses Lichts zwingend erforderlich macht. Augustinus deckt also, weil er dem Text literal folgt, ein Problem auf, bei dessen systematisch-theologischer Lösung ihm die platonische Philosophie mit der Differenzierung zwischen intelligiblem Sein und materieller Existenz hilft: Diese Philoso-
686 Gn. litt. VIII, 27; 265,23–267,18. 687 Vgl. dazu oben Anm. 67.
28. Gottes Substanz und sein Sprechen im Paradies im literalen Sinn
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phie ‚importiert‘ der Kirchenvater jedoch nicht einfach ‚in den Text‘, sondern er geht vom biblischen Text und den in ihm vorzufindenden Spezifika und ‚Merkwürdigkeiten‘ aus und versucht, diese zu (er-)klären. Insofern lässt sich seine hermeneutische Methode insgesamt nicht anders denn als literal bezeichnen, weil sie immer wieder die Rückbindung an den Text (in der ihm vorliegenden Fassung) sucht. Speziell für Gen 2, 16–17 und 3, 8 bleibt festzuhalten, dass Augustinus seinem exegetischen Projekt treu bleibt: Wenn es zwingend erforderlich ist und kein anderer, sachlich vertretbarer theologischer Sinn möglich erscheint, ist die literale Exegese nicht auf lediglich vordergründige Buchstäblichkeit festgelegt, sondern muss, weil sie den Text dem Wort nach ernst nimmt, nach Referenten suchen, auf die das Gesagte widerspruchsfrei bezogen werden kann: Während in Gen 1, 3 das zuerst erschaffene Licht gerade nicht das körperliche der Gestirne sein kann, ist in Gen 2, 16–17 und 3, 8 die körperliche Dimension von Gottes Handeln im Text nicht zu leugnen, muss aber im Einklang mit Gottes Geist-Wesen gedacht werden können: Da in diesem ‚Stadium‘ des Schöpfungsgeschehens bereits alle Geschöpfe erschaffen worden zu sein scheinen, bietet sich inhaltlich die Interpretationsmöglichkeit an, dass Gott sich Mittlerwesen bedient haben könnte, um auf leibliche Weise seine Präsenz im Paradiesgarten zu zeigen. Auch hier ‚setzt‘ Augustinus diese Deutung jedoch nicht einfach ‚aus reiner Subjektivität‘, sondern zieht sie deshalb in Betracht, weil sie von der Heiligen Schrift insgesamt gedeckt ist, d. h. weil in der Bibel andernorts von Engeln bzw. Propheten als Mittlerwesen zwischen Gott und Mensch eindeutigerweise die Rede ist: scriptura ipsius interpres – „die Heilige Schrift deutet sich selbst“, wenn man schwierige Bibelstellen mit Hilfe solcher interpretiert, deren Sinn eindeutiger zutage liegt. Literale Exegese bedeutet für Augustinus somit niemals ein sacrificium intellectus, sondern das Gegenteil: Sie ist genau dann literale Exegese, wenn sie auch vernünftig, d. h. philosophisch begründet und theologisch schlüssig den Text auszulegen weiß. Für den Kirchenvater wäre es schwer vorstellbar, Exegese und systematische Theologie strikt zu separieren – beide sind aufeinander angewiesen. Dass literale Auslegung nicht per se identisch ist mit dem ‚historischen Sinn‘,688 wie er modern aufgefasst wird, und dass vor allem nicht der Buchstabe gegen den Geist gewendet darf, ist bereits oben abgeleitet worden689 – auch dieses exegetische Prinzip ist schriftgemäß (2 Kor 3, 6; Rö 2, 29; 7, 6).
688 S. o. Kap. 6, 7, 16, 25 und 26 sowie Anm. 14. 689 S. o. Kap. 16 mit Anm. 353.
29. Das Spezifikum der Frau, der bleibende Segen der Fruchtbarkeit auch nach dem Sündenfall sowie das Gut der Ehe und das der Jungfräulichkeit Gnade und freier Wille Das neunte Buch von De Genesi ad litteram beginnt mit der Exegese der Verse Gen 2, 18 ff. Augustinus lenkt den Fokus kurz auf das kleine Wort adhuc („zudem“) in Vers 19: Wieso wird gesagt, dass Gott „zudem von der Erde alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels gebildet“ habe (finxit adhuc deus de terra omnes bestias agri et omnia volatilia caeli)? Die Antwort wurde längst erarbeitet: Im überzeitlichen Sechstagewerk, von welchem Gen 1 berichtet, sind die intelligiblen Schöpfungsgründe erschaffen worden, während mit Gen 2, 6 ff. die zeitlich-materielle Entfaltung jener eidetischen Seinsgründe beginnt.690 Genau in diesem Sinne sei auch das Adverb adhuc zu verstehen, dass nämlich „sodann die Ursachen zu ihren Wirkungen hingeführt werden sollten“ (ut deinde ad effectus suos causae perducerentur). Auch wenn der Kirchenvater diese seine Interpretation für gut begründet erachtet, beteuert er aufs Neue, dass er demjenigen, der eine überzeugendere Deutung vorlegen könne, „zu gratulieren“ nicht zögern würde. Dass dies ernst gemeint ist, darf als sicher gelten: Augustinus hätte es nicht nötig gehabt, seine exegetischen Ergebnisse derart verhalten zu entfalten;691 seine Vorsicht verdankt sich einzig der ihm ständig präsenten Möglichkeit, jemand anders vermöchte mit tiefer gehendem Durchblick die biblischen Texte zu erhellen. Wie ebenfalls bereits früher konstatiert wurde, sind im Sechstagewerk die Vögel aus dem Wasser erschaffen worden.692 Zur Auflösung dieser Spannung innerhalb des biblischen Textes unterbreitet Augustinus zwei Lösungsmöglichkeiten: Entweder die Heilige Schrift übergehe die wahre Materialursache an dieser Stelle oder aber „Erde“ sei im Sinne der universalen
690 S. o. Kap. 18. Vgl. Kim (2006: 155) 691 S. o. Kap. 3. 692 S. o. Kap. 12.
29. Das Spezifikum der Frau – Fruchtbarkeit – Ehe – Gnade und Wille
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Materie zu verstehen,693 so dass das Wasser gleichsam mitgemeint sei, obwohl nur von der Erde die Rede ist (aut terram universaliter sic appellatam simul cum aquis).694 Hinsichtlich der Frage, auf welche Weise Gott gesprochen habe: „‚Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei‘“ (Gen 2, 18), erwägt der Kirchenvater die bereits bekannten Erklärungsvarianten: dass Gott in den Geist (mens) des Menschen hineingesprochen haben könnte oder durch einen Engel, eine Vision oder durch eine körperhafte Kreatur.695 Denn unvermittelt – allein durch seine eigene Substanz – habe Gott sicher nicht gesprochen, auch wenn außer Frage steht, dass er diese Worte auf irgendeine Weise geredet habe (certissime teneamus et dixisse hoc deum […]). So lenkt Augustinus den Fokus jetzt auf den Inhalt des Gesagten. Ohne dass er das an dieser Stelle eigens betont, legt er die Schrift auch jetzt getreu dem Grundverständnis aus, dass Gen 2 die materiell-körperliche Verwirklichung der gemäß Gen 1 vorausliegend erschaffenen intelligiblen Seinsgründe beinhaltet: Dass Adam also eine Frau zugesellt wird, sieht Augustinus im Einklang mit Gen 1, 27, wo bereits von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau die Rede war. Denn die fruchtbare und gesegnete Vereinigung von Mann und Frau sei auch nach dem Sündenfall erhalten geblieben, da es sonst keine weiteren Generationen von Menschen gegeben hätte (quae ratio conditionis et coniunctionis masculi et feminae atque benedictio nec post peccatum hominis poenamque defecit). Adam allein – als männlicher Mensch – wäre unfruchtbar und allein geblieben; erst die Frau eröffnet die Möglichkeit der fruchtbaren Vermehrung; als Analogie bemüht der Kirchenvater die Verbindung von Samen und fruchtbarer Erde, aus welcher erst eine Pflanze hervorsprieße. Ohne Sündenfall hätte es, so Augustins Annahme, Sexualität „ohne das Brennen der Lust“ sowie Gebären „ohne Mühe und Schmerz“ gegeben (sine ullo inquieto ardore libidinis, sine ullo labore ac dolore pariendi). Ohne zu sterben, hätten Eltern ihre Kinder aufwachsen sehen und aus dem „Baum des Lebens die körperliche Kraft genommen“, bis die „vollendete Zahl“ der Menschen im Gehorsam gegenüber Gott erreicht gewesen und die „Umwandlung“ der irdischen in geistige Körper geschehen wäre.696 Diese Seinsmöglichkeit würde nur bestreiten, wer sich allzu sehr von der Gewohnheit an die gefallene Natur und die Sinneswahrnehmungen leiten lasse. In nicht explizit gemachter Analogie dazu, dass Seelen mit verschiedenartigen Leibern bekleidet werden können,697 verweist Augustinus auf die Schrift, gemäß welcher die Israeliten 40 Jahre lang dieselben, vor jeglichem Schaden bewahrten Kleider hätten tragen können (Dt 29, 4). Zugleich zieht der Kirchenvater noch eine weitere Möglichkeit in Betracht: Die Menschen hätten nach gehorsamem Lebenswandel ohne Tod auch in einen Zwischenzustand verwandelt werden können, der besser sei, als der erste, wenn-
693 694 695 696 697
Vgl. o. Kap. 4. Gn. litt. IX, 1; 267,20–269,22. S. o. Kap. 28. S. o. Kap. 22. Dies gilt schon für Paulus (vgl. Drews 2018: 202–5).
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gleich noch nicht der endgültig den Engeln gleichartige. Als Beispiel für eine solche Verwandlung, die noch nicht die endültige ist, verweist Augustinus auf Elias, der aus diesem Leben „nicht durch Tod, sondern durch Versetzung/Entrückung geschieden“ sei (de qua [sc. vita] ille tamen non morte, sed translatione migravit). Der Kirchenvater spielt im Blick auf Elias und Henoch zumindest mit der Möglichkeit eines „anderen Lebens vor der Auferstehung der Toten“ (nunc tamen in alia vita sunt, ubi ante resurrectionem carnis, antequam animale corpus in spiritale mutetur, nec morbo nec senectute deficiunt). Da der Sündenfall entweder direkt nach Evas Erschaffung oder wenigstens vor dem göttlichen Auftrag, Kinder zu zeugen, erfolgt sei, habe sich der Mensch nur in sterblichem Zustand fortgepflanzt. Die Art und Weise, wie Augustinus die Erschaffung Evas begründet, wirken auf den (post-)modernen Leser zwar befremdlich: Der Mann könne den Acker besser bestellen als eine Frau; der Trost, welchen zwei befreundete Männer sich schenken könnten, sei besser als der einer Frau. Der ‚Nutzen‘ der Frau als „Gehilfin“ könne also nur im Gebären der Kinder bestehen (quapropter non invenio, ad quod adiutorium facta sit mulier viro, si pariendi causa subtrahitur). Gleichwohl sollte hier nicht übersehen werden, dass der Kirchenvater der Frau damit zugleich einen unvergleichlichen Wert zuspricht: Das Gebären von Kindern ist eine spezifische Auszeichnung der Frau, da nur durch sie überhaupt erst diese Möglichkeit in die Welt kommt.698 Im Sinne einer ausgewogenen Bewertung der Rolle der Frau gemäß Augustinus sollte, bevor man seine Sichtweise kritisiert, zumindest zweierlei positiv betrachtet werden: 1. Das Gebären von Nachkommen ist in leiblicher Hinsicht ein durch und durch positives proprium, welches einzig und allein der Frau zukommt. 2. Mit Blick auf die geistige Natur des Menschen macht der Kirchenvater keinen Unterschied zwischen Mann und Frau: Beide Geschlechter sind gleichermaßen und unterschiedslos Abbild Gottes durch ihre Vernunftbegabung, so dass Augustinus in dieser Hinsicht tatsächlich eine Gleichrangigkeit von Mann und Frau vertritt.699 698 Gn. litt. IX, 2–6; 269,23–275,9. Eine ausgewogene Interpretation dieser zur Kritik ‚einladenden‘ Passage im Zusammenhang mit weiteren einschlägigen Stellen aus Augustins Werk und in Abgrenzung z. B. zu Ambrosius und Dracontius gibt Conybeare (2018), indem sie „the quotidian miracle of childbirth“ (ibd., 192) ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Conybeare verweist zunächst auf den etymologisch in adiutorium enthaltenen Aspekt iuvare: „not just of assistance, but of pleasure“ (ibd., 184) und arbeitet heraus, dass „the derivation of Eve from Adam not a matter of automatic gender subordination, or sexual service, or house-building“ sei: „it interprets the mode of her creation as ensuring that every member of the human race is born into relation with every other one“ (ibd., 189). Mit Augustinus und Hannah Arendt, vom Kirchenvater inspiriert, lasse sich Evas Erschaffung als völlig neue Seinsmöglichkeit „towards birth, beginning, and becoming“ lesen, sogar als Gegenentwurf zu Heideggers „being towards death“ (ibd., 191). Wäre der Mensch nicht gefallen, wäre Sexualität gemäß Augustinus nicht Ausdruck unkontrollierter Lust, sondern von „plenitude and delight“ (ibd., 196–7), also etwas vollkommen Positives. 699 S. o. Kap. 14 zu Gn. litt. III, 22; 89, 9–18. Aus feministisch-theologischer Sicht verteidigt Børresen (1990: 411, 415) einerseits „Augustine’s ‚feminism‘“ und „his imitable intention“ (ibd., 424) und hebt zu Recht hervor: „Since femaleness is part of initial human perfection, women will not be res-
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Durch die Hervorhebung, dass die spezifische Fähigkeit der Frau in körperlicher Hinsicht das Gebären von Kindern ist, stellt sich für Augustinus unweigerlich die Frage, wieso dann die Jungfräulichkeit ein so großes Ideal darstellen könne. Dies sei deshalb der Fall, weil gewissermaßen der Verzicht auf die körperliche Vereinigung mit einem Mann bereits etwas vorwegnimmt, was der engelsgleichen Konstitution des Menschen in der Auferstehung entspreche, wenn der Mensch einen geistigen Leib700 empfangen werde. In der Ehe sei der sexuelle Verkehr dagegen nicht nur erlaubt, sondern ein hohes Gut, „so dass, was den Gesunden eine Pflicht sein könnte, den Kranken ein Heilmittel sei“ (ut quod sanis esse posset officium, sit aegrotis remedium). Die eheliche Einheit von Mann und Frau könne niemals Sünde sein, weil sie ein dreifaches Gut darstelle: Treue, Nachkommenschaft und Sakrament. Die Treue beziehe sich darauf, dass keiner der Partner mit einem/einer anderen verkehre; das Kind sei auf liebevolle und religiöse Weise aufzuziehen; das Sakrament beziehe sich auf die Unauflöslichkeit der ehelichen Verbindung. Insofern nehme der Ehestand die Mitte ein zwischen der positiven Würdigung der Fruchtbarkeit und der Zügelung der Unenthaltsamkeit. Augustinus verweist selbst auf seine Schrift De bono coniugali, wo er diese Dinge genauer darstelle.701 Es sei
tored to Christlike humanity by resurrecting as males“ (ibd., 417). Andererseits meint sie: „When both women and men are created in God’s image, God must correspondingly be described with both male and female metaphors“ (ibd., 425). Dies geht – unabhängig von jeglicher gender-Perspektive – zumindest an Augustins Theologie aus sachlichen Gründen vorbei: Erstens ist der Mensch – als „inclusive homo“, wie auch Børresen (ibd., 417) konstatiert – ein Abbild Gottes und nicht Gott ein Abbild der Menschen. Zweitens verortet der Kirchenvater die Abbildhaftigkeit des Menschen aus guten Gründen in der rational-intellektiven Begabung des Menschen, welche als solche unabhängig von körperlich-geschlechtlicher Differenzierung besteht. Dies hat nichts zu tun mit einer „defeminised equality by means of sexless imago Dei“ (ibd., 425); es ist bezeichnend, dass Børresen ‚Geschlechtslogikeit‘ und dominierende Maskulinität sogar gleichsetzt (ibd., 420, 411, 425); auf keinen Fall lässt sich aus der intellektiven Abbildhaftigkeit ein „conflict between rational Godlikeness and inferior femaleness“ (ibd., 416) konstruieren. Eine Projektion menschlicher Körpermerkmale auf Gott leistet einem Anthropomorphismus Vorschub und bleibt hinter Augustins erkenntnistheoretisch-ontologischer Kritik zurück, indem Äußerlichkeiten zu einem androgynen Gottesbild verdichtet werden (nicht zuletzt würde dies massiv mit dem biblischen Bilderverbot kollidieren, Ex 20, 4–5). Erstaunlich ist, dass Børresen selbst mit Blick auf Gottes Inkarnation in Christus den sexuellen Aspekt seines Mann-Seins herunterspielt (ibd., 426). Auch wenn dies nicht darin motiviert sein sollte, sein menschliches Mann-Sein möglichst zu minimieren, so ließe sich doch von hier aus gerade ein starkes allgemeines Argument gegen jegliche Projektion geschlechtlicher Merkmale auf Gott gewinnen. Dagegen ist aber eine Theologie nicht gewappnet, die lieber auf menschlicher „Erfahrung“ basiert sein will als auf erkenntnistheoretisch-ontologischen Argumenten, auch wenn „Erfahrungen“ dabei (erwartungsgemäß) auf ihre vorgebliche Metaphorizität beschränkt werden sollen („To feminise the Godhead as metaphorically both gynecomorphic and andromorphic quoad nos makes Christian theology a fully human discourse, reflecting both male and female experience“, ibd., 427). Zum Problem in sich unbestimmter Metaphorizität s. auch oben Anm. 420 sowie unten Kap. 34 mit Anm. 827. – Zur kirchengeschichtlichen Bedeutung von Augustins ausgewogener Position bezüglich der Gleichberechtigung von Mann und Frau (in Abgrenzung z. B. zur Sichtweise Ambrosiasters) vgl. Bracht (2006: 148–9, 150–1). 700 S. o. Kap. 22. 701 Geschrieben im Jahre 401 n. Chr. (s. Fuhrer 2004: 62).
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daher eine falsche Vorstellung, im Paradies wäre die Vereinigung von Mann und Frau (vor dem Sündenfall) noch nicht erlaubt gewesen (qui enim hoc sentiunt, forte peccatum esse concubitum putant): Dann nämlich werde die gute Mitte verfehlt, wie auch die überzogene Vermeidung von Verschwendung zu Geiz oder die rigorose Zügelung der Kühnheit zur Furchtsamkeit führe (oder jeweils umgekehrt). Augustinus führt hier nicht nur die platonisch-aristotelische Auffassung der rechten Mitte702 als Kriterium an, um solche Extreme zu vermeiden, sondern bezeichnet diese Extreme zugleich als Produkte der bloßen „Meinung“,703 welche hinter der das mittlere Maß als das wahre Gut erkennenden Vernunft zurückbleibe (dum non ratione, sed opinione crimina metiuntur). Mit Blick auf Adam und Eva weist der Kirchenvater auch das Argument zurück, die Notwendigkeit der Fortpflanzung hätte sich erst nach dem Sündenfall und der damit begründeten Sterblichkeit des Menschen ergeben: Wieso sollten Unsterbliche nicht Nachkommen zeugen? Und wie hätte dem in Gen 1, 28 formulierten Auftrag, die Erde mit Menschen zu erfüllen, durch nur ein Elternpaar entsprochen werden können, wenn dieses Gebot nicht auch schon vor dem Sündenfall gegolten hätte? Die Gemeinschaft der Menschen betrachtet Augustinus als ein hohes Gut, in welcher durch Zurechtweisung sogar Sündern ein Platz zuteil werde, zumal sich die Menschen auch als gefallene immer noch einen Vorzug vor den Tieren bewahrt hätten (neque enim tantum depravati sunt homines, ut non etiam tales pecoribus et volatilibus antecellant).704 In jedem Fall sollte die Menschheit um der höheren Einheit und Verwandtschaft untereinander willen aus einem Geschlecht entstammen und ihre Fülle erhalten.705 Wenngleich Augustinus also die leibliche, gewissermaßen ‚animalische‘ Konstitution des Menschen (corpus animale) im Paradies vor dem Sündenfall nicht in Abrede stellt oder ‚weginterpretiert‘, so bestreitet er, dass der Mensch damals bereits ein solches „Verlangen nach fleischlicher Begierde, wie es/sie nun jene Körper haben, die bereits aus der Nachkommenschaft des Todes“ stammen, besessen hätte (ut non haberent adpetitum carnalis voluptatis, qualem nunc habent ista corpora, quae iam ex mortis propagine ducta sunt). Dabei ist sprachlich doppeldeutig, worauf sich qualem syntaktisch bezieht: ob auf adpetitum oder voluptatis – beides ist möglich, inhaltlich folgt daraus kein gravierender Unterschied. Entscheidend ist hier die wesentliche Differenz zwischen dem ungefallenen und dem gefallenen Menschen: Die unbändige Lust sei erst mit dem Sündenfall entstanden.706 Augustinus zieht eine Parallele zur Aussage des Apostels Paulus (Rö 7, 22–25), dass dem „Gesetz des Geistes“ das Gesetz „seines Lei702 Vgl. z. B. Apuleius, De Platone II, 5; 116,8–118,1 (s. dazu Drews 2020: 94–95, 321–2). 703 Zur Differenzierung zwischen Meinung (doxa) und Erkenntnis (epistêmê) s. Platon, resp. 476c9d7, vgl. Drews (2018: 25–27). 704 Diese Sichtweise ist nicht unbedingt selbstverständlich: Boethius z. B. hält es für möglich, dass Menschen ihr Mensch-Sein verlieren und sich den Tieren angleichen bzw. in ihrer Stellung sogar unter diese geraten (cons. II, 5p, 29; IV, 3p, 15–21). 705 Gn. litt. IX, 7–9; 275,10–278,4. 706 Später spricht Augustinus von einer Lust des Geistes, die ohne Sünde ist (s. u. Kap. 31).
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bes“ widerstrebe und ihn „gefangen“ halte „im Gesetz der Sünde“. Es geht Augustinus um diese Diskrepanz zwischen Geist und Fleisch, so dass der Geist gewissermaßen keinen Zugriff mehr hat, das Fleisch nach seinem Willen so zu lenken, wie es dem „inneren Menschen“ entspricht: Genau diese Diskrepanz, welche das „Gesetz der Sünde“ ausmache, könne es vor dem Sündenfall nicht gegeben haben. Durch die Sünde ist der Leib gemäß Paulus „tot“; der Mensch könne nur durch Jesus Christus wieder vom Tod und zu sich selbst befreit werden. Augustinus liest Paulus sehr präzise: Der Apostel spreche nicht von seinem sterblichen, sondern von seinem „Leib dieses Todes“ (non enim sufficeret ei, si diceret: quis me liberabit de hoc mortali corpore? sed de ‚corpore‘, inquit, ‚huius mortis‘). Gemäß seiner wörtlichen Lesart und geistigen Durchdringung des biblischen Textes ergibt sich für den Kirchenvater somit eine wichtige Konsequenz: Paulus bezeichne aus gutem Grund seinen Leib als dem Tode verfallen, weil auch er Teil der in Sünde gefallenen Menschheit ist; dies könne aber gerade nicht bedeuten, dass auch der animalische Leib Adams bereits „tot“ gewesen sei. Augustinus differenziert also zwischen zwei ‚Naturen‘ animalischer Leiblichkeit: Diejenige vor dem Sündenfall sei zwar ebenfalls animalisch, nicht aber sterblich gewesen. Die Sterblichkeit ist gemäß dem Kirchenvater also nicht mit der animalischen Leiblichkeit als solcher bereits verbunden, sondern allein die Konsequenz des nicht-notwendigen Sündenfalls:707 Erst nach diesem ist der Mensch sterblich und der animalische Leib – aus der Perspektive des Paulus – bereits im Hier und Jetzt „tot“, weil dem Gesetz der Sünde verfallen. Ohne Sündenfall hätten die Gott gehorsamen Menschen, ohne zu sterben, einst die engelsgleiche Natur empfangen (ita illi homines animalia quidem corpora gerentes, sed non moritura, nisi peccassent, acceptura autem angelicam formam caelestemque qualitatem), die ihnen nun durch die Erlösung Jesu Christi und die Auferstehung am Jüngsten Tage zuteil werden soll.708 Die „Krankheit zum Tode“ – um eine Formulierung Kierkegaards aufzugreifen –, von der Paulus spreche, sei erst durch den Sündenfall entstanden und den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes ‚in die Glieder gefahren‘ und habe die Beschaffenheit des Leibes grundlegend verändert, so dass er nicht mehr in der ursprünglichen Weise dem Geist gehorche. Die Abwendung von Gott spürt der Mensch also nicht nur als geistigen Verlust Gottes, sondern als innere Diskrepanz in seiner leib-seelischen Konstitution. Für Augustinus ist es schlicht undenkbar, dass der prälapsarische Mensch eine nicht durch seinen Geist und Willen steuerbare Begierde besessen haben könnte: Vielmehr habe der Mensch vor der Sünde auch seine Geschlechtlichkeit so kontrollieren können wie seine Füße zum Gehen. Damit kommt er auf seinen Ausgangspunkt zurück: Natürlich sei auch der paradiesische Mensch bereits zur Fortpflanzung fähig gewesen, die Zeugung wäre aber „ohne das Brennen (der Lust)“ und das Gebären „ohne Schmerz“ ausgekommen (ut neque cum ardore semina-
707 S. o. Kap. 13, 24, 27. 708 S. o. Kap. 22.
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retur neque cum dolore pareretur). Als Folge des Sündenfalls sei der Mensch zwar durch die nicht mehr willentlich steuerbare Lust bestraft; werde diese jedoch durch die Ehe „geordnet“ oder durch Enthaltsamkeit „gezügelt“, könne „aus der Strafe“ wieder ein „Verdienst“ werden.709 Eine solche Umwandlung des Schlechten in etwas Gutes ist gemäß Augustinus nichts anderes als das ureigenste Wirken göttlicher Providenz: Das in sich selbst nicht-notwendige Schlechte wird keineswegs schöngeredet, kann aber zu etwas Gutem zurückgeführt bzw. -verwandelt werden.710 Im Folgenden wird Augustinus auf einen weiteren Aspekt seiner Providenz- und Gnadenlehre zu sprechen kommen: dass nämlich die Überwindung der Sünde sowohl auf Gottes Gnade wie auch auf dem eigenen Anteil des Menschen beruht. In aller Prägnanz hält der Kirchenvater hier die mittlere Position ein, was in scharfer Abgrenzung zu allen einseitigen Positionierungen in dieser Frage, welche es in der Theologiegeschichte auch gegeben hat,711 festgehalten werden muss: Zwar obliegt Gottes Wirken wie ihm selbst immer der Primat, so auch seiner Gnade; aber dies bedeutet in keiner Weise, dass deshalb das Moment des freien Willens gemäß Augustinus verschwinden würde. Vielmehr kommt es gemäß seiner Auffassung der philosophisch-theologischen Sache nach dann zu einem gelingenden Wollen, wenn der Mensch sich von Gottes vorausliegender Gnade leiten lässt, d. h. sich ihr nicht widersetzt, sondern in und durch Gottes Führung die freie Entscheidung zum Guten ergreift. All dies gestaltet sich eher unbewusst, also ohne dass der Mensch dies im bewussten Vollzug genau auseinanderhalten könnte, was Gottes und was sein eigenes Werk ist: Im Grunde wäre eine solche Differenzierung im Einzelfall auch schon deshalb schwer möglich, da ja, wenn wirklich das jeweils mögliche Gute gewollt und getan wird, in diesem Akt bereits Göttliches und Menschliches einander berühren und miteinander in Einklang agieren, also ohne Diskrepanz bzw. Differenz. Deshalb verteidigt der alte Augustinus in den sog. ‚antisemipelagianischen‘ Werken sowohl Gottes Gnade wie auch die menschliche Freiheit; Gottes Gnade verhilft dem Menschen letztlich zum wirklichen Frei-Sein von allem Bösen. Jedoch behält der Mensch die Möglichkeit, sich in gewissen Grenzen auch dem Wirken Gottes zu widersetzen, also das Gute und die ihm angebotene Gnade nicht zu ergreifen. Dieses komplexe Gefüge impliziert daher eine von Gott her unterschiedlich ‚starke‘ Intensität des Gnadenwirkens: Gott selbst ist frei, jedem Menschen die Gnadenintensität anzubieten, welche genau diesem Menschen genügt, um sich von Gott her leiten zu lassen. Nicht auszuschließen ist auch die Möglichkeit, dass Gott den Menschen zu überstimmen zwar in der Lage ist (dies entspricht dem allgemeinen Primat Gottes und seiner Allmacht); genauso steht es Gott jedoch auch frei, die Freiheit seiner Geschöpfe zu achten und innerhalb bestimmter Grenzen gewissermaßen die Ablehnung seiner Gnade ‚zu riskieren‘. All diese Möglich709 Gn. litt. IX, 10; 278,5–280,13. 710 S. o. Kap. 14 (Schluss). 711 Erinnert sei an den Pelagianismus, Luther und die Augustinus-Polemik eines Kurt Flasch.
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keiten eröffnet die Gnadenlehre Augustins dann, wenn man sie nicht einseitig zuspitzt, sondern von ihrer theologischen Mittigkeit her begreift. Nicht zuletzt wird damit der Primat Gottes auch dahingehend gewahrt, dass der Mensch sich nicht anmaßen sollte, im Einzelfall präzise ergründen zu wollen, warum Gott bei wem welche Gnadenintensität für richtig erachtet bzw. was Gott genau entscheidet. Augustins Gnadentheorie ermöglicht es, im Sinne einer allgemeinen systematischen Grundlegung sehr genau die Varianten von göttlichem und menschlichem Zusammenspiel durchzudeklinieren, ohne dabei zu vergessen, dass es vermessen wäre, wissen können zu meinen, warum Gott wie was entscheidet. Auch darin liegt die Stärke seiner Theologie.712 Auf die hier ein wenig genauer explizierten Aspekte seiner Gnadenlehre kommt Augustinus auch in De Genesi ad litteram zu sprechen: Zunächst resümiert er, dass die Frau Adam zugesellt wurde um des Gebärens von Nachkommen willen. Aber dieses Zeugen und Gebären wäre eben damals auf andere Weise möglich gewesen – nicht so wie jetzt nach dem Sündenfall, wo „das Gesetz der Sünde dem Leib innewohnt und dem Gesetz des Geistes widerstreitet, wenn es auch vermittels Gottes Gnade durch Tugend überwunden wird“ (cum inest peccati lex in membris repugnans legi mentis, etiamsi per dei gratiam virtute superatur). Gottes Gnade wird unüberhörbar von Augustinus ins Feld geführt – aber eben zugleich auch die Tugend des Menschen, so dass der Kirchenvater zumindest nicht in dem Sinne einer ‚allwirksamen Gnade‘ das Wort redet, als ob es gar nicht mehr auf das Bemühen um Tugend ankäme. Vielmehr obliegt das Streben nach Tugend dem Menschen, auch wenn er diese nur dann erreichen kann, wenn er sich ganz von Gottes Gnade leiten lässt. Dass der menschliche Leib bei der Zeugung in Augustins Auffassung nicht mehr der Seele gehorche, ist in seinen Augen die gerechte Strafe für die Sünde des Menschen, da auch die Seele ihrem Herrn, d. h. Gott, den Gehorsam verweigert habe: Genau dieses Problem manifestiert sich nun also auf leibliche Weise im Menschen selbst durch den Zwiespalt zwischen Leib und Seele, der die vormalige Einheit und Ganzheit des Menschen als Geist-Seele-Leib-Wesen zersetzt. Augustinus erwägt zwei Möglichkeiten, auf welche Weise Gott die Menschen leiblich und seelisch erschafft – ob er beides aus den jeweiligen Eltern erschaffe oder ob die Seele einen anderen Ursprung habe –, um dann erneut zu betonen, dass „die Seele, wenn sie in Frömmigkeit Gott ergeben, dieses Gesetz der Sünde […] selbst überwinde vermittels der Gnade, den himmlichen Preis empfange von größerem Ruhm“ (ut cum anima pietate deo subdita legem istam peccati […] vicerit ipsa per gratiam, praemium caeleste percipiat maiore gloria): Handelndes Subjekt ist hier in grammatischer Hinsicht die Seele (also der Mensch) selbst, sie soll das Gesetz der Sünde besiegen durch Gottes Gnade. In der Willenseinheit von Gott und Mensch kann der Mensch selbst durch die ihm vorausliegende Gnade Gottes die Sünde besiegen, ohne dass dabei etwas von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen oder gar der vorausliegenden Gnade Gottes in
712
Zu Augustins Gnadenlehre anhand der einschlägigen Texte s. Drews (2009: 105–238).
240
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Abrede gestellt würde. Der „größere Ruhm“ aber bestehe in dem Sieg „über die Strafe für den fremden Ungehorsam durch die Tugend.“713
713
Gn. litt. IX, 11; 280,14–281,12. Zum Ursprung der Seelen s. auch Kap. 31.
30. Adams Betrachtung der Tiere und Evas Erschaffung Literalität, Prophetie, Psychologie und Sprachkonvention. Die Methode des geistigen Durchdringens vs. empirische Beobachtung und das Verhältnis von Naturgesetzlichkeit und Wundern
Mit Blick auf Gen 2, 19 hält Augustinus drei Aspekte fest: Zum einen seien die Tiere Adam zugeführt worden, auf dass er sie benenne, zum andern habe sich dadurch „gleichsam“ die Notwendigkeit ergeben, Eva zu erschaffen, weil unter den Tieren kein geeignetes Wesen zur Unterstützung Adams zu finden war. Drittens weist der Kirchenvater in seiner die Textgestalt genau in den Blick nehmenden Exegese auf ein Detail hin, für welches er keine andere Erklärung findet als die einer „prophetischen (Vor-) Bedeutung“: Allen Tieren auf dem Land und in der Luft gibt Adam Namen, nicht aber den Wassertieren. Dabei wird der Aspekt des tatsächlichen Geschehen-Seins nicht ausgeblendet, sondern bildet die Grundlage, auf welcher sich erst die Möglichkeit für eine „freie figürliche Deutung“ eröffnet (ut re gesta confirmata figurae interpretatio libera relinquatur).714 Entscheidend ist dabei Augustins Verständnis von Prophetie: Da er keinen deterministischen Weltverlauf vertritt,715 bedeutet eine von Gott herkommende Prophetie entweder eine Warnung vor etwas, das zwar eintreten könnte, aber nicht muss; oder eine Ankündigung eines gezielt von Gott initiierten Geschehens und Handelns (wodurch gleichwohl nicht der Weltenlauf in der Gesamtheit all seiner Ereignisse betroffen ist). Auch wenn der Kirchenvater diese theologische Voreinstellung an dieser Stelle so nicht explizit macht, bildet sie doch die Basis für seine Exegese. Was er dagegen im Einklang mit seiner hermeneutischen Methode in De Genesi ad litteram durchaus explizit schreibt, ist, dass die Annahme einer prophetisch-figürlichen Bedeutung nicht
714 Gn. litt. IX, 12; 281, 13–23. 715 S. o. Kap. 7, 9, 13, 15, 18.
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De Genesi ad litteram: Buch IX
den literalen Gehalt des Textes infrage stellt.716 Anders als im Kontext von Gen 1, wo die Konstitution und die Konstitutionsbedingungen der Welt erst etabliert werden (müssen) und daher eine literale Exegese zum Teil gar nicht anders als im geistigen Sinn literal zu begreifen ist (z. B. das Licht als geistig-intelligibles Licht, der Himmel als Bezeichnung der geschaffenen Geistwesen, der Engel), stellt der Kontext von Gen 2 im Sinne der materialen Entfaltung des intelligiblen Sechstagewerks eine andere exegetisch-methodische Anforderung, und zwar ohne dass Augustinus einfach beliebig bzw. ‚heimlich‘ seine Methode gewechselt hätte:717 Gemäß seiner Auffassung beinhaltet das Literale des biblischen Textes in diesem Zusammenhang jetzt tatsächlich die Frage der Faktizität, des wirklichen Geschehen-Seins im herkömmlichen Sinne, während z. B. die Erschaffung des geistigen Lichts in Gen 1 zwar ebenso real aufzufassen ist, aber nicht im Sinne eines Ereignisses innerhalb der materiellen, geschichtlichen Welt, die zu jenem Stadium der Schöpfung noch gar nicht existiert. Es geht also nicht darum die literale bzw. figürliche Exegese gegeneinander auszuspielen, sondern beide in adäquater Beziehung zueinander zu sehen und zu würdigen. Mit Blick auf Gen 2 vertritt der Kirchenvater erneut seine grundsätzliche hermeneutische Überzeugung, dass eine figürliche Auslegung nicht die literale Bedeutungsebene ersetzen kann – jedenfalls solange sich eine sinnvolle literale Erklärung finden lässt.718 Dies scheint ihm jedoch nicht der Fall zu sein, wenn nach dem Grund gefragt werde, warum Gott Adam nicht auch die Wassertiere habe benennen lassen. Denn:719 Wenn Adam Gott „geglaubt“ hätte, dann hätte ihm Gott sagen können, dass unter den Tieren kein passendes Gegenstück für ihn zu finden ist; sollte sich aber hierin bereits in prophetisch-mystischer Vorwegnahme eine Form des Unglaubens spiegeln, dann konnte Adam nicht wissen, ob ihm tatsächlich alle Tiere zur Benennung zugeführt worden seien und „ob nicht in irgendwelchen entlegeneren Regionen der Erde ihm ähnliche [sc. Wesen]“ durch Gott verborgen worden sein könnten.720 Obgleich Augustinus an der bloßen Tatsächlichkeit des biblischen Berichts nicht zweifelt, vermag er einem ‚nackten Faktum‘ an dieser Stelle keinen Sinn abzugewinnen: Es besteht auf der literalen Ebene des Textes kein Grund, warum Adam nicht auch die Wassertiere hätte benennen sollen. Zumindest zieht der Kirchenvater den Umstand, dass die Fische im Wasser schlicht Adams Blick entzogen sein könnten, nicht als hinreichende Erklärung in Betracht. Obwohl er sich zu Beginn von De Genesi ad litteram reserviert gegenüber einer prophetischen Deutung von ‚Abend‘ als ‚Sünde‘
716 717 718 719
Vgl. Kap. 2. S. o. Kap. 28 sowie Anm. 67. Zu dieser methodischen Einschränkung s. o. Kap. 25. Da Augustinus hier und in den folgenden Kapiteln abwechselnd zwischen den Themen ‚Evas Erschaffung‘ und ‚Präsentation der Tiere‘ hin und her springt, werden einige Abschnitte in leicht veränderter Abfolge behandelt. 720 Gn. litt. IX, 12; 282,11–283,25.
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gezeigt hatte,721 schließt Augustinus nun eine ähnlich gelagerte Erklärung nicht aus: Dabei spielt er mit einem ‚frei assoziiert‘ erscheinenden Interpretament – dem potentiellen Unglauben Adams. Zwar lässt sich seiner vorsichtig geäußerten mystischen Deutung zugute halten, dass der Unglaube des Menschen Gott gegenüber gleichsam ‚in Reichweite‘ liegt, wenn man an den Fortgang der Genesis denkt; trotzdem ist davon an dieser Stelle des Textes in keiner Weise die Rede. Interessant ist der von Augustinus implizierte Moment dieses potentiellen Unglaubens, welcher darin begründet liegen soll, dass sich Adam gewissermaßen überhaupt die Tiere zeigen lässt, um nach einer Partnerin Ausschau zu halten, während ihm Gott, hätte Adam ihm vertraut, doch gesagt hätte, dass unter den Tieren kein Gegenstück für ihn zu finden ist. Folglich birgt angeblich bereits der vermeintliche implizite ‚Zweck‘, dass Adam unter den Tieren nach einer Partnerin sucht, einen ‚Schatten des Zweifels‘ auf Seiten Adams. Aus dieser Perspektive kann es dann, so Augustinus, nicht verwundern, dass Gott ihm nicht sämtliche Tiere zur Benennung gezeigt habe: So konnte sich Adam weder über die Vollständigkeit der von ihm betrachteten Tiere sicher sein noch darüber, ob an irgendeinem anderen Ort eine Partnerin für ihn existierte. Was Augustinus hier impliziert, ist im Grunde nichts anderes als die hypothetische Möglichkeit, dass es menschliches Leben außerhalb des Paradieses habe geben können: Der Sache nach bleibt es bei dieser rein hypothetischen Erwägung, da es ja unlogisch wäre, anzunehmen, Gott habe den Menschen an verschiedenen Orten ‚zweimal zuerst‘ erschaffen. Diese unsinnige Hypothese kommt vielmehr nur dann ins Spiel, wenn der Mensch dem Unglauben verfällt: Somit intendiert Augustinus hier keine naturwissenschaftliche Annahme ‚fremder Welten‘ bzw. die Möglichkeit ‚außerirdischer Menschen‘, sondern nimmt letztlich eine psychologisch motivierte Deutung vor: Der Unglaube wird, wie Gen 3 zeigen wird, ohne Notwendigkeit aus der Abkehr der Menschen von Gott und seinem Gebot her seinen Anfang nehmen. Genau mit diesem Szenario – der von Gott her nicht gewollten und auch nicht necessitierten Abkehr des Menschen vom Guten – rechnet Augustinus bereits an dieser Stelle des biblischen Textes. Das ist nicht literal im Sinne des philologischen Textbefundes; auf den zweiten Blick erscheint es jedoch insofern dann doch literal, als der geistige Deutungshorizont der ersten Genesis-Kapitel als ganzes in den Blick genommen und als Interpretament berücksichtigt wird. Erneut zeigt sich so, dass Literalität für Augustinus nicht unter Ausblendung des geistigen Wirklichkeitsbereichs möglich ist,722 gerade weil der Mensch ein geistiges, auf Verstehen und Begreifen angelegtes Geschöpf ist: In diesem Sinne soll der Mensch Gott erkennen, ihm vertrauen und der Exeget die Heilige Schrift im Kontext der geistigen Beziehung zwischen Gott und Mensch, von welcher die Bibel handelt, auslegen. Augustins Deutungsbahnen fortführend, müsste man also differenzieren zwischen der Benennung der Tiere
721 S. o. Kap. 7. 722 S. o. Kap. 25 und 28 (Schluss) sowie Anm. 353.
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durch Adam und der (vermeintlich implizierten) Suche nach einem menschlichen Gegenstück für ihn; erst letzterer Aspekt scheint gemäß dem Kirchenvater in verborgener Weise den prophetischen Hinweis auf den Zweifel und Unglauben auf Seiten Adams zu enthalten. Indes gilt auch hier: Die Prophetie beinhaltet keinen deterministischen Zwang, dass es zum Unglauben und letztlich zur Sünde kommen musste – sie ist und bleibt eine lediglich latente Andeutung und insofern „mystisch“ (mystica significatio). Hinsichtlich der eigentlichen Benennung der Erd- und Lufttiere durch Adam erachtet es Augustinus als erwiesen, dass diese Namen durch konventionelle Setzung entstanden sind, wie es auch der Blick auf weitere Sprachen zeige. Trotz der Verschiedenheit der Einzelsprachen glaubt der Kirchenvater der Autorität der Heiligen Schrift, dass es ursprünglich (im Paradies) nur eine Menschensprache gegeben habe (die Vielfalt der Sprachen sei eine Konsequenz des Missverstehens der Menschen untereinander, welches als Strafe für den Turmbau zu Babel erstmals aufgetreten sei, Gen 11). Kritisch zeigt sich Augustinus hinsichtlich der Frage, welche diese Sprache genau war und ob sie ‚heute‘ (zu seiner Zeit) noch existiere; entscheidend sei, dass Adam sie gesprochen habe.723 Diese Annahme erscheint keineswegs mythisch-voraufgeklärt, sondern ist in sich selbst schlüssig: Wenn die Menschheit in ihrem Mensch-Sein einen gemeinsamen Ursprung hat und die Sprachbefähigung eine spezifisch menschliche ist, dann müsste ein solcher Erst-Mensch, wie immer man ihn auffasst, eine Ursprache gesprochen bzw. entwickelt haben. In sowohl sprachwissenschaftlich wie exegetisch kluger Weise vermeidet Augustinus indes die Festlegung, welches diese Ursprache gewesen sein könnte: Wenn es sie ‚heute‘ noch gebe, dann würde sie noch gesprochen; aber dies sei nicht von Belang. Für die Frage, auf welche Weise Gott Adam die Tiere zugeführt habe (Gen 2, 19), schließt Augustinus eine „fleischliche Erklärung“ aus (ne carnaliter sapiamus). Auch dies ist wiederum bezeichnend für seine literale Auslegungsmethode: Den Blick starr auf die ‚Dinge an sich‘ zu richten, genügt ihm gerade nicht. Sich vorzustellen, wie etwas äußerlich geschehen sein könnte, sich also in der hermeneutischen Position zu wähnen, man hätte, wäre man dabei gewesen, das im Text Erzählte einfach nur von außen beobachten können und müssen, um zu wissen, ‚was wirklich passiert‘ sei – eine solche Methode ist unangemessen und reicht nicht aus, wie Augustinus im Folgenden zeigt. Literale Exegese erfordert für ihn auch hier das geistige Durchdringen der Heiligen Schrift – denn auch einem imaginierten Augenzeugen würde der Modus der äußeren Beobachtung nicht genügen, um zu verstehen, worum es der Sache nach geht: Äußerlich betrachtet, werden Adam schlicht die Tiere durch Gott zugeführt; unter der Voraussetzung, dass Gott unsichtbar ist, ließe sich durch empirische Beobachtung nur feststellen, dass sich Adam die Tiere nähern. Dies wäre in den Augen des Kirchenva-
723 Gn. litt. IX, 12; 281,23–282,11.
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ters ein ‚fleischliches Denken‘, das dem biblischen Text nicht gerecht wird. Dieser beinhaltet mehr, denn er besagt, dass Gott Adam die Tiere zugeführt habe. Daher ergibt sich für Augustinus methodisch – weil er dem literalen Gehalt des Textes auf der Spur ist – die Notwendigkeit, nach einer sachangemessenen Erklärung dafür zu suchen: Erneut ist die literale Exegese also nicht ohne einen systematisch-philosophischen Zugriff möglich. Ausgeschlossen erscheint dem Kirchenvater, dass Gott so vorgegangen sein könnte wie Jäger oder Vogelfänger. Aber auch Gottes Stimme aus einer Wolke zu vernehmen (vgl. Lk 3, 22), seien die vernunftlosen Tiere im Unterschied zu den rational begabten Seelen grundsätzlich nicht in der Lage. Dies bedeutet gemäß Augustinus aber nicht, dass Tiere keinen Zugang zu Gottes Wirken hätten (in suo tamen genere obtemperant deo) – was auch deshalb unsinnig wäre, weil sie ja seine Geschöpfe sind. Der Kirchenvater sucht also nach einer erkenntnistheoretisch plausiblen Erklärung, wie Tiere durch Gott bewegt werden können: „Denn jede lebendige Seele“, rational begabt oder nicht, werde „durch Gesehenes“, d. h. durch etwas, was sie auf ihre Weise erkennen kann, „bewegt“ (omnis enim anima viva […] visis movetur). Fündig wird er in einer – von der Heiligen Schrift gedeckten – Analogie: Dem Menschen ist von Gott her aufgetragen (Gen 1, 28), über die Tiere „durch die Macht der Vernunft zu herrschen“ (imperare potentia rationis), indem er sich ihr Streben und Schmerzempfinden zu Nutzen macht und sie „anlockt“, sie zähmt und so „gleichsam mit menschlichen Sitten bekleidet“ (tamquam humanis moribus induit). Der Mensch soll also seine Vernunft nutzen, um die nicht rational begabten Tiere dennoch Anteil an der Vernunft gewinnen zu lassen. Genau diese Aufgabe könnten aber auch die Engel in ihrer noch höheren Rationalität ausüben: Sie schauen, wie Augustinus schon früher ausgeführt hat,724 in Gottes ewigem, überzeitlichen Logos, „was zu welcher Zeit geschehen soll, und während jener nicht zeitlich bewegt wird, werden sie [sc. die Engel] selbst zeitlich bewegt, auf dass sie in den [sc. Geschöpfen], die ihnen unterworfen sind, sein Geheiß bewirken.“ Die Engel könnten also dadurch, dass sie sich die sinnliche Erkenntnisfähigkeit der Tiere zunutze machen und sie bestimmte „Gesichte“ sehen lassen, die Tiere entsprechend Gottes Auftrag bewegen, wie es z. B. (Jon 2, 1 f.) das Bewegtwerden des Wales zeige, der Jona verschlingen und dann wieder an Land bringen sollte. Fast hymnisch mutet der Schluss dieses Kapitels von De Genesi ad litteram an, wenn Augustinus abschließend feststellt, dass „jede lebendige Seele“ durch solche engelhaft vermittelten Gesichte „dorthin geführt wird, wohin sie kommen muss, auch wenn sie es nicht weiß“ ([…] omni animae vivae, ut quo eam venire opus est nesciens adducatur!).725 Mit Blick auf Evas Erschaffung (Gen 2, 22) bezweifelt Augustinus ebenso wenig die Faktizität der Erzählung und hält erneut die Hervorbringungsart deshalb für notwendig, weil sie auf etwas Zukünftiges prophetisch verweise (non est itaque dubitandum,
724 S. o. Kap. 10. 725 Gn. litt. IX, 14; 284,23–286,17.
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quoniam haec facta sunt et stulta esse non possunt, ob aliquid significandum esse facta). Denn wieso habe Gott Eva aus Adams Rippe und nicht aus seinem Fleisch „erbaut“, wo er doch Adam aus dem Staub der Erde geformt hatte? Warum wurde die entnommene Rippe nicht durch eine neue ersetzt? Warum „schlief “ Adam? Wieso spricht die Schrift nicht davon, dass Gott Eva „bildete“ oder „machte“, sondern vom „Bauen“726 (cur etiam non dictum est ‚finxit‘ aut ‚fecit‘ […], sed ‚aedificavit‘), was eher zu einem Haus passt?727 Zunächst hält Augustinus fest, dass Eva nur von Gott selbst erschaffen werden konnte, nicht aber durch andere Kreaturen: Engel seien in keiner Weise in der Lage, irgendein Wesen zu erschaffen (angeli autem nullam omnino possunt creare naturam): Obgleich die bloße Entnahme der Rippe aus Adams Leib hätte durch Engel erfolgen können – die Seinsformung und „Erbauung“ der Rippe, „auf dass sie eine Frau sein sollte“, habe nur Gott selbst leisten können. Denn er sei der einzige Schöpfer. Den Engeln kommt also bestenfalls der Rang von ‚Assistenten‘ zu: Geschöpfe können Gottes Wirken im Idealfall unterstützen, jedoch sei „weder der Pflanzende noch Begießende“ entscheidend, sondern Gott, welcher das „Gedeihen“ gibt, wie es im Neuen Testament heißt (1 Kor 3, 7): Menschen könnten das Wasser hinleiten, bewirkten aber nicht, dass es überhaupt abwärts fließe; ein Bauer pflanze den Setzling ein, vermöge aber nicht zu verursachen, dass dieser das Wasser des Bodens aufnehme und keime. Auch ein Arzt greife für seine Medizin, die er verabreiche, auf die bereits bestehenden Werke des Schöpfers zurück, bringe aber durch Medizin nicht „Kräfte“ oder Fleisch“ hervor, welche allein durch die innere Bewegung der von Gott erschaffenen Natur entstünden. Für Augustinus ist also der Grundgedanke entscheidend, dass z. B. ein Arzt zur Heilung eines Menschen beizutragen vermag, aber weder selbst lebendiges Fleisch erzeugen kann, das bei Heilung einer Wunde nachwachsen muss, noch die Körperkräfte direkt hervorbringt, welche der natürliche Körper durch Hinzugabe von Medizin aufgrund seiner Geschaffenheit durch Gott wieder produziert und so gesundet. Entzöge der Schöpfer der Natur diese natürliche Wirkung, durch welche er sie „ins Seins gesetzt hat und schafft“, wäre sie „ausgelöscht“ (cui tamen si deus subtrahat operationem intimam, qua eam substituit et facit, continuo tamquam extincta nulla remanebit). Augustinus differenziert also zwischen der Erschaffung der Naturen durch Gott und dem assistierenden Wirken der (nicht-gefallenen) Engel, welche aus sich heraus Gottes Willen umsetzen, so dass entweder gemäß den ungeschaffenen Seinsprinzipien in Gottes Logos oder gemäß den im Sechstagewerk geschaffenen Vernunftgründen unter Mitwirkung der Engel in 726 Diese Konnotation hat bereits das hebräische waj-jibän (zur Wurzel b-n-h: „bauen“). 727 Gn. litt. IX, 13; 284, 1–22. Zum auffälligen Verb aedificare im Zusammenhang mit Evas Erschaffung und zur schon bei Ambrosius belegten Assoziation des Hauses vgl. Conybeare (2018: 185–6), die zugleich eine damit verbundene sexistische Ausdeutung bei Ambrosius kritisiert und auf Augustins Seite „a silent rebuke to Ambrose“ sieht: Anders als Ambrosius tendiere Augustinus nicht dazu, mit Blick auf den Menschen der Vernunft (ratio) einen Vorrang gegenüber der Liebe (affectus) zu geben (ibd., 190–1).
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Analogie zum Bauern oder Arzt etwas „in der Zeit erschaffen“ wird. Was jedoch kein Geschöpf – auch nicht die Engel – hervorbringen können, sind die Wesensgründe der Naturen sowie diese selbst, welche allein durch Gott erschaffen werden. Und genau dies treffe auch auf die Erschaffung Evas zu. Da der naturwissenschaftliche Blickwinkel des Menschen (quantum naturam rerum pro humano captu experiri potuimus) nur die Materialursachen erfasse, aus welchen „beseeltes und empfindendes Fleisch“ entstehe (entweder aus Wasser und Erde oder aus Pflanzen bzw. dem Fleisch von Lebewesen mit einem tierischen Leib), bleibe ihm eine Analogie dazu, wie die Frau aus der Seite des Mannes erschaffen worden konnte, verwehrt. Dies liege aber daran, dass die geistige Schöpfermacht gewissermaßen von einer solchen allein nach außen schauenden Perspektive nicht eingefangen werde: Auch bei einem aufgepfropften Zweig könnte kein Gärtner bewirken, dass ein solcher Zweig erblüht und Frucht bringt, wenn nicht durch Gottes Wirken der Natur ein solcher Vernunftgrund innewohnte. Das Wirken Gottes und seiner ihm assistierenden Engel bleibe daher verborgen. Trotzdem erblickt Augustinus eine theologische Analogie für die Erschaffung Evas, die sich vom Neuen Testament her ergibt: Auch Christus sei bei seiner Menschwerdung ohne sexuelle Vereinigung von Mann und Frau aus der Schöpfermacht Gottes in Maria erschaffen worden und bilde so das Gegenstück zu Eva, die von Gott aus Adams Rippe ebenfalls ohne einen geschlechtlichen Zeugungsakt geformt wurde. Beides sei für die Ungläubigen „unglaublich“ – warum aber sollte für die Gläubigen das Geschehen bei Christi Empfängnis als tatsächliches Geschehen glaubhaft sein, Evas Erschaffung dagegen nur in figürlich-allegorischer Hinsicht (utrumque infidelibus incredibile est; fidelibus autem cur ad rei gestae proprietatem quod de Christo factum est et tantum ad figuratam significationem quod de Eva scriptum est credibile videatur)?728 Auch mit Blick auf Evas Werden stellt der Kirchenvater die Frage, ob ihre materielle Erschaffung aus der Seite Adams notwendiger- oder nur potentiellerweise schon in den intelligiblen Vernunftursachen des Siebentagewerks begründet liege, wo in jedem Fall (Gen 1, 27) bereits die Differenzierung zwischen Mann und Frau anzusetzen sei. Um diese Frage einer Antwort zuzuführen, holt Augustinus weit aus: Der „gewohnte (!) Lauf der Natur“ habe „seine bestimmten Gesetze“, gemäß welchen auch dem geschaffenen „Geist des Lebens“ Grenzen seines willentlichen Strebens gesetzt seien, „die auch ein schlechter Wille nicht zu überschreiten“ vermag.729 Entscheidend ist, dass gemäß dieser Grundlegung die „Gesetze“ nicht mit dem Absoluten zu verwechseln sind, sondern sich nur auf den „gewohnten Lauf der Natur“ beziehen: Naturgesetzlichkeit in Augustins Sinn darf also nicht mit starr-deterministischer Unabänderlichkeit verwechselt werden; vielmehr bedeutet die Einschränkung auf das Gewohnte, dass grundsätzlich mit Abweichungen und Ausnahmen zu rechnen
728 Gn. litt. IX, 15–16; 286,18–290,21. 729 Gn. litt. IX, 17; 290,22–291,12.
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ist, diese wenigstens nicht ausgeschlossen sind. Sodann argumentiert der Kirchenvater ganz entschieden dafür, dass sogar der geschaffene (!) „Geist des Lebens“, also die der Materiewelt transzendenten Engel, in seinen bzw. ihren Bewegungen eine bestimmte Grenze nicht zu übertreten vermögen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass ihre Freiheit eine nur scheinbare wäre – der Abfall Luzifers bezeugt e negativo sogar die Freiheit der Abkehr von Gott. Trotzdem, so muss man Augustinus verstehen, ist auch der größten Abwendung vom Guten, d. h. von Gott selbst, ultimativ eine Grenze gesetzt, so dass der Lauf der Natur auch nicht durch eine noch so böse Intention völlig pervertiert und auf den Kopf gestellt werden kann. Wesensgemäße Grenzen gelten nach Augustinus also nicht nur in der Materiewelt, dass z. B. aus einem Tier kein Mensch entsteht oder umgekehrt, sondern sogar in der Welt der reinen Geistkreaturen, so dass mit dem geschaffenen Geist und der geschaffenen Materie gewissermaßen der gesamten Schöpfung von ihren Extremen her durch die Schöpfervernunft Grenzen gesetzt sind, innerhalb derer die einzelnen Geschöpfe ihre jeweilige Freiheit verwirklichen können. Trotzdem besitze die Macht des Schöpfers „über den natürlichen Lauf “ der Dinge hinaus das „Können“, aus allem etwas im Vergleich zu seinen samenhaften Schöpfungslogoi Anderes zu machen. Gottes Allmacht bewirke jedoch nichts Beliebig-Zufälliges, sondern gründe auf dem „guten Vermögen der Weisheit“ (neque enim potentia temeraria, sed sapientiae virtute omnipotens est): Dies betreffe z. B. Aarons grünenden Stab (Num 4, 16 f.), Sarahs späte Schwangerschaft (Gen 21, 2) oder die sprechende Eselin (Num 22, 28). Damit wirke Gott jedoch in der Zeit nur das, was er überzeitlich bereits als Möglichkeit begründet habe (et hoc de unaquaque re in tempore suo facit, quod ante in ea fecit, ut possit). Denn seine Allmacht stehe nicht in Konkurrenz zu seiner Schöpfung noch zu ihm selbst. Trotzdem verursache Gott solche Wunder auf andere Weise, als es der gewohnten Naturgesetzlichkeit entspreche, nämlich dadurch, dass die Natur dieser Geschöpfe so geschaffen sei, dass sie sich seinem mächtigeren Willen füge (ut eorum natura voluntati potentiori amplius subiaceret).730 Bemerkenswert mit Blick auf Augustins Position zum Verhältnis von Naturgesetzlichkeit und Wundern ist also, dass beide systematisch-philosophisch abgesichert und einer rationalen Erklärung zugänglich sind: Die Bestimmtheit der Geschöpfe zeigt eine gewohnheitsmäßige Regelmäßigkeit, die sich grundsätzlich im Rahmen von Naturgesetzen sinnvoll beschreiben lässt. Es ist jedoch schon ein Implikat der schöpferischen Allmacht Gottes, dass sie nicht Naturgesetzen untersteht, sondern umgekehrt diese erst begründet, außerdem ihre Regelmäßigkeit durchbrechen kann. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Wunder generell bereits genau die Regelmäßigkeit voraussetzen, welche sie überbieten oder außer Kraft setzen – dieses Problembewusstsein zeigt der Kirchenvater in De Genesi ad litteram. Genau diese naturgemäße Anlage der Geschöpfe beinhaltet offenbar in sich die Potenz, dass sie sich gegebenenfalls dem
730 Gn. litt. IX, 17; 291,13–292,14. Vgl. zur Stelle Moro (2012: 43).
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höheren Willen Gottes fügt und über ihre gewohnheitsmäßige Natur ‚hinauswächst‘, wenn Gott dies will. D. h., dass die Natürlichkeit der Kreaturen nicht auf starre Naturgesetzlichkeit festgelegt bleiben muss, sondern potentiell den Keim des Wunders in sich trägt, weil Gott auch diese Möglichkeit bereits in seiner Schöpfung mitangelegt hat. Es gehört zur ‚Natur des Wunders‘ dazu, dass dieses eine seltene Durchbrechung des Gewohnten bleibt, weil sonst das Wunderbare selbst wieder als normal empfunden würde – und zwar von den Menschen (nicht von Gott), denn das größte Wunder ist, wie Augustinus bereits früher festgestellt hatte, dass es die Welt überhaupt gibt.731 Für die Unterscheidung zwischen der naturgemäßen Geschaffenheit der Kreaturen und Wundern bringt der Kirchenvater die systematische Erklärung, dass Ersteres das Werk der Providenz sei, insofern Gott die Naturen ins Sein rief, während er Wunder im Rahmen der Lenkung der Welt aus seinem verborgenen Ratschluss heraus wirke. Als Beispiel par excellence führt Augustinus die Gnade an, durch welche Gott die Rettung der gefallenen Menschenheit ermögliche, die sich nicht selbst zu retten vermag (ibi est et gratia, per quam salvi fiunt peccatores). Diese grundsätzliche Differenzierung appliziert der Kirchenvater nun auch auf die Erschaffung Evas: In den Vernunftgründen des Sechstagewerks sei die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau (Gen 1, 27) zweifellos begründet, nicht aber die Notwendigkeit, dass Eva aus Adams Rippe, während er schlief, geschaffen werden musste, sondern lediglich die Möglichkeit, dass es so geschehen könnte, während die genaue Ausführung dieser Möglichkeit in Gottes Ratschluss selbst verborgen war.732 Dies ist entscheidend für das nicht-deterministische Weltbild Augustins, weil die Vernunftgründe des Sechstagewerks zwar die in sich bestimmten Seinsmöglichkeiten der Schöpfung begründen, diese Möglichkeiten aber offensichtlich einer elastischen Verwirklichung harren, die auf potentiell unterschiedliche, also nicht naturgesetzlich-deterministische Weise vonstatten geht und gehen kann. Trotzdem ist dieser Möglichkeitsraum in Augustins Weltbild nicht Gottes Lenkung entzogen, da die Erschaffung Evas aus Adams Rippe den besonderen, in Gott selbst (nicht aber im Sechstagewerk) verborgenen Ratschluss offenbare, wie er die überzeitlich-intelligiblen Seinsgründe innerzeitlich entfalten wollte. Entscheidend ist also der Punkt, dass Gott gemäß Augustinus die geschaffenen intelligiblen Vernunftgründe des Mensch-Seins in materieller Hinsicht auch anders hätte entfalten können, wenn er gewollt hätte: Denn dieses offene Entfaltungspotential ist vom Intelligiblen her gegeben733 und betrifft ganz ana731 S. o. Kap. 25. 732 Gn. litt. IX, 18; 292,15–293,17. Vgl. zur Stelle Moro (2012: 44–45). 733 Dies ist der Sache nach mit Aristoteles’ Aussage kompatibel, dass das Mensch-Sein grundsätzlich auch anders als in Haut und Knochen verwirklichbar sei (s. o. Anm. 294 und 503). Wenn Kim (2006: 158; Kursive FD) interpretiert: „Augustine answers that Eve’s formation was programmed just as a possibility, not as a necessity in the causal formulae“, dann geht dies eindeutig an dem vom Kirchenvater Gemeinten vorbei, weil Gottes Schöpfung in keiner Phase, keinem Aspekt einem mechanistischen „(Computer-)Programm“ gleich ist und auch die rationes causales des Sechstage-
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log bereits die materielle Erschaffung Adams aus Erdenschlamm, die ebenfalls von der geistig-eidetischen Ursache des Mensch-Seins zwar möglich, aber nicht notwendig erscheint.734 (Nicht zuletzt wäre dieser Gedanke relevant für das Thema Auferstehung: Die Möglichkeit einer verwandelten Leiblichkeit basiert der Sache nach letztlich auch auf der Prämisse, dass die eidetische Ursache des Mensch-Seins materialiter in unterschiedlicher Weise realisiert sein könnte.) Augustinus beschließt das neunte Buch von De Genesi ad litteram, indem er die „Ekstase“ Adams erklärt, welche diesen ereilt, als er Eva als seine Frau erkennt (Gen 2, 23–24): Gemäß dem Apostel gelte, dass die „vielgestaltige Weisheit Gottes“ den Engeln auch durch die Kirche kund werde (Eph 3, 10).735 Adams Ekstase interpretiert der Kirchenvater so, dass dessen Geist selbst durch diese Entrückung gleichsam Teilhaber der „engelhaften Kurie“ wurde, „in Gottes Heiligtum eintrat und die letzten Dinge erkannte“ (ut et ipsius mens per extasin particeps fieret tamquam angelicae curiae et intrans in sanctuarium dei intellegeret novissima): Da der Apostel ferner (Eph 5, 32) die Einheit von Mann und Frau (Gen 2, 24) als sakramentales Geheimnis bezeichne, ergibt sich für Augustinus, dass Adam genau dieses Geheimnis in seinem Schlaf, währenddessen Eva geformt wurde, nur durch eine ekstatische Entzückung habe schauen und danach in prophetischer Vorwegnahme beschreiben können (denique evigilans tamquam prophetia plenus, cum ad se adductam mulierem suam videret, eructavit continuo, quod magnum sacramentum commendat apostolus). Augustinus legt die Bibel erneut gemäß dem hermeneutischen Grundsatz scriptura ipsius interpres aus, indem er Neues und Altes Testament zusammenschaut: Adams Ekstase wird in der Genesis erzählt, ihr Warum scheint vom Neuen Testament her auf – die Einweihung in prophetisches Wissen, denn es gibt zur Zeit Adams weder bereits seine Nachkommen noch eine Kirche. Dabei gelingt es dem Kirchenvater eine Diskrepanz, welche sich zwischen beiden Teilen der Bibel auftut, theologisch sinnvoll aufzulösen: Die berühmten Worte: „Dies ist Fleisch von meinem Fleisch […] Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden zwei in einem Fleisch sein“, spreche schließlich Adam selbst (Gen 2, 23–24), während sie jedoch von Jesus im Evangelium als Worte Gottes zitiert werden (Mt 19, 4–5)! Die Autorität des Herrenwortes steht für Augustinus zwar ohnehin nicht zur Debatte. Aus der intellektiven Zusammenschau der Zeugnisse des Alten und des Neuen Testaments ergibt sich gemäß dem Kirchenvater, dass Adams Ekstase deshalb in der Genesis erzählt wird, weil Gen 2, 23–24 als Prophetie des Geheimnisses zu begreifen ist, von dem im Epheserbrief die Rede ist: Adam spricht also gar nicht aus sich selbst heraus, sondern, engelhafter Entrückung
werks keinen stoischen Fatalismus bedeuten, sondern die Begründung des konkreten Potentials der Schöpfung durch Gott: Es geht also gerade um die Seinsmöglichkeiten, welche zur Entfaltung kommen können und nicht um das ‚Abspulen eines fatalistischen Programms‘. 734 S. o. Kap. 20, 22 und 24. 735 S. o. Kap. 19 zum prinzipienhaften Sein der Kirche.
30. Adams Betrachtung der Tiere und Evas Erschaffung
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gleich, als Prophet. Da ein Prophet gewissermaßen Gottes Sprachrohr ist, erscheint es nun keineswegs mehr unpassend, dass Jesus Christus Gen 2, 24 als direkt von Gott verkündete Worte zitiert, weil auch Adam sie als Prophet bereits ‚wie aus Gottes Mund‘ sprach (ait enim [sc. dominus Iesus] […], ut hinc intellegeremus per extasin, quae praecesserat in Adam, hoc eum divinitus tamquam prophetam dicere potuisse). Adams theologische und Augustins exegetische Höchstleistung beschließen passenderweise das Ende des neunten Buchs von De Genesi ad litteram (sed iam iste huius libri terminus placet).736
736 Gn. litt. IX, 18–19; 293,18–294,21.
31. Die Herkunft der Seelen und der methodisch positive Zweifel Adam und die Menschen, die Lust des Geistes und des Fleisches, die Erbsünde und das besondere Sein Jesu Christi Während der Fortgang der Genesis verlange, den Sündenfall „des ersten Menschen“ zu diskutieren, sieht Augustinus zunächst die Notwendigkeit, ein Problem zu erörtern, über welches sich die Schrift ausschweigt: die Seele Evas. Während die Bibel mit Blick auf Adam die Aspekte seiner materialen Erschaffung aus Erdenschlamm und seiner Beseelung durch Gott unterscheide (Gen 2, 7), sei hinsichtlich Evas nur von ihrer Formung aus Adams Seite die Rede. Der Kirchenvater will die Ansicht prüfen, ob Gott nur eine Seele – die Adams –, erschaffen habe, die daraufhin gleichsam leiblich an Eva weitergegeben bzw. an die Nachkommen vererbt worden wäre. Als erstes nimmt Augustinus folgende Entgegnung vor: Wenn allein aus dem philologischen Befund der praeteritio der Beseelung Evas geschlossen werde, dass ihre Seele auf körperliche Weise von Adam her übertragen worden sei, dann sei diese Konklusion methodisch deshalb nicht zwingend, weil aus demselben Grund der praeteritio auch geschlussfolgert werden könne, dass Evas Beseelung sich nicht von derjenigen Adams unterscheide. Dann wäre auch Eva die Seele durch Gott eingehaucht worden und der Beseelungsakt grundsätzlich von einer rein körperlichen Vererbung zu unterscheiden. Dies erscheint Augustinus zumindest stimmiger, da die Lücke in der Erzählung so durch das schon über Adam Berichtete ergänzt werden könne. Das Besondere wäre dann Evas körperliche Erschaffung aus Adam – deshalb werde diese erzählt, nicht aber der zu Adams Beseelung anloge Vorgang der Seelen-Einhauchung. Zumindest decke der philologische Befund ebenso wenig, dass eine beseelte Frau aus Adams Seite von Gott erschaffen wurde, denn auch dies stehe so nicht im Text. Das aber wäre zwingend erforderlich, wenn wirklich gemeint wäre, dass Evas Beseelung anders als die Adams erfolgte, denn dies verstünde der Leser nur, wenn er darauf auch explizit hingewiesen würde (itaque si oportuit nos per hanc scripturam de hac re aliquid admoneri, magis […] hoc ipsum, quod alio modo fiebat, scriptura potius tacere non debuit). Seiner abwägenden Beurteilung der Frage, warum die Heilige Schrift zu diesem wichtigen Punkt nichts explizit sage, vermag der Kirchenva-
31. Die Herkunft der Seelen und der methodisch positive Zweifel
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ter noch ein schlagendes Argument hinzuzufügen: Adam hätte doch im Sinne der von Augustinus abgelehnten Interpretation dann viel „liebevoller und herzlicher“ nicht nur gesagt: „Bein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2, 23), sondern ergänzt: „Und Seele von meiner Seele!“ (quanto enim carius amantiusque diceret: et anima de anima mea!). Für eine systematisch ausgewogene Antwort auf die Frage nach Evas Beseelung resümiert Augustinus seine Auffassung aus De Genesi ad litteram VI und VII,737 dass der Mensch in seiner seelisch-geistigen Konstitution nach Gottes Bilde geschaffen sei, die Differenzierung zwischen „Mann und Frau“ (Gen 1, 27) sich dagegen auf körperliche Unterschiede beziehen müsse. Es sei daher „annehmbarer“, dass die Seele des Menschen im ewigen Sechstagewerk des „Alles zugleich“ (Sirach 18, 1), d. h. am sechsten Tag, erschaffen wurde, der Leib dagegen „später“ im Kontext der sich innerzeitlich vollziehenden materiellen Entfaltung des Sechstagewerks.738 Obwohl die Erschaffung des Menschen gemäß seiner eidetisch-intelligiblen Ursache im überzeitlichen Sechstagewerk bereits eine körperlich-geschlechtliche Differenz einschließt, ist dort gemäß Augustinus noch nicht die Materie selbst ursächlich festgelegt und begründet, in welcher diese leibliche Differenz verwirklicht wird (Adams Erschaffung aus Schlamm, die Evas aus Adam). Gemäß dem Kirchenvater ist also zu unterscheiden zwischen der eidetischen Ursache des Mensch-Seins, welche auch die eidetisch-formursächlichen Spezifika der Körperkonstitution umschließt, und der Ausführung bzw. Realisierung dieser eidetischen Bestimmtheiten an einer bestimmten Materie, welche sich erst im nachgeordnet-innerzeitlichen Schöpfungshandeln Gottes ereigne. Insgesamt stellt diese Exegese für Augustinus die ‚schriftgemäßeste‘ Lösung dar, weil dadurch sowohl die Erschaffung des Menschen im Sechstagewerk als auch diejenige gemäß Gen 2 sinnvoll zusammengedacht werden können, ohne dass einer der beiden Teile der Schöpfung geleugnet oder ein Aspekt des Mensch-Seins (Seele bzw. Leib) ausgeblendet werden müsste: Am sechsten Tag sei eben tatsächlich der Mensch geschaffen worden im Sinne seiner geistigen Konstitution bzw. seines intelligiblen Eidos, welches das Mensch-Sein als Abbild Gottes und sogar die beiden Geschlechter auf ursächliche Weise komplexiv umschließt; und auch im Paradiesgarten sei derselbe Mensch geschaffen worden, nämlich in leiblicher Hinsicht nacheinander als Mann und Frau.
737 S. o. Kap. 20-24. 738 Gn. litt. X, 1–2; 295,1–298,5. Eine methodisch exzellent die systematische und historische Entwicklung von Augustins Nachdenken über den Ursprung der Seelen nachzeichnende Untersuchung bietet Mendelson (1998), der Augustins vorgebliche Unentschiedenheit in dieser Frage nicht zuletzt darin begründet sieht, dass der Kirchenvater zwar die Position des Kreationismus favorisiert, aber deren potentielle Risiken und ‚Kollateralschäden‘ hinsichtlich der drängenden Diskussionen um göttliche Gerechtigkeit, Kindertaufe und Pelagianismus im Blick hatte und ‚eindämmen‘ wollte: „In Letter 166 to Jerome, Augustine makes clear that he is less than fond of the traducianist hypothesis“ (ibd., 43). Zu Gn. litt. X und dem Ursprung der Seele im kultur- und geistesgeschichtlichen Vergleich s. di Palma (2010).
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Trotz dieser grundsätzlichen Klärung scheinen neue Probleme zu entstehen, vor allem das zwischen Universalität und Singularität: Wenn Gott Eva (und gemäß induktiver Verallgemeinerung somit jedem einzelnen Menschen) eine Einzelseele einhauchte, wie könnten diese Seelen dann als Teil des überzeitlichen Sechstagewerks betrachtet werden? Wenn ein am sechsten Tag erschaffener abstrakt-allgemeiner „Vernunftgrund aller Seelen“ gedacht werde, dann sei nicht auszuschließen, dass man die Einzel-Seelen als „Töchter der Engel oder, schlimmer, des körperlichen Himmels oder eines anderen niederen Elements“ auffassen müsste. Grundsätzlich diskutiert Augustinus drei Möglichkeiten: Entweder sei gemäß seiner bisherigen Darstellung „der Vernunftgrund der Seele in einem bestimmten Geschöpf gleichsam wie in einem Vater“ erschaffen worden, so dass alle Seelen von jenem väterlichen Vernunftgrund erzeugt, von Gott aber in den jeweiligen Einzelmenschen erschaffen würden (sive enim in aliqua creatura tamquam in parente ratio animae facta sit, ut omnes animae ab illa generentur, a deo autem creentur, quando singulis hominibus dantur). Oder der erste Teil dieser ersten Annahme werde fallen gelassen, so dass die Seele universal in jenem überzeitlichen Tag erschaffen wurde (sive […] ipsa omnino, cum factus est dies, facta sit anima, sicut ipse dies). Oder aber es entstünden immer wieder aufs Neue Seelen, was auf den ersten Blick schwerlich in Einklang damit zu bringen wäre (Gen 2, 2), dass Gott seine Werke am sechsten Tag „vollendet“ hatte: außer, Gott würde „den Vernunftgrund der einzeln zu erschaffenden und jedem Neugeborenen zu gebenden Seelen in sich haben“ (nisi intellegatur rationem quidem singillatim faciendarum animarum nascentibus quibusque dandarum in se ipso habere). Dies wiederum stünde im Widerspruch dazu, dass Gott den Menschen am sechsten Tag „nach seinem Bilde“ geschaffen habe (Gen 1, 27), denn so würden die Seelen jeweils ‚komplett neu‘ hervorgebracht, die Erschaffung des Menschen am sechsten Tag erschiene dann gleichsam (inhalts)leer. Da die menschliche Seele aber „nicht das Geschöpf einer anderen Art“ sei „als jener [sc. Art], gemäß welcher am sechsten Tag der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen wurde“, könne nicht behauptet werden, Gott würde „diejenigen jetzt erschaffen, welche er damals nicht vollendet“ habe. Augustinus bekräftigt daher, dass Gott „die Seele damals“ (Singular im Sinne der einheitlichen eidetischen Bestimmung) im Sechstagewerk geschaffen habe, „als welche er die Seelen nun“ erschaffe (Plural im Sinne der Individualseelen), so dass er jetzt „keine neue Art“ hervorbringe, die er nicht damals bei der Vollendung des Sechstagewerks geschaffen habe (iam enim tunc animam fecerat, quales et nunc facit; et ideo non aliquod novum creaturae genus nunc facit, quod tunc in suis consummatis operibus non creavit). Gottes Wirken erfolge nicht „gegen jene ursächlichen Vernunftgründe der zukünftigen Wesen, die er der Gesamtheit [sc. seines Schöpfungswerks] damals eingab, sondern vielmehr ihnen gemäß“.739 739 Gn. litt. X, 3; 298,6–299,23. Die Grundfrage erscheint dieselbe wie bei Wundern: Gott wirkt gemäß den ewigen Seinsprinzipien der Geschöpfe im Sechstagewerk, aber zugleich auch innerzeitlich gemäß seinem Willen (s. o. Kap. 21). Moro (2018) hat jüngst einen den Anfang von Gn. litt. X de-
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Für Augustinus ist also erneut die differenzierende Zusammenschau des tunc et nunc entscheidend: Das „damals“ bezieht sich auf die Begründung der intelligiblen Vernunftgründe aller Geschöpfe, die deshalb „damals“ geschah, weil sie als Bedingungen der Seinsmöglichkeiten in prinzipienhafter Weise zwar allen Einzelgeschöpfen vorausliegen; dies jedoch nicht in der Weise, dass eine Kluft zwischen den Einzelwesen (etwa den Einzelmenschen) und ihrem eidetischen Prinzip (‚Mensch‘) entstünde. Wie bereits oben erörtert,740 führt Augustinus nicht stillschweigend den bereits von Platon und Aristoteles kritisierten ‚dritten Menschen‘ ein, als ob der Mensch ‚damals‘ ein völlig abgetrennter ‚Mensch an sich‘ wäre, von dem alle Menschen ‚jetzt‘ abstammten, denn dann gelangte man gerade nicht zu einem wirklichen Prinzip des MenschSeins, sondern der Mensch ‚damals‘ wäre wiederum nur ein zum ‚Menschen an sich‘ hypostasierter (Einzel-)Mensch: So drohte ein infiniter Regress. Dass Augustinus dies tatsächlich nicht intendiert, zeigt seine grammatisch zunächst irritierende (Dis-) Kongruenz: Gott habe „die Seele damals“ im Sechstagewerk geschaffen, „als welche [Plural!] er die Seelen nun“ erschaffe. Damit ist die wesensmäßige Identität der Einzelseelen als Seelen zum Ausdruck gebracht, welche sich einzig daraus ergibt, dass die vielen Seelen qua Seelen kein anderes eidetisches Sein haben als dasjenige, welches das Prinzip ‚Seele‘ primär-ursächlich komplexiv umfasst, insofern es gemäß Augustinus im Sechstagewerk von Gott erschaffen wurde. Zugleich beweist er damit seine philosophische Denkweise als Platoniker, dass die vielen Instanzen von ihrem jeweiligen sachlich-eidetischen Prinzip abhängig,741 die Einzelseelen als Einzelseelen also nicht losgelöst von ihrem Prinzip ‚Seele‘ zu denken sind. Es wird gemäß Augustins christlich-platonischer Denkweise tatsächlich dasselbe intelligible Mensch-Sein, nämlich die menschliche Seele als Abbild Gottes „damals“, am überzeitlichen sechsten Tag,
tailliert nachzeichnenden Aufsatz vorgelegt und dabei in Abgrenzung zu vorherrschenden Forschungsmeinungen die innere Kohärenz zwischen den drei von Augustinus ‚durchgespielten‘ Argumentationswegen zum Ursprung der Seelen herausgearbeitet (ibd., 116, 134–5). „L’unico modo per tentare una conciliazione delle due instanze sembra essere quello di appellarsi all’identità di specie tra l’anima del primo uomo, creata in origine a immagine di Dio, e quelle dei suoi successori, create nel tempo. Dio, dunque, conserverebbe in sé una ratio delle anime da creare non difforme da quella in base a cui fu creata l’anima del primo uomo, e tale conformità Gli permetterebbe di creare nuove anime nel tempo senza per questo produrre enti individuali appartenenti a una nuova specie. Così inteso, il terzo modo di concepire la creazione delle anime non risulterebbe in contrasto nemmeno con i principi causali posti in origine nella creazione, e in conformità ai quali la propagazione dei corpi umani si snoda nel tempo“ (ibd., 126; ebenso 134); „Necessariamente avvenuta nel corso della prima conditio, la creazione dell’anima di Adamo può essere compresa muovendo da una duplice alternativa: l’anima del primo uomo può esser stata fatta o dal nulla nella sua forma compiuta, o potenzialmente sotto forma di ragione causale. La medesima alternativa si pone a proposito delle anime dei successori, anch’esse create o potenzialmente nel corso dei sei giorni – è l’ipotesi della generalis omnium animarum ratio –, o nella loro forma compiuta nel corso del tempo […]“ (ibd., 135). 740 S. o. Kap. 20. 741 S. o. Kap. 2 zum Beispiel ‚Dreieck‘.
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erschaffen, welches „nun“ innerzeitlich den Einzelmenschen als Einzelseelen eingehaucht wird. Das menschliche-Seele-Sein ist gemäß seiner primären Eidos-Sache ein und dasselbe; es wird aber innerzeitlich in Form von partikulären Seelen, d. h. Einzel-Menschen, vielheitlich entfaltet. In systematisch-philosophischer Hinsicht entscheidend ist dabei, dass hier keine Diskrepanz zwischen dem Menschen als eidetischem Prinzip des Mensch-Seins und den vielen Menschen, welche genau dieses Eidos in vielheitlich-verschiedener Weise entfalten, be- bzw. entsteht: Die Erschaffung des Menschen im Sinne seines intelligiblen Eidos „damals“ innerhalb des Sechstagewerks ist nicht ein abgetrennter Einzel-Mensch, sondern der Mensch in seiner Bestimmtheit als Abbild Gottes, als vernunftbegabtes Wesen, welches sich als genau dieses in den Einzel-Menschen „nun“ ausprägt, insofern sie innerzeitlich als solche Einzel-Wesen von Gott erschaffen werden. Das Mensch-Sein bleibt dabei dasselbe – dies ist vielleicht der wichtigste Aspekt sowohl in platonisch-aristotelischer wie in christlicher Hinsicht – unbeschadet der Tatsache, dass dieses qua Mensch identische Sein gerade nicht hindert, dass die vielen Menschen individuelle, verschiedene Personen sind (daher der Plural bei Augustinus: „welche Seelen“).742 Der Kirchenvater konstatiert, dass die drei oben diskutierten Erklärungsvarianten stimmig erscheinen, strebt aber trotzdem noch eine tiefer reichende Durchdringung des Problems an: Selbst wenn keine alle Fragen beantwortende Lösung erreichbar sein sollte, sei doch, mit Gottes Hilfe, der Versuch zu wagen, eine „akzeptable Meinung“ in dieser Sache zu erreichen. Für den Fall, dass auch dies nicht gelinge, zeuge immerhin die Untersuchung mit ihren offenen Fragen davon, dass er „die Mühe des Suchens“ nicht gescheut habe. Augustinus erachtet also die Untersuchung, welche den ungeklärten Fragen Raum gibt, so oder so für nützlich: Entweder man gelangt zu einem positiven, überzeugenden Resultat; oder aber die Suche an sich zeigt zumindest den positiven Eifer, hinsichtlich eines schwierigen Problems einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten – auch dies kann nichts Schlechtes oder gar vergeblich sein. Der Zweifel, welcher einer noch offenen Frage inhäriert (dubitatio), hat also für den Kirchenvater keine nihilistische Stoßrichtung, als wenn man sich angesichts einer noch nicht hinreichend geklärten Problemlage orientierungslos nur seiner Unschlüssigkeit ergeben und dabei den inneren Halt verlieren würde. Vielmehr hat die nicht gescheute Auseinandersetzung ihrerseits bereits einen positiven Effekt. Wie schon des Öfteren rechnet der Kirchenvater jedoch damit, dass jemand anders einen tieferen Ein- und Durchblick in dieser Frage erreichen könnte, und würde sich dann von ihm belehren lassen – Voraussetzung dafür ist, dass die Argumentation entweder auf der Autorität der Heiligen Schrift oder der „durchsichtig“-einsehbaren Vernunft basiert. Im Sinne der philosophischen Rationalität unterstreicht Augustinus gut aristotelisch die eigene Substanz der menschlich-vernunftbegabten Seele und lehnt es ab, dass die „Natur der
742 S. o. Anm. 504.
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Seele in die Natur eines Körpers“ oder „in die einer vernunftlosen Seele“ oder in die „Natur Gottes verwandelt werden“ könne oder das jeweils Umgekehrte geschehe. Es könne also nicht sein, dass ein Mensch Gott bzw. ein Tier werde, oder Gott bzw. ein Tier zu einem Menschen – die Substanz eines Tieres, Menschen bzw. Gottes bleibt jeweils sie selbst.743 Zugleich hält der Kirchenvater als Christ fest, dass die Seele auf jeden Fall „ein Geschöpf Gottes“ ist (illud etiam non minus certum esse debet animam non esse nisi creaturam dei). Wenn Gott aber die menschliche Seele nicht aus einer anderen Substanz geschaffen habe, dann habe er sie entweder aus nichts oder aus einem bestimmten geistigen, rational begabten Geschöpf gemacht (restat, ut aut de nihilo eam faciat aut de aliqua spiritali, tamen rationali creatura). Erstere Option scheide aus, da Gott am sechsten Tage alle Werke (im Sinne ihrer intelligibel-eidetischen Vernunftgründe) vollendet habe.744 Augustinus will nicht auf dem unsicheren Boden menschlicher Vermutungen argumentieren, sondern setzt auf die Zeugnisse der Schrift, welche es zu durchforschen gelte (divina testimonia perscrutari): Dort sei nicht bezeugt, dass Gott „aus Engeln, gleichsam als Eltern“ oder gar aus „körperlichen Elementen der Welt“ Seelen erschaffe. Wenn beim Propheten Hesekiel (37, 9 f.) davon die Rede sei, dass die wiederhergestellten toten Leiber von dem „aus vier Winden des Himmels“ herbeigerufenen Geist wieder lebendig gemacht werden, „auf dass sie auf(er)stehen“, dann sei dies nicht im Sinne einer materialistischen Fehldeutung des Geistes zu verstehen, sondern als „prophetisches Zeichen“ (prophetice significatum) für „die Auferstehung der Toten auf dem ganzen Weltkreis“ zu begreifen: Denn für diese Allgemeingültigkeit spreche die Rede von den „vier Winden“. Die Winde selbst sind äußerliches Zeichen für die Substanz des intelligiblen Geistes Gottes. Denn auch Jesus habe seinen Jüngern, als er sie anhauchte und sprach: „‚Empfanget den Heiligen Geist‘“ (Jh 20, 22), nicht die intelligible Substanz des Geistes eingeblasen, sondern der Luftstrom sei Zeichen dafür gewesen, dass aus Jesus als dem Sohn, der seinem Wesen nach Gott ist, der Heilige Geist als intelligible Wesenheit analog so hervorgehe, wie der Lufthauch aus seinem Leib (sic etiam ab ipso procedere spiritum sanctum, quomodo ab eius corpore flatus ipse processit). Sogar für den 743 Das gilt auch noch für die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus: Gottes Substanz wandelt sich nicht, sondern die zweite trinitarische Person, der Logos, bleibt göttliche Substanz, nimmt aber in der Inkarnation die menschliche Natur an, weshalb gemäß dem chalkedonensischen Dogma beide, die göttliche und die menschliche Natur, in Jesus Christus voll anwesend sind („ungetrennt und unvermischt“). 744 Gn. litt. X, 3–4; 299,24–300,27. Das intelligible Sechstagewerk kann in keiner Weise als nichts betrachtet werden: Dass dies jedoch nicht selbstverständlich ist, zeigt im Sinne einer Gegenprobe Hebräer 11, 3 in der Fassung der Lutherbibel (revidiert 1984, Evangelische Kirche in Deutschland): „Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort geschaffen ist, so dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist.“ Denn das, was hier mit „aus nichts“ übersetzt wird, heißt auf Griechisch „nicht aus bildlich Vorstellbarem“ (mê ek phainomenôn): Gottes Wort ist nichts Bildlich-Vorstellbares, auch nichts Sichtbares, aber deshalb auf keinen Fall nichts, sondern die göttliche Vernunft.
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inkarnierten Gott gilt gemäß Augustinus also die Differenzierung von intelligibler und körperlicher Substanz, obwohl in der Person Jesu Christi dessen Fleisch qua Mensch mit dem geistigen Sein des Logos-Sohns qua Gott vereinigt, also die höchstmögliche Einung von göttlich-geistiger und körperlicher Substanz erreicht ist; umso mehr gelte diese Differenzierung für die Welt, welche nicht in vergleichbarer Weise mit Gottes Geist vereint sei. Deshalb könnten die vier Winde bei Hesekiel, insofern sie den beseelenden, lebendig machenden Geist bezeichnen, nicht so aufgefasst werden, als sollte damals gesagt sein, dass auch die Seelen als Substanz einfach aus der Substanz Gottes hervorgingen bzw. ‚hervorgeblasen‘ werden. Erneut sieht der Kirchenvater den eigentlichen, tieferen Sinn des Alten Testaments erst vom Neuen her aufscheinen: Was die Hesekiel-Passage besage, werde erst klar, wenn man die angesprochene Stelle aus dem Johannesevangelium hinzunehme, dass nämlich der sinnlich spürbare Hauch Zeichen für den belebenden Geist Gottes sei (aliud eum fuisse, aliud significasse puto, quod exemplo flatus ex corpore domini procedentis recte intellegi potest). Auch wenn Hesekiel nicht die eigentliche Auferstehung des Fleisches verkünde, sondern die unverhoffte Wiederherstellung des niedergeschlagenen Volkes durch Gottes Geist „in figürlicher Offenbarung vorhersah“, spreche dies nicht gegen die tiefere prophetische Bedeutung des Textes, wie sie vom Neuen Testament mit Blick auf die Auferstehung der Toten und den lebendigen (intelligiblen) Geist Gottes klar werde, der nicht mit Luftwinden verwechselt werden darf, wenn er auch durch sie bezeichnet wird: Denn analog, so muss man Augustinus wohl verstehen, sei auch das niedergeschlagene Volk nicht durch einen Luftwind, sondern durch Gottes lebendigen Geist, der die rationale Seele nährt, aufgerichtet worden.745 Um das seelentheoretische Problem einer gleichsam ‚salomonischen‘ Lösung näher zu bringen, legt Augustinus viel Wert darauf, zu zeigen, dass sowohl die Position, Gott hätte die menschlichen Seelen aus der Seele Adams geschaffen (unam animam deum fecisse et dedisse primo homini, unde ceteras faceret), als auch diejenige, Gott erschaffe jede Einzelseele neu (singulas singulis facere), mit biblischen Aussagen kompatibel erscheine: „‚Allen Hauch habe ich gemacht‘“ (Jes 57, 16, LXX).746 Denn alle Seelen erschafft Gott – so oder so (omnes procul dubio animas ipse facit). Gleiches gelte für: „‚der ihre Herzen im Einzelnen gebildet hat‘“ (Ps 32, 15, LXX), sofern man „unter der Bezeichnung ‚Herzen‘ Seelen“ verstünde. Der Kirchenvater tendiert jedoch dazu, diesen Psalmvers gnadentheologisch zu begreifen, insofern „vermittels Gottes Gnade unsere Seelen durch Erneuerung zum Abbild Gottes geformt werden.“ Obgleich es auf den ersten Blick fraglich erscheint, warum man den Vers auf diese Weise verstehen sollte, scheint der Kontext des Psalms (32, LXX) von Gottes Einwirken auf die Herzen, nicht von deren Erschaffung zu sprechen. Augustinus begründet seine Auslegung wieder-
745 Gn. litt. X, 4–5; 301,1–302,6. 746 Zur Stelle vgl. o. Kap. 23.
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um vom Neuen Testament her: „‚Denn aus Gnade seid ihr gerettet worden durch den Glauben und dies nicht aus euch, sondern Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, auf dass sich nicht etwa jemand erhebe. Denn sein Bildnis sind wir, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken‘“ (Eph 2, 8–10). Gemäß dem Kirchenvater sind alle diese Zitate nicht hinsichtlich der leiblichen Hervorbringung des Menschen zu begreifen, sondern in dem Sinne, dass Gott in den Gläubigen „ein reines Herz“ erschaffe (Ps 51, 12). Mit Blick auf das Prophetenwort „‚der den Geist des Menschen in ihm selbst gebildet hat‘“ (Sap 12, 1) hält er jedoch fest, dass sich dieser Vers sowohl mit Blick auf die natürliche Erschaffung der Seele als auch auf ihre Erneuerung durch Gnade jeweils im doppelten Sinne verstehen lasse: Entweder nehme Gott „gleichsam einen Seelensamen“ (tamquam semen animae) aus der einen Seele Adams und bilde diesen im jeweils neuen Menschen, „auf dass sie den Leib belebe“, oder Gott nehme „den Geist des Lebens von woandersher“. Eine weitere Schrift-Stelle, die Augustinus untersucht, ist Sap 8, 19–20: „‚Erlangt habe ich eine gute Seele und, da ich besser war, bin ich zu einem unbefleckten Leib gekommen‘“ (‚sortitus sum animam bonam et, cum essem magis bonus, veni ad corpus incoinquinatum‘). Zunächst stellt der Kirchenvater fest, dieses Zitat spreche eher dafür, dass die Seelen „von oben“ zu den Körpern herabkommen (desuper animae venire creduntur ad corpora) und nicht von einer einzigen Seele abhängen. Jedoch erscheine es fragwürdig, dass in einem „Seelenquell“ gute und schlechte Seelen gleichermaßen vorhanden sein und zufällig den einzelnen Menschen zukommen sollten oder dass Gott „per Zufall“ einigen Menschen gute, anderen schlechte Seelen zugeteilt haben sollte. Eine solche Vorstellung widerspräche fundamental Augustins theologischem Axiom, welches im christlichen wie platonischen Kontext gilt, dass Gott selbst nur gut ist und auch nur Gutes erschafft:747 Schlecht wird eine Seele nur durch den Sündenfall, welcher nicht notwendig und nur der eigenverantwortlichen Abkehr vom Guten geschuldet ist. Gott erschafft also nichts, was von vornherein schlecht ist (qui omnes naturas bonas facit), und verteilt Seelen auch nicht durch das zufällige Los. Immerhin erwägt Augustinus, dass die Verse Sap 8, 19–20 möglicherweise eher mit der Ansicht kompatibel erscheinen könnten, dass Seelen infolge ihrer Verdienste gut oder schlecht werden und dementsprechend in Körper eingehen. Erwartungsgemäß weist er diese Auffassung zurück, da der Apostel am Beispiel von Esau und Jakob (Rö 9, 11) unterstreiche, dass keiner von beiden vor der Geburt etwas Gutes oder Schlechtes getan habe. Die Denkfigur immer wieder neuer Reinkarnationen der Seelen aufgrund zuvor erworbener Verdienste ist für den Kirchenvater nicht schriftgemäß, da es schlicht keine Verdienste vor einer Inkarnation geben könne. Vielmehr seien verschiedene Menschen zu unterschiedlichen Aufgaben erwählt, also „aus Gottes Berufung“
747 S. o. Kap. 21 und 27.
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(ex vocante). Möglicherweise sei es naheliegender, die Passage auf den einen Mittler Jesus Christus zu beziehen.748 Auch das Schrift-Zitat: „‚Wirst du ihren Odem wegnehmen, werden sie vergehen und zu ihrem Staub werden; wirst du deinen Odem aussenden, werden sie geschaffen werden‘“ (Ps 104, 29–30), lasse sich in den beiden oben beschriebenen Verständnisweisen begreifen: entweder im Sinne der von Adam ‚vererbten‘ Seele und des von Gott in der Auferstehung neu geschenkten Lebens, oder im Sinne der ohnehin von Gott gesendeten Seelen, so dass das Possessivpronomen „ihr Odem“ die im jeweiligen Menschen präsente Seele meine (ut eorum dixerit spiritum, cum moriuntur, quia in eis erat et ab eis exit), Gottes Odem aber die grundsätzliche Herkunft der Seele sowie die Neuschenkung des Lebens in der Auferstehung anzeige (dei autem, cum resurgunt, quod ab ipso mittitur, ab ipso redditur). Erneut spricht sich der Kirchenvater selbst dafür aus, auch diese Verse des Alten Testaments gnadentheologisch zu verstehen: Den stolzen Menschen werde der Odem genommen, so dass sie zu Staub würden; nur wer Gottes Odem neu empfange, erfahre, dass nun Christus in ihm lebe (Gal 2, 20) statt des vormalig stolzen Menschen. Die Verse des Predigers (12, 7): „Und es soll der Staub zur Erde werden, wie er gewesen ist, und der Odem zu Gott zurückkehren, der ihn gegeben hat“, können gemäß Augustinus nicht eindeutig einer der beiden Deutungsvarianten zugeordnet werden, da sich das Geben des Odems auf zweifache Weise interpretieren lasse: Entweder Gott schaffe jede einzelne Seele neu, oder aber es sei die Seele Adams gemeint, von der her alle Menschenseelen stammen und folglich nach ihrem Tod zum Schöpfer zurückkehren (redit enim spiritus ad deum, qui eum dedit primo homini). Weder das Fleisch noch die Seele gingen zu den leiblichen Eltern zurück, sondern das Fleisch zur Erde und der Odem zu Gott. Obwohl er kurz zuvor die Annahme zurückgewiesen hatte, dass nach dem Sechstagewerk etwas aus dem nichts habe erschaffen werden können, erkennt der Kirchenvater im Wort des Predigers nun einen Hinweis darauf, dass die dem ersten Menschen gegebene Seele „aus dem nichts“, nicht aber aus einer anderen geistigen Kreatur heraus erschaffen worden sei, denn der Leib kehre zur Erde zurück, aus der Adam gebildet wurde, die Seele aber nicht zu etwas anderem als zu Gott selbst, so dass Gott sie aus nichts geschaffen haben müsse. Da Augustinus als Theologe gleichwohl nicht Anhänger einer generellen Allversöhnung ist, weist er mit Blick auf Ps 78, 39 darauf hin, dass nicht alle Seelen zu Gott zurückkehren.749 Nach der Sichtung etlicher Schriftzeugnisse konstatiert Augustinus, dass auf deren Basis die Frage, woher die menschliche Seele komme, nicht eindeutig entschieden werden könne. Sicher sei nur, dass Gott die Seele erschaffen und Adam gegeben habe (quod deus animam fecerit vel quod eam primo homini dederit). Wünschenswert wäre gewesen, wenn die Bibel explizit benannt hätte, dass die Seele Eva genauso wie Adam
748 Gn. litt. X, 6–7; 302,7–304,19. 749 Gn. litt. X, 8–9; 304,20–306,25.
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eingehaucht worden sei. Zu unterscheiden sei die Beseelung Evas von derjenigen der menschlichen Nachkommen. Mit Blick auf die Nachgeborenen bleibe unklar, ob die Seele „von oben“ (desuper) oder von den Eltern herkomme.750 In mehrfacher Hinsicht schwierig erscheint die Bewertung der Stelle Römer 5, 12. Bekanntlich lautet sie in der schon von Augustinus diskutierten und durch die Vulgata bekannten Fassung, dass „in Adam alle gesündigt haben“ (in quo omnes peccaverunt). Da im griechischen Text eph’ hô steht, was naheliegender als „woraufhin“ bzw. „weshalb“ aufzufassen ist, stellt sich die Frage, inwiefern das in Adam eine theologische Zuspitzung bedeutet. Zwar würde die Übersetzung: „woraufhin sie alle gesündigt haben“ eine seelentheoretische Applikation des Verses weniger wahrscheinlich machen. Jedoch bleibt mit Blick auf das Hereinbrechen der Sünde in die Welt letztlich bei jeder Auslegung des Verses zu konstatieren, dass infolge von Adams Sünde „alle“ gesündigt haben, d. h. alle Menschen davon betroffen sein sollen. Das Problem der Erbsünde lässt sich insofern vom Textbefund her nicht ‚wegdiskutieren‘; die Frage ist vielmehr, auf welche Weise Adams Sünde auf „alle“ übergeht. Gemäß der Vulgata-Version liegt zumindest eine seelentheoretische Interpretation in Reichweite: Die Möglichkeit, dass „in Adam alle gesündigt haben“, erscheint nur dann als denkbar, wenn die Menschheit in Adam gewissermaßen kollektiv präsent ist, und dies wäre genau dann der Fall, wenn alle Einzelseelen ihr Sein von der Seele Adams bezögen. Damit verbunden ist die Auffassung, dass Sünde primär keine körperliche ‚Kategorie‘ sein kann, sondern die Person, welche Gottes Gebot zwar erkennt, ihm aber dennoch zuwider handelt, tangiert, also die Seele eines Menschen (quomodo per illius ‚inoboedientiam peccatores constituti sunt‘, si tantum secundum carnem in illo, non etiam secundum animam fuerunt?). In jedem Fall könne es nicht so sein, dass das „Fleisch notwendig“ sündige; denn sonst würde abwegigerweise Gott als „Urheber der Sünde“ erscheinen, wenn er dem Fleisch, das ohne Sünde nicht sein kann, eine Seele gebe (cavendum est enim, ne vel deus videatur auctor esse peccati, si dat animam carni, in qua eam peccare necesse sit). Augustinus widerlegt diese Ansicht auch dadurch, dass das Sakrament der Taufe ja nicht einfach „dem Fleisch“ gespendet werde – sonst könne man auch Tote noch taufen –, sondern dem lebendigen, d. h. beseelten Menschen: Dem Fleisch nach habe noch kein Neugeborenes gesündigt; die Taufe zur Erlösung von den Sünden habe es nur deshalb nötig, weil seine Seele in Adam war und „von Adam herkommt“. Augustinus formuliert es sogar so, dass jedes Kind „sowohl durch Körper als auch Seele Adam war und ihm deshalb die Gnade Christi nötig ist“ (non video, quid aliud possit intellegi, nisi unumquemque parvulum non esse nisi Adam et corpore et anima et ideo illi Christi gratiam necessariam). Das Verhältnis von Fleisch und Geist, Körper und Seele sieht der Kirchenvater im Lichte von Galater 5, 17: „Das Fleisch begehrt gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch.“ Aus christlich-platonischer Perspektive bekräftigt er, dass das „Fleisch“
750 Gn. litt. X, 10; 306,26–307,18.
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freilich von allein nichts begehren würde, wenn es nicht beseelt wäre. Die Ursache für die fleischliche Begierde könne somit nicht allein im Fleisch, aber auch nicht allein in der Seele liegen, sondern in beiden, weil ohne Seele kein Körper über Sinneswahrnehmungen verfügte (ex utroque enim fit: ex anima scilicet, quod sine illa delectatio nulla sentitur). Die „fleischliche Lust“ sei also bei genauerer Betrachtung eine solche, welche der Geist „von und mit dem Fleisch“ habe, und zwar in Abgrenzung von derjenigen „Lust“, die er „allein“, d. h. für sich selbst besitze. Der Lust des Geistes, welche er für sich selbst hat, haftet gemäß dem Kirchenvater nicht nur kein Makel an, sondern bei der Ausübung einer solchen geistigen delectatio – wie dem Lesen, Schreiben, Brotteilen mit dem Hungernden – gehorchen dem Geist auch die leiblichen Glieder auf vollkommene Weise ohne eigene Begierde, obwohl die Lust dem Geist allein zuteil wird, nicht dem Fleische. Allein, wenn „dieselbe Seele etwas gemäß dem Fleische“ lusthaft fesselt, dann spreche man davon, dass „das Fleisch wider den Geist begehrt und der Geist gegen das Fleisch“ (cum adversatur aliquid, quod eandem animam secundum carnem delectat, tunc dicitur caro concupiscere adversus spiritum et spiritus adversus carnem). Denn auch das Ohr höre und das Auge sehe nicht ohne die Seele, welche die Organe ihres Körpers belebe.751 Sogar das Schriftwort: „‚Sehen wird alles Fleisch das Heil Gottes‘“ (Lk 3, 6) sei hinsichtlich der Seele, „durch welche das Fleisch lebt“, und nicht als äußerliches Sehen gemeint, sondern mit Blick auf den Glauben an das, was das Fleisch von sich selbst her nicht sehe. Wenn dagegen die Seele etwas „gemäß dem Fleische“ begehre, so kennzeichne dieses Verlangen, dass es von der Seele nicht kontrolliert werden könne, und dies sei die Strafe für die Sünde. Die Gnade Gottes entferne zwar nicht vollständig die Sünde aus dem Fleisch, d. h. die Verfehlung der fleischlich orientierten Seele, verhelfe ihr aber zum kämpfenden Ungehorsam (Rö 6, 12) gegenüber dem sündhaften Verlangen.752 Dieser Abschnitt ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für Augustins Denken: Zum einen zeigt der Kirchenvater in aller Deutlichkeit, dass er keinen bloßen Dualismus zwischen Geist und Materie ansetzt. Im Einklang mit dem Platonismus und Aristotelismus stellt er klar, dass die Materie, also die Körperwirklichkeit, von sich aus überhaupt nichts aktiv tun oder erstreben würde, wäre sie nicht vom Geist her, d. h. durch Seelen belebt: Die Materie kann von sich aus nichts. Trotzdem hat die Aussage des Paulus vom Zwiespalt zwischen Geist und Fleisch zweifellos ihren berechtigten Sinn und entspricht der menschlichen Lebenserfahrung: Ein allzu großes körperliches Verlangen nach Speise oder nach sexueller Befriedigung steht dem Geist nicht nur im Weg, sondern vermag ihn geradezu ‚auszuschalten‘ (zumindest auf Zeit). Augustinus kann nun diese zerrissene Erfahrung einer philosophisch stringenten Analyse unter751
Vgl. Drews (2013a). Auch noch aus der inneren Zerrissenheit des gefallenen Menschen lässt sich e negativo die ganzheitliche, Geist, Seele und Leib als Einheit begreifende Anthropologie Augustins ersehen. Vgl. Mendelson (1998: 58). 752 Gn. litt. X, 11–12; 307,19–311,10.
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ziehen: Ein solcher Zwiespalt rührt aus der Seele selbst als Ursache der Verlebendigung des Körpers, denn ein lebloser Körper würde nichts begehren. Es liegt also an der Seele selbst, dass sie sich in dieser Diskrepanz befindet: Sie ist es, die etwas will und begehrt; richtet sie ihr Streben auf körperliche Lüste, dann bindet sie sich an den Körper in einer Weise, welche ihrer geistigen Potenz als solcher ‚im Wege steht‘. Wer von sexueller Lust ganz eingenommen ist, wird kaum gleichzeitig an Mathematik oder Theologie denken. Augustinus stellt dies jedoch – vielleicht würde man dies so nicht vermuten – beinahe ohne moralische Wertung dar. Denn es gilt auch das Umgekehrte: Die Lust, welche der Geist für sich habe, erlange der Mensch – mit und ‚trotz‘ seinem Körper – im Einklang mit diesem. Wer ein Buch schreibt (und gesund ist), macht die Erfahrung, dass ihm die Finger und Augen gehorchen. Interessanterweise rechnet der Kirchenvater das Brotbrechen als Beispiel für „Menschlichkeit und Barmherzigkeit“ ebenfalls zu den Lüsten des reinen Geistes: Es ist die uneigennützige Hilfeleistung für den Bedürftigen, welche das Brotbrechen markant von der Befriedigung eigenen Verlangens „gemäß dem Fleisch“ unterscheidet. Der Widerstreit zwischen Geist und Fleisch liegt nicht in einem (äußerlichen) Dualismus zweier sich manichäisch bekämpfender Prinzipien,753 sondern in der Seele selbst – je nachdem, worauf sie ihr Streben und Verlangen richtet: Entsprechend gibt es nicht nur negativ, sondern auch rein positiv konnotierte „Lüste“ – ein wesentliches Resultat auch im Zusammenhang mit Augustins vorausgegangener Exegese.754 Dies bedeutet zugleich, dass sich die grundsätzliche Frage nach dem Schlechten, Bösen und dem Sündenfall nicht in der äußerlichen Körperwelt entscheidet, sondern in der Seele selbst. Augustins christliche Auffassung steht sachlich-philosophisch hier in unmittelbarer Nähe zum paganen Neuplatonismus, z. B. eines Proklos.755 Das gilt nicht zuletzt auch für den Gedanken, dass Verfehlungen sich selbst bestrafen: Wenn sich die Seele der fleischlichen Begierde ganz unterwirft, dann besteht ihre Strafe darin, dass sie diese Begierde nicht mehr kontrollieren kann. Im Folgenden wendet sich Augustinus den Themen Taufe und Erbsünde zu, die sich inhaltlich insofern an die seelentheoretischen Erörterungen anschließen, als die Frage der Herkunft der menschlichen Seelen aus Adam zugleich das Problem der aus Adams Sündenfall ererbten Schuld aufwirft. Augustinus wiederholt, dass kleine Kinder noch keine eigenen schuldhaften Taten in ihrem Leben begangen haben können (cum peccatum nullum habeat de proprio voluntatis arbitrio), sie aber in die gefallene Welt der Sünde hineingeboren werden und den oben diskutierten Konflikt zwischen Fleisch und Geist ererben und daher – in sich selbst – der Realität der Sünde ausgesetzt sind, weshalb ihnen das Sakrament der Taufe gespendet wird. Denn nur so bestehe die Chance, „im Fleisch der Sünde“ – also in der Situation, wo die Seele ihre fleischlichen 753 Vgl. Gn. litt. X, 13; 311, 11–16. 754 S. o. Kap. 29. 755 S. dazu Drews (2009: 311–341, bes. 322).
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Begierden nicht mehr allein kontrollieren und nicht Gottes Gebot entsprechend leben kann – „auf rechte Weise“ zu leben, insofern die Seele „unter der Gnade Gottes“ diese Begierden bezwinge und sich „das Verdienst“ erwerbe, in der Auferstehung „mit dem Leib in einen besseren Zustand hinübergetragen“ zu werden. Ausgangssituation für einen jeden Menschen nach Adam sei die Verbindung des „sündigen Fleisches“ mit der neu von Gott gegebenen Seele, auf dass diese das Fleisch belebe und später im Erwachsenenalter „lenke“: Nach dem „Erwachen“ der rational-intellektiven Begabung aus einer mit der Geburt einhergehenden „Erstarrung des Vergessens“ bestehe dann die Möglichkeit, dass die Seele sich durch Bekehrung und beharrendes Einhalten der Gebote Gottes „Barmherzigkeit und Wahrheit“ verdiene. Dabei dürfe die Seele nicht vergessen, dass ihr die Fähigkeit zum rechten Leben nur „durch die Gnade Gottes und den Mittler“ Jesus Christus gegeben sei – andernfalls würde sie auch „gemäß dem Geist wieder zu Adam“. Wenn sich der Mensch dagegen die geistige Erneuerung bewahre, werde er „nur dem Fleische nach Adam“ sein und das, was er „mit Schuld von Adam“ bekommen habe, in der Auferstehung „gereinigt“ neu erlangen. Bevor jedoch ein Kind gemäß seiner rationalen Seele die Fähigkeit entwickle, „dem Geist entsprechend zu leben“, bedürfe es des „Sakraments des Mittlers“ und des Glaubens derer, die es lieben und zur Taufe bringen, damit seine Seele von dem ererbten sündhaften Fleisch her keinen Schaden nehme.756 Entscheidend ist hier, dass Augustinus bei aller Betonung der Gnade nicht gleichsam ‚vorprotestantisch‘ die Eigenverantwortung der Seele ausblendet und die Erlösung einzig und allein Gottes Gnade zuschreibt. Letztere ist freilich die condicio sine qua non und der Ermöglichungsgrund der Erlösung; trotzdem ist es Aufgabe der Seele, unter der Führung Gottes sich das Verdienst der Auferstehung zu erkämpfen bzw. zu verdienen. Insofern bleibt die Eigenverantwortung und auch die Freiheit des einzelnen Menschen durchaus erhalten und wesentlich für seine Erlösung von der Sünde.757 Es 756 Gn. litt. X, 13–14; 311,11–314,6. Zur Stelle und der angesprochenen oblivio vgl. Mendelson (1998: 63). Die Frage, was mit dem „Vergessen“ genau gemeint ist und wodurch es herrührt, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Folgender Erklärungsversuch auf der Basis von Augustins Argumentationswegen sei angedeutet: Wenn die Seelen irgendwie alle „in Adam“ bzw. mit ihm verbunden waren, so dass der Sündenfall alle Menschen, insofern sie Adams Nachkommen sind, betrifft (daher auch die Notwendigkeit des ‚Einschlags von außen‘ bei der Geburt Jesu, die diesen Konnex durchbricht: Jesus als „neuer Adam/Mensch“), dann wäre also in Rechnung zu stellen, dass die Welt in ihrem Ist-Zustand nicht mehr die ursprüngliche ist, wie sie von Gott angelegt wurde. Daher könnte das „Vergessen der Seele“ mit dem Sündenfall korrelieren. Wenn Adam indes ohne Sündenfall Nachkommen gezeugt hätte, dann wäre zu überlegen, ob es überhaupt ein solches Vergessen der Seele bei Geburt eines Menschen hätte geben können/sollen: Zumindest hätte dann kein sündhaftes „Vergessen“ im Spiel sein können, so dass die Nachkommen in der ursprünglich-paradiesischen Welt aufgewachsen und in den Genuss der unmittelbaren, d. h. nicht gestörten Nähe zu ihrem Schöpfer gekommen wären. Wenn diese Andeutungen im Rahmen von Augustins Argumentation zutreffend wären, dann würde sich eine Korrelation zwischen dem besagten „Vergessen“ und dem durch den Sündenfall erfolgten Antagonismus von Fleisch und Geist abzeichnen. 757 Zum Zusammenspiel von Gnade und Willen s. genauer Drews (2009: 221–238).
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geht nicht um einen ‚Freifahrtsschein‘, welchen die Taufe vermeintlich ausstellt, sondern um die kontinuierliche Verwandlung des Menschen durch Christus zu Gott hin, bei welcher es gerade auf den Menschen selbst ankommt, insofern er sich von Gottes Gnade leiten lässt und sich so – zusammen mit Gott – die Erlösung verdient. Für die von sich selbst her unschuldigen und noch nicht ihrer späteren seelischen Rationalität fähigen Kinderseelen wird durch die Taufe dadurch ‚vorgesorgt‘, dass der Glaube der Eltern und Paten stellvertretend für den Glauben des Kindes eintritt und so die von Christus geschenkte Erlösung durch den Glauben der Erwachsenen ‚kanalisiert‘ wird und dem Kind zugute kommt. Als nächstes geht Augustinus weitere Argumente über die Notwendigkeit des Taufsakraments durch und wendet sich u. a. gegen kontrafaktische Überlegungen, dass Gott den zukünftigen Glauben eines früh verstorbenen Kindes vorhergesehen hätte, weshalb diesem das Taufsakrament zuteil geworden sei. Solche Gedankenspiele lehnt der Kirchenvater ab, weil sie auf nicht-real gewordenen Pseudo-Gründen wie dem vermuteten späteren Verhalten von früher Verstorbenen beruhen.758 Er verweist auf die Unergründbarkeit, warum überhaupt ein Kind sterben sollte (occultum itaque est atque ab humano vel certe ab ingenio meo remotissimum, cur nascatur infans vel continuo vel cito moriturus). Für die divergenten Positionen, dass entweder alle Seelen aus Adams Seele stammten oder aber jedem Menschen neu von Gott gegeben würden, lasse sich aus solchen hypothetischen Erwägungen nichts ableiten. Letztlich seien alle (Rö 5, 12) Menschen gleichermaßen der heilbringenden Gnade bedürftig, auch die Kinder, welche noch keine eigenen Verfehlungen begangen, aber die sündhafte ‚Konditionierung‘ ihrer Vorfahren seit Adam geerbt hätten.759 Im Folgenden kommt Augustinus auf die bereits erwähnte Schriftpassage Sap 8, 19–20 zurück. Deren Kontext spreche zunächst gegen eine direkte Applikation auf den Erlöser Jesus Christus, vor allem weil dort (Sap 7, 2) von der Entstehung des beschriebenen Propheten „aus dem Samen des Mannes“ die Rede sei, was im Widerspruch zur Jungfrauengeburt stehe. Andererseits sei kein weiserer Junge als der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2, 42–52) und keine „bessere Seele“ denkbar, die nicht von Adam her ihr Sein bezogen haben könne, ebenso nichts „Unbefleckteres denn jener Mutterleib der Jungfrau“. Als derart außerhalb von Adams Sünde stehender Mensch habe Jesus in seinem Leib „den schuldlosen Tod“ erleiden und „die Verheißung der Auferstehung“ eröffnen können: Ersteres habe „uns“, den Menschen, die Furcht vor dem Tod genommen, Letzteres die Hoffnung gegeben. Jesus habe nach Augustins Auffassung seine Seele nicht „von Adam“ erhalten, sondern „von dort, woher Adams Seele kam“, d. h. von Gott (pro meo captu libentius responderim ‚unde Adam‘ quam ‚de Adam‘). Auf Jesus treffe das Wort Sap 8, 19–20 in unüberbietbarer Weise zu, dass sein Leib „eine gute
758 Vgl. Drews (2009: 402–4). 759 Gn. litt. X, 15–16; 314,7–317,11.
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Seele erlangt“ habe. Wenn der Hebräerbrief (7, 4–10) in einem bestimmten Sinn davon spreche, dass Levi „in den Lenden“ Abrahams war, dann könne dies, wenn überhaupt, von Christus nur dem Fleisch, nicht aber der Seele nach gelten. Letztlich sei aber nicht einmal Levi der Seele nach in den Lenden Abrahams gewesen, sondern nur dem Leib nach, im Unterschied zu Christus jedoch aufgrund der sexuellen Zeugung „gemäß der fleischlichen Begierde“, während „der Vernunftgrund der Empfängnis Christi auf bei Weitem andere Weise und von oben kam“ (Christus autem visibilem carnis substantiam de carne virginis sumsit; ratio vero conceptionis eius non a semine virili, sed longe aliter ac desuper venit).760 Diese Passage hat Mendelson (1998: 69–71) in seiner Studie nicht nur detailliert behandelt, sondern dabei einen diskussionswerten Punkt herausgearbeitet: Both Levi and Mary were present in the ‚loins of Abraham‘ in that a ‚seminal reason‘ (ratio seminalis) consisting of both the ‚visible germ‘ and the ‚invisible formative principle‘ was present. In the case of Christ, however, the ‚invisible formative principle‘ came from above and was united to a ‚visible germ‘ in Mary’s body (Mendelson 1998: 71). [sc. So] one can draw a distinction between the material that makes up the body and the organizational principle that regulates its growth. The ‚simple substance of the soul‘, however, is not something that increases in size as the body grows […] (ibd., 73). Augustine’s proposal […] is that original sin is transmitted via the ‚invisible formative principle‘ of the body which is distinct from the visible matter of the body. In the case of Christ’s body, however, the ‚invisible formative principle‘ was not transmitted via the natural genealogical chain, but it came ‚from above‘; hence, the reason that Christ did not contract original sin is not because his soul came from above – all souls come from above. What accounts for the purity of Christ’s soul is the manner of transmission of the ‚invisible formative principle‘ of his body (ibd., 78; Kursive Mendelson).
Mendelson macht also darauf aufmerksam, dass Augustinus hier eine Denkmöglichkeit eröffne, wonach einzig das Formprinzip des Leibes – unterschieden von dem Leib selbst, aber auch von der Seele – von Abraham und somit in letzter Instanz von Adam her ererbt wäre als Überträger der Erbsünde (im Sinne des Traduzianismus). Diese Lesart ermöglichte, die Seelen als ‚direkte‘ Geschöpfe Gottes zu begreifen (im Sinne des Kreationismus), so dass sich die beiden theologischen Denkfiguren miteinander vereinbaren lassen könnten. Einzig Christus hätte aufgrund seiner völlig einzigartigen Empfängnis durch den Heiligen Geist in der Jungfrau Maria nicht das leibliche Formprinzip Adams ererbt und wäre somit frei von der Erbsünde. Allerdings ist damit beim genaueren Hinsehen noch nicht das Problem gelöst, warum, wie oben gesehen, gemäß Augustinus z. B. die kleinen Kinder „sowohl hinsichtlich Körper als auch Seele Adam“ waren. Selbst wenn
760 Gn. litt. X, 17–21; 317,12–325,26. Zur Deutung des Sap.-Verses vgl. di Palma (2010: 221).
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„alle Seelen von oben“ kämen, stünden sie als Seelen somit nicht außerhalb der von Adam herrührenden Sünde. Zudem transponiert Mendelson selbst sein interpretatorisches Resultat vom ‚traduzianistischen Formprinzip des Leibes‘ sogleich auf die Seele: „If, however, an analogous distinction could be drawn with respect to the soul, could not one then defend the purity of Christ’s soul in a manner consistent with a universal traducianism?“ (ibd., 78) Diese Frage scheint bereits zu implizieren, dass die Herauslösung eines ‚traduzianistischen Formprinzips des Leibes‘ das Problem im Grunde nur verlagert, aber nicht wesentlich modifiziert – sonst würde Mendelson nicht sofort eine Parallelisierung von Seele und Formprinzip des Leibes ins Spiel bringen, gleichwohl verbunden mit dem Hinweis: „the simple immaterial substance of the soul allows for no such distinction as that which Augustine draws with respect to the body“ (ibd., 79). Nicht zuletzt besteht nach platonisch-aristotelischer Auffassung das Wesen der Seele darin, Form- und Belebungsprinzip des Leibes zu sein. Mendelsons weitere Ausführungen zeigen indes, dass er eine Vermischung von Seele und Leib im Sinne Tertullians erwägt, die Augustinus explizit am Ende des zehnten Buchs von De Genesi ad litteram ablehnt, weil Seele und Leib ontologisch voneinander verschieden sind. Auf genau diesen Punkt zielen die folgenden Überlegungen des Kirchenvaters ab: Eine weitere Schriftstelle, welche für die Herkunft der Seelen „von oben“ herangezogen werden könne, sei Jh 3, 6: „‚Was geboren ist aus dem Fleisch, ist Fleisch; und was geboren ist aus dem Geist, ist Geist‘“, wobei Augustinus anmerkt, dass „der Herr“ dies mit Blick auf die „geistige Wiedergeburt“ gesagt habe. Hinsichtlich der fundamentalen Frage, ob die Seelen von den Eltern vererbt (Traduzianismus) oder neu von Gott geschaffen werden (Kreationismus), stellt der Kirchenvater fest, dass die Schriftzeugnisse sich in etwa die Waage halten. Möglicherweise sei es wenigstens für die Perspektive des Glaubens ausreichend, das Ziel des Weges und nicht auch das Woher zu wissen (ut sufficiat fidei nostrae scire nos, quo pie vivendo venturi sumus, etsi nesciamus, unde venerimus). Grundsätzlich hält Augustinus an der philosophischen Überzeugung fest, dass die Seelen in keiner Weise Körper sein können (corpora non esse animas). Wollte man sie als Körper denken, dann müsste man auch Gott als Körper begreifen (ut […] etiam deus corpus esse credatur). Einem solchen „fleischlichen“ Denken liege der fundamentale Irrtum zugrunde, dass das, was kein Körper ist, nichts sei. Diese Auffassungen widerlegt Augustinus, indem er zurückfragt, ob man intelligible Sachgehalte wie ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Weisheit‘ sinnvollerweise körperlich denken oder, besser gesagt, „mit Farben malen“ könne. Denn solche ‚Körpergläubigen‘ müssten dann angeben, „welche Farbe, Gestalt und Umrisse“ sie beim Denken von ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Weisheit‘ gesehen hätten.761 761 Gn. litt. X, 22–26; 325,27–332,8. – Ganz am Ende von Gn. litt. X führt Augustinus Tertullian als Vertreter desselbigen oben beschriebenen körperlichen Denkens an und kritisiert ihn u. a. dafür, dass eine körperlich verstandene Seele, die ihrer Substanz nach nicht wachse (cuius substantia nullo accessu crescat), aufgrund ihrer eigenen Körperlichkeit (si et ipsa corpus est) mit dem Wachstum
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Diese reductio ad absurdum ist genuin platonisch: Der Aufweis intelligibler Ideen, also rein begrifflicher Wesen, die mehr Sein beinhalten als ihre jeweiligen einzelnen Repräsentanten innerhalb der materiellen Welt,762 ist das schlagende Argument für die Wirklichkeit des Geistes – ebenso wie im biblischen Kontext Gen 1, 3 für das ursprüngliche Licht, welches vor allen Gestirnen erschaffen wird. Das Argument, dass ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Weisheit‘ mit körperlichen Sinnen nicht erkannt werden können, verwendet Augustinus andernorts in Abgrenzung gegen die Stoiker.763 Ein viele Religionen und Philosophien übergreifender Konsens besteht darin, dass der begreifende Geist nicht dasselbe ist wie Materie: Nikolaus von Kues beginnt seinen interreligiösen Dialog De pace fidei mit eben dieser konsensfähigen Grundannahme, dass doch alle Weisen darin übereinstimmten, dass die Weisheit sei (sapientiam esse).764 Bereits bei der Sinneswahrnehmung eines Steines, so betont Aristoteles, sei nicht der Stein in dem Erkennenden, sondern seine durch die Sinne unterschiedenen bzw., wie Augustinus sagen würde, „herausgefassten“765 Qualitäten; diese aber sind als ‚herauspräparierte‘ Bestimmungsmomente etwas rein geistig Unterschiedenes, weil allein in der sie erkennenden Seele.766 Die Voraussetzung des Geistes ist somit gemäß Augustinus und Aristoteles bereits bei der Sinneswahrnehmung unverzichtbar – umso mehr, wenn es um rein geistige Entitäten wie ‚Gerechtigkeit‘ oder ‚Weisheit‘ geht. Obgleich bestimmte Fragen über den Ursprung der Seelen für den Kirchenvater offen bleiben, ist dabei nicht zu vergessen, dass er zu Beginn von Buch X bereits einen in den wichtigsten Aspekten konsistenten Lösungsvorschlag unterbreitet hatte. Nicht nur ist unstrittig, dass Gott der Schöpfer aller Seelen ist; sondern Gott erschafft den bzw. die einzelnen Menschen dem eidetischen Seinsprinzip des Menschen gemäß, so dass viel dafür spricht, dass er die menschlichen Einzelseelen (Plural) so innerzeitlich hervorbringt, wie er sie (Singular) im Sechstagewerk überzeitlich begründet hat: nämlich insofern die Seele die Instanz ist, welche die im eidetisch-intelligiblen Seinsprinzip begründete rationale Begabung des Menschen entfalten soll, denn allein durch diese ist der Mensch Abbild Gottes. Diese Auffassung formuliert der Kirchenvater nicht nur selbst bereits am Anfang von De Genesi ad litteram X; sie steht auch im Einklang mit seiner grundsätzlichen Genesis-Exegese und seiner systematischen Schöpfungstheolo-
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des von ihr beseelten Körpers zugleich „ausdünnt“, also weniger würde (quomodo, inquam, inplebit carnem, quam vivificat, nisi tanto rarior fuerit, quanto grandius, quod animaverit?). Tertullian habe dabei übersehen, dass ein solches Ausdünnen des ‚Seelenkörpers‘ bei Wachstum des ‚eigentlich‘ beseelten Körpers letztlich zur Nichtexistenz der Seele führen würde (et non timuit, ne [sc. anima] deficeret rarescendo, cum cresceret). Zu Tertullians „anti-intellectual spirit“ vgl. Teske (2009: 12–13) sowie Mendelson (1998: 75–79), ferner di Palma (2010: 206–9). S. o. Kap. 2, 9–10 zum Beispiel ‚Dreieck‘. S. Augustinus, civ. VIII, 7. Zur Stelle vgl. Drews (2018: 267–270). S. dazu Drews (2018: 375–384). Zur Stelle bei Aristoteles s. Drews (2013a: 103), zu Augustinus ibd., 99. Zu den Unterscheidungsakten der Seele bei Augustinus s. Drews (2013a: 100).
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gie. In diesem Licht erscheint die unter den Schlagworten ‚Traduzianismus vs. Kreationismus‘ geführte Kontroverse in gewisser Weise sekundär und bedarf nach Augustins Dafürhalten einer differenzierten Betrachtung. Zunächst einmal gilt: Die Seele/n ist/ sind als die geistige, den Leib belebende Substanz Geschöpf Gottes (‚kreationistischer‘ Aspekt); dabei verwirklichen die Seelen nicht irgendetwas Beliebiges, sondern das bestimmte Mensch-Sein als rational begabtes Abbild Gottes. Da der erste Mensch im intelligiblen Sechstagewerk nichts anderes als Mensch, d. h. ‚Adam‘ ist, ‚entstammen‘ die vielen Menschen, insofern sie ‚Adam‘ und somit zugleich Nachfahren Adams sind, ursächlich genau diesem Adam (‚traduzianistischer‘ Aspekt), ohne dass ihr Status als Geschöpfe Gottes dabei in Abrede gestellt würde. Das größte sachliche Problem liegt vermutlich in dem zunächst kontraintuitiven Verständnis begründet, dass Adam gemäß Augustinus sowohl das Mensch-Sein als solches gemäß dem Sechstagewerk umfasst als auch innerzeitlich der erste Einzelmensch ist. Diese beiden Aspekte schaut der Kirchenvater jedoch nicht völlig grundlos zusammen: Denn das Mensch-Sein an sich ist eines und nicht zwei verschiedene ‚Menschheiten‘ (dies führte sonst in das von Platon und Aristoteles her bekannte Problem, welches ausgerechnet unter dem Namen ‚dritter Mensch‘ bekannt ist, s. o.). Aufgrund der Identität Adams, insofern er sowohl das intelligible Seinsprinzip sowie ein rational begabtes Wesen als auch ein individueller Mensch mit Seele und Leib ist, betrifft sein Sein gemäß Augustinus die Menschheit im Ganzen: Fällt Adam in Sünde, dann in und mit ihm die Menschheit. Konkret heißt dies, dass das spezifische Mensch-Sein als rational begabtes Wesen in einer bestimmten Hinsicht nicht mehr das ursprüngliche ist, denn das menschliche Denken, die Ratio, ist nun selbst vom Sündenfall betroffen, in sich zerrissen, wie es gemäß dem Kirchenvater im Zwiespalt zwischen ‚Geist‘ und ‚Fleisch‘ zum Ausdruck kommt, da der von der Seele belebte Leib nun in einem Antagonismus zur Seele selbst steht und die ursprüngliche, heile Ganzheit des Menschen als Geist-Seele-Leib-Wesen zerbrochen ist. Damit aber ist der Mensch nicht mehr im ursprünglichen Sinne Abbild Gottes: Die menschliche Ratio steht nicht mehr im Einklang mit ihrem Schöpfer, von dem sie doch ihr Sein empfängt; das menschliche Denken ist in sich zerrissen und die Beziehung zwischen Gott und Mensch gestört. Darin besteht die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen: Aus dieser Perspektive muss tatsächlich erst ein völlig neuer Mensch werden und kommen, der sowohl in Beziehung zu Adam und somit der Menschheit im Ganzen steht als auch außerhalb von ihrem Gefallensein, um so das Mensch-Sein und die Menschheit wieder ‚zurechtzubringen‘, d. h. sowohl ontologisch wieder in den von der Schöpfungsanlage her ‚richtigen‘ Zustand als auch wieder ins Recht mit dem Schöpfer selbst zu versetzen (Rechtfertigung), also die Beziehung zwischen Gott und Mensch wieder neu zu ermöglichen. Jedoch: Trotzdem verwirklicht jeder Einzelmensch nach Adam, insofern er ‚Mensch‘ ist, immer noch dasselbe intelligible Seinsprinzip des MenschSeins (wenn auch auf spezifisch-individuelle Weise), so dass die besagte Identität zwischen Seinsprinzip und individuellem Menschen nicht ausschließlich nur für Adam
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gilt. Der entscheidende Unterschied besteht nun, wie gesagt, gleichwohl darin, dass dieses identische Mensch-Sein ein in Sünde gefallenes ist: Die Nachkommen Adams sind nicht mehr der erste Adam in seiner ursprünglichen Geschaffenheit, sondern sie sind von seinem selbstverschuldeten ‚Schicksal‘ her bestimmt und tragen – anders als dieser – ein Erbe mit sich (herum): Dies, so muss man Augustinus wohl verstehen, ist jedoch nicht einfach ein äußerlich auf sie übergehendes Erbe, sondern die Menschen waren – seelisch-geistig und leiblich – bereits ‚dabei‘, sie waren Adam und sind es auch, bis in einem neuen Adam eine neue Menschheit begründet würde. Der aus etlichen Bibelstellen gewonnene exegetische Befund lässt mehrere Denkmöglichkeiten zu, und eine eindeutige Klärung des Problems ‚Traduzianismus-Kreationismus‘ ist für Augustinus offenbar nicht alles entscheidend.767 Das methodische Vor767 Dies geht schon aus Augustins Frühwerk hervor (vgl. lib. arb. III, 21, 59) und zieht sich durch sein gesamtes Œuvre, vgl. Mendelson (1998: 29–30). Auffällig ist, dass die Forschung Augustinus teils mehr der einen, teils mehr der anderen Denkrichtung zuordnet: „Augustin schwankt zwischen dem ersten und zweiten Erklärungsmodell, tendiert jedoch zum Traduzianismus“ (Fuhrer 2004: 95). „Perciò, Agostino rimane ancora incerto tra creazionismo – verso il quale sembrerebbe propendere – e il generazionismo, che spiegherebbe meglio il problema della trasmissione della colpa“ (di Palma 2010: 220). „While the indecision is no doubt sincere, the details of the actual discussion make clear that it is a far cry from the indifferent neutrality it might seem. Throughout the complex chain of argumentation that makes up De Genesi ad litteram 10, one finds Augustine engaged in a concerted effort to maintain the viability of the creationist cause, even to the point of offering what seem, at times, desperate attempts at blocking the traducianist hypothesis. […] As we have also seen, Augustine has an aversion to traducianism that predates the discussion of De Genesi ad litteram 10, an unexplained aversion that seems to go beyond the seemingly non-essential materialism in which the doctrine had historically, contingently been cast […]. However, for all its contrasting attractiveness, creationism is not without its own attendant difficulties. […] An incautious, too precipitous move in the direction of creationism could also turn out to be an unintended vindication of the Pelagian cause“ (Mendelson 1998: 80). Mit Blick auf seine Unentschiedenheit in dieser Frage verweist di Palma (2010: 225) auf Augustins „grande onestà intellettuale“: „[…] il traducianismo sembrava un’ottima soluzione per spiegare la trasmissione del peccato originale, rafforzando la necessità del battesimo dei bambini, ma presentava non poche controindicazioni, tra cui il non riconoscere l’autonomia spirituale di ciascuna anima e il considerarla corporea, come riteneva Tertulliano sulla scorta dello stoicismo. Il creazionismo, invece, insistendo sulla ‚singolarità spirituale dell’anima, rende ancora più incerto et inintelligibile il suo incontro con il peccato di Adamo.‘“ Mendelson (1998) hat die intrikat-latenten Beweggründe für Augustins komplexe Argumentation in besonders gründlicher Weise aufgearbeitet: So betont er die für den Kirchenvater unstrittige Geschaffenheit der Seele(n) durch Gott (ibd., 31, 35–36) sowie die Immaterialität der Seele (ibd., 75), obgleich er den oben als zentral herausgestellten Gedanken m. W. nicht explizit herausarbeitet, dass Gott die Seele/n dem eidetischen Seinsprinzip des Menschen gemäß und als dessen Entfaltung erschafft, so dass Gott die menschlichen Einzelseelen (Plural) so innerzeitlich hervorbringt, wie er sie (Singular) im Sechstagewerk überzeitlich begründet hat. Mendelson macht methodisch zu Recht darauf aufmerksam: „To say that the ‚question‘ is without a decisive answer, however, cannot be taken as equivalent to the claim that there is no ‚progress‘“ (ibd., 37). Sowohl Traduzianismus und Kreationismus zeigten „a somewhat positive account of the human condition“, beide Theorien „provide accounts of the soul’s ‚origin‘ that seem to underscore the soul’s union with the body as one that is divinely intended, and that union is neither a punishment nor an exile from a more congenial and suitable spiritual domain“ (ibd., 42). „All things considered, Augustine’s scriptural survey is obviously not nearly as neutral as Augustine suggests. While
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gehen des Kirchenvaters wirkt nicht zuletzt deshalb authentisch, weil er die biblischen Texte dort, wo es ihm unmöglich erscheint, nicht zu einer vermeintlichen Eindeutigkeit ‚kondensiert‘, sondern ihre Offenheit konstatiert. Die Exegese muss in seinen Augen eben nicht zwingenderweise in allen Punkten ein eindeutiges Resultat zutage fördern – trotzdem ist das exegetische Bemühen von Nutzen, denn es zeuge von dem ernsthaften Versuch, eine „akzeptable Lösung“ zu finden: Mögen andere noch bessere Lösungsvorschläge unterbreiten – bis dahin genügt es, bestimmte Grundlinien abgeschritten und eingekreist zu haben sowie wesentliche Koordinaten festzuhalten.
six of the passages do not support either side, two of the passages do provide for one side over another, and in both cases, the support is for traducianism“ (ibd., 59, ähnlich 74). „Perhaps this [sc. Augustine’s] hesitancy is due to something else, perhaps due to a preference for an unmediated account of the soul’s origin, a preference which the evidence will not yet completely vindicate“ (ibd., 74).
32. Nacktheit und Klugheit, Wille und Möglichkeit, Gottes Gerechtigkeit, Theodizee und die Theologie der Freiheit Zu Beginn des elften Buchs von De Genesi ad litteram zitiert Augustinus das gesamte Kapitel Gen 3 und den vorausgehenden, letzten Vers von Gen 2. Methodisch schickt der Kirchenvater noch einmal voraus, dass es ihm darum gehe, „mit Blick auf das Spezifisch-Eigentümliche des Buchstabens“ zu verteidigen, „was als Geschehenes jener erzählt, der es geschrieben hat“ (ut ad proprietatem litterae defendatur, quod gestum narrat ille qui scripsit). Sollte jedoch durch Gott oder irgendeine Person „im Dienst der Prophetie“ etwas gesagt sein, was gemäß dem Literalsinn „absurd“ erscheint, dann müsse dies „um einer bestimmten Bedeutung willen zweifellos figürlich aufgefasst“ werden; an dem „Gesagten selbst“ verbiete es sich zu zweifeln (dictum tamen esse dubitare fas non est).768 Diese hermeneutische Vorbemerkung ist eine Wiederholung769 und wahrt zugleich eine wichtige Balance: Es kann sein, dass etwas literal so nicht haltbar erscheint und nach einer anderen Erklärung als der buchstäblichen verlangt; daraus lässt sich gemäß Augustinus gleichwohl nicht ableiten, dass man deshalb die Heilige Schrift als solche verwirft: An dem Gesagten bestehe kein Zweifel, sondern höchstens an seinem Referenzpunkt, also daran, worauf genau das Gesagte zu beziehen ist. Aus dieser Perspektive erscheint der Kirchenvater hier gewissermaßen etwas vorwegzunehmen, was an das protestantische Sola-scriptura-Prinzip erinnert, auch wenn die jeweilige erkenntnistheoretisch-ontologische, systematisch-theologische Einbettung sicher verschieden ist und nicht gleichgesetzt werden sollte. Mit Blick auf die Nacktheit von Adam und Eva stellt Augustinus fest, dass beide deshalb noch keine Scham empfunden hätten, weil noch nicht der bereits zuvor erörterte
768 Gn. litt. XI, 1; 332,10–335,4. 769 S. o. Kap. 25.
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Widerspruch zwischen dem „Gesetz“ des Fleisches und dem des Verstandes (Rö 7, 23) bestand. Es ist die Verselbständigung der von der Seele ausgehenden, auf das „Fleisch“ zielenden Begierde, welche dann von der seelischen Vernunft nicht mehr einholbar, kontrollierbar erscheint:770 Diese innerseelische Diskrepanz resultiert gemäß dem Kirchenvater aus dem Sündenfall; davor habe der Leib auch in seiner Sexualität ganz der Vernunft gehorcht,771 so dass das erste Menschenpaar entsprechend keine Scham empfand.772 An dieser Stelle spricht Augustinus explizit davon, dass „der Aufstand der ungehorsamen Glieder“ eine Folge der bereits „empfangenen Todesverfallenheit“ sei.773 Die Schlange, welche im dritten Kapitel die ‚Bühne‘ betritt, wird in den Augustinus vorliegenden Übersetzungen als „sehr klug“ (prudentissimus) bzw. „sehr weise“ (sapientissimus) bezeichnet. Was dem Kirchenvater freilich verborgen geblieben sein muss, ist, dass sich im hebräischen Text zwischen dem letzten Vers des zweiten und dem ersten Vers des dritten Kapitels eine erstaunliche sprachliche Klammer verbirgt: „Und sie waren beide nackt (‘arumim) […]; aber die Schlange war listig(er)774 (‘arum)“. Listig und nackt klingen im Hebräischen fast identisch, abgesehen von der Pluralendung in Gen 2, 25. Diese Homonymie geht in Übersetzungen natürlich verloren, verdient aber erwähnt zu werden. Hätte Augustinus davon gewusst, hätte er vielleicht in Gen 2, 25 eine prophetische Andeutung vermutet – aber dies bleibt selbstverständlich Spekulation. Was er jedoch sehr konkret erörtert, ist die „Klugheit“ der Schlange: Diese sei zweifellos nicht „im spezifischen, wörtlichen (!) Sinn“ zu begreifen, „in welchem es zum Guten als Weisheit Gottes oder der Engel oder der rationalen Seele aufgefasst wird“ (non proprio, quo in bonum accipi sapientia solet vel dei vel angelorum vel animae rationalis). Die Schlange als Tier sei jedoch nicht aufgrund ihrer tierischen, im spezifischen Sinn „nicht rational begabten Seele weise“ gewesen, sondern aufgrund „eines fremden, teuflischen Geistes“ (sed alieno iam spiritu, id est diabolico). Ohne dies eigens zu betonen, liest Augustinus auch Gen 3 aus der Altes und Neues Testament zusammenschauenden Perspektive der christlichen Bibel: Ein entscheidender Hinweis auf den Sündenfall der Engel ergibt sich aus dem bei Lukas 10, 18 überlieferten Herrenwort: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“ Der Teufel ist ein gefallener Engel, wie auch aus der geistigen Überblendung von Offenbarung 12, 7–9, Jesaja 14, 12 f. und Hesekiel 28, 12–19 hervorgeht. Die Voraussetzung des Engelfalls ist
770 S. o. Kap. 29 und (unter Rekurs auf Gal 5, 17) Kap. 31. 771 Vgl. oben Kap. 29. 772 Der Sache nach entfernt vergleichbar könnte die Seelenauffassung Platons erscheinen, insofern dort die Herrschaft der Vernunft (logistikon) durch die Seelenteile des Sich-Ereifernden (thymos) und der Begierde (epithymia) dann bedroht sein kann, wenn die beiden unteren Seelenteile sich ‚verselbständigen‘. S. dazu Drews (2020) mit weiteren Literaturhinweisen (Kammler 2013, Schmitt 2003). 773 Gn. litt. XI, 1; 335, 5–21. 774 Im Hebräischen gibt es keine äquivalente Komparativform, sondern die Steigerung wird durch die folgende Präposition min angezeigt.
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jedenfalls für die christliche Theologie, wie sie Augustinus vertritt, unstrittig; denn, anders als der Teufel und seine Engel, fällt der Mensch nicht von sich aus.775 Mit Blick auf die Schlange ist Augustins Exegese insofern erkenntnistheoretisch-ontologisch schlüssig, als nicht das Tier selbst besonders „weise“ ist – sonst wäre es kein Tier, vielmehr ein spezifisch rational begabtes Wesen –, sondern sich ein von der Schöpfungsordnung besehen höheres Geschöpf sich dieses Tieres bedient. Denn der Teufel und seine ‚Mitstreiter‘ sind zunächt einmal Engel, d. h. rational begabte Geistwesen und stehen als solche – trotz ihres Hochmuts, der sie fallen lässt – höher als Tiere. Der Teufel, so Augustinus, habe „die Schlange erfüllt und ihr seinen Geist beigemischt.“ Dies ist die theologische Erklärung dafür, warum die Schlange „am weisesten“ war – nämlich nicht aufgrund ihres Tier-Seins. Es sei jedoch ein „Missbrauch des Wortes“, von Weisheit „im Schlechten“ zu sprechen (abusione quippe nominis ita sapientia dicitur in malo). Dies führt Augustinus auf den lateinischen Sprachgebrauch zurück, wo Weise „spezifisch in lobenswerter Hinsicht“ so genannt würden (cum proprie magisque usitate in latina dumtaxat lingua sapientes laudabiliter appellentur). Aber auch von der platonischen Philosophie und christlichen Theologie her besteht freilich der unbestrittene Primat des Guten,776 wie der ‚Basso continuo‘ in Gen 1 zeigt, dass Gott alles „sehr gut“ erschaffen habe.777 Da ‚Weisheit‘ im spezifischen Sinn nichts Pejoratives an sich haben kann, lobt der Kirchenvater diejenigen, welche diesen Bibelvers im Sinne von „listiger“ (astutior) übersetzt haben. Zugleich verweist er auf jene, welche für den hebräischen Urtext kundig erklären könnten, ob es sich dort auch um einen missbräuchlichen Sinn handele oder nicht. Auch ohne hebräische Sprachkompetenz führt Augustinus zu Recht Jer 4, 22 sowie Lk 16, 8 an, wo von einer „Weisheit zum Bösen, nicht zum Guten“ die Rede sei.778 Sofort kommt der Kirchenvater auf ein entscheidendes systematisch-theologisches Problem zu sprechen: Warum ausgerechnet die Schlange, woher überhaupt die Möglichkeit zum bösen Handeln? Zentrale Begriffe sind hier „Wille“ (voluntas) und „Möglichkeit“ (potestas).779 Unangetastet bleibt das theologische Axiom, dass Gott nur gut ist und nichts Schlechtes verursacht.780 Das Böse nimmt seinen Anfang immer in der nicht-necessitierten willentlichen Abwendung einer Seele von Gottes Gutheit, so auch bei den fallenden Engelseelen (nocendi enim voluntas potest esse a suo quoque animo prava). Der Möglichkeitsraum ist den freien Seelen dabei von Gott zugestanden, weil die Gutheit der Seelen nur in ihrer Freiheit garantiert ist.781 Wozu dieser Möglichkeits775 776 777 778 779 780 781
Vgl. Drews (2009: 112–129). S. o. Anm. 131. S. o. Kap. 27. Gn. litt. XI, 2; 335,22–337,2. Genauer dazu Drews (2009: 153–167). S. o. Kap. 21, 23, 27, 31. Genauer dazu Drews (2009: 91–104). Da jeglicher Möglichkeitsraum von Gott herkommt, Freiheit also von ihm her ein-geräumt wird, ist die Denkfigur, ein Geschöpf könne seinen Willen nicht
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raum also von den Seelen genutzt wird – zum Guten oder zur Abwendung davon –, steht in ihrer Verantwortung; dass es ihn überhaupt gibt, gehört zur fundamentalen Schöpfungsanlage; wie groß er ist – d. h., in welchem Ausmaß Seelen wollen und handeln können, wie es ihnen beliebt, – gehört zu der dem Menschen nicht einsehbaren Gerechtigkeit Gottes. Teil dieses Möglichkeitsraums sei, dass der Teufel die Schlange für seine ‚Zwecke‘ habe nutzen können.782 Dieses Argument ist indes keine Ausrede, sondern die Gerechtigkeit Gottes steht deshalb außer Frage, weil sie zu seiner wesensmäßigen Gutheit gehört. Da allgemein das Gute ontologisch primär ist (Defizienzen setzen als solche diejenigen Wesensbestimmungen voraus, im Verhältnis zu welchen sie als Defizienzen überhaupt zutage zu treten vermögen), kann Gott als höchstes (Über-)Wesen überhaupt selbst nur reine Gutheit sein. Dies bedeutet, der sogenannte ‚Glaube‘ an Gottes Gutheit und Gerechtigkeit ist gemäß Augustinus keine fideistische Setzung oder ein ‚Klammern‘ an irgendwelche traditionell gewordenen ‚Behauptungen‘, sondern die höchste rationale Einsicht, die der Seele kraft ihres Intellekts überhaupt möglich und erreichbar ist. Zugleich würde gewissermaßen die Ursünde des Teufels nur ihre Wiederholung finden, wollte ein im Vergleich zu Gott notwendigerweise niedriger stehendes Geschöpf sich anmaßen, „wie Gott sein“ zu wollen und Einblick in seine verborgene Gerechtigkeit zu erlangen versuchen. Fest steht für Augustinus, dass das Böse keine eigene Ursache hat;783 als Mangel des Guten kann es sie auch gar nicht haben; auch deshalb gehört es keinesfalls zu Gottes Schöpfungsanlage dazu und ist somit auch nicht notwendig, sondern vollständig unnötig. Der Sündenfall der Engel und Menschen wäre vermeidbar – dies ist für Augustinus ganz klar.784 Entsprechend räumt der Kirchenvater durchaus ein, den letzten Grund, warum die Versuchung des Menschen durch den Teufel zugelassen worden sei, nicht zu kennen (altitudinem quidem consilii eius penetrare non possum). Trotzdem erwägt er die Erkläausleben, weil ja der Möglichkeitsraum begrenzt sei, in sich unlogisch: Vielmehr haben endliche Wesen auch endliche Freiheit; dass sie diese aber haben, macht sie gerade nicht unfrei, sondern ermöglicht ihre Freiheit als endliche Wesen. Dass Gott besonders auch dem Bösen Einhalt gebietet, lässt sich schwerlich als Freiheitsentzug oder Ungerechtigkeit begreifen. Vgl. aber Rémy (2008: 110): „Mais à ce dernier [sc. le diable] Dieu ne concède qu’occasionellement l’usage d’une volonté constante de nuire, en vue d’un dessein qu’il ignore. Le diable est donc dépourvu d’autonomie dans son action, car rien n’échappe au consentement divin.“ Rémy (ibd., 118) meint letztlich bei Augustinus eine stoisierende Gleichsetzung von Gut und Böse zu erkennen, als ob Gott alles unterschiedslos wie ein stoisches Fatum vorherbestimmt habe (s. u. Anm. 807). Dies führt natürlich zu Widersprüchen, die dem Kirchenvater kaum selbst, sondern bestimmten seiner Interpreten anzulasten sind, jedoch: „Augustin […] léguait pour de siècles un héritage qui, dans le context actuel, est voué à une réinterpretation critique. Sa doctrine garde sa valeur de référence, si elle perd celle de modèle normatif “ (ibd., 138). 782 Gn. litt. XI, 3; 337, 3–10. Pollmann (2010: 80) unterstreicht berechtigterweise: „[…] this was all done with God’s permission (not predestination!).“ 783 Zum defectivus motus vgl. Drews (2009: 109–117). 784 S. o. Kap. 13.
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rung, ob es dem Menschen wirklich zum Lob gereicht hätte, wenn niemand ihn zum schlechten Leben überredet hätte, „zumal er sowohl in seiner Natur das Können als auch in seinem Können die Möglichkeit besaß, zu wollen, dem Überreder die Zustimmung zu verweigern, gleichwohl durch die Hilfe dessen, der ‚den Hochmütigen widersteht, den Demütigen aber Gnade gibt‘“ (Jak 4, 6 = Spr 3, 34; cum et in natura posse et in potestate haberet velle non consentire suadenti adiuvante tamen illo, qui ‚superbis resistit, humilibus autem dat gratiam‘). Auch Gottes Allwissen ändere nichts daran: Denn Gottes Voraussehen verursache nicht Adams Wollen, sondern umfasse das, was Adam in seiner Freiheit aus „eigenem Willen durch Schuld“ wollte; zugleich habe Gott gewusst, gerecht mit den Sündern umzugehen, indem er sie „aus seiner Gerechtigkeit heraus“ in die Schöpfungsordnung „durch Strafe“ einpasste, um so den „späteren Heiligen“ zu zeigen, wie er „auch die bösen Willensregungen der Seelen auf rechte Weise zu integrieren vermag, wenn jene die guten Naturen in perverser Weise missbrauchen sollten“ (quam recte ipse uteretur animarum voluntatibus etiam malis, cum illae perverse uterentur naturis bonis). Gott weiß alles zum Guten zu gebrauchen – selbst das noch, was sich vom Guten abgewendet hat und schlecht geworden ist, ohne dass der Gebrauch des Guten zum Schlechten das so entstandene Schlechte selbst nachträglich in irgendeiner Weise notwendig oder gar zu etwas Gutem deklarieren würde.785 Der Verführung durch den Versucher sei, so Augustinus, jedoch eine Überheblichkeit (elatio) auf Seiten des Menschen vorausgegangen. Diese Interpretation sieht er abgesichert durch Sprüche 16, 18b: „Vor dem Fall erhebt sich das Herz.“ Diese und ähnliche Bibelstellen (Ps 30, 7–8) zeugen gemäß dem Kirchenvater davon, wie ein Geschöpf seine Gutheit einbüßt, wenn es sich vom Schöpfer, also dem höchsten Gut, abwendet; umgekehrt werde deutlich, „was für ein Gut Gott“ sei, weil es um „niemanden, der sich von diesem abkehrt, gut bestellt“ sei. Es gelte, was der Apostel schreibe (Jak 1, 14–15), dass „ein jeder von seiner Begierde versucht“ werde; diese „gebiert Sünde“, welche wiederum „den Tod erzeugt“. Die „Heilung des Hochmuts“ führe zur Auferstehung, wenn der geschöpfliche Wille, der zuvor im Moment der Prüfung „nicht bei Gott bleiben wollte“, nun vorhanden sei, „um zu Gott zurückzukehren.“ Das Phänomen ‚Sündenfall‘ sei indes keines, welches bloß der Vergangenheit angehöre, da auch jetzt die Menschen Versuchungen ausgesetzt seien: Vielleicht werde dies von Gott zugelassen, weil der „Siegespreis ruhmreicher“ sei, wenn der Versuchte die Zustimmung verweigere, als gar nicht versucht werden zu können. Mit Blick auf die Frage, warum Gott diejenigen Menschen, von denen er vorauswusste, dass sie sündigen würden, überhaupt erschaffen habe, erwägt Augustinus, ob sie nicht vielleicht deshalb erschaffen worden seien, damit sie den Willen der guten Menschen „trainieren“, ihnen also nützen und gleichzeitig für ihre eigenen Untaten bestraft werden sollten (ut et utiles eorum bonis voluntatibus exercendis admonendisque nascantur et iuste pro sua mala voluntate puniantur?).
785 S. Drews (2009: 160–2, mit Anm. 351).
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Das Schlechte an sich bleibt und ist schlecht, aber es bietet gewissermaßen den Guten die Möglichkeit, sich als gut zu bewähren.786 Warum hat Gott aber den Menschen nicht so erschaffen, dass dieser überhaupt keinen Willen zu sündigen hätte entwickeln können? Augustinus konzediert diesem Einwand, dass ein Wesen, das nicht sündigen will, besser sei als eines, das in der Lage wäre, nicht zu sündigen, wenn es nicht wollte (ecce nos concedimus meliorem esse naturam, quae omnino peccare nolit; concedant et ipsi non esse malam naturam, quae sic facta est, ut posset non peccare, si nollet). Auf jeden Fall sei „das Urteil gerecht, durch welches die Natur bestraft ist, welche aus Willen, nicht aus Notwendigkeit gesündigt hat.“ Noch einmal unterstreicht Augustinus also die Nicht-Notwendigkeit des Sündenfalls. Trotzdem habe sowohl das bessere Geschöpf, welches überhaupt keine Freude an etwas Unerlaubtem hege, als auch dasjenige, welches einen unerlaubten Genuss zu bändigen trachte, seine Berechtigung: Erstere seien die „heiligen Engel, Letztere die heiligen Menschen“. Entsprechend gebe es hier zwei unterschiedliche Güter unterschiedlichen Ranges, die jedoch beide ihre Seinsberechtigung haben, weshalb sich Augustinus für die pluralistische Vielfalt der Geschöpfe in ihrer differenten Gutheit und gegen eine gleichmacherische Nivellierung ausspricht. Denn es käme auch niemand auf den Gedanken, es wäre, weil der Seh- besser als der Hörsinn sei, deshalb besser, vier Augen anstatt zweier Augen und zwei Ohren zu besitzen. Letztlich gelte für alle Wesen, dass sie ihr spezifisches Sein und Gut-Sein von Gott als dem absoluten Guten empfangen haben und sich deshalb „nur im Herrn“ rühmen sollten, also ohne Herabsetzung des anderen (1 Kor 1, 31). So oder so würde sowohl durch die guten als auch durch die schlechten Menschen letztlich Gottes Gutheit und Gerechtigkeit gepriesen (in utrisque et bonitas dei et aequitas iure praedicatur). Augustinus unterstreicht seine Theologie der Freiheit: Jeder Mensch darf sein, was er möchte, „aber die Guten sollten nicht ohne Frucht, die Schlechten jedoch nicht ungestraft und dadurch anderen [sc. als abschreckendes Beispiel] von Nutzen sein“ (quanto melius hoc deus voluit, ut quod vellent essent, sed boni infructuose, mali autem inpune non essent et in eo ipso aliis utiles essent). Da Gott deren schlechten Willen vorausgewusst habe, sei nicht sein, sondern der schlechte Wille der betreffenden Menschen schlecht gewesen; zugleich habe Gott im Voraus erkannt, wie er das unleugbar Schlechte trotzdem wieder zu etwas Gutem verwandeln könne787 (sic etiam praevidit de malis factis eorum quod boni esset ipse facturus), ohne deshalb selbst in irgendeiner Weise des Schlechten für seine Welt zu bedürfen. Die Abwendung vom Guten bleibt unnötig: Ein schlechter Wille stehe immer in der Verantwortung der sich abwendenden Geschöpfe; deren gute Wesensnatur sowie die gerechte Strafe aber komme von Gott.788 Freilich könnte Gott, wenn er es unbedingt 786 Gn. litt. XI, 4–6; 337,11–340,3. 787 S. Drews (2009: 136, 162). 788 S. Drews (2009: 127, 131 mit Anm. 289, 382–3): Ein schlechter Wille erzeugt sich selbst das Schlechte, nach welchem er im Sinne eines Schein-Gutes strebt.
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wollte, auch den Willen der Schlechten „bekehren“ – dies impliziert seine Allmacht. Man könne jedoch aus menschlicher Perspektive nicht wissen, warum er es nicht tut (cur noluerit, penes ipsum est. debemus enim non plus sapere quam oportet sapere).789 Dies ist gewissermaßen eine Lehre aus dem Sündenfall, nicht wie Gott sein und auch noch Einblick in seine verborgene Gerechtigkeit erlangen zu wollen. An anderer Stelle lassen sich Augustins Gedankenbahnen so interpretieren, dass die Menschen sich zwar alle infolge des Sündenfalls von Gott abgewendet haben, aber mit graduellen Unterschieden. Gott kann jedem einzelnen ‚Sünder‘ seinen Gnadenruf schenken, jedoch kommt es auch auf den Grad der „Verhärtung“ eines jeden Menschen an, ob er sich von der Gnade bekehren lässt oder stur verharrt. Gott könnte – theoretisch – jeden Einzelnen bekehren; aber er ist dazu nicht ‚verpflichtet‘: Die Tatsache, dass die Freiheit der Geschöpfe nicht nur von ihrem Schöpfer stammt, sondern auch geachtet wird, bleibt ein wichtiges Constituens in Augustins Denken: Als Gott der Liebe ist der Schöpfer eben kein Tyrann, der einfach ‚durchstellt‘, was seine Geschöpfe sklavisch auszuführen haben, oder nur daran interessiert ist, Marionettenfäden in der Hand zu halten.790 Im Folgenden kehrt Augustinus zunächst zum Verhältnis von Schlange und Teufel zurück, resümiert dabei noch einmal, dass die Schlange als Tier selbst nicht vernunftbegabt sei, der Teufel sich ihrer bedient habe, weil dies innerhalb des ihm von Gott konzedierten Möglichkeitsraums stand. Dies sieht der Kirchenvater in Analogie dazu, dass auch Christus den bösen Geistern erlaubt habe, in die Schweine zu fahren (Mt 8, 31–32). Der Teufel selbst könne als Kreatur jedoch nicht außerhalb von Gottes Schöpfungswerk betrachtet werden, als ob es im Sinne der Manichäer einen Dualismus zwischen Gut und Böse auf höchster Ebene gebe. Augustins christlich-platonische Sichtweise ist dagegen, dass kein Wesen – auch nicht der Teufel – von Natur aus schlecht ist, sondern ebenfalls von Gott her seine gute Substanz besaß (omne quod est, in quantum aliqua substantia est, et bonum esse et nisi ab illo deo vero, a quo omne bonum est, esse non posse). Auch des Teufels Schlechtigkeit resultierte allein aus einer verkehrten, gegen die Schöpfungsordnung erfolgenden Bewegung des Willens, indem geringere Güter höheren vorgezogen wurden (bona inferiora superioribus praeponendo). Dies erfolgte dadurch, dass sich der „rationale Geist der Kreatur, durch seine Macht um des Herausragens [sc. gegenüber anderen] willen berauscht, in Hochmut aufblähte, durch welchen er von der Glückseligkeit des geistigen Paradieses abfiel und sich in Neid verzehrte.“ Trotzdem blieb ihm das Gut seiner Natur auf bestimmte Weise erhalten, insofern er auch nach dem Fall ein lebendiges Wesen ist. All dies würden die Manichäer nicht einsehen und deshalb das Schlechte in Gottes eigenes Wesen hineinverlegen.791
789 Gn. litt. XI, 7–11; 340,4–344,21. 790 S. dazu genauer Drews (2009: 185–238). 791 Gn. litt. XI, 12–13; 344,22–346,10.
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Augustinus unterscheidet also scharf die von Gott gut erschaffene Wesensnatur des Teufels von der Willensausrichtung, welche dieser selbst zu verantworten hat. Sowohl geschöpfliche Substanz als auch die Willensbegabung sind bei Menschen wie Engeln, zu denen der Teufel qua Geschöpf gehört, etwas in sich selbst Gutes.792 Der Wille kann sich frei auf die Güter der Schöpfung ausrichten, diese in ihrem spezifischen Rang erkennen und wertschätzen. Nur wenn diese Schöpfungsordnung793 dadurch pervertiert wird, dass geringere Wesen als höhere betrachtet werden oder sich selbst als hochrangiger ansehen, als sie sind, dann maßt sich ein Geschöpf an, gewissermaßen eine andere Schöpfungshierarchie zu etablieren und Gott zu spielen – dies ist die Ursünde des „Hochmuts“, dessen Grundübel die Vertauschung von geringeren und höheren Wesen in ihrem spezifischen Gut-Sein darstellt. Für die Theodizeefrage entscheidend ist dabei, dass es sich bei allen geschaffenen Wesen um in sich selbst gute Substanzen handelt, so dass keinerlei Übel oder Defizienzen von der Schöpfungsordnung her notwendig bzw. unvermeidbar erscheinen.794
792 Vgl. Drews (2009: 91–104). 793 Dazu s. o. Kap. 12 und 13. 794 S. o. Kap. 27 sowie Drews (2009: 105–6).
33. Trotz seiner guten Erschaffung ein „Mörder von Anfang an“ Die Ursünde des Teufels und warum Gott nicht zum Komplizen des Bösen wird Obwohl in De Genesi ad litteram die literale Exegese im Zentrum steht, ergeben sich, wie bereits gesehen, gerade für Gen 3 und das Thema Sündenfall erhebliche systematische Fragestellungen, welche für die Exegese gemäß Augustinus nicht ausgeklammert werden dürfen. Mit Blick auf das Wesen und die Stellung des Teufels werden im Folgenden diverse Schriftstellen befragt. Grundsätzlich schickt er noch einmal die begriffliche Differenzierung vorweg, dass der Hochmut als „Liebe zum spezifisch-eigenen Herausragen“ dem Neid vorausgehe, welcher der „Hass einer fremden Glückseligkeit“ sei (cum igitur superbia sit amor excellentiae propriae, invidentia vero sit odium felicitatis alienae). Gemäß Sirach (10, 15 Vulg.; 10, 13 LXX) sei „der Anfang aller Sünde der Hochmut.“ Augustinus ergänzt diese Aussage durch ein Apostel-Zitat (1 Tim 6, 10): „Die Wurzel aller Übel ist die Habsucht“, welche nicht bloß Geldgier meine, sondern generell die Neigung, „mehr zu erstreben, als gebührt, um des eigenen Herausragens willen und einer bestimmten Eigenliebe.“ Da der „Hochmut herausragen“ wolle, werde er „in Armut und Bedürftigkeit gestoßen, weil er durch seine schädliche Selbstliebe vom Gemeinsamen zum Eigenen herabgesetzt“ werde. Diese allgemeine Analyse erkläre auch den Fall des Teufels, dem es nicht um Geld ging, sondern um „die eigene Macht“. Folglich beraube „die verkehrte Liebe zu sich selbst den aufgeblähten Geist der heiligen Gemeinschaft.“ Letztlich sei die menschliche Geldgier nur ein Spezialfall der Habsucht, denn auch durch mehr Geld würden sich Habgierige für herausragender halten. Als Gegenteil zu „dieser Krankheit“ suche, wie Paulus schreibt (1 Kor 13, 4–5), „die Liebe nicht das Ihre“ und „bläht sich nicht auf “.795 Augustinus ist so in der Lage, tatsächlich eine durch und durch schriftgemäße Erklärung des Engelfalls durchzuführen. Dies gelingt über die Analyse dessen, was Hoch-
795 Gn. litt. XI, 14–15; 346,11–347,26.
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mut und Habsucht ihrem Pseudo-Wesen nach sind: das ‚Sich-selbst-Aufblähen‘, welches bereits von der Bildlichkeit her ein Sich-größer-Machen, als man ist, impliziert; genau das Gegenteil ist das Wesen der uneigennützigen Liebe, die sich ausdrücklich nicht „aufblähe“, wie der Apostel herausstellt. Von einer solchen, sachlich zielführenden Zusammenschau des Alten und Neuen Testaments her wird nicht nur erkennbar, warum Augustinus mit gutem Recht die Heilige Schrift als innere Einheit und als vom Heiligen Geist inspiriert begreifen kann; zugleich erweist sich erneut der methodische Grundsatz als wegweisend: scriptura ipsius interpres. Unter etlichen Gegensatzpaaren stellt Augustinus selbstlose Liebe und Selbstliebe als „zwei Arten der Liebe“ einander gegenüber: heilig – unrein, gemeinschaftlich – hochmütig, Gott ergeben – mit Gott wetteifernd etc. Diese beiden Arten der Liebe seien in den heiligen bzw. den von Gott abgefallenen Engeln präfiguriert, wodurch gemäß Augustins Theologie zugleich die beiden menschlichen „Bürgerschaften“796 konstituiert worden seien: die Bürgerschaft der zu Gott bzw. diejenige der zum gefallenen Engel, dem Teufel, gehörenden Menschen, welche innerzeitlich gemischt existieren und erst im Jüngsten Gericht getrennt würden, indem sie mit ihrem jeweiligen „König“ vereint, also entweder mit Christus das ewige Leben erlangen oder aber zusammen mit dem Teufel ins ewige Feuer geschickt würden.797 Wenngleich die Heilige Schrift keine genaue Angabe über den Zeitpunkt des Falls des Teufels enthalte, sei doch eindeutig, dass der Sündenfall des Engels dem der Menschen vorausliege. Erneut fällt für Augustinus vom Neuen Testament (Jh 8, 44) her Licht auf diese Frage: „‚Jener war ein Mörder von Anbeginn, und in der Wahrheit bewahrte er nicht seinen Stand.‘“ Ein Mörder des Menschen sei er „von jenem Beginn an, seitdem der Mensch gemordet werden konnte“ (et homicida quidem ab illo initio, ex quo homo potuit occidi), so habe er den „ersten Menschen getötet. In der Wahrheit“ aber sei er „von dem Beginn, seitdem er selbst erschaffen wurde, nicht standhaft geblieben“ (in veritate autem non stetit et hoc ab initio, ex quo ipse creatus est). Insofern gebe es keine „Zeit, in welcher er mit den heiligen Engeln friedlich und glückselig gelebt“ habe, sondern er sei „von Beginn der Schöpfung an von seinem Schöpfer abgefallen“.798 Gemäß Augustinus ist also vor allem der zweite Teil des Verses aus dem Johannesevangelium zur Bestimmung des Zeitpunkts des Engelfalls entscheidend: Es gab überhaupt keinen Zeitraum, wo der Engel die selige Gemeinschaft seiner Mitgeschöpfe genossen habe, weil er selbst von „seinem“, wie der Kirchenvater explizit hinzusetzt, Schöpfer unmittelbar abgefallen sei.799 Diese Sichtweise mag zunächst erstaunen, ist aber im Rahmen von Augustins Theologie konsistent: Die Engel sind in ihrer Gesamt-
796 Dieser Begriff gibt civitas auf geeignetere Weise wieder als das deutsche Wort „Staat“, wie Fuhrer (2004: 139) plausibel gezeigt hat. 797 Gn. litt. XI, 15; 347,27–348,19. 798 Gn. litt. XI, 16; 348,20–349,13. 799 Vgl. Drews (2009: 116–7).
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heit als erstes Geschöpf überhaupt der erste Himmel (Gen 1, 1); zugleich bedürfen sie der Hin- bzw. Rückwendung zu ihrem Schöpfer, um vollendet zum primären Licht zu werden (Gen 1, 3).800 Im Folgenden stellt Augustinus seiner exegetischen Praxis entsprechend801 etliche Fragen: Sollte der Teufel seinen Abfall von Gott nicht im Vornherein erkannt haben? Denn umgekehrt seien die nicht-fallenden Engel ihrer ewigen Glückseligkeit sicher. Gehörte er vielleicht einer anderen, niederen Engelgattung an, die ihre Aufgaben in der Welt tun? Zunächst geht Augustinus einen Schritt zurück und fragt nach der Glückseligkeit des Menschen im Paradies: Sollte etwa auch Adam gewissermaßen unvollkommen erschaffen worden sein, ohne echte Glückseligkeit? Gemäß seiner Theologie,802 dass Adam, hätte er nicht gesündigt, durch Gehorsam gegenüber Gottes Gebot einst den geistigen Leib empfangen sollte, der Sündenfall folglich nicht notwendig war,803 kann der Kirchenvater die Glückseligkeit Adams verteidigen: Wenn schon die Christen in dieser Welt gemäß Paulus in „geistiger“ Weise glückselig sein können – obgleich nicht in leibhaftiger Geistigkeit, „aber in der Gerechtigkeit der Hoffnung, indem sie sich an der ‚Hoffnung freuen‘ (Rö 12, 12)“ –, dann müsse dies umso mehr für das Menschenpaar im Paradies vor dem Sündenfall gegolten haben, welchem die Hoffnung auf die zukünftige Verwandlung eignete. Die ultimative Sicherheit um die eigene Glückseligkeit wäre also für das Menschenpaar zwar erst in dem künftigen Zustand erreicht gewesen; die Hoffnung darauf jedoch bestand von Anfang an und hätte völlig ungetrübt kontinuierlich existiert, wenn der Mensch sich nicht willentlich von Gott abgekehrt hätte.804 Die Theologie des Kirchenvaters erweist sich als stimmig und besticht dadurch, dass er für den Paradieszustand des Menschen die Glückseligkeit durchaus verteidigen kann: Es gibt kein präexistentes Übel oder einen vorherbestimmten Sündenfall, welcher diese ursprüngliche Glückseligkeit hätte zerbrechen oder auch nur infrage stellen müssen. Mit dieser paradiesischen beatitudo nicht im Widerspruch steht der Umstand, dass Adams ursprüngliche Glückseligkeit noch zu einer höheren hin gesteigert werden sollte: Die Hoffnung darauf bestand gemäß Augustinus realerweise von Anfang an, die sich zur endgültigen beatitudo hin ohne Weiteres, d. h. ohne Beeinträchtigung oder Trübung, hätte erfüllen können. Indes ist – besonders in einem literal-exegetischen Werk – ein Manko nicht zu verkennen: Von dieser Hoffnung steht nichts explizit im biblischen Text. Hätte Adam also um sie wissen können oder sollen? Augustins systematisch-theologische Erklärung überzeugt zwar durch sich selbst, lässt sich jedoch nicht philologisch am Bibeltext erhärten.805 800 801 802 803 804 805
S. o. Kap. 4. S. o. Kap. 3. S. o. Kap. 22 und 29. S. o. Kap. 13. Gn. litt. XI, 17–18; 349,14–351,18. In civ. XI, 12 unterscheidet Augustinus genauer zwischen der Glückseligkeit Adams vor dem Fall und derjenigen der Gläubigen nach dem Fall: Adam sei mit Blick auf das gegenwärtige Gut glück-
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Zur Frage nach dem glückseligen Erschaffungszustand des Teufels zurückkehrend, weist der Kirchenvater die Ansicht zurück, die Engel hätten eine beatitudo in völliger Unwissenheit über ihre Seligkeit oder Verdammnis genießen können. Die Ansicht, es habe unterschiedliche Gattungen „guter Engel“, die „überhimmlischen“ und die „weltlichen“, gegeben, wobei nur Letztere hätten in Sünde fallen können, betrachtet Augustinus nicht als undenkbar, sieht sie aber auch nicht durch die Heilige Schrift gedeckt. Entscheidender ist für den Kirchenvater die Frage, ob der Teufel seinen späteren Abfall vorhergewusst habe; dabei hält er es für möglich, dass dieser von Beginn der Zeit an sofort abgefallen sei und zu keiner Zeit „‚seinen Stand in der Wahrheit bewahrt‘“ (Jh 8, 44) habe. Die Meinung, der Teufel sei bereits von seinem Erschaffungszustand her „schlecht“ und somit bereits teuflisch gewesen (ita creatus), erachtet Augustinus als absurd, weil Gott selbst gut ist und nur Gutes erschafft.806 Außerdem befehle der Herr selbst denen zu seiner Linken, „‚in das ewige Feuer, welches bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln‘“ (Mt 25, 41), zu gehen, so dass von höchster Stelle beglaubigt sei, dass Gott nicht – widersinnigerweise – von ihm selbst schlecht erschaffene Kreaturen bestrafe, sondern deren eigene willentliche Abkehr vom Guten. Trotz der so entstandenen Sünde bewahre die Schöpfung insgesamt ihr Gut-Sein, wobei gleichwohl nicht das Schlechte und die Sünde stoisierend zu etwas Gutem oder gar als konstitutiv notwendig für das Ganze erklärt werden (non quo boni sint […] mali);807 die Gutheit des Ganzen bestehe vielmehr darin, dass die gute Schöpfungsordnung nicht selbst ins Böse verkehrt werden könne, sondern dem Schlechten „Grenzen der Macht“808 setze.809
806 807
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seliger gewesen, die jetzigen Gläubigen dagegen hinsichtlich der zukünftigen Hoffnung, die nach dem Erscheinen Christi konkreter fassbar ist. S. o. Kap. 7, 27, 31. S. o. Kap. 13 sowie Drews (2018: 512–3, 249 mit Anm. 779). Eine stoisierende Interpretation findet sich jedoch bei Rémy (2008: 118): Der zentrale Gedanke, dass das Schlechte zwar in sich selbst nicht gut ist, aber sekundärerweise durch die göttliche Providenz noch zu etwas Gutem zurückgewendet werden kann, ohne dass das Schlechte deshalb primär und in sich selbst zu etwas Gutem zu deklarieren ist, bleibt hier unerkannt und wird – zumindest hypothetisch – zugunsten eines alles unterschiedslos nivellierenden stoischen Fatalismus geopfert. Entlang dieser Gedankenbahnen erscheint dann auch die nicht-necessitierte, auf keine andere vorgeordnete Ursache zurückgehende Abwendung einer Seele vom Guten als unannehmbare Erklärung. Rémy meint „unüberwindliche“ Widersprüche zu konstatieren: „[…] Augustin est obligé de recourir à un artifice pour se donner l’illusion de sortir d’une impasse: comment admettre l’intégrité d’un bonheur conditionel?“ (ibd., 129); „On pourra toujours s’interroger sur les motifs qui agissent de l’intérieur sur la volonté pour la pervertir en lui faisant porter de mauvais fruits. L’aporie devient inévitable et insurmontable. […] Augustin est le témoin et l’artisan d’une tentative intellectuelle qu’on pourrait qualifier de tragique“ (ibd., 136). Zur Rationalität von Augustins Erklärung, dass sich die Seele in Abwendung vom Guten das Schlechte erst selbst erzeugt, s. Drews (2009: 127, 131 mit Anm. 289, 382–3). In eine stoisierende Argumentationsrichtung zielt dagegen auch die ‚Ontologisierung‘ des nichts zu einer portionierbaren quasi-Substanz: „son néant originel“ (Rémy 2008: 125): Gegen die Portionierbarkeit von ‚nichts‘ bei Augustinus s. Drews (2009: 116–143, 382–6), z. B. zu civ. XIV, 13 (ibd., 124–5). – Zu Rémy (2008) vgl. auch oben Anm. 781. S. o. Kap. 30. Gn. litt. XI, 19–21; 351,19–354,2.
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Die Schriftstelle (Hiob 40, 19 LXX): „‚Dieses ist der Anfang des Gebildes des Herrn, das er gemacht hat, auf dass es verspottet werde von seinen Engeln‘“, interpretiert Augustinus so, dass dem Teufel nicht von seiner Erschaffung her Spott anhaftet, sondern deshalb, weil er trotz seiner Abkehr von Gott und seiner Absicht, anderen zu schaden, gegen seinen Willen Gutes wirkt und daher, obwohl selbst böse geworden, in die gute Schöpfungsordnung integriert wird ([…] ipsam ordinationem, in qua eum fecit [sc. deus] etiam nolentem utilem bonis). Deshalb sei dem Teufel trotz seiner Bosheit nicht seine Wesensnatur streitig gemacht worden, weil Gott „vorhergesehen“ habe, „wieviel Gutes er durch seine wunderbare Gutheit und Macht von ihm her wirken“ würde. Zum Spott der Engel werde der Teufel, „wenn seine Versuchungen den Heiligen nützen, so dass die Bosheit, in welcher er selbst sein wollte, gegen seinen Willen den Dienern Gottes dienlich ist, der ihn gebildet hat, indem er dieses vorhersah“ (quoniam sic inluditur, cum sanctis prosunt temtationes eius, […], ut malitia, in qua ipse esse voluit, eo nolente sit utilis servis dei, qui hoc praevidens eum finxit). Dieser Nutzen bestehe z. B. darin, dass die Heiligen in den Versuchungen die Chance erhielten, die Bösen zu ertragen und Feinde zu lieben. Der „Anfang dieses Gebildes“ sei der Teufel deshalb, weil er der erste von allen Bösen überhaupt sei.810 Das Bemerkenswerte in Augustins Theologie der Vorsehung ist hier wie in einem Konzentrat formuliert: Der Teufel ist ursprünglich ein gutes Geschöpf; seine Abwendung vom Guten und damit von Gott sieht dieser vorher; die Bosheit des Teufels führt also weder dazu, dass Gott ihm seine Freiheit nimmt, noch dazu, dass das von Gott nicht gewollte Böse die gute Schöpfungsordnung umwirft; vielmehr kann Gott auch noch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen und zeigt so die unangefochtene Macht des Guten, welcher der Teufel – sogar gegen seinen Willen – noch dienen muss; und trotzdem macht all dies das Böse nicht selbst zu etwas Gutem, Notwendigem oder gar an sich von Gott Gewolltem. Aus dieser Perspektive ergeben sich etliche Parallelen zur Theologie eines Origenes,811 auch wenn Augustinus freilich nicht die von Origenes vielleicht erwogene Möglichkeit, dass der Teufel wieder zu einem guten Engel werden könnte,812 in Betracht zieht. An dieser Stelle vermag Augustinus nun entscheidende Schlussfolgerungen aus dem Schrift-Zeugnis Jh 8, 44 zu ziehen: „‚Jener war ein Mörder von Anbeginn, und in der Wahrheit bewahrte er nicht seinen Stand.‘“ Der Teufel hätte ja gar nicht fallen können, wenn er von Gott schlecht erschaffen worden wäre (neque enim cecidit, si talis est factus). Da er aber „von Beginn an nicht standhaft geblieben“ sei, bedeute dies, dass „er sich unmittelbar vom Licht der Wahrheit abgewendet hat, aufgebläht von Stolz und verdorben durch das Berauschtsein an der eigenen Macht“ (sed factus continuo se a luce veritatis avertit, superbia tumidus et propriae potestatis delectatione cor810 811 812
Gn. litt. XI, 22; 354,3–355,9. Vgl. Origenes, princ. I, 5, 5; III, 2, 1+3+7. Vgl. Origenes, princ. I, 6, 2 und den in der Edition von Görgemanns/Karpp (S. 216–8) angegebenen Hinweis auf Hieronymus, Ep. 124, 3.
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ruptus). Entscheidend für Augustins scharfsinnige theologische Argumentation ist also die Zusammenschau der Begriffe „von Beginn an“ und „bewahrte nicht seinen Stand“: Der Teufel muss folglich seinen guten Erschaffungszustand sofort aufgegeben bzw. verspielt haben. Denn nur diese Interpretation wird sowohl dem Kriterium, dass Gott alle seine Geschöpfe gut erschaffen hat, als auch dem selbst verschuldeten Abfall des ursprünglichen Engels gerecht. Daher habe er auch nicht die Glückseligkeit der Engel „geschmeckt“, weil er schon „einen Widerwillen gegen sie empfand, noch bevor er sie empfangen hatte; indem er sie nicht empfangen wollte, hat er sie verlassen und verloren.“ Dies impliziert bereits die nächste wichtige theologische Schlussfolgerung: Hat der Teufel unmittelbar seine Glückseligkeit verspielt, „konnte er auch nicht seinen eigenen Fall vorherwissen, da die Weisheit eine Frucht der Frömmigkeit ist“ (proinde nec sui casus praescius esse potuit, quoniam sapientia pietatis est fructus). Folglich war er „geistig blind“, und sein Fall ereignete sich gar nicht wirklich „aus dem, was er empfangen hatte, sondern aus dem heraus, was er empfangen hätte, wenn er sich Gott hätte unterwerfen wollen.“ Entscheidend ist in Augustins Argumentation, dass Gott keine Schuld am Fall des Engels trifft, daher fügt er präzisierend hinzu: „Da er dieses [sc. die Gottergebenheit] aber nicht wollte, ist er sowohl aus dem heraus, was er im Begriff war zu empfangen, gefallen, als auch ist er der Macht von jenem, unter welchem er nicht sein wollte, nicht entkommen“ (quod profecto quia noluit, et ab eo quod accepturus erat cecidit et potestatem illius, sub quo esse noluit, non evasit).813 Dies bedeutet, dass Gott auch diesem Engel alles Gute – nämlich die Glückseligkeit und das engelhafte Wissen – zu schenken bereit war, seinerseits ihm also nichts vorenthalten wollte und der Teufel all dies hätte empfangen können, wenn er nur gewollt hätte. Obwohl Augustinus dies hier nicht explizit sagt, fehlt dem fallenden Engel anscheinend die unmittelbare Hinkehr zu Gott gemäß dem „Es werde Licht“ (Gen 1, 3); da er dieses Lichtwerden der Engel814 ausschlägt, wird er zum Teufel. Hieran wird nicht zuletzt deutlich, dass die Hinkehr der Engel zu Gott keinen Automatismus darstellt, sondern ein Moment der Freiheit impliziert. Während die Freiheit der Engel von ihrem Schöpfer respektiert wird, bleibt dessen Souveränität zugleich gewahrt: Indem sich der Engel seinem Schöpfer widersetzt, vermag er dessen Macht nicht zu entrinnen,815 weil diese auch mit den schlecht gewordenen Geschöpfen ‚fertig zu werden‘ weiß und ihrer Boshaftigkeit, wie oben gesehen, Grenzen setzt.816 Das Verhältnis zwischen Teufel und bösen Menschen begreift Augustinus in Analogie zu demjenigen zwischen Christus und den Gläubigen, wobei ein Text aus Jesaja (14, 12–15) als Ausgangspunkt dient: Dort wird der Fall des „Morgensterns“ (lucifer)
813 Gn. litt. XI, 23; 355,10–356,4. 814 S. o. Kap. 4. 815 Dieser Aspekt wird auch im paganen Platonismus betont, z. B. bei Proklos: nichil effugit illud unum (Dec. Dub. I, 5; 60, 33–34). S. zur Stelle Drews (2009: 302, 344). 816 S. o. Kap. 30 sowie den Anfang dieses Kap.
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vom Himmel als Folge seines Hochmuts, „seinen Thron über alle Sterne Gottes setzen und Gott gleich sein“ zu wollen, im Hinblick auf den babylonischen König beklagt, im figürlichen Sinn sei dies jedoch auf „Luzifer“ im Sinne des Teufels zu beziehen. Die sich Gottes Geboten widersetzenden Menschen „hängen in ihrem Hochmut“ dem Teufel an (qui ei [sc. diabolo] per superbiam cohaerent apostatando a mandatis dei). Folglich würden auch Menschen bisweilen als „Teufel“ bezeichnet – an exponierter Stelle durch Jesus selbst (Jh 6, 70): „‚Und einer von euch ist ein/der Teufel‘“ (‚et unus ex vobis diabolus est‘). Da Augustinus das Neue Testament auf Lateinisch liest, ist naturgemäß die Frage des bestimmten oder unbestimmten Artikels nicht zu entscheiden – ein Blick ins griechische Original zeigt, dass im Deutschen ein unbestimmter Artikel zu wählen wäre. Diese Nuance ist nicht unwesentlich, da vom Griechischen her offenbar die Möglichkeit besteht, dass jemand „ein Teufel“ ist, also gewissermaßen mit der defizitären Seinsmöglichkeit als solcher zu rechnen ist. Trotzdem liegt der Kirchenvater in seiner Exegese insofern nicht falsch, als er ja genau diese Pseudo-Seinsmöglichkeit inhaltlich auch in Betracht zieht: Ein Mensch kann durch Abfall von Gott zu einem Teufel werden und zählt dann zum Leib des eigentlichen Diabolus, welcher – in Analogie zu Christus als dem „Haupt der Kirche“ (1 Kor 12, 12) – das „Haupt“ dieses Leibes darstellt. Denn die vielen „von Christus und der Kirche“ als Gemeinschaft der Gläubigen „gleichsam wie vom Himmel“ Abfallenden würden „Teufel und in seinem Leib selbst auf figürliche Weise Viele genannt“, insofern sie „Glieder“ des Teufelleibes seien. Damit schlägt Augustinus den Bogen zurück zur Jesaja-Passage: Wie der babylonische König als Verkörperung des Teufels betrachtet und umgekehrt diese Textstelle in allegorischer Weise auf den Teufel selbst bezogen werden kann, so seien die dem Satan Folge leistenden Menschen ebenfalls „vom Himmel gefallen“ und selbst „Teufel“, da sie im (anti-)geistigen Sinn zum Leib des Teufels gehörten (vgl. Off 3, 9). Es bestehe eine reziproke Analogie zwischen der teuflischen Hinwendung zur Finsternis unter Verlust des vormals selbst „getragenen“ Lichts und der Hinkehr der Gläubigen von der Dunkelheit hin zu Gott: Diese „werden in das Licht übergehen, d. h., welche Finsternis gewesen sind, werden Licht“ (qui fuerunt tenebrae lux fiunt). Damit fokussiert Augustinus nun die Hinwendung zum Licht gemäß dem Fiat lux (Gen 1, 3) als den oben nicht eigens explizit gemachten Kristallisationspunkt, welcher über Glückseligkeit oder Verdammnis zu entscheiden scheint. Analog zur Jesaja-Passage spreche auch die auf den Fürsten von Tyrus bezogene Stelle beim Propheten Hesekiel (28, 12–19) letztlich von dem als erstes gefallenen Engel.817 Zusammenfassend stellt Augustinus fest, dass der Teufel entweder „von Beginn seiner Erschaffung an aus der Glückseligkeit, welche er, hätte er dies gewollt, zu empfangen im Begriff gewesen war, durch unfrommen Hochmut gefallen ist oder dass andere
817
Gn. litt. XI, 24–25; 356,5–358,19. Zur Stelle und zu Assoziationen mit Tyconius dem Donatisten sowie Ambrosiaster s. Kelly (1997: 123).
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Engel von niederem Dienst in dieser Welt sind, unter denen er gemäß ihrer gewissen Glückseligkeit ohne Vorherwissen gelebt hatte und aus deren Gemeinschaft er zusammen mit seinen ihm ergebenen Engeln gleichsam als Erzengel gefallen ist durch hochmütige Gottlosigkeit.“ Letztere Argumentation zu erhärten, erachtet der Kirchenvater jedoch für kaum möglich – aus den schon bekannten Gründen, dass dann schwer erweisbar wäre, wie sowohl die tatsächlich glückseligen wie auch die später fallenden Engel jeweils entweder über ein engelhaftes Vorherwissen bezüglich ihrer Seligkeit bzw. ihres Falls hätten verfügen oder eines solchen hätten entbehren sollen: Wenn sie es besaßen, wäre nicht einsichtig, wieso der Teufel von seiner vorherwissenden Glückseligkeit hätte abfallen sollen; wenn sie es nicht besaßen, dann wären die nicht-fallenden Engel nicht wahrhaft glückselig gewesen bzw. hätten die Vollendung ihres Wissens erst nach dem Fall des Teufels erlangt. Dies würde absurderweise implizieren – ohne dass Augustinus dies explizit macht –, dass dann der Sündenfall des Teufels für die ultimative Sicherheit der nicht-fallenden Engel irgendwie doch notwendig gewesen wäre. Die Alternative, dass der Teufel mit seinen Engeln im Vornherein von der vorherwissenden Glückseligkeit der nicht-fallenden Engel abgesondert worden sein sollte, würde auf der ebenfalls abwegigen Annahme beruhen, dass bereits vor dem Sündenfall ein Grund zu einer derartigen Aussonderung hätte bestehen müssen (aut quo merito ante peccatum suum diabolus cum sociis suis a ceteris angelis discretus fuerit, ut ipse sui futuri casus esset ignarus, illi autem certi permansionis suae). Auch diese Implikation führt der Kirchenvater nicht mehr eigens aus, aber klar ist, dass dann die Verantwortung für den Fall kaum noch bei dem Teufel selbst, sondern bei Gott gelegen hätte – und diese Voraussetzung hatte Augustinus schon mehrfach widerlegt: Gott ist nur Ursache von Gutem und würde das Schlechte nicht einer gerechten Strafe unterziehen, wenn es nicht im Widerspruch zur Gutheit seiner Schöpfungsordnung stünde. E negativo erweist sich also die kurz zuvor schon scharfsinnig etablierte, erste Argumentation als überzeugendste: dass der Teufel unmittelbar nach seiner Erschaffung in stolzer Anmaßung über seine Macht vom Licht abgefallen ist (ohne Rückwendung zu diesem) und deshalb die ihm von Gott her zugedachte Glückseligkeit gar nicht empfangen hat, weil er sie nicht empfangen wollte. Außer Frage steht für den Kirchenvater, dass die in Sünde gefallenen Engel „gleichsam in den Kerker des die Erde umgebenden Luftdunstes hinabgestoßen“ wurden, wo sie „verwahrt werden für ihre Bestrafung im Gericht“, wohingegen weder für die seligen Engel „das ewige Leben unsicher“ sei noch für die gläubigen Menschen, welche gemäß Gottes „Gnade und seiner treuesten Verheißung“ nach der Auferstehung und der Umwandlung dieser Körper“ mit den Engeln verbunden sein würden. Damit verweist der Kirchenvater auf die christliche Hoffnung der Auferstehung und einer neuen, verwandelten Leiblichkeit818 (vgl. Lk 20, 35–36).819
818 819
S. dazu gemäß 1 Kor 15, 44 oben Kap. 22. Gn. litt. XI, 26; 358,20–359,23.
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Auch wenn der Teufel zum Gespött der Engel wurde, weil sein Plan, den Menschen zum Schlechten zu verführen, nicht verhindern konnte, dass Gott sogar aus dieser bösen Intention noch etwas Gutes zum Nutzen der Gläubigen entstehen ließ, wird sein Handeln damit nicht selbst im Nachhinein zu etwas Gutem. Die Ausführung seines Plans begreift der Kirchenvater so, dass der gefallene Engel kraft seiner Geistnatur sich die Schlange dienstbar machte und die verführenden Worte durch sie sprach (in serpente ipse locutus est utens eo velut organo). Auch wenn sich Schlangen auf bestimmte Beschwörungen hin bewegten, zeige dies zwar, warum der Teufel gerade dieses Tier benutzt habe. Verstanden wurden jene Worte in ihrer Überredungsintention jedoch nicht von der Schlange (non itaque serpens verborum sonos intellegebat), sondern von der Frau (per quae mulier suadentis intellegeret voluntatem). Denn der Versucher habe seine Worte nicht direkt „in der Frau gesprochen“, sondern durch die Worte der Schlange auf Eva eingewirkt – anders als im Falle des Judas, welcher „auf verborgenere Weise allein durch einen Anreiz“ (solu instinctu occultius) im Innern seiner Seele vom Teufel verführt wurde, Christus zu verraten (Jh 13, 2). Hätte der Teufel in seinem Willensstreben nicht das Schlechte verfolgt, wäre dieses nicht geschehen; der Möglichkeitsraum, so zu handeln, sei ihm von Gott zugestanden worden. Damit wird gemäß Augustinus jedoch nicht Gott ‚zum Komplizen‘ der Sünde, da die freiheitliche Bestimmung der rational begabten Kreaturen, also der Engel wie der Menschen, zu deren geschöpflichem Gut-Sein essentiell dazugehört, zumal der Teufel nicht hätte schlecht werden müssen und schließlich Gott sogar aus dem Schlechten wieder etwas Gutes erwirkt.820 Die Rolle der Schlange Gen 3, 1 vergleicht der Kirchenvater mit der „einer listigen Zunge“ (astuta lingua) oder „eines lügnerischen Stiftes“ (stilus mendax): Metaphorisch steht das Instrument für den Geist, der es gebraucht, so dass die Schlange nur deshalb das „klügste aller Tiere“ (Gen 3, 1) genannt werde, weil dies von der Listigkeit des Teufels her auf sie übertragen werde (propter astutiam diaboli). Strikt abwehren möchte Augustinus den Gedanken einer Seelenwanderung eines rational begabten Geistwesens in einen tierischen Körper und umgekehrt. Dagegen verteidigt er die Möglichkeit, dass sich ein gemäß der Schöpfungshierarchie höher stehendes Geist-Wesen eines Tiers zu bemächtigen vermag: Dies sei sowohl nicht-gefallenen Engeln möglich (z. B. wenn die Eselin zu Bileam spreche, Num 22, 28–35) als auch gefallenen wie dem Teufel. Aus dem Aspekt, dass Eva auf die verführerische Frage der Schlange hin das Gebot Gottes wiederholt, nicht von dem Baum „in der Mitte des Paradieses zu essen“ (Gen 3, 2–3), schließt Augustinus auf die eigentliche Schuld Evas: Sie hatte des Gebots nicht vergessen, sondern erinnerte durchaus, was Gott befohlen hatte (neque ullo modo dici potest id, quod praeceperat deus, oblitam fuisse mulierem). Dass Eva meinen konnte, „eine gute und nützliche Sache“ wäre den Menschen durch Gott verwehrt, sei indes auf eine dem Geist bereits innewohnende „Liebe zur eigenen Macht und eine
820 Gn. litt. XI, 27–28; 359,24–361,21.
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bestimmte hochmütige Anmaßung über sich selbst“ zurückzuführen, die durch jene Versuchung „überführt und gedemütigt“ werden sollte ([…] quaedam de se superba praesumtio, quae per illam temtationem fuerat convincenda et humilianda).821 Eva habe nicht geglaubt, infolge der Verletzung des Gebots wirklich zu sterben (non credens posse inde se mori); Gleiches gelte möglicherweise für Adam, weil er sah, dass seine Frau nicht an dieser Frucht gestorben war.822
Wäre convincenda jedoch in einem ursprünglicheren Sinne aufzufassen, dass die Menschen hier ihre stolze Anmaßung „überwinden, besiegen“ sollten, dann ergäbe sich ein anderer Sinn, weil so unterstrichen würde, dass sie die Chance besaßen, sich in der Versuchung zu bewähren. Dagegen spricht jedoch kurz danach der Gebrauch von convinceret im Sinne von „überführen“ (Gn. litt. XI, 32; 366, 25). Da für die oben besprochene Stelle jedoch statt convincenda auch convincendam [sc. temtationem] überliefert ist – womit eine Bedeutung von „überführen“ im Sinne von „überwinden“ impliziert wäre –, erscheint die Überlegung über die hier zu veranschlagende Bedeutung des Verbs nicht völlig unbegründet. 822 Gn. litt. XI, 29–30; 361,22–364,2. 821
34. Die Augenöffnung, die Erkenntnis von Gut und Böse, der unmittelbare Tod und der Verlust der Gnade Nacktheit im geistigen und körperlichen Sinn, die wechselseitige Bezogenheit von Allegorie und Literalität und die Relevanz der bildlichen Darstellung
Selbst wenn, so erweist sich dieses vermeintliche Sehen als irrtümlich, wie Augustinus sogleich ausführt: Denn während zuvor das Sehen des verbotenen Baumes, Adams Sehen der Tiere und seiner Frau (Gen 2, 16–25) im Einklang mit Gottes Schöpfungsordnung möglich war, ändert sich dies nun nach dem Verzehren der verbotenen Frucht. Tatsächlich scheint im ersten Moment etwas Positives zu geschehen: „Also ‚aßen sie, und es wurden ihnen beiden die Augen geöffnet‘“ (Gen 3, 7). Nach der Verletzung des Gebots trügt dieser Schein, wie an der Zielrichtung dieser „Öffnung“ gemäß dem Kirchenvater deutlich wird: Geöffnet sind die Augen beider, von Mann und Frau, nun dazu, dass sie „einander begehren, hin zur durch den Tod des Fleisches selbst empfangenen Strafe für die Sünde“ (quo nisi ad invicem concupiscendum, ad peccati poenam carnis ipsius morte conceptam). Damit ist also klar: Es handelt sich um einen Trugschluss, dass die Menschen infolge des Essens vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen (Gen 2, 17) nicht sterben würden; gemäß Augustinus sind sie bereits unmittelbar danach von diesem Tod gezeichnet, in gewisser Weise bereits schon zu diesem Zeitpunkt ‚tot‘. Denn das Sehen der gut geschaffenen Schöpfung, auch das paradiesisch-unbeeinträchtigte Sehen ihrer selbst ist nun nicht mehr möglich. Die Verheißung, welche gemäß Augustins Theologie impliziert gewesen sein muss, dass die Menschen nach dem Gehorsam die Verwandlung ihres „seelisch-tierischen Leibes“ in einen geistigen erlangen sollten,823 ohne dass die Erfahrung des Todes gemacht worden wäre, ist verspielt, und der seelisch-tierische Leib ist jetzt „schon ein Leib des Todes, in welchem das Gesetz der Glieder gegen das Gesetz des Geistes im Streit liegt“, wie Augustinus bereits
823 S. o. Kap. 22.
34. Die Augenöffnung, der unmittelbare Tod und der Verlust der Gnade
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zuvor unter Rekurs auf Römer 7, 23 ausgeführt hatte824 (ut iam esset corpus non animale tantum, quod poterat, si oboedientiam conservarent, in meliorem spiritalemque habitum sine morte mutari, sed iam corpus mortis, in quo lex in membris repugnaret legi mentis).825 Die Augenöffnung ist auf den Zustand des Todes gerichtet: Die innere Einheit des Menschen, in welcher das Fleisch mit dem Geist in Eintracht lebte, ist ‚gestorben‘; der Tod zeigt seine präsentische Wirkung in der inneren Zerrissenheit des Menschen und in der sich verselbständigten, vom Geist nicht mehr einholbaren Begierde des Fleisches. Die Erkenntnis von Gut und Böse ist, wenn man Augustinus hier weiterdenkt, keine abstrakte Differenzierung, sondern sie wirkt sich unmittelbar auf den Zustand des Menschen selbst aus: Die zerbrochene Einheit des Menschen sowohl in sich selbst als auch in Beziehung zu seinem Nächsten impliziert einen inneren Gegensatz, welcher als permanenter Widerstreit von Gut und Böse erfahren wird. Dies ist für den Kirchenvater die unmittelbare Gegenwart des Todes. Obwohl ein metaphorisch-figürlicher Sinn mit Blick auf die Augen-Öffnung nicht bestritten werden könne, stehe jedoch der literale, sich auf das Geschehen beziehende Sinn außer Frage: Denn die Erkenntnis, dass „sie nackt waren“ (Gen 3, 7), rekurriert eindeutig auf die leiblich-faktische Realität. Auch dieses methodisch-exegetische Detail entspricht also ganz der zu Anfang von De Genesi ad litteram zugrunde gelegten Hermeneutik: Der geistig-figürlichen Dimension der Heiligen Schrift ist immer Rechnung zu tragen; die Frage, ob auch Geschehenes berichtet wird, ist unabhängig davon zu betrachten.826 Da sich die Öffnung der Augen eindeutig auf die Erkenntnis der körperlichen Nacktheit bezieht, hat Augustinus gute Gründe auf seiner Seite, diesen Kommentar des Erzählers bzw. „Schreibers des Buches“ (scriptor libri) als Hinweis auf ein leibhaftiges Geschehen zu begreifen. Zugleich schließt dieses literale Verständnis ein metaphorisches nicht aus – solange es im geistigen Verständnis konkret bleibt und Metaphern nicht als eine Art ‚Gewölk‘ bemüht werden, deren Bedeutungsgehalt abstrakt und unbestimmt bleibt.827 In Bezug auf die Auslegung von Gen 3, 7 vermag Augustinus auf eine vergleichbare Passage aus dem Neuen Testament zu verweisen: Wenn den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus die Augen geöffnet werden und sie ihren auferstandenen Herrn erst beim Brotbrechen erkennen (Lk 24, 13–35), dann sei auch dies weder aus der Sicht einer Person innerhalb der Geschichte figürlich gemeint noch einfach der Perspektive des Erzählers zuzuschreiben, sondern im Sinne des Erkanntwerdens der konkreten Person gemeint, die den Jüngern leibhaftig begegnet und die sie zunächst nicht erkennen, obwohl sie ihre Augen nicht geschlossen hatten. Auch hier ließe sich, streng genommen, einwenden, dass offensichtlich ein geistiges
824 825 826 827
S. o. Kap. 29 und 32. Gn. litt. XI, 31; 364, 3–19. S. o. Kap. 2. Vgl. Kap. 17 und 20. Zum teils in der Theologie inflationär gebrauchten Begriff der Metapher s. Drews (2018: 188 mit Anm. 533) mit weiteren Literaturhinweisen. Vgl. außerdem oben Anm. 699.
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Verständnis dazukommen muss, damit die Jünger Jesus in und an seiner Handlung erkennen (und dass ferner gerade die Präsenz des Auferstandenen im eucharistischen Sakrament betont wird). Die Augen-Öffnung der Jünger ist aber insofern derjenigen Adams und Evas vergleichbar, als dieses geistige Erkennen innerhalb der Geschichte klar zurückgebunden bleibt an eine leibhaftige Realität (den Auferstandenen bzw. die eigene Nacktheit), so dass der Erzählinhalt in Gen 3 gemäß Augustinus insgesamt „nicht figürlich ist, obwohl die Schrift ein metaphorisches Wort verwendet (sicut ergo ibi, sic nec isto loco narratio figurata est, quamvis translato verbo scriptura usa sit), so dass sie von geöffneten Augen spricht, die auch vorher offen waren: geöffnet allerdings dazu, etwas Bestimmtes einzusehen und zu denken, was sie vorher überhaupt nicht bemerkt hatten.“828 Für die Übertretung von Gottes Gebot verzeichnet Augustinus eine Vielzahl von Gründen: „verwegene Neugier“; die Lust nach Verbotenem; die Meinung, der zuvor gefürchtete Tod würde doch nicht eintreten; der Glaube, Gott würde ihnen verzeihen, da sie es nicht zu ertragen vermochten, den Grund des Verbots nicht zu kennen. Die eigentliche Nacktheit, welche das Menschenpaar im Paradies erfuhr, ist gemäß dem Kirchenvater bezeichnenderweise wieder eine geistige, so dass auch von diesem Aspekt her einmal mehr der intelligible Bedeutungsgehalt der Heiligen Schrift seine unbestrittene Relevanz zeigt: Nach der Übertretung von Gottes Gebot sind die Menschen, „da sie innerlich [sc. Gottes] Gnade verlässt, völlig nackt, die sie durch einen gewissen Stolz und hochmütige Liebe zu ihrer eigenen Macht verletzt hatten (mox ergo ut praeceptum transgressi sunt intrinsecus gratia deserente omnino nudati, quam typho quodam et superbo amore suae potestatis offenderant). Entscheidend ist also, dass der Verlust der Gnade gemäß Augustinus eine Folge der Sünde des Menschen ist und nicht umgekehrt.829 Auch von hier aus findet somit die grundsätzliche Möglichkeit, dass der Mensch sich in gewissen Grenzen der von sich selbst her zwar allmächtigen Gnade dennoch widersetzen kann, ihre Bestätigung.830 Der doppelten Nacktheit im geistigen und körperlichen Sinne, welche die Menschen nun erkennen müssen, entspricht also in exegetischer Hinsicht die Verzahnung von geistiger und literal-leiblicher Dimension: Das Menschenpaar ist vor allen Dingen deshalb „nackt“, weil sie den Beistand von Gottes Gnade verspielt haben; ihre körperliche Nacktheit, so Augustinus, erfahren sie an den ihnen zuvor unbekannten „Bewegungen“ ihrer „begehrenden Glieder“. Letztere sind nun nicht mehr willentlich kontrollierbar, insofern wird die Nacktheit leibhaftig spürbar: „Dazu also wurden ihnen die Augen geöffnet.“ Der Kirchenvater 828 Gn. litt. XI, 31; 364,20–365,10. 829 Das Umgekehrte – dass Gott dem Menschen seine Gnade einfach entzogen haben könnte – scheint z. B. eine Denkfigur Luthers zu sein, welcher grundsätzlich von einem nicht biblisch, sondern durch Vergils Aeneis ‚belegten‘ göttlichen Totaldeterminismus ausgeht und folglich einem realen freien Willen auf Seiten des Menschen in seinem Weltbild keinen Platz mehr einräumen kann. S. dazu Drews (2009: 759–760, mit Anm. 126 und 127). 830 S. o. Kap. 29 und 16.
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weist noch einmal explizit darauf hin, dass „der Tod sich an jenem Tag ereignete, als das geschah, was Gott verboten hatte“ (haec mors ea die accidit, qua factum est quod deus vetuit). In der Folge sei das Menschenpaar nicht mehr „vom Baum des Lebens her durch die geheimnisvolle Kraft/Gutheit“ geschützt gewesen, sondern nun anfällig für Krankheiten und Alterung geworden. Im Baum des Lebens manifestiert sich auf körperliche Weise zugleich das Geistige,831 d. h. „die geistige Nahrung der Weisheit“, an welcher auch die Engel partizipieren, „auf dass sie sich nicht zum Schlechteren verändern.“ Der Verlust dieses geistigen Lebensbaums zeigt seinen doppelten Effekt im geistigen Verlust der Gnade Gottes und in der Einbuße der körperlichen Unversehrtheit – beides hängt gemäß Augustinus zusammen. Zuvor war der Mensch in seinem guten Erschaffungszustand von Gottes Gnade „bekleidet“ – geistig wie leiblich – und hatte deshalb auch nicht die unkontrollierbaren Bewegungen des sexuell begehrenden Körpers gekannt, derer er sich nun „schämte“ (ille pudendus motus de praecepti transgressione veniebat. ibi enim sensit, qua prius gratia vestiretur, quando in sua nuditate nihil indecens patiebatur). Aus seiner die Heilige Schrift als Einheit begreifenden Perspektive sieht der Kirchenvater das Psalm-Wort (30, 8) bereits in der Paradiesgeschichte bestätigt: „Herr, nach deinem Willen hast du mir zum Schmuck Tugend/Gutheit gewährt. Aber du hast dein Angesicht abgewendet, und ich bin in ängstliche Verwirrung geraten.“ Dies bedeutet gemäß Augustinus, dass der paradiesische Mensch in Tugend/ Gutheit erschaffen war, aber durch seine Sünde die Abwendung Gottes zu erleiden hatte. Der Verlust der Gnade manifestiert sich also im Zwiespalt zwischen Geist und Leib.832 Diese beiden Wirklichkeitsdimensionen sind nicht miteinander identisch, aber gehören zusammen – so wie in methodischer Hinsicht gemäß Augustinus die Geistiges und Leibliches vereinende Exegese.833 831 S. o. Kap. 25. 832 S. o. Kap. 31 und 29. 833 Gn. litt. XI, 31–32; 365,11–366,25. Deshalb ist es m. E. nicht zutreffend, dass Reiser (2007: 367–8) – als Befürworter der Allegorese – Augustinus vorhält, er würde den „entscheidenden Fragen ausweichen“. Reiser bezieht sich in seiner Kritik explizit auf die „Blätter“, mit denen Adam und Eva ihre Scham zu bedecken trachten (Gen 3, 7). Wie die oben nachgezeichnete Exegese zeigt, versteht es Augustinus offensichtlich, somatische und psychologische Aspekte zusammenzudenken, und verharrt gerade nicht bei einer ‚plumpen‘ Tatsächlichkeit, ‚weil es im Text so da steht‘. D. h., die geistig-allegorische Dimension, welche Reiser mit Didymus favorisiert, wird auch von Augustinus keineswegs ausgespart. Trotzdem hat er gute Gründe, darauf hinzuweisen, dass sich die Erkenntnis der Nacktheit (Gen 3, 7) auf eine körperliche Dimension beziehen, also der Literalsinn dieser leibhaftigen Wirklichkeitsebene Rechnung tragen muss. Das Erkennen der Nacktheit ist vielleicht weitaus weniger ‚naiv‘ zu begreifen, als ob es von dem Menschenpaar vorher einfach nur nicht bemerkt worden wäre (vgl. Gen 2, 25); vielmehr geht es vielleicht darum, dass die Erkenntnisaktivität, also das begreifende Denken, sich nun in einer anderen Weise auf den Leib richtet als zuvor, so dass der Mensch nicht mehr im Einklang mit sich selbst ‚nackt‘ sein konnte, sondern in seinem Denken von seiner Nacktheit gleichsam gefangen genommen wird, so dass die Ratio ihren freien Blick verliert und sich einem nicht mehr mit ihr in Harmonie befindlichem Leib gegenüber sieht, dessen nunmehr ‚autarke Eigenwilligkeit‘ in einen Gegensatz zur Ratio tritt und sie bezwingt: Das Denken kreist in einer zuvor ungeahnten Weise um den nun verselbständigten Leib, welche weder
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Wenn in Gen 3, 8 davon die Rede ist, dass die Menschen „die Stimme Gottes hörten, der am Abend im Paradies wandelte“, so deutet Augustinus die Abendstunde symbolisch für die Abwesenheit des Lichts, welche das Menschenpaar durch seinen Sündenfall auf sich gezogen hatte (ea quippe hora tales iam convenerat visitari, qui defecerant a luce veritatis). Dabei hält er es für denkbar, dass Gott auch schon zuvor mit den Menschen geredet habe – vielleicht in vergleichbarer Weise, wie er mit den Engeln spreche, indem er „durch seine unveränderliche Wahrheit ihre Geiste erleuchtet, wo die Intellekteinsicht ist, zugleich zu wissen, was immer auch durch die Zeiten nicht zugleich entsteht“834 (ipsa incommutabili veritate inlustrans mentes eorum, ubi est intellectus nosse simul quaecumque etiam per tempora non fiunt simul). Freilich schwächt er diesen Vergleich sofort wieder ab, weil das menschliche Fassungsvermögen dem der Engel nicht gleichkomme. Ferner habe Gott zu den Menschen auch „durch eine Kreatur“ sprechen können: „entweder durch körperliche Bilder“, die in einer „Entrückung des Geistes“ geschaut werden, „oder durch eine tatsächlich den Körpersinnen zum Sehen oder Hören dargebotene Gestalt.“835 Für Gen 3, 8 sei davon auszugehen, dass Gott seine sinnliche Präsenz beim Wandeln im Garten sowie im Sprechen „vermittels einer Kreatur“ bewirkt habe, da seine „unsichtbare und überall ganze Substanz“ in ihrer überzeitlichen Unteilbarkeit als solche nicht „in einer örtlichen und zeitlichen Bewegung den körperlichen Sinnen“ der Menschen habe erscheinen können. Offenkundig beschränkt Augustinus die Möglichkeit einer direkten Inkarnation Gottes in einem Körperwesen auf die Menschwerdung Jesu Christi. Bevor der Kirchenvater auf den Dialog zwischen Adam und Gott zu sprechen kommt, weist er auf folgende Reziprozität hin, ohne auf deren „mystische Bedeutung“ genauer einzugehen: Gottes Gebot war durch Adam zu Eva gelangt; die Sünde aber vom Teufel durch Eva bis zu Adam. Noch einmal unterstreicht Augustinus, dass Gott „durch eine Kreatur“ den Menschen im Paradies „in menschlicher Form“ (in forma humana) erscheinen konnte. Da die Menschen sich vor Gott verstecken und dieser Adam fragt, wo er sei, erwidert Adam sogleich, er habe „sich gefürchtet, weil er nackt“ sei (Gen 3, 8–10). Augustinus legt dies so aus, dass Gott – vor dem Sündenfall – „niemals zugelassen“ habe, dass die Menschen „ihre Nacktheit bemerken würden, indem er „ihre Aufmerksamkeit nach oben erhob“ (quos tamen numquam permisit advertere nuditatem suam eorum intentionem in
diesem noch der Ratio gerecht wird – der Mensch verliert sich selbst, seine rationale Begabung. Aber genau diese war gemäß Augustinus seine Gottesabbildlichkeit – nun ist das Denken nicht mehr „nach oben erhoben“ (s. das Folgende im Haupttext). Unabhängig von dieser literalen Auslegung wird zugleich deutlich, dass der Kirchenvater diese Nacktheit nicht auf die bloße Leiblichkeit an sich beschränkt sieht, sondern auch die geistige Nacktheit, ‚unbedeckt‘ von Gottes Gnade zu sein, in seine Exegese mit integriert: Literale Exegese umschließt den Menschen in seiner Ganzheit als Geist-Seele-Leib-Wesen. Warum weicht Augustinus also „den entscheidenden Fragen“ aus? S. auch Anm. 836. 834 Zur überzeitlichen Erkenntnis der nicht-fallenden Engel s. o. Kap. 10 und 17. 835 S. o. Kap. 28.
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superna sustollens). Nun aber wollte der Mensch seine Scham verbergen, „vor welchem nichts verborgen sein kann, und vor ihm sein Fleisch verstecken, der doch ins Herz blickt“ (1 Sam 16, 7; eum latere velle, quem latere nihil potest, et ab eo carnem occultare, qui cordis inspector est). Dieses Paradox ist für den Kirchenvater eine Folge dessen, dass der Mensch zwar wie Gott sein wollte, aber sich genau dadurch „in seinen Gedanken verlor“ (Rö 1, 21). Wenn zuvor das Miteinander von Gott und Mensch vergleichbar der Erscheinung Gottes in Form von drei Männern gegenüber Abraham bei Mamre war (Gen 18), so ist dieses Vertrauensverhältnis (fiducia) nun zerstört. Der Mensch schämt sich vor sich selbst und erst recht vor Gott.836 836 Gn. litt. XI, 33–34; 367,1–369,9. Auch hier ist Reisers (2007: 367) Kritik an Augustins Auslegung, Gott sei den Menschen vermittels einer Kreatur auch körperlich gegenwärtig gewesen, wenig überzeugend: „Davon steht freilich nichts im biblischen Text.“ Dieser Vorwurf wäre im Sinne eines Bumerangs doch noch vielmehr gegenüber rein allegorisierenden Interpretationen zu erheben, insofern diese sich vom Text im Sinne einer frei agierenden, produktiven Einbildungskraft ‚emanzipieren‘. Genau diesem ‚Abdriften‘ vom philologischen Fundament gilt aber die berechtigte Kritik des Kirchenvaters, weshalb er sich in Gn. litt. bemüht, die spezifische Eigenheit des Textes ins Zentrum zu stellen, also literale Exegese zu betreiben, die weder für die leibliche noch für die seelisch-geistige Dimension des Mensch-Seins blind ist. Es spricht für das Kritikpotential Augustins, dass er die literal-leibliche Wirklichkeit, welche nun einmal zum Mensch-Sein dazugehört, ernst nimmt, aber zugleich fragt, wie denn überhaupt Gott habe in Eden ‚wandeln‘ können. Der Kirchenvater nimmt also nicht (mehr) ‚Zuflucht‘ in der ‚reinen Allegorisierung‘, weil diese die leibliche Dimension des Menschen verkennt, sondern unterbreitet einen Lösungsvorschlag, wie der Literalsinn hermeneutisch schlüssig interpretiert werden kann. Dies ermöglicht ihm, sogar das Wandeln Gottes in Eden (Gen 3, 8) exegetisch ernst zu nehmen – jedoch nicht im naiven Literalismus oder ‚Biblizismus‘, sondern auf der Basis einer philosophisch reflektierten Erklärung dafür, warum der biblische Text von einem leiblichen Wandeln Gottes in Eden habe sprechen können. Auch hier gilt: Augustinus weicht „den entscheidenden Fragen“ gerade nicht aus, wie Reiser meint (ibd., 368; s. o. Anm. 833), sondern schlägt vielmehr denkbare Antworten vor. Warum sind diese „in der Tat mehr als unbefriedigend“ (Reiser, ibd., 367)? Reiser verweist auf Didymus: „Das Wandeln Gottes zur Abendzeit ist für Didymus ein Bild dafür, daß Gott, auch wenn er sich von dem Gefallenen abgewandt hat, sich in seiner Güte selbst dem verfinsterten Verstand noch zeigt […]. Es erscheint mir evident, daß diese Deutung dem Charakter des biblischen Textes eher entspricht als die inkonsequente und inkonsistente Deutung des Augustinus“ (ibd., 368). Hier lässt sich geradewegs zurückfragen: Inwiefern kann es denn als theologisch konsistent gelten, dass Gott sich erst „von dem Gefallenen“ abwendet, um sich ihm dann in dessen „verfinstertem Verstand“ doch noch zu zeigen? Dies ist mehr als widersprüchlich: Hätte sich Gott nun abgewendet oder nicht, und falls letztlich doch nicht, warum dann aber zunächst? Augustinus vermag dies konsistenter zu denken: „Dich [sc. Gott] verliert niemand außer dem, der dich wegschickt, und weil er dich wegschickt, wohin geht er oder wohin flieht er, wenn nicht von dir, der du gnädig bist, zu dir, der du erzürnt bist“ (Te nemo amittit, nisi qui dimittit, et quia dimittit, quo it aut quo fugit nisi a te placido ad te iratum?, conf. IV, 9, 14). Und außerdem: Wie steht es um die Exegese von Abend und Morgen in Gen 1? Hatte nicht Augustinus selbst etwas Vergleichbares veranschlagt (s. o. Kap. 17), dass diese beiden Aspekte eine jeweils verschiedene Erkenntnisform der Engel beinhalten? Augustinus vermag dies jedoch philosophisch widerspruchsfrei zu begründen: Die Engel erkennen Verschiedenes am Abend und am Morgen, ohne dass dem Abend bereits etwas Negatives (wie Sünde, Gefallensein) im Sinne eines ‚metaphysischen Ur-Übels‘ inhärierte. Dagegen bleibt Reiser der „entscheidenden Frage“ eine Antwort schuldig, wieso Gott sich zugleich vom Sünder ab- und doch wieder zuwendet: Der Abend muss dann bereits als ‚Symbol‘ für das Gefallensein ‚herhalten‘ – ein Gedanke, den Augustinus aus guten Gründen abgewehrt hatte, weil dem Abend als Teil der von
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Bereits Adams Aussage, er habe sich wegen seiner Nacktheit gefürchtet, entlarvt ihn: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?“, entgegnet ihm Gott; ohne von dem verbotenen Baum gegessen zu haben, wüsste Adam nicht darum, der nun die Schuld auf Eva schiebt (Gen 3, 11–12). Darin erblickt Augustinus den Hochmut ‚in Reinform‘, dem die „Demut des Bekennens“ der eigenen Sünde mangelt (superbia! numquid dixit: peccavi? habet deformitatem confusionis et non habet confessionis humilitatem). In keiner Weise sieht der Kirchenvater Adam dadurch entlastet, dass er nicht als erster gegessen hat. Aufgeschrieben seien diese Worte mit einer ethischen Intention, um den „Menschen heute“ zu zeigen, „an welcher Krankheit des Hochmuts“ sie litten, da sie es „auf den Schöpfer zu schieben versuchen, wenn sie etwas Schlechtes, während sie es sich selbst zuschreiben wollen, wenn sie etwas Gutes getan haben.“ Da Eva ihre Schuld in identischer Weise von sich weist, weil sie die Schlange verführt habe (Gen 3, 13), zeige sie, unabhängig von ihrem verschiedenen Geschlecht, denselben Hochmut wie Adam. Denn es habe keinen Grund gegeben, irgendetwas Gottes Gebot vorzuziehen. Trotzdem sei aus den beiden Eltern des Menschengeschlechts schließlich der Beter geboren worden, der seine Schuld vor Gott zu bekennen wusste (Ps 41, 5): „Ich sprach: Herr, erbarme dich meiner; heile meine Seele, denn ich habe gesündigt an dir.“ So hätten auch Adam und Eva sprechen sollen (quanto melius sic et isti!). Trotz der „Mühen, Schmerzen, Tode und aller Zerknirschung“ sei dennoch „Gottes Gnade geblieben, mit der er zur geeigneten Zeit den Menschen zur Hilfe komme, welche er als Gebeugte lehrte, nicht anmaßend über sich selbst zu denken.“837 Den von Gott über die Schlange ausgesprochenen Fluch (Gen 3, 14–15) fasst Augustinus „figürlich“ auf, zweifelt aber nicht an der Tatsächlichkeit ihres Ausgesprochenseins (tota ista sententia figurata est nec aliud ei debet scriptoris fides narrationisque veritas, nisi ne illam dictam fuisse dubitemus). Dabei könnte es – vielleicht besonders für einen (post-)modernen Leser – auf den ersten Blick fast so scheinen, als ob der Kirchenvater dies einschränken wollte, wenn er darlegt: „Was nämlich gesagt ist: ‚Und es sprach der Herr Gott zur Schlange‘, sind Worte des Schreibers“ (quod enim positum est: ‚et dixit dominus deus serpenti‘ verba scribentis sunt). Sollte Augustinus meinen, der Schreiber habe als Autor gleichsam Gottes Worte fingiert, weshalb sie figürlich zu interpretieren seien? Beim genaueren Hinsehen stellt sich die Sache umgekehrt dar. Nur der Zusatz als solcher: „Und es sprach …“ geht direkt auf den menschlichen Schreiber des heiligen Textes zurück und bezieht sich im Kontext der vorausgegangenen Überlegungen auf die Frage, in welcher Weise der transzendente Gott seine Worte geäußert haben mag, die der Schreiber nun als direkte Rede entfaltet. Trotzdem seien die Worte des
Gott geschaffenen Ordnung nichts Negatives anhaften kann und zudem die ‚Abend‘ und ‚Sünde‘ verbindende proprietas fehlt (s. o. Kap. 7). Auch auf diese Frage gibt Reiser keine Antwort. Dies wäre aber notwendig bzw. mehr als angemessen, wenn umgekehrt Augustinus von der Forschung einmal mehr „Inkonsequenz“ und „Inkonsistenz“ unterstellt wird. 837 Gn. litt. XI, 35; 369,10–370,18.
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menschlichen Autors „mit Rücksicht auf ihren eigentümlichen Sachgehalt zu beurteilen“ (haec exigenda sunt per proprietatem): Dieser besage nichts anderes, als dass Gott das Folgende tatsächlich kommuniziert habe (auf welche Weise auch immer). D. h., genau deshalb, weil der Schreiber die Worte Gottes als solche explizit auszeichnet, ist ihr spezifischer Gehalt im Lichte der Autorität des deus loquens zu betrachten, und dies bedeutet zunächst, dass sie gemäß Augustinus wirklich zur Schlange gesagt worden sind. In ihrem sachlichen Gehalt sei die Rede Gottes dann „dem freien Intellekt des Lesers überlassen“ – inklusive der Frage, „ob sie eigentümlich oder figürlich aufgefasst werden müsse“ (iam cetera verba dei sunt, quae libero lectoris intellectui relinquuntur, utrum proprie an figurate accipi debeant). Ausdrücklich verweist Augustinus zurück auf seine Grundlegung zu Beginn von De Genesi ad litteram, wo er das „intellektive Begreifen figürlicher Rede“ als sowieso angemessen verteidigt hatte, neben welches die Frage nach „dem Glauben an historische Tatsachenberichte“ trete.838 Inhaltlich hebt der Kirchenvater hervor, dass die Schlange im Unterschied zu den Menschen gar nicht erst gefragt werde, warum sie so gehandelt habe: Ein Grund dafür könne darin bestehen, dass sie es nicht selbst „in ihrer Natur und durch ihren Willen“ getan habe, sondern der bereits in seinem Hochmut gefallene Teufel durch sie. Anscheinend sieht Augustinus selbst, dass diese Erklärung wenig überzeugt, da er darauf hinweist, dass die Worte an den Teufel gerichtet sind (ad eum, qui per serpentem operatus est, utique refertur).839 Denn speziell der Satan sollte kaum einer Frage gewürdigt werden, zumal er als erstes gesündigt hat; außerdem dürfte – insbesondere im Lichte von Augustins Theologie der Allwissenheit Gottes840 – außer Frage stehen, dass Gott durchschaut, wer der eigentliche Verführer ist. Dann aber müsste die Schlange, weil sich der Teufel ihrer bemächtigt hatte, nicht noch zusätzlich dadurch bestraft werden, dass sie keiner Frage gewürdigt wird, nur weil sie die Menschen „nicht in ihrer (Schlangen-)Natur und durch ihren Willen“ verführt habe. Vielmehr richtet sich Gottes Rede an die Schlange in ‚Personalunion‘ von Teufel und Tier: Innerhalb der erzählerischen Darstellung ist sie der Verführer; weil Letzterer in Gestalt eines Tiers auftritt, wird dieses – bei literaler Auslegung – als solches bestraft. Wie schon angedeutet, haben die Worte Gottes auch für den Kirchenvater einen klar figürlichen intellectus, also einen allegorischen Gehalt (procul dubio figuratum est). Dabei wird jedoch nicht der literale Gehalt durch eine ‚allgemeine Moral‘ substituiert, sondern die dargestellte Bildlichkeit nach platonischer Methode auf ihre intelligible, also geistig begreifbare Substanz hin durchleuchtet und auf diese zurückbezogen, inbesondere unter Wahrung der Personalität der Akteure.841 Weder steht daher
838 S. o. Kap. 2. 839 Gn. litt. XI, 36; 370,19–371,14. Vgl. Pollmann (2010: 80, Anm. 41): „Augustine is very careful to avoid identifying the serpent and the Devil.“ 840 S. o. Kap. 13, 22, 32. 841 S. o. Kap. 4 mit Anm. 73.
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die Personalität Gottes infrage – auch deshalb hatte Augustinus die Tatsächlichkeit, dass dies Gottes Worte sind, verteidigt –, noch diejenige des Teufels, auf welchen die Bestrafung der Schlange als geistigen Akteur bezogen werden muss: Ohne dass der Kirchenvater dies ausführlich darlegt, ist die Verfluchung der Schlange also diejenige des Teufels, ebenso wie ihr ‚Auf-die-Erde-niedergedrückt-Sein‘ (Gen 3, 14) das Herabgestoßen-Sein des Satans nach dessen Sündenfall symbolisiert. Die „Feindschaft“ zwischen der Schlange und der Frau respektive ihrer jeweiligen Nachkommenschaft (Gen 3, 15) beziehe sich darauf, „in welcher Weise sich der Versucher dem menschlichen Geschlecht zukünftig“ gegenüber verhalten werde (nam his verbis temtator ille describitur, qualis generi humano futurus esset). Auch wenn dies von Augustinus nicht weiter ausgeführt wird, zeichnet sich im Hintergrund doch der geistige Horizont ab, auf welchen diese Worte zu beziehen sind: Unter den Nachkommen wird auch derjenige sein, welcher dem Satan den Kopf zertreten wird842 – Christus; aber die Schlange wird es (zuvor) auf die Ferse843 der Frau bzw. ihres Nachkommen absehen – ultimativ im Kreuzestod des Erlösers. Die bildlichen Aspekte sind, insofern sie den Teufel betreffen, somit eins zu eins auf diesen als Geistwesen, welches er auch als gefallener Engel seiner Natur nach immer noch ist, zutreffend. Mutatis mutandis gilt dies für Eva als Mutter des Menschengeschlechts und ihrer Nachkommen, speziell für Christus mit Blick auf seine menschliche Natur. Die Allegorie ersetzt somit nicht die Bildlichkeit, sondern entfaltet sie auf ihr geistiges Prinzip hin.844
842 In der Augustinus vorliegenden Textfassung steht im Vers Gen 3, 15 zweimal servare als Verb: ipsa [sc. mulier] tibi servabit caput, et tu servabis eius calcaneum. Dem Sinn nach kann es freilich nicht „bewahren“ heißen, sondern muss in der für das späte Latein bezeugten Bedeutung „erlangen, bekommen, kriegen“ gemeint sein. 843 Auch wenn diese Assoziation von Augustinus her nicht nahe liegt, könnte man im Sinne eines komparatistischen Bezugs und motivischen Vergleichs doch an den Biss der Schlange denken, welchen Eurydice bei Ovid erleidet (vgl. Drews 2018c: 362–3). 844 Gn. litt. XI, 36; 371, 15–23.
35. Gottes Strafe über die Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies Die Vorzüge einer literalen Exegese gegenüber allegorisierenden Spekulationen Mit Blick auf die Strafe Evas (Gen 3, 16) betont Augustinus deren „figürlichen und prophetischen Sinn“; da aber Eva noch nicht geboren hatte und die Schmerzen des Gebärens vor allem aus dem Leib des erst durch den Sündenfall „empfangenen Todes“ resultierten, sei ein literales Verständnis ebenso gegeben. Schwieriger sei es, die im selben Vers angekündigte Herrschaft des Mannes über die Frau literal zu deuten: Denn einerseits sei nicht anzunehmen, dass die Frau nicht auch schon vor dem Sündenfall dem Mann hätte dienen sollen (vgl. Gen 2, 18845). Vor dem Fall sei dieser Dienst eine Folge der wechselseitigen Liebe von Mann und Frau gewesen, also ohne Herrschaft im ‚dominanten‘ bzw. pejorativen Sinne. Im Kontext von Gottes Strafe der Sünde sei nun aber eine spezifische „Knechtschaft“ gemeint, „die eher das Zeichen eines bestimmten Zustands als der Liebe“ sei, „so dass auch die derartige Knechtschaft selbst, aufgrund derer Menschen Menschen später Knechte zu sein begonnen haben, ihren Anfang von der Strafe für die Sünde genommen zu haben befunden wird“ (ut etiam ipsa talis servitus, qua homines hominibus postea servi esse coeperunt, de poena peccati reperiatur exorta). Dienen und lieben sind zwei Begriffe, die sich nicht ausschließen, wie Augustinus vom Neuen Testament her begründet sieht, da der Apostel (Gal 5, 13) schreibe: „‚Durch Liebe dienet einander‘“; dagegen würde er keinesfalls sagen: ‚Beherrschet einander‘ (nequaquam diceret: invicem dominamini). Gemäß Paulus können also Ehepartner durch Liebe einander dienen; nicht gestatte er dagegen, dass die Frau über den Mann herrsche. Aber auch umgekehrt liegt es gemäß Augustinus nicht „in der Natur“ der Frau, vom Mann beherrscht zu werden, sondern dies habe sie „verdient durch ihre Schuld“, als Gottes Strafe für ihre Sünde gegen sein Gebot (maritum habere dominum meruit mulieris non natura, sed culpa). Die Strafe Adams, dass die Erde ihm verflucht
845 S. zur Stelle Kap. 29.
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sei und er im Schweiße seines Angesichts sein Brot esse, bis er wieder zu Erde werde, von welcher er genommen sei (Gen 3, 17–19), begreift der Kirchenvater ebenfalls als prophetische Ankündigung Gottes, zugleich aber im literalen Sinne als direkte Strafe für die Verletzung von Gottes Gebot, ohne die es nicht zu dieser Strafe gekommen wäre (servanda tamen est et expectanda significatio prophetiae, quam maxime hic intuetur dei loquentis intentio). Noch einmal zeigt sich also in der exegetischen Praxis, weshalb Augustinus ein geistiges Verständnis biblischer Texte immer für möglich hält und zugleich die Tatsächlichkeit des Geschehenseins verteidigt. Entsprechend erachtet er auch die Worte Adams, mit denen dieser seine Frau „Eva“, d. h. „Leben“,846 nenne (Gen 3, 20), nicht als Erfindung des „Erzählers“, sondern als tatsächliche Worte „des ersten Menschen“, da sie „‚die Mutter aller Lebenden‘“ sei (nam et haec non scriptoris narrantis vel adfirmantis, sed ipsius primi hominis verba intellegenda sunt). Der Inhalt des Erzählten bzw. Gesagten mag allegorisch oder gemäß seinem literalen Gehalt zu interpretieren sein; die Tatsache, dass es sich um geschehene Rede handele, sei ihrerseits nichts Figürliches (sive enim figurate sive proprie dictum sit, quod dictum esse narratur, dictum tamen esse non debet putari figuratum). Augustinus parallelisiert ausdrücklich Geschehenes und Gesagtes: So wie das Geschehene nur deshalb etwas bedeute, weil es sich zuallererst ereignet habe, bedeute auch Gesagtes nur etwas, weil es zunächst einmal gesagt wurde (sicut illa, quae significationis gratia dicta sunt, sed tamen dicta sunt).847 Diese Argumentation hat zweifellos dahingehend eine Schwachstelle, insofern allein von dem bloßen Textzeugnis her nicht unterschieden werden kann, ob es sich um einen fiktionalen Inhalt handelt oder nicht. Verteidigen lässt sich das Vertrauen in den faktischen Wahrheitsgehalt des Textes höchstens dadurch, dass die vor allem in den Anfangsbüchern von De Genesi ad litteram vorgenommene Exegese ein hohes Maß an innerer Kohärenz innerhalb des biblischen Texts zutage gefördert hat, so dass diesem Text – gerade von seinen philosophisch-argumentativ begründbaren Inhalten her – plausiblerweise Autorität zuerkannt werden darf. Möglicherweise spiegelt eine solche Erklärung den Grund wider, weshalb Augustinus selbst die Faktizität des Erzählten nachdrücklich behauptet. Denn die Inspiriertheit der Schrift848 dürfte als solche eher die besagte Stimmigkeit des geistig Begreifbaren, also des Intelligiblen garantieren – unabhängig von dem faktischen Geschehensein. Die Gottesrede (Gen 3, 22), dass Adam „‚gleichsam einer von uns im Erkennen von Gut und Böse‘“ geworden sei, bezieht Augustinus theologisch konsequent auf die Trinität – in Analogie zum Plural in Gen 1, 26: „‚Lasst uns Menschen machen‘“ und zum Herrenwort in Jh 14, 23b: „‚Und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.‘“ Dass Ansinnen, wie Gott zu sein (Gen 3, 5), fällt auf den Menschen als Strafe zurück (replicatum est igitur in caput superbi, quo exitu concupiverit quod a serpente 846 Zurückgehend auf hebräisch chawwah, das auf chajah „leben“ bezogen werden kann. 847 Gn. litt. XI, 37–39; 371,24–374,5. Vgl. zur Stelle Kim (2006: 87). 848 S. o. Kap. 4, 7 und 14.
35. Gottes Strafe über die Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies
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suggestum est: ‚et eritis sicut dii‘) – nicht, weil Gott die Menschen verhöhne, sondern um andere von demselben Hochmut abzuschrecken. Die Folge des Hochmuts, der Ursünde, besteht für Adam genau wie für den Teufel darin, dass er nicht nur das, was er zu sein begehrt, nicht wird, sondern überdies seinen guten Erschaffenszustand einbüßt (non solum non fuerit factus, qualis fieri voluit, sed nec illud, quod factus fuerat, conservavit). Auf Gottes an den Menschen gerichtete Worte folge das „Geschehen“, dass der Mensch das „Paradies der Wonne“ (paradisum voluptatis) verlassen muss (Gen 3, 22b-23), so dass gemäß Augustinus die Wahrheit der Rede Gottes durch deren Folge, den Verlust des Paradieses, bestätigt wird. Der Mensch verliere jedoch nicht nur den Garten Eden und „den glückseligen Zustand seines Leibes“, sondern auch die Chance, einst – nach Bewahrung des Gebots – mit den Engeln gemeinsam zu leben.849 Nachdem der Mensch entgegen Gottes Gebot vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hat, wird er nun vom Baum des Lebens getrennt – im Wissen um das Böse ist dem Menschen Unsterblichkeit verwehrt, das Böse darf sich nicht perpetuieren; dabei lässt Augustinus es im Einklang mit seiner bereits zuvor entwickelten Exegese850 offen, ob der paradiesische Leib von diesem Baum durch „eine sichtbare Sache, aber unsichtbare Kraft“ genährt wurde oder der Baum auch „sichtbares Sakramental-Zeichen der unsichtbaren Weisheit“ war (sacramentum visibile invisibilis sapientiae). Den Ausschluss von Adam und Eva aus dem Paradies parallelisiert der Kirchenvater mit der „Exkommunikation“ bestimmter Menschen „von den sichtbaren Sakramenten des Altars“ innerhalb der Kirche. Die wechselseitige Bezogenheit von leiblicher Realität und geistiger Wirklichkeit veranschlagt Augustinus ebenso für die Vertreibung des Menschen aus dem Garten Eden und dessen Bewachung durch die Cherubim: Der Mensch sei leiblich aus Eden verwiesen worden, habe zugleich im geistigen Sinne sein „glückseliges Leben“ verloren und nun jenseits des Paradieses „als Sünder im Elend“ leben müssen. An dieser Stelle wird die Einheit von leiblicher Realität und geistiger Wirklichkeit in besonderer Weise greifbar: Die bloße physische Exkommunikation wäre sinnlos, wenn ihr Warum nicht verstanden würde; umgekehrt käme die bloß verbale Zurechtweisung ohne leibhaftige Konsequenzen einer nominalistischen Leere gleich und würde gewissermaßen sich selbst konterkarieren. Analog zum ‚doppelten Wirklichkeitsbezug‘ des Baums des Lebens begreift der Kirchenvater die Cherubim und ihr „flammendes Schwert“ sowohl im Sinne sichtbarer wie geistiger Realität (hoc per caelestes utique potestates etiam in paradiso visibili factum esse credendum est […]: non tamen frustra factum esse nisi quia significat aliquid etiam de spiritali paradiso non est utique dubitandum).851 Abschließend erwägt Augustinus einige Deutungen der Paradiesgeschichte, welcher er als fehlgeleitet erachtet: Dazu gehört die Meinung, die Menschen hätten „ihr 849 S. o. Kap. 22, 29 und 33. 850 S. o. Kap. 25. 851 Gn. litt. XI, 39–40; 374,6–375,23.
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Streben nach dem Wissen um Gut und Böse“ nur zu früh verfolgt und es wäre ihnen zu späterer Zeit gewährt worden, so dass der Versucher sie nur zu dieser verfrühten Tat verführt hätte. Die figürliche Auffassung vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sei im Sinne „des rechten Glaubens und der Wahrheit“ zumindest annehmbar (hoc, si forte lignum illud […] ad figuram velint accipere, habeat exitum aliquem rectae fidei veritatique probabilem). Dagegen erscheine die Vorstellung, Adam und Eva hätten ihre geschlechtliche Vereinigung zu früh vollzogen und dies sei durch den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse symbolisiert, absurd, da schlechterdings keine Rituale wie die Übergabe der Braut durch einen menschlichen Vater möglich waren. Eine solche exegetische Spekulation sei nicht nur „lächerlich“, sondern weiche auch von dem Geschehenes erzählenden Literalsinn des Textes ab (ridiculum istuc est; praeter quod a rerum gestarum proprietate discedit). Nicht anders als zurückzuweisen vermag Augustinus die Deutung, Gott habe dem Menschen „das zwischen Gut und Böse unterscheidende Wissen“ als ein zu großes Gut aus Neid „missgönnt“. Es sei zudem unhaltbar, dass Adam in seiner Geistbegabung eine solche Annahme hätte hegen können. Sollte ihm etwa deshalb die Frau gegeben worden sein, weil diese gleichsam als ‚geistig minderbemittelte‘ eine solche irrige Meinung habe besitzen können? Habe der Apostel (1 Kor 11, 7) deshalb dem Mann zugesprochen, „die Abbildhaftigkeit und der Ruhm Gottes“ zu sein, der Frau aber „der Ruhm des Mannes“? Diesen Auffassungen widerspricht Augustinus: Schon zuvor hatte er dargelegt, dass die Abbildhaftigkeit des Menschen gegenüber Gott geschlechtsunabhängig sei und allein in der Geistbegabung bestehe, wo Geschlechtsunterschiede keine Rolle spielten.852 Auch Paulus versteht der Kirchenvater nicht so, dass „der Geist der Frau dieselbe Abbildhaftigkeit nicht ergreifen kann, da wir in jener Gnade, wie er lehrt (Gal 3, 28), ‚weder männlich noch weiblich‘ sind“ (non quo mens feminae eandem imaginem capere non possit, cum in illa gratia nos dicat ‚nec masculum esse nec feminam‘). Auch wenn die Tatsache, dass die Frau zuerst gesündigt habe, nicht zu bestreiten ist, sei doch Adam in gleicher Weise ein Sünder wie Eva, also nicht weniger schuldig als sie (Rö 5, 14). Indem Adam Eva aus Liebe zu ihr nachgibt und ebenfalls die verbotene Frucht isst, gleicht er Salomo (1 Kö 11, 1–14), der durch die Liebe zu seinen vielen Frauen dazu verleitet wurde, anderen Göttern zu dienen, und „der Frauen-Liebe, die ihn zu diesem Übel wegzog, nicht zu widerstehen vermochte“, obwohl er wusste, dass er Unrechtes tat. Aus gewissermaßen falsch verabsolutierter Freundschaft zu Menschen werde so am Ende gegen Gott und sein Gebot verstoßen (amicali quadam benevolentia, qua plerumque fit, ut offendatur deus, ne homo ex amico fiat inimicus).853 Am Ende des elften Buchs von De Genesi ad litteram, mit welchem zugleich die spezifische Textexegese der Genesis endet, wird so in besonderer Weise ersichtlich,
852 S. dazu Kap. 14. 853 Gn. litt. XI, 41–42; 375,24–378,26.
35. Gottes Strafe über die Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies
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weshalb Augustinus eine literale Exegese immer wieder verteidigt: Eine sich in freien Assoziationen vom Text emanzipierende allegorische Spekulation verliert den Bezug zum Text und gerät zu beliebigen Fantastereien. Dagegen führt der Kirchenvater eine ausgewogene Exegese durch, die leibliche Realität und geistige Wirklichkeit in enger Verzahnung zusammendenkt: Dies gilt sogar für die eingangs erörterte Interpretation des primären Lichts (Gen 1, 3) im Sinne der Engel, weil hier tatsächlich gar kein materieller Referenzpunkt infrage kommt und sich der Aspekt der Lichtheit begründeterweise ohne Weiteres mit Augustins Auffassung der Engel als intellektiver Geistwesen verbinden lässt, so dass keine beliebige Allegorisierung vorgenommen, sondern der literale Sachgehalt des Bibelverses unmittelbar bewahrt bleibt als Prüfstein der Exegese.854
854 S. o. Kap. 4, 6–7.
36. Paulus’ Entrückung ins Paradies Die Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit und der wissende Zweifel Zu Beginn des zwölften und letzten Buchs von De Genesi ad litteram blickt Augustinus auf seine Methode zurück, mit welcher er in den vorausgegangenen elf Büchern den Text der Genesis seiner Exegese unterzogen hat: Das, was sicher erschien, sei bekräftigt und verteidigt worden; mit Blick auf das Unsichere aber habe er Fragen gestellt, Erwägungen vorgenommen und seine Unschlüssigkeit dokumentiert (sive adserendo atque defendendo, quae certa nobis sunt, sive inquirendo, arbitrando, ambigendo de incertis). Entsprechend habe er niemandem „vorschreiben“ wollen, was er über „dunkle“ Aspekte der Exegese denken möge, sondern sich als „unterweisungsbedürftig“ in diesen Fragen gezeigt. Nun aber – der „Sorge“ der Textexegese entledigt (ea iam cura expeditus, qua nos pertractandus textus sacrarum litterarum occupabat) – wolle er sich der Frage nach dem Paradies widmen, denn der Apostel selbst schreibe davon, er sei „im Leib oder außerhalb des Leibes in den dritten Himmel“ bzw. „ins Paradies entrückt worden“, wo er „unaussprechliche Worte gehört“ habe (2 Kor 12, 2–4). Mit Blick auf diese Verse setzt der Kirchenvater seine sich vorsichtig-vortastende exegetische Methode fort und stellt zunächst fest, dass unsicher sei, ob der dritte Himmel und das Paradies, von welchen Paulus schreibe, dasselbe seien oder das Paradies den dritten Himmel noch transzendiere. Ebenso unklar sei es, ob der dritte Himmel körperlich oder geistig aufgefasst werden müsse. Zwar könne man einwenden, dass niemand ohne Leib in einen leibhaftigen Ort entrückt werden könne, jedoch bekunde Paulus ja ausdrücklich, nicht zu wissen, ob er sich im Leib oder außerhalb von ihm befunden habe.855 Von diesen Ausführungen her ergibt sich bereits ein Rückbezug zum achten Buch von De Genesi ad litteram, wo der Kirchenvater schon einmal die Frage gestreift hatte, ob die Verheißung Christi am Kreuz an einen der beiden zusammen mit ihm Gekreuzigten: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23, 43), darauf hindeute, dass sich
855
Gn. litt. XII, 1; 379,2–380,18.
36. Paulus’ Entrückung ins Paradies
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die Seele eines Verstorbenen an einem körperlichen Ort befinden könne – ganz im Sinne dieser Überlegungen wird der weitere Fortgang das letzte Buch von De Genesi ad litteram als die „erste ausführliche christliche Mystik“ erweisen.856 Zunächst nähert sich Augustinus dem Problem der (Außer-)Leiblichkeit gewissermaßen ‚empirisch‘, von seinem eigenen Erfahrungshorizont her an, indem er von Träumen berichtet: Denn in „Träumen und in Entrückung“ würden „Bilder von Körpern ausgedrückt“, die „nicht von [sc. realen] Körpern unterschieden werden“ könnten, außer wenn der Träumende, „seinen Körpersinnen wieder zurückgegeben, erkennt, in jenen Bildern gewesen zu sein, die er nicht durch Körpersinne aufnahm“ (nisi cum homo redditus sensibus corporis recognoscit se in illis fuisse imaginibus, quas non per sensus corporis hauriebat). Der Kirchenvater beschreibt hier also die Erfahrung, dass man innerhalb eines Traums dessen Inhalt für real hält und erst nach dem Erwachen erkennt, man habe geträumt. Jedoch gebe es auch das Umgekehrte, dass man bereits im Traum das Geträumte als Traum erkenne (ut in somnis videns in somnis me videre sentirem). Außerdem berichtet er von einer weiteren Erfahrung, dass er im Traum mit einem Freund sprach und ihn davon überzeugen wollte, dass die von ihnen beiden gesehenen „Körper nicht wahr“, sondern „Bilder“ seien, „obgleich auch er selbst allerdings unter ihnen so mir erschien, wie jene [sc. anderen Körper]“: Augustinus habe ihm im Traum sogar gesagt, dass ihr Gespräch „nicht wahr“ sei und dass sein Freund „etwas anderes im Schlaf “ sehe und überhaupt nicht wisse, ob er, Augustinus, dieses [sc. auch] sehe.“ Allerdings gerät diese ‚Überzeugungsstrategie‘ in logische Schwierigkeiten: Denn der Kirchenvater berichtet selbst von der Merkwürdigkeit, dass er im Traum einerseits seinen Freund von der Unwahrheit des Traums – und sogar von der ‚Tatsache‘, dass sein Freund gar nicht wirklich er selbst sei – überzeugen wollte, andererseits aber diese Absicht gar nicht hätte verfolgen können, wenn er nicht Grund gehabt hätte, die Erscheinung seines Freundes als real aufzufassen (verum cum eidem ipsi persuadere moliebar, quod ipse non esset, adducebar ex parte etiam putare esse ipsum, cui profecto non loquerer, si omni modo sic adficerer, quod ipse non esset). Man könnte sich leicht vorstellen, dass dies der Moment gewesen wäre, in welchem der schlafende Augustinus von seinem Traum erwacht und erkennt, dass er ‚nur‘ geträumt habe – jedoch schreibt er nichts davon, so dass es eine Vermutung bleiben muss. In dem anliegenden Zusammenhang geht es ihm allein um die (Un-)Unterscheidbarkeit von Traum und Realität: Daher berichtet er davon, einmal einen Menschen in Ekstase beobachtet zu haben, der gewusst habe, wach zu sein und etwas unabhängig von seinen körperlichen Augen zu sehen (in extasi autem unum audire potui […], qui et vigilare se sciret et videre quiddam non oculis
856 Weber (2007: 278), ebenso Wehr (2005: 78). Teske (2009: 155–166) gibt einen Überblick über Augustins Visionstheorie aus Gn. litt. XII und epist. 47 und glaubt an persönliche Visionserfahrungen des Kirchenvaters (ibd., 165–6), jedoch ohne die erkenntnistheoretisch-philosophischen Implikationen zu erläutern. Natürlich lässt sich v. a. an Augustins Visionsbeschreibungen in conf. VII und IX denken (s. u. Anm. 928). – Zur Stelle Lk 23, 43 in Gn. litt. VIII s. o. Kap. 25.
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corporis) – durch die Seele, unwissend, ob es „ein Körper oder ein Bild eines Körpers“ gewesen sei. Insofern sei es plausibel, dass auch Paulus nicht habe sagen können, ob er während seiner ekstatischen Erfahrung „im Leib oder außerhalb von ihm diese Dinge gesehen habe“ (manifestum eum est ignorare potuisse, utrum in corpore an extra corpus ea viderit), wobei Augustinus auf weitere Schriftstellen zum Vergleich hinweist, für welche etwas Ähnliches gelte, z. B. für den Seher des Buchs der Offenbarung (1, 10 f.; außerdem Apg 10, 10 f.; Hes 37, 1 f.; Jes 6, 1 f.).857 Für den Fall, dass es sich um außerleibliche Erfahrungen handele, bleibe zu fragen, ob das von Paulus Gesehene Körperlichem ähnlich oder aber von der Substanz Gottes, des Geistes und der Tugenden gewesen sei, die allein durch begreifendes Denken erfasst und unterschieden würden, ohne dass an ihnen äußere Umrisse, Farben, Töne, also sinnlich Wahrnehmbares erkennbar sei. Im Grunde zielt Augustins Differenzierung auf die intelligiblen Eidê,858 welche rein begrifflicher Natur sind und „in einer bestimmten anderen Schau, in einem anderen Licht, in einer anderen sachlichen Evidenz, und zwar einer solchen, welche die übrigen Dinge bei Weitem übertrifft und sicherer“ sei, erkannt werden (sed alia quadam visione, alia luce, alia rerum evidentia et ea longe ceteris praestantiore atque certiore). Augustinus konzediert Paulus, dass er mehr gewusst habe über die Unterscheidung von körperlicher und unkörperlicher Natur; sogleich stellt sich ihm die Frage, warum der Apostel dann nicht mitgeteilt habe, auf welche Weise er seine Vision gesehen habe, wenn doch klar ist, dass Geistiges nicht durch den Leib, Leibliches aber nicht außerhalb des Leibes gesehen werden könne. Die Reflexion auf das Erkannte und die darin involvierten Erkenntnisakte als solche hätte, so der Kirchenvater, doch genau diese Frage klären können. Dass genau diese ausbleibt, 857 Gn. litt. XII, 2; 380,19–382,4. In seinem Aufsatz über diverse Einzelkorrekturen zu Zychas Edition votiert Alexanderson (2002: 127) für die Emendatio: manifestum eum est ignorare potuisse, utrum in corpore an extra corpus ea viderit. Vielleicht erscheint es tatsächlich auf den ersten Blick kontraintuitiv, dass Paulus „etwas nicht gewusst haben kann“. Der Kontext – welchen Alexanderson erstaunlicherweise als entscheidenderes Korrektiv gegenüber der Textüberlieferung selbst betrachtet (ibd., 113–4) – scheint aber genau diese etwas kontraintuitive Möglichkeit nahe zu legen: Es geht darum, den – ja schon vom Bibeltext selbst bezeugten (2 Kor 12, 2) – Umstand, dass Paulus sich auch im Nachhinein seiner Vision nicht sicher ist, ob er im Leib oder außerhalb von ihm war, zu erklären. Die Negation des Wissens als solche steht hier im Zentrum der exegetischen Bemühungen Augustins und sie kommt philologisch klar in ignorare potuisse zum Ausdruck. Alexanderson verkehrt sowohl diesen Sinn als auch den Kontext, wenn er lapidar – gegen Paulus und Augustinus – postulieren zu können meint, dass Paulus doch im Nachhinein über diese Frage gar nicht habe im Unklaren sein können: „Sic etiam Paulus post visionem narrans certo scire debuit se spiritu et extra corpus vidisse. Nonne manifestum est particulam negativam hic deesse, ut legamus ‚manifestum eum est ignorare potuisse‘?“ (ibd., 127; Kursive FD). Möglicherweise hängt diese Nivellierung des Inhalts mit einer mangelnden Differenzierung zusammen, welche sich schon zuvor bei Alexanderson andeutet: „Non autem nobis necesse erit inter spiritualia et intellectualia distinguere“ (ibd., 125). Diese erkenntnistheoretische Unterscheidung ist aber für Gn. litt. XII unerlässlich. Die sicher oft zu Recht geäußerte Kritik an Zychas Edition (Alexanderson ibd., 113) scheint also nicht in jedem Fall ohne Weiteres berechtigt, wie dieses Beispiel zeigt. 858 S. o. Kap. 2, 14–15.
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scheint zunächst Augustins Annahme zu konterkarieren, Paulus habe über ein tieferes erkenntnistheoretisches Wissen verfügt. Seiner exegetischen Methode entsprechend, will der Kirchenvater als erstes das Unzweifelhafte in Paulus’ Worten ergründen, um von da aus zu klären, warum er in anderen Punkten gezweifelt habe. Die Autorität der Schrift und des Apostels als solche steht für Augustinus außer Frage: Paulus „kennt“ einen Menschen, der „vierzehn Jahre zuvor in den dritten Himmel entrückt“ worden sei (2 Kor 12, 2), so dass dieses berichtete Faktum nur von dem angezweifelt werden könne, der dem Apostel grundsätzlich nicht glaube. Nun führt der Kirchenvater, dem gestuften Weltbild im christlich-platonischen Sinne entsprechend,859 aus, der dritte Himmel impliziere, dass Paulus nicht nur in eine Wirklichkeit hinein entrückt worden sei, welche „Ähnlichkeiten mit Körperlichem“ aufweise, denn dieses hätte dem „zweiten Himmel“ entsprochen. Vielmehr sei er über diese Wirklichkeit hinaus in eine höhere – den dritten Himmel – geführt worden (super quod videret alterum, quo rursus ascendens iterum alterum videret superius, quo cum pervenisset, posset dicere se in tertium caelum raptum).860 Aus Paulus’ ursprünglichem Zweifel über die (Un-)Körperlichkeit der Entrückungserfahrung wird in Augustins vorsichtigem Nachvollzug der apostolischen Worte nun eine Stufung: Über der Körperwelt gebe es als nächstfolgende Stufe des „zweiten Himmels“ diejenige Wirklichkeit, welche zwar von sich selbst her nicht mehr körperlich ist, aber eine Ähnlichkeit mit der Körperwelt zeige; darüber hinaus eine weitere, in welcher der Bezug zur partikularen Körperwelt auf stärkere Weise transzendiert sei hin zum Geistigen. Diese Erklärung geht auf den ersten Blick zwar über den ‚positivistischen‘ philologischen Textbefund erkennbar hinaus; gleichwohl vermag sie der Bezeichnung des dritten Himmels so einen Sinn zu entlocken bzw. sich ihr in einer sinnvollen Weise anzunähern: Denn die Frage, ob Paulus seine Vision im Leib oder außerhalb von diesem erfahren habe, stellt sich im Grunde ja erst dann, wenn eine höhere Realität als die gewohnte über den Schauenden ‚hereinbricht‘ – sonst würde er von keiner Entrückung sprechen. Beim genaueren Hinsehen besticht Augustins Paulus-Exegese dadurch, dass er dessen Zweifel über die (Außer-)Leiblichkeit seiner Vision sinnvoll interpretieren kann. Wäre Paulus nur in einen körperähnlichen Himmel entrückt worden, dann hätte er dieses Erlebnis genauso beschreiben und das dort Gesehene mit Bezeichnungen, die der Körperwelt entstammen, vergleichen, also auch seine Erfahrung in Form bildlicher Leiblichkeit erzählen können (sic ergo et suum corpus appellaret quamvis imaginem corporis). Der Zweifel an der Körperlichkeit der Vision ist für den Kirchenvater also kein cartesisch-totaler, sondern ein begründeter, durch welchen die damit implizierte Differenzierung zwischen leiblicher und außerleiblicher Erfahrung erst sinnvoll er-
859 Vgl. oben Kap. 10 und 21. 860 Gn. litt. XII, 3; 382,5–383,26.
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De Genesi ad litteram: Buch XII
scheint. Eine Beschreibung mit leiblichen Bildern würde z. B. Träumen entsprechen, in welchen körperliche Bilder gesehen werden – insofern kommt Augustinus auf seine zu Beginn des Buchs geschilderten Traumerfahrungen zurück. Paulus’ Vision unterscheidet sich aber offensichtlich maßgeblich dadurch, dass sie nicht wie ein Traum mit Körperbildern beschreibbar ist. Hätte Paulus einen körperlichen Himmel mit körperlichen Augen gesehen, warum sollte er dann nicht wissen, ob er ihn „im Leib“ gesehen hat? Wenn der Himmel aber geistig-spiritueller Natur war und nur in leiblichen Bildern erschien, dann wäre unsicher, ob dieser Himmel selbst Körper war und im Leib gesehen wurde (si autem spiritus erat, aut corporis imaginem praebuit et tam incertum est utrum corpus fuerit, quam incertum est utrum in corpore visum sit). Oder aber es war ein geistig-intelligibler Himmel ohne jegliche körperliche Ähnlichkeiten von der Art platonischer Eidê, so dass er nicht vermittels des Körpers gesehen werden konnte (aut sic visum est, quomodo videtur mente sapientia sine ullis imaginibus corporum, et nihilominus certum est videri non potuisse per corpus). Da die Frage, ob Paulus’ Vision eine innerleibliche war, so nicht entschieden werden kann, muss sie von einer anderen Richtung aus angegangen werden: Augustinus erwägt nun, ob Paulus’ Seele in gewisser Weise – wie im Tod – seinen Leib verlassen haben könnte und der Apostel sich darüber unsicher äußert (an omnino [sc. anima] de corpore exierit, ut mortuum corpus iaceret, donec peracta illa demonstratione membris mortuis anima redderetur et non quasi dormiens evigilaret […], sed mortuus omnino revivisceret). Genau auf diesen Aspekt beziehe sich, nachdem der Kirchenvater alle ihm möglich erscheinenden Wege gedanklich abgeschritten hat, Paulus’ Zweifel. Denn sicher, über jeden Zweifel erhaben sei sich der Apostel ja, dass er in den dritten Himmel entrückt worden sei, und er habe diesen Himmel „in spezifisch-eigentümlicher Weise, nicht abbildhaft gesehen“ (proprie vidit, non imaginaliter). Hier handelt es sich somit erneut um einen Fall, wo Augustinus den Literalsinn der Schrift mit Blick auf einen nicht historisch-fixierbaren sachlichen Gehalt verteidigt: Die Vision als solche wird nicht in übertragener, allegorischer Weise interpretiert, sondern im spezifischen Sinn (proprie) ernst genommen, insofern vergleichbar der Exegese des primären Himmels bzw. Lichts (Gen 1, 1+3).861 Mit seinem Zweifel habe Paulus „vielleicht“ sagen wollen, dass ihm nicht mehr klar gewesen sei, ob seine Seele seinen Leib ganz verlassen hatte oder diesem als Verlebendigungsursache doch auf gewisse Weise verbunden geblieben war, während „sein Geist zur Schau und zum Hören des Unaussprechlichen jener Vision weggerissen war“ (sed mens eius ad videnda vel audienda ineffabilia illius visionis abrepta sit).862 Damit vermag der Kirchenvater nicht nur Paulus’ Schilderung ernst zu nehmen, sondern auch die zunächst so plausibel wirkende erkenntnistheoretische Frage, ob der Apostel mit leiblichen Augen oder seinem Geist die Vision geschaut habe, zurückzu-
861 S. o. Kap. 4 und 6. 862 Gn. litt. XII, 4–5; 383,27–386,21.
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weisen: Ausgehend von dem, was Paulus unzweifelhaft schreibt, akzentuiert Augustinus dessen Entrückt-Sein. Dieser Aspekt ist für Paulus und deshalb auch für den Kirchenvater so zentral, weil von hier aus ein Licht darauf fällt, worüber sich der Apostel unsicher ist: Ob seine Seele überhaupt noch ‚in dieser Welt‘, im Leib oder ganz ins Geistige ‚absorbiert‘ gewesen sei. Somit geht es nicht primär um Erkenntnistheorie – so wichtig diese für Augustinus, wie seine ausführlichen Erwägungen zeigen, ist –, sondern um eine Erfahrung, die gemäß Paulus buchstäblich die Grenzen des Leiblichen sprengt, aber nicht minder real erscheint. Methodisch überführt Augustinus so den anfänglich noch unbestimmt-konfusen Zweifel, wie er von Paulus geschildert wird, in eine „wissende Unwissenheit“, wie man mit Nikolaus von Kues sagen könnte.
37. Drei Arten des Schauens und das Beispiel der Liebe Erkenntnistheorie, Ekstase, bedeutende und unbedeutende Träume, die Erfahrung Geisteskranker und worüber man (nicht) getäuscht werden kann Nachdem also nicht die Erkenntnistheorie, sondern die Erfahrung des Entrücktseins, von welcher Paulus schreibt, als hermeneutischer Schlüssel dafür verwendet werden konnte, warum er sich über die (Außer-)Leiblichkeit dieser Erfahrung im Unklaren ist, gewinnt für Augustinus im Folgenden indes gerade die Erkenntnistheorie wieder an Gewicht. So differenziert er zwischen drei Arten des Sehens (tria visionum genera) am Beispiel des Liebesgebots: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22, 39). Erstens seien die Buchstaben für jedes Auge sehbar (unum per oculos, quibus ipsae litterae videntur). Zweitens könne der Mensch „durch seinen Geist“ auch in Abwesenheit seines jeweiligen Nächsten an diesen denken (alterum per spiritum hominis, quo proximus et absens cogitatur). Drittens erblicke die „Zusammenschau des Vernunft-Geistes die Liebe selbst als intellekthafte“, also in ihrem geistig-intelligiblen Wesen (tertium per contuitum mentis, quo ipsa dilectio intellecta conspicitur). In Bezug auf die letzte, höchste Form des Sehens ergeben sich zwei implizite Bezüge: Einmal ist die lateinische Formulierung intellecta conspicitur ein verdecktes Zitat von Römer 1, 20a – einem Bibelvers, dessen grundsätzliche Relevanz für Augustins Theologie nicht hoch genug zu veranschlagen ist.863 Zweitens charakterisiert der Begriff des contuitus, der „Zusammenschau“, an anderen Stellen seines Werkes das göttliche Erkennen, steht zu diesem zumindest in direkter Nähe.864 Während die erste und zweite Form des Sehens gemäß Augustins Auffassung für jedermann möglich sind – das Wahrnehmen von unmittelbar Sichtbarem, das abbildlich-körperhafte Vorstellen auch von etwas nicht mehr äußerlich Gegenwärtigem (quo absentia corpora corporalia cogitantur) –, gilt dies nicht für die dritte Form des intellekthaften Sehens. Zwar ist auch von ihr
863 S. o. Kap. 2-3 und 25. 864 Vgl. civ. XI, 21 und zur Stelle Drews (2009: 171–6).
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grundsätzlich kein Mensch ausgenommen, jedoch überschreitet dieses Sehen in unverkennbarer Weise das gewohnte, sich in der körperlichen Realität heimisch fühlende Denken.865 Denn diese dritte Form des zusammenschauenden Intellekts beinhalte weder Wahrnehmungen von Körpern noch körperhafte Abbilder, sondern die begriffliche Sache selbst in ihrer eidetischen Substanz; während körperliche Abbilder eines Eidos zugleich immer eine Differenz zu diesem darstellen,866 beinhaltet das Eidos nur sich selbst ohne jegliche Differenz von sich selbst (tertium vero illud, quo dilectio intellecta conspicitur, eas res continet, quae non habent imagines sui similes, quae non sunt quod ipsae). So werde die Liebe „nicht auf eine Weise als gegenwärtige in ihrem Eidos, wodurch sie ist, geschaut und auf andere als abwesende in irgendeinem Abbild, das ihr ähnlich ist“ (dilectio autem numquid aliter videtur praesens in specie, qua est, et aliter absens in aliqua imagine sui simili? non utique), sondern, „insofern sie vom Geist schauend unterschieden wird, von dem einen mehr, von dem anderen weniger in der Schau unterschieden“; nicht aber werde „sie selbst unterschieden“, wenn ein „körperliches Bild“ vorgestellt werde (sed quantum mente cerni potest, ab alio magis, ab alio minus ipsa cernitur; si autem aliquid corporalis imaginis cogitatur, non ipsa cernitur).867 Liebe ist gemäß Augustinus in ihrem primären Wesen also etwas Geistiges – und an diesem von dem Kirchenvater gewählten Beispiel wird zugleich deutlich, dass seine Auffassung von Geist nicht realitätsfern ist und auch nicht im Widerspruch zu emotionalen Aspekten des Geistes stehen dürfte.868 Als geistiges Eidos (species), welches als solches von der Sache her nicht mit seinen sekundären instanzhaften Abbildern verwechselt werden kann, wird Liebe entweder erkannt oder nicht. Zwar kann es vorkommen, dass Menschen eine solche Konfusion zwischen Sachen und Abbildern vornehmen; dabei verfehlen sie dann aber das sachliche Sein der Liebe selbst, so dass sich eine solche Verwechslung von abbildhafter Instanz mit dem Sein der Sache selbst nur in der subjektiven Meinung ereignen kann, nicht aber der Sache nach, weil das Eidos selbst als solches nicht auf die Ebene seiner Abbilder ‚hinabgezogen‘ werden kann. Begrifflich bereitet das körperliche Sehen kaum Schwierigkeiten, obwohl zwischen eigentümlicher (proprie) und übertragener Bedeutung (translato vocabulo) differenziert werden müsse, unter welche gemäß Augustinus auch die Aussage falle, in Christus wohne „die Fülle der Gottheit auf leibhaftige Weise“ (Kol 2, 9): Denn die Gottheit
865 Gleiches gilt für die Schau der Engel (s. o. Kap. 28). 866 S. o. Kap. 2 zum Beispiel ‚Dreieck‘. 867 Gn. litt. XII, 6; 386,22–387,26. Vgl. Finan (1992: 141) zu Gn. litt. XII: „It is there we first find the systematic triple classification of modes of vision which the tradition used ever afterwards.“ Finan (ibd., 147 f.) vergleicht zudem Jamblich, De Mysteriis X, 6. 868 Es gibt gemäß Augustinus vernunftgemäße Affekte, die auch im ewigen Leben ihren Platz haben: Sed cum rectam rationem sequantur istae affectiones, quando ubi oportet adhibentur, quis eas tunc morbos seu vitiosas passiones audeat dicere? (civ. XIV, 9; 22, 15–18); beata vero [sc. vita] eademque aeterna amorem habebit et gaudium non solum rectum, verum etiam certum; timorem autem ac dolorem nullum (civ. XIV, 9; 25, 11–14).
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sei selbst kein Körper; vielmehr beinhalte das Alte Testament „Schatten des Zukünftigen“ (Kol 2, 17), im metaphorischen Sinn sei Christus deren „Leib“, im spezifischen Sinn aber deren „Wahrheit“ (ac sic quodammodo umbrarum illarum ipse [sc. Christus] sit corpus, hoc est figurarum, et significationum illarum ipse sit veritas). Komplizierter stehe es um den Begriff des spiritus: „Geistig-spirituell“ werde der als unverweslicher, keiner leiblichen Nahrung mehr bedürftige, ganz vom Geist durchdrungene Auferstehungsleib genannt (corpus spiritale, 1 Kor 15, 44).869 Als spiritus würden aber bisweilen auch Luft und Stürme bezeichnet (Ps 148, 8), ebenso die Seelen sowohl von Mensch wie Tier (Pr 3, 21) und die Vernunft als „Auge der Seele“870 in ihrer „Abbildhaftigkeit und Erkenntnis Gottes“ (dicitur spiritus et ipsa mens rationalis, ubi est quidam tamquam oculus animae, ad quem pertinet imago et agnitio dei).871 Bei Paulus changiere indes mitunter der Gebrauch von spiritus (gr. pneuma) und mens (nous), wenn er den Konflikt zwischen Geist und Leib beschreibe872 (Rö 7, 23; Gal 5, 17). Und schließlich werde auch Gott spiritus genannt (Jh 4, 24873): „Gott ist Geist; und die, welche ihn anbeten, sollen ihn in Geist und Wahrheit anbeten.“ Trotzdem lasse sich der bisweilen terminologisch unpräzise Sprachgebrauch von Paulus her aufhellen, wenn er das Beten in „Zungen“ als Tätigkeit des spiritus, das verstandesmäßige Begreifen, auf welches er den entscheidenden Akzent lege, der mens vorbehalte (1 Kor 14, 14): „Wenn ich nämlich bete mit der Zunge, dann betet mein spiritus; meine mens aber bleibt fruchtlos.“ Allein durch die „Zunge“, d. h. die akustisch gebildeten Laute, werde, ohne dass „das intellekthafte Begreifen des Verstandes“ dazu kommt, niemand „auferbaut“ (si intellectum mentis removeas nemo aedificatur audiendo). Denn die akustischen, mit dem Körper geformten Worte seien „Zeichen, gleichsam Abbilder und Gleichnisse der Sachgehalte, die, um begriffen zu werden, des schauenden Blicks des Verstandes bedürfen“ (significationes velut imagines rerum ac similitudines, quae ut intellegantur indigent mentis obtutu). Erst durch das „intellekthafte Begreifen, welches dem Verstand eignet, geschieht Offenbarung, Erkenntnis, Prophetie oder Belehrung.“ Somit ergibt sich für Paulus gemäß Augustins Exegese eine sinnvolle Differenzierung zwischen dem intellekthaften Begreifen einer Sache durch den Verstand (intellectus mentis) und der stärker dem abbildhaften Bereich des Körpers verbundenen Tätigkeit des spiritus. Zeichen, die spirituell in Form von „Ähnlichkeiten mit Körpern“ empfangen werden, sind für Augustinus noch keine eigentliche Prophetie ohne das Hinzukommen des sie begreifenden Verstandes. Die spirituelle Tätigkeit der Seele sei derjenigen des Verstandes untergeord869 S. dazu oben Kap. 22. S. Finan (1992: 148) zur Schwierigkeit der Begriffe visio spiritalis und visio intellectualis sowie ihrer Hierarchie. 870 Zum Begriff „Auge der Seele“, das mehr wert sei als tausend körperliche Augen und durch das „allein die Wahrheit geschaut“ werde, s. Platon, resp. 527e2. 871 Zur schwierigen begrifflichen Abgrenzung von spiritus und mens, zur Vernunftbegabung als Abbild Gottes im Kontext von Eph 4, 23 und Kol 3, 10 s. o. Kap. 14, 20, 22 und 23. 872 S. o. Kap. 31. 873 Zur Stelle vgl. Drews (2018: 202–4 mit Anm. 588).
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net (spiritus, vis animae quaedam mente inferior). Mehr Prophet sei deshalb derjenige, welcher Zeichen aufgrund von intellekthaftem Begreifen deuten könne und nicht der, welcher sie bloß empfangen habe. Diese theologische Auffassung vermag der Kirchenvater biblisch zu untermauern mit dem Verweis auf Gen 41: Pharaos spiritus sei zwar so „geformt“ worden, dass er im Traum Zeichen habe sehen können, Josephs Intellekt dagegen so „erleuchtet, dass er verstand“. Als größter Prophet hingegen müsse gelten, der „in beidem hervorsticht, dass er sowohl spirituell die bezeichnenden Gleichnisse der körperlichen Dinge sieht als auch sie in der Lebendigkeit seines Verstandes begreift“ (sed maxime propheta, qui utroque praecellit, ut et videat in spiritu corporalium rerum significativas similitudines et eas vivacitate mentis intellegat): Hier verweist Augustinus auf den Propheten Daniel (Dan, 2 27 ff.; 4, 16 ff.), der Nebukadnezar sowohl dessen Träume wie auch ihre Deutung offenbaren konnte. In Bezug auf diese erste Fähigkeit, mit welcher „auch die Abbilder abwesender Körper“ vorstellungshaft gedacht werden, müsse man, so Augustinus, in spezifischer Weise die Art des spirituellen Sehens auffassen (secundum hanc, inquam, distinctionem spiritale nunc appellavimus tale genus visorum, quali etiam corporum absentium imagines cogitamus).874 Terminologisch sei der Bereich der intellektualen Schau, welcher allein der Tätigkeit des Verstandes obliege, leichter einzugrenzen, da der Begriff „Intellekt“ einheitlicher gebraucht werde. Zu beachten sei indes die bisweilen vorgenommene Differenzierung zwischen „intellektual“ und „intelligibel“, insofern der erste Begriff das Erkennende, der zweite die erkannte Sache meine875 (ut intellegibilis sit res ipsa, quae solo intellectu percipi potest, intellectualis autem mens, quae intellegit). Da es aber „eine große und schwierige Frage“ sei, ob es eine intelligible Sache gebe, die zwar erkennbar, nicht aber selbst auch erkennend ist876 (sed esse aliquam rem quae solo intellectu cerni possit ac non etiam intellegat magna et difficilis quaestio est), plädiert der Kirchenvater vereinfachenderweise für den identischen Gebrauch beider Begriffe, denn „Verstandesgeist“ werde „nur durch Verstandesgeist geschaut“. Im Folgenden wiederholt Augustinus noch einmal seine Ausführungen zum dreifachen Sehen am Beispiel des Liebesgebots: Durch die Sinneswahrnehmung körperlich gesehen werden können die Buchstaben des Gebots, aber auch der Nächste in seiner leiblichen Präsenz; beides kann ferner, insofern der Nächste bzw. die Buchstaben nicht leiblich gegenwärtig sind, geistig gesehen werden durch den spiritus, während die Sache ‚Liebe‘ selbst in ihrem Wesen nur durch den intellekthaften Verstandesgeist geschaut zu werden vermag und nur ihre Abbilder auch den unteren Erkenntnisvermögen zugänglich sind (dilectio autem nec per substantiam suam potest oculis corporis cerni nec per imaginem corpori similem spiritu
874 Gn. litt. XII, 7–9; 387,27–392,7. 875 Dies korrespondiert der Sache nach mit Proklos’ Differenzierung zwischen noerisch und noetisch, vgl. Drews (2018: 118 mit Anm. 322; 130 mit Anm. 349). 876 Bereits von Platon her spricht einiges dafür, dass die Ideen selbst nicht nur erkennbar, sondern auch erkennend sind (vgl. Platon, soph. 248e6–249a2).
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cogitari, sed sola mente, id est intellectu, cognosci et percipi). Zur Illustration zieht Augustinus ein weiteres biblisches Beispiel heran (Dan 5): Der König Belsazar habe die von der geheimnisvollen Hand an die Wand geschriebenen Zeichen natürlich sinnlich gesehen und auch geistig-spirituell erinnert; jedoch habe sein Verstandesgeist sie in ihrem intelligiblen Gehalt nicht begriffen, sondern lediglich erkannt, dass sie Zeichen von irgendetwas waren. Auch Belsazars Suche nach der Bedeutung war schon eine Aktivitität des Intellekts (etiam ipsam inquisitionem utique mens agebat). Offenbart wurde der geistige Sachgehalt jedoch erst durch Daniel kraft seines „prophetischen spiritus und seines erleuchteten Verstandes“, denn Daniel sei durch sein intellekthaftes Begreifen „mehr Prophet gewesen“ (ipse potius propheta per hoc genus visionis, quod mentis est proprium) als der König, dem genau dieses fehlte, obgleich er die materialen Zeichen an der Wand sogar sinnlich habe sehen können. Auch die Vision des Petrus (Apg 10), in welcher er bestimmte Tiere sieht und den Befehl, diese zu schlachten und zu essen, vernimmt, interpretiert Augustinus im Kontext der drei unterschiedenen Erkenntnisstufen: Durch die spirituelle Imagination habe der Apostel die körperähnliche Bildlichkeit geschaut; beim leibhaftig-sinnlichen Sehen der von Cornelius gesandten Männer erkannte Petrus intellektiv den begrifflichen Sachgehalt der Vision, wobei der Kirchenvater hinzufügt, dass Petrus dies in seiner mens nicht autark, also aus eigener Leistung geschaut habe, sondern durch göttliche Unterstützung (adiuta divinitus mens intellexit), so dass er dank Gottes Geist hören konnte, was zu tun sei. Folglich werde das körperlich-leibhaftige Sehen auf die spirituell erfahrene Vision und diese auf die intellektive Einsicht des Geschauten zurückgelenkt (his atque huius modi rebus diligenter consideratis satis adparet corporalem visionem referri ad spiritalem eamque spiritalem referri ad intellectualem).877
877 Gn. litt. XII, 10–11; 392,8–395,11. Augustins erkenntnistheoretische Fundierung von Visionen wird missverstanden von Schlapbach (2006), die von einem fragwürdigen Verhältnis zwischen intellectus, Imaginationsbildern und körperlicher Wirklichkeit ausgeht: Ganz cartesianisch soll Intellekthaftes radikal von allem Bildlichen und Leiblichen geschieden und daher „non-corporeal“ (ibd., 239) sein, dürfe also überhaupt gar nichts mit „images“ zu tun haben. Von dieser Voraussetzung aus stellt sie dann überraschend fest: „However, what is interesting about these examples is that the meaning of images itself takes the form of images“ (ibd., 242). Als ‚Beleg‘ für ihre Deutung führt sie die bereits oben im Haupttext zitierten biblischen Beispiele Augustins an. Was Schlapbach dabei schlicht übersieht: Die platonisch-aristotelische, von Augustinus geteilte Auffassung des Intellekts besagt ja – im Unterschied zur ‚entleibten Seele‘ bei Descartes (vgl. Drews 2018: 195, 204) – nicht, dass kein Bezug zwischen Geist, Seele und Leib besteht, sondern dass der Intellekt in seinem Erkennen von sich selbst her nicht an Bildliches und Körperliches gebunden ist, sehr wohl aber den Sachgehalt eines Bildes oder eines Körpers erfasst. Schlapbach setzt ein modernes dualistisches Verständnis von Körper und Seele voraus, meint von hier aus (!) Augustinus Widersprüche unterstellen zu können (ibd., 241), missversteht das Verhältnis zwischen Bildlichkeit und intelligiblem Sachgehalt und kritisiert Augustinus für „blurring the boundaries between discursive reason and intellect proper“ (ibd., 243) – ein Fehler der ihr in Wahrheit selbst unterläuft, weil sie mit einem systemfremden Vorverständnis arbeitet.
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Den bisherigen erkenntnistheoretischen Differenzierungen fügt Augustinus einige weitere hinzu: Denn es sei nicht nur möglich, durch die Sinneswahrnehmung Körperliches zu sehen, durch das spirituelle Vorstellungsvermögen körperähnliche Bilder zu schauen und durch den Verstandesgeist begriffliche Sachgehalte zu erfassen. Die spirituelle Imagination nämlich könne sich sowohl auf früher physisch gesehene und dann erinnerte Körper beziehen als auch auf zwar real existierende, aber nicht von der erkennenden Seele als solche sinnlich wahrgenommene Körper und ferner auf solche Körperbilder, die überhaupt nicht existieren, sondern von der Seele selbst geistig gebildet werden. Alle diese Formen gehörten der spirituellen Imagination an – in Unterscheidung zu physisch präsenten, sinnlich wahrnehmbaren Körpern. Schließlich gebe es aber auch den Fall, dass jemand infolge von zu starker geistiger Anspannung, von Krankheit oder durch Einwirkung fremder Geister (guter wie böser) spirituell ein Körperwesen schaue und zugleich durch seinen Sehsinn einen physisch anwesenden Leib sehe, ohne dass für ihn zwischen beiden ein Unterschied bestehe, obgleich eben nur ein Mensch physisch präsent sei (ita ut simul cernatur et homo aliquis praesens oculis et absens alius spiritu tamquam oculis). Was Augustinus hier komprimiert leistet, ist nichts Geringeres, als dass er auch die Erfahrungen vermeintlich Geisteskranker erkenntnistheoretisch ernst nimmt und entsprechend einer rationalen Erklärung zuführt: Auf diese Weise wertet er geistige Visionen nicht einfach als ‚realitätslose Wahngebilde‘ oder ‚Sinnestäuschungen‘ ab, sondern billigt den Menschen, welche derartiges erleben, zumindest den Wirklichkeitsgehalt ihrer subjektiven Erfahrungen zu, weil er diese erkenntnistheoretisch präzise einordnen kann. Denn er habe selbst Menschen erlebt, die mit einem physisch Anwesenden und dabei zugleich mit jemand physisch Abwesendem so gesprochen hätten, als wäre auch dieser zugegen. Wie bei Träumen sei es jedoch auch in diesen Fällen unterschiedlich, ob sich jemand, wenn er wieder zu sich gekommen sei, daran erinnern könne oder nicht (resipiscentes autem aliqui referunt, quod vidissent, aliqui non possunt; sic enim et somnia quidam obliviscuntur, quidam meminerunt). Davon zu unterscheiden sei die Ekstase, wenn die Aufmerksamkeit der Seele „völlig von den Körpersinnen abgewendet und weggerissen“ werde; denn dann würden von „offen stehenden Augen“ auch „keine gegenwärtigen Körper mehr gesehen oder Stimmen gehört, der zusammenschauende Blick der Seele ist als ganzer entweder in den körperlichen Vorstellungsbildern durch die spirituelle Schau oder in den unkörperlichen, von keinem körperlichen Vorstellungsbild figurierten Sachgehalten durch die intellektive Schau“ (totus animi contuitus aut in corporum imaginibus est per spiritalem aut in rebus incorporeis nulla corporis imagine figuratis per intellectualem visionem). Auf der Basis dieser Differenzierungen vermag der Kirchenvater den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt von Visionen zu erklären: Wenn dem in einem Traum oder einer Ekstase Gesehenen keine Bedeutung zukomme, handele es sich um „Einbildungen der Seele“, die ja auch dann vorkämen, wenn jemand im Wachzustand mit bestimmten Vorstellungsbildern beschäftigt sei, die sich nicht auf gegenwärtige Körperwesen bezögen, wenngleich man im Wachzustand zwischen sinnlich
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wahrnehmbarer Realität und reinen Vorstellungen zu unterscheiden wisse. Wenn die Vorstellungsbilder im Schlaf bzw. im Wachzustand jedoch eine Bedeutung besäßen oder wenn jemand gar durch Ekstase entrückt sei, liege ein „wundersamer Modus“ vor, der durch die Einflussnahme „eines anderen Geistes geschehen“ könne, der sein Wissen dem Empfänger dieser Bilder mitteile, sei es, dass der Schauende dieses selbst entschlüsseln könne oder dabei auf die Hilfe eines Erklärers angewiesen sei (si conmixtione alterius spiritus fieri potest, ut ea, quae ipse scit, per huius modi imagines ei, qui miscetur, ostendat, sive intellegenti sive ut ab alio intellecta pandantur).878 Folglich ist für den Kirchenvater nicht jeder beliebige Traum ‚bedeutungsschwanger‘, sondern es gilt auch hier zu unterscheiden zwischen Bildern, welche die Seele selbst, d. h. autark erzeuge, und solchen Gesichten, denen tatsächlich eine tiefere Bedeutung zukommt, die dann zu entschlüsseln ist. Gegen die Annahme, die menschliche Seele würde von sich aus über eine Art Sehergabe verfügen, spreche, dass sie diese zu haben zwar sicher immer erstrebe, de facto aber nicht immer besitze. Offensichtlich bedürfe sie dafür der Hilfe eines sie unterstützenden Geistes. Fraglich sei, ob die Seele „in sich selbst bedeutende Gleichnisbilder“ sehe, die schon zuvor in ihr waren, aber nicht betrachet wurden, wie es auf viele Gedächntisinhalte zutreffe. Warum aber begreife die Seele solche Gesichte zumeist nicht? Vielleicht bedürfe nicht nur der die Imaginationsbilder vorstellende spiritus, sondern auch der sie begreifende Verstandesgeist einer von außen kommenden Hilfe. Augustinus stellt wieder einmal – nicht zuletzt seiner exegetischen Methode entsprechend – viele wegweisende Fragen879 und erwägt, ob die Seele vielleicht bisweilen Bestimmtes „in sich selbst“ sehe, manchmal jedoch nur durch die Einwohnung eines fremden Geistes. Zweifellos sei es aber so, dass „die vom spiritus gesehenen Körperbilder“ nicht immer bedeutungsschwanger seien, während eine Ekstase dagegen sich kaum ereignen dürfte, wenn „die körperlichen Gleichnisbilder nichts bedeuten“ würden (mirum est autem, si aliquando extasis fieri potest, ut non illae corporalium rerum similitudines aliquid significent). Nicht verwunderlich sei es indes, wenn besessene Menschen bisweilen Wahres kündeten, da sich ihnen ein fremder Geist beimische: Bei einem wohlwollenden Geist seien die Visionen „Abbilder anderer Sachgehalte“, die zu begreifen „nützlich“ sei, denn dies sei „eine Gabe Gottes“. Gleichwohl sei es schwer, zu unterscheiden, ob ein böser Geist sich nur als guter verstelle. Dagegen helfe nur, wie der Apostel sage (1 Kor 12, 10), die von Gott geschenkte Gabe der „Unterscheidung der Geister“. Daher seien die Ebenen der sinnlichen Körperwahrnehmung sowie der spirituellen Vorstellungsbilder als solche anfällig für Täuschungen, da sie sowohl von guten Geistern zur Erbauung als auch von schlechten zur Täuschung genutzt würden (tamen et per corporalem visionem et per imagines corporalium, quae demonstrantur in spi-
878 Gn. litt. XII, 12; 395,12–397,2. 879 S. o. Kap. 3.
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ritu, et boni instruunt et mali fallunt). Über jegliche Täuschung erhaben sei dagegen „die intellektive Schau“: Entweder man begreife nicht intellektiv, weil man „etwas anderes meint“ als das Zutreffende, oder, wenn man intellektiv begreife, sei dieses auch „unmittelbar wahr“ (intellectualis autem visio non fallitur; aut enim non intellegit, qui aliud opinatur quam est, aut, si intellegit, continuo verum est). Denn die Augen wüssten nicht, „was sie tun sollten, wenn sie einen [sc. nur] ähnlichen Körper sehen, den sie von einem anderen nicht unterscheiden können“, ebenso wenig die „Aufmerksamkeit des Geistes, wenn im spiritus ein körperähnliches Bild entsteht, das sie von einem [sc. echten] Körper nicht zu unterscheiden vermag.“ Der Intellekt dagegen frage nach der Bedeutung und dem Nutzen des Gesehenen respektive Vorgestellten; entweder finde er dies und gelange so „zu seiner Frucht“, oder aber er verbleibe im Modus der Nachforschung, damit er nicht „in unheilvoller Leichtfertigkeit zu einem verderblichen Irrtum“ hinabgleite (aut inveniens ad fructum suum [sc. intellectus] pervenit aut non inveniens in disceptatione se tenet, ne aliqua perniciosa temeritate prolabatur in exitiabilem errorem). Der Intellekt werde in seinem Urteil von Gott her zugleich auch darin unterstützt, dass es der Seele nicht schade, in bestimmten Dingen etwas sachlich Unzutreffendes anzunehmen: Wenn etwa ein eigentlich Schlechter für gut gehalten werde, schade dies nur dem Schlechten selbst, nicht aber der etwas Falsches meinenden Seele, solange nur in Bezug auf das intelligible Wesen dessen, was das Gute von sich selbst her ist, kein Irrtum vorliegt (neque enim putantium periculo et non potius exitio suo quisque a bonis putatur bonus, etiamsi occultus sit malus, si in rebus ipsis, id est in ipso bono, quo fit quisque bonus, non erretur). Folglich schade es auch nicht, im Traum körperliche Abbilder zu sehen und diese für reale Körper zu halten. Daher könne im Grunde nicht einmal der Teufel, wenn er durch Körpererscheinungen täusche, der Seele wirklich Schaden zufügen – möge er auch mit ihren Augen sein Spiel treiben –, solange sie sich nicht in der „Wahrheit des Glaubens und der gesunden Intellekterkenntnis“ irre, „in welcher Gott die ihm Untergebenen“ unterweise. Insofern die Seele den täuschenden Bildern des Teufels die Zustimmung verweigere, erleide sie auch keinen Schaden.880 Augustinus nimmt hier eine für ihn typische Synthese christlicher Theologie und griechischer Philosophie vor. Während die Erkenntnisstufen der sinnlichen Wahrnehmung und Vorstellung nach platonisch-aristotelischer Auffassung deshalb täuschungsanfällig sind, weil sie bisweilen dazu neigen, Sachfremdes miteinander zu verbinden, was von sich aus nicht zusammengehört (‚ist der Elefant rosa oder die Glasscheibe vor ihm?‘; ‚ist jemand hilfsbereit oder stellt man sich dies nur so vor?‘), gilt dies für das höchste Erkenntnisvermögen nicht: Der Intellekt erfasst einen Sachunterschied (z. B. den Innenwinkelsummensatz des Dreiecks881) entweder in seiner Wahrheit, oder er erfasst ihn nicht, aber er unterliegt hierin nicht der Täuschung.882 Genau dies bringt 880 Gn. litt. XII, 13–14; 397,3–400,4. 881 S. o. Kap. 2, 9–10. 882 Vgl. Aristoteles, De anima 430a26–430b2 und dazu Bernard (1988: 81, 188–190).
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auch der Kirchenvater zum Ausdruck, wenn er schreibt, dass der Intellekt entweder dem sachlichen Bedeutungsgehalt von etwas Gesehenem auf den Grund geht oder aber ‚nichts sagt‘ – denn auch dies ist offensichtlich wahrheitsgemäßer und besser, als vorschnell einem Irrtum zu verfallen. Durchschaut der Intellekt jedoch einen Sachzusammenhang, dann „gelangt er zu seiner Frucht“, d. h., ihm wird gleichsam die Freude am Licht der Erkenntnis des Wahren zuteil, welche ihn zu sich selbst kommen lässt. Da der Intellekt entweder erkennt oder gar nicht urteilt, bleibt er jeglicher Täuschungsanfälligkeit enthoben. Insofern unterscheide er auch die Geister – ob sie etwas Gutes oder Schlechtes intendieren. Als christliches Spezifikum kommt für Augustinus hinzu, dass diese Geisterunterscheidung eine Gabe Gottes ist (1 Kor 12, 10): Dies ließe sich zwar auch so interpretieren, dass der Geist an sich diese Fähigkeit von Gott geschenkt bekommen hätte; für den Kirchenvater spielt aber nicht zuletzt im Kontext seiner Gnadentheologie die von Gott geschenkte Erleuchtung eine viel zu große Rolle, als dass der Geist hier autark agieren könnte – deshalb hatte er auch zuvor am Beispiel des Petrus (Apg 10) bereits darauf hingewiesen, dass der Apostel in seiner Erkenntnis von Gott unterstützt wurde. Man kann dies ohne Weiteres als eine christliche Umdeutung aristotelischer Philosophie werten; bei wohlwollender Augustinus-Interpretation ließe sich indes fragen, ob nicht auch gemäß Aristoteles der menschliche Geist, wenn er erkennt, der Sache nach diese Erkenntnis im Lichte des göttlichen Geistes gewinnt. Das würde noch gar nicht bedeuten, dass man zwischen der Auffassung des Stagiriten und der des Bischofs von Hippo vorschnell ein Gleichheitszeichen setzen dürfte, sondern könnte in Form einer Annäherung griechischer Philosophie und ihrer christlichen Adaption verstanden werden. Ganz im Sinne Platons führt Augustinus aus, dass derjenige, welcher „etwas anderes meint“ als das, was sachlich zutrifft, offensichtlich nicht erkennt, sondern auf der Ebene der Meinung verharrt: Der Gegensatz von Meinung (doxa) und Erkenntnis (epistêmê) ist genuin platonisch.883 In Bezug auf das Meinbare, also auf die Frage, was jeweils in der kontingenten Körperwelt der Fall ist, kann es auch gemäß Augustinus zu Täuschungen kommen – nicht zuletzt der Teufel als gefallener Engel bediene sich trügerischer ‚Vorgaukelungen‘, insofern Bilder etwas suggerieren können, was der Sache nach gar nicht vorliegt. Auch ein Mensch kann freilich vorgeben, integer zu sein, ohne dass dies der Fall ist. So vermag sich hinter dem Schein von Bildern etwas anderes zu verbergen. Genau diesen Schein durchschaut jedoch der Intellekt – wenigstens ultimativ: Denn, wie Augustinus ausführt, in Bezug auf das in sich selbst bestimmte intelligible Wesen des Guten kann gar kein Irrtum entstehen, so dass hierin der Intellekt seinen unerschütterlichen Stand gewinnt; langfristig kann auch ein trügerischer Schein, mit welchem Gutes vorgespielt wird, vor dem Intellekt nicht unentdeckt bleiben, auch wenn sich hinter einem Deckmantel kurzfristig etwas Schlechtes verbirgt. Selbst dann
883 S. o. Anm. 703.
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bleibt jedoch insofern die von Gott vorgenommene gerechte Einrichtung der Welt gewahrt, als das Schlechte sich letztlich selbst bestraft und die zwar in sich falsche Meinung darüber, dass etwas scheinbar Gutes in Wahrheit schlecht ist, dennoch dem Gutgläubigen in seinem Wesen keinen Schaden zufügen kann. Entscheidend ist also, dass der Intellekt der Wesenserkenntnis des Guten anhaftet, denn in Bezug auf dieses rein intelligible Wesen des Guten vermag nicht einmal der Teufel etwas Falsches vorzugaukeln, da seine Täuschungen auf der Ebene der Sinneswahrnehmungen und Vorstellungsbilder verbleiben müssen. Insofern gilt für Augustinus wie für Aristoteles: Der Intellekt erfasst, oder er erfasst nicht, aber er kann sich nicht täuschen und folglich auch nicht getäuscht werden.
38. Sündlose Träume, gute und böse Geister, Wechselbeziehungen von Leib und Seele, die Wahrnehmungsfähigkeit blinder und sehfähiger Menschen Zu seinen Überlegungen vom Anfang des zwölften Buchs von De Genesi ad litteram zurückkehrend,884 kommt Augustinus auf die Nicht-Unterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit während des Schlafens zu sprechen: Im Schlaf könne sich ereignen, dass man von einer sexuellen Vereinigung mit einem Menschen träumt, die eigentlich im Widerspruch zum eigenen Vorsatz stehe und sittlich unangemessen sei, so dass es während des Schlafs sogar zu einem tatsächlichen (und nicht nur vorgestellten) Orgasmus komme (ut eis caro naturaliter moveatur et, quod naturaliter conligit, per genitales vias emittat). Erkenntnistheoretisch betrachtet geschehe hier also das, was schon vorher herausgearbeitet wurde: Die auf der Ebene des spiritus nur imaginierten Traumbilder erscheinen als real-leibliche Wirklichkeit, sind von dieser jedoch im Schlaf nicht zu unterscheiden, denn sonst käme es nicht zu körperlicher Erregung bis hin zum Orgasmus; anders als im Wachzustand bleibe der im Schlaf Träumende jedoch moralisch unschuldig (fieret illud, quod sine peccato fieri a vigilante non posset). Während man im Wachsein über genau diese Erfahrungen geträumter sexueller Erregung reflektieren und sprechen könne, ohne deshalb aktual erregt zu sein, weil man dann zum einen zwischen nur vorgestellten Bildern und real-leiblicher Wirklichkeit unterscheiden und sich zum andern willentlich der bildlich suggerierten sexuellen Vereinigung verweigern könne, gelinge dies im Schlaftraum aus dem dargelegten Grund nicht: Genau diese Unterscheidung zwischen nur vorgestellten Körperbildern und körperlicher Wirklichkeit scheint im Schlaf unmöglich – abgesehen von Ausnahmefällen, wie Augustinus zuvor dargelegt hatte.885 Trotzdem gebe es eine Gemeinsamkeit zwischen dem geträumten Beischlaf und dem Nachdenken bzw. Sprechen darüber im Wachzustand: Beides sei moralisch
884 S. o. Kap. 36. 885 S. o. Kap. 36.
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nicht verwerflich – weder das wache Nachdenken als solches, welches sich sachlich auf dieselbe bildliche Fantasie beziehe, noch die geträumte Fantasie selbst, da bei Letzterer ja die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit unmöglich sei. Das Vorstellungsbild geht der Sache nach sowohl dem rationalen Nachdenken darüber im Wachsein wie auch der körperlichen Erregung im Schlaf voraus: In gewisser Hinsicht ist es selbst demnach noch ohne moralische Implikation, weil sich die Ratio von dem Bild distanzieren, über es nachdenken kann und ihm nicht zustimmen muss und weil umgekehrt der Träumende über diese Fähigkeit gar nicht erst verfügt und es außerhalb seines Möglichkeitsraums liegt, „welcher Ausdruck eines körperlichen Bildes sich [sc. ihm im Schlaf] nähert“, ohne dass er es von einem echten Körper unterscheiden kann (dormientes autem ideo non possunt, quia non habent in potestate quae admoveatur expressio corporalis imaginis, quae discerni non possit a corpore). Die „Verdienste“ einer „guten Seele“ zeigten sich jedoch bisweilen sogar im Traum (1 Kö 3, 5–15): So habe Salomo im Schlaf „die Weisheit allen übrigen Dingen vorgezogen und sie vom Herrn erbeten“ und damit bei Gott Wohlgefallen gefunden. Im Folgenden führt der Kirchenvater aus, dass Abbilder von Körpern, welche der seelische spiritus zu erinnern vermag, zwar von diesem selbst erst sekundär hervorgebracht werden (ipse spiritus in se ipso facit), insofern die Bilder gegenüber den Körpern selbst nachrangig sind, jedoch trotzdem die Körper ihrer Natur nach später sind als die Wirklichkeit des Geistes, so dass das Abbild eines Körpers im spiritus den Körper selbst in seinem substantiellen Wesen überrage (ut, […], quia illud, quod tempore posterius est, fit in eo, quod natura prius est, praestantior sit imago corporis in spiritu quam ipsum corpus in substantia sua). Zeitliche Zusammenhänge konstituiere erst der spiritus, indem er eine erste Silbe mit der zweiten, ein erstes Wort mit dem zweiten usw. als Einheit erfasse, was nur gelingt, indem der materialiter bereits verklungene Laut in der Imagination bewahrt bleibe und mit dem folgenden durch die Erkenntnisaktivität des Geistes zu einem Sinnzusammenhang verknüpft werde886 (nisi auribus perceptae vocis imaginem continuo spiritus in se ipso formaret ac memoria retineret, ignoraretur secunda syllaba utrum secunda esset, cum iam prima utique nulla esset, quae percussa aure transierat).887 Auf welche Weise die vom menschlichen spiritus geformten Körperbilder „unreinen Geistern“ bekannt würden und was umgekehrt die menschliche Seele in ihrem „irdischen Leib“ darin hindere, dies zu durchschauen, sei schwer zu erklären. Augustinus erscheint es indes sicher, dass bestimmte Gedanken von Menschen durch „Dämonen ausgesprochen“ werden; gleichwohl würden diese bösen Geister Menschen gar nicht erst der Versuchung aussetzen, wenn sie „das innere Eidos der Tugenden in den Menschen“ zu unterscheiden wüssten (si virtutum internam speciem possent in hominibus cernere), wie z. B. die „Geduld Hiobs“ (Jak 5, 11), von welcher sich der Teufel zweifellos
886 Zu Augustins Zeittheorie erarbeite ich eine eigene Monographie. 887 Gn. litt. XII, 15–16; 400,5–403,3.
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nicht besiegt sehen wollte. Diesen Geistern eigne eine schärfere Unterscheidungsfähigkeit, Körperliches zu erkennen, als den Menschen, sowie eine subtilere Leiblichkeit, verbunden mit „wundersamer Schnelligkeit“. Damit rekurriert Augustinus auf pagan-platonisches Gedankengut etwa eines Apuleius, gemäß welchem engelhaften Zwischenwesen eine im Vergleich zu den Menschen feinere Leiblichkeit und höhere Erkenntnisfähigkeit zukommt.888 Im Folgenden referiert der Kirchenvater drei Geschichten von ihm bekannten Kranken, die während ihres leidvollen Zustands Visionen erfahren und diese den Anwesenden mitgeteilt hätten. Was die Ursachen solcher Visionen und Weissagungen betrifft, bekennt sich Augustinus offen „eher als suchend denn wissend“ (quaerentem potius quam scientem) und begnügt sich mit der Parallele von Schlafträumen, auf die er schon zu Beginn von Buch XII Bezug genommen hatte. Zugleich weist er auf die Merkwürdigkeit hin, dass die Menschen immer dann nach Erklärung fragten, wenn ihnen etwas ungewohnt erscheine, obwohl sie das Gewohnte im Grunde auch nicht erklären könnten und dies auch gar nicht für notwendig erachteten (sed amant homines inexperta mirari et causas insolitorum requirere, cum cotidiana plerumque talia saepe etiam latentioris originis nosse non curent). Dies betreffe z. B. neue Wörter, nach deren Ursprung gefragt werde, während die Etymologie bekannter Synonyme nicht interessiert – die Meinung, etwas zu kennen, genügt scheinbar, auch wenn der Ursprung des vermeintlich Bekannten genauso verborgen liegt wie derjenige des Neuen. Hinsichtlich der Frage, warum „körperähnliche Erscheinungen in einer Ekstase“ auftreten, fragt Augustinus zurück, woher denn Traumgesichte kämen – denn dies sei ebenso schwer zu erklären, auch wenn die meisten sich diese Frage bei Träumen nicht stellten, weil diese alltäglich seien. Wenn man aber recht darin tue, nicht nach den Ursachen von Träumen zu fragen, dann gelte es, mit Blick auf Visionen ebenfalls nicht allzu neugierig zu sein. Dementsprechend hält sich Augustinus an das, was für ihn philosophisch-wissenschaftlich erkennbar erscheint, und gibt seiner Verwunderung darüber Ausdruck, „wie schnell und leicht“ die Seele in sich Abbilder von gesehenen Körpern reproduziert (ego vero multo amplius admiror multoque maxime stupeo, quanta celeritate ac facilitate in se anima fabricetur imagines corporum, quae per corporis oculos viderit). In Abgrenzung dazu stellt er noch einmal fest, dass die „Natur“ von Träumen und ekstatischen Visionen „zweifellos kein [sc. äußerlich wahrnehmbarer] Körper“ sei.889 Diese grundsätzlichen, scheinbar selbstverständlichen und zugleich sehr rationalen Überlegungen führen den Kirchenvater nun zu wesentlichen Schlussfolgerungen über das Verhältnis von Leib und Seele, aus denen hervorgeht, dass sein Verständnis von beiden nicht dualistisch-gespalten, sondern ganzheitlich-differenziert ist. Es komme nämlich nicht nur zu seelischen Einwirkungen auf den Leib, sondern auch umgekehrt
888 S. Apuleius, De Deo Socratis 11; 144 und dazu Drews (2009: 544–7). 889 Gn. litt. XII, 17–18; 403,4–407,24.
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zu Rückwirkungen des Körpers auf die Seele – und dies kann nur möglich sein, da beide in der irdischen Existenz eine Einheit bilden, auch wenn der Leib ohne Seele nicht lebendig wäre und der Seele der prinzipienontologische Primat zukommt. So könne die Ursache von Blässe, Erröten, Zittern oder einer Erkrankung sowohl auf den Leib wie auch auf die Seele zurückgehen: auf den Leib, insofern bestimmte Nahrung zugeführt werde, die solche Zustände verursacht; auf die Seele, insofern sie Furcht, Scham, Zorn oder Liebe empfinde. Mit Blick auf seelisch verursachte Regungen des Körpers ist dies nicht verwunderlich, weil die Seele, wenn sie erregt sei, als Belebungsursache des Körpers auch diesen entsprechend in Errregung versetze (nec inmerito, si id, quod animat et regit, etiam cum vehementius movetur vehementius exagitat). Eben solche seelischen Zustände könnten ihren Anfang jedoch sowohl vom Leib wie auch vom Geist her nehmen (ita et ipsi animae, ut in ea visa pergat […], aliquando a corpore accidit, aliquando ab spiritu). Zu den vom Körper her entstehenden seelischen Affektionen zählten Schlafträume, denn sie gingen auf das „Wechselverhältnis“ von Körper und Seele zurück, weil der Schlaf sein Wesen „vom Körper her“ habe (dormire quippe a corpore est homini). Auch das oben schon angesprochene Phänomen,890 dass Geisteskranke infolge verwirrter Sinne nicht zwischen äußerlich präsenten Körpern und reinen Vorstellungsbildern unterschieden, rechnet Augustinus zu den vom Leib stammenden Verursachungen ebenso wie solche Fälle, wo körperliche Krankheit zur geistigen Abwesenheit führe, so dass die Sinne gänzlich versagen, ein Mensch nicht mehr ansprechbar ist und in diesem Zustand Traumgesichte sieht. Als vom Geist her verursacht seien solche Fälle zu werten, wenn Menschen bei völliger körperlicher Gesundheit entrückt würden: Auch hier könne es dazu kommen, dass sie sowohl durch ihre Sinne äußere Körper wahrnehmen als auch zugleich körperähnliche Bilder sehen, ohne zwischen beiden zu unterscheiden; oder dass sie, ganz von den „Sinnen des Fleisches abgewendet, durch jene spirituelle Schau in den körperähnlichen [sc. Bildern] wohnen“ (sive penitus avertantur a sensibus carnis et nihil per eos omnino sentientes illa spiritali visione habitent in similitudinibus corporum). Solche Entrückungserfahrungen könnten ihrerseits wieder zwei verschiedene Verursachungen haben: Ein böser Geist mache Menschen zu Besessenen oder „falschen Propheten“ (aut daemoniacos facit aut arrepticios aut falsos prophetas), ein guter dagegen mache sie zu „Gläubigen, die Mysterien verkünden oder, wenn die Intellekterkenntnis hinzutritt, zu wahren Propheten oder zu solchen, welche das, was durch sie offenbart werden soll, zur rechten Zeit schauen und kundtun.“891 Abstrakt-formal betrachtet, erscheinen die beobachtbaren Phänomene – die Nicht-Unterscheidung von realen Körpern und körperähnlichen Bildern, die Entrückung aus der sinnenfälligen Welt – also ähnlich und rühren entweder vom Leib oder
890 S. o. Kap. 37. 891 Gn. litt. XII, 19; 407,25–409,2.
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vom Geist (spiritus) her. Dies bedeutet zugleich, dass die äußerlichen Phänomene allein noch keinen hinreichenden Anhaltspunkt dafür liefern, was der Betreffende gerade erleidet. Um dies unterscheiden zu können, spielt für Augustinus die Frage der körperlichen Gesundheit eines Menschen eine ganz entscheidende Rolle: Ist diese nicht gegeben, so spricht vieles dafür, dass die Ursachen für traumartige Vorstellungen auf die Beeinträchtigung des Körpers zurückzuführen sind – analog zu Schlafträumen im gesunden Zustand, da der Schlaf vom Körper her seine wesentliche Notwendigkeit besitzt. Offensichtlich schließt der Kirchenvater jedoch keineswegs aus, dass auch gesunde Menschen Erfahrungen des Entrücktseins machen können, die daher nicht mit durch Krankheit bedingten Phänomenen verwechselt werden dürfen. Hier ist es also Aufgabe des rationalen Verstandes, entsprechend zu differenzieren, ob es sich um eine ‚gesunde‘ Vision handelt oder nicht. Dass sich eine solche Differenzierung im Einzelfall oft als schwer erweisen dürfte, versteht sich von selbst – nicht umsonst hatte Augustinus zuvor schon darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung der Geister nach christlichem Verständnis eine Gabe Gottes ist (1 Kor 12, 10).892 Am Ende der gerade erörterten Passage deutet einiges darauf hin, dass man die Geister nicht zuletzt „an ihren Früchten erkennen“ wird (Mt 7, 16): ob sie die Wahrheit künden oder nicht, sich als falsche oder wahre Propheten erweisen. Dabei macht der Kirchenvater auch an dieser Stelle noch einmal in Parenthese deutlich, dass ein wahrer Prophet nicht nur Gesichte schauen, sondern sie auch in ihrem Sachgehalt begreifen und durchdringen können muss.893 Auch wenn ein „Grund, dass solche Gesichte gesehen werden, vom Körper her besteht, werden sie doch nicht vom Körper her dargeboten“, denn ihm fehlt „die Kraft, dass er etwas Geistiges formen würde“ (sed cum a corpore causa est, ut talia visa cernantur, non ea corpus exhibet; neque enim habet eam vim, ut formet aliquid spiritale). Vielmehr sei es so, dass, wenn der „Weg der Aufmerksamkeit, durch welche die Sinneswahrnehmung gelenkt wird, vom Gehirn her entweder infolge von Schlaf behindert, von Verwirrung betroffen oder abgeschnitten ist (sed sopito aut perturbato aut etiam intercluso itinere intentionis a cerebro, qua dirigitur sentiendi modus), die Seele selbst, welche aufgrund ihrer eigenen Bewegung von diesem Werk [sc. der Erkenntnis] nicht ablassen kann (cessare ab hoc opere non potest), durch ihren spirituellen Geist körperähnliche Bilder produziert oder ihr entgegengebrachte schaut; und wenn nämlich sie selbst diese produziert, sind es lediglich Fantasien, wenn sie aber entgegengebrachte schaut, handelt es sich um Offenbarungen“ (anima ipsa […] spiritu corporalium similitudines agit aut intuetur obiectas. et si quidem ipsa eas agit, phantasiae tantum sunt, si autem obiectas intuetur, ostensiones sunt). Folglich sei zu unterscheiden zwischen der temporären Verhinderung von Sinneswahrnehmungen, wenn „im Gehirn der Weg der
892 S. o. Kap. 37. 893 S. o. Kap. 37.
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Sinneswahrnehmung, welcher die Aufmerksamkeit zu den Augen leitet, durch Schlaf betäubt ist“, und einer grundsätzlichen, wenn z. B. Blinde ihren Sehsinn aufgrund erkrankter Augen überhaupt nicht auf äußere Körper zu richten vermögen: Ihre Wahrnehmungsaufmerksamkeit würde naturgemäß bis zu den Sinnesorganen vorzudringen versuchen, bei den Augen jedoch ‚auf verschlossene Tore‘ treffen und dort verharren (intentio cernendi, quae cum ad loca venerit oculorum non exeritur foras, sed ibi remanet); trotzdem würden auch Blinde kraft ihres wachen Wahrnehmungsvermögens wahrnehmen, dass sie wach sind, obgleich ihr Sehsinn „im Finstern“ bleibe. Traumbilder im Schlaf schauten Blinde dagegen in gleicher Weise wie Nicht-Blinde.894 Würden jedoch sehfähige Menschen im Wachzustand einfach nur ihre Augen schließen, dann seien sie nicht für Visionen empfänglich, noch würden sie bloße Körperbilder, welche sie sich vorstellen, wie im Schlaf für reale Körper halten. Folglich sei es von großer Bedeutung, „wo das Hindernis für die Sinneswahrnehmung von Körperlichem entsteht, wenn es im Leib entsteht“ (tantum interest, ubi fiat inpedimentum sentiendi corporalia, cum fit in corpore). Während des Träumens „formt“ die Seele „mit so lebendiger Ausdruckskraft [sc. Körper-]Ähnliches, dass sie nicht die körperlichen Bilder von Körperlichem zu unterscheiden in der Lage ist und nicht weiß, ob sie [sc. selbst] in jenen oder in diesen ist, und wenn sie es weiß, weiß sie sie es auf völlig andere Weise“ als im Wachzustand, wie Augustinus aus eigener Erfahrung zu berichten vermag.895 Auch blinden Menschen spricht der Kirchenvater die Fähigkeit zu, zwischen nur vorgestellten Körper-Ähnlichkeiten und Körpern selbst zu unterscheiden, obgleich sie diese nicht zu sehen vermögen: Durch diese Fähigkeit würden sie nicht zuletzt unter Beweis stellen, dass sie wach sind und dann auch wissen, dass sie wach sind und nicht träumen.896 In diesen inhaltsschweren Überlegungen sind wichtige Aspekte über das Verhältnis von Gehirn und Seele, wie Augustinus es begreift, enthalten. Erstens gilt es mit Blick auf moderne Diskussionen zu unterstreichen, dass das Gehirn ganz offensichtlich für den Kirchenvater nicht ‚die eigentlich denkende Substanz‘ ist, schon gar nicht in autarker Weise: Der Leib hat ausdrücklich nicht die Fähigkeit, von sich aus etwas Geistiges hervorzubringen. Erkennend tätig sein kann gemäß Augustinus nur eine geistige Substanz im platonisch-aristotelischen Sinn; die Seele ist eine geistige Substanz und belebt als solche den ihr zugehörigen Körper als ganzen, ist also mehr als nur das cartesische ‚Bewusstsein‘.897 Folglich belebt und lenkt sie auch das Gehirn, welchem auch dem Kir894 Hier würde sich die interessante Frage anschließen, in welcher Weise sich Traumgesichte für Blinde bildlich darstellen. – Ohne dass dies an die oben ausgeführten Überlegungen Augustins direkt anschlussfähig ist, lässt sich der Song Visions von dem bekanntlich blinden Musiker Stevie Wonder (auf seinem Album Innervisions, 1973) hier assoziieren (besonders die Zeilen: „I’m not one who make believes / I know that leaves are green / They only turn to brown when autumn comes around / […] / […] do we have to find our wings and fly away / To the vision in our mind?“). 895 S. o. Kap. 36. 896 Gn. litt. XII, 20; 409,3–411,10. 897 Zu Augustins Seelenaufassung, Neurobiologie und Descartes s. Drews (2013a).
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chenvater zufolge eine zentrale Stellung im menschlichen Leib zukommt:898 Die äußeren Wahrnehmungsorgane (Augen, Ohren etc.) sind in ihrer Funktionsweise mit dem Gehirn verbunden, auf dieses angewiesen, ohne dass die Aktivität der Seele im Gehirn und in den Sinnesorganen deshalb in irgendeiner Weise geschmälert würde. Dass eigentliche Zusammenspiel von Gehirn, Sinnesorganen und Seele wird gerade dann besonders gut ersichtlich, wenn es einer Störung ausgesetzt ist: Z. B. übermannt der Schlaf gemäß Augustinus das Gehirn, so dass die seelische Aufmerksamkeit nicht über das Gehirn in die Wahrnehmungsorgane kanalisiert werden kann; da die Seele von ihrer Bewegung und ihrem „Werk“ des Erkennens jedoch nicht ablassen kann, richtet sie nun ihre Aktivität auf das Hervorbringen körperähnlicher Bilder, also Vorstellungen. Auslöser dafür ist der Schlaf, welcher verhindert, dass die seelische Erkenntnisaktivität über das Gehirn bis in die Sinnesorgane nach außen dringt: Vereinfacht gesagt, ‚kappt‘ der Schlaf in gewisser Weise (nicht total – sonst würde man nicht aufgrund von Lärm aufwachen) temporär die Verbindung von Gehirn und äußeren Sinnesorganen. Zweitens wird dabei zugleich deutlich, dass die eigentlich aktive Instanz beim Erkennen die Seele ist: Denn sie hört auch dann nicht auf, ihre Erkenntnisaktivität – wenn auch behindert durch den Schlaf des Leibes – zu entfalten und produziert aus sich heraus Vorstellungsbilder. Im Wachzustand würde die Seele, indem sie Gehirn, Augen, Ohren etc. als Instrumente („Organe“) benutzt, ihre Erkenntnisaktivität bis in diese äußeren Organe hinein entfalten.899 Drittens ist die Unterscheidung zwischen Wachsein und Schlafen nur im Wachzustand tatsächlich im vollen Sinne möglich; während des Schlafs kommt es zu der von Augustinus immer wieder ins Feld geführten Konfusion von Traumbildern und der äußeren Körper-Realität. Bei blinden Menschen versuche die Seele ebenfalls ihre Erkenntnisaktivität wie bei sehenden zu entfalten: Dass sie daran gehindert wird, liegt freilich nicht am Gehirn, das durch Schlaf übermannt ist, sondern an der Krankheit der äußeren Sehorgane. Trotzdem können gemäß dem Kirchenvater Blinde in gleicher Weise wie Sehende zwischen Wachsein und Schlaftraum unterscheiden, denn im Wachsein vermag die Seele eines blinden Menschen genauso zu erkennen, dass sie nicht schläft, obgleich sie keine äußeren Körper zu erblicken vermag. Dieses scheinbar selbstverständliche Resultat verdient deshalb Beachtung, weil die Wahrnehmungstätigkeit der Seele also nicht völlig von der Funktionstüchtigkeit der äußeren Körperorgane abhängig ist, sondern auch dann noch etwas Wichtiges erkennt, obwohl ihr die Evidenz äußerlich sichtbarer Körper als Kriterium des Wachseins genommen ist. Analog führt der Umstand, dass Sehfähige einfach im Wachzustand ihre Augen schließen, nicht dazu, dass sie deshalb nicht mehr wissen, ob sie wach sind; vielmehr sind
898 S. o. Kap. 23. 899 S. dazu Drews (2009: 46–61).
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auch sie im Wachzustand anders als im Schlaf sehr wohl in der Lage, zwischen bloßen Vorstellungsbildern und realen Körpern zu differenzieren. Viertens enthalten Augustins Ausführungen bereits einen wichtigen Hinweis für die Erklärung von Offenbarungsvisionen: Die Seele produziert nicht nur aus sich heraus Fantasien, sondern schaut auch solche Bilder, die ihr auf dem Wege einer von ihr zu unterscheidenden Verursachung „entgegengebracht“ werden; Voraussetzung dafür ist die schon zuvor erörterte Entrückung, so dass entweder keine Sinneswahrnehmung erfolgt oder eine Mischform aus Sinneswahrnehmung und spiritueller Schau eintritt.
39. Der Geist des Menschen und der des Offenbarers, die drei Stufen des ‚Sehens‘ und Ursachen von Täuschung
Bei Offenbarungsvisionen, welche ausdrücklich nicht die Folge von körperlichen Beeinträchtigungen durch Krankheit oder Schlaf seien, sondern sich „einer Art geheimen geistigen“ Einflussnahme verdanken, durch welche „die Seele entrückt“ werde, sei indes „nicht auch die Natur der Gesichte verschieden, nur weil die Art und Weise“ der Verursachung unterschiedlich sei, zumal auch bei körperlich bedingten Traumgesichten verschiedene Ursachen zu beobachten seien. So würden Wahnsinnige, ohne zu schlafen, ähnliche Gesichte sehen wie Gesunde im Schlaf. Die Ursachen für diese jeweils körperlich bedingten Gesichte sind also diametral entgegengesetzt. Die spirituelle Substanz der Gesichte selbst, insofern sie Vorstellungsbilder sind, sei gleichwohl identisch (non tamen ea, quae videntur, ex alio genere sunt quam ex natura spiritus). Ob es sich um Offenbarungen und nicht um bloße Traumgebilde handelt, hängt gemäß Augustinus davon ab, ob ein bestimmter Geist als Urheber hinter dem Geschauten steht: „Von einem guten Geist“ werde „der Geist des Menschen nur dann zur Schau von Gesichten erhoben, wenn sie auch etwas bedeuten“ (itaque bono quidem spiritu adsumi spiritum hominis ad has videndas imagines, nisi aliqua significent, non puto). Dabei ist die Differenzierung zwischen verschiedenen spiritus entscheidend: Wie der Kirchenvater deutlich macht, besitzt auch der Mensch seinen seelischen spiritus; davon zu unterscheiden ist der spiritus des offenbarenden Geistes; beide ‚treffen‘ gewissermaßen bei einer Offenbarungsvision aufeinander, so dass der zeigende mit dem schauenden spiritus identisch wird. Als Beispiel für den guten Offenbarungsgeist verweist Augustinus auf das Schriftzeugnis des Propheten Joel (2, 28/3, 1), wo vom „Ausgießen“ des Geistes Gottes „auf alles Fleisch“ die Rede ist, sowie auf die Anweisungen, welche Joseph „im Traum vom Engel des Herrn“ erhält (Mt 1, 20; 2, 13). Wenn dagegen die Ursache für geschaute Bilder in der körperlichen Konstitution des betreffenden Menschen bestehe, sei „nicht immer“ von einem tieferliegenden Bedeutungsgehalt auszugehen, sondern eben nur dann, wenn sie „von einem zeigenden Geist inspiriert“ und entweder einem Schlafenden oder einem von seinen Sinneswahrnehmungen Entfremdeten zuteil werden (sed tunc significant, cum inspirantur a demonstrante spiritu sive dormienti sive ali-
39. Der Geist des Menschen und der des Offenbarers
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quid aliud ex corpore, ut a carnis sensibus alienaretur, patienti). Ferner seien bestimmten Menschen auch im Wachzustand – wie z. B. Kaiphas, als er sagte, es sei besser, dass ein Mensch für das Volk sterbe, als dass das ganze Volk verderbe (Jh 11, 50–51) – „durch einen verborgenen Anreiz Gedanken eingegeben“ worden (occulto quodam instinctu ingestas esse cogitationes), so dass sie entweder, ohne dies zu wollen, prophezeit oder aber doch „geargwöhnt“ hätten, etwas auf prophetische Weise zu sagen. Für diese Fälle führt Augustinus als Beispiele zwei Erfahrungsberichte an. Grundsätzlich rechnet der Kirchenvater damit, dass Gesichte entweder im spiritus der Menschen geformt oder aus anderer Quelle als bereits geformte eingegeben werden können, wenn Engel ihre Gedanken den Menschen offenbaren und körperähnliche Bilder zeigen in Vorausschau des Zukünftigen. Dabei sei den Engeln durch ihren spiritus Einsicht in die Gedanken der Menschen gegeben, nicht aber umgekehrt (ipsi nostras cogitationes […] spiritu vident, verum hoc intersit, quod illi nostras, etiam si nolimus, noverunt), weil die Engel ihre Gedanken auf geistige Weise verbergen könnten so, wie analog Menschen ihre Leiber hinter anderen Körpern.900 Wie bereits angedeutet, sei es schwer zu durchschauen, was sich genau im menschlichen Geist – doppelt verstanden als spiritus und mens – ereigne: Bisweilen würden nur bedeutsame Gesichte geschaut, aber dennoch verkannt, ob sie etwas bedeuteten; dann aber werde erspürt, dass sie etwas bedeuten, aber nicht gewusst, was; manchmal jedoch sehe die „menschliche Seele gleichsam in einer prägnanteren Offenbarung sowohl durch ihren [sc. bildlich vorstellenden] spiritus-Geist die bildlichen Gesichte selbst als auch durch ihren [sc. intellektiv erfassenden] mens-Geist, was sie bedeuten“ (aliquando vero tamquam pleniore demonstratione anima humana et spiritu ipsas [sc. imagines] et mente quid significent videat: et scire difficillimum est).901 Diese letzte Schau, welche das spirituelle und intellektive Vermögen vereint, zeichnet, wie Augustinus zuvor bereits dargelegt hatte, den wahren Propheten aus.902 Nach einer Aufzählung aller erdenklichen Entstehungsmöglichkeiten von Vorstellungsbildern: durch Sinneswahrnehmungen, deren Erinnertwerden in der seelischen Imagination, durch willkürliche Fantasien über existente oder nicht existente Körper, durch Träume mit oder ohne bedeutsamen Inhalt, durch Vermischung von Sinneswahrnehmungen und Imaginationsbildern bzw. durch den vollständigen Verlust der Fähigkeit zu Sinneswahrnehmungen wegen körperlicher Krankheit, infolge des Entrücktwerdens der Seele durch einen Geist, wobei wiederum Sinneswahrnehmungen entweder mit Vorstellungsbildern vermischt oder gänzlich ausgeblendet sein 900 Wieso Lagouanère (2007: 518) angesichts von Augustins Erkenntnis- und besonders seiner spiritus-Theorie das stoisch-materialistische Konzept der universellen sympatheia als Erklärungsmodell in Anschlag bringt, erscheint fraglich (zu weiteren stoischen Assoziationen s. ibd., 523). Zur Frage der vermeintlichen Rezeption des stoischen sympatheia-Gedankens im Neuplatonismus vgl. auch Drews (2009: 313–4, 322 mit Anm. 202). 901 Gn. litt. XII, 21–22; 411,11–414,21. 902 S. o. Kap. 37.
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können – nach dieser Aufzählung also, die nur dem Nachweis dient, dass der Mensch über „eine bestimmte spirituelle Natur“ verfügt, stellt Augustinus fest, dass über diese hinaus „das Licht des Verstandesgeistes und des Intellekts“ hierarchisch zu verorten sei. Durch den Intellekt würden zwar auch die niederen, körperbildlichen Visionen des spiritus auf erkennende Weise „unterschieden“, zugleich aber auch das, was weder Körper sei noch eine Körperähnlichkeit aufweise, wie z. B. Tugenden und der Verstandesgeist selbst (quo et ista inferiora diiudicantur et ea cernuntur, quae neque sunt corpora nec ullas gerunt formas similes corporum, velut ipsa mens et omnis animae adfectio bona). Denn der Intellekt erkenne sich durch das intellektive Begreifen (quo enim alio modo ipse intellectus nisi intellegendo conspicitur?): Folglich kann der Verstandesgeist in ein Verhältnis zu sich selbst eintreten, welches den Selbstbezug als Relation eines Selbigen zu sich selbst bedeutet und insofern von einer trinitarischen Struktur ist,903 weshalb Augustinus hinzufügt, dass nicht nur die Tugenden, wodurch die Seele sich Gott annähere, sondern sogar Gott selbst vom Intellekt geschaut werde (quibus [sc. virtutibus] propinquatur deo, et ipse deus [sc. conspicitur]). Alle Formen des „Sehens“ entstünden „in derselben Seele“, die auf reale Körper zielenden Sinneswahrnehmungen, die vom spiritus gesehenen körperähnlichen Bilder sowie die intellektiv-begreifende Schau, welche als sie selbst weder Körper noch etwas Körperähnliches sei. Dabei stehe in der Hierarchie das spirituelle Sehen über den Sinneswahrnehmungen und das intellektive noch über dem spirituellen. Das körperliche Sehen könne jedoch nicht ohne das spirituelle sein, denn ein körperliches Ähnlichkeitsbild entstehe in der Seele sofort im Zuge der sinnlichen Wahrnehmung, da nicht der Leib selbst autark etwas Körperliches wahrnehme, sondern die Seele durch ihn (neque enim corpus sentit, sed anima per corpus). Hier könnte es so scheinen, als ob Augustinus Sinneswahrnehmung und Imagination womöglich doch auf eine Stufe stellte; allerdings präzisiert er sogleich, dass zwar im Akt der sinnlichen Wahrnehmung körperliches und geistiges Sehen nicht unterschieden werden könne; dies ändere sich jedoch schlagartig, wenn der Wahrnehmungsinhalt entzogen sei und die Seele trotzdem das Wahrgenommene spirituell-erinnernd vorstellen könne (sed non discernitur, nisi cum fuerit sensus ablatus a corpore). Folglich könne die spirituelle Vision unabhängig vom körperlichen Sehen entstehen, sei aber abhängig von der intellektiven Schau, um in ihrem Gehalt begriffen zu werden, während die intellektive von der spirituellen unabhängig sei (item spiritalis visio indiget intellectuali, ut diiudicetur, intellectualis autem ista spiritali inferiori non indiget). In diesem Zusammenhang zitiert der Kirchenvater Paulus (1 Kor 2, 15): „Der geistige [sc. Mensch] beurteilt/unterscheidet alles, selbst wird er aber von niemandem beurteilt.“ Obwohl Paulus hier das Adjektiv spiritalis (gr. pneumatikos) verwende, weist Augustinus ein naiv-terminologisch vorgehendes Verständnis zurück: Die Aussage des Apostels sieht er nicht in einem sachlichen Widerspruch zu seinen eigenen
903 S. o. Kap. 23 zu trin. X, 11, 18. Vgl. Brachtendorf (2000), besonders ibd., 163–193.
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systematisch-erkenntnistheoretischen Differenzierungen, denn man müsse Paulus in dem Sinne verstehen, wie er andernorts (Eph 4, 23) von einer Erneuerung „im Geiste des Intellekts“ spreche (‚renovamini autem spiritu mentis vestrae‘).904 Hier kommt also unmittelbar zum Tragen, dass Augustinus nicht terminologisch argumentiert, sondern von der Sache her denkt, weshalb man zwischen einzelnen Formulierungen und ihrem sachlichen Gehalt differenzieren muss: Dabei kann der Kirchenvater zu Recht auf die besagte Stelle des Epheserbriefs als Schriftbeleg905 verweisen, wo die Begriffe spiritus und mens als Einheit aufgefasst und spiritus als mens verstanden werde (iam enim supra docuimus alio modo et ipsam mentem spiritum dici, secundum quam spiritalis omnia diiudicat).906 Denn die Differenzierung zwischen einer spirituellen Vision, welche selbst kein Körper ist, aber körperähnlich, und einem Körper, auf den sich die Sinneswahrnehmungen beziehen, und jener intellektiven Schau, die „weder Körper noch körperähnlich ist“, zeige aus sachlichen Gründen, dass die spirituelle Vision zu Recht als Mitte zwischen Sinneswahrnehmung und Intellekt angenommen werde.907 Zu Täuschungen komme es generell dann, wenn die Seele ähnliche Abbilder mit den Sachen, wovon jene Abbilder sind, verwechsle; Augustinus verortet diesen Fehler jedoch nicht in den zu erkennenden Sachen selbst, sondern in der irrenden Meinung der Seele, und dies liege bezeichnenderweise an „mangelnder intellektiver Erkenntnis“ (inluditur autem anima similitudinibus rerum non earum vitio, sed opinionis suae, cum adprobat quae similia sunt pro his, quibus similia sunt, ab intellegentia deficiens). Bei genauer Betrachtung ist ein solcher Irrtum also z. B. nicht der Sinneswahrnehmung an sich anzulasten, sondern dem begreifenden Erkennen, welches hinzukommen muss, um zwischen Ähnlichkeiten und Abbildern zu differenzieren. So täusche sich die Seele bei Sinneswahrnehmungen dann, wenn sie meine, dass das, was in den Körpersinnen 904 Zur Stelle vgl. oben Kap. 14. Lagouanère (2007: 510, 521) verteidigt Augustinus gegen „son manque de rigueur terminologique“ und verweist zur Erläuterung seiner nicht formalistisch abgrenzbaren Terminologie auf folgende Stelle: quod autem ait, ‚spiritu mentis vestrae‘, non ibi duas res intellegi voluit quasi aliud sit mens, aliud spiritus mentis, sed quia omnis mens spiritus est, non autem omnis spiritus mens est (trin. XIV, 16, 22). „La notion de spiritus“ könne (z. B. in 1 Kor 2, 14) auch „la substance même de Dieu“ bezeichnen (ibd., 533). Trotzdem scheint Lagouanère (ibd., 523) selbst in seiner Augustinus-Interpretation die Terminologie bisweilen zu überfrachten (s. o. Anm. 584). Zum Verhältnis der zu spiritus/mens analogen griechischen Begriffe pneuma/nous im NT vgl. Drews (2018: 202–3, Anm. 588). 905 Der Aspekt des Schriftbelegs ist hier sachlich entscheidend (unabhängig von einer Spekulation über Pseudepigraphie). Man braucht nur 1 Kor 2, 14–16 hinzuzunehmen, um den parallelen Gebrauch von spiritus/mens bzw. pneuma/nous bei Paulus zu bemerken. 906 Vgl. oben Anm. 871. 907 Gn. litt. XII, 23–24; 414,22–417,21. Zur Hierarchie der Erkenntnisvermögen und den neuplatonischen Vorbildern, die Augustinus hier beeinflusst haben (Porphyrius, Plotin) s. Finan (1992: 151–4) und Toulouse (2009), der zugleich ein stoisches spiritus/pneuma-Verständnis für den Kirchenvater zurück- und auf naheliegendere medizintheoretische Ähnlichkeiten mit Galen hinweist (ibd., 236–7), welche im Zusammenhang mit Augustins Elementenlehre (bes. Luft und Feuer) stehen (Gn. litt. VII, s. o. Kap. 23). S. ferner Lagouanère (2007: 535–7) zu Porphyrius und Paulus als Einflüsse auf Augustinus.
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geschehe, sich auch in den wahrgenommenen Körpern selbst ereigne (fallitur ergo in visione corporali, cum in ipsis corporibus fieri putat, quod fit in corporis sensibus). Der Kirchenvater verweist auf etliche Standardbeispiele zur Illustration: Auf See scheine es so, als ob sich das, was sich an Land in Ruhe befinde, bewege – in Wahrheit bewegt sich das Schiff; Analoges gelte für ein Ruder, dass im Wasser gekrümmt erscheine, und für „vieles dieser Art“.908 Um Täuschungen zu vermeiden, müsse deshalb möglichst das „Zeugnis“ der anderen Sinne, vor allem aber das des Intellekts und der Ratio miteinbezogen werden, „damit das, was in dieser Gattung der Dinge wahr ist, gefunden werde, insoweit es gefunden werden kann.“ Auf der Ebene der spirituellen Vorstellung komme es dann zur Täuschung, wenn Vorstellungsbilder für tatsächliche Körper erachtet oder aber etwas imaginiert bzw. vermutet werde, was den so nur vorgestellten Körpern in ihrer äußeren Realität dagegen gar nicht zukomme. Wie oben schon erörtert,909 täusche sich der Intellekt dagegen in seiner Schau nicht: Entweder etwas werde in seiner Sachhaltigkeit begriffen und sei dann folglich wahr; oder aber, wenn es nicht wahr sei, liege auch kein intellektives Begreifen vor (at vero in illis intellectualibus visis non fallitur, aut enim intellegit, et verum est; aut si verum non est, non intellegit). Prägnant konstatiert Augustinus die entscheidende Differenz zwischen zwei Arten des Irrtums: Denn es sei etwas anderes, ob die Seele einem Irrtum unterliege, weil sie sehe – dies trifft auf die Sinneswahrnehmung und die geistige Vorstellung zu –, oder, weil sie nicht sehe – dies sei dann der Fall, wenn die Intellekterkenntnis gar nicht erst erreicht wird (unde aliud est in his errare, quae videt, aliud ideo errare, quia non videt).910 Obwohl der Kirchenvater selbst zuvor gerade explizit gesagt hatte, dass sich der Intellekt genau genommen nie irrt, parallelisiert er am Ende seiner erkenntnistheoretischen Ausführungen über mögliche Täuschungen die immer wieder auftretenden Irrtümer auf den Ebenen der Sinneswahrnehmung und Imagination damit, dass die Seele hinter der Intellekterkenntnis zurückbleiben kann: Der Vergleichspunkt liegt also im (Ver-)Fehlen einer Erkenntnis – diese kann mit Blick auf den Intellekt gänzlich unerreicht bleiben, bei Imagination und Wahrnehmung ist dagegen mit ‚klassischen Verwechslungen‘ zu rechnen, wo es zu einer Mischung von Erkanntem mit Sachfremdem kommen kann (etwa bei dem gekrümmten Ruder, wo die Krümmung nicht auf das 908 Augustinus betont nicht eigens, dass die Wahrnehmung das Ruder im Wasser immer und zu Recht als gekrümmt sieht und genau diesen Befund sehr zuverlässig zutage fördert – sonst könnte man eine solche ‚Täuschung‘ überhaupt nicht erkennen und beurteilen –, sondern will eigens darauf hinaus, dass die Krümmung freilich nicht dem Ruder als Ruder, sondern nur dem im Wasser sichtbaren Ruder zukommt. Insofern müsste seine Argumentation präzisiert werden: Die Täuschung entsteht nicht in den Sinnen, sondern im Wasser, wenn sie überhaupt eine ‚Täuschung‘ ist, da man genauso gut argumentieren könnte, dass es naturgemäß ist, dass ein Ruder im Wasser so und nicht anders sichtbar ist. Dass dies „in dieser Gattung der Dinge“ gilt und entsprechend „wahr“ ist, vermag freilich nicht die Sinneswahrnehmung allein zu ergründen, sondern das rational-intellektive Denken. 909 S. o. Kap. 37. 910 Gn. litt. XII, 25; 417,22–418,22.
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Ruder selbst, sondern auf sein Befinden im Wasser zurückzuführen ist; ein klassisches modernes Beispiel wäre die Täuschung darüber, ob gerade der Zug, in welchem man selbst sitzt, anzufahren beginnt oder der daneben stehende).
40. Die abbildlich-spirituelle und die vom Quell des glückseligen Lebens trinkende intellektive Vision Mose und Paulus: Wer Gott in seinem Wesen schaut, kann nicht im Leib leben Nach diesen erkenntnistheoretischen Reflexionen nähert sich Augustinus allmählich wieder dem Ausgangsthema von De Genesi ad litteram XII an: der Vision des Paulus (2 Kor 12). Auf seinen Vorüberlegungen fußend, unterscheidet er zwischen zwei Arten von Visionen, der spirituellen und der intellektiven Vision. Wenn nämlich die Seele „zu den Gesichten, welche spirituell als körperähnliche [sc. Bilder] geschaut werden, entrückt“ und dabei von den Sinneswahrnehmungen des Körpers „mehr als im Schlaf “, aber „weniger als im Tod“ abgewendet werde, sei dies bereits auf eine „göttliche Ermahnung und Unterstützung“ zurückzuführen, so dass sie auch wisse, „nicht Körper, sondern körperähnliche Gesichte spirituell zu schauen.“ Augustinus erachtet es also als entscheidenden Aspekt einer von Gott herkommenden Vision, dass der Schauende dabei auch weiß, dass er eine Vision schaut, und nicht im Zweifel oder gar der Täuschung unterliegt, die Bilder für äußerlich reale Körper zu halten. Insofern eine solche Vision von dem allwissenden Gott stammt, sei es auch denkbar, dass in ihr „als eine große Offenbarung“ Zukünftiges in Form von „gegenwärtigen Abbildern“ geschaut werde, entweder indem der „begreifende Intellekt des Menschen von Gott her unterstützt“ werde oder ein „Ausleger während des Geschauten dessen Bedeutung“ anzeige, wie es z. B. in der Offenbarung des Johannes (1, 10–20; 4, 2) geschehe. Während es, wie gesagt, charakteristisch ist, dass bei einer von Gott kommenden Vision der Schauende ihre Gottgesandtheit erkennt, spiele es indes eine untergeordnetere Rolle, ob der Visionär in diesem Zustand wisse, sich im Leib oder außerhalb von ihm zu befinden – es sei denn, ihm werde auch das in der Schau gezeigt (etiamsi forte ignoret ille, cui haec demonstrantur, utrum e corpore exierit an adhuc sit in corpore […], si ei et hoc non ostendatur). Der Schauende könne aber nicht nur über die Ebene der Sinneswahrnehmungen hinaus auf die spirituelle entrückt werden, so dass er ganz „in jenen körperähnlichen Bildern“ sei, sondern auch noch über die spirituelle Ebene hinaufgeführt werden, „gleichsam in jene Region des Intellektiven
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und Intelligiblen, wo ohne jegliche Ähnlichkeit zum Körperlichen die durchsichtige Wahrheit geschaut und durch keinen Nebel falscher Meinungen verdunkelt“ werde (ut in illam quasi regionem intellectualium vel intellegibilium subvehatur, ubi sine ulla corporis similitudine perspicua veritas cernitur, nullis opinionum falsarum nebulis offuscatur) und „die Tugenden der Seele nicht mühselig“ seien. Auf der Ebene des reinen Begreifens, in der Heimat des Intellekts, schaut dieser die Wahrheit in ihrer wesentlichen Durchsichtigkeit und zugleich sich selbst, wirkt so sein spezifisches Gut-Sein, seine Tugend, in dieser Schau, weil er an sein Ziel gelangt ist und sein wesenseigener Akt des Begreifens zugleich seine Tugend ist,911 so dass – anders als in der zeitlich-materiellen Welt für die Seele – keine ‚Selbstkasteiung‘, keine „Zügelung von Begierde“, kein „tapferes Ertragen von Widrigkeiten“ noch „Bestrafung von Ungerechtem“ mehr notwendig ist, um Tugendhaftigkeit zu erlangen. Denn: „Eine ist dort und ganz die Tugend, zu lieben, was du schauen sollst, und die höchste Glückseligkeit, zu haben, was du liebst; denn dort wird das glückselige Leben in seinem Quell getrunken“ (una ibi et tota virtus est amare quod videas et summa felicitas habere quod amas. ibi enim beata vita in fonte suo bibitur). Von dort aus werde auch das irdische Leben „benetzt“ (aspergitur), damit man in den „Versuchungen dieser Welt maßvoll, tapfer, gerecht und weise leben“ könne. Dem Menschen in seinem irdischen Leben sei jedoch der umgekehrte Weg aufgegeben: Die Mühe der praktischen Tugenden sei auf sich zu nehmen, um „jenes zu erreichen, wo die sichere Ruhe sein wird und unaussprechlich die Schau der Wahrheit“ (ubi secura quies erit et ineffabilis visio veritatis). Dort werde „die Klarheit des Herrn geschaut – nicht durch eine zeichen-bedeutende Vision“, entweder auf körperliche Weise, wie z. B. auf dem Berg Sinai (Ex 19, 18; 33, 9), oder auf spirituelle, wie z. B. für Jesaja (6, 1) und Johannes (Off 1, 10) –, sondern „durch ihre eidetische Substanz und nicht durch Rätselbilder, insoweit der menschliche Intellekt sie [sc. Gottes Substanz] zu fassen vermag gemäß der [sc. den menschlichen Intellekt] aufnehmenden Gnade Gottes, so dass von Angesicht zu Angesicht Gott mit dem spricht, welchen er einer solchen Unterredung würdig gemacht hat, nicht mit dem Mund912 eines Körpers, sondern des intellektiven Geistes, wie ich das zu verstehen erachte, was über Mose (Ex 33, 11; Num 12, 8) geschrieben steht“ (sed per speciem non per aenigmata, quantum eam capere humana mens potest, secundum adsumentis dei gratiam, ut os ad os loquatur deus ei quem dignum tali conloquio fecerit, non os corporis, sed mentis […]).913 In diesen hymnischen Worten weckt Augustinus – gleichsam im Wortsinn enthousiastisch, „gottbegeistert“ – die Sehnsucht nach dem Quell des seligen Lebens (vgl. Jh 4, 14), zu
911 912 913
Zur gegenseitigen Implikation der Tugenden im Intelligiblen und zu dem für die praktischen Tugenden spezifischen Bereich des Politischen vgl. Plotin, enn. I 2 [19] 7, 1–8 und dazu Drews (2020: 92–93, 318–320). Im Deutschen gebe ich die Doppelbedeutung von os „Mund, Angesicht“ an den beiden Stellen jeweils mit einer dieser beiden Nuancen wieder. Gn. litt. XII, 26–27; 418,23–420,9.
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welchem die menschliche Seele durch die sie beflügelnde Gnade914 Gottes erhoben werden kann: Dort wird der Durst nach Erfüllung gestillt, indem der Verstandesgeist die absolute Wahrheit Gottes in ihrer eidetisch-wesensmäßigen Substanz schaut und so Gott selbst von Angesicht zu Angesicht auf intellektive Weise sieht und hört.915 Mit Blick auf Mose fügt Augustinus präzisierend hinzu, dass jener Gott zu sehen begehrte, und zwar nicht wie auf dem Berg Sinai (in Gestalt des Feuers, Ex 19, 18) und auch nicht wie in der Stiftshütte (in Gestalt der Wolkensäule, Ex 33, 9), sondern „in dieser seiner Substanz, aufgrund der er Gott ist, ohne eine von ihm angenommene körperliche Kreatur, welche den Sinnen des sterblichen Fleisches dargeboten wird, noch im Spiritus-Geist durch figürliche Körperähnlichkeiten, sondern durch sein Eidos916“ (in ea substantia, qua deus est, nulla adsumta corporali creatura, quae mortalis carnis sensibus praesentetur, neque in spiritu figuratis similitudinibus corporum, sed per speciem suam). Der Kirchenvater zitiert Moses Worte, welche in der ihm vorliegenden Textfassung so lauten (Ex 33, 13): „‚Wenn ich also Gnade gefunden habe in deinen Augen, offenbare mir dich selbst eigentlich, dass ich offenbar dich sehe‘“ (‚si ergo inveni gratiam in conspectu tuo, ostende mihi temet ipsum, ut manifeste videam te‘). Während der Augustinus unbekannte hebräische Urtext das Wort derachächa, „deinen Weg“, als Objekt, welches Gott Mose zeigen möge, besitzt (entsprechend in der Vulgata: ostende mihi viam tuam), folgt Augustins Textfassung der Septuaginta (emphanison moi seauton): Gott möge sich selbst offenbaren. Mose erhält die berühmte Antwort, dass er Gott nicht sehen und zugleich leben könne; schließlich wird er von Gottes Hand selbst geschützt, bis dieser „an einem Ort neben“ ihm vorübergegangen ist und Mose ihn von hinten schauen darf (Ex 33, 20–23). Obwohl sich diese Erscheinungsweise Gottes im Sinne Augustins entweder als körperliche oder doch als spirituelle Vision begreifen ließe, wendet der Kirchenvater in einer wenig überzeugenden Schlussfolgerung ein, dass die Heilige Schrift ja nicht erzähle, dass sich diese Ankündigung Gottes dann auch so zugetragen habe, und deshalb „hinreichend“ klar sei, dass sie „figürlich“ gemeint
914 Den Aspekt der Gnade in der Intellekterkenntnis betont Zwollo (2013: 90); vgl. auch oben Kap. 37. 915 Dieser letzte Teilsatz ist grammatisch von seiner Subjekt-Objekt-Relation im Deutschen doppeldeutig, was insofern an dieser besonderen Stelle nicht unpassend erscheint, als sich die intellektive „Unterredung“ zwischen Gott und Mensch in wechselseitiger Durchdringung des gegenseitigen Erkennens vollzieht: Der menschliche Intellekt sieht und hört, aber zugleich sieht und hört natürlich auch Gott, insofern es sich um ein colloquium in der Schau handelt. 916 Damit ist nicht gemeint, dass Gott gleichsam nur ein Eidos unter vielen wäre, sondern Augustinus bringt mit species das wesentliche Sein von etwas zum Ausdruck: Nach seiner Auffassung besitzt auch Gott ein solches wesentliches Sein, wenngleich sein Eidos nicht auf einer Ebene mit einem Einzel-Eidos (wie ‚Dreieck‘ oder ‚Schönheit‘) im platonischen Sinne steht: Gott ist z. B. nicht wie diverse große Dinge erst durch Partizipation an dem Eidos der Großheit groß, sondern durch sein eigenes Gott-Wesen (s. o. Kap. 15), welches alle Einzel-Eidê erst konstituiert. Sachlich ist dies der Grund, weshalb andere christliche Platoniker wie Dionysius Areopagita und Boethius Gottes Sein mit dem platonisch verstandenen überseienden Einen zusammenschauen konnten, denn Gottes Sein ist das höchste Sein überhaupt. Genauer dazu s. Drews (2011: 353–364; 2018: 307–9).
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sei mit Blick „auf die Kirche“, da diese im allegorischen Sinn „den Ort neben Gott“ und „seinen Tempel“ darstelle. Aus der schon erwähnten Schrift-Passage, welche besagt, dass Gott mit Mose von „Angesicht zu Angesicht“ bzw. „Mund zu Mund“ spreche (Num 12, 8), gehe gleichwohl hervor, dass Mose es verdient hatte, Gottes Wesen selbst zu schauen. Wie Augustinus zuvor bereits ausgeführt hatte, versteht er dieses Sprechen von „Angesicht zu Angesicht“ bzw. „Mund zu Mund“ in intellektiver Weise, sofern Gott „durch sein Eidos-Wesen, aufgrund dessen er Gott ist, auf bei Weitem unsagbar geheimnisvollere und gegenwärtigere Weise spricht durch unsagbares Sprechen“917 (illo ergo modo in illa specie, qua deus est, longe ineffabiliter secretius et praesentius loquitur locutione ineffabili). Diese intellektive Schau könne niemand erreichen, der noch „in diesem Leben lebt, in welchem man auf sterbliche Weise in diesen Sinnen des Körpers lebt“ (ubi eum nemo vivens videt ista vita,918 qua mortaliter vivitur in istis sensibus corporis); vielmehr müsse der Mensch „diesem Leben auf bestimmte Weise sterben, indem er entweder ganz aus dem Leib herausgeht oder so abgewendet und entfremdet von den fleischlichen Sinnen ist, dass er zu Recht nicht weiß, wie der Apostel sagt (2 Kor 12, 2), ob er im Leib oder außerhalb des Leibes ist, wenn er zu jener Schau entrückt und hinaufgeführt wird“ (ut merito nesciat, sicut apostolus ait, utrum in corpore an extra corpus sit, cum in illam rapitur et subvehitur visionem).919 Das Missverständnis liegt nahe, Augustinus hier mit dem Vorwurf der ‚Leibfeindlichkeit‘ konfrontieren zu wollen: Durchdenkt man indes die präzisen erkenntnistheoretischen Ausführungen, wie sie der Kirchenvater zuvor vorgenommen hatte,920 dann ist ganz klar, dass es nicht um eine pauschale Verurteilung des Leibes und der Sinneswahrnehmungen geht, sondern darum, dass die Erkenntnisweise der Sinneswahrnehmungen zwangsläufig immer bei etwas Äußerlichem und Partikulärem verharrt – was den Sinnen gar nicht anders möglich ist –, während für eine Erkenntnis des substantiellen Wesens einer Sache – hier auf höchster Ebene: die Erkenntnis Gottes – der intellektive Blick benötigt wird. Da Gott das höchste Wesen überhaupt und reiner Geist ist und weil zudem von der Heiligen Schrift bezeugt wird, dass niemand sein Wesen schauen und zugleich (im Irdischen) leben kann (Ex 33, 20), deshalb ist für den Kirchenvater sowohl aus erkenntnistheoretischen wie auch exegetischen Gründen klar, dass eine tatsächliche Schau Gottes den Menschen aus dem irdischen Leben radikal entreißt – entweder unumkehrbar durch den Tod oder zumindest ‚vorübergehend‘ (Ex 33, 22). Und damit ist Augustinus wieder zur Paulus-Stelle zurückgekehrt, die der Grund für die weit ausholenden Erörterungen in De Genesi ad litteram XII ist.
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Diese Überbietungen erinnern stilistisch in gewisser Weise an die Osiris-Vision am Schluss des Apuleius-Romans (s. dazu Drews 2009: 617–8). 918 Stilistisch effektvoll unterstreicht die auffällige v-Alliteration die inhaltliche Aussage. 919 Gn. litt. XII, 27; 420,10–422,11. 920 S. o. Kap. 37. Gegen eine Leibfeindlichkeit Augustins wendet sich Davies (2009: 270).
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Wenn Paulus „diese dritte Art der Schau“, welche sowohl die Sinneswahrnehmungen als auch die spirituelle Vision übersteigt, als „dritten Himmel bezeichnet“ (2 Kor 12, 2), dann werde dort die „Klarheit Gottes geschaut, für deren Schau die Herzen gereinigt werden“ (quapropter si hoc tertium visionis genus […] tertium caelum appellavit apostolus, in hoc videtur claritas dei, cui videndae corda mundantur). Gemäß seiner die Bibel als Einheit auffassenden Hermeneutik vermag Augustinus dieses exegetische Resultat mit dem Herrenwort aus der Bergpredigt in Verbindung zu bringen (Mt 5, 8): „‚Glückselig die Reinherzigen, denn sie selbst werden Gott schauen‘“, außerdem mit einer weiteren Paulus-Stelle (1 Kor 13, 12): Für den dritten Himmel gelte dann nämlich nicht mehr, wie im hiesigen Leben „durch einen Spiegel im Rätselbild“ zu schauen, sondern von „Angesicht zu Angesicht“ (non ‚per speculum in aenigmate‘, sed ‚facie ad faciem‘). Diese Schau sei in Bezug auf Mose durch das Wort bezeichnet, dass Gott mit ihm von „Mund zu Mund“ (Num 12, 8), d. h. „vermittels seines Eidos-Wesens, durch welches Gott ist, was er ist“, gesprochen habe (quod de Moyse dictum est ‚os ad os‘, per speciem scilicet, qua deus est quidquid est). Aufgrund der Gottesferne des Menschen werde trotzdem nur „ein wenig“ von Gottes Sein erfasst, weil der Mensch, „mit sterblicher und vergänglicher Last beschwert, in der Fremde“ sei, solange er nur „durch Glauben, nicht aber durch Schau (non per speciem921)“ wandele (2 Kor 5, 7922). Paulus’ Visionserfahrung betreffend, argumentiert Augustinus, dass es passend erscheine, wenn Gott „dem so großen Apostel“ habe das Leben zeigen wollen, „in welchem nach dem [sc. irdischen] gelebt werden soll in Ewigkeit.“ Warum soll der ‚Ort‘ dieser Entrückung nicht das „Paradies“ gewesen sein (2 Kor 12, 4), wenn auch nicht das, in welchem Adam „auf körperliche Weise“ gelebt hat (cur non dicatur iste paradisus excepto illo, in quo corporaliter vixit Adam […]?)? Erneut betont der Kirchenvater die Bezogenheit von Literalsinn und allegorischem Sinn aufeinander,923 insofern das eigentümlich-spezifische Paradies Adams zugleich eine allegorische Bedeutung umfasse und als Sinnbild der Kirche sowie des ewigen Lebens gelten könne. Denn auch Jerusalem werde als „Vision des Friedens“ verstanden, was in keiner Weise hindere, dass es sich dabei um eine konkrete, irdische Stadt handele. Über die Meinung, dass es mehr als nur drei (bis zu zehn) Himmel geben könnte – möglicherweise als Unterteilungen der drei Himmel analog zu den drei von Augustinus diskutierten Visionsarten –, gibt der Kirchenvater
Species gibt auch hier das griechische eidos wieder; jedoch bedeuten beide Wörter hier „Schau“. Dies steht nicht im Widerspruch zum Begriff des substantiellen Wesens, welches eidos bzw. species ebenfalls bedeuten können. Sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen hängt beides letztlich zusammen, wie auch vom Kontext bei Augustinus her deutlich wird: Das Wesen einer Sache eidetisch begreifen, heißt zugleich, dieses zu schauen; eidetisch zu schauen bedeutet entsprechend, das Wesen von etwas zu begreifen. Im Deutschen gibt es m. W. kein Äquivalent, welches beide Konnotationen in sich vereint. 922 Zur Stelle vgl. Drews (2018: 191–2). 923 S. o. Kap. 25 zur analogen Interpretation von Hagar und Sarah als individuelle Frauen und zugleich als allegorische Präfigurationen. 921
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vor, „nichts zu wissen“. Zugleich weist er darauf hin, dass einige, welche so viele Himmel postulierten, diese als Unterteilungen des „einen Firmaments“ und somit „körperlich“ auffassten, also gar nicht die Ebene der Körperlichkeit verlassen und die des Geistes verkennen (sicut eos [sc. caelos] alii septem, alii octo, alii novem vel etiam decem perhibent et in ipso uno, quod dicitur firmamentum, multos gradatim esse confirmant ac per hoc corporeos esse vel ratiocinantur vel opinantur).924 Diese referierte Meinung erscheint nicht nur als rein formales Denkspiel, sondern zeigt auch, dass substantielle Unterschiede, wie Augustinus sie von der Erkenntnistheorie aus für die Differenzierung zwischen einem körperlichen, spirituellen und intellektiven Himmel herleitet, von einem solchen bloß formalen Zugriff gar nicht erfasst werden: Wer bis zu zehn Himmel ansetzt, vermag nicht mehr zu sagen, warum, und hält diese zehn in Wahrheit für einen einzigen Himmel und bleibt so auf der Ebene des Körperlichen bzw. Sinnenfälligen stehen. Interessant ist jedoch, dass hiermit eine Denkfigur von Augustinus berührt und zugleich überwunden wird, welche strukturell an die unendlichen Raum-Dimensionen in der modernen Mathematik erinnert: Auch hier handelt es sich um rein formale Schematisierungen (im Sinne einer unendlich fortschreitenden Entfaltung quantifizierbarer Unterschiede), bei welchen zu fragen ist, ob sie noch einen substantiellen Unterschied darstellen wie den zwischen Linie (Eindimensionalität), Figur (Zweidimensionalität) und Körper (Dreidimensionalität) oder vielmehr ‚immun‘ sind gegenüber substantiellen Differenzierungen und der Sache nach letztlich in einer Dimension verharren.925 Wie im körperlichen Licht der Himmel über der Erde sinnlich-wahrnehmbar sei, so seien auf der spirituellen Ebene „in einem bestimmten, eigenen unkörperlichen Licht körperähnliche Bilder“ zu schauen. Diese könnten einerseits aus dem Menschen „vom Fleisch oder vom Geist her“ stammen, z. B. Begierden und Sorgen manifestieren, welche dieser in sich selbst trägt, oder andererseits als göttliche Botschaften von Engeln herrühren, sei es, dass sie sich auf bestimmte Weise mit den Menschen gemein machten oder auf einem anderen, nicht erklärbaren Weg auf die spiritus-Seele des Menschen Einfluss nähmen. Im intelligiblen Licht würden dagegen „in der Seele selbst Tugenden“ geschaut“, sowohl ewige, wie z. B. Frömmigkeit, als auch solche, die 924 Gn. litt. XII, 28–29; 422,12–424,14. 925 Radke (2002: 490–1) zeigt auf, dass ein n-dimensionaler Raum der Sache nach zweidimensional sein müsste, weil „bei der immer gleichen Wiederholung des immer gleichen Vorgangs mit immer gleichen bzw. als gleich betrachteten Gegenständen es gar nicht zur Konstruktion bzw. Auflösung verschiedener Dimensionen kommt, sondern immer nur ein und dieselbe Dimension wieder und wieder konstruiert wird. Es ist ein Trugschluß anzunehmen, durch die nmalige Wiederholung dieser Methode entstehe ein ndimensionaler Raum; tatsächlich entsteht nämlich […] nicht einmal ‚unser‘ dreidimensionaler Raum. […] Daher kann überhaupt keine Rede davon sein, daß die Verallgemeinerung der allgemeinen Regel und das Absehen von den Entsprechungen in der realen Welt und Hinblicken auf die Regel selber, dazu führt, den anschaulichen Charakter der Verfahrensweise in einen begrifflichen zu verwandeln. […] Der radikalste Formalismus steht also, so könnte man sagen, im Dienst der Rettung der Anschaulichkeit.“
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nur im irdischen Leben notwendig seien, wie z. B. Glaube, Hoffnung und Geduld, welche sich im Hiesigen schon auf das zukünftige Ewige beziehen. Dass Augustinus diese Tugenden zwar in diesem Leben für notwendig erachtet, nicht aber mehr in jenem ewigen Leben, hat seinen Grund darin, dass der Kirchenvater jenes als Erfüllung der irdischen Hoffnungen ansieht: Was hier erwartet wird, muss dort nicht mehr ersehnt werden, weshalb die das zukünftige Leben erwartenden und auf dieses hin ausgerichteten Tugenden der Geduld und des Glaubens nur im irdischen Leben des Noch-nicht nötig erscheinen. Zugleich entspricht diese Auffassung in philosophischer Hinsicht derjenigen Plotins, dass die Tugenden im engeren Sinne sich auf den Bereich des praktischen bios beziehen, nicht aber auf das intelligible Sein.926 Trotzdem würden auch diese Tugenden „intellekthaft geschaut“ (intellectualiter videntur), da sie nichts Körperliches oder Körperähnliches seien.927 Das Licht, in welchem sie erkennbar werden, sei Gott selbst: Werde die „als Abbild Gottes erschaffene rational-intellektive Seele“ dieses Lichts gewahr, dann zittere sie; dorthin entrückt, sehe sie das Licht „über sich, durch dessen Unterstützung sie schaut, was immer sie auch in sich selbst durch das intellekthafte Begreifen schaut“ (haec autem creatura [sc. anima], quamvis rationalis et intellectualis ad eius imaginem facta, quae cum conatur lumen illud intueri palpitat infirmitate […]. cum ergo illuc rapitur […], etiam supra se videt, quo adiuta videt quidquid etiam in se intellegendo videt).928 Während z. B. Begierden und Sorgen, die aus dem „Fleisch“ herrühren, oder bestimmte durch Engel dem Menschen suggerierte Gesichte gemäß Augustinus der spirituellen Ebene angehören, betrifft die intellektive Schau indirekt oder direkt Gott selbst: Was intellektiv eingesehen wird, wie das eidetische Wesen der Tugenden, kann nur im Lichte Gottes begriffen werden. Hier kombiniert der Kirchenvater erneut platonische Erkenntnistheorie mit christlicher Theologie: Das Licht des Intellekts ist nach Platon die Idee des Guten als Ursache von Erkennbarkeit und Wahrheit, wie aus dem Sonnengleichnis der Politeia hervorgeht.929 Für Augustinus ist dieses Licht zugleich die Gnade Gottes, welche den Menschen in allem unterstützen muss, damit er etwas Gutes erreichen kann, also auch im Erkennen. Wird die Seele dieses Lichts gewahr, erzittert sie – im Erschrecken vor der Helligkeit von Gottes Licht. In der intellektiven Erfahrung einer Entrückung erkennt sie nicht nur auf intellektive Weise, sondern schaut zugleich dieses Licht, welches über ihr ist, so dass sie nicht mehr nur 926 S. o. Anm. 911. 927 S. o. Kap. 36. 928 Gn. litt. XII, 30–31; 424,15–426,5. Lagouanère (2007: 525) verweist zu Recht auf die Visionserlebnisse in conf. VII und IX als Parallelen, ebenso Finan (1992: 143, 146). Zwollo (2013: 89–90) hebt den Zusammenhang zwischen der Geschöpflichkeit des Menschen als imago Dei und der intellektiven Schau bei Augustinus hervor: Gottes Abbild zu sein, erlangt der Mensch in der intellektiven Schau zur vollen Aktualität, so dass das Abbild-Sein bereits auf diese Schau hinzielt, aber dafür der Gnade Gottes bedarf. 929 Platon, resp. 508e.
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eidetische Substanzen erkennt, sondern das allumfassende intelligible Licht selbst. Im Moment einer solchen Ekstase ist die Seele von Gottes Licht geblendet und weiß nicht mehr, ‚wo‘ sie ist, sondern wird, ganz vom Licht überwältigt, in dieses hineingezogen.
41. Himmel und Hölle als spirituelle Wirklichkeiten Erkenntnistheorie, Erfahrung, Auferstehung und eine ganzheitliche Anthropologie. Der geistige Literalsinn und eine irdische Allegorie: Augustins inhaltlich begründete, nicht-formalistische Hermeneutik An die Erörterung der drei von Augustinus unterschiedenen Arten des Sehens schließen sich Überlegungen an über den Zustand des Menschen, genauer: seiner Seele nach dem irdischen Tod. Wie schon zuvor,930 geht der Kirchenvater noch einmal auf die Frage ein, ob sich eine Seele ohne Leib an einem körperlichen Ort befinden könne, und hält dies philosophisch zumindest auf den ersten Blick für unmöglich: Ohne einen Leib könne sie an keinen körperlichen Ort getragen werden, zumindest „nicht auf örtliche Weise“ (non localiter). Mit dieser Einschränkung hält Augustinus schon die letztlich entscheidende Möglichkeit offen, dass sich die Seele nach ihrem Tod zwar nicht an einem körperlichen Ort, aber dennoch in einem anderen Sinn an einem ‚Ort‘ im Sinne einer bestimmten Wirklichkeit befinden und mit dieser konfrontiert sein kann. Die eigentliche Frage sei indes, ob die Seele nach dem Tod des irdischen Leibes noch etwas Körperliches an sich habe – dies mögen Wissendere zeigen, der Kirchenvater verneint dies zunächst. Die Seele werde „zu spirituellen Orten für ihre Verdienste getragen oder zu Orten der Strafe, den Körpern ähnlich.“ Dies scheint eine bestimmte Körperähnlichkeit auch der Seele vorauszusetzen, weshalb sie auch nach dem Tod etwas Körperliches an sich haben müsste. Entsprechend argumentiert Augustinus, es sei doch uneinsichtig, dass die Seele zwar zu (irdischen) Lebzeiten in einer bestimmten Leibähnlichkeit erscheine, wenn sie bestimmte Visionen sehe und „ihr Leib ohne Sinneswahrnehmungen, gleichwohl nicht völlig tot“ daliege (neque enim video, cur habeat anima similitudinem corporis sui, cum iacente sine sensu ipso corpore nondum tamen
930 S. o. Kap. 25 und 36.
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penitus mortuo videt talia) – denn solche Erfahrungen berichteten viele, nachdem sie wieder ‚bei Sinnen‘ gewesen seien –, aber dass sie eine entsprechende Leibähnlichkeit nicht mehr besitzen sollte, wenn sie ganz „aus dem Leib herausgegangen“ sei (et non habeat, cum perfecta morte penitus de corpore exierit). Die Orte der Strafe wie diejenigen der „Ruhe und Freuden“ wiesen gleichermaßen körperähnliche Züge auf (itidem similia corporalibus). Falsch sei an diesen Wirklichkeiten nur dann etwas, wenn etwas Bestimmtes für etwas anderes gehalten werde. So habe Petrus in der Vision aus Apg 10 zunächst die Körperbilder mit realen Körpern verwechselt931 und später bei seiner realen Befreiung durch einen Engel dies als erstes für eine Vision erachtet (Apg 12, 5–11), denn die Erfahrung, durch den Engel von den Fesseln befreit zu sein, habe „aufgrund des Wunders einem geistigen“ Gesicht geglichen (ista corporalis expressio soluti de vinculis propter miraculum spiritali similis erat). Immerhin verweist der Kirchenvater auf die Seele des Apostels als Beispiel für Täuschungen: Auch die Bibel selbst erzählt also von genau den Irrtümern, mit welchen grundsätzlich zu rechnen ist; dabei sind diese nicht schuldhaft oder moralisch konnotiert, sondern bloße Verwechslungen, welche in ihrer konkreten Lebenswirklichkeit völlig verständlich erscheinen. Mit Blick auf die höllische Wirklichkeit (quae inferna dicuntur) konstatiert Augustinus, dass diese „eindrücklicher“ sei als schlechte Träume (vor denen man sich auch fürchte) und entsprechend „drastischer empfunden“ würde (vehementius sentiantur). Als Analogie führt er an, dass diejenigen, welche in einer Entrückung „den Körpersinnen entzogen“ waren – zwar nicht total wie Verstorbene, aber doch in stärkerer Weise als Schlafende –, von „eindrücklicheren“ Erfahrungen (expressiora) berichteten als bloßen Träumen. Die jenseitige Realitätshaltigkeit „wahrer Freude“ bzw. „wahrer Beschwernis“ (vera laetitia, vera molestia) steht für Augustinus außer Frage: Er fasst sie mit Blick auf ihre Substanz nur dezidiert als spirituelle Wirklichkeit auf (est ergo prorsus inferorum substantia, sed eam spiritalem arbitror esse, non corporalem).932 Auf der Basis seiner erkenntnistheoretischen Differenzierungen ist Augustinus somit in der Lage, vor allem Erfahrungsberichte konkreter Menschen, die er zu kennen scheint, ernst zu nehmen und entsprechend einzuordnen: Es besteht ein Unterschied, ob man im Schlaf einen Traum von geringer Bedeutung erlebt oder aber eine ekstatische Erfahrung macht. Und doch gibt es bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen Träumen und Gesichten, zwischen der Körperentzogenheit eines Schlafenden, Entrückten oder gar Gestorbenen: Denn solche spirituellen Erfahrungen, welche die Seele als geistige Substanz erlebt, zeigen gleichwohl körperähnliche Züge. Die zunächst so unscheinbar wirkende Unterscheidung von realer Körperlichkeit und körperähnlichen Visionen erweist sich nun, da sie erkenntnistheoretisch reflektiert ist, zugleich 931 Zur Stelle s. o. Kap. 37. 932 Gn. litt. XII, 32; 426,6–427,28. Zur Realitätshaltigkeit der postmortalen Zustände der Seele vgl. Toulouse (2009: 240–6), der neben Porphyrius auf Platons Er-Mythos (resp. 614a ff.) als Hintergrundfolien verweist (ibd., 241). S. ebenso Lagouanère (2007: 525–6, 535).
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als ontologisch folgenreich: Der Kirchenvater kann spirituelle Erfahrungen der Seele in ihrem Realitätsgehalt ernst nehmen, da er sie nicht als bloße ‚Hirngespinste‘ achtlos verwerfen muss. Für die Frage, was der Seele nach ihrem irdischen Leben bevorsteht, vertritt er so eine mittlere Position: Weder unterliegt Augustinus einem unkritisch-naiven Verständnis von Himmel und Hölle in dem Sinne, dass beides real-körperliche, strikt geographisch lokalisierbare Orte wären; noch bestreitet er ihre geistig-spirituelle Wirklichkeit; vielmehr vermag er das Spezifikum des in seinem Sinne Spirituellen dahingehend stark zu machen, dass er die Körperähnlichkeit solcher spirituellen Erfahrungen unterstreicht und auch als substantiell charakteristisch für die ‚Orte‘ Himmel und Hölle veranschlagt. Dies entspricht wiederum den Beschreibungen himmlischer Freuden sowie höllischer Strafen: Deren Bildlichkeit und Körperlichkeit bleibt insofern unbestritten, muss also nicht ‚wegerklärt‘ werden. Was die Seele auf spirituelle Weise nach ihrem Tod als Freud oder Leid erfahren wird, ist für Augustinus somit real und „wahr“. Insofern bleibt sogar einem naiven Verständnis von Himmel und Hölle (im Sinne tatsächlicher Orte) eine gewisse Berechtigung, als der seelische Zustand in seinen Körperähnlichkeiten mit tatsächlicher Leiblichkeit (im irdischen Sinne) zwar verwechselt, aber zumindest doch ernst genommen wird: Denn letzterer Aspekt dürfte gemäß Augustinus der entscheidende sein. Zudem zeigt die spirituelle, körpergleiche Konstitution jenseitiger Zustände eine Ähnlichkeit zwischen den aus dieser Welt geschiedenen Seelen der Menschen und bestimmten Engeln (vgl. Lk 1, 26–38). Eine auf das Diesseits beschränkte Applikation dessen, was das „Totenreich“ ausmacht, lehnt Augustinus ab (nec audiendi sunt, qui adfirmant inferos in hac vita explicari nec esse post mortem) – noch würden die literarisch-fiktiven Werke der Dichter dies nahe legen, da auch in ihnen der Glaube präsent sei, dass die Seelen von der Unterwelt aufgenommen würden. Zugleich fragt er, wieso die Unterwelt „unter der Erde“ sein solle, wenn es sich dabei um „keinen körperlichen Ort“ handele, bzw. warum man umgekehrt von „Unterwelt spreche“, wenn sie sich nicht unter der Erde befände. An der Unkörperlichkeit der Seele zweifelt der Kirchenvater nicht – dies erscheint auf der Basis platonischer Philosophie rational erwiesen (animam vero non esse corpoream non me putare, sed plane scire audeo profiteri). Wer hingegen die bereits erörterte Körperähnlichkeit der Seele bestreiten wolle, könne auch verneinen, dass es die Seele sei, welche sich im Traum „gehen oder sitzen“, also körperlich erscheinende Handlungen vollziehen sehe. Diese Annahme erscheint indes absurd: Denn ein Träumender sieht sich ja diese scheinbar körperlichen Handlungen ausüben, ohne dass er sie in der Realität leibhaftig ausführt, weshalb Augustinus seine Theorie, dass es die Seele sei, welche als nicht-körperliche Substanz eine Körperähnlichkeit zeige, als bestätigt erachtet. Folglich befinde sich die Seele nach dem Tod nicht in einer körperlichen, sondern körperähnlichen Wirklichkeit, „entweder in Ruhe oder in Schmerzen“. Auffällig sei jedoch, dass keine Schriftstelle die Ruhe der „gerechten Seelen“ mit der „Unterwelt“ assoziiere (quamquam et illud me nondum invenisse confiteor inferos appellatos, ubi iustorum animae requiescunt). Zwar sei die Seele Christi bis zur Hölle hinabgestiegen,
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um Sünder „von ihren Qualen zu erlösen“ (et Christi quidem animam venisse usque ad ea loca, in quibus peccatores cruciantur, ut eos solveret a tormentis), da ja davon die Rede sei (Apg 2, 24): „‚Den hat Gott auferweckt von den Toten und die Schmerzen der Unterwelt gelöst, weil er von ihnen nicht gehalten werden konnte‘“ (‚quem deus suscitavit a mortuis solutis doloribus inferorum, quia non poterat teneri ab eis‘). Augustinus begreift dies dahingehend, dass Christus die „Schmerzen einiger“ in der Unterwelt durch seine Herrschaftsmacht beendet habe (non video, nisi ut quorundam dolores apud inferos eum solvisse accipiamus ea potestate, qua dominus est). Diese Deutung ist vom lateinischen Wortlaut des gerade zitierten Bibelverses her motiviert, da inferorum im Plural steht und sich sowohl auf die „Unterwelt“ als auch auf die „Unterweltlichen“ hin deuten lässt. Im griechischen Original steht dagegen: lýsas tàs odînas toû thanátou – „indem er die Schmerzen des Todes löste“ (Subjekt ist theòs, „Gott“). Hier ist also vom Tod im Sinne eines Zustands die Rede, und zwar naheliegenderweise von dem, welchen Jesus Christus selbst erlitten hat, so dass es um die Bezwingung der allgemeinen Todesmacht gehen dürfte, die folglich den Erlöser „nicht halten“ konnte. Augustinus versteht das Erlösen von den Schmerzen dagegen mit Blick auf Dritte, die durch Christus von den Todesleiden befreit werden. Dafür hat er systematische Gründe, wenngleich der logische Anschluss an dieser Stelle nicht eindeutig ist: Er verweist auf Abraham, in dessen „Schoß“ der arme Lazarus nach seinem Tod getragen werde (Lk 16, 19–31) – beide sind von jeglichen Unterweltsqualen frei (neque enim Abraham vel ille pauper in sinu eius, hoc est in secreto quietis eius, in doloribus erat). Es könnte sein, dass der Kirchenvater andeuten will, Lazarus’ und Abrahams ewige Ruhe seien bereits eine ‚Fernwirkung‘ der Erlösungstat Christi.933 Auf jeden Fall bestätigt diese Schriftstelle seine Auffassung, dass sich kein Gerechter in der „Hölle“ befinde, denn zwischen „deren Ruhe und jenen höllischen Qualen (inferna tormenta) lesen wir von einem unüberwindlich großen Abgrund.“ Von der „Unterwelt“ werde nicht bezüglich der „Ruhe des Armen, sondern der Strafe des Reichen“ gesprochen (videmus itaque inferorum mentionem non esse factam in requie pauperis, sed in subplicio divitis). Es spricht für Augustins exegetisches Bemühen, dass er innerhalb der „kanonischen Schrift“934 Stellen suche, aber bislang keine habe finden können, wo der Begriff der „Unterwelt“ (inferi) im positiven Sinn belegt sei. Jedenfalls wisse er nicht, ob jemand „Abrahams Schoß“ und „jene Ruhe, zu welcher der fromme Arme von den Engeln getragen wurde“, tatsächlich nicht „im guten Sinne verstehen“ könne; ebenso sehe er nicht, wie man von „dieser“ Ruhe glauben könne, dass sie in der „Unterwelt“ sei.935
Vgl. civ. XX, 16; 442, 7–13, wo Augustinus erwägt, dass die vor Christus verstorbenen „alten Heiligen“, welche „am Glauben an den kommenden Messias festhielten“, sich zumindest an einem anderen Ort, fern der Gottlosen befunden hätten und dann durch Christus befreit wurden. 934 Zum biblischen Kanon in Augustins Zeit s. o. Anm. 195. 935 Gn. litt. XII, 33; 428,1–430,2. 933
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Unter dem Hinweis darauf, dass ihn „die Länge dieses Buchs“ dränge, zum Schluss zu kommen, möchte Augustinus noch das Verhältnis zwischen dem „dritten Himmel“ und dem „Paradies“ genauer zu klären versuchen, denn von beiden spricht Paulus in Bezug auf seine Entrückungserfahrung (2 Kor 12, 2–4).936 Die „nicht leichtfertig“ entscheidbare Frage sei daher, ob „dritter Himmel“ und „Paradies“ identisch seien oder das Paradies der Hierarchie nach noch über den dritten Himmel hinaus angesetzt werden müsse und Paulus zunächst in den „dritten Himmel“ und daraufhin ins Paradies entrückt worden sei. Gemäß seiner ganz am Anfang von De Genesi ad litteram zugrunde gelegten Hermeneutik, dass ein intellekthaft-allegorisches Verständnis der Bibel sowieso immer möglich, aber darüber hinaus auch die Frage nach einer geschichtlichen Tatsächlichkeit zu stellen sei,937 begreift der Kirchenvater das Paradies im „spezifischen“ Sinn als „Ort mit vielen Bäumen“, „übertragen“ aber als „jede gleichsam spirituelle Region“, wo es um die Seele gut bestellt sei, so dass auch die „Freude an einem guten Gewissen“ als „Paradies“ gelten könne (si enim proprie quidem nemorosus locus, translato autem verbo omnis etiam spiritalis quasi regio, ubi animae bene est, merito paradisus dici potest […], verum etiam in ipso homine laetitia quaedam bonae conscientiae paradisus est). In diesem Sinne sei auch die Kirche eine Art Paradies durch die „maßvoll, gerecht und fromm lebenden Heiligen“ sowie „mächtig durch den Überfluss an Gnaden und durch keusche Wonne“ (pollens adfluentia gratiarum castisque deliciis). Im Vergleich zur irdischen Kirche begreift der Kirchenvater im Modus der Überbietung nun den Begriff „Abrahams Schoß“ (Lk 16, 19–31) im Sinne eines jenseitigen Orts des Glücks erst recht als Paradies, denn dort sei – anders als für die durch die Zeit pilgernde Kirche – keine „Versuchung“ mehr zu fürchten, sondern eine unvergleichliche „Ruhe nach allen Schmerzen dieses Lebens“ (quanto magis ergo post hanc vitam etiam sinus ille Abrahae paradisus dici potest, ubi iam nulla temtatio, ubi tanta requies post omnes dolores vitae huius). Auch sei das Licht „dort ein spezifisch-bestimmtes und von seiner [sc. eigenen] Art und in der Tat groß“ (neque enim et lux ibi non est propria quaedam et sui generis, et profecto magna), welches der Reiche „aus der Ferne, von den Qualen und der Dunkelheit der Unterwelt aus gleichwohl so gesehen hat, auf dass er dort jenen einstmals verachteten Armen erkannte.“938 Hermeneutisch ist diese Passage noch einmal von besonderer Relevanz und in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Dies betrifft konkret die Bezugspunkte von „spezifischem Sinn“ und Allegorie, welche der Kirchenvater – entgegen einer verbreiteten Erwartungshaltung – jeweils anders verortet. Denn interessanterweise appliziert Augustinus den übertragenen Sinn hier auf eine irdische Instanz: Die Kirche in ihrer irdischen Gestalt soll eine Art Paradies sein. In diesem Fall ist also der Referenzpunkt der Allegorie nicht etwas im strikten Sinne Intelligibles, Geistiges, sondern eine in der 936 S. o. Kap. 36. 937 S. o. Kap. 2. 938 Gn. litt. XII, 34; 430,3–431,3.
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Welt befindliche Institution. Freilich zeichnet sich die Kirche durch geistige Güter aus, so dass die allegorische Interpretation der Kirche als Paradies gleichwohl von einem intellektiven Gehalt her begründet ist und nicht im Widerspruch zu Augustins Hermeneutik steht. Trotzdem ist der irdische Bezugspunkt keineswegs irrelevant: Denn nur von hier aus vermag der Kirchenvater nun „Abrahams Schoß“ erst recht als Paradies zu verstehen. Der Modus der Überbietung (quanto magis) ‚funktioniert‘ allein auf der Basis, dass die sichtbare Kirche eben zunächst einmal ein ‚innerweltliches Gebilde‘ ist. Zugleich erscheint vom Kontext her klar, dass die Kirche nicht im eigentümlichen, sondern nur im übertragenen Sinn ‚Paradies‘ sein kann. Die Allegorie zielt also in diesem Fall tatsächlich auf etwas Irdisches, welches sich nichtsdestoweniger durch eine besondere geistige Konstitution auszeichnen soll. Anhand dieses exegetischen Befundes wird also in hermeneutischer Hinsicht noch einmal erkennbar, dass Augustinus keine formalistische Auffassung von Allegorie vertritt, sondern dass sich ihr Bezugspunkt nach dem jeweils gemeinten Inhalt richtet und entsprechend unterschiedlich verortet sein kann. Gleichsam in reziproker Analogie dazu lässt sich der Gebrauch des „eigentümlich-spezifischen“ Sinns, des sog. Literalsinns fassen: Zu Beginn der gerade referierten Passage verwendet der Kirchenvater – jedenfalls hypothetisch – ein gewissermaßen ‚herkömmliches‘ Verständnis des proprie: „Wenn nämlich das Paradies im eigentümlichen Sinn ein Ort mit vielen Bäumen ist …“ Dies scheint die vorherrschende hermeneutische Gleichsetzung von eigentümlichem Literal- mit historischem Sinn zu bestätigen.939 Wenige Zeilen später erachtet er jedoch das Licht des Paradieses bzw. von „Abrahams Schoß“ als „spezifisch-eigentümlich“ (propria). Dies steht nicht nur im Einklang mit seiner Exegese des primären Lichts in Gen 1, 3, welches er nicht als sinnlich-wahrnehmbares Licht bzw. als historisch verifizierbares Phänomen interpretiert hatte, sondern im geistigen Sinne als das Licht der Engel bzw. als die Engel selbst.940 Hier bezieht sich also das „Spezifisch-Eigentümliche“ (proprie) auf etwas Geistig-Intelligibles, so dass binnen weniger Zeilen der Bezugspunkt des Eigentümlichen einmal etwas Sinnlich-Wahrnehmbares und ein andernmal etwas Intelligibles sein kann. Dies entspricht in reziproker Weise dem von sich selbst her variablen Deutungsrahmen einer Allegorie, bei welcher gemäß dem Kirchenvater ebenfalls nicht von vornherein klar ist, ob der Referenzpunkt sich auf etwas Geistiges oder doch Irdisches bezieht: Nichts führt also im Sinne von Augustins Hermeneutik daran vorbei, dass der Exeget jeweils den inneren Kontext eines Textes reflektieren muss, um seinem Sinn adäquat und auf bestmögliche Weise auf die Spur zu kommen. Obwohl im Gleichnis von Lazarus und dem reichen Mann bei Lukas nicht explizit von einem Licht die Rede ist, vermag Augustinus seine Exegese doch durch ein inhaltliches Argument abzusichern, dass der Reiche in der Hölle von Ferne den armen Lazarus in „Abrahams Schoß“ er-
939 S. o. Kap. 6, 7, 16, 25 und 26 sowie Kap. 2 mit Anm. 14. 940 S. o. Kap. 4, 6–7, 10 und 17.
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kennt – trotz des großen Abgrunds (chaos bzw. chasma). Da Abrahams Schoß zu Recht als jenseitiges Paradies gelten könne, komme ihm somit eine ebenfalls jenseitige Lichtheit zu, welche mit dem ewigen Licht im intelligiblen Sinn assoziiert werden kann. Wie oben schon festgehalten werden konnte, vermag Augustinus die körperlichen Züge, welche der Unterwelt in bestimmten Darstellungen zugesprochen werden, dadurch ernst zu nehmen, dass er diese auf seelisch-spirituelle Weise auffasst. In diesem Sinne werde von der Unterwelt zu Recht „gesagt bzw. geglaubt“, dass sie „unter der Erde“ sei, weil sie „in Entsprechung dazu im Spiritus-Geist durch jene Ähnlichkeiten zu körperlichen Dingen so erwiesen“ werde (ideo sub terris dicuntur inferi vel creduntur, quia congruenter in spiritu per illas corporalium rerum similitudines sic demonstrantur). Denn, weil die „der Unterwelt würdigen Seelen Verstorbener durch Liebe zum Fleisch gesündigt haben“, werde ihnen „durch jene Ähnlichkeiten mit den Körpern dieses dargeboten, was dem toten Fleisch selbst [sc. bereitet zu werden] pflegt: dass man es unter der Erde verbirgt“ (ut, quoniam defunctorum animae inferis dignae carnis amore peccarunt, hoc eis per illas corporum similitudines exhibeatur, quod ipsi carni mortuae solet, ut sub terra recondatur). Wie schon zuvor, spricht Augustinus auch hier von einer analogen Bezogenheit zwischen Leib und Seele: Die Seele ist zwar kein Leib, zeigt auf der spirituellen Ebene aber bestimmte Ähnlichkeiten mit diesem. Wie das Fleisch der Gestorbenen also in der Erde vergraben wird, so gehe die auf sündhafte Weise dem Leib verfallene Seele ebenfalls in ihrer spirituellen Verfasstheit – also nicht minder real – „unter die Erde“, d. h. ins Verderben. Augustinus führt hier eine Etymologisierung als Erklärung an: Die „Unterwelt“ werde im Lateinischen so genannt, weil sie „unten“ sei (denique inferi eo, quod infra sint, latine appellantur). In Entsprechung zu den Körpern, bei welchen die schwereren niedriger lokalisiert seien, seien „alle besonders Betrübt-Finsteren in spiritueller Hinsicht niederer.“ Dennoch habe „unser Erlöser, gestorben für uns“, auch diesen Teil der Wirklichkeit aufzusuchen „nicht verschmäht“, um diejenigen, welche dort „gemäß der göttlichen, geheimen Gerechtigkeit erlöst werden sollten“, zu erlösen (nec ipsam tamen rerum partem noster salvator mortuus pro nobis visitare contemsit, ut inde solveret, quos esse solvendos secundum divinam secretamque iustitiam ignorare non potuit). In diesem Sinne interpretiert Augustinus auch Lk 23, 40–43:941 Vom Kreuz aus verheißt Jesus einem der beiden Mitgekreuzigten, noch „heute“ zusammen mit ihm „im Paradies zu sein“ – dies in prophetischer Vorwegnahme, so muss man den Kirchenvater wohl interpretieren, seines Hinabsteigens ins Totenreich und der damit einhergehenden Erlösung derjenigen, welche von dort befreit werden sollen. Denn Christus habe dem Räuber am Kreuz „nicht die Unterwelt“ (non utique inferos) als Ort der Strafe für die Sünden gewährt, sondern „entweder jene Ruhe in Abrahams Schoß“ – zumal „Christus nicht irgendwo nicht ist, da er selbst die Weisheit Gottes ist, ‚die aufgrund ihrer Reinheit jeden Ort berührt‘ (Sap 7, 24) – oder jenes
941 Zur Stelle vgl. oben Kap. 25.
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Paradies, sei es im dritten Himmel oder anderswo“, wenn es denn nicht ohnehin „ein bestimmtes Eines ist, das mit verschiedenen Namen benannt ist, wo die Seelen der Seligen sind“ (si tamen non aliquid unum est diversis nominibus appellatum, ubi sunt animae beatorum). Nach dem ersten, sinnlich-wahrnehmbaren Himmel und dem zweiten auf spirituell-körperähnlicher Ebene begreift Augustinus den dritten Himmel als denjenigen, der „vom Intellekt/Verstandesgeist erschaut wird, wenn er so verborgen, entfernt und gänzlich von den Sinnen des Fleisches entrückt sowie gereinigt ist (tertium vero quod mente conspicitur ita secreta et remota et omnino abrepta a sensibus carnis atque mundata), dass er das, was in jenem Himmel ist, sogar selbst Gottes Substanz und den Gott-Logos, ‚durch welchen alles geschaffen ist‘ (Jh 1, 3), durch die Liebe des Heiligen Geistes auf unaussprechliche Weise zu schauen und zu hören vermag. Nicht unangemessenerweise halten wir dafür, dass dorthin auch der Apostel entrückt worden und dort vielleicht das Paradies ist, welches besser als alle ist und – wenn es angemessen ist, so zu sprechen – das Paradies der Paradiese“ (non incongruenter arbitramur et illuc esse apostolum raptum et ibi fortassis esse paradisum omnibus meliorem et, si dici oportet, paradisum paradisorum). Denn wo sonst sei die Freude vollkommener, welche in Gottes Logos gründe, ‚durch den alles geschaffen ist‘?942 Diese inhaltsschwere Passage hat ihr Zentrum in dem personal verstandenen Wort, Gottes Logos, wie besonders der letzte Satz deutlich macht. Die vollkommene Freude ist in dem Vollkommenen vollkommen: in dem Schöpfungswort, welches Gott selbst ist. Dieser Logos ist zugleich die zweite der drei trinitarischen Personen: Christus, der, Mensch geworden, gekreuzigt, gestorben und auferstanden, alle Stufen der Wirklichkeit, sogar die Unterwelt durchmessen hat. Die Unterwelt ist im seelisch-spirituellen Sinne „unterirdisch“, weil die Seelen, welche in ihr gebunden sind, ebenso dem Verderben ausgesetzt sind wie per analogiam die begrabenen Leiber der Verwesung. Aber sogar bis zur Hölle, so Augustinus, als Ort der seelischen Finsternis und Depression, sei der Erlöser herabgestiegen, um jedenfalls einige daraus zu befreien, wie z. B. den einsichtigen Räuber, der zusammen mit ihm gekreuzigt wurde.943 Da Christus die Weisheit Gottes ist, dringt sie in alle Wirklichkeitsbereiche vor und wirkt erlösend. Die ewige Ruhe in Abrahams Schoß, Paulus’ Entrücktsein in den dritten Himmel, wo „er unaussprechliche Worte hört“ (2 Kor 12, 4) – diese so beschriebenen Zustände sind zentriert in Gottes Logos selbst, nichts anderes als dieses Wort vernimmt der Apostel. Die seligen Seelen sind selig durch das Hören und Schauen des Logos, der Weisheit Gottes: In seiner Präsenz wird die Seele gemäß ihrer intellekthaften Potenz in Gott selbst hineingezogen und erkennt sein Wesen, den Logos und die Liebe des Heiligen Geistes. Dies alles kann nur unvollkommen angedeutet, auf keinen Fall lapidar ‚ausge942 Gn. litt. XII, 34; 431,4–432,14. 943 Augustinus vertritt keine Allversöhnung im Sinne einer gleichmacherischen Generalabsolution: Nach seiner Auffassung werden nur wenige Menschen erlöst – ein Punkt, der freilich immer wieder Kritik erfahren hat (vgl. Drews 2009: 237, mit Anm. 548).
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sprochen‘ werden, denn es handelt sich um das intellektive Entrücktsein ins „Paradies der Paradiese“. Somit kann der Kirchenvater dem knappen Bericht des Paulus über dessen Vision einen theologisch höchst prägnanten, philosophisch-erkenntnistheoretisch begründeten und die für diese Zusammenhänge sensiblen Leser ergreifenden Sinn abringen: Der dritte Himmel ist derjenige des Intellekts und, wenn dieser ganz durchdrungen ist von der Schau des göttlichen Logos, zugleich das höchste Paradies, welches das körperliche Paradies Adams insofern überragt. Gerade das Hören unaussprechlicher Worte verweist auf diesen Logos. Es gibt, so Augustinus, keine größere Freude, als die, welche in Gottes Logos gegründet ist. Dass Paulus nicht mehr wusste, ob er im dritten Himmel oder im Paradies war, spricht genau dafür, dass er in beidem zugleich war und dass kein höheres Paradies als jenes möglich ist: Das „Paradies der Paradiese“ ist – ähnlich wie der „Himmel der Himmel“ in den Confessiones944 – das anscheinend unhintergehbare, unübertreffbar Höchste überhaupt, das sich nur in überbietenden Maximalprädikaten andeuten lässt. Eine systematisch-theologische Frage, welche sich förmlich aufdrängt, ist die, ob denn eigentlich angesichts der Möglichkeit einer derartig ekstatischen Gottesschau überhaupt noch die leibliche Auferstehung von den Toten in irgendeiner Weise relevant bzw. notwendig sei (quid opus sit spiritibus defunctorum corpora sua in resurrectione recipere). Augustinus vermag diesen Einwand sachlich dadurch zu entkräften, dass die Schau Gottes durch den menschlichen Intellekt, auch wenn der Mensch den „Sinnen des Fleisches“ entrückt sei bzw. „nach dem Tod das Fleisch abgelegt“ habe, gleichwohl immer noch hinter derjenigen Schau der Engel zurückbleibe – entweder „aus einem anderen verborgenen Grund“ oder deshalb, weil die menschliche Seele bzw. ihr Verstandesgeist „von Natur aus“ auf den irdischen Leib und dessen Umsorgung ausgerichtet sei (sive alia latentiore causa sive ideo, quia inest ei naturalis quidam adpetitus corpus administrandi). Man könnte im Sinne Augustins und zugleich über ihn hinausgehend vielleicht ergänzen: Auch Paulus vermag ja nicht in seiner Vision zu verharren, sondern kehrt nach seiner Entrückung wieder in sein irdisches Dasein zurück. Von hier aus zeigt sich noch einmal, dass es nicht möglich sei, zugleich (im Irdischen) zu leben und Gott zu schauen (Ex 33, 20).945 Der Umstand der Leibbezogenheit inhäriert also der menschlichen Seele so stark, dass sie nur dadurch zur umfassenden Schau der Engel emporgehoben werden kann, wenn sich ihre Leiblichkeit in entscheidender Weise ändert: Genau dies aber geschehe in der Auferstehung, wenn „der den Engeln gleichgemachte Intellekt diesen nicht mehr seelisch-irdischen, sondern durch die zukünftige Verwandlung geistigen Leib empfangen haben wird“,946 denn dann werde er [sc. der
944 conf. XII, 13, 16: Auch die dortigen Beschreibungen des caelum caeli (vgl. 1 Kö 8, 27; Neh 9, 6) sind denen des paradisus paradisorum inhaltlich verwandt. Zum Verhältnis des caelum caeli und des zuerst erschaffenen Lichts der Engel vgl. Alexanderson (2006: 7). 945 S. o. Kap. 40. 946 S. o. Kap. 22 mit Anm. 541.
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Intellekt] „das vollkommene Maß seiner Natur besitzen, gehorchend und gebietend, verlebendigt und verlebendigend mit so unaussprechlicher Leichtigkeit, dass ihm zum Ruhm gereicht, was vorher zur Last war“ (proinde, cum hoc corpus iam non animale, sed per futuram commutationem spiritale receperit [sc. mens] angelis adaequata, perfectum habebit naturae suae modum oboediens et inperans, vivificata et vivificans tam ineffabili facilitate, ut sit ei gloriae, quod sarcinae fuit).947 Die Auferstehung des Leibes im Sinne der Umwandlung des irdischen in ein geistiges Fleisch ist gemäß Augustinus also deshalb voraussetzungsnotwendig für die ultimative Seligkeit, weil Geist, Seele und Leib eine Einheit bilden – von hier aus wird die ganzheitliche Anthropologie des Kirchenvaters ersichtlich. Die Seele kann nicht einfach dualistisch von ihrem Leib getrennt werden, sondern der Leib gehört zu ihr, obgleich er von ihr ontologisch verschieden ist. Wenn also die Seele die engelhafte Schau erreichen soll, so kann sie dies Augustinus zufolge nicht durch Abgrenzung bzw. Abstoßung des Leibes, sondern ultimativ nur mit ihm, wenn der Leib die Seele nicht mehr belastet, sondern so umgewandelt ist, dass er der höchsten intellektiven Potenz des wieder zu sich selbst befreiten Menschen im Sinne der wiederhergestellten geistigen Abbildhaftigkeit zu Gott entspricht. Für die Auferstehungswelt, also in der Wirklichkeit einer geistigen Leiblichkeit, veranschlagt der Kirchenvater – dies mag zunächst erstaunen – dieselben drei Arten des Sehens (sinnliches Wahrnehmen – spirituelle Vorstellungen – intellektive Verstandeseinsicht), jedoch werde dann nicht mehr das eine mit dem anderen, also Wahrnehmungs- mit Vorstellungsinhalt verwechselt (nimirum enim erunt et tunc ista tria genera visionum). Denn ein spezifisches Charakteristikum der Auferstehungswelt sei es, dass man das Intellektive „so gegenwärtig und durchsichtig“ werde „genießen“ können, dass die geringere „Evidenz“ des Körperlichen offensichtlich sei. Dies aber habe zur Folge, dass der im irdischen Leben häufig anzutreffende Irrtum, die körperliche Realität als Wirklichkeit schlechthin zu verabsolutieren, dann überwunden sei: Augustinus spricht explizit davon, dass alles, was im hiesigen Leben nicht „mit körperlichen Sinnen“ wahrnehmbar sei, von vielen als gar nicht existent angenommen werde (et eis [sc. sensibus] multi ita sunt dediti, ut solas esse arbitrentur et, quidquid tale non est, putent omnino non esse). Die Weisen in diesem Leben jedoch taxierten die (vermeintlich) „gegenwärtigere“ Präsenz des Körperlichen dennoch geringer als das geistig-begreifende Durchschauen des Intellekts. Dagegen würden die „heiligen Engel die körperlichen Dinge beurteilen und lenken“, ohne ihnen zu verfallen, und deren „bedeutungsvolle Ähnlichkeiten spirituell so unterscheiden und mit einer derartig großen Macht auf bestimmte Weise betreiben, dass sie diese im Zuge einer Offenbarung sogar dem Spiritus-Geist der Menschen einmischen“ könnten. Trotzdem erschauten die Engel „die unveränderliche Substanz des Schöpfers so, dass sie im Sehen und in der Liebe diese
947 Gn. litt. XII, 35; 432,15–433,11.
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sowohl allem voranstellen als auch ihr gemäß über alles urteilen wie auch sich nach ihr ausrichten als auch aus ihr heraus lenken, was immer sie tun“ (et illam incommutabilem substantiam creatoris ita conspiciunt, ut visione atque amore et eam praeponunt […] et ex ea dirigant quidquid agant). Paulus aber habe, als er „von den Sinnen des Fleisches weg in den dritten Himmel und ins Paradies entrückt“ (2 Kor 12, 2–4) war, im Vergleich zu den Engeln dies „zur vollen und vollkommenen Erkenntnis gefehlt“, dass er „nicht wusste, ob er im Leib oder außerhalb“ von ihm gewesen sei (hoc ipsum certe defuit ad plenam perfectamque cognitionem rerum, quae angelis inest, quod, sive in corpore sive extra corpus esset, nesciebat). Genau dies werde, so Augustinus, nicht mehr fehlen, wenn gemäß dem Apostel (1 Kor 15, 53948) in der Auferstehung „das Vergängliche mit der Unvergänglichkeit“ und „das Sterbliche mit der Unsterblichkeit umkleidet wird.“ Dann nämlich werde „alles ohne jeglichen Irrtum, ohne jegliche Unwissenheit offenbar sein, wie es in seinen Ordnungen zugeteilt ist, das Körperliche, Spirituelle und Intellektive, in seinem unversehrten Wesen und in vollkommener Glückseligkeit“ (omnia enim evidentia erunt sine ulla falsitate, sine ulla ignorantia suis ordinibus distributa, et corporalia et spiritalia et intellectualia, in natura integra et beatitate perfecta).949 Auf den ersten Blick wirkt es überraschend, dass der Kirchenvater die drei von ihm unterschiedenen Arten des Sehens – sinnliches, spirituelles, intellektives – auch für die Auferstehungswelt voraussetzt. Wie schon zuvor, zeigt sich gleichwohl auch hier, wie ganzheitlich Augustins Weltsicht ist: Das Körperliche wird nicht als eine Art ‚Geschwür‘ einfach abgestoßen bzw. ‚ausradiert‘, sondern verwandelt. Denn in jener Wirklichkeit, ohne dass er dies hier explizit ausspricht, werden die Bedingungen der gefallenen Welt überwunden sein, und deshalb kommt es auch nicht mehr zu den Irrtümern, welche auf Verwechslung der verschiedenen Erkenntnis- und Seinsebenen beruhen: Die sinnenfällige Realität wird nicht mehr als Wirklichkeit schlechthin interpretiert und entsprechend missverstanden, sondern alles ist ganz von der intellektiven Einsicht in die vollkommene Schöpfungsordnung durchdrungen. Wenngleich die tatsächlich Weisen bereits in dieser Welt um den Vorrang und die höhere Einsicht des Intellekts wissen, ist ihnen doch die unumstößliche Evidenz nicht in derselben Weise gegeben wie den heiligen Engeln. Augustinus nimmt hier also noch einmal eine Stufung vor: zuunterst die gefallene Welt, welche die sinnliche Realität absolut setzt; darüber die Weisen, welche auch schon in dieser Welt nicht diesem Irrtum unterliegen; ihnen übergeordnet wiederum die Engel, welchen die volle intellektive Einsicht in Gottes Wesen gegeben ist und welche sich von dorther in ihrem Wirken bestimmen lassen, indem sie nicht zuletzt offenbarend tätig werden und auf den Spiritus-Geist des Menschen mittels bestimmter Vorstellungsbilder Einfluss nehmen. Auf der Basis dieser Hierarchie vermag der Kirchenvater dann zum Abschluss auch noch eine wesent948 Zur Stelle vgl. Drews (2018: 209), zum „Anziehen“ der himmlischen Behausung (2 Kor 5, 2–4) s. ibd., 191–2. 949 Gn. litt. XII, 36; 433,12–434,16.
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liche Einordnung von Paulus’ Vision (2 Kor 12, 1–4) vorzunehmen: Die Unwissenheit des Apostels darüber, ob er im Leibe oder außerhalb von ihm gewesen sei, erscheint nun für den theologischen Zusammenhang positiv interpretierbar. Denn dadurch wird verständlich, dass – unbeschadet der ekstatischen Wirklichkeit der Vision – Paulus noch nicht die volle ‚Wucht‘ der durchschlagenden Intellekterkenntnis erreicht hatte, wie sie den Engeln eignet. Augustinus nimmt Paulus’ Darstellung somit sowohl ernst, als auch ordnet er sie realistisch und erkenntnistheoretisch reflektiert ein: Nach seinem Visionserlebnis kehrt der Apostel schließlich in die alte irdische Welt zurück; d. h. er ist noch nicht dauerhaft in einen anderen Zustand entrückt, sondern besitzt noch (oder: wenigstens danach wieder) das Band zu dieser Welt. Der Gebundenheit an sie ist geschuldet, dass Paulus letztlich gar nicht wissen kann, ob er außerhalb von oder in seinem Körper war. Zugleich ist damit eine rational begründete Differenz fassbar, weshalb dem Apostel – trotz seiner Entrückung sogar bis in den dritten Himmel und ins Paradies – noch nicht im gleichartig-vollkommenen Sinn die Schau der Engel zuteil geworden ist. Dies also steht noch aus, wenn „das Sterbliche die Unsterblichkeit anziehen wird“, also die Umwandlung der vergänglichen Realität hin ins Unvergängliche der neuen, von Gottes Geist durchdrungenen Welt vollzogen sein wird. Leib, Spirituell-Seelisches und Intellektives bleiben auch dann noch unterschieden, aber die Konfusion infolge des Sündenfalls – das Wesen des Teufels ist ja vom Griechischen her bekannter- und zugleich bezeichnenderweise ein ‚Durcheinanderbringen‘ (diabolos) – wird nicht mehr sein: Auferstehung, so darf man den Kirchenvater wohl interpretieren, ist neben dem Wunder an sich gerade auch die Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfungsordnung, wobei durch die Erlösungstat Christi nicht nur der vormalige Sündenfall, welcher nicht nötig gewesen wäre,950 überwunden, sondern zugleich ein erneutes Fallen ausgeschlossen ist. Darin besteht die „vollkommene Glückseligkeit“. Im allerletzten Kapitel von De Genesi ad litteram erinnert Augustinus daran, dass bestimmte Exegeten die Begriffe „körperlich – seelisch – geistig“ (corporalis – animalis – spiritalis) auf andere Weise gefasst hätten, und verweist auf seine früher bereits vorgenommenen Begrifflichkeiten;951 dabei handele es sich vielleicht nur um verschiedene Bezeichnungsweisen für dasselbe, so dass dem von jenen gebrauchten Begriff des „Seelischen“ der des „Spirituellen“ in seiner Exegese entspreche und analog dem des „Spirituellen“ der des „Intellektiven“. Wie an anderer Stelle seines Œuvres beweist der Kirchenvater auch hier, dass er nicht terminologisch ein einzelnes Wort überfrachtet, sondern von der Sache her denkt: Wenn diese stimmt bzw. stimmig ermittelt und erfasst ist, dann braucht man sich über bloße Worte nicht mehr zu streiten.952 Gerade zum Abschluss von De Genesi ad litteram erweist dieser Aspekt seine besondere Präg950 S. o. Kap. 13, 21, 27, 33. 951 S. o. Kap. 39. 952 Vgl.: dicant quod volunt (civ. IX, 23; 398, 7–8). Vgl. Drews (2018: 255, mit Anm. 804).
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nanz: Eine engstirnig-literale, am bloßen Wortlaut ‚klebende‘ Exegese ist nicht im Sinne Augustins; vielmehr muss der Buchstabe seinem jeweiligen Sachgehalt gemäß ausgelegt werden. Ein so verstandener eigentümlich-spezifischer Literalsinn ist einerseits abzugrenzen gegenüber einem allegorischen oder prophetischen Sinn und insofern häufig mit Blick auf die Frage nach dem tatsächlichen Geschehensein des Erzählten zu ermitteln; andererseits ist ein solcher Literalsinn gleichwohl niemals undifferenziert oder gar in vermeintlicher Selbstverständlichkeit identisch mit einem ‚historischen Sinn‘,953 sondern kann, wenn es der Kontext erfordert, auch in einem geistig-intelligiblen Bezugsrahmen literal sein.954 Augustins hermeneutische Methode ist daher keine, die man einfach formalistisch ‚anwenden‘ kann (etwa wie ein Computerprogramm), sondern erfordert die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers – speziell des Bibel-Lesers – und sein sachorientiertes Mitdenken. Wenn aber dies gelingt, werde „entweder der geistig-spirituelle Leser“ (spiritalis lector) Augustins Versuche „gutheißen oder auch, auf dass er ein geistig-spiritueller sei, mit Unterstützung des Heiligen Geistes in irgendeiner Weise von dieser Lektüre aus Fortschritte machen. Aber nun beschließen wir dieses Werk insgesamt, welches zwölf Bücher umfasst, endlich mit diesem Ziel955“ (sed iam universum hoc opus, quod duodecim voluminibus continetur, isto tandem fine concludimus).956
953 S. o. Anm. 14. 954 S. o. Kap. 4, 6, 7, 16, 25, 26, 28, 30, 34, 35. 955 Auch wenn finis auf den ersten Blick hier „Ende“ bzw. „der erreichte Zielpunkt“ bedeutet, scheint „Ziel“ vielleicht die Doppeldeutigkeit, welche Augustinus im letzten Satz selbst andeutet, besser wiederzugeben: Nicht nur der Zielpunkt von Gn. litt. ist hier erreicht, sondern das Werk wird beschlossen in der Hoffnung, dass der geneigte Leser ein „geistig-spiritueller“ sein bzw. werden möge – von der Sache her erscheint dies als das eigentliche Ziel dieser zwölf Bücher, welches also über deren bloße Lektüre noch ‚hinauszielt‘. 956 Gn. litt. XII, 37; 434,17–435,9.
42. Zusammenschau der Interpretationsergebnisse und Ausblick
a) Augustins philosophisch-kritische Hermeneutik: Herausforderung für und Anschlussfähigkeit an (post-)modernes Denken. Innere Kohärenz, Textdeutung vs. Textgenese, ein philosophisch begründetes Geschichtsverständnis und die besondere Funktion der Narration Aus moderner Sicht widersetzt sich Augustins Hermeneutik einer herkömmlichen Kategorisierung zwischen Literalität und geistiger Exegese.957 Wie immer wieder deutlich gemacht werden konnte, ist dies jedoch kein methodischer Mangel, auch wenn dies in der Forschung zum Teil so gewertet wird.958 Vielmehr fordert der Kirchenvater die heutigen Leser von De Genesi ad litteram dazu heraus, die oft formalen ‚Schubladen‘ moderner Hermeneutik und Theologie kritisch zu hinterfragen und in dem Sinne neue Wege zu beschreiten, insofern Augustins vermeintlich ‚alte‘ Hermeneutik – da sie inzwischen in Vergessenheit zu geraten scheint – als ungewohnter, alternativer Denkanstoß wieder neu ins Blickfeld genommen zu werden verdient: Denn sie zeigt bestimmte Perspektiven auf und fördert Resultate zutage, welche durch ihre innere Stimmig- und Sachhaltigkeit bestechen und eine sinnvolle Interpretation biblischer Texte ermöglichen. Dabei geht es um keine plakative Verkürzung, als ob Augustinus einfach überhöht werden sollte oder gar für ‚alle Fragen eine geeignete Antwort‘ hätte (dies verneint er sogar selbst immer wieder expressis verbis): Natürlich gibt es, wie der Kirchenvater selbst schreibt, verschiedene Auslegungsweisen der Bibel und entsprechend methodisch verschiedene Zugänge. Es geht also darum, Augustinus zu verstehen, sich in ihn hineinzudenken – aber eben nicht nur um der Deskription eines historischen Phänomens willen, sondern vor dem Hintergrund allgemeiner, letztlich
957 S. Pollmann (2008: 100) dazu dass Augustinus „(wie so oft) gängige Kriterien exegetischer Methoden und Genres sprengt.“ 958 S. o. Anm. 28 und 420 zur Auseinandersetzung mit Greene-McCreight (1999).
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42. Zusammenschau der Interpretationsergebnisse und Ausblick
zeitloser Fragestellungen. Insofern steht die innere Schlüssigkeit seiner Exegese im Fokus, aber keineswegs deren Verabsolutierung. In dieser Hinsicht exemplarisch sind zunächst zwei Dinge zu nennen: zum einen die sich für jeden Exegeten der Genesis (sogar unabhängig von einem bestimmten religiösen, jüdischen oder christlichen Kontext) darbietende Frage, wie das unmittelbare Nebeneinander der beiden Schöpfungsberichte zu bewerten ist (kurz: das Verhältnis von Gen 1 und 2 zueinander); zum andern das nicht minder schwierige Problem, wieso laut Gen 1, 3 ein Licht erschaffen wird, welches unbestreitbar verschieden sein soll von der Erschaffung sämtlicher Gestirne (Gen 1, 14 f.). Die moderne Exegese argumentiert vor allem historisch, also die Entstehungsbedingungen der Texte fokussierend.959 Deren mehr oder weniger sichere Klärung beantwortet jedoch nicht, wie sich die beiden ersten Kapitel der Genesis – weil sie nun einmal aufeinander folgen und sich die Frage eines sie übergreifenden Konnexes stellt – sinnvoll zusammenschauen lassen. Auch wenn Redakteure beide Berichte in ein Buch integriert haben, sollte man annehmen, dass diese Zusammenstellung irgendeinen Sinn ergeben können muss, denn sonst wäre es nur eine rhapsodisch anmutende Sammlung ganz verschiedener Texte. Und selbst wenn man Letzteres zu konzedieren bereit wäre, würde damit kaum dem Anspruch eines heiligen Textes Genüge getan, welcher als solcher zugleich in irgendeiner Weise einen stimmigen Gesamtsinn beinhalten sollte, andernfalls genau diesen Anspruch einbüßen würde. Hier liegt freilich die Gefahr einer petitio principii: Das Postulat, es handle sich um einen heiligen Text, vermag nicht zu begründen, dass Gen 1 und 2 zusammen einen kohärenten Sinn ergeben müssen, nur damit sie als ein heiliger Text betrachtet werden können. Und doch ist damit die Frage nach einem stimmigen Gesamtsinn bei Weitem nicht ad acta zu legen oder einfach als obsolet zu erklären: Gerade aus philologisch-literaturwissenschaftlicher Perspektive ist daran festzuhalten, dass ein literarisch ernst zu nehmender Text respektive ein derartiges Buch ein bestimmtes Maß an innerer Kohärenz beansprucht, um als ein solcher Bestand zu haben. Wie der Komparatist Andreas Kablitz (2013) gezeigt hat, kann dieses Maß an innerer Kohärenz vom jeweiligen Text mehr oder weniger stark eingelöst sein – es wird hier also kein ‚neuer Dogmatismus‘ eingeführt; gleichwohl würden sogar (post-)moderne Texte, welche sich in gewisser Weise einem solchen Kohärenzkriterium widersetzen wollen, dieses ihrerseits insofern noch implizieren, als auch die nur geringfügige Kohärenz eines ‚offenen‘ Textes eine solche Offenheit dann als neues inneres Kohärenzmerkmal aufweist. Mit anderen Worten: Auch eine reduzierte oder sogar radikal negierte Kohärenz soll noch in ihrer Schwundstufen-Qualität als bedeutungsstiftendes Charakteristikum eines Textes erkannt werden können, auch wenn sich kein eindeutig fixierbarer ‚Sinn‘ mehr ermitteln lässt, sondern gewissermaßen nur noch dessen Mangel. Dieser Mangel will seinerseits
959 S. o. Anm. 16.
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jedoch als neues strukturelles Merkmal eines Textes – und insofern auch wieder quasi-kohärent, eben als Mangel – dadurch erkannt sein, dass ein solcher Text eben genau diese schwachen Kohärenzmerkmale zeigt bzw. eine vom Leser „erwartete“ Kohärenz gezielt „enttäuscht“.960 Das Kohärenz-Kriterium bleibt also bestehen, obgleich es einen Komparativ zulässt und gesteigert oder vermindert in einem Text verwirklicht werden kann. Nun ist weder ein biblischer Text noch ein Werk Augustins ein postmodernes Produkt. Kablitz’ literaturtheoretischer Ansatz – der sich keiner abstrakten Theorie verdankt, sondern explizit an konkreten literarischen Werken gemessen sein will961 – stellt jedoch aus guten Gründen die prinzipielle Frage, was einen Text zu einem Text macht, und setzt dafür, methodisch überzeugend, das Kriterium der inneren Kohärenz an. Allein dieses Kriterium genügt, um auch bei einem möglicherweise redaktionell überformten, mehrere Einzeltexte zu einem Ganzen zusammenschließenden Buch wie der Genesis sinnvollerweise die Frage nach einem Gesamtzusammenhang zu stellen: Es sollte einen Grund geben, warum Gen 1 und 2 aufeinanderfolgen, und zwar in dieser und z. B. nicht in umgekehrter Reihenfolge (was formal ja ohne Weiteres möglich wäre, wenn es sich um zwei völlig verschiedene Texte handeln soll). Die Frage ist, ob sich ein solcher Grund anhand des Kohärenzkriteriums bestimmen lässt. Ein derartiges Kriterium veranschlagt der Kirchenvater der Sache nach in De Genesi ad litteram. Augustinus startet nicht mit dem Postulat einer göttlichen Inspiriertheit der Schrift – nach dem Motto: ‚Die Bibel ist Gottes Wort und deshalb ist ihr buchstäblicher Sinn wahr.‘ Ein solches Prozedere würde jegliches exegetische Bemühen bereits im Keim ersticken. De Genesi ad litteram zeigt das Umgekehrte: Augustinus nähert sich immer wieder, mit einer nicht enden wollenden Mühe fragend dem Text der 960 Die innere, „implizite Kohärenz“ erhebt Kablitz (2013: 149–218) zum „Merkmal“ eines literarischen Textes in Abgrenzung zu Texten mit historischem Tatsächlichkeitsanspruch: Gegenüber diesem sei ein literarischer Text schlicht indifferent, da er seine Einheit bzw. sein Spezifikum allein aus der impliziten Kohärenz beziehe. Dies gelte auch noch für solche modernen Texte, in welchen ein Ausbleiben an innerer Kohärenz nicht zu bestreiten ist: „Denn eben dieses Prinzip [sc. der gesteigerten Kohärenzerwartung] macht dessen Enttäuschung um so signifikanter und stellt dadurch die Bedeutungshaftigkeit dieser Negationserfahrung her“ (ibd., 203; ebenso 209, 257; Kursive Kablitz). Was Kablitz indes auszuklammern scheint, ist die Frage, ob es zwischen historischem Wahrheitsanspruch einerseits und einer diesem gegenüber sich indifferent verhaltenden impliziten Kohärenz literarischer Texte andererseits ein Tertium geben könnte: Ein platonisch in der Seinsfülle des Intelligiblen verorteter Wahrheitsanspruch wäre ein solches Tertium, welches weder historischer Tatsächlichkeit noch bloßer Fiktion ‚zugeschlagen‘ werden könnte. ‚Wahrheit‘ erblickt Kablitz – modernen Kategorien folgend – indes ausschließlich im Kriterium des Historischen. Das Kriterium innerer Kohärenz eignet indes nicht nur fiktionaler Literatur, sondern ließe sich – in eminenter Weise – auf das platonisch verstandene Intelligible anwenden, weil dort die sachliche Einheit nicht nur für das Wesen und den Wahrheitswert einer bestimmten intelligiblen Idee konstitutiv ist, sondern die Ideen auch untereinander in koinônia, „Gemeinschaft“, stehen (vgl. Drews 2018: 83, 154). Dieser platonische Bezugsrahmen ist condicio sine qua non für Augustins kritische Bibelexegese (s. o. Kap. 2). 961 Kablitz (2013: 12).
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Genesis.962 Genau diese Fragen, welche sachlich auf ihre Implikationen hin abgeklopft, widerlegt oder modifiziert, schließlich vorläufigen Antwortmöglichkeiten zugeführt werden – immer wieder versehen mit dem Hinweis, jemand anders könnte durchaus tiefer blicken und bessere Interpretationsresultate zutage bringen –, diese Fragen also belegen eindeutigerweise, dass der Kirchenvater bei seiner Lektüre biblische Texte auf ihre inhaltliche Stimmigkeit prüft und diese konkret zu ermitteln sucht. Diese Prüfung orientiert sich implizit an dem Kohärenzkriterium, welches Kablitz aus guten Gründen für die Interpretation literarischer Texte veranschlagt. Insofern ist als ein erstes wichtiges Resultat festzuhalten, dass Augustins Methode an aktuelle philologisch-literaturwissenschaftliche Ansätze anschlussfähig erscheint. Damit ist zugleich impliziert, dass man einen spätantiken Exegeten und Denker in gleicher Weise ernst nehmen sollte wie zeitgenössische Wissenschaftler und Kollegen auch.963 Mit Blick auf die angesprochene Frage der Inspiriertheit der Heiligen Schrift bleibt zudem zu konstatieren, dass der Kirchenvater diese zwar bekräftigt; sie wird aber nicht im Sinne einer petitio principii vorausgesetzt, sondern kann in der Sache erst nach der rationalen, philosophisch abgesicherten Prüfung biblischer Texte und ihres inhaltlichen Gehalts erwiesen werden.964 Immer wieder verweist Augustinus auf das Kriterium philosophischer, erkenntnistheoretisch-reflexiv aufgeschlossener Rationalität, welches auf keinen Fall zu opfern ist965 – nur deshalb unterzieht er sich selbst der Mühe, unermüdlich Rückfragen an biblische Texte zu stellen.966 Dabei fordern philosophische Theologie und Textexegese einander gegenseitig heraus, auch um aneinander gemessen werden zu können: Rationale Reflexion ist der Prüfstein für die exegetische Arbeit; der Textbefund stellt das systematische Denken vor bisweilen scheinbar unüberwindliche Klippen; wann immer eine rationale Lösung und Erklärung des Textes 962 S. o. Kap. 3. Eine solche Vorordnung der Inspiriertheit, welche freilich leicht attackierbar ist, scheint Greene-McCreight (1999: 35, 49 ff., 80) für Augustinus jedoch zu postulieren. – Auch wenn sich von Augustins wissenschaftlicher Exegese her betrachtet die Frage nach der Inspiriertheit erst am Ende sinnvoll stellen lässt, schließt dies auf der Ebene des einfachen, meinungshaften Glaubens eine solche Annahme nicht aus: Ein Laie muss nicht begründen können, ob und warum etwas als inspiriert gelten kann, sondern hat gewissermaßen das Recht, auf schlichte Weise ‚einfach zu glauben‘. Ein solcher Glaube geht einer philosophisch abgesicherten Erkenntnis voraus (s. Teske 2009: 120; Pollmann 2007: 207). 963 Dies hatte bereits Carl Friedrich von Weizsäcker gefordert (s. o. Anm. 27). 964 Dies ähnelt dem Befund, dass Augustinus z. B. in lib. arb. eine schwierige Untersuchung zwar mit einem Gebet beginnen kann, obwohl zu Beginn der darauf folgenden Diskussion das Sein Gottes infrage gestellt wird: Das Gebet verdankt sich der Perspektive des Glaubens, der nichtsdestoweniger einer radikalen rationalen Prüfung ausgesetzt wird. Wenn am Ende einer solchen Diskussion aufgrund schlüssiger Argumentation das Sein Gottes als philosophisch erwiesen gelten kann, dann erscheint im Nachhinein zwar auch das frühere Gebet als berechtigt; dies ändert aber nichts daran, dass dessen Berechtigung im Vornherein alles andere als gesichert war, sondern zur Disposition stand. S. Drews (2009: 31–36). 965 Vgl. oben Kap. 6, 7, 20, 37–41. 966 „[…] Augustin infatigablement cherche à tout expliquer. Aucune difficulté ne le fait reculer“ (Alexanderson 2006: 8).
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möglich erscheint, wird diese verteidigt, so dass der Anspruch der Vernunft mit dem Gewicht der biblischen Autorität zusammengedacht wird, gegebenenfalls konkurriert und sogar die Oberhand behält. Genau genommen handelt es sich letztlich dann nicht mehr um eine wirkliche Konkurrenz: Würde die Heilige Schrift mit Irrationalem in Verbindung gebracht, untergrabe dies sogar ihre Autorität, wie der Kirchenvater ausführt.967 Diese Methode erweist Augustins Exegese als kritisch – nicht im Sinne lediglich ‚historischer Kritik‘, sondern im Sinne philosophisch-rational begründeter Kritik. Dabei kommt es bisweilen sogar dazu, dass im Zusammenspiel literaler Exegese, welche den biblischen Text als solchen ernst nimmt, und philosophisch-inhaltlich motivierter Kritik ein neues, tiefer gehendes Verstehen des Textes aufscheint und gleichsam eine ‚geistige Quelle zu sprudeln‘ beginnt, aus der heraus ein komplexiver geistiger Zusammenhang greifbar wird und zuvor scheinbar vernachlässigbare textliche Details an Bedeutung gewinnen: Ereignet sich etwas Derartiges, dann bleibt Inspiration nicht nur ein vermeintlich voraufgeklärtes Postulat, sondern wird in der Exegese erfahrbar.968 Dabei wird deutlich: Die Frage, ob ein Text ein geistiges, in sich stimmiges, viele Aspekte und Details in sich gleichsam lebendig umgreifendes Panorama eröffnet und deshalb als inspiriert gelten kann, lässt sich konkret erst am Ende wirklich entscheiden, wenn alle Wege der Exegese und der philosophisch-theologischen Reflexion, soweit es menschenmöglich ist, abgeschritten sind. Die biblische Autorität wird dann nicht nur ‚herbeipostuliert‘, sondern muss sich im rationalen Durchdenken erweisen lassen. Nur bei nachrangigen Problemen und für ihn nicht klärbaren Fragen verweist Augustinus im Einzelfall auf die biblische Autorität als solche, welche gleichwohl viele Deutun-
967 S. o. Kap. 8. Vgl. Harrison (2017: 211); bisweilen wird Augustinus sogar als ‚Paradebeispiel‘ für den Dialog zwischen Glaube und Naturwissenschaft (z. B. bei Galileo) herangezogen (ibd., 208, 213). Zu Galileo und Gn. litt. s. Weed (2008), die auf methodische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Kirchenvater und Galileo hinweist. – Da die Bibel für Augustinus in Fragen des Seelenheils höchste Autorität besitzt – nur in ihr findet sich Christus, die Auferstehung, die Vergebung der Sünden etc. –, ist es die Aufgabe der Ratio bzw. des Intellekts, die Schrift vernünftig auszulegen („tout expliquer pour défendre la foi“, Alexanderson 2007: 370), weshalb andere (z. B. naturwissenschaftliche Detailfragen) für den Kirchenvater vernachlässigbar erscheinen. Ein Christ solle sich nicht von unnötigen Fragen ablenken lassen, aber unabhängig davon seien bestimmte wissenschaftliche Disziplinen von großem Nutzen (ibd., 371; s. o. Kap. 1). Zu den von Augustinus empfohlenen Wissenschaftsdisziplinen vgl. auch MacCormack (2008: 7, 11). Zum Verhältnis von Wissenschaften und religiösem Wissen bei Augustinus s. Jaskiewicz (2007: 722). S. außerdem Harrison (2017: 215); „Moreover, human beings are naturally oriented toward another task for which they are far better equipped – knowledge of God, of ourselves, and of our moral duties. If Locke’s understanding of experimental science is correct, then strict application of the Augustinian Principle of the Priority of Demonstration would mean that no science ever meets the strict criterion of demonstrative certainty“ (ibd., 217); „[…] Augustine had also recognized that much current speculation about the natural world fell well short of the strict requirements of scientia. For this reason he counseled against too close an alignment of uncertain science with scripture, since subsequent reasonings or discoveries might put both in doubt“ (ibd., 222). S. o. Kap. 19. 968 S. o. Kap. 14.
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gen zulässt969 – dies vermag er deshalb zu tun, weil für grundsätzlichere, ungleich relevantere Probleme eine stimmige, rational zu verantwortende Lösung bereits ermittelt werden konnte. D. h., auch hier verdankt sich die in Anspruch genommene Autorität der Heiligen Schrift letztlich einem anhand vieler erörterter biblischer Textpassagen bereits erhärteten Rationalitätskriterium. Aus der Perspektive der Klassischen Philologie lässt sich für die exegetische Methode Augustins ein aus der Homer-Philologie gewonnenes Resultat stark machen: Letztere hat traditionell die Entstehungsbedingungen der beiden homerischen Epen, Ilias und Odyssee, so sehr in den Vordergrund gerückt, dass Fragen der Gesamtkomposition und der inhaltlichen Stimmigkeit970 zu sehr ausgeblendet wurden; gleichwohl gilt, was der Gräzist Jonas Grethlein auf den Punkt bringt: „Das ungelöste Problem der [sc. Text-]Genese enthebt uns nicht der Notwendigkeit der Deutung.“971 Dies bedeutet mutatis mutandis mit Blick auf das Buch Genesis: Wie auch immer das Verhältnis der beiden Schöpfungsberichte hinsichtlich ihrer historischen Genese beurteilt werden mag – die Frage nach einer Deutung ihres Nebeneinanders ist solange nicht obsolet oder von nachrangiger Relevanz, als ein Interpret das Buch Genesis auszulegen versucht und nicht nur dessen einzelne Komponenten. Wie die Homer-Philologie zeigt, würde ein Zergliedern des Textes und Ausscheiden von vermeintlich sicher unterschiedenen Textschichten prinzipiell zu keinem Stillstand kommen: Die Analyse eines Textes in immer neu zu trennende Schichten vermag sich selbst zu perpetuieren. Cum grano salis könnte man sogar so weit gehen: Das Zerschneiden eines Textes kann methodisch nur dann wirklich an ein Ziel kommen, wenn man auch die beiden letzten nebeneinander stehenden Buchstaben durch konsequente Anwendung eines methodischen Positivismus noch trennte und sich dann den einzelnen Strichen als Elementen von Buchstaben zuwendete. Eine solche Absurdität hat bislang wohl noch niemand gefordert. Klar ist jedoch: Dem Unterfangen einer mit aller formalen Konsequenz Texte sezierenden Analyse wird eines radikal geopfert – die Suche nach inhaltlicher Stimmigkeit und Kohärenz, also nach jeglicher Sinnhaftigkeit. Textwissenschaft würde sich somit ihres eigenen Gegenstands berauben – eine Gefahr, vor der Kablitz explizit warnt und vor welcher er die Literaturwissenschaft derzeit nicht gefeit sieht.972 Schaut man indes das von Kablitz angesetzte Kriterium der inneren Kohärenz eines Textes mit dem von Grethlein zu Recht geltend gemachten Postulat der „Notwendigkeit der Deutung“ zusammen und konfrontiert beides mit Augustinus, so wird man bemerken, dass der Kirchenvater genau diese beiden Koordinaten in seiner Genesis-Exegese im Blick hat. Dies bedeutet dann aber, dass man Augustinus nicht nur aus guten,
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S. o. Kap. 2 mit Anm. 31. Vgl. in diesem Sinne aber z. B. Schmitt (1990) sowie Drews (2016). Grethlein (2017: 26). Vgl. als Rezension zu Grethleins Buch Drews (2018b). „Denn meines Erachtens droht sie [sc. die Literaturwissenschaft] derzeit nicht nur ihren Gegenstand zu verspielen […]“ (Kablitz 2013: 11).
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methodisch abgesicherten Gründen in einen (post-)modernen Diskurs einbeziehen kann, sondern auch die oben angesprochene Rubrizierung ‚literale‘ vs. ‚geistige Exegese‘ nicht länger als Messlatte zur Bewertung seines hermeneutischen Konzepts taugt, zumal ein von der Aufklärung übernommener, weitgehend formalisierter Geist-Begriff nicht auf Augustinus applizierbar erscheint. Vielmehr ist seine Methode kritisch, weil dem Kriterium philosophisch-erkenntnistheoretischer Rationalität verpflichtet, und deshalb von historisch gewachsenen Vorurteilen zu befreien. Dieses Kritik- und zugleich Aktualitätspotential seiner Exegese stellt der Kirchenvater konkret, und zwar direkt am biblischen Text entwickelt, mit Blick auf die beiden bereits angedeuteten zentralen exegetischen Probleme exemplarisch unter Beweis: also hinsichtlich des Verhältnisses von Gen 1 und 2 zueinander sowie des in Gen 1, 3 erschaffenen Lichts. Der Einfachheit halber sei mit Letzterem begonnen, denn dieses Problem stellt sich ausgehend von allen Textgestalten, ob in lateinischen, griechischen oder modernen Übersetzungen oder vom hebräischen Urtext her, in gleicher Weise. Zudem lässt es sich unabhängig von textgeschichtlichen Fragen betrachten, insofern man konzediert, dass Gen 1 auch nach modernen Kriterien ein zusammenhängender Text ist (selbst wenn dieses nicht garantiert sein sollte, gelten analog die obigen Ausführungen: Das Unternehmen, einen Text von seiner Ganzheit her zu interpretieren, bleibt eine unabdingbare Forderung an die Exegese). Wie unschwer zu erkennen ist, geht die Erschaffung des Lichts in Gen 1, 3 derjenigen aller Gestirne voraus (Gen 1, 14 f.). Dieser vom Text her nicht zu leugnende Befund stellt zunächst ein klassisches Dilemma dar: Licht scheint nur sinnvollerweise vorhanden zu sein, wenn auch Lichtquellen, also zuvörderst Sonne, Mond und Sterne existieren. Genau dieser sinnvollen Annahme widersetzt sich jedoch der biblische Text, wie Augustinus klar konstatiert – denn er will dem biblischen Text literal, also seiner tatsächlichen Aussage nach folgen. Einem echten Dilemma entspricht es, dass man den Befund wenden kann, wie man nur will, es gibt scheinbar kein Entrinnen. Exegetisch – dies zeigt der Kirchenvater – besteht gewissermaßen die ‚erste Tugend‘ darin, dass man dieses Dilemma aushält und sich ihm ‚gnadenlos‘ aussetzt. Der Weg aus der Aporie, sollte es ihn überhaupt geben, kann nur gelingen, wenn man die Aporie nach allen Regeln der Kunst beleuchtet. So erwägt Augustinus, ob mit dem „primären Licht“ in Gen 1, 3 irgendein körperliches Licht gemeint sein könnte.973 Dagegen spricht, dass die Hervorbringung sämtlicher leuchtender Gestirne gemäß der Erzählung erst am vierten Schöpfungstag erfolgt: Es kann also nicht zuvor schon eine quasi-Sonne erschaffen worden sein. Augustinus fragt, ob vielleicht ein körperliches Licht die Erde ganz oder auch nur von einer Seite umgeben haben könnte, so dass der im biblischen Text formulierte Wechsel von Abend und Morgen,974 Nacht und Tag
973 S. o. Kap. 3-4. 974 Abend und Morgen deutet er freilich letztlich anders: „Abend“ bezeichne im Sechstagewerk die
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erklärbar wäre.975 Alle diese Hypothesen scheitern am Text, genauer: am Kriterium seiner inneren Stimmigkeit. Augustinus vertraut als gläubiger Christ darauf, dass dem Text ein kohärenter Sinn abzuringen ist, aber – wie an diesem Punkt konkret deutlich wird – er begnügt sich eben nicht mit einem fideistischen Pseudo-Argument, sondern: Wenn der Text inspiriert ist und eine Wahrheit enthält, dann muss sich diese auch argumentativ zutage fördern und begründen lassen. Der Weg aus der Aporie bzw. dem Dilemma kann nur darin bestehen, dass Gen 1 aus einem bislang noch nicht erkannten Grund von der Erschaffung einerseits des Lichts und andererseits der Gestirne spricht – beides muss etwas Verschiedenes bedeuten. Die Frage springt also darauf zurück, was für eine Art Licht es geben könne, welches nicht mit dem der Gestirne identisch ist: Ein solches Licht könnte das der verstandesmäßigen Einsicht, der intellektiven Erkenntnis sein. Für diese Annahme hat der Kirchenvater gute Gründe: Zum einen lässt sich aus der Zusammenschau der biblischen Texte im christlichen Verständnis, also unter Einbeziehung des Neuen Testaments, auf Jh 1 verweisen, wo vom Logos, also von Gottes Schöpfervernunft, die Rede ist, noch dazu verbunden mit lichthafter ‚Metaphorik‘. Gemäß Augustinus handelt es sich dabei jedoch nicht im strengen Sinn um eine bloße Metapher, sondern Gottes geistiges Licht ist tatsächlich, also im ganz buchstäblichen Sinne, Licht, und zwar mehr Licht als jede Sonne.976 Zum andern deckt sich diese Annahme mit Augustins platonischer Überzeugung, dass das eigentliche Licht das des intellektiven Erkennens sein müsse: So ist z. B. ‚Dreieck‘ in seiner eidetisch-begrifflichen Bestimmung als ebene geradlinige Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln mehr Dreieck als jedes Einzeldreieck, welches immer nur einen Einzelfall dieser komplexiv-prägnanten Bestimmung des Dreieck-Seins enthält – ein gleichseitiges Dreieck kann nicht zugleich rechtwinklig sein und umgekehrt, aber alle Einzelfälle sind in der komplexiv-einheitlichen Wesensbestimmung der ebenen geradlinigen Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zusammen in geeinter Weise umfasst.977 Wenn also das intelligible Sein, wie mit Hilfe des Beispiels ‚Dreieck‘ ersichtlich, mehr Sein und ein ungleich höheres Maß an Erkennbarkeit (= geistig-intellektiver Lichtheit) enthält als die sinnlich-wahrnehmbare Realität, dann lässt sich auf rational-philosophischem Wege begründen, weshalb ein „primäres Licht“ stimmigerweise mit der Wirklichkeit des intellektiven Geistes assoziiert werden sollte. Dann aber wäre das exegetische Dilemma auflösbar, dass der biblische Text zunächst von dem Fiat lux spricht und erst danach von der Erschaffung der Gestirne. Augustinus hält an dieser Interpretation fest und zeigt in methodischer Hinsicht zugleich, dass er sowohl den biblischen Text
„Grenze des abgeschlossenen Werks“ (consummati operis terminus), „Morgen“ dagegen das „zukünftige Wirken“ (futura operatio). S. o. Kap. 7, 11 und 15. 975 S. o. Kap. 7. 976 S. o. Kap. 17 und 19. 977 S. o. Kap. 2, 9–10.
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literal ernst nimmt als auch sein exegetisches Ergebnis philosophisch-kritisch abzusichern vermag. Dieses Vorgehen ist exemplarisch für seine Hermeneutik: Exegese und systematisch-rationale Reflexion müssen wechselseitig aneinander gemessen werden können. Da jedoch das Fiat lux einen Schöpfungsakt bedeutet, muss das erste Geschöpf ‚Licht‘ unterschieden werden von Gottes schöpferischer Vernunft selbst und ihrer göttlichen Lichtheit: Daher interpretiert Augustinus das erschaffene primäre Licht als die Vernunft der geschaffenen reinen Geist-Wesen, d. h. der Engel. Somit wird zugleich deutlich: Augustins Auffassung einer literalen Exegese folgt dem Kriterium der inneren Stimmigkeit des Textes, der besagten Kohärenz. ‚Literal‘ bedeutet nicht in jedem Fall ein in äußerlicher Weise historisch fixierbares Ereignis, denn zu Beginn der Schöpfung existiert noch keine geschichtliche Welt, nicht einmal die Zeit als deren condicio sine qua non. Trotzdem ist eine buchstäbliche, nicht-metaphorische Auslegung nicht unmöglich: Denn die Engel im Sinne intellektiver Geistwesen sind in keinem metaphorischen Sinn ‚Licht‘, sondern von ihrem geschöpflichen Sein her mehr Licht als das Licht aller späteren Gestirne978 – eher wären, von Augustinus her gedacht, jene körperlichen Lichter in metaphorischer Weise als Licht zu interpretieren. Für Augustins Verständnis sowohl von Literalität wie auch von Geist bleibt also zu konstatieren, dass beide aus guten Gründen nicht mit modernen, der Aufklärung entlehnten Konzepten in Verbindung gebracht werden können: Der Kirchenvater vermag einem Text, wenn dieser es von seinem Kontext her erfordert, auch im geistigen Sinne ein literales Verständnis abzugewinnen. Zugleich bedeutet ‚Geist‘ für ihn eben nichts Nebulöses, Irrationales, ‚nur Metaphorisches‘, Bildlich-Vorstellungshaftes, sondern das konkrete intellektive Begreifen einer Sache. Am Beispiel ‚Dreieck‘ lässt sich dies relativ leicht explizieren; aber auch wenn Augustinus selbst dieses Beispiel so nicht wählt – dafür greift er stattdessen zu schwierigeren zahltheoretischen Überlegungen979 –, sagt er doch explizit, dass er solche Ideen „in Gottes Intellekt“ verortet980 und spricht dem Licht des Geistes/der Engel ein höheres Licht-Sein zu als dem wahrnehmbaren Licht der Gestirne. Trotzdem kann nicht davon die Rede sein, dass der Kirchenvater platonisches Gedankengut als etwas Sachfremdes einfach in den Bibeltext importiert: Ausgangspunkt für sein exegetisches Resultat war schließlich das Dilemma, vor welches Gen 1 jeden Leser stellt, wenn er geneigt ist, diesen Text literal ernst zu nehmen. Im Zuge seines Lösungsvorschlags ist Augustinus nur zugleich in der Lage, diesen auch philosophisch zu begründen. Prüfstein der Rationalität ist dabei die widerspruchsfreie Unterscheidung von sachlichen Hinsichten, nicht eine lediglich behauptete Ereignishaftigkeit des Erzählten. Wenn Augustinus eine solche in den späteren Büchern von De Genesi ad litteram veranschlagt, dann hat dies der Sache 978 S. o. Kap. 17. 979 S. o. Kap. 15. 980 div. qu. 46. S. dazu Drews (2018: 272–8).
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nach nicht zuletzt darin seine Begründung, dass er die grundsätzlicheren Fragen – z. B. im Hinblick auf die Seinskonstitution und die intelligible Schöpfungsordnung – einer philosophischen Absicherung unterziehen konnte und die zeitliche Entfaltung der intelligiblen Seinsgründe in der biblischen Erzählung981 sinnvoll abgebildet sieht. Wer Augustins Exegese von Gen 1, 3 als abwegig kritisiert und mit positivistischer Engstirnigkeit darauf beharrt, dass dort nicht von Engeln die Rede sei,982 sollte als Alternative einen schlüssigeren Interpretationsvorschlag unterbreiten können: Der Kirchenvater rechnet ja selbst explizit immer damit, dass jemand anders ein angemesseneres, besseres exegetisches Resultat erbringen könne. Zugleich vermag er weitere Bibeltexte983 als Stütze für seine Exegese heranzuziehen, so dass sich ein die Heilige Schrift als Einheit zusammenschauender Sinn eröffnet. Nur deshalb – weil sich über die Einzeltexte hinaus ein sinnhafter Gehalt abzeichnet und erkennbar wird – kann in Augustins Verständnis begründeterweise von einer Inspiriertheit der Schrift insgesamt gesprochen werden: Wirklich entscheiden lässt sich diese Frage jedoch, wie schon gesagt, erst am Ende.984 Gerade die Annahme einer göttlichen Inspiration der Bibel als ganzer eröffnet und begründet die Möglichkeit, dass es nicht nur eine einzige, sondern eine große Fülle an berechtigten Interpretationen geben kann, insofern sie als einzelne einen teilhaften Wahrheitsaspekt ergründen, der sich mit den übrigen im Einklang betrachten lässt. Die Wertschätzung des biblischen Textes und sogar des einzelnen Wortes erhöht sich, wenn die Inspiriertheit der Schrift konkret erkennbar und argumentativ nachvollziehbar wird.985 Dabei antwortet der menschliche Geist durch das, was er aktual am und durch den Text begreift, auf die durch Gott in ihrer Erkennbarkeit geschaffene Wirklichkeit: Es geht um eine rational-intellektive Anstrengung, die ihr Ziel darin erreicht, dass sie Erkennbares findet und herausarbeitet, welches in letzter Instanz durch Gottes schöpferischen Geist begründet und durch den menschlichen ergründet wurde. Für Augustins exegetische Kritik ist also im Unterschied zur modernen historisch-kritischen Methode nicht primär entscheidend, was sich ‚in reiner Äußerlichkeit an sich faktisch genau‘ zugetragen haben mag:986 Eine solche Herangehensweise müss-
981 S. o. Kap. 12. 982 S. dazu Kap. 6. 983 Vgl. die mit dem caelum caeli (conf. XII, 13, 16) in Verbindung stehenden Schriftstellen 1 Kö 8, 27; Neh 9, 6. 984 Ein wesentlicher Grund, die Bibel als Einheit zu lesen, dürfte die Tatsache sein, dass Jesus Christus im Neuen das Alte Testament auf sich hin auslegt (vgl. z. B. Lk 24, 27). 985 So auch Greene-McCreight (1999: 67): „It is in part his understanding of the text as divinely inspired that makes every word significant to him and thus pushes him to literal interpretation.“ Vgl. auch MacCormack (2008: 16) sowie Kim (2006: 112). 986 Zwar betont Augustinus die Tatsächlichkeit des Erzählten, aber eben nicht um einer bloßen imaginierten, nackten ‚Faktizität an sich‘ willen. Insofern erscheint Kims (2006: 97) Wertung einseitig-verkürzt: „Throughout this commentary [sc. in Gn. litt.], Augustine tries to demonstrate that every detail in the opening chapters of Genesis actually happened. In other words, Genesis 1–3 is a faithful trustworthy historical account.“ Das Problem liegt darin, dass Kims Darstellung zwar
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te im Kontext seiner Hermeneutik sogar als spekulativ bzw. eher unkritisch bezeichnet werden. Denn niemand kann über Ereignisse, welche ihm zeitlich völlig entzogen sind, hundertprozentig präzise Angaben vornehmen. Wer dies tun zu können meint, bewegt sich nach den Kriterien des Kirchenvaters auf der Ebene der reinen Imagination: Man stellt sich vor, als wäre man ‚dabei gewesen‘ und hätte alles ‚mit eigenen Augen‘ sehen können. Gemäß Augustins kritischer Erkenntnistheorie aus De Genesi ad litteram XII987 befindet man sich dann aber bestenfalls nur auf der Ebene der Vorstellung (bzw. des spiritus): Ein tatsächliches Begreifen kann auf dieser Erkenntnisstufe – sogar für einen vermeintlichen ‚Augenzeugen‘988 – nicht stattfinden, weil dazu der die jeweilige Sache durchdringende Intellekt erforderlich ist, welcher sich nicht auf die Bildlichkeit bzw. ein äußeres Ereignis an sich kapriziert, sondern den begrifflich unterscheidbaren Sachgehalt zu erfassen sucht (s. o. zum Beispiel ‚Dreieck‘). D. h., auch die subjektive, hypothetische Vorstellung, man wäre dabei gewesen, befähigt eben nur wieder zu bildlichen Vorstellungen, die ihrerseits einem subjektiv imaginierten und daher ebenso hypothetischen Wahrnehmungsbefund verhaftet bleiben. Wie Augustinus kritisch zeigen kann, würde das aber in vielen Fällen nicht weiterhelfen: Wenn Gott in Gen 1 seine Schöpfungsworte „Es werde …“ spricht, so kann dieses Sprechen deshalb nicht historisch verifizierbar sein, weil vor Abschluss des Schöpfungswerks
‚halb zutreffend‘ ist, aber eben auch ‚halb unzutreffend‘: Augustinus verteidigt die Tatsächlichkeit gegen allegorische Interpretationen, gemäß welchen die Geschichtlichkeit der Genesis erst mit dem Sündenfall beginne (s. o. Kap. 25); diese von ihm angenommene Tatsächlichkeit ist jedoch nicht mit einem „historical account“ im modernen Sinne identisch, insofern damit eine äußerlich gegebene ‚objektive Wahrheit‘ gemeint wäre. Bedingung der Möglichkeit eines literal-geschichtlichen Verständnisses der Paradiesgeschichte bleibt für den Kirchenvater das Intelligible: Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen einem philosophisch begründeten und einem auf genau eine solche Begründung dezidiert verzichten wollenden Geschichtsverständnis. Für Augustinus ist Theologisches per se nicht objektivistisch ‚beobachtbar‘, d. h. nicht durch eine verselbständigte, für sich allein betrachtete Sinnlichkeit ‚erlebbar‘, sondern nur dann, wenn etwas Sinnliches auf Gottes geistige Wirklichkeit zurückbezogen ist: Ein positivistisches Geschichtsbild ist insofern zwangsläufig für die geistige Wirklichkeit blind, kann weder mit einem intelligiblen Sachgehalt als solchem etwas anfangen, geschweige denn mit dessen körperlicher Manifestation (s. o. Kap. 25). Erst unter diesen Voraussetzungen, die in Abgrenzung zu einem modernen Geschichtsverständnis herauszustellen sind, vermag Augustinus der Genesis einen (philosophisch begründeten) Tatsächlichkeitscharakter zuzusprechen. Kims Darstellung leistet dies jedoch nicht und bleibt bei einer Gleichsetzung von ‚literal‘ und ‚historisch‘ stehen („In this later commentary [sc. Gn. litt.], historical interpretation is synonymous with literal interpretation“, Kim 2006: 100) sowie bei der These: „In De Genesi ad litteram, Augustine repeatedly emphasizes the truthfulness of the text in its historical and literal sense, no matter how incredible it may seem to be“ (ibd., 172). S. auch oben Anm. 28. 987 S. o. Kap. 36-41. 988 S. o. Kap. 30. Unter Rekurs auf civ. XI, 4 bemerkt MacCormack (2008: 47): „This is how Scripture came into existence. The prophetic writer of the account of creation in Genesis was not present as an eyewitness, ‚but the Wisdom of God was there, through whom all things were made, who enters into holy souls, makes them into friends of God and prophets, and soundlessly, within themselves, tells them the works of God.‘“
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noch gar nicht die den Menschen gewohnten Bedingungen sinnlicher Wahrnehmbarkeit vorliegen können, geschweige denn ‚Augenzeugen‘. Es kann also – kritisch besehen – hier gar nicht mit herkömmlichen historischen Methoden gearbeitet werden, diese laufen vielmehr ins Leere. Ein intellekthaftes Begreifen, was dieses in der Genesis erzählte Sprechen Gottes in seinem Sachgehalt genau ausmacht – nämlich nicht die Äußerung akustischer Worte im Sinne eines sinnlich-wahrnehmbaren Sprechakts,989 sondern das Sich-Ausworten des Schöpfungslogos in der Seinskonstitution –, führt dagegen zu einem philosophisch-argumentativ erschließ- und diskutierbaren exegetischen Ergebnis: Weil dies durch rationale Reflexion als philosophisch-theologisch sinnvoll erwiesen werden kann, vermag der Kirchenvater es auch in seiner tatsächlichen ‚Ereignishaftigkeit‘ ernst zu nehmen und diese zu bejahen. Eine solche, philosophisch untermauerte Annahme von Tatsächlichkeit ist dann aber weder naiv noch mit einem modernen Geschichtsverständnis identisch. Sogar bei den Teilen der Genesis, welche im Rahmen der Erzählung bereits ein bestimmtes Geschehen innerhalb der körperlichen Welt zum Gegenstand haben, geht es Augustinus genau genommen nicht ausschließlich um die Behauptung der Faktizität an sich, sondern um das geistige Begreifen des anschaulich Erzählten in seinem spezifisch-literalen Bedeutungsgehalt. Damit bewegt er sich nicht auf der Ebene einer Allegorie – wenn er eine solche Interpretation für angemessen bzw. möglich hält, formuliert er dies deutlich und grenzt es von der literalen Exegese ab990 –; die Ergründung des Literalsinns zielt gleichwohl nicht in naiver Weise ausschließlich auf eine angenommene Ereignishaftigkeit ab, sondern auf die Bedeutung und den (nicht-metaphorischen) Sinn des Erzählten:991 Denn unbeschadet der Frage seiner Faktizität kann das Erzählte in seiner begreifbaren Sachhaltigkeit nur von einem sie sachlich erfassenden, durchdringenden Intellekt ergründet werden, auch wenn es dabei gemäß Augustinus eben nicht um bloße Bildersprache und figürliche Allegorien geht, sondern um den Sachgehalt des Textes als ‚literales Ereignis‘. Der Intellekt begreift daher nicht nur eine figürlich-allegorische Bedeutung, sondern auch den Literalsinn selbst. Sowohl tatsächliche wie auch nur erzählte Ereignisse erlangen ihre Bedeutsamkeit nicht einfach durch eine vermeintlich ‚objektiv gegebene‘ Dinglichkeit an sich im Sinne ‚nackter Tatsächlichkeit‘, sondern dadurch, dass sie etwas Begreifbares verkörpern, welches erkannt werden soll – dies begründet den Esprit, die (im modernen Sinn) ‚spirituelle‘ Dimension in Augustins Exegese, in der es deshalb um eine enge Beziehung zwischen der Frage nach der Tatsächlichkeit des Erzählten und dem allgemein verstehbaren Sachgehalt in seiner über jegliche faktische Dimension hinausreichen-
989 S. o. Kap. 3, 6 und 21. 990 S. o. Kap. 4, 7, 25, 34, 35. 991 Vgl. zum mehrfachen Schriftsinn: „This broad spectrum of interpretative possibilities refutes any idea of exegetical naiveté or lack of sophistication“ (Pollmann 2007: 204).
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den Bedeutsamkeit geht.992 Im wahrsten Sinne des Wortes ‚verkörpert‘ so z. B. der Baum des Lebens die Weisheit Gottes, den Logos, Christus, ohne dass Augustinus die Leibhaftigkeit dieses Baumes in der Paradiesgeschichte anzweifeln muss.993 Auch aus dieser Perspektive wird verständlich, wieso Augustinus ganz am Anfang von De Genesi ad litteram das geistig-intellekthafte Verständnis immer als möglich und notwendig erachtet994 und weshalb in seiner Exegese körperlich-literale und geistig-literale Aspekte eng ineinander greifen bzw. ineinander verschränkt sind im Sinne eines „argumentativen goldenen Mittelweg[s]“.995 Vor allem kommt vor diesem Hintergrund dem Erzählen selbst eine besondere Bedeutung zu: Es geht nämlich im Sinne Augustins dabei nicht nur um ein ‚Narrativ an sich‘ bzw. um die Zurschaustellung von Bild- und Anschaulichkeit (enargeia), sondern um das Begreiflichmachen von etwas intellektiv Erkennbarem durch die Narration.996 Ihr eignet damit – gerade auch in Abgrenzung zu Ansätzen moderner Theologie – ein ganz neues, ungeahntes Verdienst, welches weder durch einen historischen, an bloßen Ereignissen interessierten Ansatz noch durch das Postulat einer nebulös bleibenden ‚Metaphorizität‘997 einholbar ist. Der spezifisch-literale Sinn ist daher nicht länger an purer Tatsächlichkeit oder bloßer Fiktionalität zu messen, sondern an seiner inneren Stimmigkeit und rational einsehbaren, intelligibel-eidetischen Sachhaltigkeit:998 Scheint aber diese auf, dann besteht für Augustinus auch Grund, dem biblischen Text ein Zutrauen entgegenzubringen, welches einen bestimmten Glauben an äußere Tatsächlichkeit nicht mehr ausschließt. Der Erkenntnisweg verläuft im Vergleich zu einem modernen historischen Verständnis umgekehrt: Nicht die Frage der Ereignishaftigkeit steht am Anfang oder stellt – infolge der radikalen Absage an eine für sich bestehende intelligible Wirklichkeit – gar das alleinige ‚wissenschaftliche‘ Kriterium dar, sondern der intellektiv-philosophische Zugriff steht, wie Augustinus explizit und aus guten Gründen zu Beginn von De Genesi ad litteram darlegt, vor und über allem.999 Methodisch beschreitet der Kirchenvater einen ähnlichen Weg, um die Möglichkeit einer inneren Einheit der sog. ‚zwei Schöpfungsberichte‘ (Gen 1 und 2) zu begründen. Es erscheint unnötig, noch einmal darauf zu verweisen, dass Augustinus nichts Vergleichbares wie eine Zweiquellentheorie (‚Elohist‘ vs. ‚Jahwist‘) kennt. Es liegt nur 992 Deshalb resümiert Teske (2009: 143): „Hence, most of the Bible would be pointless and senseless if we were not to take it as figurative.“ 993 S. o. Kap. 25. 994 S. o. Kap. 2. 995 Pollmann (2008: 100). S. o. Kap. 26. Vgl.: „Both the Bible and history have to be understood both literally and as metaphors“ (Pollmann 2009a: 321), wobei die Frage der Metaphorizität eben nicht im modernen Sinn ‚nebulös‘ bleibt, sondern tatsächlich auf eine ontologische Wirklichkeitsebene der Seele und des Geistes konkret bezogen ist (s. o.). 996 S. o. Kap. 9 und 12. 997 Vgl. dazu Drews (2018: 187–8, Anm. 533) sowie oben Anm. 420 und 699 und Kap. 34. 998 S. o. Kap. 41. 999 S. o. Kap. 2.
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allzu nahe, auf der Basis dieses ‚textgeschichtlichen Wissens‘ den Kirchenvater als ‚unaufgeklärt‘ abzuqualifizieren und seine exegetischen Bemühungen gönnerhaft zu belächeln. Vielleicht sollte man stattdessen – im Sinne postmoderner Offenheit – einfach die Gegenfrage stellen: Wie begründet erscheint denn Augustins Zusammenschau beider Texte auf der Basis der ihm zur Verfügung stehenden lateinischen Übersetzung?1000 Auch wenn es an verschiedenen Stellen teils signifikante Abweichungen zwischen dem hebräischen Urtext, der Vulgata und der Vetus Latina gibt, sollte Augustins Bemühen, den biblischen Text gemäß der Vetus Latina auszulegen, nicht formalistisch-rigoros als ‚historisch unangemessen‘ oder vergeblich ‚abgestempelt‘ werden: Im Kontext seiner Hermeneutik von den vielen möglichen Auslegungen der Bibel erscheinen analog verschiedene Übersetzungen als unterschiedliche Brücken zum Verständnis der Schrift durchaus möglich.1001 Die textlichen Abweichungen betreffen, wie bei der Interpretation von De Genesi ad litteram deutlich wurde, oft Detailfragen, weitaus weniger dagegen den theologischen Gesamtzusammenhang, so dass sie in hermeneutischer Hinsicht mit unterschiedlichen Beleuchtungen und Akzentuierungen vergleichbar sind. Da gemäß Augustins hermeneutischer Überzeugung der sprachliche Befund, so wichtig er unbestreitbar ist, gleichwohl nicht positivistisch als unhintergehbares Fundament der Theologie gelten kann – die überlieferten Buchstaben und Worte sind nicht dasselbe wie der sich in ihnen spiegelnde intellectus –, wird der überlieferte Text nicht mit dem Anspruch eines gleichsam materialisierten Gottesworts überfrachtet. Das fundamentum in re ist nicht das haptisch fassbare Buch – in welcher Gestalt auch immer –, sondern der theologisch einsehbare, erfassbare Sachgehalt in seiner Intelligibilität. Damit wird der überlieferte Text in keiner Weise abgewertet, sondern hermeneutisch-kritisch in seinem ontologischen Status von seinem begreifbaren Inhalt unterschieden und nicht dinglich verabsolutiert. Dies gilt in Analogie zu dem erörterten Standardbeispiel ‚Dreieck‘: Ein materiell vorliegendes Einzeldreieck vermag nie die intelligible Seinsfülle seines eidetischen Prinzips in irgendeiner Weise ‚vollständig‘ abzubilden, aber es verweist auf sie – nichts anderes tut ein schriftlich fixierter Text mit Blick auf seinen Inhalt; in beiden Fällen muss das Begreifen einer erkenntnisfähigen Instanz hinzukommen, damit der Text ‚spricht‘ oder ein Dreieck nicht nur als farbige Striche ‚gesehen‘, sondern in seiner geometrischen Substanz erkannt wird. Genau diese philosophische Differenzierung zwischen intelligiblem Sein und materieller Existenz, mit welcher bereits die Erschaffung des Lichts vor der Hervorbrin1000 S. o. Anm. 195. 1001 Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass Augustinus teilweise Tendenzen zeigt, möglichst einen lateinischen Text als Grundlage zu betrachten, um Gemeindeglieder nicht durch neue Versionen zu verwirren (s. O’Donnell 1999: 101/2). Dieser kirchenpragmatische Ansatz, so einleuchtend er erscheint, steht nicht im sachlichen Widerspruch zu seiner philosophisch begründeten Hermeneutik, welche offensichtlich auf einer höheren theoretischen und theologisch reflektierteren Ebene angesiedelt ist. Zur grundsätzlichen Befürwortung, die biblischen Ursprachen zu erlernen, vgl. Greene-McCreight (1999: 38), s. o. Kap. 1.
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gung der Gestirne sinnvoll aufgeschlossen werden konnte, stellt den philosophischen Schlüssel dar, die sogenannten ‚zwei Schöpfungsberichte‘, kurz: Gen 1 und 2, sinnvoll zusammenzudenken. Deren historische Entstehungsbedingungen mögen verschieden sein, ohne dass dies dem Kirchenvater bekannt war. Nichtsdestoweniger vermag er sie stimmig – also im Sinne des oben dargelegten Kohärenzkriteriums – zusammenzuschauen, und das erscheint theologisch nicht nur ‚ausreichend‘, sondern originell. Denn: Damit trägt er dem Umstand Rechnung, dass Gen 1 und 2 in dieser Weise als ein Buch überliefert sind, unabhängig von der Textgenese, von den verschiedenen Sprachen, in die sie übersetzt wurden, und von dabei auftretenden textlichen Detailabweichungen. Im Kontext der inhaltlichen Kohärenz ist dabei fundamental entscheidend und nicht hoch genug zu veranschlagen, dass die Reihenfolge von Gen 1 und 2 genau diese ist und nicht umgekehrt (als wenn der gemäß moderner historischer Kritik vermeintlich frühere Text – Gen 2, 5 ff. – auch am Anfang stünde). Denn eine solche umgekehrte Reihenfolge wäre offensichtlich unplausibel: Wieso sollte der Mensch erst leibhaftig erschaffen werden (Gen 2) und danach „Himmel und Erde“ (Gen 1), so dass auch der Ort, in welchem der Mensch sich vorfindet, erst nach ihm hervorgebracht wäre; ganz zu schweigen von der bemerkenswerten Vorrangstellung des primären Lichts (Gen 1, 3), welches dann auch auf die Erschaffung Adams folgen würde. Augustinus stellt diese hypothetischen Erwägungen so nicht an – dazu hat er gar keinen Grund; aus moderner Perspektive, welche formalistisch die Fragen der Textgenese über die des Inhalts stellt, erscheinen sie aber nötig, um deutlich zu machen, warum die traditionelle Abfolge der sogenannten ‚zwei Schöpfungsberichte‘ – nicht aber ihre Umkehrung – für Augustinus sehr wohl als sinnvolle Einheit interpretierbar ist: nämlich im Sinne der inneren Kohärenz des Buchs Genesis.1002 Mit anderen Worten: Durch Augustins Exegese wird zumindest stimmig begründet, warum diese ‚beiden Schöpfungsberichte‘ nebeneinander stehen und warum ihre innere Kohärenz nur in dieser ihrer überlieferten Reihenfolge aufscheint – daher die angedeutete Gegenprobe. Eine solche innere Kohärenz vermag eine historisch-kritisch kaprizierte Exegese dagegen kaum zu begründen, weil sie den zeitlich abgegrenzt imaginierten Entstehungsbedingungen der Texte den absoluten Primat zu deren kategorischer ‚Einordnung‘ erteilt. Für die historisch-kritische Methode stellt sich gar nicht die Frage nach einem intelligiblen Sachzusammenhang, auf welchen diese Texte verweisen: Die Textgenese soll alleiniges Kriterium zur ‚Einordnung‘ ihres Inhalts sein, obgleich sich schwerlich
1002 Dabei ist nicht zuletzt hervorzuheben (s. Kim 2006: 132–5, 159–161), dass Augustinus in seiner eigenen früheren Exegese einen solchen Zusammenhang von Gen 1 und 2, wie er ihn in Gn. litt. auf literaler Ebene ableitet, noch nicht stimmig zu ermitteln vermochte (ibd., 163) und daher Gen 2 vorzugsweise allegorisch als „a detailed story of the man“ ausgelegt hatte: „On the contrary, in De Genesi ad litteram, he interprets the second account more literally and historically than the first“ (ibd., 161).
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bestreiten lässt, dass ‚Inhalt‘ und ‚Genese‘ etwas Verschiedenes, zumindest in keiner Weise zwingend ‚identisch‘ sind.1003 Wie die Erschaffung des primären Lichts als des einen geistig-intelligiblen Lichts (Gen 1, 3) der Hervorbringung der vielen Gestirne (Gen 1, 14) vorausgeht,1004 so liegt – universell gewendet – die Wirklichkeit des Geistes der Realisierung materieller Verwirklichung voraus. Dies ist keineswegs eine willkürliche Setzung, da ja philosophisch-rational begründet werden kann, dass z. B. ein Einzeldreieck immer schon die substantielle Bestimmung, eine geradlinig-ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein, als vorausliegende eidetische Bestimmung dessen, was ein Dreieck zum Dreieck macht, voraussetzt und entsprechend in partikulärer Existenz auch verwirklicht. Die Gültigkeit dieses substantiellen Sachgehalts wird nicht erst durch die Konstruktion eines Einzeldreiecks begründet;1005 vielmehr zeigt ein Einzeldreieck, dass es dieser Bestimmung (mehr oder weniger genau) genügt; nur weil es ihr aber entspricht, ist es auch als Dreieck erkennbar. Appliziert auf die Exegese von Gen 1 bedeutet dies im Sinne Augustins: Gen 1 enthält in sich nicht nur die auffällige Begründung des Primats des einen intelligiblen Lichts vor den vielen instanzhaften Lichtern der Gestirne;1006 Gen 1 begründet zugleich die intelligible Ordnung der Schöpfung insgesamt. Das Sechstagewerk, welches „sehr gut“ ist, begreift der Kirchenvater als die Seinsgründe der Schöpfung, die im primären Licht aufscheinen – in ihrem Erkanntwerden durch die Engel: D. h., das Licht ist nichts weniger als der textimmanente hermeneutische Schlüssel für die Interpretation des sogenannten ‚ersten Schöpfungsberichts‘. Damit erzählt Gen 1 nicht einfach eine bloße faktische Abfolge dessen, was der Schöpfer nacheinander erschafft; sondern Gen 1 ist gemäß Augustinus die intelligible Seinskonstitution schlechthin, welche nicht objektivistisch ‚vorgegeben‘ wird, sondern sich bereits im subjektiven Erkennen der Engel als dynamisch-lebendiger Vollzug ereignet, da die Engel als das primär erschaffene Licht der Erkenntnis zugleich das aktuale Erkennen dieser intelligiblen Seinsordnung darstellen bzw. sind. Die Schöpfung ist also gemäß dem Kirchenvater nicht einfach das dingliche Produzieren ‚materieller Massen‘, sondern primär die geistige Lebendigkeit des Hervorbringens und Erkanntwerdens der intelligiblen Bestimmungen allen Seins, welches, insofern es denn als strikt intelligibel gedacht wird, nur lichthaft sein kann und entsprechend im Licht, welches die
1003 Greene-McCreight (1999: 69) stellt zu Recht fest: „While the problem of the different names for the deity [sc. Elohim in Gen 1 and Yahweh in 2] is thus noted in modern exegesis, the matter of its significance is usually left unaddressed. Here is one of the major differences between modern and ancient exegetes: for moderns, offering a theory of different sources is generally deemed sufficient explanation of this aspect of the text.“ 1004 Der Primat des Einen vor dem Vielen, wie er für das Licht in Gen 1 vorliegt, ist freilich zugleich ein Grundzug platonischen Denkens (vgl. Drews 2018: 121–133). 1005 Anders als z. B. Kant meint (s. dazu Drews 2018: 325, Anm. 1094). 1006 S. o. Kap. 4.
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Engel selbst sind, stattfindet.1007 Auffälligerweise wird es innerhalb des Sechstagewerks kein einziges Mal Nacht!1008 Als ‚Nacht‘ wird lediglich die Finsternis bezeichnet (Gen 1, 5),1009 aber „es wird“ jeweils „Abend und Morgen“. Augustins Exegese ist insofern im besten (modernen) Sinne ‚spirituell‘, weil sie den biblischen Text in einer Lebendigkeit erschließt, welche ihresgleichen sucht. Auf keinen Fall vollzieht sich seine Exegese in nüchterner ‚Verblüffungsresistenz‘, sondern sie zieht den aufmerksamen und für sie empfänglichen Leser in einer Weise in sich hinein, dass sich das Wechselspiel von Licht, Erleuchten und Erleuchtetwerden, wie es im intelligiblen Sinne in Gen 1 stattfindet, zugleich im Leser selbst ereignen soll: Dies macht die Lebendigkeit von Augustins Exegese aus und lässt sie zu einem spirituellen exercitium werden, ohne dabei das innere Maß philosophisch begründeter Rationalität jemals zu verlieren oder aufzugeben. Grosso modo erzählt Gen 1 also von der intelligiblen, überzeitlichen Schöpfung, wobei die sechs Tage dem Kirchenvater zufolge der eine sich wiederholende Tag sind und als solche die innere Ordnung einer prinzipienhaften Aufeinanderfolge bestimmter Geschöpfe darstellen.1010 Begründet wird diese Deutung einerseits aus der inhaltlichen Kohärenz von Gen 1 und 2, andererseits aber auch aus der speziellen Übersetzung des Verses Gen 2, 4 (cum factus est dies – „als [der] Tag gemacht worden ist“).1011 Denn diese Übertragung lässt sich so deuten, als ob tatsächlich ein Tag geschaffen worden ist, den Augustinus dann als den sich innerlich in der sechs- bzw. siebenfachen Wiederholung entfaltenden einen Tag begreifen kann. Gemäß seiner Exegese von Gen 1 und 2 ‚zerfällt‘ die Schöpfung nicht bezugslos in ‚zwei Teile‘ – er weist explizit darauf hin, dass das intelligible Sechstagewerk nicht zeitlich früher sei als die materielle Hervorbringung der Welt, welche sich gemäß den intelligiblen Seinsgründen vollziehe.1012 Er sagt sogar, dass seine Auslegung zu Missverständnissen führen könnte, denn Gott habe eben nicht in zeitlicher Hinsicht ‚zuerst‘ das Sechstagewerk und ‚dann‘ die sinnlich-wahrnehmbare Welt erschaffen; dennoch bringe die Bibel – als Einheit (!) aus Gen 1 und 2 – diese beiden Aspekte in der Narration treffend zum Ausdruck.1013 Folglich versteht der Kirchenvater unter dem Begriff tunc („damals“) das sachlich, nicht zeitlich vorausliegende intelligible Sechstagewerk und unter nunc („jetzt“) dessen materielle Verwirklichung innerhalb der Zeit. Ausdrücklich wehrt er die Deutung ab, dass etwa der Mensch im Sechstagewerk bereits
1007 S. o. Kap. 10. 1008 S. Kap. 17. Zu ‚Tag‘ und ‚Nacht‘ als intelligiblen Prinzipien s. Kap. 11. Vgl.: Denique scriptura cum illos dies dinumeraret ex ordine, nusquam interposuit vocabulum noctis (civ. XI, 7; 470, 10). 1009 S. o. Kap. 16. 1010 S. o. Kap. 16. Vgl. ebenfalls civ. XI, 7. 1011 S. o. Kap. 18. Hinzu kommt, dass der erste Schöpfungstag im lateinischen wie auch im griechischen und hebräischen Text (Gen 1, 5) nicht mit einer Ordinal-, sondern der Kardinalzeit unus bzw. mia und ächad bezeichnet ist (s. o. Kap. 7). 1012 S. o. Kap. 24. 1013 S. o. Kap. 20.
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in seiner irdisch-zeitlichen Konstitution hervorgebracht sei; vielmehr sei der Mensch dort im Sinne seines intelligiblen Mensch-Seins als vernunftbegabtes Wesen erschaffen, dem als solchem aufgrund seiner Rationalität die Gottesebenbildlichkeit eigne (Gen 1, 27), und doch umfasse das intelligible Eidos des Mensch-Seins zugleich bereits die ursächlichen Seinsgründe für die leibliche Verfasstheit des Menschen als Mann und Frau sowie die Weisung über die ihnen zugedachte Nahrung.1014 Wer jedoch das Mensch-Sein unangemessenerweise allein in der körperlichen Existenz verankere, der würde wahrscheinlich einem Missverständnis aufsitzen und meinen, dass im Sechstagewerk überhaupt kein Mensch geschaffen worden sei – was Augustinus freilich in keiner Weise sagen will.1015 Der vermeintliche Verdopplungseffekt der ‚beiden Berichte‘ ist seiner Auffassung zufolge also keine sachlich unnötige Wiederholung, sondern die Narration bringt verschiedene Aspekte von Gottes Schöpfungshandeln sinnvoll zum Ausdruck, entfaltet sie nacheinander, weil sie nur so unterschieden werden können. Darüber hinaus vermag der Kirchenvater seine Exegese von Gen 1 und 2 im Kontext weiterer Schriftstellen zu untermauern: Gemäß Sirach 18, 1 hat Gott „alles zugleich erschaffen“,1016 was Augustinus mit dem überzeitlichen Sechstagewerk in Verbindung bringt; zugleich wirkt Gott gemäß dem Herrenwort Jh 5, 17 „bis jetzt“,1017 womit das sich innerzeitlich entfaltende Schöpfungshandeln Gottes gemeint sei, welches mit Gen 2 – genauer: 2, 6 – im zeitlichen Sinne begonnen habe.1018 Gemäß seiner die Bibel als innere Einheit interpretierenden Hermeneutik – welche nicht die Verschiedenheit der einzelnen Bücher leugnet, sondern deren Vielheit vielmehr als sich gegenseitig sinnvoll ergänzende und wechselseitig aufschließende Theologie begreift –, schaut Augustinus somit nicht nur Gen 1 und 2, sondern diese beiden schöpfungstheologischen Schlüsseltexte zugleich mit weiteren zu dieser Thematik gehörenden Aussagen der Bibel auf intellektive Weise zusammen. Dieser methodisch-philosophisch in der platonischen Erkenntnistheorie begründete Einheitsblick intellekthaften Begreifens synthetisiert dabei gerade nicht willkürlicherweise irgendetwas, ein quodlibet, sondern ist, genau betrachtet, gar kein synthetischer Erkenntnisakt: Synthetisch geht das rational-dianoetische Denken vor, weil es im Nacheinander Bestimmtes durchdenkt. Der Intellekt, wie auch Augustinus ihn versteht,1019 erkennt dagegen analytisch, indem er die innere Einheit einer Sache als einen von sich selbst her bestehenden Zusammenhang schlagartig durchschaut und insofern auch im 1014 1015 1016 1017 1018
S. o. Kap. 14. S. o. Kap. 20. S. o. Kap. 17. S. o. Kap. 19-20. S. o. Kap. 18. Harrison (2017: 211) sieht in Augustins philosophischer Theologie nicht zuletzt einen Anknüpfungspunkt für den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie: „So living things were created in potential in a single event, to be ‚brought forth‘ at a later time. It is on this basis that some have claimed Augustine as an evolutionary thinker.“ 1019 S. o. Kap. 37, 39–41.
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Zugleich ihrer Einzelaspekte zusammenschaut, so dass alle zur jeweiligen Sache gehörigen Facetten unmittelbar zusammengedacht und instantan erfasst werden. Nichts anderes führt Augustinus in seiner Exegese der Schöpfungstheologie durch: Sirach 1, 18, Jh 5, 17, Gen 1 und 2 werden in ihren jeweiligen schöpfungstheologischen Teilaspekten stimmig aufeinander bezogen, widerspruchsfrei als innere Einheit intellektiv begriffen und im sprachlichen Duktus innerhalb von De Genesi ad litteram im rational-dianoetischen Nacheinander für den Leser entfaltet. Augustins Exegese vollzieht sich sowohl am Text, als auch schließt sie systematisch-theologische Fragen mit ein – beides ist für ihn sachlich nicht zu trennen: Der zu interpretierende Text muss in sinnvoller Weise gedeutet werden können; die philosophisch reflektierte Theologie muss sich an Aussagen der Heiligen Schrift messen und korrigieren lassen. Dieser dynamische und insofern offene, aber nicht aporetische Prozess des wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins von Exegese und philosophischer Durchdringung ist wesensbestimmend für De Genesi ad litteram.1020 Ein (post-) moderner Leser, welcher diese Methode kritisieren möchte, sollte der Fairness halber Augustins Vorgehen präzise prüfen: Denn es konnte im Durchgang der zwölf Bücher immer wieder gezeigt werden, dass der Kirchenvater sehr genaue Detailbeobachtungen am Text vornimmt und diesen nicht einfach philosophische Überlegungen vorordnet. Dies betrifft nicht nur die beiden augenfälligsten Probleme, welche die Genesis aufwirft (Licht vs. Gestirne, das Zueinander von Gen 1 und 2) und die, als exegetische Herausforderungen ernst genommen, mit Hilfe platonischer Philosophie stimmigen Interpretationsvorschlägen zugeführt werden konnten. Es betrifft z. B. auch das Fehlen der charakteristischen Schöpfungsworte „Und es wurde/geschah so“ in Gen 1, 1: Himmel und Erde werden scheinbar ‚einfach geschaffen‘. Dem Text im Sinne eines close reading eng folgend,1021 konstatiert Augustinus nicht nur, dass diese Schöpfungsworte hier noch nicht vorliegen, sondern er fragt in der für ihn typischen Kritik nach einem Grund für dieses Fehlen: Da „Himmel“ letztlich als Inbegriff der geistigen Schöpfung erwiesen werden kann, zugleich aber für das primäre Licht (Gen 1, 3) genau derselbe Referenzpunkt der rein geistigen Geschöpfe (Engel) infrage kommt,1022 stellt sich das Problem, wie die Verse 1 und 3 sinnvoll aufeinander bezogen werden können, zumal die Schöpfungsworte „Und es wurde“ in Vers 3 auf die Erschaffung des Lichts hin dann folgen. Der Kirchenvater führt auch diese exegetische Herausforderung einem in sich stimmigen Lösungsvorschlag zu: Vers 3 markiert die Rückwendung des in Vers 1 erschaffenen Himmels zum Schöpfer, da die Schöpfung ingesamt nicht einfach äußerlich ‚gesetzt‘ oder ‚produziert‘ wird, sondern im Sinne einer lebendigen Seinskonstitution auf ihren Schöpfer hingewendet bleiben muss. Gerade am Anfang der Genesis 1020 Zur Diskussion darüber, ob Gn. litt. als „aporetisch“ gelten könne, s. o. Anm. 42. 1021 Explizit wird Augustins Methode als close reading von Greene-McCreight (1999: 72) sowie Pollmann (2010: 78) bezeichnet, welche dies andernorts (2007: 206) jedoch abmildert. 1022 S. o. Kap. 3-4.
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werden solche Details gemäß Augustinus also besonders genau vor Augen gestellt, obwohl der Sache nach diese intelligible Seinskonstitution, wie gesagt, überzeitlich zu begreifen ist und sie mehrere Aspekte wie Hervorbringung durch und Rückwendung zu Gott impliziert.1023 Auch hier gilt: Der Kirchenvater glättet nicht die Schwierigkeiten des Textes, sondern will sie geistig durchdringen und einer Lösung zuführen; dafür findet er sachlich passend erscheinende Anregungen in der neuplatonischen Philosophie, welche die drei Aspekte „Verharren – Hervorgang – Rückwendung/Bekehrung“ kennt. Genau betrachtet, wird auch hier nicht ‚unrechtmäßigerweise‘ platonisches Denken in den biblischen Text importiert, denn: Das Fehlen der Schöpfungsworte in Gen 1, 1 ist ja offensichtlich nicht durch platonische Philosophie verursacht, sondern ein Charakteristikum des Textes in seiner vorliegenden Gestalt. Der Text wird somit ernst genommen, seine exegetischen Probleme werden durch intensives Nachdenken aufgehellt; dafür bietet die platonische Philosophie geeignete Anknüpfungspunkte. Dem biblischen Text ist sie nicht fremder als ein modernes Denken auf der Basis kantianisch motivierter historischer Kritik;1024 die platonische Philosophie erweist sich sogar als kritischer, da sie den Fokus auf theologische Sachfragen in ihrer inhaltlichen, argumentativ durchdringbaren Bestimmtheit lenkt und nicht bei einer spekulativen Imagination über äußerliche Entstehungsbedingungen biblischer Texte stehen bleibt und die spezifisch-theologisch virulenten Fragen nach Gott und Schöpfung als vermeintlich ‚voraufgeklärt‘ ausklammert. b) Zum Werkcharakter und Aufbau von De Genesi ad litteram Die hier vorliegende Untersuchung hat absichtlich das inhaltliche Anliegen Augustins in De Genesi ad litteram in den Vordergrund gestellt, also die konkrete Exegese der ersten drei Kapitel der Genesis und der damit verbundenen philosophisch-theologischen Sachfragen. Trotzdem darf nach dem Durchgang durch die zwölf Bücher des Werks ein Blick auf dessen Werkcharakter und Struktur nicht fehlen. Zuallererst ist allgemein festzustellen, dass De Genesi ad litteram weder in philologischer noch theologischer Hinsicht ein Kommentar im modernen Sinne ist,1025 dies auch weder sein will noch muss. Wie eben schon rekapituliert wurde, fügen sich die zwölf Bücher ebenso wenig in die Kategorien strikt separierter Fächer moderner Theologie ein: Die Trennung von Exegese und systematischer Theologie ist Augustinus fremd; aber nicht nur sie, sondern auch diejenige von Theologie und Philosophie: Es gehört für den Kirchenvater einfach dazu, wenn es die Sache erfordert, z. B. einen 1023 S. o. Kap. 4 und 6. 1024 S. o. Anm. 16. 1025 S. ferner Catapano/Moro (2018: 337).
Zum Werkcharakter und Aufbau von De Genesi ad litteram
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mathematisch-zahltheoretischen Exkurs über die Vollkommenheit der Zahl ‚sechs‘ in seine Genesis-Exegese zu integrieren.1026 D. h., auch der Philosophie-Begriff enthält, wie es platonischer Tradition entspricht, selbstverständlich die mathematischen Disziplinen.1027 Insofern verlangt De Genesi ad litteram seinen Lesern eine gewisse Offenheit und Interdisziplinarität ab. Auch dieser Umstand sollte zur Vorsicht gegenüber vermeintlich apodiktischen Klassifizierungen wie ‚voraufgeklärt‘, ‚abgehoben‘ und dergleichen mahnen: Eine gewisse postmoderne Neigung, das, was man nicht sofort und auf Anhieb versteht, einerseits als ‚abgehoben‘ zu klassifizieren und andererseits genau damit implizit zu suggerieren, dass man sich deshalb damit auch gar nicht eingehender beschäftigen müsse, weil es ja als ‚abgehoben‘ und zugleich ‚voraufgeklärt‘ gilt, ist in sich irrational und unwissenschaftlich und mit dem inneren Duktus von De Genesi ad litteram inkompatibel. Der Aufbau dieses Werks in zwölf Büchern wirkt auf den ersten Blick bzw. für den Erstleser unstrukturiert: Während Buch XI etwa das gesamte Kapitel Gen 3 in einem gewissen Schnelldurchlauf erörtert und noch dazu von zwei Büchern umgeben ist, welche sich jeweils systematischen Sachfragen und gar nicht dem Genesis-Text widmen (Buch X: Seelentheorie; Buch XII Visionen und Erkenntnistheorie), befassen sich einige der mittleren Bücher nur mit einem einzigen Vers (!) aus dem Genesis-Buch. Diese sperrig wirkende Eigenart des Werks entspricht jedoch der Offenheit und auch einer gewissen Spontaneität, mit welcher Augustinus die ersten Kapitel der christlichen Bibel allen seinen Fragen verschiedenster Couleur unterzieht. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass De Genesi ad litteram gleichsam die offene Diskussion über biblische Texte und Themen strukturell spiegelt. D. h., die moderne Erwartung, ein von Augustinus ‚sauber‘ gegliedertes Werk lesen zu wollen, wird in gewisser Weise enttäuscht: Dies betrifft jedoch nur die formale Struktur, nicht die inhaltliche Kohärenz des Werks. Wie oben schon erörtert, lässt sich mit Andreas Kablitz aus guten Gründen die innere Kohärenz als Erwartungshorizont an ein literarisches Werk stellen; sie kann entweder durch bestimmte Strukturelemente oder durch inhaltliche Bezüge erfüllt oder eben auch enttäuscht werden – als Kriterium für einen im weitesten Sinn literarisch wertvollen Text erscheint diese Erwartung nahezu unterhintergehbar.1028 Augustinus ist offensichtlich kein Strukturalist – die Einheit seiner Werke definiert sich immer von deren Inhalt her. Mit Dorothea Weber (2007: 278) lässt sich indes hinter der „scheinbar unstrukturierte[n] Abfolge“ der Bücher doch eine „verdeckt[e] […] thematische Ordnung“ erblicken:
1026 S. o. Kap. 15. 1027 Hier ist an die gemäß Platon der Beschäftigung mit der spezifischen, höheren Philosophie vorgeordneten trivialen und quadrivialen Disziplinen zu erinnern. 1028 S. o. Kap. 42a mit Anm. 960.
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Die Bücher 1–10 beschäftigen sich mit Gottes Schöpfung auf der Grundlage von Gen 1, 1–2, 24, wobei Buch 5 mit ausführlichen Erörterungen der Simultanschöpfung den nach Tagen gegliederten ersten Schöpfungsbericht und Buch 10 mit der Darlegung der Entstehung von Evas Seele den zweiten Schöpfungsbericht abschließt, der seinerseits Augustin als Ausgestaltung des ersten gilt. Gn. litt. 11f behandeln das Tun der Menschen und seine Folgen: Buch 11 den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies laut Gen 2, 25–3, 24 und Buch 12 Paulus’ Entrückung in den dritten Himmel (vgl. 2 Kor 12, 2–4) und unterschiedliche Arten von Visionen – diese erste ausführliche christliche Mystik […] stellt somit die Möglichkeiten des Menschen nach dem Sündenfall dar, zu Lebzeiten (wenn auch nur für kurze Zeit) ins Paradies zurückzukehren.1029
c) Resümee: De Genesi ad litteram als exegetisch-hermeneutische Alternative zu vorherrschenden Modellen in der Bibelauslegung (historisch-kritische Methode, metaphorisierende Auslegungen) im Kontext des Fiat lux De Genesi ad litteram hat eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet, die genauer aufzuarbeiten erst in jüngerer Zeit begonnen wurde.1030 In „eklatantem Gegensatz“ zu seiner „signifikanten Rezeption“ steht jedoch, dass es sich bei den zwölf Büchern von Augustins literaler Genesis-Exegese um „eines seiner am wenigsten erforschten Hauptwerke“ handelt.1031 Dieses große Werk von seinem inneren Zusammenhang her in den Blick zu nehmen, war das Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung. Sicher ist Vorsicht geboten, eine spätantike Hermeneutik und eine ihr entsprechende Exegese gleichsam allzu schnell ‚anzupreisen‘. Einem solchen, unkritischen Vorgehen wollen die vorausgegangenen sowie die jetzt abschließenden Bemerkungen nicht das Wort reden. Denn methodisch lässt sich von De Genesi ad litteram zuallererst lernen – und dies dürfte konsensfähig sein –, dass ein Exeget in sinnvoller Weise Fragen stellen können,1032 also verschiedenste Deutungsmöglichkeiten immer und immer wie-
1029 Weitere Gliederungsvorschläge der Forschung (jedoch nicht den oben zitierten), die der Struktur von Gn. litt. m. E. weniger gerecht werden, diskutieren Catapano/Moro (2018: 341–2). Eine knappe und zugleich prägnante Zusammenfassung von Gn. litt. gibt Pollmann (2009a: 315). Jakobi (2008) verteidigt die Werkeinheit von Gn. litt. inklusive der Bücher X und XII „als eingeschaltete quaestiones mit Exkurs-Charakter“ in Entsprechung zu Quintilian, inst. X und XII, zumal auch andere Kirchenväter sich erwiesenermaßen in der Disposition eines Werkes nach der Institutio oratoria gerichtet hätten (ibd., 52–53). 1030 S. dazu Pollmann (2009b) sowie Keskiaho (2016) zu spätantiken Gn. litt.-Annotationen. 1031 Pollmann (2009b: 19). 1032 Vgl. MacCormack (2008: 10).
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der durchzuspielen bereit sein muss: Genau dies tut Augustinus – unter dem ebenso oft wiederholten expliziten Verweis darauf, dass andere Exegeten vielleicht weiter und tiefer sehen mögen als er selbst; im Rückblick auf De Genesi ad litteram spricht er bekanntlich sogar davon, dass in diesem Werk „mehr Fragen als Antworten“ zu finden seien.1033 Dies betrifft sogar solche exegetischen Resultate, welche sich aus seiner Perspektive als eigentlich sicher betrachten lassen, wie z. B. das Ergebnis, dass das zuerst erschaffene Licht kein körperliches sein kann: Sollte jemand indes in der Lage sein, eine solche Interpretation sinnvoll zu begründen, dann wäre das Problem gleichsam ‚neu aufzurollen‘.1034 Trotz dieser fragenden, offenen und daher elastisch-dynamischen Methode bedeutet dies m. E. nicht, dass De Genesi ad litteram ein „aporetischer“ Text ist:1035 Im signifikanten Unterschied zu postmodernen Denkansätzen sind die Fragen für den Kirchenvater nicht deshalb von vordringlicher Wichtigkeit, weil die Aussicht, Antworten zu finden, als kategorisch unmöglich oder fragwürdig bzw. ‚unaufgeklärt‘ zu gelten habe. Fragen verfolgen bei ihm keinen Selbstzweck, sind nicht selbst schon der Erweis von Aufgeklärtheit. Aufgeklärt ist eine Hermeneutik in Augustins Verständnis dann, wenn sie auf einem schlüssigen, rational abgesicherten Fundament fußt. Philosophische Theologie steht für den Kirchenvater deshalb nicht im Gegensatz zur Exegese, weil jene überhaupt erst das Feld eröffnet, auf welchem sinnvolle Fragen an einen Text gestellt werden können: Nur weil Augustinus begründeterweise überzeugt ist, dass ‚die‘ Wirklichkeit nicht dasselbe wie die sinnlich-wahrnehmbare Realität (ge-)schichtlicher Ereignishaftigkeit ist, rechnet er mit einer eigenen Wirklichkeit des Geistes. Nur weil diese also nicht ausgeklammert ist – und zwar aus wissenschaftlichen Gründen, nicht aus unkritischer Fantasterei –, eröffnet sich ein sehr viel umfassenderes Bild von Wirklichkeit, in welchem Seele, Geist und schließlich Engeln und Gott sinnvollerweise ein ‚Platz‘ zuerkannt werden kann. Wer umgekehrt aufgrund bestimmter hermeneutischer Basisannahmen in seinem Weltbild für die Wirklichkeit des Geistes keinen systematischen Ort mehr findet, wird zwangsläufig (sogar unabhängig von spezifischen religiösen Kontexten) gegenüber jedem theologischen Text, insofern er literal (!) von Gott bzw. göttlichen Wesen handelt, in Skepsis und Aporie verharren bzw. sich in bloße ‚Kulturhermeneutik‘ oder eine lediglich ‚metaphorisierende Theologie‘ flüchten, weil als Referenzpunkt theologischer Aussagen eben nur noch die empirisch ‚auswertbare‘, naturwissenschaftliche Realität infrage kommt. (Dies betrifft z. B. auch die Substitution von Theologie durch Anthropologie: Göttliches soll als Referenzpunkt auf Menschliches verweisen, sonst erscheint sie nicht mehr aufgeklärt.) Solche Entwicklungen sind im Grunde vielleicht nur die Kehrseite der Medaille der historisch-kritischen Methode: Wenn aufgrund einer geschichtlichen Verortung, wie 1033 Retr. I, 18; II, 24, 1 (vgl. Pollmann 2008: 211). 1034 S. o. Kap. 8 und 17. 1035 Hier kann ich Karla Pollmann nicht vollständig zustimmen (s. o. Kap. 3 mit Anm. 42).
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sie besonders für das Christentum spätestens mit dem Auftreten des Menschen Jesus Christus von entscheidender Bedeutung ist, ein historischer Referenzpunkt der Theologie unabdingbar ist, dieser aber aufgrund einer von der Aufklärung herkommenden Wirklichkeitsauffassung auf der Basis einer inzwischen als überholt gelten müssenden Naturwissenschaft1036 immer weniger wissenschaftlich einholbar erscheint, dann gerät eine solche Methode letztlich in einen direkten Gegensatz zum Inhalt der Texte, welche sie doch zu erschließen sucht.1037 Dies liegt, genau genommen, weder an den biblischen Texten selbst noch an ihren theologischen Aussagen, sondern klarerweise an den Prämissen einer auf der klassischen Physik und ihren Grenzen der Wirklichkeitsbeschreibung fußenden Exegese und eines damit verbundenen Objektivitätsanspruchs,1038 welcher alles ‚Wundersame‘ genauso absurd erscheinen muss wie z. B. die String-Theorie der neueren Physik, denn auch diese schiene mit den Mitteln historischer Kritik nicht einholbar, also nicht real zu sein, obwohl sie in der physikalischen Wissenschaft rational entfaltet und entsprechend diskutiert wird. Ein Autor wie Augustinus vermag, wenn man ihn denn unbeschadet seines historischen Alters ernst zu nehmen und sozusagen aus dem ‚Käfig‘ historisch gewachsener Vorurteile zu ‚befreien‘ bereit ist, zumindest in weiten Teilen seiner Exegese, aber auch von seinen hermeneutischen Voraussetzungen her einen dritten, alternativen Weg zu weisen zwischen einer auf historische Ereignishaftigkeit fixierten Auslegungstradition einerseits und einer sich davon radikal zu emanzipieren trachtenden, literaturwissenschaftlich-fiktional orientierten, metaphorisierenden Theologie andererseits.1039 Trotzdem wird man nach wie vor Schwierigkeiten haben, z. B. die Erschaffung Evas aus Adams Rippe als ‚wahres Ereignis‘ ausgeben zu wollen: Aber dieses Problem sieht bereits der Kirchenvater und verweist nicht ohne Grund auf einen prophetischen Charakter dieser Stelle. Dies führt ihn jedoch nicht dazu, die Sinnhaftigkeit der Genesis als solche zu bezweifeln. Vielmehr sieht er in der Bildlichkeit der Erzählung einen Hinweis darauf, dass die Menschheit eine sei:1040 Mit Eva entsteht nicht eine neue ‚Menschheit‘, ein neues Mensch-Sein, sondern das passende menschliche Gegenüber Adams, d. h. die eine Menschheit wird zum Abbild Gottes als Mann und Frau erschaffen. Zudem bestehe in der Erschaffung Evas ohne leiblichen Zeugungsakt eine Analogie zur Menschwerdung Christi durch die Jungfrau Maria. Wesentlich ist für Augustinus vor
1036 S. o. Kap. 2. 1037 S. o. Kap. 1 zu Reiser (2007: 234). 1038 Vgl. Pollmann (2007: 204–5): „Crucially, the ancient methods differ from the modern historical-critical methods in that whereas their respective methodology is partly comparable, only the latter have the claim of a supra-individualistic objectivity and historicity in a quasi-scientific sense […].“ 1039 In diesem Sinne zeigt Augustins Exegese „much […] that is of interest to the modern exegete“ (Pollmann 2007: 205); der Kirchenvater betrachte die Bibel „as neither myth nor purely historical narrative“ (ibd., 210). 1040 S. o. Kap. 14 sowie Anm. 698.
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allem die Einsicht in die eidetische Begründung des Mensch-Seins als vernunftbegabtes und leibliches Wesen gemäß Gen 1, 27: Auf welchem Wege diese Wesensbestimmung des Menschen ihre erste materielle Verwirklichung findet – im Sinne der ersten Frau und des ersten Mannes –, mag nur bildlich dargestellt werden, wie es eben in Gen 2 erfolgt: Dabei verweist der Kirchenvater explizit darauf, dass die intelligiblen Seinsgründe (Gen 1, 27) nicht notwendigerweise so, wie es gemäß Gen 2 dann stattfindet, in materialer Hinsicht in Schlamm bzw. einer Rippe hätten realisiert werden müssen – Gott hätte den Menschen auch aus anderem ‚Material‘ formen können, wenn er gewollt hätte, und trotzdem wären Menschen ebenso Menschen gewesen.1041 Beim genauen Hinsehen wird also ein Text wie Gen 2 von Augustinus keineswegs fundamentalistisch überinterpretiert (‚So war es und kann nicht anders möglich gewesen sein!‘) – aber genauso wenig einfach in ‚aufgeklärter Nonchalance entsorgt‘. Es ist diese Mittigkeit zwischen philosophisch-rationaler Kritik und dem Ernstnehmen theologischer Texte, welche Augustins Exegese auszeichnet und als dritten Weg zwischen einer Fixiertheit auf historische Ereignisse und rein metaphorisierender Interpretationen erweist. Denn weder Gott selbst – als höchstes Geistwesen – noch das primäre Licht (der Engel) wird in Augustins Exegese zur Metapher,1042 auch nicht die philosophisch interpretierte Abbildhaftigkeit des Menschen. Lediglich die materiale Verwirklichung des Menschen, d. h. seines eidetischen Wesens, erscheint als solche kontingent. Dies aber entspricht dem platonischen, argumentativ begründeten Denken, dass Materie von sich selbst her immer das relativ Unbestimmte gegenüber ihrem eidetischen Formprinzip ist. Und es zeigt noch einmal: Auch für Augustinus liegt das Wesentliche im Geistig-Begreifbaren – sowohl aus philosophischer, das Wesen einer Sache einkreisender Perspektive wie auch von seiner literalen Exegese her. Der Vorteil literaler Exegese ist dabei offensichtlich: Sie bleibt im Sinne eines close reading1043 eng am philologischen Fundament und ‚driftet‘ nicht vorschnell ab zu ‚allegorischen Imaginationen‘ im Sinne mit dem Text unvereinbarer Assoziationen, wie dies durchaus auch für die (spät-)antike christliche Exegese zu beobachten ist.1044 Gerade ein sperriger Text, der sich einer allzu schnell ‚zupackenden‘, oberflächlichen Deutung widersetzt, kann, wie Augustinus zeigt, nach sorgfältiger Exegese in vielen Aspekten einer stimmigen Interpretation zugeführt werden, wenn dessen Aussage ergründet und das darin enthaltene Spezifisch-Begreifbare als etwas entweder rein Intelligibles oder als ein solches, das erst in seiner tatsächlichen Ereignishaftigkeit sinnvoll erscheint, erwie-
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S. o. Kap. 30, 20, 22 und 24. Vgl. Pollmann (2007: 210). S. o. Anm. 1021. Vgl. zu diesem Phänomen Morlet (2016); s. o. Anm. 622. „[…] a purely allegorical interpretation risks to eliminate the factual level of the text, as, for instance, the creation of the firmament“ (Pollmann 2017: 214). Hebb (2007: 368) verweist auf civ XVII, 3, wo Augustinus vorschnelle Allegorisierungen kritisiert.
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sen wird.1045 Ermöglichungsgrund historischer Faktizität ist das Intelligible, welches deshalb ‚nichts Nachträgliches‘, sondern vielmehr das Primäre schlechthin ist, wie allein schon aus der Vorordnung des überzeitlichen Sechstagewerks gegenüber der innerzeitlichen Entfaltung der Schöpfung erhellt. Nicht zuletzt geht es Augustinus in De Genesi ad litteram um den Übergang zwischen Gottes ewigem Sein, dem ersten, rein geistigen Geschöpf (Licht der Engel) und der materiellen Welt.1046 Eine ähnliche Mittigkeit zeigt z. B. auch seine Behandlung von ‚Himmel und Hölle‘: Der Kirchenvater spricht in De Genesi ad litteram nicht in naiver Weise von körperlichen, geographisch fixierbaren Orten, wo man – wie im Mythos – einfach ‚hinreisen‘ könnte.1047 Da er jedoch die spirituelle Dimension der Seele, welche aufgrund ihrer Imaginationsfähigkeit (z. B. schon im Traum) körperähnliche Bilder sieht, für nicht minder wirklich erachtet als die äußerlich-körperliche Realität, deshalb vermag er Himmel und Hölle als spirituelle ‚Orte‘ durchaus ernst zu nehmen im Sinne tatsächlicher seelischer Erfahrungen, die entweder durch Glückseligkeit oder durch leidvolle Qualen gekennzeichnet sind.1048 Dabei kommt hinzu, dass Augustinus – unter Rekurs auf Paulus – mit verschiedenen Himmeln rechnet.1049 Nicht zuletzt bietet Augustins Denken eine Alternative zum ‚entsubstantialisierten Turn‘ der Postmoderne. Dabei geht es nicht nur um ‚das Höchste‘, die Substanz Gottes: Es beginnt schon auf einer viel basaleren Ebene, wenn die Orientierung im Leben, der Lebenssinn abhanden kommt, weil beides vielleicht nur noch ironisiert werden darf in dem vermeintlichen, latent nostalgischen ‚Wissen‘, dass es ja keinen Sinn mehr gibt. Das Beharren auf einem „ironischen Weltverhältnis“1050 erscheint derzeit vielleicht sogar als härtestes Dogma der Postmoderne, gegen das zu verstoßen ein nicht immer 1045 In dieser Hinsicht ist Hebbs (2007: 369–370) Hinweis auf die Menschwerdung Gottes als Zentrum von Augustins Intelligibles und Ereignishaftes verbindender Exegese erhellend: „For Augustine, the key element in the Rule is the Word Incarnate in Jesus Christ whose role is the union of the intelligible and the finite. […] Augustine thus highlights the Incarnate Word, the union of the intelligible God and the sensible world, as the principle or standard according to which all Scripture must be interpreted. […] Thus the finite moments of the Incarnate Word became moments of the divine. The seemingly passing moments of the Incarnate Word, His speech and deeds, were understood to be wholly divine speech and deeds. […] If, as he believed, the Incarnation effected a previously impossible identification of the intelligible with the finite, then all of Scripture was, in principle, intelligible ad litteram.“ Hebbs Interpretation des Mensch gewordenen Gottes erinnert der Sache nach an Cusanus’ Auffassung eines unum maximum contractum im Sinne der maximalen Einung von Gott und Mensch in einem partikulären Wesen (vgl. Drews 2018: 440–1, 428, Anm. 1559). 1046 „His [sc. Augustine’s] approach manages an exegesis which moves flawlessly from the seemingly non-literal to the historical“ (Hebb 2007: 377). 1047 Vgl. die Darstellung der Reise des Orpheus in die Unterwelt in Ovids Metamorphosen und dazu Drews (2018c: 362). 1048 S. o. Kap. 41. 1049 S. o. Kap. 36 und 40–41. 1050 Vgl. dazu kritisch Spaemann (2012: 31), dass aus einem „ironischen Weltverhältnis“, d. h. aus der „Setzung der ‚Welt‘ in Anführungszeichen“ eine „Tyrannei des Relativismus“ folge.
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ungefährliches Risiko darstellt. Augustinus, aber auch uns historisch noch nicht allzu fern stehende Menschen wie z. B. eine Sophie Scholl1051 würden diesen Sinn allerdings auch nicht unkritisch in der Verabsolutierung äußerer Güter suchen, die immer der Vergänglichkeit unterliegen; insofern gibt es innerhalb der materiellen Welt tatsächlich nur begrenzt Sinn und Orientierung. Letztere müssen – wie Sophie in ihren Tagebüchern zeigt1052 – vielmehr geistig erfasst und erarbeitet werden, da sie selbst etwas Geistiges sind und von der Wirklichkeit des Geistes herkommen: Dieses ‚Herkommen‘ ist dabei aus Augustins christlicher Perspektive sogar prägnant zu verstehen, da das Prinzip des Seins und Sinns, der göttliche Logos, nach christlichem Verständnis in dem Gott-Menschen Jesus Christus sogar den Weg in diese Welt gesucht hat – nichts anderes steht hinter dem liturgischen Begriff ‚Advent‘. In hermeneutischer Sicht wird die bleibende Bedeutung Augustins nicht zuletzt auch darin ersichtlich, dass eine intellektiv-geistige Auslegung biblischer Texte immer möglich, also immer aktualisierbar sei.1053 Der Kirchenvater bleibt nicht bei einem literalen Verständnis stehen – unabhängig davon, ob dieses in der Ereignishaftigkeit oder im Sinne eines geistig-literalen Sachgehalts (wie des primären Lichts vor allen Gestirnen) verortet wird: Unbeschadet dessen ist eine figürlich-allegorische Auslegung immer möglich, wie er selbst am Ende seiner Confessiones in exegetischer Praxis (an Origenes anschließend) ausführt.1054 Auch die literale Exegese selbst bleibt nicht auf das Kriterium historischen Geschehenseins beschränkt: Vielmehr erfährt die Narration eine Aufwertung, wenn es nicht nur um Anschaulichkeit im Sinne bloßer enargeia als Selbstzweck geht, sondern um das Entfalten intelligibler, nicht-bildlicher Sachgehalte in die Bildlichkeit und somit in die leichtere Nachvollziehbarkeit. Aus den beiden Gründen der intelligiblen Sachhaltigkeit wie der narrativen Technik biblischer Texte ergibt sich so, dass ein ausschließlich an äußerlichen Ereignissen interessierter historistischer Ansatz aus Augustins Perspektive letztlich Gefahr läuft, am biblischen Text vorbeizuzielen. Diesem Befund zuzustimmen wird sich niemand genötigt sehen, der dies für unplausibel hält. Es gehört jedoch zur Perspektive, wie sie in De Genesi ad litteram entworfen ist, dazu, diese hermeneutische Alternative herauszustellen und, so man dies denn möchte, sie zumindest zu erwägen. Denn methodisch bleibt noch einmal festzuhalten: De Genesi ad litteram muss nicht literal im modernen Sinne sein.1055 Es handelt sich zweifellos um einen starken, „universell“ orientierten Versuch,1056 den 1051 Zu Sophie Scholl und Augustinus s. Drews (2011b, 2013b). 1052 S. Drews (2011b: 152). 1053 S. o. Kap. 2. Bemerkenswert ist Pollmanns (2007: 211) Urteil: Für Augustinus „Scripture is an active force and not an inert collection of data for the interpreter to shape at will.“ 1054 Vgl. Pollmann (2007: 208–9). 1055 „[…] due to the specific quality of the narrative of the first chapters of Genesis that tell about something happening for the first time, the truest ‚literal‘ sense is sometimes the spiritual one“ (Pollmann 2007: 209). Vgl. ferner Hebb (2007: 376–8). 1056 Vgl.: „[…] the wide and ambitious universal intention of Gn.litt.“ (Pollmann 2007: 213).
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biblischen Text – in einer bestimmten lateinischen Gestalt – zu erhellen und ihm einen stimmigen Sinn abzuringen, welcher nicht nur das Ganze der ersten drei Genesis-Kapitel berührt, sondern vor dem Hintergrund einer Zusammenschau der christlichen Bibel sowie vor dem Kriterium philosophischer Rationalität zu bestehen hat. Augustinus geht es darum, Licht entweder in den biblischen Text hinein- oder (vorzugsweise) aus diesem herauszutragen. Dafür gibt nach seinem Verständnis in besonderer Weise Gen 1 ein konkretes Beispiel: Das Sechstagewerk, in welchem die intelligiblen, eidetisch-geistigen Seinsgründe der Schöpfung erschaffen werden, vollzieht sich gemäß dem Kirchenvater im primären Licht, d. h. in der Erkenntnis der Engel, welche genau dieses Licht sind.1057 In seiner Exegese versucht der Kirchenvater, diesen Erkenntnisprozess nachzuahmen; seine Hermeneutik liefert dafür die notwendigen philosophischen Voraussetzungen: Insofern sind Augustins Hermeneutik und Exegese zentriert im Fiat lux des sich genau darin prinzipiell-primär auswortenden Schöpfungslogos Gottes selbst (Gen 1, 3). „Das Licht ist wahrscheinlich auch das Wichtigste. Das Interessante daran ist, dass das Licht wahrscheinlich ewig ist. Für uns ist das etwas, was stillzustehen scheint, und gleichzeitig ist es Leben, es ist Bewegung“ (Arvo Pärt).1058
1057 S. o. Kap. 17. Vgl. auch die zum Licht der Engel bei Augustinus grundsätzlich ähnliche Entsprechung in der Beschreibung des himmlischen Jerusalem am Ende der Offenbarung des Johannes: Dort benötigt die Stadt weder „der Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihr Leuchter ist das Lamm“ (Off 21, 23). 1058 Zitiert nach einer Aussage Pärts in dem Dokumentarfilm Das verlorene Paradies von Günter Atteln, WDR, accentus music, Deutschland 2015.
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Augustins „Über den Literalsinn der Genesis“ stellt inhaltlich und metho disch nicht nur für Spezialisten, sondern auch für ein breiteres Publikum eine reizvolle Lektüre dar: Warum ist am An fang der Bibel von der Erschaffung eines Lichts die Rede, wo die Gestirne doch erst später hervorgebracht wer den? Wieso sind zwei verschiedene Schöpfungserzählungen nebeneinander gestellt? Welche Rolle kommt dem narrativen Charakter der Texte zu? Auf der Suche nach möglichen Lösungs ansätzen entwickelt der Kirchenvater eine methodisch offene, plurale Herme neutik, die auch heute in allgemeiner Hinsicht eine literatur und geistes
ISBN 978-3-515-13110-0
9 783515 131100
wissenschaftliche Alternative für die Textinterpretation darstellt, weil sie in enger Rückbindung an den zu inter pretierenden Text ein breiteres Konzept von ‚Literalsinn‘ eröffnet, in welches ein spezifischgeistiges Verständnis inte grierbar erscheint. Dabei bleibt seine Exegese konkret, muss rationalen Über prüfungen anhand von philosophisch und naturwissenschaftlich abgesicherten Argumenten standhalten und ist inso fern als kritisch reflektiert zu bezeichnen. Literaturwissenschaft, Theologie, Er kenntnistheorie und Naturphilosophie treten in einen fruchtbaren Dialog mit einander, der weitergedacht und fort geführt werden kann und sollte.
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