Hermeneutik Der Fruhchristlichen Wundererzahlungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven 3161524659, 9783161524653

Der vorliegende Sammelband zur Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen bündelt den aktuellen Forschungsstand

216 31 7MB

German Pages 600 [729] Year 2014

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Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Grundfragen
Bernd Kollmann: Von der Rehabilitierung mythischen Denkens und der Wiederentdeckung Jesu als Wundertäter. Meilensteine der Wunderdebatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart
1. Das vermeintliche Ende der Wunderdebatte
2. Etappen der neuzeitlichen Wunderhermeneutik
2.1. Brüchigkeit supranaturalistischen Denkens im Licht der Aufklärung
2.2. Rationalistische Deutungsmuster
2.3. Die mythologische und kerygmatische Deutung der Wunder
2.4. Gegenentwürfe zum kerygmatisch-existenzialen Ansatz
2.5. Respektierung des andersartigen Wirklichkeitsverständnisses der antiken Texte
2.6. „Gestörte Lektüre“ aus der Disablility-Perspektive
3. Die Wiederentdeckung des Wundertäters Jesus
3.1. Jesus als Wunderprophet
3.2. Jesus als Chasid
3.3. Jesus als Schamane
3.4. Jesus als Volksheiler und „Transformer“
3.5. Jesus als Magier
4. Fazit und Ausblick
Ruben Zimmermann: Von der Wut des Wunderverstehens. Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen
1. Die Erklärungswut der Forschung und der Entzug der Texte
2. Von der Unmöglichkeit des Verstehens im Horizont der Anti- und Posthermeneutik
3. Wundererzählungen im Grenzgebiet des Verstehbaren oder: von der Kunst, den Finger in der Wunde zu halten
4. Und dennoch: Chancen des Verstehens im dreiperspektivischen Feld
Epilog: Das ästhetische Feld der Hermeneutik
Craig S. Keener: Miracle Reports: Perspectives, Analogies, Explanations
1. Scholarly consensus about Jesus’s miracles
2. Analogies and the distinctiveness of Jesus’s miracles
3. Eyewitnesses do offer miracle reports
4. Explaining miracle reports
5. Conclusion
Gerd Theißen: Wunder Jesu und urchristliche Wundergeschichten. Historische, psychologische und theologische Aspekte
1. Historische Aspekte: Die Frage nach der Geschichtlichkeit der Wunder Jesu
1.1 Kontextplausibilität der Wunderüberlieferung Jesu
1.2 Wirkungsplausibilität der Wunderüberlieferung Jesu
2. Psychologische Aspekte: Die zerstörerische Macht des Traumas und die heilende Kraft des Glaubens
2.1 Exorzismen
2.2 Therapien
2.3 Deutungen
3. Theologische Aspekte: Die Wunder Jesu als anti-selektionistische Zeichen einer neuen Welt
II. Geschichtliche Perspektiven
Axel Graupner: Wunder über Wunder: Israels Führung durch die Wüste Exodus 15,22–18,27. Eine Skizze
1. Israels Führung durch die Wüste als Thema des Pentateuch
1.1 Gegenwärtiger Zusammenhang, Eigenart, Alter und Herkunft der Überlieferung
1.2 Mose
1.3 Das Murrmotiv
2. Mara und Elim Ex 15,22–27
2.1. Ex 15,22–25a
2.2. Ex 15,25b.26
2.3. Ex 15,27
3. Ex 16,1–36
4. Ex 17,1–7
5. Ex 17,8–16
6. Ex 18,1–27
7. Ein kurzes Fazit
Detlev Dormeyer: Wundergeschichten in der hellenistischen Medizin und Geschichtsschreibung. Eine religionsgeschichtliche Annäherung
Einleitung: Problemstand
1. Wundergeschichten in der hellenistischen Medizin
1.1 Struktur
1.2 Asklepieien, archäologische Artefakte, medizinisches und theologisches Verständnis von Krankheit und Heilung
1.3 Untergattungen
1.4 Hermeneutik
1.4.1 Das wilde Denken im Strukturalismus und in der Ethnomethodologie
1.4.2 Wundergeschichten als symbolische Handlungen mit sozialer, religiöser und existentialer Funktion: Magie, Dämonologie und gesellschaftlich anerkannte Wundertäter
2. Wundergeschichten in der Geschichtsschreibung
3. Fiktionalität und Faktualität von antiken und biblischen Wundergeschichten
4. Göttliche Vollmacht für Wundertäter
5. Ergebnis
Manfred Clauss: Wunder und Kaiserkult
I
II
III
Erkki Koskenniemi: Apollonius of Tyana, the Greek Miracle Workers in the Time of Jesus and the New Testament
Apollonius and Philostratus
Apollonius as a divine man (θεῖος ἀνὴρ)
Other Greek Miracle Workers
Old Testament Miracle Workers
Historical Jewish Miracle Workers
Conclusion
Eric Eve: Jesus’ Miracles in their Historical and Cultural Context
1. Introduction
2. Miracles and Demonology in Second Temple Judaism
3. Miracle and Messianic Expectations
4. Miracle, Memory and Oral Tradition
5. The Historical Jesus as Healer and Exorcist
6. The Role of Healings and Exorcisms in Jesus’ Ministry
Graham H. Twelftree: Exorcism in Early Christianity
1. Exorcism and Exorcists
1.1 Magical exorcisms
1.2 Charismatic magicians
1.3 Exorcism by charismatics
2. The first followers of Jesus
3. Paul, his competitors and his churches
4. Mark
5. Luke
6. Matthew
7. 1 Peter, Hebrews and James
8. Johannine literature
9. The early second century
10. Mid-Second Century Rome
11. Conclusions
Reinhard von Bendemann: Elementar feurige Hitze. Zur Krankheitshermeneutik frühjüdischer, hellenistisch-römischer und frühchristlicher Fieberheilungen
1. Jenseits des Messbaren – Das hermeneutische Problem des „Fiebers“
2. Lebensbedrohliche Hitzigkeit – Zu Ansätzen antik-jüdischer „Fieber“-Interpretationen und zum Problem der dämonologischen Pyretologie
3. Animalische Wärme und Hitze contra naturam – Zur medizinischen Konzeptualisierung der „Fieber“ in der griechischen und römischen Literatur
3.1 Qualitative und elementare Wärme – Zu den Grundlagen und Anfängen griechischer Pyretologie
3.2 Die Rezeption griechischer und römischer Fieber-Nosologien im Werk des Galen von Pergamon
3.3 Fieber als Gegenstand religiöser Deutungen und „magischer“ Behandlung
4. Zur Fieberhermeneutik in frühchristlichen Therapieerzählungen
4.1 Das Fieber der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31par.)
4.2 „Leben“ für den Sohn des „Königlichen“ (Joh 4,46–54)
4.3 Die Heilung des Vaters des „Ersten“ der Insel (Apg 28,7f.)
5. Die Zeit des Krankseins – Schluss und Ausblick
Pieter F. Craffert: What Actually Happened? Miracle Stories in Anthropological Historical Perspective
1. Jesus’ miracles: establishing the historicity of “the events concerned”
2. Anthropological historiography: beyond “did it actually/really happen?” to “what actually/really happened?”
3. Defining miracles, the supernatural and extraordinary events
4. What are the miracles stories evidence for?
4.1 Reports about miraculous events attributed to Jesus’ life
4.2 Healing stories as ordinary miracles performed by Jesus
4.3 Extraordinary (nature) miracles
5. Concluding remarks
Marco Frenschkowski: Antike kritische und skeptische Stimmen zum Wunderglauben als Dialogpartner des frühen Christentums
1. Einführung
2. Ungebrochener, „naiver“ Wunderglaube
3. Massiver Wunderglaube mit Elementen der Skepsis
4. Systemhaft-reflektierter Wunderglaube mit apologetisch-rationalen Argumenten
5. Spontane Wunderskepsis nicht-grundsätzlicher Art
6. Systemhafte Kritik oder Skepsis gegenüber Wundervorstellungen
7. Aggressive Kritik an einzelnen Wunderkomplexen
8. Weitere Aspekte von Wunderkritik im antiken Denken
9. Abschließende Bemerkungen
III. Literarische Perspektiven
Ruben Zimmermann: Gattung „Wundererzählung“. Eine literaturwissenschaftliche Definition
1. Bestreitung der Gattung „Wundererzählung“in der neutestamentlichen Forschung
2. Gattungstheoretische Grundlegungen: Gattungen als faits normatifs und die Möglichkeit der Gattungsdefinition
2.1. Gibt es Gattungen?
2.2. Wie lassen sich Gattungen definieren?
2.3. Fazit und Applikation auf den Gegenstand „Wundererzählung“
3. Die dynamische Definition der Gattung „Wundererzählung“
3.1. Narration: Eine Wundergeschichte ist eine mehrgliedrige Erzählung, die in faktualer Erzählweise präsentiert wird.
Was ist eine „faktuale“ Erzählung?
Was heißt „mehrgliedrige“ Erzählung?
3.2. Handlungsfigur und Handlung: Ein Wundertäter vollzieht eine konkrete Handlung an Menschen, Sachen, Natur
3.3. Handlungsfolgen: Die Handlung löst eine sinnlich wahrnehmbare Veränderung aus, die aber unerklärbar ist und die übliche Ordnung bzw. Norm durchbricht.
3.4. Urheber – Deutung: Das Einwirken Gottes bzw. göttlicher Kraft wird direkt oder indirekt als Urheber, Grund der Veränderung benannt; die Unerklärbarkeit wird damit mit einem spezifischen Deutungsangebot verbunden.
3.5. Wirkungsästhetik: Die Erzählung hat eine spezifische Wirkung auf den Rezipienten, sie wirkt irritierend, kognitiv erschließend, pistisch motivierend und ethisch appellativ
Susanne Luther: Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion? Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren in frühchristlichen Wundererzählungen – eine Problemanzeige
1. Faktualität oder Fiktionalität, Authentizität oder Lüge – oder Authentizitätsfiktion?
2. Fiktionalität und literarische Strategien zur Konstruktion von Authentizität in Erzähltexten
3. Wirklichkeitsindikatoren und Strategien zur Konstruktion von Authentizität in neutestamentlichen Wundererzählungen
3.1. Kanonische Wundererzählungen: Lk 7,11–17
3.2. Apokryphe Wundererzählungen: ActThom 31–33
4. Ergebnisse
Michael Labahn: Wunder verändern die Welt. Überlegungen zum sinnkonstruierenden Charakter von Wunder-erzählungen am Beispiel der so genannten „Geschenkwunder“
1. Vorbemerkungen
2. Die Gestaltung eines besseren Jetzt und eines hoffnungsfrohen Morgen durch die Erzählung von „Geschenkwundern“
2.1. Was es bedeutet, endlich satt zu sein – die neutestamentlichen Massenspeisungen
2.1.1. Worten folgen Taten. Überlegungen zu den synoptischen Speisungsberichten
2.1.2. Brot zum Leben – heute und morgen (Joh 6,1–15)
2.2 Wein bis zum Abwinken – das Erscheinen der Herrlichkeit Jesu (Joh 2,1–11)
2.3. Der reiche Fischfang – das glückliche Ende der Plackerei (Lk 5,1–11; Joh 21,1–14)
3. Ergebnis
Wendy J. Cotter: The Function of the Outrageous Petitioner in Pre-Markan Miracle Anecdotes
1. Introduction: Miracle Story – A “Form” Known Only to Our Side of the Time Line
2. The Evaluation of the Encounter in Miracle Anecdotes outside the Gospel Framework and Redaction
2.1 Jesus Meets the Leper (Mk 1:40–42ab, 44acde)
2.1.1 The Synoptic Redaction of the Encounter
2.1.2 Conclusion
2.2 Jesus Meets the Father of the Demonized Boy (Mk 9:17acd, 18abc, 19–27)
2.2.1 The Synoptic Redaction of the Encounter
2.2.2 Conclusion
2.3 Jesus Meets Bartimaeus (Mk 10:46b–52ab)
2.3.1 The Synoptic Redaction of the Encounter
2.3.2 Conclusion
3. The “Form” of Pre-Markan “Anecdotes” as Character Revealing
Cornelis Bennema: Character Analysis and Miracle Stories in the Gospel of Mark
1. Introduction
2. The Markan Miracle Stories
3. Character Analysis and Miracle Stories
4. Three Case Studies
4.1. The Healing of Peter’s Mother-in-Law (1:29–31)
4.2. The Gerasene Demoniac (5:1–20)
4.3. The Healing of Bartimaeus (10:46–52)
5. Conclusion
Paul Borgman: Pattern and Purpose in John’s Gospel: the Seven Miracle Stories
1. Introduction: How Are We To Think About John In Terms of Character, Theme, and Action?
2. The Seven Sign-Tales: Characters Pointing To Representative Responses and Symbolic Meaning
2.1 First Sign-Story (2:1–11)
2.2 Second Sign-Story (4:46–54)
2.3 Third Sign-Story (5:2–18)
2.4 Fourth Sign-Story (6:1–14)
2.5 Fifth Sign-Story (6:15–21)
2.6 Sixth Sign-Story (9:1–43)
2.7 Seventh and Last Sign-Story (11:1–53)
3. Summary and Conclusion
Kristina Dronsch: In Wunder verstrickt: eine medio-theologische Pointe der Wundergeschichten im Markusevangelium
1. Der markinische Jesus als Bote Gottes im Markusevangelium
2. In die Macht der Wundergeschichten verstrickt
3. Das skripturale Evangelium als Bote des auferstandenen Jesus Christus, dem Sohn Gottes
Ruben Zimmermann: Phantastische Tatsachenberichte?! Wundererzählungen im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Phantastik
1. Die fruchtbare Doppelkonditionierung der Wundererzählungen
1.1. Die unvereinbare Spannung der Texte und ihre Lösungsversuche
1.2. Das Dilemma als kulturell dynamisierende Semiosphäre
2. Das „Wie“ der Darstellung und das „Was“ der Handlung
3. Zwischen Historiographie und Phantastik
3.1. Geschichtliches Erzählen: Fiktives im faktualen Redemodus
3.2. Phantastisches Erzählen: Realistisches im fiktionalen Redemodus
4. Wundererzählungen im Horizont des „Magischen Realismus“
Epilog
IV. Rezeptionsperspektiven
Christian Münch: Erzählung und Ereignis. Zur theologischen Deutung der Wundergeschichten
1. Die Problemstellung
2. Das Verständnis der Wunder in der Theologiegeschichte
3. Die Wundergeschichten als Erzählungen vom Wirken göttlicher Kraft in Jesus
4. Die Wundergeschichten als Erzählungen vergangener Ereignisse
5. Die Faktualität der Wundergeschichten als narratives Signal eines theologischen Anspruchs
Stefan Alkier: Das Kreuz mit den Wundern oder Wunder ohne Kreuz? Semiotische, exegetische und theologische Argumente wider die formgeschichtliche Verkürzung der Wunderforschung
1. Wunder hier und heute
2. Semiotische Einwände gegen die formgeschichtliche Minimierung des exegetischen Wunderdiskurses
3. Warum die Erzählung von Kain und Abel keine Wundergeschichte ist. Mindestanforderungen an eine Wunderdefinition
4. Wunder ohne Gott? Zur Besetzung der Rolle des Wundertäters in neutestamentlichen Wundergeschichten
5. Warum Gott und nicht Jesus das Brot vermehrt. Zur Notwendigkeit syntagmatischer Kontextualisierung
6. Wunder und Wirklichkeit – Semiotisch-kritische Perspektiven
7. Wunder und durchkreuzte Wirklichkeit – Friktionale Perspektiven der Staurologie
István Czachesz: How to Read Miracle Stories with Cognitive Theory. On Harry Potter, Magic, and Miracle
1. Mental Candy
2. Do Cultural Conventions Matter?
3. Magic and miracle
4. Conclusion
Susanne Luther: Die ethische Signifikanz der Wunder. Eine Relecture der Wundererzählungen der apokryphen Thomasakten unter ethischer Perspektive
1. Einführung
2. Die Wundererzählungen der Thomasakten unter ethischer Perspektive
2.1. Die Hand des Mundschenks (§ 6–9)
2.2. Der Tod des Bruders des Königs (§ 21f.)
2.3. Der junge Mann und der Drache (§ 30–33)
2.4. Das sprechende Eselsfüllen (§ 39–41)
2.5. Der vielgestaltige Dämon (§ 42–46)
2.6. Die verdorrten Hände des Mörders (§ 51f.)
2.7. Der wundertätige Mörder (§ 53f.)
2.8. Die schwarzen Dämonen (§ 62–65.75–77.80f.)
2.9. Die kooperativen Wildesel (§ 69–74.78f.)
2.10. Offene Türen und schlafende Wächter (§ 118–122)
2.11. Die Überschwemmung während der Folter (§ 140f.)
2.12. Der vielgestaltige und der unsichtbare junge Mann (§ 151–155)
2.13. Die Heilung durch Sekundärreliquien (§ 170)
2.14. Zusammenfassung
3. Die Ethik der Thomasakten
4. Hermeneutische Perspektiven
Eugen Drewermann: Tiefenpsychologische Hermeneutik von Wundererzählungen
1. Die Aufgabe
2. Probleme und Ziele
3. Lösungsansätze
3.1 Psychoneurotische und psychosomatische Symptome
3.2 Psychiatrische und psychotische Befunde
4. Hermeneutische Regeln und Hinweise
4.1 Die Wahrheit der Topik und Typik der Wundererzählungen
4.2 Die Allgemeinheit menschlicher Not in den Wundererzählungen
4.3 Der Gegensatz von Angst und Vertrauen als Parameter der Hermeneutik
4.4 Die psychosomatische Diagnostik der Angstzustände
4.5 Die Methode der Einfühlung sowie die Verdichtungs- und Vollständigkeitsregel
4.6 Die Symbolik der Umstände
4.7 Die symbolische Antwort des Heilungsvorgangs
4.8 Die Einheit von Gottfindung und Selbstfindung
5. Zwei Beispiele
5.1 Der Besessene von Gerasa (Mk 5,1-20)
5.2 Die Blindenheilung (Mk 8,22-26)
Ulrike Metternich: Wunderdeutungen in der Feministischen Theologie und Bibelwissenschaft
1. Die Anfänge – „befreit zum aufrechten Gang“
2. Heilungsgeschichten aus der Perspektive von Behinderung/Disability
3. Die Hermeneutik der Beziehung
4. Heilung als Empowerment
5. Auferstehung in den Heilungsgeschichten
6. Präsentische Eschatologie
7. Sozialgeschichtliche Hermeneutik
8. Resümee und Ausblick
Markus Schiefer: Ferrari Gestörte Lektüre. Dis/abilitykritische Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1–12
1. Problemstellung
1.1 Gestörte Heil(ung)serwartungen
1.2 Behinderung neu denken – Dis/ability Studies
1.3 Dis/abilitykritische Hermeneutik
2. Dis/abilitykritische Lektüre von Mk 2,1–12
2.1 Einführung: Die Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1–12)
2.2 Fragwürdige Gleichsetzung von Heil und Heilung
2.3 Der Mann, der nicht gehen kann (παραλυτικός)
3. Resümee
Reinhold Zwick: Die Wunder Jesu im Film. Grenzfall der Ästhetik und (film-)theologische Herausforderung
1. Hinführung
2. Wunder-Karikaturen
2.1 Überzeichnung und De-Semantisierung
2.2 Banalisierung
2.3 (Pseudo-)Rationalisierung
2.4 Zwischenbilanz
3. Pfade der Wunderinszenierung im Jesusfilm
3.1 Historisierung mit Faktizitätsanspruch
3.2 Historisierung mit Überhöhung
3.3 Rationalisierung und Entmythologisierung
3.4 Volksfrömmigkeit und ‚Zweite Naivität‘
3.4.1 Pier Paolo Pasolini
3.4.2 Mark Dornford-May
4. Fazit
Annike Reiß: Mit Kindern und Jugendlichen über Wunder theologisieren
1. Was meint ‚Theologisieren‘?
1.1 Theologisieren als Teil der Kinder- und Jugendtheologie
1.2 Theologisieren – Definitionen und Kennzeichen
2. Die Wunderthematik in religiösen Lehr- und Lernprozessen
2.1 Zugänge Heranwachsender zu Wundern
2.2 Ein Plädoyer für die Wunderthematik
2.3 Didaktische Inszenierungsmöglichkeiten
3. Wunder im Theologischen Gespräch – eine naheliegende Verbindung
3.1 Theologisieren über Wunder
3.2 Wunder im Theologischen Gespräch
3.3 Zusammenfassung
Autorenverzeichnis
Stellenregister
I. Altes Testament
II. Alttestamentliche Apokryphen und Pseudepigraphen
III. Qumranschriften
IV. Jüdisch-hellenistische Literatur
V. Griechisch-römische Autoren
VII. Inschriften und Papyri
VIII. Neues Testament
IX. Neutestamentliche Apokryphen
X. Apostolische Väter
XI. Rabbinische Literatur
XII. Kirchenväter
Autorenregister
Namen- und Sachregister
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Hermeneutik Der Fruhchristlichen Wundererzahlungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven
 3161524659, 9783161524653

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

339

Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven Herausgegeben von

Bernd Kollmann und Ruben Zimmermann

Mohr Siebeck

Bernd Kollmann; 1989 Promotion, 1995 Habilitation in Göttingen; 1996–2000 Vertretungsprofessuren in Aachen und Siegen; seit 2000 Professor für Neues Testament an der Universität Siegen. Ruben Zimmermann; 1999 Promotion in Heidelberg; 2003 Habilitation in München; 2004 Vertretungsprofessur in Hamburg; 2005–09 Professur in Bielefeld; seit 2009 Professor für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

e-ISBN 978-3-16-152466-0 ISBN 978-3-16-152465-3 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ nal­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys­temen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Im vorliegenden Band geht es nicht um Wunder – es geht vielmehr um Wundererzählungen. Diese Differenz ist keineswegs unbedeutend. Innerhalb des Wunderdiskurses in Kirche und Gesellschaft, aber ebenso auch in der theologischen Forschung stand vielfach die Diskussion um Wunderphänomene im Vordergrund. Die Texte, die von ihnen erzählen, wurden so nur zur Quelle, zum Vergleichstext oder zum Katalysator für systematische Grundfragen degradiert. Wenn wir nun nach der „Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen“ fragen, dann geht es also primär um das Verstehen einer bestimmten Gruppe von Texten des frühen Christentums. Dass sich an den Fragen zur Auslegung dieser Geschichten anhand eines ausgeweiteten Hermeneutikverständnisses zugleich auch viele übergeordnete historische, epistemologische oder theologische Fragen entzünden, dass also die Wundertexte doch wieder eng mit der Frage nach der Möglichkeit, Erfahrbarkeit, Wahrheit und Wirklichkeit von Wundern verwoben sind, muss dabei keineswegs bestritten werden. Ausgangspunkt sind aber immer die Texte selbst. Die Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen ihres Verstehens ist Gegenstand des Buches. Wundererzählungen sind dabei hermeneutische Herausforderungen. Obwohl die Interpretation dieser Texte eine lange Auslegungsgeschichte vorweisen kann, ist es keineswegs geklärt, wie, mit welchen Methoden und auf welches Ziel hin diese Texte gedeutet werden können oder gar sollen. Diese Grenze des Verstehbaren muss aber nicht nur beklagt werden. Auch mit dem vorliegenden Band ist es keineswegs unsere Absicht, die Verstehensprobleme dieser Texte zu lösen. Im Gegenteil. Gerade das Wachhalten der Unstimmigkeiten und die Sensibilisierung für die Grenzen des Interpretierbaren ist ein implizites Ziel dieses Buches. Allerdings darf diese hermeneutische Bescheidenheit nicht mit einem Plädoyer für den Verstehensverzicht im Sinne anti- oder posthermeneutischer Gedanken verwechselt werden. Die Texte fordern vielmehr aufgrund ihrer Sperrigkeit in besonderem Maße heraus, sie aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, mit ganz unterschiedlichen Methoden und Rahmentheorien in den Blick zu nehmen. In einer losen heuristischen Systematik unterscheiden wir hierbei historische, literarische und rezeptionsorientierte Ansätze, die wiederum in sich eine beträchtliche Inhomogenität (z.B. zwischen einem redaktionskritischen und einem kulturanthropologischen Ansatz im historischen Block

VI

Vorwort

oder zwischen einem tiefenpsychologischen und einem disability-Ansatz beim rezeptionsorientierten Block) aufweisen. Ferner gibt es Überlappungen auch zwischen den Grundperspektiven, so dass man sich fragen kann, warum z.B. ein erzählpragmatischer Ansatz im literarischen und nicht im rezeptionsorientierten Bereich steht. Die Aufteilung dient deshalb der besseren Orientierung und kann keineswegs absolut gesetzt werden. Die mit dem Band angestrebte Ausgewogenheit der Blöcke weist aber darauf hin, dass die verschiedenen Ansätze je ihre eigene Berechtigung besitzen, die letztlich im Text selbst begründet liegt. Es sind die Wundererzählungen, die als geschichtliche Texte eine historische, als narrative Kunstwerke eine literarische und als appellative Texte eine rezeptionsorientierte Interpretation evozieren. Um dieser pluriformen Gestalt der Texte willen bedarf es auch einer Pluralität der Auslegungswege. Es ist deshalb ein Anliegen des Bandes, auch die bleibende Notwendigkeit der hermeneutischen Vielfalt zu unterstreichen, die gegenüber Primatsansprüchen von Interpretationsmethoden (z.B. in der religionsgeschichtlichen Phase) teilweise in Vergessenheit geraten ist. Die Pluralität der Interpretationsansätze darf jedoch wiederum nicht mit Beliebigkeit und Unkontrollierbarkeit verwechselt werden. Die Reflexion der Auslegung, wie sie in der wissenschaftlichen Hermeneutik vollzogen wird, will gerade vor der Fehleinschätzung bewahren, dass man mit den Texten alles machen könne, was ein Ausleger möchte. Es sind deshalb die selbstkritische Einsicht in die Grenzen des eigenen Ansatzes, der Respekt vor divergierenden Zugängen und die Balance der Perspektiven, die die Hermeneutik der Wundergeschichten lebendig erhalten. Der vorliegende Band steht im engen Zusammenhang mit dem „Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen“ (Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013; Bd. 2: Die Wunder der Apostel, Gütersloh 2015). Dass er nun zwischen den beiden Bänden erscheint, ist nicht zufällig. Denn hier werden Grundfragen, insbesondere hermeneutische und methodische Weichenstellungen (z.B. Gattungsdefinition) diskutiert, die für das Kompendium maßgeblich wurden. Bei den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes handelt es sich zum Teil um Referate, die auf den Mainzer Wundertagungen im Oktober 2009 und September 2010 gehalten wurden. In ihnen spiegeln sich zudem auch Entscheidungen wider, die während eines Meetings der Herausgeberinnen und Herausgeber des Wunderkompendiums im März 2011 in Mainz getroffen wurden. Einige der Personen, die Beiträge zum vorliegenden Band geliefert haben, sind als Herausgebende und Autorinnen oder Autoren am „Kompendium der Wundererzählungen“ beteiligt. Der vorliegende Band will aber mehr als nur ein Begleitband zum Wunderkompendium sein und bemüht sich, auch vom Kompendium abweichende Positionen zu integrieren. So werden die historischen, literarischen und rezeptionsorientierten Perspektiven des Verstehens von

Vorwort

VII

Wundererzählungen in umfassenderer Weise beleuchtet und durchaus divergente hermeneutische Ansätze zur Disposition gestellt. Hierbei wird besonders auch der Dialog mit der anglo-amerikanischen Forschung gesucht. Die Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen braucht den kritischen Dialog. Wenn der vorgelegte Band diesen Austausch der unterschiedlichen Positionen fördert, dann hat er seinen Zweck erfüllt. Wir danken Jörg Frey für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament“ und dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Frau Schwemmreiter-Vetter, für die gewohnt exzellente Zusammenarbeit und zielführende Begleitung im Entstehungsprozess des Buches. Unser besonderer Dank gilt den Siegener Studierenden Andreas Kiehn, Desiree Klein und Dominik Neben für ihre Mithilfe bei der Erstellung der Druckvorlage und der Anfertigung des Registers. Christine Schön (Mainz) hat uns beim Korrekturlesen unterstützt. Siegen und Mainz, im September 2014

Bernd Kollmann, Ruben Zimmermann

Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................. V

I. Grundfragen Bernd Kollmann Von der Rehabilitierung mythischen Denkens und der Wiederentdeckung Jesu als Wundertäter. Meilensteine der Wunderdebatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart .. 3 Ruben Zimmermann Von der Wut des Wunderverstehens. Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen ......... 27 Craig S. Keener Miracle Reports: Perspectives, Analogies, Explanations ........................ 53 Gerd Theißen Wunder Jesu und urchristliche Wundergeschichten. Historische, psychologische und theologische Aspekte .......................... 67

II. Geschichtliche Perspektiven Axel Graupner Wunder über Wunder: Israels Führung durch die Wüste Exodus 15,22–18,27. Eine Skizze ............................................................................................ 89 Detlev Dormeyer Wundergeschichten in der hellenistischen Medizin und Geschichtsschreibung. Eine religionsgeschichtliche Annäherung ............................................. 127

X

Inhaltsverzeichnis

Manfred Clauss Wunder und Kaiserkult ........................................................................ 153 Erkki Koskenniemi Apollonius of Tyana, the Greek Miracle Workers in the Time of Jesus and the New Testament .................................................. 165 Eric Eve Jesus’ Miracles in their Historical and Cultural Context ....................... 183 Graham H. Twelftree Exorcism in Early Christianity ............................................................. 205 Reinhard von Bendemann Elementar feurige Hitze. Zur Krankheitshermeneutik frühjüdischer, hellenistisch-römischer und frühchristlicher Fieberheilungen .................................................... 231 Pieter F. Craffert What Actually Happened? Miracle Stories in Anthropological Historical Perspective ................... 263 Marco Frenschkowski Antike kritische und skeptische Stimmen zum Wunderglauben als Dialogpartner des frühen Christentums ........................................... 283

III. Literarische Perspektiven Ruben Zimmermann Gattung „Wundererzählung“. Eine literaturwissenschaftliche Definition ............................................ 311 Susanne Luther Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion? Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren in frühchristlichen Wundererzählungen – eine Problemanzeige ......................................... 345 Michael Labahn Wunder verändern die Welt. Überlegungen zum sinnkonstruierenden Charakter von Wundererzählungen am Beispiel der so genannten „Geschenkwunder“ ............. 369

Inhaltsverzeichnis

XI

Wendy J. Cotter The Function of the Outrageous Petitioner in Pre-Markan Miracle Anecdotes ............................................................................... 395 Cornelis Bennema Character Analysis and Miracle Stories in the Gospel of Mark ............. 413 Paul Borgman Pattern and Purpose in John’s Gospel: the Seven Miracle Stories ......... 427 Kristina Dronsch In Wunder verstrickt: eine medio-theologische Pointe der Wundergeschichten im Markusevangelium .......................................................... 445 Ruben Zimmermann Phantastische Tatsachenberichte?! Wundererzählungen im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Phantastik ............................................................ 469

IV. Rezeptionsperspektiven Christian Münch Erzählung und Ereignis. Zur theologischen Deutung der Wundergeschichten .............................. 497 Stefan Alkier Das Kreuz mit den Wundern oder Wunder ohne Kreuz? Semiotische, exegetische und theologische Argumente wider die formgeschichtliche Verkürzung der Wunderforschung ......................... 515 István Czachesz How to Read Miracle Stories with Cognitive Theory. On Harry Potter, Magic, and Miracle ................................................... 545 Susanne Luther Die ethische Signifikanz der Wunder. Eine Relecture der Wundererzählungen der apokryphen Thomasakten unter ethischer Perspektive .................................................................. 559 Eugen Drewermann Tiefenpsychologische Hermeneutik von Wundererzählungen ............... 589

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Ulrike Metternich Wunderdeutungen in der Feministischen Theologie und Bibelwissenschaft .......................................................................... 607 Markus Schiefer Ferrari Gestörte Lektüre. Dis/abilitykritische Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1–12 ................................................................. 627 Reinhold Zwick Die Wunder Jesu im Film. Grenzfall der Ästhetik und (film-)theologische Herausforderung ......... 647 Annike Reiß Mit Kindern und Jugendlichen über Wunder theologisieren ................. 663 Autorenverzeichnis ............................................................................... 679 Stellenregister ...................................................................................... 683 Autorenregister .................................................................................... 692 Namen- und Sachregister ..................................................................... 709

I. Grundfragen

Von der Rehabilitierung mythischen Denkens und der Wiederentdeckung Jesu als Wundertäter Meilensteine der Wunderdebatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart Bernd Kollmann

1. Das vermeintliche Ende der Wunderdebatte „Um wenige Dinge hat die nt.liche Forschung der letzten zwei Jahrhunderte so erbittert gestritten, wie um die evangelischen Wundererzählungen. Tatsächlich mußten hier Supranaturalismus und Rationalismus als Erscheinungsformen der traditionellen kirchlichen Orthodoxie und der modernen Kritik an dieser Orthodoxie und ihrer Tradition wie kaum anderswo aufeinanderprallen. Man darf wohl sagen, daß der Kampf heute zwar nicht im Raum der Gemeinde, wohl aber auf dem Felde der theologischen Wissenschaft zu seinem Ende gekommen ist. Der traditionelle kirchliche Wunderbegriff wurde dabei zerschlagen …“1 – mit diesen Worten betrachtete Ernst Käsemann 1953 die Wunderdebatte zumindest im Bereich der universitären Theologie als abgeschlossen, wobei er den traditionellen Wunderglauben für tot erklärte und nebenbei auch den Wundertäter Jesus zu Grabe trug. Die übergroße Anzahl der Wunderberichte aus den Evangelien müsse als Legenden betrachtet werden, da sie erstens im Laufe ihrer Überlieferungsgeschichte eine Steigerung des wunderhaften Elements erfahren hätten, zweitens auf dem Boden der Antike vielfältige religionsgeschichtliche Analogien aufwiesen und drittens einem festgeprägten Erzählschema folgten. Das Wenige, das sich als geschichtlich glaubwürdig erweise, seien so harmlose Vorfälle wie die Heilung der Schwiegermutter des Petrus von einer Fiebererkrankung. Vor diesem Hintergrund sieht Käsemann die einzig bleibende Bedeutung der Wundergeschichten in der von ihnen widergespiegelten urchristlichen Glaubensbotschaft, dass in Jesus die göttliche

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E. KÄSEMANN, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 224–236, hier 224.

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Liebe auf den Plan getreten ist und sich als heilende, Leben schenkende Macht erweist.2 Käsemann bringt damit eine Haltung gegenüber den neutestamentlichen Wundergeschichten zum Ausdruck, wie sie für die gesamte BultmannSchule typisch ist und bis in die 1970er Jahre hinein in der theologischen Wissenschaft als geradezu unumstößliches Dogma galt. In der Folgezeit sollte sich allerdings auch im Hinblick auf die Wunder die Einsicht bewahrheiten, dass Totgesagte länger leben und geistesgeschichtliche Debatten in der Regel eher zyklisch als linear ablaufen. Vor dem Hintergrund der jüngeren Forschungsgeschichte jedenfalls wirkt Käsemanns voreiliger Nachruf auf den Wunderglauben und den Wundertäter Jesus geradezu bizarr. Wer sich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte vor Augen führt, stellt fest, dass die Diskussion um die neutestamentlichen Wunder lebhafter denn je ist, an der kerygmatisch-existenzialen Engführung der Wunderfrage von unterschiedlichster Seite Kritik geübt wird und vereinzelt sogar supranaturalistische Deutungsmuster in der theologischen Wissenschaft eine fröhliche Wiedergeburt feiern. Damit einher geht eine Wiederentdeckung der elementaren Bedeutung Jesu als Wundertäter. Die nachfolgenden Ausführungen bemühen sich darum, wichtige Etappen dieser Entwicklung aufzuzeigen und die Hintergründe auszuleuchten.

2. Etappen der neuzeitlichen Wunderhermeneutik3 2.1. Brüchigkeit supranaturalistischen Denkens im Licht der Aufklärung Bis in die Neuzeit hinein wurden die biblischen Wunder mit großer Selbstverständlichkeit als Eingriff Gottes in das Naturgeschehen erklärt. Mit der Aufklärung und dem Aufkommen der Naturwissenschaften wurde der supranaturalistische Wunderglaube brüchig. Als Vorreiter rationaler Wunderkritik konstatierte der holländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632– 1677) in seinem „Theologisch-politischen Traktat“ von 1670 einen un2

KÄSEMANN, a.a.O., 224–229. Vgl. zum Folgenden auch S. ALKIER , Wen wundert was?, ZNT 4 (2001) 2–15; E. KELLER/M.-L. KELLER, Der Streit um die Wunder, Gütersloh 1968; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996, 13–31; DERS., Neutestamentliche Wundergeschichten, Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis, Urban Tb 477, Stuttgart 32011, 14–22.139–182; DERS., Images of Hope. Towards an Understanding of New Testament Miracle Stories, in: M. Labahn/B.J. Lietaert Peerbolte (Hgg.), Wonders Never Cease: The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and Its Religious Environment, ECSO = LNTS 288, London 2006, 244–264; DERS., Glaube – Kritik – Deutung. Gängige Deutungsmuster von Wundergeschichten in der Bibelwissenschaft, BiKi 61 (2006), 88–93. 3

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überbrückbaren Gegensatz zwischen Wunderglaube und Vernunft.4 Es geschehe nichts gegen die Natur mit ihren unveränderlichen Gesetzen. Aus Gewohnheit oder aus bewusstem Widerspruch gegenüber den Naturwissenschaften wolle das gemeine Volk nichts von den natürlichen Ursachen der Dinge wissen und begehre nur solche Sachen zu hören, die es am wenigsten kenne und deshalb am meisten bewundern könne. Der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) avancierte mit der „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“5 zum Vorreiter historischer Bibelkritik, auch wenn er sein erst posthum von Lessing herausgegebenes Werk zu eigenen Lebzeiten nicht zu veröffentlichen wagte. Reimarus begegnet den Wundern Jesu vom Standpunkt eines naturalistischen Deismus aus mit einer von der Vernunft geleiteten Skepsis. Sie seien zwar nicht so völlig widersinnig und übertrieben wie die Wunder des Alten Testaments, unterlägen aber doch größten Zweifeln. Neben Leichtgläubigkeit, Wundersucht und mangelhafter Unterscheidung des Natürlichen vom Übernatürlichen sei auch mit gezieltem Betrug zu rechnen, indem Heilungen nur vorgetäuscht wurden. Diese Skepsis gegenüber der Wunderüberlieferung verstärkt sich für Reimarus durch teilweise widersprüchliche Angaben der Evangelienschreiber, die zudem Jahrzehnte nach Jesu Tod ohne kritische Gegeninstanz zahlreiche Wunder zur Unterstützung ihres „neu erfundenen Systems“ hinzu erdichtet hätten. Als einflussreichster Vertreter philosophischer Wunderkritik kann zweifellos David Hume (1711–1776) gelten. Er erörterte intensiv die Evidenz für Wunder und fragte nach den Kriterien, die darüber entscheiden, ob wir etwas, das uns mitgeteilt wird, glauben oder nicht glauben. Die Wunder der Evangelien stünden der vernunftgemäßen Überprüfung nicht direkt, sondern nur durch das Medium menschlicher Zeugen aus der Vergangenheit zur Verfügung. Ein besonnener Mensch bemesse seinen Glauben nach der Evidenz. Gemäß dem gesunden Menschenverstand sei es grundsätzlich wahrscheinlich, dass das Wunderzeugnis falsch ist, da die Naturgesetze sich bei zahllosen Gelegenheiten als richtig erwiesen hätten. Erfahrung und Beobachtung zeigten, dass menschliche Zeugen dazu neigten, unzuverlässig oder missverständlich zu sein. Bei Abwägung der Alternativen sei die Evidenz für die vernunftgemäße Erklärung eines Ereignisses immer größer als die Evidenz für die wunderhafte Erklärung.

4 B. DE SPINOZA, Theologisch-philosophischer Traktat, hg. v. C. Gebhardt, Hamburg 1955. 5 H.S. REIMARUS, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes Bd. 1–2, hg. v. G. Alexander, Frankfurt a.M. 1972. Vgl. A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, UTB 1302, Tübingen 91984, 56–68. 5

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„Berichtet mir jemand, er habe einen Toten wieder aufleben sehen, so überdenke ich gleich bei mir, ob es wahrscheinlicher ist, dass der Erzähler trügt oder betrogen ist oder dass das mitgeteilte Ereignis sich wirklich zugetragen hat. Ich wäge das eine Wunder gegen das andere ab, und je nach der Überlegenheit, die ich entdecke, fälle ich meine Entscheidung und verwerfe stets das größere Wunder.“6

Hume stellte damit nicht grundsätzlich die Möglichkeit von Wundern in Abrede, bemühte sich aber um den Nachweis, dass es niemals gute Gründe gibt, an deren Tatsächlichkeit zu glauben. Daher könnten Wunder kein tragfähiges Fundament für ein religiöses System darstellen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die philosophische Wunderkritik bei Ludwig Feuerbach (1804–1872).7 Für ihn dient das Wunder einer Befriedigung menschlicher Sehnsüchte und ist ein Produkt der Phantasie, der von den Herzensbedürfnissen und Wünschen des Menschen bestimmten Intelligenz. Damit verbindet sich eine qualitative Wertung. In der Phantasie mache sich der Mensch nicht auf eine vernünftige und geistige, sondern auf eine phantastische und sinnliche Weise zum Herrn über die Natur. Der Wunderglaube repräsentiert so eine Entwicklungsstufe, auf der sich der Geist des Menschen gleichsam noch in den Kinderschuhen befindet und nicht erkennt, dass er selbst die Macht hätte, seine Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Wunderglaube gilt als zu überwindender, den Menschen in seiner Entwicklung und Selbstverwirklichung hemmender Aberglaube. 2.2. Rationalistische Deutungsmuster Als Gegenreaktion auf die neuzeitliche Wunderkritik trat der christliche Rationalismus auf den Plan, der im späten 18. Jh. aufkam und in der ersten Hälfte des 19. Jh. seine Blütezeit hatte. Er erhob die Vernunft zum Maßstab des Glaubens und setzte sich entschieden für eine natürliche Erklärung der Wunder Jesu ein. Sie beruhten auf Tatsachen und hätten nichts der Vernunft Widersprechendes an sich, soweit man nur die in der Bibel nicht genannten natürlichen Ursachen erkenne. Vorreiter einer vernunftbetonten Erklärung der Wunder Jesu war Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792), der eine Zugehörigkeit Jesu zum Essenerorden behauptete. Auf dessen Drängen hin habe Jesus mit Wundern und Täuschungen gearbeitet, um die Aufmerksamkeit des abergläubischen Volks zu gewinnen und es für seine tiefere philosophische Botschaft emp6

D. HUME, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1993, 135f. Vgl. J.L. MACKIE, Miracles and Testimony – Hume’s Argument, in: R. Swinburne (Hg.), Miracles, New York 1989, 85–96. 7 L. FEUERBACH, Über das Wunder, in: ders., Kleinere Schriften I (1835–1839). Gesammelte Werke 8, Berlin 21982, 293–339. Vgl. H.-J. KLIMKEIT, Das Wunderverständnis Ludwig Feuerbachs in religionsphänomenologischer Sicht, UARG NF 5, Bonn 1965.

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fänglich zumachen.8 Von Bahrdt stammen Klassiker der rationalistischen Wunderdeutung wie die Erklärung des Seewandels durch im Wasser schwimmende Holzbalken, auf denen Jesus spazierte, oder die Zurückführung des Speisungswunders auf eine prall mit Broten gefüllte Höhle, aus der Jesus heimlich immer wieder Nachschub herausgereicht wurde. Die Heilungen Jesu führte Bahrdt auf die Kunst von Lukas dem Arzt zurück. Dieser habe Jesus auf Initiative der Essener begleitet und auch auf merkwürdige Fälle von Scheintod aufmerksam gemacht, deren Behebung als Totenerweckung gedeutet wurde. Auch Carl Heinrich Venturini (1768–1849) zufolge bleibt uns bei den neutestamentlichen Wundergeschichten „das Recht einer freien und natuerlichen Erklaerung der ausserordentlichen Vorfaelle unbenommen“.9 Diese bestand für ihn bei den Heilungen darin, dass Jesus als Arzt mit Reiseapotheke und chirurgischen Instrumenten durch Palästina zog, um die Menschen nicht den Händen von Quacksalbern und Scharlatanen auszuliefern. Kranke habe Jesus durch Heilmittel und geschickte chirurgische Eingriffe gesund gemacht. Bei den Dämonenaustreibungen handele es sich um Zugeständnisse an den Aberglauben der Menschen, um diese anschließend medizinisch behandeln zu können. Ohnmächtige, die für tot gehalten wurden, habe Jesus mit kräftigen Tinkturen und stärkendem Balsam wieder zu Bewusstsein gebracht. Dem „rohen und ungebildeten“ jüdischen Volk allerdings, „dessen ganze Arzeneywissenschaft auf kuemmerliche Behandlung einiger aueßerlicher Krankheiten … beschraenkt war“,10 mussten die medizinischen Praktiken wie ein Wunder vorkommen und auch die biblischen Erzähler seien bei aller Redlichkeit des Charakters nicht zur sachgemäßen Beschreibung des ärztlichen Wirkens Jesu in der Lage gewesen, zumal auch sie zur Wundersucht neigten. Die Naturwunder beruhen für Venturini ebenfalls auf Irrtümern und Missverständnissen. Bei der Speisung der 5000 seien die Reichen durch Jesu Ermahnung zum Teilen mit den Armen animiert worden. Bei der Sturmstillung habe Jesus als Wetterkundiger das baldige Abflauen des Windes prognostiziert, während die Jünger dies als von ihm bewirktes Wunder interpretierten. Der Seewandel erkläre sich dadurch, dass die Jünger aufgrund eines ungünstigen Blickwinkels den am Ufer des Sees Genessaret gehenden Jesus fälschlicherweise auf dem Wasser wähnten.

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C.F. B AHRDT, Ausführung des Plans und Zwecks Jesu Bd. 1–11, Berlin 1784–1792. Vgl. SCHWEITZER, Leben-Jesu-Forschung (s. Anm. 5), 79–84. 9 C.H. VENTURINI, Natuerliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth, Bd. I– III „Bethelehem“ 1800–1802, Bd. IV „Ägypten“ 1802, hier II 18. Vgl. SCHWEITZER, a.a.O., 84–87. 10 VENTURINI, a.a.O., II 14.

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Während Bahrdt und Venturini romanhafte Werke mit enormer Breitenwirkung verfassten, führte Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761– 1851) den Rationalismus auf gehobenes akademisches Niveau. Auch für ihn resultieren die Wunderberichte der Evangelien daraus, dass Ereignisse aus dem Leben Jesu ohne hinreichendes Wissen um die natürlichen Ursachen zu Wundern gemacht wurden. Bei den Besessenen handelte sich um Nervenkranke, deren Heilung zwangsläufig eintreten musste, sobald in ihrer Einbildungskraft „die von Furcht und Hoffnung gemischte Voraussetzung, daß die Daimonen vor dem Messias nicht bestehen koennten, in Wirkung kam“.11 Auch die Mehrzahl der Krankenheilungen führt Paulus auf eine Nervenstärkung seitens Jesu zurück, sofern es sich nicht wie bei den Fernheilungen um ärztliche Prognose oder wie bei den scheinbaren Totenerweckungen um Diagnostizierung fortdauernder Ohnmacht handelte. In der Erklärung der Naturwunder deckt sich Paulus weitgehend mit Venturini. Das Problem der rationalistischen Deutungsmuster liegt darin, dass ihre Vertreter ungleich mehr zu wissen glauben, als in den biblischen Texten steht. Auch wenn die Erklärungen überwiegend nicht tragfähig sind und aus heutiger Perspektive zuweilen unfreiwillig komisch wirken, sollte zumindest das dahinter stehende Bemühen respektiert werden, Glaube und Vernunft zusammenzubringen. 2.3. Die mythologische und kerygmatische Deutung der Wunder Neue Maßstäbe in der Wunderinterpretation setzte David Friedrich Strauß (1808–1874).12 Er führte die rationalistischen Erklärungsversuche ad absurdum und erklärte die Wunder zu Mythen, die Jesus unter Rückgriff auf alttestamentliche Traditionen zum Erweis seiner Messianität zugeschrieben wurden. Wenn Jesus der Messias war, dann habe er im Glauben seiner Anhänger die Wunder der Propheten erreichen und übertreffen müssen. Bereits die Berichte von durchaus glaubwürdigen Exorzismen und Heilungen Jesu sah Strauß als Folge der messianischen Idee unglaubwürdig ins Wunderhafte gesteigert. Vollends stellten sich ihm die Totenerweckungen und Naturwunder Jesu als ungeschichtliche Mythen dar. Neben Jes 35,5f. sah er in den Geschichten von Elia und Elisa, die für die Erdichtung von Aussätzigenheilungen, Totenerweckungen und Brotvermehrungen Jesu geeignete Vorbilder bereitgehalten hätten, die wichtigste Quelle für die mythische Traditionsbildung. 11

H.E.G. P AULUS, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums Bd. I–II, Heidelberg 1828, I 223. Vgl. SCHWEITZER, a.a.O., 88–96. 12 D.F. STRAUß , Das Leben Jesu kritisch bearbeitet Bd.I–II, Tübingen 1835/36, II 1– 251. Vgl. SCHWEITZER, a.a.O., 115–131.

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Die Betrachtung der Wunder Jesu als ungeschichtlicher Mythen, die als Produkt des urchristlichen Messiasglaubens nicht auf ihre Geschichtlichkeit befragt, sondern theologisch interpretiert werden wollen, war damit etabliert. M. Dibelius (1883–1947) und R. Bultmann (1884–1976) rückten allerdings unter dem Einfluss der Religionsgeschichtlichen Schule anstelle der alttestamentlichen Wunderüberlieferungen die hellenistischen Parallelen in den Vordergrund. Aus der Einsicht in eine enge inhaltliche und formale Verwandtschaft mit volkstümlichen Erzählungen der griechischrömischen Antike schlossen sie auf eine Ungeschichtlichkeit der neutestamentlichen Wunderberichte zurück. Dibelius veranschlagte für die Novellen, denen er die Mehrzahl der Wundergeschichten zurechnet, eine vielfältige Verwendung „artfremder Motive“ bis hin zur Übernahme und Umbildung ganzer nichtchristlicher Geschichten.13 Für Bultmann bieten die Wundertraditionen aus der nichtjüdischen Umwelt des Neuen Testaments derart weitreichende Parallelen, dass „sich ein Vorurteil der Entstehung der syn Wundergeschichten auf hellenistischem Boden ergibt“.14 Bultmann verknüpfte dies gleichzeitig mit seinem Entmythologisierungsprogramm und der Kerygmatheologie, indem er die Wundergeschichten als Entfaltungen der urchristlichen Glaubensbotschaft betrachtete, die aus dem mythischen Weltbild der Antike erwachsen seien und im Horizont modernen Denkens kein Glaubensgegenstand sein könnten.15 Der Mythos soll nicht eliminiert, sondern existenzial interpretiert werden. Es geht um die Möglichkeit christlichen Glaubens unter den Bedingungen des von den Naturwissenschaften geprägten neuzeitlichen Daseinsverständnisses. Um der Redlichkeit des Glaubens willen soll dem Menschen für seine Religion keine Bejahung eines Weltbildes abverlangt werden, das er in seinem sonstigen Leben verneint. In der Forderung, die neutestamentliche Mythologie blind zu akzeptieren, sieht Bultmann die Gefahr, den Glauben zu einer dem Menschen abgezwungenen Opferung seines Verstandes und damit zu einem Werk zu machen. Berühmt wurde Bultmanns Aussage, man könne nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen die moderne Medizin in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister-

13 M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 41961, 97. Einzelne Wundergeschichten (Mk 2,1–12; 3,1–6; mit Einschränkung auch Mk 1,21–29; 10,46–52; Lk 14,1–6) werden allerdings den „bodenständigeren“ Paradigmen zugeordnet, denen Dibelius eine „relative Zuverlässigkeit“ attestiert (a.a.O. 59). 14 R. BULTMANN, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 12, Göttingen 10 1995, 15 R. B ULTMANN, Zur Frage des Wunders, in: ders., Glauben und Verstehen Bd. I, Tübingen 1933, 214–228. Vgl. W. SCHMITHALS, Die Theologie Rudolf Bultmanns, Tübingen 21967, 254–277.

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und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.16 Die Wunder dürften nicht in den Rang objektiver Heilstatsachen erhoben werden, sondern beinhalteten eine verborgene Glaubensbotschaft (Kerygma), die durch Entmythologisierung freizulegen sei. Das Ärgernis vom Kreuz als Kern des Kerygmas halte dem Menschen, der sein Leben aus eigenem Willen und aus eigener Kraft glaube gestalten zu können, seine Erlösungsbedürftigkeit vor Augen und stelle ihn in seiner alten Existenz radikal in Frage. An Wunder zu glauben heiße nicht, sie für wahr zu halten, sondern an Gott als den Befreier vom Tod zu glauben und für die wunderbare Begegnung mit ihm bereit zu sein, die dem Leben eine völlige Wende gibt. Als unmittelbare Folge dieser Betrachtungsweise dominierte lange Zeit eine redaktionsgeschichtlich ausgerichtete Wunderforschung, in der die historische Frage nach den Wundern Jesu als zweitrangig galt und weitgehend ausgeblendet wurde. Stattdessen rückten die Haltung der Evangelisten gegenüber der Wunderüberlieferung, in der man wesentliche Teile der neuzeitlichen Wunderkritik vorweggenommen sah,17 und das metaphorische Verständnis des Wunders als Träger der Glaubensbotschaft18 in den Mittelpunkt des Interesses. 2.4. Gegenentwürfe zum kerygmatisch-existenzialen Ansatz Nach einer jahrzehntelangen, geradezu erdrückenden Dominanz der kerygmatischen Wunderhermeneutik entwickelten sich ab den 1970er Jahren erste profilierte Gegenentwürfe, um die existenziale Engführung der Wunderfrage aufzubrechen. Der Neuansatz von Gerd Theißen ist sozialgeschichtlich orientiert und betont, dass Wundererzählungen vor allem Protest- und Hoffnungsgeschichten der kleinen Leute sind, die nicht primär kerygmatisch „von oben“ interpretiert, sondern zunächst einmal als handfestes Aufbegehren

16 R. B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos, 41960, 15–48, hier 18. 17 Vgl. etwa G. KLEIN, Wunderglaube und Neues Testament, in: ders., Ärgernisse, München 1970, 13–57. 18 W. SCHMITHALS, Wunder und Glaube, BSt 59, Neukirchen-Vluyn 1970, 25f.: „Die neutestamentlichen Wundergeschichten berichten nur scheinbar von merkwürdigen Ereignissen aus dem Leben des irdischen Jesus. In Wahrheit verkündigen sie, was Gott durch Jesus als den Christus, das heißt durch den gekreuzigten und auferstandenen Herrn der Gemeinde, an dieser Gemeinde tat und an der Welt tun will. Sie bezeugen das gegenwärtige Wirken des in der christlichen Verkündigung handelnden Herrn an den blinden, verirrten und unfreien Menschen.“ Vgl. DERS., Das Evangelium nach Markus Bd. III, ÖTK 2,1-2, Gütersloh/Würzburg 1979, wo die markinischen Wundergeschichten als Werk eines Paulus ebenbürtigen Theologen gelten, der das christologische Kerygma narrativ entfaltet.

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und sozialer Protest „von unten“ gelesen werden wollen.19 Sie wirkten symbolisch der Not entgegen, ließen die Zuversicht den Sieg über die Resignation davontragen und spornten dazu an, im alltäglichen Leben die Negativität des Daseins auch durch praktische Handlungen zu überwinden. Indem sie Einspruch gegen die realen Verhältnisse erheben, auf die Überwindung von Not drängen und für eine alternative soziale Praxis werben, könnten Wundergeschichten Handlungsmöglichkeiten für die Gestaltung und Veränderung unserer Lebenswirklichkeit erschließen. Im Wunder zeigt sich demnach der Entwurf einer alternativen Lebenswelt, der nach Verwirklichung ruft. Im Hintergrund steht die Einsicht von Ernst Bloch, dass die Wunder im Rahmen konkreter Utopie die bestehenden Verhältnisse als unvollkommen entlarven, dadurch den Blick auf die noch nicht verwirklichten Möglichkeiten menschlichen Daseins öffnen und eine Veränderung der Welt einfordern.20 In anderer Weise versucht die Feministische Hermeneutik das emanzipatorische Potenzial der neutestamentlichen Wundergeschichten zu erschließen.21 In Frontstellung gegen eine vorherrschende androzentrische Bibelauslegung richtet sie den Fokus gezielt auf jene Wundertraditionen, in denen Frauen eine Rolle spielen. Die Offenheit Jesu gegenüber Frauen (Mk 7,24–30), die wichtige Funktion geheilter Jüngerinnen in der Jesusbewegung (Lk 8,1–3) und die im Heilungswunder bewirkte ganzheitliche Wiederherstellung weiblicher Körperlichkeit (Mk 5,25–34; Lk 13,10–17) sollen wahrgenommen und in ihrer emanzipatorischen Dimension gewürdigt werden. In jüngerer Vergangenheit wird die Feministische Hermeneutik zunehmend durch die Genderforschung befruchtet und ergänzt. Die neutestamentlichen Texte sind nachhaltig von geschlechtsabhängigen Differenzen und Machtstrukturen geprägt, die danach rufen, wahrgenommen und offengelegt zu werden. Wunderbetrachtung aus der Genderperspektive geht der Frage nach, inwieweit die Texte beispielsweise durch Rollenzuweisungen oder Handlungsermächtigungen an der Konstruktion von „Geschlecht“, der Verfestigung einer hierarchisch organisierten Geschlechterordnung und der Reproduktion der auf Zweigeschlechtlichkeit basierenden Geschlechterdifferenz beteiligt sind. Es geht um eine Erhellung dessen, in welchen Funktionen weibliche Handlungsträger in antiken Hei19 G. THEIßEN, Urchristliche Wundergeschichten, StNT 8, Gütersloh 51987, bes. 247– 251.283–287, vgl. G. T HEIßEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 264. 282f. 20 E. B LOCH, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959, 1540–1550. 21 Vgl. u.a. C. MULACK, Jesus der Gesalbte der Frauen, Stuttgart 1987; U. METTERNICH, „Sie sagte ihm die ganze Wahrheit“, Mainz 2000; S.A. STRUBE, „Wegen dieses Wortes ...“, Münster u.a. 2000.

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lungswundern auftreten und wie mit geschlechtsspezifischen Aspekten von Krankheit umgegangen wird. Dabei legt sich als hermeneutische Prämisse die Vermutung von A.-M. Korte nahe, dass volkstümliche Wundergeschichten in höherem Maße für Frauenfragen und Frauenanliegen offen sind als andere Formen der religiösen Überlieferung.22 Ziel ist letztlich, die sozial wie kulturell bedingten Geschlechterkonstrukte aufzubrechen oder zu zerschlagen. Eugen Drewermann als bedeutsamster Vertreter tiefenpsychologischer Wunderauslegung greift die kerygmatische Wunderdeutung von anderen Voraussetzungen her an.23 Bultmann und seine Schüler werden mit dem Vorwurf bedacht, den Menschen durch Ausblendung der Körperlichkeit aus dem Glauben in verhängnisvolle Selbstentfremdung geführt zu haben. Drewermann stellt die Wunder Jesu als nicht zu bezweifelnde Tatsachen in den Kontext des Schamanismus und rückt das ihnen auch heute noch innewohnende ganzheitliche Heilungspotenzial in den Mittelpunkt, indem er die von Gefühlen wie Bildern bestimmte Tiefendimension der Texte wahrzunehmen sucht. Dabei versucht er die in den Wundergeschichten verborgenen und zeitlos gangbaren Wege der Befreiung von Angst, innerer Zerrissenheit und seelischer Erkrankung, hin zu einer stabilen, in ganzheitlicher Harmonie lebenden und dabei auch ihre Schattenseiten bewältigenden Persönlichkeit aufzuzeigen. Wenn Menschen sich emotional auf eine Kommunikation mit den Tiefendimensionen der biblischen Überlieferungen einließen, könnten heilsame Prozesse der Selbstfindung in Gang kommen. Im Rahmen dieser Programmatik gelingt es Drewermann in beeindruckender Weise, dass sich die heutigen Adressaten der neutestamentlichen Wundergeschichten mit dem, was ihnen auf der Seele brennt, in den Texten wieder finden und Hoffnung auf Heilung aus ihnen gewinnen können. Dabei werden allerdings zuweilen recht spekulative Krankheitsdiagnosen in die biblischen Berichte hineingelesen, um diese gegenwartsbezogen in Szene zu setzen. Das Programm der Biblischen Theologie kritisiert dagegen an der kerygmatischen Wunderdeutung vor allem die Fokussierung auf den hellenistischen Traditionshintergrund. Es handelt sich um einen gezielten Gegenentwurf zum Ansatz der Religionsgeschichtlichen Schule, die für die Mehrzahl der Wundergeschichten eine hellenistische Prägung annahm, sie 22 A.-M. KORTE (Hg.), Women and Miracle Stories. A Multidisciplinary Exploration, SHR 88, Leiden 2001 (die Beiträge sind allerdings nicht speziell auf das Neue Testament bezogen). Vgl. zum Ganzen auch B. KOLLMANN, Frauenrollen und Frauenleiden in antiken Heilungswundern. Einblicke aus der Gender-Perspektive, in: B.Heininger/R. Lindner (Hgg.), Krankheit und Heilung. Gender – Religion – Medizin, Berlin 2006, 45–62. 23 E. DREWERMANN, Tiefenpsychologie und Exegese. Bd. 2: Wunder, Vision. Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. Olten 61990, 43–309.

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als ungeschichtliche Legenden betrachtete und den Wundertäter Jesus in den Farben des „göttlichen Menschen“ (theios aner) der griechischrömischen Welt gezeichnet sah. Stattdessen werden die Wunder Jesu in einen weiten, die gesamte Bibel umspannenden heilsgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet und vor dem Hintergrund der messianischen Erwartungen Israels betrachtet. Ganz anders als bei D.F. Strauß verbindet sich damit die Hoffnung, die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Wundergeschichten zu stützen und sie vom Verdacht zu befreien, Ausfluss hellenistischer Religionspropaganda zu sein.24 Damit wird ein legitimes Gegengewicht zu einer einseitigen Ableitung der Wunderüberlieferung aus hellenistischer Tradition gesetzt und Jesus mit seinen Wundertaten in ein jüdisches Milieu eingebettet. Dabei ist aber deutlich die Tendenz zu erkennen, das Alte Testament als Traditionshintergrund zu überschätzen und den Einfluss hellenistischer Religiosität auf den neutestamentlichen Wunderglauben unzureichend wahrzunehmen. 2.5. Respektierung des andersartigen Wirklichkeitsverständnisses der antiken Texte Seit Ende des 20. Jh. wird zunehmend der Ruf danach laut, das uns fremde Wirklichkeitsverständnis der biblischen Wundertraditionen wahrzunehmen und zu respektieren. Klaus Berger reklamiert mehrere Zonen der Wirklichkeit. Die Wunder Jesu als heute nicht mehr überprüfbare „weiche Fakten“ gehörten einem durch mythisch-mystisches Wahrnehmen und Erleben gekennzeichneten Wirklichkeitsverständnis an, das eine eigene, nicht den Naturgesetzen folgende Logik habe, ohne deshalb irrational oder unwahr zu sein.25 Stefan Alkier plädiert dafür, einen dritten Weg jenseits von Metaphorisierung und Historisierung zu beschreiten, und will die neutestamentlichen Wundergeschichten als fremde Welten verstehen, die es neu zu erkunden gelte, ohne sie von vornherein an unserem Wirklichkeitsverständnis zu messen.26 Die Wunderfrage wird gezielt als eine offen zu haltende Frage propagiert. 24 Vgl. O. BETZ, The Concept of the So-called ‘Divine man’ in Mark’s Christology, in: ders., Jesus. Der Messias Israels. Aufsätze zur biblischen Theologie, WUNT 42, Tübingen 1987, 59–74; O. B ETZ/W. GRIMM, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu. Heilungen – Rettungen – Zeichen – Anfechtungen, ANTI 2, Frankfurt a.M. u.a. 1977; R. GLÖCKNER, Neutestamentliche Wundergeschichten und das Lob der Wundertaten Gottes in den Psalmen, WSAMA.T 13, Mainz 1983. 25 K. BERGER, Darf man an Wunder glauben? GTB 1450, Gütersloh 1999. 26 S. ALKIER/B. DRESSLER, Wundergeschichten als fremde Welten lesen lernen, in: B. Dressler/M. Meyer-Blanck (Hg.), Religion zeigen, Münster 1998, 163-187; S. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 134, Tübingen 2001, bes. 23–90.

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In eine ähnliche Richtung geht der ethnologische oder kulturanthropologische Ansatz von Wolfgang Stegemann. Er schärft das Bewusstsein dafür, dass die neutestamentlichen Texte der mediterranen Welt der Zeitenwende und damit einer uns fremden Kultur entstammen. Die neuzeitliche Wunderkritik wird mit dem Vorwurf bedacht, die biblischen Wundergeschichten in unzulässiger Weise im Erfahrungshorizont unserer modernen westlichen, eurozentrischen Kultur zu betrachten. Sie geschehe nicht aus der Perspektive und vor dem Erfahrungshintergrund der Kultur und Gesellschaft zur Zeit Jesu selbst, sondern aus der Perspektive von Beobachtern, welche die fremde Kultur und fremde Welt an ihren eigenen Maßstäben mäßen und in ihren eigenen Begriffen deuteten. Diese Sehweise könne nicht anders, als die in Frage kommenden Texte zu „rationalisieren“ und in ihnen Repräsentanten eines falschen, überholten Weltbildes zu sehen.27 2.6. „Gestörte Lektüre“ aus der Disablility-Perspektive Alle bislang dargestellten Modelle der Wunderhermeneutik bemühen sich bei aller Kritik an den neutestamentlichen Wundererzählungen doch darum, deren elementare Bedeutung und tieferen Sinngehalt zu erschließen. Die Wunderlektüre aus der Disability-Perspektive geht dagegen auf deutliche Distanz zu den Texten oder vollzieht sogar einen radikalen Bruch mit ihnen. Sie nimmt daran Anstoß, dass in den biblischen Heilungsgeschichten der gesunde Körper zum Maßstab von Normalität erhoben wird und jede Abweichung davon mit Leiden gleichgesetzt wird. Epileptiker, Erblindete, Gelähmte oder Taubstumme werden durch das Wunder in den körperlichen Zustand der „Normalität“ versetzt und können endlich so sein wie die anderen.28 Indem die neutestamentlichen Heilungswunder damit latent einer Abwertung nicht normgemäßer Körperlichkeit Vorschub leisten, werden sie von behinderten Menschen als Ärgernis oder sogar als „texts of terror“ empfunden.29 Sie sind aus der Perspektive derjenigen erzählt, die sich selbst für nichtbehindert halten und sich durch das Ereignis der Heilung in ihrer scheinbaren Normalität bestätigt fühlen. Dass Men-

27 W. STEGEMANN, Dekonstruktion des rationalistischen Wunderbegriffs, in: F. Crüsemann u.a. (Hgg.), Dem Tod nicht glauben (FS L. Schottroff), Gütersloh 2004, 67–90, bes. 73–75. Vgl. auch den dezidiert ethnologischen Zugang von C.S. KEENER, Miracles: The Credibility of the New Testament Accounts Bd. I–II, Grand Rapids 2011. 28 D. W ILHELM, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Heilungsgeschichten und andere Ärgernisse, Schlangenbrut 62 (1998), 10–12. 29 S. B ETCHER, Disability and the Terror of the Miracle Tradition, in: S. Alkier/A. Weissenrieder (Hgg.), Miracles Revisited. New Testament Miracle Stories and their Concepts of Reality, SBR 2, Berlin/Boston 2013, 161–181.

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schen mit Behinderung leiden, wird zum Problem der betroffenen Personen statt der betroffenen Umgebung. Vor diesem Hintergrund will eine vom Disability-Diskurs geprägte Hermeneutik zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den biblischen Heilungserzählungen provozieren und dazu anregen, eigene Exklusionsoder Normalitätsvorstellungen zu hinterfragen. Die „gestörte Lektüre“ bezeichnet eine Wahrnehmung der neutestamentlichen Wundergeschichten, die auf die kritische Reflexion des eigenen Verständnisses, der eigenen Haltung und des eigenen Verhaltens im Angesicht von vermeintlicher Behinderung abzielt.30

3. Die Wiederentdeckung des Wundertäters Jesus Die durch David Friedrich Strauß etablierte Deutung der neutestamentlichen Wundererzählungen als ungeschichtlicher Mythen hatte weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Person Jesu, „mit Strauß beginnt die Periode der wunderlosen Betrachtung des Lebens Jesu“.31 Vollends untermauert wurde dies durch die religionsgeschichtlich-kerygmatische Wunderhermeneutik. Über weite Strecken des 20. Jh. hinweg galt es als selbstverständlich, bei der Rekonstruktion des geschichtlichen Wirkens Jesu – soweit die Rückfrage nach dem historischen Jesus überhaupt noch als theologisch bedeutsam angesehen wurde – die Wunder fast vollständig auszublenden. Einflussreiche Jesusbücher führender Vertreter der kerygmatischen Wunderhermeneutik liefern dafür anschauliche Beispiele.32 Mit der Rehabilitierung mythischen Denkens und der kritischen Infragestellung einer einseitigen Ableitung der Wundererzählungen aus der hellenistischen Religionsgeschichte ging eine Wiederentdeckung Jesu als Wundertäter und eine Rückbesinnung auf Exorzismen wie Heilungen als konstitutivem Merkmal seines Auftretens einher.33 Dass in der neueren Forschung kein 30

M. SCHIEFER FERRARI, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12–14. Deutung, Differenz und Disability, in: W. Grünstäudl/M. Schiefer Ferrari (Hgg.), Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Stuttgart 2012, 13–47. 31 SCHWEITZER, Leben-Jesu-Forschung (s. Anm. 5), 145. 32 Vgl. R. B ULTMANN, Jesus, Gütersloh 31977, 118–123; G. B ORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 111977, 114–117; H. BRAUN, Jesus – der Mann aus Nazareth und seine Zeit, Stuttgart 1984, 36–39, wo die Wunder Jesu nur am Rande gestreift werden. In der Jesusdarstellung von H. CONZELMANN/A. LINDEMANN, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 132000, 435–510, bleiben die Wunder fast völlig außen vor. 33 Als einflussreich erwies sich das provokative Werk von M. SMITH, Jesus the Magician, San Francisco 1978. Mittlerweile liegen etliche Monographien zur Wundertätigkeit des historischen Jesus vor, vgl. bes. S.L. DAVIES, Jesus the Healer. Posession, Trance, and the Origins of Christianity, London/New York 1995; E. EVE, The Healer from Naza-

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ernstzunehmendes Jesusbuch ohne ein eigenständiges Kapitel über die Wundertaten Jesu auskommt,34 ist anschaulicher Ausdruck dieser Trendwende. Dabei kursieren unterschiedliche Modelle von Jesus als Wundertäter, um vor dem Hintergrund vergleichbarer antiker Phänomene sein Wunderwirken begreiflich zu machen und ihn trotz aller unverwechselbarer Züge in eine breitere Strömung antiker Wunderwirksamkeit einzuordnen. 3.1. Jesus als Wunderprophet Seit jeher populär ist der Versuch, Jesu Machttaten im Kontext eines Wunderprophetentums zu betrachten, wie es im Alten Testament durch Elia und Elisa repräsentiert wird und im antiken Judentum der Zeitenwende nach wie vor lebendig war. Diese These hat auch in der neueren Jesusforschung nicht an Attraktivität eingebüßt. E.P. Sanders kommt im Blick auf die Verkündigung und Lehre zu der Überzeugung, dass es sich bei Jesus um einen eschatologischen Propheten handelte, sieht die nach seinem Dafürhalten für sich nicht aussagekräftigen Wundertaten damit kompatibel und rückt Jesus in die Nähe der zelotischen Zeichenpropheten.35 P.W. Barnett reklamiert unter Verweis auf das Speisungswunder ein mit Jesus einsetzendes common pattern prophetischer Figuren, die an einem symbolträchtigen Ort vor einer großen Volksmenge ein Zeichen zu wirken suchten.36 R.A. Horsley und J.S. Hanson, die für das neutestamentliche Zeitalter zwischen „oracular prophets“ und „action prophets“ unterscheiden, ordnen Jesus zwar eher der erstgenannten Strömung zu, sehen aber in seiner von UrzeitEndzeit-Enstprechungen geprägten Eschatologie Jesu („as it was in the days of old … so now will it be“) Berührungen mit der action prophecy der Zeichenpropheten.37 reth. Jesus’ Miracles in Historical Context, London 2009; KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. Anm. 3), 174–315; G.H. TWELFTREE, Jesus the Exorcist, WUNT 2/94, Tübingen 1993; DERS., Jesus the Miracle Worker, Downers Grove 1999. 34 J.P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus Vol. 2: Mentor Message, and Miracles, New York 1994, 509–1038, handelt die Wunder auf mehr als 500 Seiten ab. Vgl. ferner J. B ECKER, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 211–233; J.D. CROSSAN, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1991, 303–353; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered, Grand Rapids/Cambridge 2003, 667–696; M. EBNER, Jesus von Nazaret. Was wir von ihm wissen können, Stuttgart 2 2012, 104–117; J. GNILKA, Jesus von Nazaret, Freiburg 22007, 118–141; M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, NTD Erg. 11, Göttingen 1998, 245–262; L. SCHENKE u.a., Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 148–163; J. SCHRÖ4 TER, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, BG 15, Leipzig 2012, 151– 157; G. T HEIßEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 42011, 256–285. 35 E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985, 172. 36 P.W. B ARNETT, The Jewish Sign Prophets – A.D. 40–70, NTS 27 (1981) 679–697. 37 R.A. HORSLEY/J.S. HANSON, Bandits, Prophets and Messiahs, San Francisco 1985.

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D.E. Aune zieht eine Grenzlinie zwischen dem typischen Magier einerseits und magischen Praktiken andererseits, wie sie für die Gestalt des Schamanen, des Weisen, des Propheten oder des Messias belegt sein können. Jesus repräsentiere historisch wie soziologisch mit seinen aus dem Bereich der Magie entlehnten Wunderpraktiken die Figur des messianischen Propheten.38 Auch G. Theißen attestiert Jesus trotz seiner in der Volksfrömmigkeit wurzelnden magischen Manipulationen bei Heilungen ein prophetisches und nicht magisches Selbstverständnis.39 3.2. Jesus als Chasid Vielfach versucht man den Wundertäter Jesus im Kontext eines charismatisch orientierten galiläischen Judentums seiner Zeit zu betrachten, das in Konflikt mit den Pharisäern geriet. David Flusser weist auf enge Berührungen Jesu mit den Wundertätern Choni, Abba Chilkia, Chanan und Chanina ben Dosa hin.40 Über drei dieser vier Wundertäter werde analog zu Jesus berichtet, dass ihre Beziehung zu Gott wie die eines Sohnes zum Vater war. Weitere Übereinstimmungen sieht Flusser im spannungsgeladenen Verhältnis des Wundercharismatikers zum Schriftgelehrtenstand, einer gewungenermaßen oder bewusst durch Armut gekennzeichneten Lebensweise und einer Vollbringung des Wunders im Verborgenen. Noch konsequenter vertritt Geza Vermes die Auffassung, Jesu Heilungen und Dämonenaustreibungen seien erst vor dem Hintergrund des Wirkens zeitgenössischer Chasidim in ihrer wirklichen Bedeutung zu erfassen. Jesus sei wegen seines Verzichts auf magische Praktiken kein mit geheimen Kräften operierender professioneller Exorzist wie Eleazar (Jos., Ant. 8,45–48), sondern gehöre in ein mit dem Auftreten Elias und Elisas gesetztes jüdisches pattern von Chasidim, die durch unmittelbaren, spontanen Kontakt mit Gott Wunder vollbringen und sich dabei einer Kombination von Gebet, dämonenvertreibendem Wort und Handauflegung oder anderweitiger Berührung bedienten. Literarisch habe sich dieses pattern im Genesis-Apokryphon (1QGenAp 20,12–29), im Gebet des Nabonid (4Q246) und im Talmud (bMeil 17b) niedergeschlagen. Historisch sei es im Judentum des neutestamentlichen Zeitalters bei Choni dem Kreiszieher und Chanina ben Dosa greifbar, mit denen Jesus als herausragender Repräsentant eines „first-century charismatic Judaism and as the paramount examp-

38 D.E. AUNE, Magic in Early Christianity, ANRW II.23.2 (1980), 1507–1557, hier 1523–1539. 39 T HEIßEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 34), 278 40 D. FLUSSER, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbeck 1981 (Nachdruck), 89–91.

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le of the early Hasidim or Devout“ in die besagte Traditionslinie eingeordnet werden könne.41 Auch Shmuel Safrai bringt Jesus mit einer von Choni und Chanina ben Dosa als „Männern der Tat“ repräsentierten chasidischen Bewegung in Galiläa in Verbindung. Entscheidende Charakteristika dieser Chasidim seien Armut und eine Vorordnung der guten Tat gegenüber dem Toragehorsam. Ohne „actually a Hasid or a member in any form or fashion of the basically Galilean Hasidic movement of his time“ zu sein, zeige Jesus doch eine Ähnlichkeit mit den Chasidim, die sich auf „teaching, lifestyle, behavior and relationship with the sages“ erstrecke.42 3.3. Jesus als Schamane Schamanismus ist ein erst in der Neuzeit in den Fokus der Religionswissenschaft gerücktes Phänomen,43 das zunächst in Sibirien und Zentralasien entdeckt wurde. Schamanen sind in sogenannten „primitiven Stammesgesellschaften“ hochangesehene Mittler zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt, die den Menschen direkten Kontakt zu den göttlichen Kräften vermitteln, indem sie beispielsweise durch Opferriten die höheren Mächte versöhnen oder den Seelen der Verstorbenen Geleit ins Jenseits geben. Als Medizinmänner bewirken sie Heilung, indem sie die verloren gegangene oder von bösen Geistern geraubte Seele zu ihrem angestammten Ort im menschlichen Körper zurückbringen und damit die Harmonie wiederherstellen. Die Haupttechnik von Schamanen ist die nach Hineinversetzen in einen veränderten Bewusstseinszustand vollzogene Jenseitsreise, bei der sich die Seele in Trance vom Körper löst, um sich in die himmlischen Gefilde oder die Unterwelt zu begeben. Daneben wird Schamanen die Fähigkeit zugeschrieben, Hilfsgeister zu rekrutieren. Das Phänomen des Schamanismus lässt sich in die Antike zurückverfolgen, wo Gestalten wie Epimenides, Pythagoras oder Empedokles als Heiler, Seelenreiniger und Seher agierten.44 41 G. VERMES, Jesus the Jew. A Historian’s Reading of the Gospels, Philadelphia 1973, 79, zum Ganzen 58–82. 42 S. SAFRAI, Jesus and the Hasidim, Jerusalem Perspective 42–44 (1994), 3–22; hier 16f. 43 Grundlegend, wenn auch nicht unumstritten, ist M. ELIADE, Shamanism. Archaic Techniques of Ecstasy, New York 1964; vgl. ferner M. STUTLEY, Shamanism. An Introduction, London/New York 2003. 44 Vgl. E.R. DODDS, The Greeks and the Irrational, Berkeley 81973, 135–178; W. B URKERT, GOHΣ. Zum griechischen Schamanismus, RhM NF 105 (1962), 36–55; G. LUCK, Arcana Mundi. Magic and the Occult in the Greek and Roman Worlds, Baltimore/London 1985, 11–13. Kritisch: J.N. BREMMER, The Rise and Fall of the Afterlife, London 2002.

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Eugen Drewermann hat als erster die Wunder Jesu konsequent vor dem Hintergrund des Schamanismus interpretiert und sieht in kritischer Frontstellung gegen die mythologische und kerygmatische Wunderdeutung nicht den geringsten Anlass, grundsätzliche Zweifel an ihrer Geschichtlichkeit anzumelden. „So paradox ist jetzt die Lage: während die historischkritische Wissenschaft als ein verspäteter Bastard des Säkularismus von einer Peinlichkeit in die andere stolpert, kann ein einziger Blick auf das Leben eines wirklichen Wunderheilers außerhalb des europäischen Kulturkreises zeigen, wie die Wunder der Heilung zu verstehen sind und vor allem: welche eine Wirkmacht einer unverfälschten Form von Religiösität zuzutrauen ist.“45 Unter Rückgriff auf das Denken der Naturvölker entwickelt Drewermann ein Bild von Krankheit als Ausdruck seelischer Disharmonie, das er in den biblischen Texten widergespiegelt sieht. Weit davon entfernt, ein nur körperliches Geschehen zu sein, basiert Krankheit für ihn auf einer gestörten Beziehung zu den Mächten der unsichtbaren, jenseitigen Welt des Unbewussten. Der kranke Körper ist das Spiegelbild der ihrer Mitte verlustig gewordenen Seele. Krank wird jemand, der den Kontakt zur Welt der Träume verloren hat, dem das Vertrauen, an die Größe seines eigenen Wesens und Lebensweges zu glauben, abhanden gekommen ist und der sich schuldig fühlt. Gesundheit meint, in der Mitte der Welt und in der Verbundenheit mit allem Geschaffenen zu leben. Nach Art antiker oder neuzeitlichen Schamanen bewirke Jesus durch das in der Begegnung mit ihm ausgelöste Vertrauen eine Wiederherstellung der Einheit von Körper und Seele sowie ein Zurückfinden des Kranken zur Mitte der Welt. Einziges Spezifikum der Wunderheilungen Jesu, die von den Heilungen der Schamanen weder in der Art noch im Singehalt noch in ihrer religiösen Kraft und Bedeutung wesentlich unterschieden seien, ist für Drewermann die Personalisierung des Rituellen. Was der Schamane gewöhnlich durch den Ritus zu vermitteln suche, bewirke Jesus fast ausschließlich durch seine eigene Person. Ähnlich wie Drewermann, aber offensichtlich ohne Kenntnis von dessen einschlägigen Publikationen spricht Pieter F. Craffert von Jesus als „Galilean shaman“, der sich regelmäßig in Zustände veränderten Bewusstseins versetzt, Krankheit geheilt und Weisheit aus der göttlichen Welt vermittelt habe.46 Unter Einfluss der kulturanthropologischen Perspektive stellt Craf45

DREWERMANN, Tiefenpsychologie und Exegese Bd. 2 (s. Anm. 23), 123, zum Ganzen 43–309. 46 P.F. CRAFFERT, The Life of a Galilean Shaman. Jesus of Nazareth in Anthropologal-Historical Perspective, Eugene 2008; vgl. ferner J. ASHTON, The Religion of Paul the Apostle, New Haven 2000, 62–72 (Exkurs: „Jesus as Shaman“); J.J. P ILCH, Ereignisse eines veränderten Bewusstseinszustands bei den Synoptikern, in: W. Stegemann/B.J. Malina/G. Theißen (Hgg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 33–42. Eine kritische Würdigung des Ansatzes von Craffert bietet C. STRECKER, Jesus als Schamane?

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fert zunächst heraus, dass sich die Weltsicht in den antiken Kulturen des Mittelmeeraumes grundlegend vom modernen Wirklichkeitsverständnis unterscheidet und in vielerlei Hinsicht Übereinstimmungen mit der Weltsicht schamanistischer Gemeinschaften aufweist. Vor diesem Hintergrund porträtiert er Jesus konsequent als Schamanen. Das Phänomen des Schamanismus sieht Craffert dadurch konstituiert, dass sich ein religiöser Spezialist im Dienst der Gemeinschaft in kontrollierter Weise in verschiedene Formen veränderter Bewusstseinzustände zu versetzen vermag, die ihn zur Ausübung diverser sozialer Funktionen befähigen, darunter Heilungen, Kontrolle über Geister und Divination. Zu den Evangelienüberlieferungen, in denen Jesus als galiläischer Schamane erkennbar werde, rechnet er nicht zuletzt auch die Wundergeschichten,47 wobei die Heilungen als symbolische Interventionen in das Leben von Menschen gelten, welche die Weltsicht mit dem Schamanen teilen. Naturwunder wie die Sturmstillung oder der Seewandel werden auf schamanistische Geisterkontrolle zurückgeführt. 3.4. Jesus als Volksheiler und „Transformer“ Während Craffert in seinem kulturanthropologisch inspirierten Modell Jesus als Schamane porträtiert, favorisieren andere Bibelwissenschaftler aus ethnologischer oder kulturanthropologischer Perspektive eine Betrachtung Jesu als Volksheiler (folk healer) oder „Transformer“. Grundsätzlich versucht der kulturanthropologische Zugang zum Neuen Testament das Bewusstsein für die Fremdheit der mediterranen Lebenswelt der Antike zu schärfen. Die neutestamentlichen Texte werden im Kontext ihrer zeitgenössischen Kultur und Erfahrung interpretiert, deren Wirklichkeitsverständnis sich grundlegend von dem der neuzeitlichen westlichen Lebenswelten unterscheidet. Vor diesem Hintergrund verkörpert der Wundertäter Jesus für Wolfgang Stegemann den Typus des Volksheilers, wie er auch in heutigen außereuropäischen Kulturkreisen begegnet.48 Typisch für Volksheiler sei, dass sie mit dem Milieu des Klienten und dessen Gemeinschaft vertraut sind, signifikante Elemente der Weltsicht und Krankheitsvorstellungen (etwa die Annahme einer Existenz und Wirkung von Geistern) mit ihnen teilen und die Behandlung ambulant und häufig in der Öffentlichkeit vollziehen. In den Wundergeschichten spiegele sich statt therapeutischem Handeln (Einsatz von Medikamenten, Massagen, chrirurgischen Techniken) eher eine Art Machtkampf wider, wobei Jesus sich im Heilverfahren

Anmerkungen zur kulturanthropologischen Jesusforschung, in: P. von Gemünden/D.G. Horrell/M. Küchler (Hgg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen (FS G. Theißen), NTOA 100, Göttingen 2013, 537–568. 47 CRAFFERT, a.a.O., 245–308. 48 STEGEMANN, Dekonstruktion (s. Anm. 27), 84–86.

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emotional und mit körperlichem Kraftaufwand einbringe, so dass eher ein symbolisches Heilen als ein ärztliches Wirken vorliege. Christian Strecker versucht aus kulturanthropologischer Perspektive die im Neuen Testament geschilderten Fälle von Besessenheit als Performances und deren Heilung durch Exorzismen Jesu als Transformances zu verstehen, um der Fremdheit der Phänomene Rechnung zu tragen und sie nicht unbotmäßig im Diskurs der Moderne reduktionistisch zu vereinnahmen.49 Die auffälligen Verhaltensweisen Besessener (vgl. Mk 1,23f.; 5,2– 7; 9,18–22) seien als „Performance“ zu sehen. Der Besessene aktiviere in dramatischer Form öffentlich solche Rollenmuster, wie sie in einer bestimmten Gesellschaft als Indiz für Besessenheit gelten, und schaffe dadurch eine dämonische Wirklichkeit. Jesus breche mit seiner als Transformance zu verstehenden exorzistischen Tat in das Feld der Besessenheitsperformance ein. In seinem exorzistischen Handeln als öffentlicher dramatischer Aufführung eines Wandels erfahre Besessenheit eine performative Aufsprengung und reale Transformation, kraft derer die Identität der Besessenen neu konstituiert, ihre soziale Stellung in der Gesellschaft neu bestimmt und die kosmische Ordnung neu etabliert wird. 3.5. Jesus als Magier Magische Praktiken waren in der jüdischen Lebenswelt Jesu allgegenwärtig und die Wunder Jesu wurden bereits in der Antike massiv mit Magie in Verbindung gebracht.50 Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Frage nach Jesus als Magier in der Bibelwissenschaft erst in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Fokus gerückt ist. Lange Zeit galt es als sicher, dass die durch das krafterfüllte Wort bewirkten und sich im Rahmen einer personalen Beziehung zu den Hilfsbedürftigen vollziehenden Wunder Jesu nicht das Geringste mit Magie zu tun hätten.51 Letztlich blieb es Morton Smith vorbehalten, in ausgesprochen provokativer Form die Frage nach 49 C. STRECKER, Jesus und die Besessenen, in: Stegemann u.a. (Hgg.), Jesus in neuen Kontexten (s. Anm. 46), 53–63. 50 G.N. STANTON, Jesus of Nazareth: a Magician and a False Prophet Who Deceived God‘s People?, in: ders., Jesus and Gospel, Cambridge 2004, 127–147; P. GEMEINHARDT, Magier, Weiser, Gott. Das Bild Jesu bei paganen antiken Autoren, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen. Beiträge zu außerkanonischen Jesusüberlieferungen aus verschiedenen Sprach- und Kulturtraditionen, WUNT 254, Tübingen 2010, 467–492. 51 W. GRUNDMANN, Art. du,namai ktl., ThWNT II (1935), 286–318, hier 303. Ohne erkennbare Wahrnehmung der intensiven neueren Diskussion um die Bewertung magischer Motive in der Jesusüberlieferung behaupten auch G. LOHFINK, Jesus von Nazaret. Was er wollte, wer er war, Freiburg 2011, 202.213; M. REISER, Der unbequeme Jesus, BThSt 122, Neukirchen-Vluyn 2011, 188, Jesus habe niemals magische Praktiken angewandt.

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Jesus als Magier in das allgemeine Bewusstsein zu rücken. Bereits nach seiner Entdeckung des „Geheimen Markusevangeliums“, dessen Echtheit allerdings immer wieder bezweifelt wird, sah er das gesamte Wirken Jesu von obskuren magisch-esoterischen Praktiken geprägt.52 In seinem Buch „Jesus the Magician“ versucht Smith dann das in sich stimmige und glaubwürdige Bild einer Magierlaufbahn Jesu zu rekonstruieren, wobei er unter Magie eine erlernbare Technik versteht, die im Wesentlichen aus Hypnose, Schauspielerei und Pharmakologie bestehe. Alle Komponenten begegneten bei Jesus als einem vom Geist besessenen Magier wieder, auch wenn die Evangelien aus apologetischen Motiven einer Zensur mit Unterdrückung magischer Züge Jesu unterworfen worden seien.53 Die indirekt aus den Evangelien erschlossene magische Laufbahn Jesu deckt sich weitgehend mit dem Bild, das Smith bereits vorher aus anderen antiken Quellen wie der „Wahren Lehre“ des Christengegners Kelsos oder dem Talmud gewonnen hatte. Eine wichtige Weiterentwicklung des Ansatzes von Morton Smith bietet John Dominic Crossan, indem er Jesus als Kyniker und Magier begreift, der eine ideale Vision von einer besseren Gesellschaft besaß und über ein fest umrissenes soziales Programm aus „magic and meal“ oder „miracle and table“ verfügte. Durch Wunder und Tischgemeinschaften habe Jesus Menschen in unmittelbaren Kontakt zu Gott gebracht und das Reich Gottes vergegenwärtigt, wobei seinen Dämonenaustreibungen vor dem Hintergrund der Römerherrschaft als „kolonialen Exorzismen“ symbolische revolutionäre Bedeutung zukomme.54 Ich selbst habe versucht zu zeigen, dass Jesus als „magician of a special kind“ mit antiken Magiern in nicht unerheblichem Umfang die Dämonologie, die Wunderpraktiken und die Wirkungsgeschichte teilt, ohne dass er einer der uns bekannten breiteren Strömungen der jüdischen oder paganen Magie zugeordnet werden könnte.55

4. Fazit und Ausblick Die neuzeitliche Debatte um die neutestamentlichen Wundergeschichten hat eine historische und eine gegenwartsbezogene Dimension. Auf der ei52

M. SMITH, Clement of Alexandria and a Secret Gospel of Mark, Cambridge 1973 220–251; vgl. B. KOLLMANN, Die Jesusmythen. Sensationen und Legenden, Freiburg 2 2009, 54–61. 53 SMITH, Magician (s. Anm. 33), passim. 54 CROSSAN, Historical Jesus (s. Anm. 34), 303–353. 55 B. KOLLMANN, Jesus and Magic: The Question of the Miracles, in: T. Holmén/S.E. Porter (Hgg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus Vol. IV: Individual Studies, Leiden/Boston 2011, 3057–3085.

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nen Seite geht es darum, die Relevanz von Wundertaten für das Auftreten und Wirken Jesu angemessen zu erfassen; auf der anderen Seite stellt sich die Frage nach der sachgemäßen theologischen Interpretation der biblischen Wunderüberlieferungen und den Chancen wie Risiken des Wunderglaubens. Im Blick auf den erstgenannten Punkt hat die Debatte der letzten Jahrzehnte deutlich gezeigt, dass die wunderlosen Leben-Jesu-Darstellungen ein verkürztes, um nicht zu sagen verfälschtes Jesusbild bieten. Ohne die Wunder lässt sich die Bedeutung des Auftretens Jesu nicht in voller Tiefe erfassen. Während die Naturwunder mit Skpesis zu betrachten sind und in den ältesten Traditionsschichten fehlen, stehen Exorzismen und Heilungen im Zentrum des Wirkens Jesu und sind auf das Engste mit seiner Botschaft von der bereits im Anbruch begriffenen Herrschaft Gottes verbunden (Lk 11,20par). Die von diesen Machttaten Jesu an Kranken und dämonisch Besessenen handelnden Erzählungen stellen keine historischen Protokolle oder Augenzeugenberichte dar, sondern folgen in hohem Maße traditionellen antiken Erzählmustern und sind vom Glauben der Gemeinde geprägt. Sie können aber nicht pauschal dem Bereich der Mythen und Legenden zugeordnet werden, sondern führen mehrheitlich auf Ereignisse aus dem Leben Jesu zurück und werfen Licht auf dessen Wunderwirken. Darüber, inwieweit Jesus mit seinen Exorzismen und Heilungen einer breiteren Strömung antiken Wundertätertums zugeordnet werden kann, lässt sich streiten. Die Bezüge zum jüdischen Wunderprophetentum sind nur schwach ausgeprägt. Jesus hat seine Wunder nicht primär zur Beglaubigung seiner Botschaft bewirkt, sondern ihnen eigenständige Bedeutung im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Gottesherrschaft beigemessen; erst von Lukas wird Jesus dezidiert als Wunderprophet porträtiert (Lk 24,19). Das als Verständnishintergrund für die Wunder Jesu beanspruchte pattern wunderwirkender Chasidim erweist sich als brüchig, da die dafür beanspruchten Wundertraditionen sich in ihrer Komplexität der Zuordnung zu einer festgeprägten charismatischen Bewegung und deren scharfer Abgrenzung von Magie entziehen. Es schärft aber das Bewusstsein dafür, dass Jesus nicht der einzige jüdische Wundertäter seiner Zeit war. Die Betrachtung Jesu als Volksheiler oder Schamane trägt der Fremdheit der mediterranen antiken Lebenswelt Jesu Rechnung und betont zu Recht, dass die unmittelbarsten Parallelen zu den Dämonenaustreibungen und Heilungen Jesu in Gesellschaften außerhalb des westlichen Kulturkreises zu finden sind. Damit kompatibel ist eine Betrachtung Jesu als „Magier der besonderen Art“, die meines Erachtens der religionsgeschichtlichen Einord-

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nung der Wundertätigkeit Jesu bei gleichzeitiger Wahrnehmung ihrer unverwechselbaren Züge am besten gerecht wird.56 Von der Dämonologie, dem Erscheinungsbild und der Wirkungsgeschichte her trägt der Wundertäter Jesus Züge des antiken Magiers. Er teilte das dämonistische Weltbild der Antike und bediente sich insbesondere bei den Exorzismen solcher Praktiken, wie sie aus magischen Zeugnissen der Antike bekannt sind. Die Wirkungsgeschichte Jesu ist mit der antiker Magier wie Pythagoras, Empedokles oder Apollonius von Tyana über weite Strecken deckungsgleich. Für die Anhänger Jesu zeigt sich in den Wundern sein göttliches Wesen. Die Gegner Jesu bestreiten dies, indem sie ihn der betrügerischen Magie (Goetie) bezichtigen, wie sie nahezu allen prominenten Magiern in der griechisch-römischen Welt vorgeworfen wird. Die kontroverse Diskussion um Jesus als Magier wird durch den in der Forschung vollzogenen Paradigmenwechsel in der Bewertung von Magie deutlich entschärft. Die lange Zeit beliebte Betrachtung von Magie als primitiver Vorstufe oder degenerierter Fehlentwicklung von Religion erweist sich als Klischee. Wo die Grenze zwischen abgelehntem magischen Wunder und gutgeheißenem charismatischen Wunder gezogen wird, ist im Wesentlichen eine Frage des subjektiven Standpunkts und der gesellschaftlichen Machtstellung. Solche Aspekte, die Magie zu einer problembehafteten Form der Religionsausübung machen, insbesondere die Zwangsbeeinflussung von Gottheiten, die Durchsetzung fragwürdiger Wünsche und die Anwendung von Schadenszauber, erweisen sich für Jesu Wunder als bedeutungslos. Dabei lässt er sich keiner magischen Strömung des antiken Judentums oder der hellenistischen Welt unmittelbar zuordnen. Vieles deutet darauf hin, dass Jesus sich nach der Taufe durch Johannes in einer Art Berufungsvision (Lk 10,18) seiner besonderen Kräfte bewusst wurde und im Horizont der anbrechenden Gottesherrschaft als Wunderheiler aktiv wurde (Lk 11,20). Im Weichen der Dämonen manifestierte sich für Jesus im Kleinen bereits die neue Welt Gottes. Diese eschatologische Perspektive der Wunder Jesu ist singulär und macht sie unverwechselbar. Im Blick auf die Frage nach dem angemessenen gegenwartsbezogenen Verstehen der neutestamentlichen Wundergeschichten zeigt sich, dass es kaum so etwas wie das eine normative Auslegungsmodell gibt. Vielmehr existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge, die ihre Berechtigung haben und sich gegenseitig befruchten können. Auch wenn man den historischen Gehalt der neutestamentlichen Wundererzählungen deutlich höher bewerten kann, als dies in der Religionsgeschichtlichen Schule der Fall 56

Vgl. zum Folgenden ausführlicher und mit Lit.-Belegen KOLLMANN, a.a.O., 3077– 3085; DERS., Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus, in: R. Zimmermann u.a. (Hgg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 124–139, hier 132–138.

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war und selbst kritische Bibelwissenschaftler vereinzelt mit wissenschaftlich nicht erklärbaren Wundern rechnen,57 führt kaum ein Weg an der grundlegenden Einsicht der mythischen und kerygmatischen Deutung vorbei, dass die neutestamentlichen Wundergeschichten in ihrer jetzigen Gestalt maßgeblich vom Glauben der Gemeinde geprägt sind und im Vergleich mit ihren antiken Parallelen wenig Unverwechselbares an sich haben. Es ist daher nach einem Sinngehalt der Wundergeschichten zu suchen, der auch jenseits der Frage nach dem tatsächlichen Geschehen Bestand hat. Hermeneutisch haben dabei die kerygmatische Deutung der Wundererzählungen als existenzverändernder Glaubenszeugnisse und die sozialgeschichtliche Deutung der Wundererzählungen als grenzüberwindender Hoffnungsgeschichten nichts von ihrer grundsätzlichen Bedeutung eingebüßt, werden aber durch andere Ansätze in sinnvoller Weise korrigiert, ergänzt und bereichert. Die Biblische Theologie stellt ein kritisches Korrektiv zur einseitigen Ableitung der Wundererzählungen aus hellenistischer Tradition dar. Die tiefenpsychologische Betrachtung der Wundererzählungen vermag deren ganzheitliches Heilungspotenzial zu erschließen, indem sie den in ihnen verborgenen Schatz zeitloser Wege der Befreiung von Angst und innerer Zerrissenheit sichtbar werden lässt. Wunderbetrachtung aus der Genderperspektive verhilft zur Wahrnehmung und kritischen Infragestellung konstruierter Geschlechterrollen. Semiotische und kulturanthropologische Zugänge bewahren davor, die biblischen Wundergeschichten vorschnell am Erfahrungshorizont unserer modernen westlichen Kultur zu messen und als Repräsentanten eines überholten Weltbildes zu betrachten. Das Verdienst der Wunderlektüre aus der Disability-Perspektive liegt darin, festgefahrene Vorstellungen von körperlicher Normalität aufzubrechen und die Anstößigkeit der Wundererzählungen für solche Personen wahrzunehmen, die dauerhaft mit Krankheit oder Behinderung leben müssen. Die voreilig totgesagte Wunderdebatte bleibt in Bewegung und ist lebendiger denn je. Der vielschichtige und facettenreiche Streit um die Bedeutung der Wunder Jesu hat bislang nicht zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt und vielleicht liegt gerade in dieser postmodernen Vielfalt des Wunderglaubens seine Stärke.

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C.S. KEENER konstatiert in seinem Beitrag zu diesem Band: „Thus a growing number of scholars today, including myself, allow for the possibility of divine activity in miracles“ (siehe unten 65). Vgl. REISER, Der unbequeme Jesus (Anm. 51), 162f.: Für die theologische Begründung (sc. der Wunder) genügen zwei Annahmen: erstens, daß Gott alles geschaffen hat, und zweitens, daß Gott sich nicht selbst widerspricht und nichts tut, was im direkten Gegensatz zu seinen selbst geschaffenen Ordnungen steht. Unter diesen beiden Voraussetzungen können wir Wunder als die Freiheit Gottes begreifen, im Buch der Natur wie der Geschichte gelegentlich auch mit ganz unerwarteten und ungewohnten Zeichen zu schreiben.“

Von der Wut des Wunderverstehens Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen Ruben Zimmermann Die wissenschaftliche Reflexion drängt auf Erklären und Verstehen. Sie versucht einen Gegenstand anhand diskursiv anerkannter Meta-Theorien zu beschreiben, rational zu durchdringen und im Blick auf seine Entstehung und Funktion zu interpretieren. Phänomene der Wirklichkeit werden auf diese Weise analysierend erfasst, deutend angeeignet, man könnte auch sagen: der jeweiligen Einsichtsfähigkeit, Rahmentheorie oder Methodologie „gefügig“ gemacht. Am Beispiel der frühchristlichen Wundererzählungen lassen sich solche hermeneutischen Prozesse wissenschaftlicher Aneignung idealtypisch nachvollziehen. Zunächst schwer oder nicht mehr verständliche antike Texte werden hinsichtlich gegenwärtiger Theorien z.B. der Formgeschichte oder der Tiefenpsychologie erfasst, um sie besser verstehen zu können. Dabei können zweifellos neue und bisher unbekannte Facetten des Textes ans Licht gebracht werden. Allein, die Texte entziehen sich immer wieder dem Zugriff. So beflügelnd die Freude über die Erschließungskraft einzelner methodischer Zugriffe sein mag, so ernüchternd ist der ehrliche Blick auf die Widerständigkeit der Texte. Es bleiben die Reste des Unverständnisses, die dunklen Stellen, die Rätselhaftigkeit eines vorfindlichen Textes, die der Verstehenswilligkeit trotzen. Mag der Erklärungsfleiß des Auslegers sich langsam sogar zur „Wut des Verstehens“1 hochtreiben lassen, er muss sich (zumindest insgeheim) doch immer wieder die Grenzen seiner Auslegungskunst eingestehen. Die Texte lassen sich nicht auf das Prokrustessbett wissenschaftlicher Auslegungslogik pressen, mag sie noch so klug oder komplex sein. Dabei befindet sich der Wissenschaftler unweigerlich in einem hermeneutischen Zirkel, in einem dynamischen Prozess von Fremdheit und Ver1

Die Formulierung stammt bekanntlich von F.D.E. SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 144, und wird besonders in der ‚Anti-Hermeneutik‘ immer wieder rezipiert, vgl. z.B. J. HÖRISCH, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1998.

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trautheit, Aneignung und Enteignung, der Motor und Bremsklotz des Verstehensvorgangs zugleich ist. Die Methoden, mit denen ein Text gelesen wird, besitzen eine Filterfunktion, anhand derer einzelne Aspekte der Texte präziser wahrgenommen werden können, andere hingegen ausgeblendet werden. Die Chance des besseren Verstehens wird zum Preis des Missverstehens anderer Aspekte des Textes erkauft. Analysemethoden sind wie farbige Brillen, die den Gegenstand auf eine Weise zwar schärfer sehen lassen, auf andere aber in ein Licht tauchen, das verfärbt, verzerrt und verstellt. Der vorliegende Beitrag versucht dieser Spannung zwischen Verstehen und Missverstehen nachzuspüren. Er möchte auf die Grenzen des Verstehens von Wundertexten hinweisen, aber anerkennt zugleich die bleibende Notwendigkeit der Sinnsuche und einer Reflexion der Interpretationsmöglichkeit der Texte. Gegenüber einem posthermeneutischen Verstehensverzicht plädiere ich für die begrenzte Verstehenschance der Texte. Vor allem aber dient die hermeneutische Herausforderung der Texte dazu, die Sensibilität für die spannungsvolle Dynamik einer Wunderhermeneutik wach zu halten. Die Aufgabe der Hermeneutik-Reflexion kann dann sogar darin gesehen werden, den Finger in der Wunde des Unverständnisses zu halten, die allen Verstehensversuchen zum Trotz immer wieder aufbricht.

1. Die Erklärungswut der Forschung und der Entzug der Texte Die Geschichte der Interpretation von frühchristlichen Wundererzählungen kann wie eine Geschichte der Aneignung der Texte gelesen werden. Immer wieder waren es spezifische erkenntnistheoretische Voraussetzungen und Methoden, die den Zugriff auf die Texte bestimmt haben. Im Folgenden geht es nicht darum, eine Geschichte der Wunderforschung in ihren Einzelheiten nachzuzeichnen, vielmehr sollen Grundtypen der Interpretation benannt und hermeneutisch reflektiert werden.2 2 Vgl. hierzu bereits R. ZIMMERMANN, Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung, in: ders. u.a. (Hgg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 5–67, hier 7–12 (einige Formulierungen sind wörtlich übernommen); ausführlich zur Forschungsgeschichte den Beitrag von Kollmann in diesem Band, sowie B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996, 18–41; G. T WELFTREE, The History of Miracles in the History of Jesus, in: S. McKnight/G. R. Osborne (Hgg.), The Face of New Testament Studies. A Survey of Recent Research, Grand Rapids 2004, 191–208; R. ZIMMERMANN, Wundern über ‚des Glaubens liebstes Kind‘. Die hermeneutische (De-)Konstruktion der Wunder Jesu in der Bibelauslegung des 20. Jahrhunderts, in: A.C. Geppert/T. Kössler (Hgg.), Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert, stw 1984, Frankfurt a.M. 2011, 95–125.

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So war aufgrund des Bemühens um Einheitlichkeit des neuzeitlichen Weltbilds die rationalistische Interpretation aufgekommen, die zu Beginn des 19. Jh. eine gewisse Blüte erlangte3, aber in unterschiedlichen Spielarten seither den Wunderdiskurs begleitet. Vereinfacht gesagt ging und geht es bei diesem Ansatz darum, die in den Erzählungen genannten Ereignisse mit Naturgesetzen bzw. naturwissenschaftlichem Wissen in Einklang zu bringen. So wurde z.B. Jesus als Arzt betrachtet, dessen medizinischen Praktiken dem einfachen, ungebildeten Volk wie ein Wunder vorkommen mussten.4 Zum Lazarus-Wunder postulierte H.E.G. Paulus etwa einen Scheintod, bei dem Lazarus zu früh für tot erklärt wurde. Zusammen mit den archäologischen Kenntnisse über die weiträumigen Grabkammern im alten Israel kam er dann zu der Erklärung, dass das Erwachen aus dem Koma durch die Öffnung des Grabes verursacht sei, was Jesus sofort erkannte, dann aber ein demonstratives Schauwunder vollzog.5 Ebenso auf der Ebene rationalistischer Textinterpretation sind die pathologisch-medizinischen Klassifizierungsversuche der im Text beschriebenen Krankheiten einzuordnen. Für derartige Erklärungen werden schon Analogien in ‚frührationalen‘ Deutungsmustern antiker Medizin etwa bei Galen oder im Corpus Hippocraticum herangezogen.6 Entsprechend lässt sich z.B. das Anfallsleiden des Jungen (Mk 9,14–29) als „Epilepsie“7 einstufen. Mit moderner Diagnostik und Terminologie kann man verstehen, dass die „verkrümmte Frau“ (Lk 13,10–17) unter einer „Skoliose“ der Wirbelsäule litt, oder erklärt die „Wassersucht“ (Lk 14,1–6) mit dem Krankheitsbild des „Hydrops“ oder „Ödems“.8 Besonders deutlich wird dieser rationalistische Zugang auch bei dem Versuch, dämonische Besessenheit ‚vernünftig‘ erklären zu wollen: Unterschiedliche Deutungsmuster 3 Namhafte Vertreter dieser Zeit sind Carl Heinrich Venturini (1768–1849) und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851). 4 Vgl. dazu B. KOLLMANN, Jesus (s. Anm. 2), 19f., sowie ausführlich in seinem Beitrag in diesem Band. 5 Vgl. H.E.G. P AULUS, Philologisch-kritischer und historischer Commentar über das Evangelium des Johannes, Lübeck 1804, 536–545. Einzelheiten dazu in R. ZIMMERMANN, Vorbild im Sterben und Leben (Die Auferweckung des Lazarus): Joh 11,1–12,11, in: ders. u.a. (Hgg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen Bd. 1 (s. Anm. 2), 742–763, hier 755. 6 Vgl. z.B. T. T IELEMANN, Miracle and Natural Cause in Galen, in: S. Alkier/A. Weissenrieder (Hgg.), Miracles Revisited. New Testament Miracle Stories and their Concepts of Reality, Studies of the Bible and its Reception 2, Berlin/Boston 2013, 101–114; auch A. W EISSENRIEDER, Stories just under the Skin: lepra in the Gospel of Luke, in: Alkier/Weissenrieder, Miracles Revisited, a.a.O., 73–100, hier: 85–92, spricht hermeneutisch reflektiert von „Ancient ‘Rational’ Medizin”. 7 M. W OHLERS, Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion, MThS 57, Marburg 1999. 8 M. WOLTER, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 501.

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wie z.B. „Hysterie“, „Manie“, „Epilepsie“9 oder etwa „Schizophrenie“ bzw. „multiple personality disorder“10 spiegeln je vorherrschende Konstruktionsmodelle in moderner Psychologie und Psychiatrie. Das im Text genannte, aber für moderne Rezipienten sperrige Phänomen der Dämonenbesessenheit soll auf diese Weise mit gegenwärtiger rationaler Theorie und Einsicht kompatibel gemacht werden.11 Schließlich sind neuere Versuche zu nennen, die Heilungen oder Wunder allgemein mit Methoden der Psychosomatik, Parapsychologie, Hirnforschung, ja sogar der Quantenphysik12 erklären wollen. Dabei sollen z.B. Erscheinungen als Phänomene von Massensuggestion und der Gang Jesu auf dem Wasser mit der Überwindung der Schwerkraft durch den Neutrinostrahl verstanden werden. Hermeneutisch aufschlussreich sind besonders die Lösungsversuche, mit denen scheinbare Widersprüche zwischen Textwelt und Wirklichkeitsmodell aufgelöst werden sollen. Die rationalistische Hermeneutik stellt hierbei vor eine radikale Wahl: Entweder wird postuliert, dass der Bibeltext auf keinen Fall ‚wahr‘ sein kann, weil er im krassen Widerspruch zu gängigen Wirklichkeitsmodellen steht. Oder aber der Wahrheitsgehalt wird erhalten, indem die Texte entsprechend dem vorherrschenden Erklärungsmodell angepasst oder die z.T. einfachen Wirklichkeitstheorien (Geltung der Gravitationskräfte) durch entsprechend komplexere Theorien (Quantenmechanik) ersetzt werden. Der Anspruch der Texte auf Ereignisreferenzialität kann somit entweder durch veränderte Einschätzung dieser Ereignisse oder durch kritische Destruktion der Form der ‚Berichterstattung‘ untermauert werden. Weil z.B. der Hirntod irreversibel ist, konnte Lazarus gar nicht tot gewesen sein. Textinformationen wie z.B. der Hinweis auf den Todeszeitpunkt vor vier Tagen oder den Leichengestank (vgl. Joh 11,39) werden demgegenüber relativiert oder missachtet. Weil es keine Dämonen gibt, muss das Anfallsleiden des Jungen in Mk 9,14–29 mit einer Krankheit korrelieren und passt auch recht genau zu einer Epilepsie. Dass 9

D. TRUNK, Der messianische Heiler. Eine redaktions- und religionsgeschichtliche Studie zu den Exorzismen im Matthäusevangelium, HBS 3, Freiburg u.a. 1994, 36; zu Mk 9,14–29 J.P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Bd. 2: Mentor, Message, and Miracles, New York 1994, 647. 10 H. W EBER, Dämonen, Besessenheit und Exorzismus im Neuen Testament und ihre Wirkungsgeschichte, ZPT 51 (1999), 19–31, hier 30; S.L. DAVIES, Jesus the Healer. Possession, Trance, and the Origins of Christianity, London 1995, 86; vgl. J.J. P ILCH, Healing in the New Testament. Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, Minneapolis 2000. 11 Vgl. kritisch dazu C. STRECKER, Jesus und die Besessenen. Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann/B. Malina/G. Theißen (Hgg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart u.a. 2002, 53–63, hier 55. 12 F.J. T IPLER, Die Physik des Christentums. Ein naturwissenschaftliches Experiment, München 2007; R. B ARTLETT, Die Physik der Wunder. Wie Sie auf das Energiefeld Ihres Potenzials zugreifen, Kirchzarten bei Freiburg 2010.

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das Phänomen der Taubheit in antiken Quellen ebenso wenig belegt ist, wie das ausgetrocknet sein (xhrai,nesqai), wird nicht eigens problematisiert.13 So anregend und entlastend die rationalistischen Erklärungen auch bisweilen sind, sie neigen dazu, die Texte den in der Gegenwart akzeptierten Modellen der empirisch-rationalistischen Welterklärung unterzuordnen. Ein anderes Deutungsmodell kann unter dem Stichwort der historischen Anpassung subsummiert werden. Die Wunder Jesu im Neuen Testament seien Ausdruck einer Anpassung an Weltbild, Literatur und Erwartung der Zeitgenossen im ersten Jahrhundert. Um in ihrer Zeit Gehör zu finden, hätten sich die neutestamentlichen Autoren des Motivarsenals des antiken Wunderdiskurses bedient oder ihre Erzählungen literarisch an das Muster der bekannten Wundergattungen angepasst. Bei Johann Salomo Semler (1725–1791) wurde dieses Deutungsmuster zuerst vorgetragen. Jesus selbst habe sich an die Erwartung seiner Zeitgenossen angepasst. Aber auch die religionsgeschichtliche und später dann formgeschichtliche Wunderdeutungen sind im Kern Interpretationen im Stil der Akkomodation: So vertrat man z.B. im Zuge religionsgeschichtlichen Vergleichens die Auffassung, die Verwandlung von Wasser zu Wein in Joh 2,1–11 greife ein „typisches Motiv der Dionysos-Legende“14 auf; oder die Heilung von Kranken werde im Neuen Testament genau so erzählt, wie die Therapien am AsklepiosHeiligtum in Epidauros.15 Die Faszination an Umfeldtexten hatte zwar zu Zeiten der religionsgeschichtlichen Schule um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. einen besonderen Höhepunkt16, ist aber auch heute keineswegs verblasst, wie Arbeiten

13 Vgl. hinsichtlich der Epilepsie-These die differenzierte Diskussion bei M. LEUTZSCH, Vermögen und Vertrauen, Dämonie und Exorzismus (Die Erzählung vom besessenen Jungen) – Mk 9,14–29, in: Zimmermann u.a. (Hgg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1 (s. Anm. 2), 350–358, hier 354f. 14 R. B ULTMANN, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen 211986, 83. 15 Vgl. hierzu differenziert M. W OLTER, Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen. Überlieferungs- und formgeschichtliche Beobachtungen, in: ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 82–117; ferner E.E. P OPKES, Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen, in: Zimmermann u.a. (Hgg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1 (s. Anm. 2), 79–86; dazu auch den Beitrag von D. Dormeyer in diesem Band. 16 Vgl. R. REITZENSTEIN, Hellenistische Wundererzählungen, Leipzig 1906; vgl. dazu J.N. BREMMER, Richard Reitzenstein’s Hellenistische Wundererzählungen, in: T. Nicklas/J.E. Spittler (Hgg.), Credible, Incredible. The Miraculous in the Ancient Mediterranean World, WUNT 321, Tübingen 2013, 1–19; ferner O. W EINREICH, Antike Heilungswunder. Untersuchungen zum Wunderglauben der Griechen und Römer, RVV 8, Gießen 1909 (Nachdruck Berlin 1969); P. FIEBIG, Jüdische Wundergeschichten des neu-

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von Erkki Koskenniemi (1994), Wendy Cotter (1999), John C. Cavadini (1999), Eric Eve (2002), AnnetteWeissenrieder (2003) oder jüngst Janett E. Spittler/Tobias Nicklas (2013) zeigen,17 die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen die neutestamentlichen Wundertexte in einen intertextuellen Zusammenhang mit frühjüdischen, hellenistischen und frühchristlichen Wundertexten stellen. Ein lesenswertes neueres Beispiel gibt etwa Clare K. Rothschild, indem sie das Selbst- und Fremdbild von Galen als Arzt mit der markinischen Erinnerung an den Wundertäter Jesus vergleicht.18 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Galens Schrift On Prognosis sichtbar mache, dass die ärztliche Tätigkeit von den Massen als göttlich inspiriert angesehen wurde, obgleich der Arzt selbst diesem deutlich widersprach.19 Man erkennt hierbei nicht nur die Abhängigkeit der Darstellung vom Volksglauben und einen möglichen Anpassungsprozess. Die Einsicht aus dem Umfeldtext wird für Rothschild nun zum Maßstab, mit dem sie auch die markinische Darstellung von Jesu Heilungstätigkeit beurteilt: „Because Galen repeatedly insists that others percieve as divine intervention what is nothing more than science (…), readers of Mark should confront the possibility that the Markan healing episodes may also have been understood by some in this way. (…) a comparison with Galen’s On Prognosis nevertheless shows that the markan healing episodes might have been interpreted as medical vignettes.“20 testamentlichen Zeitalters. Unter besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zum Neuen Testament bearbeitet. Ein Beitrag um die ‚Christusmythe‘, Tübingen 1911. 17 E. KOSKENNIEMI, Apollonios von Tyana in der neutestamentlichen Exegese. Forschungsbericht und Weiterführung der Diskussion, WUNT 2/61, Tübingen 1994; W.J. COTTER, Miracles in Greco-Roman antiquity. A Sourcebook, London u.a.1999, J.C. CAVADINI (Hg.), Miracles in Jewish and Christian Antiquity. Imagining Truth, Notre Dame Studies in Theology 3, Notre Dame 1999; E. EVE, The Jewish Context of Jesus’ Miracles, JSNT.S 231, London u.a. 2002, A. W EISSENRIEDER, Images of Illness in the Gospel of Luke: Insights of Ancient Medical Texts, WUNT II/164, Tübingen 2003; A. Weissenrieder arbeitet gemeinsam mit T. Martin ferner an einem mehrbändigen Quellenband „Embodying New Testament Anthropology in Context“, der bei Mohr-Siebeck erscheinen soll; ferner NICKLAS/SPITTLER, Credible, Incredible (s. Anm. 16), die die religionsgeschichtliche Ausrichtung schon durch den programmatisch an den Anfang gestellten Artikel zu Reitzenstein (s. Anm. 16) zum Ausdruck bringen. 18 Vgl. C.K. ROTHSCHILD, Hocus Pocus, Galen’s On Prognosis and the Gospel of Mark, in: Nicklas/Spittler, Credible, Incredible (s. Anm. 16), 107–142. 19 ROTHSCHILD, a.a.O., 142: „Galen’s On Prognosis demonstrates that a physician’s work could be perceived by the masses as divinely inspired – as divination, prophety, magic, or sorcery, for example – no matter how hard an individual practitioner refuted the view.“ 20 ROTHSCHILD, a.a.O., 142. Rothschild zeigt abschließend sogar gewisse Sympathien mit Kelsos und gibt eine Erklärung, „how Celsus came to his conclusion and whether, in fact, he was correct that tradition transformed what were reports about an effective physician into acts in the life of a wonderworker“ (ebd.).

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So beliebt und wissenschaftlich anerkannt das religionsgeschichtliche Vergleichen von kanonischen Wundertexten auch ist, so wenig werden die erkenntnisleitenden Interessen und hermeneutischen Ziele desselben reflektiert. Geht es lediglich darum, die vielen Facetten historischer Enzyklopädie auszuleuchten und um einige Mosaiksteine zu ergänzen? Oder zeigt die Parallelität mit Umfeldtexten nur die Einbettung in eine Phase der Literaturgeschichte? Will man im intertextuellen Vergleich vor Augen führen, dass auch neutestamentliche Autoren den Sprachgewohnheiten und Erzählmustern ihrer Zeit unterworfen waren? Aber was besagt das für den Sinn der Wunder Jesu, wie sie das Neue Testament erzählt? Erhöht die Parallelität ihre Glaubwürdigkeit in einem historischen Sinn? Oder sollen sie ganz im Gegenteil als Ausdruck zeitgenössischer Wunderfrömmigkeit relativiert werden? Oder agieren Forscher in dieser Linie mit einer historistischen Naivität als könnten sie durch ihr Tun ‚nur sagen, wie es wirklich gewesen‘, ohne überhaupt eine hermeneutische Intention damit zu verfolgen?21 Ob bewusst oder unbewusst nimmt man den neutestamentlichen Wundererzählungen in einer religionsgeschichtlichen Akkomodation doch häufig ihren Eigenwert und besonders auch ihre Anstößigkeit, auf die auf Textebene doch besonderen Wert gelegt wird. Sie werden historischkontextuell vielfach nicht nur eingebunden, sondern auch eingeebnet, indem z.B. aus Umfeldtexten Maßstäbe zur Beurteilung einer Erzählnorm herausgearbeitet werden.22 Dieses Verfahren ist – hermeneutisch gesehen – symptomatisch für die Akkomodations-Theorie, denn sie setzt die Konstruktion einer Norm bzw. eines Kontextes voraus, um überhaupt ‚anpassen‘ zu können. Die Verstehensmöglichkeiten frühchristlicher Texte werden damit aber nicht vereinfacht, sondern verkompliziert. Im glücklichen Fall wird die bereits in der Antike ausgeprägte Diskussion über Sinn und Funktion von Wundergeschichten wahrgenommen, wie sie etwa im An21 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dem historischen Positivismus der neutestamentlichen Wissenschaft R. ZIMMERMANN, Geschichtstheorie und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, Early Christianity 4 (2011), 417–444. 22 Dies gilt jenseits der sensibel formulierten Reflexion hinsichtlich eines Vergleichs auch bei J. DOCHHORN, Jesus und die jüdischen Wundertäter: Eine Detailstudie am Beispiel einer Geschichte über Chanina ben Dosa in Talmud Babli, Berakhot 33a, in: Nicklas/Spittler, Credible, Incredible (s. Anm. 16), 173–190. Dochhorn leitet aus seiner diachronen Analyse zum Wildesel-Wunder von Chanina Ben Dosa „eine Konzeptualisierung des wilden Tieres mit dämonologischen und satanologischen Konnotationen“ sowie das Wissen um eine „extraordinäre Überlegenheit bestimmter, religiös spezifizierter Menschen über das wilde Tier“ ab und postuliert, dass dieser „gedankliche Komplex (…) geistesgeschichtlich relevant genug (war), um (…) in der synoptischen Jesusüberlieferung, (sic!) Spuren zu hinterlassen“ (a.a.O., 190).

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schluss an Kaiserwunder, der Debatte der Geschichtsschreiber oder schließlich der Auseinandersetzung des Origenes mit Kelsos nachweisbar ist.23 Dabei erkennt man allerdings, dass die hermeneutischen Grundfragen nach Form, Funktion und Glaubwürdigkeit bei einer Akkomodationshermeneutik lediglich in die Geschichte verbannt und keineswegs beantwortet werden. Mit den Totenerweckungen und Naturwundern berichten die neutestamentlichen Wundererzählungen von ‚krassen‘ Wundern, die auch von antiken Historiographen als ‚unglaublich‘ eingestuft worden wären. Die gelehrte Suche nach dem Maß von Anpassung und Abweichung an Zeitgeschichte und Gattungsverständnis kann somit leicht zu einer Flucht vor der hermeneutischen Herausforderung führen. Schließlich kann man einen dritten Bereich der Deutung benennen: Die Wundergeschichten werden hierbei als bildhafte Erzählungen verstanden, die auf etwas anderes hindeuten als sie selbst. Sie spielen auf zwei Ebenen: Die vordergründige Handlung sei ‚nur‘ das äußere Trägermaterial einer grundlegenden (theologischen) Botschaft, die es letztlich zu erkennen gelte. Eine solche Denkweise geht bereits auf Theologen24 wie David Friedrich Strauß (1808–1874) zurück, der forderte den tieferen Sinn, die „Idee“ der mythologisch-bildhaften Wundererzählung zu erkennen. Auch die existenzialistische Wunderdeutung Bultmanns lässt sich hier anführen.25 Für den Bultmannschüler Walter Schmithals spiegelt sich in den Wundererzählungen „gleichnishaft die ganze Botschaft des Evangeliums wider“.26 Viele Spielarten einer derart symbolischen Wunderdeutung können im 20. Jahrhundert wahrgenommen werden: Markant ist etwa die Auslegung von Eugen Drewermann, der mit dem Theoriehintergrund der Tiefenpsy23

Dazu E. P LÜMACHER, Teratei,a. Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, in: E. Plümacher/J. Schröter (Hgg.), Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, WUNT 170, Tübingen 2004, 33–83; hier 38–44; J. HERZER, Neutestamentliche Wundergeschichten als hermeneutische Herausforderung, in: M. Beyer/U. Liedke (Hgg.), Wort Gottes im Gespräch, Leipzig 2008, 233–251; hier 239–242; dazu besonders auch den Beitrag von M. Frenschkowski in diesem Band. 24 Im 18. Jh. wären auch Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) und Johann Philipp Gabler (1753–1826) zu nennen. 25 Während das mythische Gewand der Akkomodation entspringe, könne doch durch existenzialistische Interpretation das Kerygma hinter den Texten erkannt werden, so z.B. R. B ULTMANN, Zur Frage des Wunders, in: ders., Glauben und Verstehen Bd. 1, Tübingen 1965, 213–228, hier 227: „Die ‚Wunder Jesu‘ (sind), sofern sie Ereignisse der Vergangenheit sind, restlos der Kritik preiszugeben, und es ist mit aller Schärfe zu betonen, daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, daß im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre“. 26 W. SCHMITHALS, Wunder und Glaube. Eine Auslegung von Markus 4,35–6,6a, BThSt 59, Neukirchen-Vluyn 1970, 25f.

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chologie von C.G. Jung die biblischen Wundergeschichten als archetypische Erzählungen über menschliche Grundwahrheiten interpretierte.27 Manfred Köhnlein bezeichnet die Wundergeschichten als „Fenster der Hoffnung mit dem Blick auf und in eine bessere Welt“28 und rückt Wundererzählungen damit in die Nähe von Gleichnissen, die er als „Visionen einer besseren Welt“29 tituliert. Dass letztlich nicht mehr scharf zwischen den beiden Gattungen unterschieden wird, bringt Köhnlein selbst zum Ausdruck: „Wunder können Gleichnisse sein und Gleichnisse Wunder“.30 Obgleich niemand bestreiten wird, dass die Funktionen und hermeneutischen Potenziale der Wundererzählungen vielfältig sind, so stehen diese Deutungen doch in der Gefahr, die Übertragungsebene vom Ausgangsgegenstand abzutrennen. Die neutestamentliche Wundererzählung wird dann als ‚Bildtext‘ gelesen, der überhaupt nur entmythologisiert, übertragen, amplifiziert oder gleichnishaft zu verstehen sei. Pointiert etwa Schmithals: „Die Geschichten von den Blindenheilungen wollen nicht sagen, daß Gott auch Blinden ggf. das Augenlicht wiedergeben kann.“31 Die Botschaft wendet sich hierbei gegen den Text selbst oder hermeneutisch gesprochen: das aktuelle Verständnis emanzipiert sich vom Zu-Verstehenden und destruiert es wie das nutzlose Trägermaterial eines Space-Shuttle. Hier ist die ‚Hermeneutik des Verdachts‘ angesagt, denn eine solche Auslegung entzieht den Texten ihre literarische Gestalt und missachtet somit ihre wesenseigene Medialität. Narratologisch betrachtet wollen die Wundergeschichten faktuale Erzählungen sein, also z.B. historische Erzählungen, die sich durch Wirklichkeitsreferenz auszeichnen und deutlich von fiktionalen, d.h. erdichteten Texten wie z.B. Gleichnissen unterschieden werden können.32 Gewiss kann es für einen Ausleger angeraten sein (z.B. in der Predigt), sofort eine bildliche Verstehensebene anzusteuern, statt sich der störenden Faktualität des Erzählmodus auszusetzen. Allein: Die Texte lassen keinen Zweifel daran, dass sie als historische Erzählungen dargeboten werden, auch wenn der Erzählinhalt die gewohnte Realität durchbricht. Doch darf sich der Hermeneutiker dieses Verstehensproblems durch die bildliche Übertragung so schnell entledigen? 27

Vgl. E. DREWERMANN, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Vision, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis, Olten/Freiburg i.Br. 1985, 43–309, dazu ZIMMERMANN, Wundern (s. Anm. 2), 113–117. 28 M. KÖHNLEIN, Wunder Jesu. Protest- und Hoffnungsgeschichten, Stuttgart 2010, 17. 29 So der Untertitel seines Gleichnisbuchs, vgl. M. KÖHNLEIN, Gleichnisse Jesu. Visionen einer besseren Welt, Stuttgart 2009. 30 KÖHNLEIN, Wunder (s. Anm. 28), 17. 31 SCHMITHALS, Wunder und Glaube (s. Anm. 26), 25f., mit weiteren Beispielen. 32 Vgl. dazu die Grundunterscheidung von G. GENETTE, Diktion und Fiktion, München 1992; sowie den Beitrag von S. Luther in diesem Band.

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Fazit: So hilfreich die genannten Deutungsmuster je für sich auch sein mögen, sie bergen je unterschiedliche hermeneutische Fallen, die selten reflektiert werden. So kann die rationalistische Erklärung der Gefahr erliegen, die Texte an für den Ausleger plausible Welterklärungsmodelle und Meta-Theorien anzupassen. Die Beurteilung des Maßes an Referenzialität und Wahrheit wird dabei von Vernunft und universaler Wirklichkeitsbeschreibung bestimmt. Entsprechend lauten die Fragen: Was kann wirklich passiert sein? Was ist nach unserer Kenntnis der Naturgesetze vorstellbar und aussagbar? Wie kann ich mir die erzählten Wunderereignisse vorstellen vor dem Hintergrund meiner Kenntnis von Wirklichkeit, meiner eigenen Welterfahrung und der Einsichten der empirischen Naturwissenschaft? Bei einer Deutung der Wundererzählungen nach dem Modell der historischen oder literarischen Akkomodation steht die kontextuelle Einbettung in der Gefahr, die individuelle Gestalt der Texte den Normen des historisch konstruierten Umfelds anzupassen. Abgesehen davon, dass die Wissensbasis über die Antike recht begrenzt und konstruktiv bleibt, wird nicht selten aus den religionsgeschichtlichen Vergleichen mit Umfeldtexten ein Wertungsmaßstab entwickelt, vor dessen Hintergrund dann die Texte des Neuen Testaments beurteilt werden. Fragen lauten entsprechend: Entspricht die Vorstellung von Heilungen und Dämonenaustreibungen dem, was im griechisch-römischen oder jüdischen Umfeld über Wunder berichtet wird? Möchte z.B. Lukas den Wundertäter Jesus bewusst in die Reihe atl. Propheten stellen oder zeigt er ihn im Horizont zeitgenössischer Medizin und Heilkunst wie ein Vergleich mit dem Corpus Hippocraticum nahelegt? Das Interesse am Kontext scheint bei dieser Forschungsrichtung oft größer als das am eigentlichen Text. Dies impliziert auch hermeneutische Wertungen. Sind die neutestamentlichen Wundererzählungen vielleicht schon allzu bekannt und verständlich? Ist ihr hermeneutisches Potenzial durch eine überlange Auslegungstradition vielleicht schon erloschen? Wie sonst erklärt sich die Freude über postulierte Parallelen oder neu entdeckte Texte, die nicht selten die Auslegungslust der altbekannten biblischen Erzählungen überflügelt? Schließlich läuft die bildhafte Wunderdeutung, die aufgrund der semantischen Vielschichtlichkeit der Texte völlig zu Recht Überdeterminationen und symbolische Aufladungen wahrnimmt, Gefahr, die postulierte ‚eigentliche‘ Botschaft vom Text abzutrennen. Ganz egal, ob nun eine Idee, ein Kerygma, oder ein archetypischer Grundkonflikt erkannt werden. Wer den Übersinn jenseits der Texte postuliert oder gar gegen sie selbst wendet, zerstört ihre mediale Basis. Die bloße Auslegung auf Übertragungsebene kann nicht ohne Wesensverlust der Wunderzählungen vollzogen werden. Es wäre wie bei der Reduktion der Metapher auf das ‚tertium comparationis‘ bzw. auf das ‚eigentliche Wort‘ wie es in der früheren Substitutions-

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theorie postuliert wurde.33 So wie jedoch beide Metaphernteile ein unersetzliches semantischen Interaktionsfeld eröffnen, so kann die Botschaft nur in, mitten und unter der literarischen Gestalt gefunden werden. Die Erzählweise der Wundertexte lässt aber keinen Zweifel, dass es hier um faktuale Erzählungen geht, die sich auf geschichtliche Ereignisse beziehen wollen und nicht primär auf einen Symbolsinn. Die unterschiedlichen Deutungswege teilen jeweils das Interesse, die Wundergeschichten erklärbar und verstehbar zu machen. Aber sie laufen auf je eigene Weise Gefahr, dieses Ziel mit der Preisgabe wesentlicher Aspekte der Wundererzählung selbst zu erkaufen. Ob nun durch rationalistische Erklärung, durch historische oder literarische Anpassung oder durch symbolisch-mythologische Übertragung, jeweils werden die Texte den Meta-Theorien von Welt- und Texterklärung angespasst. Die Texte sperren sich jedoch immer wieder gegen einseitige Modelle ihrer Deutung. Sie wollen sich offensichtlich nicht ‚einfach‘ den Verstehensmöglichkeiten ihrer Interpreten unterwerfen, leisten Widerstand gegenüber den vereinnahmenden Theorien ihrer Ausleger. Wäre es dann nicht eine weise Entscheidung auf die Auslegung dieser Texte ganz zu verzichten? Ist ein Interpretations- und Verstehensverzicht vielleicht die einzige Schlussfolgerung, die man mit Blick auf die Deutungsgeschichte ziehen kann? Aktuelle Entwicklungen in der wissenschaftlichen Hermeneutik scheinen dieser Selbstbescheidung Rückenwind zu verleihen. Ist Verstehen nicht überhaupt eine Illusion oder gar Ideologie? Wie kann die Möglichkeit des Verstehens im Zeitalter von Destruktion und Postmoderne überhaupt noch behauptet werden?

2. Von der Unmöglichkeit des Verstehens im Horizont der Anti- und Posthermeneutik34 Die Kritik an dem Unternehmen ‚Hermeneutik‘ ist seit den 1970er Jahren nicht mehr verstummt.35 Im Gegenteil. Es mehren sich gegenwärtig die 33

Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, Metapherntheorie und biblische Bildersprache. Ein methodologischer Versuch, ThZ 56 (2000), 108–133, hier 113. 34 Vgl. zum folgenden Abschnitt ausführlicher den Überblick in S. LUTHER/R. ZIMMERMANN, Bibelauslegung als Verstehenslehre. Die Geschichte der Hermeneutik im Horizont gegenwärtiger Debatten, in: dies. (Hgg.), Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation, Gütersloh 2014, 17–24 (einige markante Formulierungen sind wörtlich übernommen); ferner den forschungsgeschichtlichen Abriss zu „Ansätzen des Posthermeneutischen“ in: D. MERSCH, Posthermeneutik, DZPh.S 26, Berlin 2010, 7–30. 35 Obgleich mit Gadamers „Wahrheit und Methode“ die Hermeneutik als wissenschaftliche Disziplin neu ins Bewusstsein getreten ist, sind sofort auch Gegenstimmen

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Stimmen, die nicht nur kritisch die ‚Wut des Verstehens‘ in Literaturwissenschaft und Philosophie kommentieren, sondern grundsätzlich jedem Versuch des Verstehens Erfolg und Berechtigung verwehren. Schnädelbach sprach sogar vom „morbus hermeneuticus“,36 den es endlich auszumerzen gelte. Dabei lassen sich vereinfacht ideologiekritisch-dekonstruktivistische, epistemologisch-philosophische und postmodern-kulturwissenschaftliche Perspektiven der Kritik unterscheiden. Besonders im Gegenüber zu Gadamer hatte Habermas die Traditionsbindung der Verstehenslehre kritisiert und die Hermeneutik unter Ideologieverdacht gestellt:37 „Die Hermeneutik stößt gleichsam von innen an Wände des Traditionszusammenhangs; […] Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht, […] [sie ist] auch ideologisch. Dabei handelt es sich nicht um Täuschungen in einer Sprache, sondern um Täuschungen mit Sprache als solcher“.38 Damit hatte Habermas den aus der Sprachgebundenheit jeden Verstehens erwachsenen „Universalitätsanspruch der Hermeneutik“39 kritisiert. Ziel des hermeneutischen Prozesses könne dann aber nicht mehr absolutes Verstehen, sondern nur Verständigung einer Gruppe sein. In ähnlicher Weise hatte auch Derrida die Hermeneutik Gadamers kritisiert40 und neben dem Herrschaftsanspruch noch grundsätzlicher den Willen zum Verstehen bzw. in Radikalisierung von Heideggers Metaphysik-Kritik jede zeichenunabhängige Existenz von Sinn und Wahrheit bezweifelt.41 Auch die machtkritische Diskurstheorie von Foucault wurde nicht zu Unrecht immer wieder anti-hermeneutisch ver-

laut geworden. So etwa der hermeneutische Entwurf des italienischen Juristen Emilio Betti (1890–1968), vgl. E. B ETTI, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962 (²1972). 36 Vgl. H. SCHNÄDELBACH, Morbus hermeneuticus – Thesen über eine philosophische Krankheit, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 1 (1981), 3–6 (wieder in: ders., Vernunft und Geschichte, Frankfurt a.M. 1987, 279–284). 37 Vgl. K. J OISTEN, Philosophische Hermeneutik, Berlin 2009, 155. Vgl. ihre luzide Darstellung der Kontroverse a.a.O., 153–159. 38 J. HABERMAS/K.-O. APEL (Hgg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M. 1971, 52f. 39 J. HABERMAS, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: ders./Apel (Hgg.), Hermeneutik und Ideologiekritik (s. Anm. 38), 120–159; DERS., Zu Gadamers Wahrheit und Methode, a.a.O., 45–56. 40 Das Goethe-Institut Paris organisierte im April 1981 ein Treffen zwischen Gadamer und Derrida, das in den Sammelbänden von P. FORGET (Hg.), Text und Interpretation, München 1984, sowie D. MICHELFELDER/R. P ALMER (Hgg.), Dialogue and Deconstruction. The Gadamer-Derrida Encounter, Albany 1989, ausführlich dokumentiert ist. Vgl. auch J. GRONDIN, Hermeneutik, Göttingen 2009, 111–113. 41 Vgl. J. DERRIDA, Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer, in: Forget, a.a.O., 56–57.

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standen,42 obgleich Foucault sich selbst kaum mit dem Textverständnis sondern eher mit dem Autor-Text-Problem befasst hatte.43 Explizit auf das theoretische Fundament von Foucault baut etwa Marcus Döbert seine Kritik an der Schrifthermeneutik. In Auseinandersetzung mit bibelhermeneutischen Entwürfen des 20. Jh. kommt er zu dem Schluss, dass es eines „Paradigmenwechsels“ bedarf, bei dem das seines Erachtens an „die Grenzen der Leistungsfähigkeit“ gelangte Paradigma der Bibelhermeneutik ersetzt werden müsse.44 Weniger die Traditions- und Machtbindung als den mit der Sprachlichkeit der Hermeneutik verbundenen Realitätsverlust kritisieren zweitens eine Reihe von philosophischen Arbeiten, die man dem kritischen Realismus zurechnen kann. So hat etwa Hans Albert in seiner Kritik der reinen Hermeneutik45 die Hermeneutik Gadamers als eine „neue Version des Antinaturalismus“ bzw. „des deutschen Idealismus […] in hermeneutischer Maskerade“46 bezeichnet, die selbst aber mit der idealistischen Überhöhung der „Textmetapher“ eine Antwort auf ontologische Fragen schuldig bleibe. Albert kritisiert nicht nur die hermeneutische Wende von Heidegger und Gadamer, sondern auch den kritischen Rationalismus von Habermas und Apel, den er als „hermeneutischen Rückfall“47 betrachtet: Albert bestreitet, dass man „auf hermeneutischem Wege zu Letztgegebenheiten 42 Vgl. etwa S. W INKO, Diskursanalyse, Diskursgeschichte, in: H.L. Arnold/H. Detering (Hgg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München ²1997, 463–478, hier 471: „[D]ie theoretischen Voraussetzungen und Ziele der Hermeneutik werden als nicht mehr haltbar kritisiert“. 43 Foucault bestreitet die Autonomie des Autors und spricht stattdessen vom „Aussagesubjekt“; Bedeutung wird deshalb quasi von außen je historisch hergestellt. „Die Aussageanalyse ist also eine historische Analyse, die sich außerhalb jeder Interpretation hält“, M. FOUCAULT, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, 159. 44 M. DÖBERT, Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma, Stuttgart 2009, 207: „Trotz aller methodischen Neuerungen und theoretischen Anleihen müssen damit auch die aktuellsten hermeneutisch-theologischen Versuche […] als gescheitert gelten“. Döbert selbst plädiert in Anlehnung an Einsichten der angloamerikanischen cultural studies für eine „posthermeneutische Theologie“, die als erkenntnistheoretisches Modell die Diskursanalyse von Foucault nutzbar macht und dann in Aufnahme des cultural materialism (Dollimore/Sinfield) das Verständnis des Interpretationsvorgangs „als eines politisch motivierten Prozesses performativer Textproduktion (‚Dissidentenkonzept‘) sowie die Nötigung zu radikaler Gegenwartsorientierung“ (a.a.O., 271) entfaltet. 45 Vgl. H. ALBERT, Kritik der reinen Hermeneutik, EdG 85, Tübingen ²2012 (Broschurausgabe der 1. Aufl. 1994). Mit dem Begriff der ‚reinen Hermeneutik‘ bezeichnet Albert die hermeneutische Philosophie als universelle Verstehenslehre im Gefolge von Heidegger und Gadamer, die sich von der ‚klassischen Hermeneutik‘ als Theorie der Textauslegung unterscheidet (a.a.O., 3). 46 ALBERT, Kritik (s. Anm. 45), 3. 47 ALBERT, a.a.O., 220–262.

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vorstoßen kann, deren Notwendigkeit gegenüber jedem Zweifel erhaben ist“.48 Hans Krämer unterzieht in seiner Kritik der Hermeneutik49 nicht nur die Hermeneutik (z.B. hinsichtlich des Applikations-, Wirkungsgeschichtsund Erfahrungsbegriffs) sondern zugleich auch neuere Ansätze der Interpretationsphilosophie (Abel, Lenk, Simon) einer kritischen Analyse. Der Interpretationismus sei zirkelhaft und inkonsistent und laufe letztlich auf einen „impliziten Realismus‘ hinaus.50 Für Krämer führt der Interpretationismus als „Spezialfall des Antirealismus“51 mit seinen „Deutungen“ und „Interpretamenten“ zu der irrigen Annahme, dass ein Zugang zur Realität grundsätzlich verwehrt sei. Die Wirklichkeit sei aber kein interpretatives Konstrukt, sondern trotz einer durch Sprache und Medien nur mittelbaren und unvollständigen „Annäherung“ doch „einhellig“ erfahrbar und wahrheitsfähig. Krämer plädiert selbst für einen „skeptischen Realismus“52, der eine „vermittelnde Position zwischen Realismus und Interpretationismus“ einnehme und bereichsspezifische Lösungen auf der Basis einer affirmativen Wahrnehmung von Realität anerkenne. Auf diese Weise entsteht eine gewisse Nähe zu einem dritten Bereich der Hermeneutik-Kritik, die dem Postmodernediskurs entstammt. Angesichts der Grenzen des kognitiv Verstehbaren sei die leibliche Erfahrung ins Zentrum zu rücken. Entsprechend will sich etwa das Buch Diesseits der Hermeneutik von Hans Ulrich Gumbrecht „engagiert gegen die in den geisteswissenschaftlichen Fächern […] unbestrittene Zentralstellung der Interpretation wenden“.53 Gumbrecht möchte mit der Hinwendung zu den Kategorien der „Präsenz“ und „Produktion“ die „Simultaneität von Präsenz und 48

ALBERT, a.a.O., 94. Albert selbst favorisiert im Anschluss an Dilthey und dann vor allem Max Weber eine Lösung des Sinnproblems unter den „realen Bedingungen der verstehenden Aktivität“ (a.a.O., 100), bei der entsprechend die Forschungsergebnisse der „Realwissenschaften“ (a.a.O., 98) d.h. Biologie, Psychologie und Soziologie, berücksichtigt werden müssen. 49 Vgl. H. KRÄMER, Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus, München 2007. 50 Vgl. KRÄMER, a.a.O., 191–230, hier z.B. 202: „Grundsätzlich kann man behaupten, daß der generelle Beweis für den Antirealismus stets auf einen Realismus hinführt, und daß andererseits die Reflexionsbewegung, auf die sich der Interpretationismus stützt, jedenfalls in die Richtung eines Realismus weist.“ 51 KRÄMER, a.a.O., 218. 52 Vgl. KRÄMER, a.a.O., 206–210. Nach Krämer wendet sich der „skeptische Realismus“ „gegen einen naiven Realismus wie gegen einen naiven Interpretationismus“ (ebd. 208f.). 53 H.U. GUMBRECHT, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. v. J. Schulte, Frankfurt a.M. 2004 (amerik. Original unter dem Titel Production of Presence – What Meaning Cannot Convey, Stanford 2004), 12. Das Buch trug nach Auskunft des Verfassers, deutsch-amerikanischer Literaturwissenschaftler, lange den Arbeitstitel „The Non-Hermeneutic“ (ebd. 9).

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Sinn“54 betonen oder sogar das hervorheben, was sich durch Zuschreibung von Bedeutung und Sinn nicht einlösen lässt. Der Ausdruck „Produktion von Präsenz“ verweise „auf alle möglichen Ereignisse und Prozesse, bei denen die Wirkung ‚präsenter‘ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst oder intensiviert wird“.55 Mit Hinweis auf die Widerständigkeit der Dinge an sich bestreitet auch der Kunstphilosoph Dieter Mersch mit seiner Posthermeneutik56 radikal die Möglichkeit von Verstehen und Sinnsuche. Das Ziel jeder Hermeneutik, sei die Überwindung des Nichtverstehens bzw. Unverständnisses, während sich Phänomene wie körperlicher Schmerz, Endlichkeit oder Chaos „den Zugriffen der Sinngebung hartnäckig verschließen“.57 Statt Erklären und Deuten, begnügt sich Mersch hier mit der „Metaphorik des Zeigens“.58 Er benutzt „die gleichermaßen negativen wie paradoxen Figuren wie ‚Nichtsinns‘ im Sinn, […] eines ‚Nichtzeichenhaften‘ am Zeichen oder ‚Amedialen‘ im Medialen“,59 um das Nichtverstehen zu thematisieren. Dabei geht es ihm nicht nur um die „Unbestimmtheit“, sondern zugleich um die „Unverneinbarkeit“,60 d.h. auch Formen der Differenz, Alterität, Exteriorität seien letztlich versteckte Versuche der Sinnstiftung, denen er sich entziehen möchte. Mersch setzt somit tatsächlich zu einer „Überwindung des Hermeneutischen“61 an und sieht sich „unterwegs zu einer posthermeneutischen Philosophie des Kulturellen“.62 Doch wie können diese verschiedenen Ansätze der Hermeneutik-Kritik nun die Verstehensdiskussion um Wundergeschichten beeinflussen? Kann eine posthermeneutische Annäherung dem oben skizzierten Dilemma entgehen?

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GUMBRECHT, a.a.O., 131. GUMBRECHT, a.a.O., 11. 56 Vgl. D. MERSCH, Posthermeneutik, Berlin 2010. 57 MERSCH, a.a.O., 13; „Residuen des ‚Asemiotischen‘ oder ‚Amedialen‘ bilden entsprechend die Materialität der Dinge, die Leiblichkeit des Körpers, aber auch das Übriggelassene, die untilgbaren Reste, derer wir nicht Herr werden, der Verfall, das Altern, oder die zeitliche Erosion, die nicht erfasst, begriffen oder berührt werden können und die unwiderrufliche Endlichkeit der Welt bekunden“, ebd. 58 D. MERSCH, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. 59 MERSCH, Posthermeneutik (s. Anm. 56), 13. 60 MERSCH, a.a.O. 14, spricht von der „doppelten Bewegung der Unbestimmbarkeit und Unverneinbarkeit“. 61 MERSCH, a.a.O., 11. 62 MERSCH, a.a.O., 309–339. Vgl. DERS., Gibt es Verstehen?, in: J. Albrecht/J. Huber/K. Imesch u.a. (Hgg.), Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich 2005, 109–126. 55

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3. Wundererzählungen im Grenzgebiet des Verstehbaren oder: von der Kunst, den Finger in der Wunde zu halten Wunder sind Anlass der Verwunderung, mehr noch: Sie lösen Entsetzen und Furcht aus.63 Sie sind Ent-Setzungen, indem sie die Setzungen der gewohnten Weltordnung in Frage stellen, sie bringen die Erfahrung von Alterität im Gegensatz zur Normalität zum Ausdruck.64 Sie unterwandern und stören das vertraute Regelwerk von Sinn und Verstehen. Unverständlichkeit kann somit als ein konstitutives Kriterium von Wunderphänomen betrachtet werden. Könnten sie verstanden werden, könnten sie in bestehende Erklärungssysteme eingeordnet werden, dann gebe es keinen Grund, sie ‚Wunder‘ zu nennen. Auch die Erzählungen, die auf Wunder verweisen, leben aus dieser Grenzüberschreitung. Wundererzählungen sind deshalb per se unverständlich, und zwar nicht nur im Sinne Schleiermachers, der das Unverständnis jeden Textes zum Normalfall erklärt hatte.65 Wundertexte sind schon deshalb unverständlich, weil sie von Ereignissen erzählen, die unverständlich und unerklärlich sind. Sie benennen diese Unverständlichkeit aber auch zusätzlich auf Textebene, indem z.B. die anwesenden Figuren ihre Grenzerfahrungen zum Ausdruck bringen. So wird die Unmöglichkeit einer Heilung (z.B. bei der blutflüssigen Frau, Mk 5,26), die Hilfslosigkeit der Menschen (z.B. beim Jungen in Mk 9,18; beim Fischen in Lk 5,5) oder die Ausweglosigkeit einer Situation (z.B. der plötzliche Tod der Tochter des Jairus, Mk 5,35) hervorgehoben. Im Anschluss an das Wunder wird die Analogielosigkeit dieser Erfahrung benannt (Mk 2,12; Mt 9,33) oder das Gesehene als „paradox“ (para,doxa paradoxa, Lk 5,26) tituliert. Menschen geraten durch das hier Erlebte außer sich, sie kommen in „Ek-stase“ (Mk 5,42; Lk 5,26: e;kstasij ekstasis), was wörtlich mit einer „Heraus-Setzung“, einer Ent-Setzung übersetzt werden kann. Wundererzählungen berichten von Unvernünftigem, Unmöglichem und Unnachahmlichem. Vor dem Hintergrund der Naturgesetzlichkeit wird diese Verwei63

Vgl. z.B. Mk 1,27: „sie erschraken alle“; Mk 4,41: „sie fürchteten sich mit großer Furcht.“, vgl. Mk 5,15, weitere Belege bei ZIMMERMANN, Hinführung (s. Anm. 2), 14. 64 Hier ist auch S. Alkier in seiner Definition zuzustimmen, vgl. S. ALKIER, Art. Wunder III. Neues Testament/IV. Kirchengeschichte, RGG4 8 (2005), 1719–1725, hier 1721: „Das W. ist im NT Friktion, eine Unterbrechung der Alltagserfahrung durch das Wirken einer Kraft, die menschliche Möglichkeiten übersteigt.“ 65 Vgl. F.D.E. SCHLEIERMACHER, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, hg. v. W. Virmond, KGA II/4, Berlin/Boston 2012, 127: Schleiermacher betont für schriftliche Texte wie auch mündliche Rede, „daß sich das Missverstehen von selbst ergiebt und daß Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden.“ Vgl. zu Schleiermacher jetzt G. ETZELMÜLLER, Friedrich D.E. Schleiermacher (1768–1834). Zwischen Grammatik und Psychologie, in: Luther/Zimmermann, Studienbuch Hermeneutik (s. Anm. 34), 239–251.

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gerungshaltung umso deutlicher sichtbar. Schon gar entzieht sich das in den Texten provokant behauptete Wirken Gottes als Ursache der Normdurchbrechung der Überprüfbarkeit mit wissenschaftlich akzeptierten Standards. Wundererzählungen verstärken aber nicht nur die Unverständlichkeit des Wunderphänomens, sie sind die Erzählgattung zum Wunderhaften par excellence, die in der Darstellung von Staunen und Unerklärlichkeit sogar ein wesentliches Gattungsmerkmal findet. In ihrer spezifischen Erzählweise als ‚faktuale Erzählung‘, die auf vergangene Ereignisse rekurriert, erzeugt sie mit den realitätsdurchbrechenden Inhalten, von denen sie ‚berichtet‘, eine Spannung, die beim Rezipienten zunächst nicht Verstehen und Klarheit, sondern explizit Staunen und Irritation auslöst. Als „phantastische Tatsachenberichte“66 sind sie auf Verständnisentzug angelegt. Diese literarisch produzierte Spannung sollte wahr- und ernstgenommen werden. Die Hermeneutik der Wundererzählung besteht deshalb gerade darin, den Finger in der Wunde des Unverständlichen zu halten und nicht, diese Wunden möglichst schnell mit religionsgeschichtlichen, formgeschichtlichen oder auch symbolischen Pflastern zu verschließen oder zumindest unsichtbar zu machen. Die oben referierte philosophische „Kritik an der Hermeneutik“ lässt sich deshalb im Blick auf Wundererzählungen in unterschiedlicher Weise aufgreifen: Die Verstehensbemühungen in der Wunderforschung zeigten oftmals ein unkritisches Sich-Ausliefern an bestehende wissenschaftliche Leitparadigmen und Machtdiskurse. So kann man innertheologisch sehen, dass sich vor hundert Jahren wie jetzt wieder neu das religionsgeschichtliche Paradigma besonderer Anerkennung erfreut. Entsprechend findet man leicht Zustimmung, wenn man mittels Textvergleichen die neutestamentlichen Texte in den historischen oder literarischen Kontext ihrer Zeit einordnet. Ferner steht innerhalb der universitären Wissenschaft der empirisch-rationalistische Erkenntnisweg in nahezu dogmatischer Geltung. Welterklärungen jenseits der hierbei üblichen Methoden (z.B. mittels Experiment) werden als ‚unwissenschaftlich‘ abqualifiziert. Entsprechend verständlich ist, dass sich eine Wunderklärung auch des rationalistischen Paradigmas bedient, um innerhalb des bestehenden Geltungsdiskurses Aufmerksamkeit zu erlangen. Doch die Hermeneutik der Wundererzählungen sollte gegenüber vorschnellen Anlehnungen an bestehende Machtdiskurse ideologiekritisch und skeptisch bleiben. Die Texte ermutigen in ihrer Widerständigkeit dazu, „Protestgeschichten“ nicht nur hinsichtlich von absolut behaupteten Welterklärungsmodellen, sondern auch gegenüber allzu glatten und fraglos akzeptierten Interpretationsmethoden zu sein. Hermeneutik-Kritik ist somit die den Texten folgende Weise, das Verste66

Vgl. dazu meinen gleichnamigen Beitrag in diesem Band.

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hensproblem zu reflektieren. Die Wundererzählungen können einen Einspruch wachhalten, der gegenüber einem alternativlos propagierten Dogmatismus des empirischen Rationalismus wie auch gegenüber einer alles umfassenden Interpretationsphilosophie dringend notwendig erscheint.67 Sie machen deutlich, dass Wirklichkeit sich der menschlichen Verfügbarkeit und in gewissem Maß auch der Verstehbarkeit – und sei es mit noch so schlüssigen Theorien – entzieht. Dies bleibt eine unaufgebbare menschliche Grunderfahrung von der Komplexität des Lebens. Sie verbindet sich zugleich mit einem religiösen Grundbekenntnis, dass Welt und Wirklichkeit nicht aus dem menschlichen Geist ersonnen wurden. Die Hermeneutikkritik aus den Reihen des kritischen Realismus trifft ferner besonders die symbolischen Deutungsversuche der Wunder- und Wundererzählungen. Wenn die Texte oder die hinter ihnen stehenden Ereignisse grundsätzlich zur Interpretationssache erklärt werden, muss dann nicht jeder Wahrheitsanspruch, jede maßgebliche Sinnstiftung jenseits beliebiger Sinnkonstruktionen aufgegeben werden? Wer die Wundererzählungen ‚nur‘ symbolisch erklärt, missachtet nicht nur die faktuale Redeweise, sondern entzieht auch der theologischen Überzeugung den Boden, dass Gottes Wirken sinnlich erfahrbare Wirklichkeit werden kann. Gewiss, die in den Wundererzählungen behaupteten Konkretionen sind nicht nur mutig, sondern auch Zumutungen. Aber wer den ‚Realismus‘-Anspruch herunterspielt und in den Innenraum psychischer oder sozialer Prozesse verlegt, steht in der Gefahr, die Gottesrede überhaupt aufzugeben. Mit den Wundererzählungen steht so gesehen auch immer die Frage nach der Rede von Gott überhaupt auf dem Spiel. Entspricht es nicht gerade einem Grundbekenntnis des jüdisch-christlichen Gottesglaubens, dass Gott in der Welt wirkt und in konkreter und wahrnehmbarer Weise erfahrbar wird? Wäre es nicht eine Negation der Inkarnationsvorstellung, wenn das Handeln Gottes in den bloßen Raum der Deutung verlegt würde und nicht in irgendeiner, ja gerade auch störender Weise sichtbar und auffällig wäre? Damit soll allerdings auch nicht einem naiven Korrespondenzanspruch das Wort geredet werden. Die Forderungen des ‚skeptischen Realismus‘ nach Gegenwartsorientierung68 muss auch eine bloß rückwärtsgewandte Frage nach der Referenzialität der historischen Erzählungen auf Ereignisse der Vergangenheit oder kontextuelle Horizonte in Frage stellen. Die Gültigkeit und Wahrheitsfähigkeit des Sinns dieser Texte kann weder einseitig an

67 Ähnlich hat Rorty Hermeneutik in positiver Weise als „Ausdruck der Hoffnung (bestimmt), die kulturelle Leerstelle werde nach dem Abgesang der Erkenntnistheorie gerade nicht neubesetzt.“ Vgl. R. RORTY, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a.M. 41997, 343. 68 Vgl. dazu KRÄMER, Kritik (s. Anm. 49), 108–114.

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‚Fakten‘ noch an die Linearität der Wirkungsgeschichte im Sinne Gadamers gebunden werden. Aber auch die postmoderne Hermeneutik-Kritik entzieht der symbolischen Deutung den Boden. Während eine bildhafte Auslegung der Logik der Repräsentation folgt, d.h. die Texte bilden etwas ab oder bezeichnen etwas, das sie selbst nicht sind, rückten bei Mersch u.a. Leitbegriffe wie „Darstellung“ und „Präsenz“ in den Vordergrund. Gegenüber einem Verstehen jenseits der Texte sollte man sich folglich mit der Wahrnehmung der Texte in ihrer Medialität begnügen. Die Wundererzählungen gewinnen ihren Wert nicht erst durch die Ereignisse, die sie berichten, oder durch die Botschaft, die aus ihnen spricht. Wundererzählungen haben einen Eigenwert, ihre Wahrheit liegt nicht jenseits ihrer medialen Gestalt, sondern nur in ihr selbst. In Anknüpfung an die posthermeneutische Kritik sollte es vielleicht genügen, die Wundertexte lediglich hinsichtlich ihrer Fremdheit, ihrer Alterität und materialen Präsenz gewähren zu lassen. Statt einer Erklärung sollte sich die gegenwärtige Rezeption auf ein ‚Zeigen‘ beschränken, das z.B. durch performative Inszenierung (z.B. Lektüre im Gottesdienst, Bibliodrama) herausfordern kann, aber nicht in den Bereich kognitiver Verstehensstrategien gebracht werden dürfe. Schließlich müssen wir fragen, ob wir es bei den Wundererzählungen nicht mit Texten zu tun haben, die nicht nur eine Frage oder Staunen auslösen, sondern „vielmehr ein Enigma, ein unlösbares Mysterium“69 verkörpern? Findet sich die „Erfahrung der Differenz“ nicht auch in diesen Texten gleichermaßen am Anfang wie am Ende aller Verstehensversuche? Wäre es folglich naiv simplifizierend, einem anfänglichen Unverständnis ein nachträgliches Verständnis entgegenzustellen? Ist es nicht – wie Mersch pointiert formuliert – gerade das bleibend Unverständliche, das jede Interpretation von innen heraus in Frage stellen muss. „Entsprechend steht auch nicht mehr das Unverständliche oder Unlesbare dem Lesbaren und Verständlichen gegenüber, sondern es bleibt in ihnen präsent. Folglich lassen sich Unsinn und Nichtsinn auch durch keine Auslegung, sowenig wie durch die Manöver der Rekonstruktion oder der Kritik ausräumen, vielmehr nistet das Nichtverstehen wie ein Parasit inmitten des Sinns und zerfrisst dessen Plausibilitäten.“70 Doch während Mersch hier mit seiner destruktiven Metaphorik bereits die „Alternativlosigkeit“ des Unverständlichen anzeigt, auf die seine Untersuchung zuläuft, möchte ich eher das ineinander Verschlungensein von Sinn und Nichtsinn, von Verstehen und Unverständnis hervorheben. Gegenüber der Hybris einer einfachen Erklärbarkeit melden die Texte einen bleibenden Rest des Unerklärlichen an. Aber dies besagt deshalb nicht, 69 70

Vgl. zu diesen Formulierungen MERSCH, Posthermeneutik (s. Anm. 56), 176f. MERSCH, a.a.O., 177.

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dass die Suche nach Sinn von vornherein aussichtslos ist. Die Fragilität des Interpretationsversuchs darf nicht mit einer radikalen Negation des Sinns gleichgesetzt werden, das Rätsel der bleibenden Fremdheit verwehrt nicht die Möglichkeit der Annäherung. Es ist vielmehr das Wechselspiel zwischen Unverständnis und Verständnis, zwischen Entzug und Zug, zwischen Verfügbarkeit und Heiligkeit, das den Puls der Hermeneutik der Wundererzählungen am Leben erhält. Die Kritik an den Verstehensmöglichkeiten kehrt somit eine eigenartigen Dialektik ans Licht: Wir können Wundererzählungen nicht verstehen. Wir wollen und sollen sie aber verstehen. Die ‚Lösung‘ kann dann nur sein: Beides, das Nicht-Können und Sollen bedenken und damit dem Text in seinem Eigenwert und letztlich Gott die Ehre geben, wie Barth im Blick auf die Herausforderung des Theologietreibens allgemein formuliert hat.71

4. Und dennoch: Chancen des Verstehens im dreiperspektivischen Feld War im dritten Abschnitt die Perspektive auf die Grenzen des Verstehbaren gelenkt worden, so möchte ich im Folgenden einige Chancen einer sinnstiftenden Auslegung von Wundertexten des Verstehens aufzeigen, wohlwissend, dass hierbei nur die andere Seite im Wechselspiel zwischen Verstehen und Nicht-verstehen fokussiert wird. Hierbei knüpfe ich an das an anderen Stellen ausführlicher begründete Modell des ‚hermeneutischen Dreiecks‘72 an, das zugleich ein Vorgriff auf die Struktur des vorliegenden Bandes gibt. Die frühchristlichen Wundererzählungen sind Texte der Antike. Sie sind Relikte aus vergangenen Zeiten und Kulturen, in einer heute nicht mehr im Alltagsleben gesprochenen Sprache verfasst. Wenn Verstehen die Bedingungen und Möglichkeiten der Textproduktion reflektieren möchte, dann sind geschichtliche Methoden der Textinterpretation geboten, um diese Annäherung zu vollziehen. Die früher bestimmende historische Frage nach den Referenzereignissen (Was ist passiert?) ist heute weitgehend der Frage 71 Vgl. K. B ARTH, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1924, 156–178, hier 158: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“ 72 Vgl. R. ZIMMERMANN, Im Spielraum des Verstehens. Chancen einer integrativen Gleichnishermeneutik, in: ders., (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen ²2011 (Studienausgabe), 3–24; sowie S. LUTHER/R. ZIMMERMANN, Bibelauslegung (s. Anm. 34), 59–64.

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nach den Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen der Texte gewichen. Ebenso kann aber auch der antike Meta-Diskurs über Wunder in den Blick genommen werden (vgl. M. Frenschkowski mit Blick auf die antike Wunderkritik). In Ausweitung der klassischen Methoden der historischkritischen Exegese, Sozialgeschichte und Archäologie hat sich das Leitparadigma historischer Kulturwissenschaft bzw. der Kulturanthropologie in den Vordergrund gespielt. Dabei werden alt bewährte Modelle z.B. der historischen Semantik integriert, aber der geschichtliche Entstehungskontext der frühchristlichen Wundertexte doch in einer komplexeren Weise dargestellt (vgl. die Beiträge von E. Eve, G.H. Twelftree, P.F. Craffert). Neben klassisch traditionsgeschichtlichen Zugängen (vgl. A. Graupner zu den Exoduswundern) spielt nach wie vor der religionsgeschichtliche Textvergleich eine zentrale Rolle73, wobei meist eine Textgruppe (vgl. M. Clauss zum Kaiserkult; E. Koskenniemi zu Apollonius von Tyana) oder ein Thema (vgl. D. Dormeyer zur hellenistischen Medizin, R. v. Bendemann zu Fieberheilungen) fokussiert wird. Ziel dieser Annäherung ist eine möglichst enzyklopädische Erfassung antiker Kultur durch die Einbeziehung möglichst vieler Text- und Überrestquellen. Das Aufzeigen direkter intertextueller Beziehungen zwischen einem frühchristlichen Wundertext und einem Umfeldtext, oder umfassender das Einzeichnen der neutestamentlichen Wundertexte in das Konstrukt der antiken mediterranen Kultur ist per se bereits ein interpretativer Akt, der Verständnis anbahnt und Sinn stiftet. Die Texte besitzen aber auch eine gewisse Autonomie gegenüber ihren Entstehungskontexten, ihren ursprünglichen Kommunikationsbedingungen, ja auch vom Autor, der sie verfasst hat. Diese Emanzipation des Textes wurde vor allem in der strukturalistischen Phase der Literaturwissenschaft herausgearbeitet.74 Jenseits der Einseitigkeiten solcher Annäherungen bleibt die Einsicht, dass die immanente Struktur und Gestaltung eines Textes wesentlich sein Verstehen figuriert. Entsprechend lohnt es sich, mittels textbezogener, literaturwissenschaftlicher Methoden die Wundererzählungen zu analysieren. Da es um Erzählungen geht, sind vor allem narratologische Methoden hilfreich, wobei sowohl die Ebene des Erzählinhalts als auch der Erzählweise bearbeitet werden kann. Im einzelnen kann man etwa die Dimensionen von Raum und Zeit analysieren, die Wundererzählungen 73

Dieser Zugang bestimmt etwa auch maßgeblich den Band von N ICKLAS/SPITTLER, Credible, Incredible (s. Anm. 16), dessen Untertitel lautet: „The Miraculous in the Ancient Mediterranean“. 74 Vgl. klassisch R. B ARTHES, La mort de l’auteur, Manteia (1968), 12–17; leicht zugänglich in deutscher Übersetzung: R. B ARTHES, Der Tod des Autors, in: F. Jannidis u.a. (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2009, 185–193; dazu auch T. GÄRTIG, Barthes, Foucault und der „Tod des Autors“. Hintergründe und Differenzen einer Debatte, München 2012.

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in den Kontext der Makroerzählung des Evangeliums stellen (vgl. K. Dronsch) oder die Erzählperspektive (Stimme, point of view) betrachten. Eine narratologische Analyse der Wundergeschichten fragt ferner nach der Konstellation der auftretenden Figuren und ihrer Funktion bei der Entfaltung des Plots, sei es des Wundertäters Jesus, sei es auch anderer Hauptund Nebenfiguren (vgl. die Beiträge von C. Bennema, P. Borgman und W.J. Cotter).75 Aber auch die Diskussion um die Gattung ‚Wundererzählung‘ kann durch Aufnahme der neueren Theoriediskussion der Literaturwissenschaft befruchtet werden (vgl. R. Zimmermann). Welche Textmerkmale lassen einen Text als Wundererzählung erkennbar werden? Wie funktioniert das Zusammenspiel von textuellen Elementen, welche Wirkung und Sinnkonstruktion wird damit ausgelöst? Dies kann auch hinsichtlich einzelner Untergattungen wie z.B. ‚Geschenkwunder‘ untersucht werden (vgl. M. Labahn). Indem sich die Texte grundsätzlich einer faktualen Erzählweise bedienen, die explizit auf Ereignisse der Vergangenheit verweist, zugleich aber in ihrer konkreten Gestalt immer auch durch fiktionale Elemente einschließen, ist dem komplexen Zusammenspiel zwischen Fiktionalität und Faktualität bzw. Fakten und Fiktionen eigene Aufmerksamkeit zu widmen (vgl. S. Luther). Im Zuge eines cognitive turn der Literaturwissenschaft weisen Textbeobachtungen immer schon über die reine Textstruktur hinaus und führen pragmatisch zu ‚mentalen Modellen‘ oder gar Handlungsimpulsen für den Leser (vgl. K. Dronsch). Unter dem Stichwort der rezeptionsorientierten Methoden können Verstehensversuche zusammengefasst werden, die die Perspektive eines Lesenden oder auch den Rezeptionsvorgang selbst in den Blick nehmen. Dabei kann die spezielle Wirkung einer Wundererzählung auf oder das besondere Verstehensinteresse eines Leserkreises untersucht werden, sei es z.B. von Frauen (vgl. U. Metternich) oder von Menschen mit Behinderung (vgl. M. Schiefer Ferrari). Ebenso kann aber auch der Prozess des aktuellen Rezeptionsvorgangs als Interaktionsgeschehen zwischen Text und Rezipient im Akt des Lesens untersucht werden, wobei ganz unterschiedliche Theorien bemüht werden, sei es die Tiefenpsychologie (vgl. E. Drewermann), die Kognitionspsychologie (vgl. I. Czachesz), die Semiotik (vgl. S. Alkier), sei es die Ethik (vgl. S. Luther). Die Auslegung von Wundererzählungen wird vielfach in konkreten Kontexten und mit bestimmten Absichten vollzogen, was hier exemplarisch an der Darstellung im Film (vgl. R. Zwick) oder bei der Deutung in religionspädago75 Vgl. mit Blick auf „Kinder“ etwa R. ZIMMERMANN, Kranke Kinder in Wundererzählungen des frühen Christentums. Sozialgeschichtliche und figurenanalytische Aspekte, in: M. Zimmermann/C. Klein/G. Büttner (Hgg.), Kind – Krankheit – Religion. Medizinische, psychologische, theologische und religionspädagogische Perspektiven, Theologische Anstöße 6, Neukirchen-Vluyn 2013, 157–182.

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gischen Zusammenhängen, konkret am kinderexegetischen Umgang mit Wundergeschichten (vgl. A. Reiß) ausgeführt wird. Hermeneutik in rezeptionsästhetischer Perspektive schenkt der Rolle des Rezipienten, seinen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Wirkungen besondere Aufmerksamkeit. Ein ausgefeiltes Modell, wie ein Rezipient in einem heuristisch geschiedenen dreifachen Prozess der Mimesis „narrative Identität“ erlangt, hat z.B. Paul Ricœur vorgelegt.76 Seine Erzähltheorie und Hermeneutik mag für die Auslegung der Wundererzählungen in zweifacher Hinsicht besonders anregend sein: Zum einen hat Ricœur als einer der ersten die Spannung des hermeneutischen Prozesses beschrieben, wie es hier mit Blick auf Nicht-Verstehen im Verstehen expliziert wurde. Die Hermeneutik des Einverständnisses ist untrennbar mit der Hermeneutik des Verdachts verwoben. Hermeneutik zeichnet sich für Ricœur geradezu durch Gegensatzpaare wie Aneignung und Enteignung, Erklären und Interpretieren oder Sinn-Objektivierung und subjektive Sinnstiftung aus.77 Zum anderen hat Ricœur der Gratwanderung zwischen Alterität und Selbstfindung Ausdruck verliehen, wie sie sich im Verstehensversuch von Wundererzählungen besonders abzeichnet. In seinem Konzept der „narrativen Identität“78 konstituiert sich also für Ricœur das Selbst des Rezipienten im Akt des Lesens. Ein Rezipient „erkennt sich nicht unmittelbar, sondern nur indirekt, über den Umweg über verschiedene kulturelle Zeichen (…). Die narrative Vermittlung unterstreicht so den bemerkenswerten Charakter der Selbsterkenntnis als einer Selbstauslegung.“79 Der Prozess der Auseinandersetzung mit literarischen Texten führt zugleich zu einer „Enteignung“ des eigenen Selbst- und Weltentwurfs. „Sich eine Figur durch Identifikation aneignen bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so zu imaginativen Variationen des Selbst werden. Durch dieses Spiel bestätigt sich das berühmte Wort von Rimbaud (…): Ich ist ein anderer.“80 Verstehen vollzieht sich für Ricœur deshalb nicht darin, dass man einem Text seine eigene begrenzte Verstehensmöglichkeit aufzwingt, sondern vielmehr, dass die Auseinanderetzung mit einem Text zu einer Verstehensveränderung des eigenen Selbst- und Weltentwurfs führen

76 P. RICŒUR, Zeit und Erzählung, Bd. 1–3, Übergänge 18/1–3, München 1988, 1989, 1991 (orig. Temps et récit, Paris 1983, 1984, 1985). 77 Vgl. P. RICŒUR, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (1972), in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), hg. v. P. Welsen, Hamburg 2005, 109–134. 78 Vgl. P. RICŒUR, Narrative Identität, in: ders., Vom Text zur Person, 209–225. 79 R ICŒUR, a.a.O., 222. 80 R ICŒUR, Narrative Identität (s. Anm. 78), 222f. Das Rimbaud-Zitat ist auch titelgebend für die „Selbst-Reflexion“ bei P. RICŒUR, Soi-même comme un autre, Paris 1990 (übers. Das Selbst als ein Anderer, München 1996).

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kann.81 Die Aneignung einer Wundererzählung im Akt des Lesens führt zugleich zu einem Prozess der Enteignung. Verstehen und Verstehensentzug fallen somit in eins. Das „Ich“ wird als „ein anderer“ refiguriert. Der Leser tritt in den Zwischenraum eines Feldes der Selbstbegegnung und Verfremdung. Das Modell von Ricœur ist m.E. deshalb auch in besonderer Weise als Rezeptionsmodell für religiöse Texte tauglich, die den Anspruch erheben, über eine rein psychologische oder ethische Dimension hinaus auch religiöse Identität zu stiften. Das auf der Ebene der erzählten Welt wie auch in der literarischen Darstellung als Deutungsangebot präsentierte Wirken Gottes bzw. mit göttlicher Kraft kann schließlich auf den Rezipienten übergreifen. Er bzw. sie kann in der Auseinandersetzung mit dem Text nicht nur die vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit (vgl. C.S. Keener), sondern auch sich selbst im Licht der Wirksamkeit Gottes begreifen, was immer auch mit der Erkenntnis eigener Verstehensgrenzen verbunden ist. Auf diese Weise kommt die theologische Dimension der Wunderhermeneutik im Rezeptionsvorgang zum Ziel (vgl. C. Münch). Graphisch können diese unterschiedlichen Annäherungen mit einem Dreieck verdeutlicht werden:82

Literarische Perspektive (sprachliche Gestalt des Textes)

Feld des Verstehens und NichtVerstehens

Geschichtliche Perspektive (Entstehungskontext)

Rezeptionsorientierte Perspektive (Akt des Lesens)

Abb.: Dreieck hermeneutischer Perspektiven

81

Vgl. etwa auch P. R ICŒUR, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: P. Ricœur/E. Jüngel (Hgg.), Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 24–45, hier 33. 82 In Anlehnung an ZIMMERMANN, Spielraum (s. Anm. 72), 6–13, bes. 12.

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Epilog: Das ästhetische Feld der Hermeneutik Aber ist eine solche Arbeit an den Texten mit unterschiedlichen Methoden und Meta-Theorien nicht doch wieder das, was schon immer mit den Wundergeschichten gemacht wurde? Kommen wir nach der Reflexion der Verstehensschwierigkeiten am Ende nicht wieder an den Anfang, dem kritischen Resümee der Verstehensversuche, zurück und bleiben somit im hermeneutischen Zirkel gefangen, dem die Posthermeneutiker zu entgehen versuchten? Sie versuchten ihm zu entgehen, sie konnten es aber nicht. Denn schon ein Buch wie das von Mersch setzt darauf, dass seine Bestreitung der Hermeneutik verstanden werden kann, dass die Sätze, die er formuliert, aufgrund gewohnter syntaktischer und semantischer Ordnungsysteme verstanden werden können, dass Leser und Leserinnen seinen Ausführungen zustimmen, aber damit zugleich einstimmen in eine externe Überzeugung, der sie ihre Denkautonomie und Verstehensfreiheit ein Stück weit unterwerfen. Auch die Anti- und Posthermeneutik kann sich dem jeder menschlichen Kommunikation innewohnenden Verstehenssog und fortwährenden Deutungsprozess nicht entziehen. Entsprechend können wir sagen, nicht die verschiedenen methodischen Versuche müssen per se unsachgemäß oder zum Scheitern verurteilt sein. Es geht vielmehr um den Grad der hermeneutischen Reflexion und ‚ideologischen Einseitigkeit‘, mit der jeweilige Zugänge vorgetragen werden. Die unterschiedlichen Perspektiven dürfen nicht exklusiv verstanden werden. So lange ein religionsgeschichtlicher Vergleich unter der Vorbemerkung der Begrenztheit oder eine feministische Exegese selbstkritisch hinsichtlich der Parteilichkeit des eigenen Zugangs bleibt, können auf vielfältige Weise je unterschiedliche Aspekte des Textes zu Tage gefördert werden. Problematisch werden die Perspektiven nur, wenn sie mit Absolutheitsanspruch vorgetragen werden oder wenn sie anderen Zugängen ideologisch das Recht auf Wissenschaftlichkeit und Wahrheitsfähigkeit absprechen. Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass es gerade auch einer Pluralität der Zugänge bedarf, um das Wechselspiel zwischen Verstehen und Unverständnis am Laufen zu halten. Die Begrenzung eines Zugangs wird dann besonders evident, wenn ich andere achtsam im Blick behalte. Es ist die wechselseitige Spannung, die im hermeneutischen Feld der verschiedenen Annäherungen erzeugt wird, die vor Gleichstrom und Monopolisierung bewahrt. Die Pluralität der Auslegungen hält somit die Begrenztheit des Verstehens wach, aber ermöglicht zugleich je unterschiedliche Facetten eines Textes sinnvoll darzustellen. In der Polyphonie des Stimmengewirrs wird somit zugleich die Möglichkeit einer einheitlichen Auslegung bestritten, wie umgekehrt ein Cantus Firmus hörbar werden kann, da sich die unterschiedlichen Töne doch auf einen Basistext beziehen, den

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sie zu verstehen versuchen. Dieser Cantus Firmus muss postmodern gesehen nicht harmonisch sein, er mag nur ansatzweise bekannte Motive oder Dreiklänge wiedererkennen lassen. Gleichwohl ist er in seiner Vielgestaltigkeit hörbar, so lange die Vielfalt der Stimmen nicht verstummt oder dominanten Auslegungsansprüchen das Feld überlässt. Es soll nun aber auch nicht nur im Sinne einer Auslegungsvielfalt um die Addition verschiedener Verfahren gehen (vgl. G. Theißen83). Die drei heuristisch geschiedenen Perspektiven markieren vielmehr ein ‚Feld‘ innerhalb dessen sich das Wechselspiel zwischen Verstehen und Missverstehen ereignet. Ganz im Sinne von Lotmans kulturhermeneutischer Theorie wird hier kein einfaches Modell der Codierung aufgemacht, sondern eine Semiosphäre, in der unterschiedliche Codes in Spannung zueinander treten.84 Das hermeneutische Feld der Wundererzählungen stelle ich mir hierbei wie eine solche von Lotman und Koschorke beschriebene „Kontaktzone in der Peripherie“ vor, in der sich Verstehensprozesse verdichten.85 Jede Perspektive eröffnet einen Blick nach eigenen Regeln und Voraussetzungen. Jede Perspektive beleuchtet den Text mit einem eigenen Lichtkegel. Im Schnittfeld dieser Spots entstehen neue Farbkombinationen, werden neue Einblicke und Einsichten eröffnet, aber das Farbenspiel wirft auch neue Schatten, suggeriert Effekte, die sich als Trug erweisen. Das dreiperspektivische hermeneutische Feld ist deshalb nicht die Lösung der Verstehensprobleme, die sich mit Wundererzählungen stellen. Es bietet aber eine m.E. respektable und vielfältig inspirierende Bühne sie zu betrachten und – mal erfreut, mal wütend – mit ihnen zu leben.

83

Die bereits in seiner Habilitationsschrift (G. T HEIßEN, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 1974 [71998]) sowie in seinem Beitrag in diesem Band sichtbare Pluralität der Auslegung wird nun auch theoretisch reflektiert dargeboten in DERS., Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, BVB 23, Berlin 2014. 84 Vgl. J.M. LOTMAN, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), 287– 305. 85 Vgl. A. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012, 120f., der hierbei auf Lotman zurückgreift: „In dieser Pufferzone der kulturellen Peripherie (…) werden die den Binnenraum beherrschenden Strukturen fluide und wandelbar, während umgekehrt das Fremde durch Semiotisierung, das heißt durch seine Übertragung systemimmanent prozessierter Zeichen, zu innerkultureller Geltung gelangt.“ vgl. auch DERS., Zur Funktionsweise kultureller Peripherien, in: S.K. Frank u.a. (Hgg.), Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited, Bielefeld 2012, 27–39.

Miracle Reports: Perspectives, Analogies, Explanations Craig S. Keener Scholars have offered a wide array of useful treatments of miracles; this article surveys some previous work and offers a supplemental perspective.1 The editors invited for this essay an American contribution on miracles, but I should carefully emphasize the word “an”: American scholarship is no more monolithic than scholarship elsewhere, and I have also been influenced by European scholarship (particularly the work of Gerd Theißen) in addition to reports from a wide range of cultures. This essay represents an abridgement of a larger book (more than 600,000 words, at nearly 1200 pages) that draws on a much wider range of sources (more than four thousand secondary sources).2 This essay surveys the following points: first, briefly, some North American approaches to questions about Jesus’s miracles; second, some discussion of ways in which miracle reports about Jesus resemble other reports from Greco-Roman antiquity, and ways in which they are fairly or greatly distinctive; third, discussion of the possibility of eyewitness testimony in miracle reports; and fourth, discussion of possible explanations for such reports. The third and fourth points involve fairly recent lines of interdisciplinary dialogue that my own recent research has emphasized,

1

Important American treatments from recent decades (reflecting varied approaches) include, among others, material in D.E. AUNE, “Magic in Early Christianity,” ANRW II 23.1 (1980): 1507–1557; P.J. ACHTEMEIER, Jesus and the Miracle Tradition (Eugene, Oreg. 2008); W. COTTER, Miracles in Greco-Roman Antiquity: A Sourcebook for the Study of New Testament Miracle Stories (CEC; London 1999); IDEM (for a more literary approach), The Christ of the Miracle Stories: Portrait through Encounter (Grand Rapids 2010). See also works cited below by John J. Pilch, Donald Capps, Eric Eve, Barry Blackburn, and others. 2 C.S. KEENER, Miracles: The Credibility of the New Testament Accounts (2 vols., Grand Rapids 2011); cf. also IDEM, “A Reassessment of Hume’s Case Against Miracles in Light of Testimony from the Majority World Today,” PRSt 38 (2011): 289–310; IDEM, “Cultural Comparisons for Healing and Exorcism Narratives in Matthew’s Gospel,” HTS Theological Studies 66 (2010).

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and I elaborate on and document these at somewhat greater length than the first two, more commonly discussed, points.

1. Scholarly consensus about Jesus’s miracles Most scholars today, whatever their other perspectives about Jesus, agree that Jesus’s contemporaries recognized him as a miracle-worker. Thus, for example, Ed P. Sanders considers “almost indisputable” the claim that “Jesus was a Galilean who preached and healed.”3 Raymond Brown emphasizes that “the oldest traditions show him as a healer,” so that scholars generally recognize Jesus as a miracle-worker.4 The detailed historicalcritical work of John P. Meier deems authentic many of Jesus’ reported miracles.5 Even Morton Smith, often skeptical about particular Jesus traditions, considers Jesus’s miracles the most authentic tradition about him.6 Such views are not, of course, limited to scholars in the United States. Otto Betz, for example, argues that Jesus was indisputably a healer.7 I have mentioned here only a handful of scholars as examples, but scholars often summarize as consensus the view that Jesus was a healer and exorcist.8 Compelling evidence supports this general consensus: our earliest sources about Jesus unanimously portray him as a healer. Among Christian sources, this perspective appears in Q, Mark, unique material in Luke and 3

E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (Philadelphia 1985), 11. R.E. BROWN, The Death of the Messiah - from Gethsemane to Grave: A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels (2 vols.; New York 1994), 143–144. 5 J.P. MEIER, A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus (4 vols.; ABRL; New York 1991–2009), II, 678–772; for historical evidence supporting Jesus as a miracle worker, see ibid., II, 617–645; see also G.H. T WELFTREE, Jesus the Miracle Worker: A Historical and Theological Study (Downers Grove, Ill. 1999); C.L. B LOMBERG, The Historical Reliability of the Gospels (2nd ed.; Downers Grove, Ill. 2008), 127–136. 6 M. SMITH, Jesus the Magician (San Francisco 1978), 16. 7 O. BETZ, What Do We Know about Jesus? (Philadelphia 1968), 58. 8 B.L. B LACKBURN, “The Miracles of Jesus,” in Studying the Historical Jesus: Evaluations of the State of Current Research (ed. B. Chilton and C.A. Evans; NTTS 19; Leiden 1994), 353–394, see 362; E. EVE, The Jewish Context of Jesus’ Miracles (JSNT.S 231; London 2002), 16f.; J.W. W ELCH, “Miracles, maleficium, and maiestas in the Trial of Jesus,” in Jesus and Archaeology (ed. J.H. CHARLESWORTH; Grand Rapids: Eerdmans, 2006), 349–383, see 360; J.B. GREEN, “Healing,” The New Interpreter’s Dictionary of the Bible 2:755–759, see 758; M.R. LICONA and J.G. VAN DER W ATT, “Historians and Miracles: The Principle of Analogy and Antecedent Probability Reconsidered,” HTS Theological Studies 65 (1, article 129, 2009): 1–6, see 2; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (Grand Rapids and Cambridge 2003), 670; A.J. HULTGREN, “The Miracle Stories in the Gospels: The Continuing Challenge for Interpreters,” WW 29 (2009): 129–135, see 134f.; cf. also the statement of the same consensus just over a century ago, in J. W ILSON, “The Miracles of the Gospels,” AJT 9 (1905): 10–33, see 13. 4

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Matthew, the Fourth Gospel, and material about early Christianity in Acts, Paul, and Revelation.9 In Q, Jesus viewed himself as a miracle worker (Matt 11:5//Luke 7:22), and expected Galilean towns to be judged for not embracing his signs more enthusiastically.10 (That one of the named towns, Chorazin, would be utterly obscure to later Diaspora Christians supports the saying’s authenticity.) Similarly, even some scholars generally more skeptical about the Jesus tradition doubt that Mark would have invented the claim that Jesus could not heal in the absence of faith (Mark 6:5).11 Mark, probably written within four decades of the close of Jesus’s public ministry, may devote roughly half of the first ten chapters, 40 percent of his narrative, and nearly one-third of his Gospel as a whole, to material involving miracles.12 Healings are so central to the Gospels and Jesus’s reported activity – like the kingdom in his reported teaching – that even the most minimal portrait of Jesus must involve them.13 Although later, even sources hostile to Jesus (the rabbis and the Gentile writer Celsus) preserve the accepted tradition that he performed anomalies, although they associate these with sorcery. 14 No ancient sources deny that Jesus performed acts that his contemporaries viewed as supernatural; apparently the reports were too well known to simply dismiss. A more important and neutral source is the first-century historian Josephus. Although recognizing that later scribes redacted his work, most scholars today affirm that Josephus wrote about Jesus (Ant. 18.63); an early Arabic version confirms the basic outline of Josephus’s report as reconstructed by scholars working on the subject.15 In this early version of his report, Josephus de9 Those who approach the Synoptic problem differently would again find it in their earliest sources. 10 See fuller discussion in F. MUSSNER, The Miracles of Jesus: An Introduction (trans. A. Wimmer; Notre Dame 1968), 19–22. 11 Cf. R.W. FUNK and the Jesus Seminar, The Acts of Jesus: The Search for the Authentic Deeds of Jesus (New York and San Francisco 1998), 85. 12 See e.g., W.C. P LACHER, Mark (Belief: A Theological Commentary on the Bible; Louisville 2010), 76; B. ROBINSON, “The Challenge of the Gospel Miracle Stories,” New Blackfriars 60 (1979): 321–334, see 321; J. W ILKINSON, The Bible and Healing: A Medical and Theological Commentary (Edinburgh and Grand Rapids 1998), 65. 13 BETZ, Jesus (n. 7), 60; G. THEISSEN and A. MERZ. The Historical Jesus: A Comprehensive Guide (Minneapolis 1998), 281 (see more fully 281–315). 14 Cf. e.g., discussion in E.M. YAMAUCHI, “Magic or Miracle? Diseases, Demons, and Exorcisms,” 89–183 in The Miracles of Jesus (ed. D. Wenham and C. Blomberg; GoPe 6; Sheffield 1986), 90f.; BETZ, Jesus (n. 7), 58; H. VAN DER LOOS, The Miracles of Jesus (NT.S 9; Leiden 1965), 156–167; G. VERMES, Jesus the Jew: A Historian’s Reading of the Gospels (Philadelphia 1973), 79. 15 On the Arabic version, see J.H. CHARLESWORTH, Jesus within Judaism: New Light from Exciting Archaeological Discoveries (ABRL; New York 1988), 95f. On Josephus’s genuine mention of Jesus, see e.g., J.P. MEIER, “Jesus in Josephus: A Modest Proposal,” CBQ 52 (1990): 76–103; IDEM, “The Testimonium, Evidence for Jesus outside the Bi-

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picts Jesus as a sage (a “wise man”) who “performed astonishing works,” employing a term that Josephus elsewhere applies to Elisha’s miracles (Ant. 9.182). Scholars usually recognize that Josephus reports Jesus as a miracle-working sage.16 By contrast, we lack comparable claims for other prominent prophetic figures of the era such as John the Baptist. Although Josephus reports some first century prophets after Jesus who promised but failed to perform major public signs, nothing required healing or exorcism claims for prophetic or messianic figures.17 Thus scholars conclude with good reason that Jesus’s contemporaries understood him as a miracle worker. Scholars do not, however, agree on how to explain these reports today.

2. Analogies and the distinctiveness of Jesus’s miracles Miracle reports about Jesus in some respects resemble other reports from Greco-Roman antiquity, and in other respects they are fairly or greatly distinctive. By “distinctive” I do not mean “unique,” as if to ignore the other analogies (many of which also have their own distinctive features). Instead, I seek to highlight characteristics of Jesus’s activity that distinguish it from that of other miracle workers, just as a historian would seek to identify features of any of these other miracle workers distinctive to them.

ble,” BRev 7 (1991): 20–25, see 45; A. WHEALEY, “Josephus on Jesus: Evidence from the First Millennium,” TZ 51 (1995): 285–304; IDEM, “The Testimonium Flavianum in Syriac and Arabic,” NTS 54 (2008): 573–590; P.A. GRAMAGLIA, “Il Testimonium Flavianum: Analisi linguistica,” Henoch 20 (1998): 153–177; J.C. P AGET, “Some Observations on Josephus and Christianity,” JTS 52 (2001): 539–624; VERMES, Jesus the Jew (n. 14), 79; CHARLESWORTH, ibid., 90–98; IDEM, “Jesus, Early Jewish Literature, and Archaeology,” in Jesus’ Jewishness: Exploring the Place of Jesus within Early Judaism (ed. J.H. Charlesworth; Philadelphia and New York 1991), 177–198, see 189–192; A.M. DUBARLE, “Le témoignage de Josèphe sur Jésus d’après la tradition indirecte,” RB 80 (1973): 481–513; B.D. EHRMAN, Jesus: Apocalyptic Prophet of the New Millennium (Oxford 1999), 59–62; THEISSEN and MERZ, Historical Jesus (n. 13), 64–74; R.E. VAN VOORST, Jesus outside the New Testament: An Introduction to the Ancient Evidence (Grand Rapids 2000), 81–104; C. N IEMAND, “Das Testimonium Flavianum: Befunde, Diskussionsstand, Perspektiven,” PzB 17 (2008): 45–71. 16 G. VERMES, “The Jesus Notice of Josephus Re-examined,” JJS 38 (1987): 1–10; IDEM , Jesus the Jew (n. 14), 79; see also MEIER , Marginal Jew (n. 5), 2:621; T HEISSEN and MERZ, Historical Jesus (n. 13), 74. 17 On the sign prophets, see e.g., P.W. B ARNETT, “The Jewish Sign Prophets A.D. 40– 70 – Their Intentions and Origin” NTS 27 (1981): 679–697; R. GRAY, Prophetic Figures in Late Second Temple Jewish Palestine: The Evidence from Josephus (New York 1993), 112–144; EVE, Miracles (n. 8), 296–325. For the contrast with Jesus, see e.g., THEISSEN and MERZ, Historical Jesus (n. 13), 308f.

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The most abundant early healing claims involve sanctuaries of figures associated with healing, such as Asclepius. Traveling individual healers are not nearly as well documented in Jesus’s era, in striking contrast, for example, to sages and members of philosophic schools. Still, there are some reports, especially of ancient exorcists, and in Jewish circles some prophetic figures who sought to emulate Moses or other prophets.18 Later rabbis recounted the miraculous exploits of Honi, although the period of transmission involved in these stories is centuries greater than the single generation between Jesus and Mark’s Gospel.19 For Jesus, his Galilean audience, and the audiences of the Gospels, the biblical Elijah provided perhaps the readiest example of a miracle-working prophet; an Elijah figure could be construed as an eschatological prophet as well (cf. Mal 4:5; Sir 48:10). Most other accounts of miracle workers (e.g., Josephus’s sign prophets and rabbinic tradition’s charismatic rabbis) do not focus on healings; exorcists appear in early Jewish sources, but exorcists often employed means (such as malodorous roots or incantations) missing in the gospel tradition. The apparently closest Greek analogies (Philostratus’s stories of Apollonius) are significantly later and at some points (such as when Apollonius stops a bier and raises a dead child) may reflect now widely-circulated stories about Jesus.20 The “divine man” paradigm once used for comparisons with Jesus has now been mostly dismissed as later, composite and possibly dependent on early Christian models.21 None of the other accounts have eschatological associations.22 Perhaps most significant, Jesus appears not as a petitioner of numinous power, but as its bearer.23 18

See the note regarding sign prophets, above. See especially the concerns of EVE, Miracles (n. 8), 274-295; THEISSEN and MERZ, Historical Jesus (n. 13), 307f. 20 See discussion in KEENER, Miracles (n. 2), 1:53–56; cf. H.-J. KLAUCK, The Religious Context of Early Christianity: A Guide to Graeco-Roman Religions (trans. B. McNeil; Minneapolis 2003), 170; J.-M. VAN CANGH, “Miracles grecs, rabbiniques et évangéliques,” in Miracles and Imagery in Luke and John: Festschrift Ulrich Busse (ed. J. Verheyden, G. van Belle, and J. G. van der Watt; BETL 218; Leuven 2008), 213–236, see 224–226. 21 See e.g., D. LENZ T IEDE, The Charismatic Figure as Miracle Worker (SBLDS 1; Missoula, Mont. 1972); C.R. HOLLADAY, Theios Anēr in Hellenistic Judaism: A Critique of the Use of This Category in New Testament Christology (SBLDS 40; Missoula, Mont.: 1977); E.V. GALLAGHER, Divine Man or Magician? Celsus and Origen on Jesus (SBLDS 64; Chico, Calif. 1982); E. KOSKENNIEMI, “The Religious-Historical Background of the New Testament Miracles,” in Miracles: God, Science, and Psychology in the Paranormal. Vol. 1: Religious and Spiritual Events (ed. J.H. Ellens; Westport, Conn. and London 2008), 103–116, see 105–117. 22 T HEISSEN and MERZ, Historical Jesus (n. 13), 290. 23 See e.g., EVE, Miracles (n. 8), 289, 295, 378. 19

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Ancient analogies are inexact, but they do help us better understand how Jesus’s contemporaries understood him. Modern analogies, by contrast, serve a different function; they provide a sociological control on hypotheses about the length of time necessary for miracle stories to develop.

3. Eyewitnesses do offer miracle reports Human experience is far more diverse than some scholars half a century ago assumed. In the past, some scholars assumed that accounts of Jesus’s or the early disciples’ miracles must have arisen from long periods of legendary accretion or the imagination of Mark and other authors.24 Although some analogies in history do reveal that imagination and legend may create miracle stories, analogies also show us that such stories often stem from eyewitnesses. One cannot therefore assume that reports in the Gospels and Acts reflect only later developments. Clearly their published form reflects the transmitting and editing activity of the church, but as far as the standards by which we evaluate ancient historical sources go, the Gospels are fairly early works and transmitted in circles that would have been interested in preserving information about Jesus.25 As noted above, most scholars now concur that Jesus was known as a miracle worker. In view of such factors, we should allow that many miracle stories in the Gospels and Acts could stem ultimately from genuine experiences that people had with Jesus. 24 Interestingly, David Friedrich Strauss (1808–1874), who emphasized the mythical character of supernatural reports in the Gospels, had a friend who was cured of inability to walk through the ministry of Johann Christoph Blumhardt. Strauss nevertheless was skeptical of Blumhardt (and the reverse; see D. ISING, Johann Christoph Blumhardt, Life and Work: A New Biography [trans. M. Ledford; Eugene, Ore. 2009], 92–94, 222f.). Bultmann later dismissed some accounts of Blumhardt as “legendary,” but diaries and letters from the period tell a different story, and some theologians have cited Blumhardt’s legacy favorably (K. B ARTH, Letters 1961–1968 [trans. and ed., G.W. Bromiley; Grand Rapids 1981], 251; K. HEIM, The Transformation of the Scientific World View [New York 1953], 173-74; J. MOLTMANN, “The Blessing of Hope: The Theology of Hope and the Full Gospel of Life,” Journal of Pentecostal Theology 13 [2005]: 147–161, see 149). 25 For analogies with other ancient biographies from a comparable period after the authors, see C.S. KEENER, “Otho: A Targeted Comparison of Suetonius’ Biography and Tacitus’ History, with implications for the Gospels’ Historical Reliability,” BBR 21 (2011): 331–355; for transmission more generally, see e.g., IDEM, The Historical Jesus of the Gospels (Grand Rapids 2009), 139–161; IDEM, “Assumptions in Historical Jesus Research: Using Ancient Biographies and Disciples’ Traditioning as a Control,” Journal for the Study of the Historical Jesus 9 (2011): 26–58, see 39–53; J.D.G. DUNN, A New Perspective on Jesus: What the Quest for the Historical Jesus Missed (Grand Rapids 2005), 45f., 110–122; R. B AUCKHAM, Jesus and the Eyewitnesses: The Gospels as Eyewitness Testimony (Grand Rapids 2006), 325–350.

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Turning to possible analogies, we must recognize that miracle reports, however one explains them, are common in the world today. In 2006 the respected Pew Forum issued a 231-page report concerning its survey of Pentecostals and charismatics in ten countries on four continents. Extrapolating its estimates and percentages regarding those who claim to have witnessed divine healing might yield a figure of as many as two hundred million persons among Pentecostals and charismatics alone, and in those ten countries alone. What is perhaps more striking is that in these ten countries, roughly 39 percent of Christians who do not claim to be Pentecostal or charismatic claim to have “witnessed divine healings.”26 A different Pew Forum survey in 2008 concluded that 34 percent of Americans report that they have witnessed or experienced divine healing.27 Even though these figures could well include overestimates among these ten countries, overall they reflect only a proportion of the global claims. For example, China was not included in the survey, yet some members of the China Christian Council earlier reported that approximately “half of the new conversions of the last twenty years have been caused by faith healing experiences” of the convert or someone they knew well.28 In some areas others place the estimate as high as 90 percent.29 Whatever the precise numbers in actuality, healing experiences are propelling the growth of Christianity in many of the places where it is growing; people are sufficiently convinced that these experiences are extraordinary that they often undertake costly changes of ancestral affiliations.30 Even in the

26 “Spirit and Power: A 10-Country Survey of Pentecostals,” Pew Forum Survey (2006), at http://pewforum.org/surveys/pentecostal (accessed Jan. 4, 2009). 27 At http://religions.pewforum.org/pdf/report2-religious-landscape-study-full.pdf (accessed Dec. 2, 2008). 28 C. W ÄHRISCH-OBLAU, “God Can Make Us Healthy Through and Through: On Prayers for the Sick and the Interpretation of Healing Experiences in Christian Churches in China and African Immigrant Congregations in Germany,” IntRevMiss 90 (356/357, 2001): 87–102, see 92f. 29 E. T ANG, “‘Yellers’ and Healers – Pentecostalism and the Study of Grassroots Christianity in China,” in Asian and Pentecostal: The Charismatic Face of Christianity in Asia (ed. A. Anderson and E. Tang; Regnum Studies in Mission 3; Oxford and Baguio City 2005), 467–486, see 481. 30 See e.g., H. YUNG, “The Integrity of Mission in the Light of the Gospel: Bearing the Witness of the Spirit,” Mission Studies 24 (2007): 169–188, see 173–175; R. PIERCE B OMANN, Faith in the Barrios: The Pentecostal Poor in Bogotá (London 1999), 62; B.L. KNAPSTAD, “Show Us the Power! A Study of the Influence of Miracles on the Conversion Process from Islam to Christianity in an Indonesian Context” (ThM thesis, Norwegian Lutheran School of Theology, 2005), 78; J.C. MA, “‘A Close Encounter with the Transcendental’: Proclamation and Manifestation in Pentecostal Worship in Asian Context,” in Asian Church and God’s Mission: Studies Presented in the International Symposium on Asian Mission in Manila, January 2002 (ed. W. MA and J.C. MA; Manila and

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fourth century, the dominant causes of conversion mentioned in early Christian sources were exorcism and miracles.31 That is, many who have experienced cures in such settings did not begin with a specifically Christian perspective. Indeed, in some places only a minority of the non-Christians who report experiencing healing through Christian prayers become converts. In one study from 1981, a tenth of nonChristians in Madras (now Chennai), India, reported having “experienced an important cure through prayer to Jesus”; more than twice that number reported knowledge of such cures.32 Although Western prayer studies have so far proved inconclusive, some recent research has documented dramatic changes in visual and auditory acuity after prayer in parts of the Majority World.33 Such studies are valuable because they treat such experiences in their indigenous context, rather than seeking to extract them from that setting.34 As Christianity has become more global, perspectives from various cultures have critiqued modern Western skepticism concerning such phenomena.35 However we explain them, we cannot deny that healing experiences are common in many global religious contexts. Anthropologists have long

West Caldwell, N.J. 2003), 127–145, see 136; C.R. DE WET, “Signs and Wonders in Church Growth” (MA thesis, Fuller School of World Mission, Dec. 1981). 31 R. MACMULLEN, Christianizing the Roman Empire (New Haven 1984), 61f. 32 M. BERGUNDER, The South Indian Pentecostal Movement in the Twentieth Century (Studies in the History of Christian Mission; Grand Rapids 2008), 233; cf. IDEM, “Miracle Healing and Exorcism in South Indian Pentecostalism,” in Global Pentecostal and Charismatic Healing (ed. C. Gunther Brown; Oxford 2011), 287–305, see 298. 33 See C. GUNTHER BROWN, S.C. MORY, R. W ILLIAMS , and M.J. MCCLYMOND, “Study of the Therapeutic Effects of Proximal Intercessory Prayer (STEPP) on Auditory and Visual Impairments in Rural Mozambique,” Southern Medical Journal 103 (2010): 864–869. For an earlier study, cf. R. GARDNER, “Miracles of Healing in Anglo-Celtic Northumbria as Recorded by the Venerable Bede and His Contemporaries: A Reappraisal in the Light of Twentieth-Century Experience,” British Medical Journal 287 (1983): 1927–1933. 34 Replicability in controlled studies is valuable for conventional scientific approaches, but miracles (like other unique events in history, journalism or psychology) are by definition not strictly replicable. One might group them with other miracles, but because the common reported factor is special divine action, which lies outside the purview of traditional scientific approaches, research along these lines remains in its infancy. Casestudy approaches (such as are often used in social sciences) in indigenous contexts are thus particularly appropriate to the subject. 35 E.g., J. GONZÁLEZ, Acts: The Gospel of the Spirit (Maryknoll, N.Y. 2001), 84f.; L.I. MARTELL-OTERO, “Of Satos and Saints: Salvation from the Periphery,” in Perspectivas 4 (2001), 7–33, see 31f; H. YUNG, Mangoes or Bananas? The Quest for an Authentic Asian Christian Theology. Biblical Theology in an Asian Context (Regnum Studies in Mission; Oxford 1997), 7.

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studied claims of healings involving traditional religions.36 Today academic studies of global Christian healing are also commanding special interest.37 Historians frequently narrate historical healing reports without prejudice to their causes.38 Such historians sometimes explicitly exclude the question of causation, regarding that as a theological question inappropriate to their discipline.39

4. Explaining miracle reports If there is consensus that Jesus’s contemporaries experienced him as a miracle worker, we lack a similar consensus regarding the nature of causes for Jesus’s miracles. Our earliest sources suggest that Jesus himself interpreted these experiences as signs of the eschatological kingdom of God at work in or soon to be introduced in relation to his ministry (Matt 12:28/Luke 11:20; the probable evocation of Isaiah’s restoration language in Matt 11:5/Luke 7:22). Today scholars vary in their interpretation of these reports; Morton Smith, for example, compares Jesus’ miracles with ancient magic, as Jesus’ early detractors did. Certainly it is possible for scholars to explore the historical questions without resolving or agreeing on questions of causation. Usually scholars today, regardless of their personal theological beliefs, accept that historically Jesus was a healer and exorcist without feeling a need to explain these experiences or evaluate whether he acted supernaturally. 40 Other scholars, however, have considered possible causes for miracle reports. John Pilch and others have drawn on insights from medical anthropology, showing that illnesses are often culturally defined, 36

See e.g., L.L. B ARNES and I. T ALAMANTEZ, eds., Teaching Religion and Healing, American Academy of Religion Teaching Religious Studies Series; Oxford 2006), passim; R. KATZ, “Healing and Transformation: Perspectives from !Kung HunterGatherers,” in Altered States of Consciousness and Mental Health: A Cross-Cultural Perspective (ed. C.A. W ARD; London 1989), 207–227; E. T URNER et al., Experiencing Ritual: A New Interpretation of African Healing (Philadelphia 1992), passim; IDEM, Among the Healers: Stories of Spiritual and Ritual Healing Around the World (Religion, Health, and Healing; Westport, Conn. 2006), 39–50, 60–69, 76–82, 93–96, 96–100, 142– 146; L. SCHERBERGER, “The Janus-Faced Shaman: The Role of Laughter in Sickness and Healing Among the Makushi,” Anthropology and Humanism 30 (2005): 55–69, see 59– 64. 37 E.g., Global Pentecostal and Charismatic Healing (n. 32). 38 E.g., A. P ORTERFIELD, Healing in the History of Christianity (New York 2005); J. OPP, The Lord for the Body: Religion, Medicine, and Protestant Faith Healing in Canada, 1880–1930 (Montreal 2005). 39 MACMULLEN, Christianizing (n. 31), 24. 40 E.g., EHRMAN, Jesus (n. 15), 197–200.

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and psychoimmunology, showing that beliefs do affect physical immune responses.41 Psychiatrist Donald Capps argues that Jesus may have cured psychogenic disorders by healing the psychological causes of the physical illnesses.42 A range of explanations also exist for modern eyewitness claims regarding what people regard as miracles; various explanations may prove relevant for various reports. Fraud, misdiagnosis, misinterpretation, and the like account for some reports. The well-documented placebo effect and frequency of psychosomatic illnesses likely account for a greater proportion of unusual recoveries.43 Some investigators have also begun exploring links between healing and altered states of consciousness.44 Indigenous folk-healers are often more effective than Western medicine in treating locally conceptualized disorders.45 Despite the range of such options offered, they do not exhaust the range of possible explanations for some sorts of cases.46 Psychosomatic recoveries, for example, are hard-pressed to explain the cures of infants or the raisings of persons believed to be dead.47 As scholars, we sometimes exclude particular kinds of explanations not because they are invalid but because they will not be accepted by some of our peers. It is not inappropriate to work within such methodological constraints when necessary, but we 41 See e.g., J.J. P ILCH, Healing in the New Testament: Insights from Medical and Mediterranean Anthropology (Minneapolis 2000). 42 See D. CAPPS, Jesus the Village Psychiatrist (Louisville 2008); cf. S.L. DAVIES, Jesus the Healer: Possession, Trance, and the Origins of Christianity (New York 1995), 70–72; D.J. GAZTAMBIDE, “Psychoimmunology and Jesus’ Healing Miracles,” in Miracles: God, Science, and Psychology in the Paranormal. Vol. 2: Medical and Therapeutic Events (ed. J. H. Ellens; Westport, Conn. and London 2008), 94–113; IDEM, “The Role of the Placebo Effect, Individual Psychology, and Immune Response in Regulating the Effects of Religion on Health,” 302–24 in The Healing Power of Spirituality: How Faith Helps Humans Thrive. Vol. 3 Psychodynamics (ed. J.H. Ellens; Santa Barbara, Calif. 2010), esp. 303–306. 43 See T.A. DROEGE, The Faith Factor in Healing (Philadelphia 1991), 15–33; D.A. MATTHEWS with Connie C LARK, The Faith Factor: Proof of the Healing Power of Prayer (New York 1998), 179–181; H. BENSON with Marg STARK, Timeless Healing: The Power and Biology of Belief (New York 1996), 34, 36–37, 45, 107–110, 117; H. REMUS, Jesus as Healer (Cambridge 1997), 109–113. 44 See the sources in J. MCCLENON, Wondrous Healing: Shamanism, Human Evolution, and the Origin of Religion (DeKalb, Ill. 2002), 67. 45 EVE, Miracles (n. 8), 354 (citing A. KLEINMAN, Patients and Healers in the Context of Culture: An Exploration of the Borderland between Anthropology, Medicine, and Psychiatry [Berkeley 1980], 71–82, 139f., 366); see MCCLENON, Healing (n. 44), 62f. 46 Cf. P. MCNAMARA and R. SZENT-IMREY, “What We Can Learn from Miraculous Healings and Cures,” in ELLENS, ed., Religious and Spiritual Events (n. 21), 208–220, see 210. 47 Cf. MCNAMARA and SZENT-IMREY, ibid., 213.

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should recognize these constraints as disciplinary limitations, not epistemic boundaries defining what is genuinely possible. That large numbers of people claim divine healing does not obligate us to accept their interpretation of their experience; it does make problematic simply assuming without argument, following Hume, that “uniform human experience” excludes miracles. My research has come across scores of eyewitness claims for the instant healing of blindness (sometimes accompanied by the immediate disappearance of cataracts) and for people being raised from what everyone present believed was death.48 In a number of cases, I or my wife knew personally the witnesses and had every reason to trust their integrity. 49 Even cases like these might be explained in multiple ways, but in at least some of them a supernatural cause seems quite plausible if it is not a priori ruled out.50 Biblical scholars have often bracketed out supernatural explanations on the assumption that philosophy has disproved their possibility. Philosophy of religion today, however, is much more open to the 48 For raising claims, see e.g., P. J ENKINS, The New Faces of Christianity: Believing the Bible in the Global South (New York 2006), 114; D.E. MILLER and T. YAMAMORI, Global Pentecostalism: The New Face of Christian Social Engagement (Berkeley 2007), 151–152; MA, “Encounter” (n. 30), 137; IDEM, “Pentecostalism and Asian Mission,” Missiology 35 (2007): 23–37, see 31; A.M. SÁNCHEZ W ALSH, Latino Pentecostal Identity: Evangelical Faith, Self, and Society (New York 2003), 43–44; R. P IERCE B OMANN, “The Salve of Divine Healing: Essential Rituals for Survival among Working-Class Pentecostals in Bogotá, Colombia,” in Global Pentecostal and Charismatic Healing (n. 32), 187–206, see 195f.; R.A. CHESNUT, Born Again in Brazil: The Pentecostal Boom and the Pathogens of Poverty (New Brunswick, N.J. 1997), 86; interviews include Chauncey Crandall, a physician (May 28, 30, 2010). For blindness, see e.g., D. RAMIREZ, “Migrating Faiths: A social and Cultural History of Pentecostalism in the U.S.-Mexico Borderlands” (Ph.D. dissertation, Duke University, 2005), 94f.; J.C. MA, “Elva Vanderbout: A Woman Pioneer of Pentecostal Mission among Igorots,” Journal of Asian Mission 3 (2001): 121–140, see 130, 132; IDEM, “Encounter” (n. 30), 137; G. W IYONO, “Timor Revival: A Historical Study of the Great Twentieth-century Revival in Indonesia,” Asian Journal of Pentecostal Studies 4 (2001): 269–293, see 286; DE W ET, “Signs” (n. 30), 103f, 121–123; J.L. CASTLEBERRY, “It’s Not Just for Ignorant People Anymore: The Future Impact of University Graduates on the Development of the Ecuadorian Assemblies of God” (EdD diss., Teachers College, Columbia University, 1999), 108, 112. 49 For raisings, interviews include Antoinette Malombé, my mother-in-law (July 12, 2008; confirmed with Ngoma Moïse, another witness, May 14, 2009); J. Ayodeji Adewuya, a professor (Dec. 14, 2009); Leo Bawa, a PhD student (Aug. 10, 2009); Jeanne Mabiala (July 29, 2008); Albert and Julienne Bissouessoue (July 29, 2008; Dec. 15, 17, 2009); less directly, Yusuf Herman, my neighbor (July 10, 2011); Gebru Woldu (May 20, 2010); Elaine Panelo (Jan. 30, 2009). For blindness, interviews include Bungishabaku Katho (March 12, 2009) and Flint McGlaughlin (Feb. 6-7, 2009). 50 In employing the designations “supernatural” and “miracles,” I accede to conventional language; some argue for a deity that works only through nature, others for superhuman causes that are part of nature, and so forth.

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possibility of supernatural explanations. Indeed, some suggest that a majority of philosophers of religion writing on the subject today affirm theism.51 The most influential argument against theistic explanations for miracles remains that of David Hume. Scholars debate the best way to interpret Hume because of many lacunae in his argument, but its intelligibility in his own milieu depended on earlier arguments of English deists, which he often merely abridged.52 Despite some continuing supporters, a majority of interpreters today regard Hume’s argument against miracles as illfounded.53 Most believe that his argument presupposes rather than argues for deism or atheism; as such, it lacks logical force unless supplemented with an argument for those positions. Further, most believe that the second part of his argument is largely circular: he essentially excludes the plausibility of miracle testimony on the basis that we lack credible witnesses for miracles.54 His exclusion of non-Western miracle accounts also reflects an ethnocentric prejudice documented in his work more widely.55 If scholars do not presuppose that miracles (events involving special divine or supernatural action) cannot happen, documentation for even a few miracles would remove the starting prejudice against them.56 Without that 51

See Q. SMITH, “The Metaphilosophy of Naturalism,” Philo 4 (2001): 195–215, see 197. Smith himself is not a theist. 52 See especially R.M. BURNS, The Great Debate on Miracles: from Joseph Glanvill to David Hume (Lewisburg, Pa. 1981), 9–10, 70–95, 141. 53 See e.g., R. SWINBURNE, The Concept of Miracle (London 1970); IDEM, “Evidence for the Resurrection,” 191–212 in The Resurrection: An Interdisciplinary Symposium on the Resurrection of Jesus (ed. S.T. Davis, D. Kendall and G. O’Collins; Oxford 1997), 198; J. HOUSTON, Reported Miracles: A critique of Hume (Cambridge 1994); D. JOHNSON, Hume, Holism, and Miracles (Ithaca, N.Y. 1999); J. E ARMAN, “Bayes, Hume, and Miracles,” Faith and Philosophy 10 (1993): 293–310; IDEM, Hume’s Abject Failure: The Argument Against Miracles (Oxford 2000); K. W ARD, “Believing in Miracles,” Zygon 37 (2002): 741–750. 54 See e.g., R.A. LARMER, Water into Wine? An Investigation of the Concept of Miracle (Kingston and Montreal 1988), 36; F.J. B ECKWITH, David Hume’s Argument against Miracles: A Critical Analysis (Lanham, Md. 1989), 28–32; R. KENNEDY, “Miracles in the Dock: A Critique of the Historical Profession’s Special Treatment of Alleged Spiritual Events,” Fides et Historia 26 (1994): 7–22, see 17f.; C.S. EVANS, The Historical Christ and the Jesus of Faith: The Incarnational Narrative as History (Oxford 1996), 153f.; J OHNSON, Hume (n. 53) 18f.; KEENER, Miracles (n. 2), 1: 107–170. 55 Cf. KEENER, “Reassessment” (n. 2); C. L. TEN, “Hume’s Racism and Miracles,” Journal of Value Inquiry 36 (2002): 101–107; C. T ALIAFERRO and A. HENDRICKSON, “Hume’s Racism and His Case against the Miraculous,” Philosophia Christi 4 (2002): 427–441. 56 Cf. various scholars, e.g., R.D. HOLDER, “Hume on Miracles: Bayesian Interpretation, Multiple Testimony, and the Existence of God,” British Journal for the Philosophy of Science 49 (1998): 49–65.

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starting prejudice, we can evaluate miracle testimony on the same sort of basis that we would evaluate other testimony: unusual events may be less probable, but testimony should be weighed rather than dismissed. Some argue that just as general norms in nature vary according to special conditions (such as superconductivity or black holes), special divine action represents another special condition.57 That is, in particular religious contexts they might even be expected. The possibility of miracles, then, would rise or fall with the possibility of theism (or other worldviews allowing superhuman entities); unless one rules out such possibilities, one need not rule out miracles. Thus a growing number of scholars today, including myself, allow for the possibility of divine activity in miracles. Testimony from much of Africa, Asia, and Latin America invites this consideration, and has influenced some Western scholars, including myself.

5. Conclusion Most American scholars today, like many other scholars, recognize that Jesus’s contemporaries approached him as a miracle-worker. Miracle testimonies from a range of global cultures demonstrate that vast numbers of eyewitnesses can and do report experiencing what they consider miracles. The analogy argument once used against the plausibility of eyewitness sources for biblical miracle reports now supports instead the possibility of such sources. The interpretation of miracle testimony is more controversial, because exploring this question requires rethinking older philosophic assumptions on which our approaches are based, in light of newer philosophic approaches and input from a range of global cultures. Various explanations may be appropriate to various kinds of cases. Nevertheless, the traditional exclusion of theistic explanations is an assumption that today need not be taken for granted. Theistic explanations, like others, should be allowed as part of the discussion.

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Cf. T.L. NICHOLS, “Miracles in Science and Theology,” Zygon 37 (2002): 703–715, see 705.

Wunder Jesu und urchristliche Wundergeschichten Historische, psychologische und theologische Aspekte1 Gerd Theißen Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind (J.W. Goethe). Aber moderne Theologen schämen sich seiner als eines illegitimen Kindes. Sie deuten Wunderberichte als Dichtungen und schreiben ihnen „kerygmatischen“ Sinn zu, der von Allegorisierung nicht weit entfernt ist. Hier beginnt ein Umdenken. Ethnologische Feldforschung hat gezeigt, dass vormoderne Heiler auf der ganzen Welt tätig sind.2 Auch Jesus gehört zu ihnen. Seine Heilungen können wir nicht in Feldforschung untersuchen, sie sind uns nur in literarisch transformierter Form erhalten. Die Berichte können kritisch gelesen als Verarbeitung genereller Erfahrungen verstanden werden. Das Wunder kann so als ein vormodernes Phänomen „gerettet“ werden, bei seiner Deutung aber sollten wir mit „modernen Theorien“ auskommen, die unserer wissenschaftlichen Deutung der Welt entsprechen. Erst danach stellt sich die Frage einer theologischen Würdigung der Wunder Jesu. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Sinn der Wunder in der Verkündigung Jesu und im Urchristentum. Wunder erhalten schon bei Jesus als Zeichen der Endzeit einen Mehrwert an Sinn, der weit über das faktische Geschehen hinausweist. Erst recht gilt das für die urchristlichen Wundergeschichten. Nirgendwo sonst in der Antike werden Wundererzählungen so mit Sinn aufgeladen wie im Urchristentum. Sie werden symbolisch gedeutet. Dabei lässt sich m.E. eine durchgehende Tendenz in den Wundern Jesu und den urchristlichen Wundergeschichten erkennen.

1 Dieser Aufsatz basiert auf G. T HEIßEN, Die Wunder Jesu. Historische, psychologische und theologische Aspekte, in: W.H. Ritter/M. Albrecht (Hgg.), Zeichen und Wunder, BThS 31, Göttingen 2007, 30–52, und G. T HEIßEN, Jesus and his Followers as Healers, Symbolic Healing in Early Christianity, in: W.S. Sax/J. Quack/J. Weinhold (Hgg.), The Problem of Ritual Efficacy, Oxford 2010, 45–65. 2 Vgl. I. RÖSING, Dreifaltigkeit und Orte der Kraft: Die weiße Heilung. Nächtliche Heilungsrituale in den Hochlanden Boliviens, Frankfurt 31995.

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1. Historische Aspekte: Die Frage nach der Geschichtlichkeit der Wunder Jesu3 Die Wunder sind historisch umstritten. Nach D.F. Strauß (1808–1874) wurden sie erzählt und erfunden, um Jesus als Messias zu verkündigen. Nach der Formgeschichte im 20. Jh. wurden sie in Übereinstimmung mit allgemeinen Mustern und Motiven antiker Wundergeschichten erzählt und erfunden. Eine dritte These von einer „späten Entstehung der Wundergeschichten“ führt beide Theorien fort: Innerhalb des Urchristentums seien die Wundergeschichten sekundär entstanden und fänden sich deshalb nicht bei Paulus.4 Die These von der Produktivität der Messiaserwartung (D.F. Strauß) sagt: Da das Volk erwartete, dass der Messias einzigartige Wunder tun soll, wurden Wundergeschichten entsprechend messianischer Erwartungen auf ihn übertragen. Der Messias sollte ein zweiter Mose sein. Also musste man auch von ihm eine wunderbare Speisung in der Wüste erzählen. Das Problem ist: Wir finden im damaligen Judentum keine Erwartung eines wundertätigen Messias. Der Messias der Psalmen Salomos aus dem 1. Jh. v. Chr. (PsSal 17/18) tut ebenso wenig Wunder wie im 2. Jh. n. Chr. der als Messias proklamierte Bar Kochba. Auf der anderen Seite hören wir von einem Wundertäter wie Chanina ben Dosa in Galiläa, der nicht beanspruchte, Messias oder Prophet zu sein. Dennoch können Erwartungen Wundergeschichten produzieren: Nach einigen Texten wird Gott (nicht der Messias) am Ende der Tage Wunder vollbringen (Jes 61,1; 29,18f.; 35,5f.; 42,18; 4Q521). Diese Erwartung steht hinter der Frage Johannes des Täufers, ob Jesus der Kommende sei. Jesus antwortet nicht: „Seht, welche Wunder ich tue!“, sondern stellt nur fest, dass in der Gegenwart Wunder geschehen (Mt 11,2–6). Er betrachtet Gott als deren Subjekt – unabhängig davon, ob sie durch ihn, die Jünger oder andere gewirkt werden.5 Eschatologische Erwartungen könnten Wundergeschichten als Zeichen eschatologischer Erfüllung produziert haben. 3 Aus der zahlreichen Literatur nenne ich: B. KOLLMANN , Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996; DERS., Neutestamentliche Wundergeschichten, Biblischtheologische Zugänge und Impulse für die Praxis, Urban Tb 477, Stuttgart 32011. Ferner G. THEIßEN, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 71998; G. T HEIßEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 42011, 256–294. 4 Vgl. W. SCHMITHALS, Vom Ursprung der synoptischen Tradition, ZThK 94 (1997), 288–316. 5 Jesus betrachtete Gott als Subjekt seiner Wundertaten. Er wirkt als Finger Gottes (Lk 11,20). Er weiß, dass auch Pharisäer und ihre Schüler Dämonen austreiben (Lk 11,19). Er akzeptiert die Exorzismen eines fremden Exorzisten (Mk 10,38–41).

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Das zweite Argument historischer Skepsis basiert darauf, dass die urchristlichen Wundergeschichten viele Motive enthalten, die in antiken Wundergeschichten oft wiederkehren.6 Die Geschichten von Jesus wurden nach traditionellen Mustern erzählt. Deswegen spiegeln sie zunächst die erzählerische Kompetenz derer wider, die sie erzählten. In den Wunderberichten begegnet nicht der historische Jesus, sondern seine literarisch transformierte Gestalt. Nicht nur Erwartungen, sondern auch literarische Motive und Muster haben Wundergeschichten geformt und manchmal hervorgebracht. Ein drittes Argument historischer Skepsis sagt: Die Wunder Jesu fehlen in den Paulusbriefen als den ältesten Schriften des Urchristentums, dazu auch im späteren Thomasevangelium. Ein argumentum e silentio ist nie ein starkes Argument. Es ist nicht tragfähig, weil Paulus sagt, er habe die „Zeichen“ eines Apostels gewirkt (2 Kor 12,12), aber von diesen Wundern nichts erzählt. Wir finden ein Schweigen über sie in allen urchristlichen Briefen. 2 Petr kennt zumindest ein synoptisches Evangelium, 1 Joh das JohEv, Ignatius das MtEv. Keiner dieser Briefe erwähnt die Wunder Jesu, die sie doch aus diesen Evangelien kannten. Das Thomasevangelium enthält generell keinen Erzählstoff, kennt aber Wunder der Jünger (EvThom 14). Das Schweigen des Paulus und des EvThom ist also gattungsbedingt und ist kein Argument für eine späte Entstehung der Wundertradition. Welche Argumente sprechen aber positiv für einen historischen Kern der Wunderüberlieferung?7 1.1 Kontextplausibilität der Wunderüberlieferung Jesu Nach dem Kriterium historischer Kontextplausibilität kann man im damaligen Palästina mit Wundertätern rechnen. Im 1. Jh. v. Chr. lebte Choni, der wegen seines Regenzaubers berühmt war (Taan III,8; Jos., Ant 14,22– 24). Kurz nach Jesus wirkte Chanina ben Dosa.8 Ihm sagte man Immunität gegen Schlangenbiss (bBer 33a), Fernheilungen durch Gebet (bBer 34b) und Macht über Dämonen (bPes 112b) nach. Er könnte aus demselben galiläischen Milieu wie Jesus stammen. Aus dem jüdischen Krieg ist ein Exorzist Eleazar bekannt (Jos., Ant. 8,46–48). Die Jesusüberlieferung 6 R. B ULTMANN, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 12, Göttingen 1995, 236–241; THEIßEN, Wundergeschichten (s. Anm. 3), 57–81. 7 Zur Geschichtlichkeit der Wunderüberlieferung vgl. THEIßEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 256–284. C.A. EVANS, Fabricating Jesus. How Modern Scholars Distort the Gospels, Downers Grove 2006, 139–157, urteilt zu zuversichtlich. Zu den Kriterien vgl. G. THEIßEN/D. W INTER , Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenz- zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Fribourg/Göttingen 1997. 8 Vgl. G. VERMES, Chanina ben Dosa. A Controversial Galilean Saint from the First Century of the Christian Era, JJS 23 (1972), 28–50; 24 (1973), 51–64. 10

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rechnet mit weiteren Wundertätern: Schüler der Pharisäer vollziehen Exorzismen (Mt 12,26). Fremde Exorzisten benutzen Jesu Namen für Beschwörungen (Mk 9,38–40; Apg 19,13–17). Manchmal ist Lokalkolorit erkennbar: Spannungen zwischen Juden und Heiden im Grenzgebiet von Tyros und Galiläa (Mk 7,24–30),9 Konflikte zwischen Juden und Römern (Mk 5,1–20),10 messianische Erwartungen in Judäa (Mk 10,46–52). Das Kriterium der Kontextplausibilität erfordert neben einer Übereinstimmung mit dem historischen Kontext auch Individualität innerhalb dieses Kontextes. Nicht von jedem Charismatiker erzählte man Wunder. Johannes der Täufer hat nach Joh 10,41 keine Wunder getan, obwohl der Täufer als neuer Elia galt und von Elia Wunder erzählt wurden. Der Herrenbruder Jakobus zog legendarische Überlieferungen an sich, aber keine Wundergeschichte. Eine historische Wundertätigkeit Jesu könnte erklären, warum gerade er so viele Wundergeschichten an sich zog. Auffallend ist, dass nur bestimmte Heilungen begegnen. Jesus heilt weder Beinbrüche noch Wunden noch Schlangenbisse. Traditionelle Gesellschaften haben meist Spezialisten dafür.11 In der Jesusüberlieferung hören wir nur von „Therapien” bei Krankheit und „Exorzismen“ bei Besessenheit. Schließlich zeigen die Wundermotive besondere Züge. Der jüdische Wundertäter Eleazar (Jos., Ant. 8,46f.)12 heilt mit Ring und Wurzel, Zauberformeln und dem Namen des Königs Salomo. Bei Jesus finden wir nur folgende rituelle Akte: Das Publikum wird ausgeschlossen.13 Heilungen vollziehen sich durch Berührung (Mk 5,30). „Heilmittel“ sind das wunderwirksame Wort: „Talita kum!“, „Hefata!“ (Mk 5,41; 7,34) und Speichel (Mk 7,33; 8,23; vgl. Joh 9,6f.).14 Aber es wird kein Name eines großen Meisters beschworen, kein Gebet gesprochen, kein Zauberbuch zitiert. Die 9 G. THEIßEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/ Göttingen 1989, 63–85. 10 T HEIßEN, a.a.O. 115–119. 11 Traditionelle Gesellschaften haben Spezialisten für verschiedene Krankheitstypen: W. B ICHMANN, Medizinische Systeme Afrikas, in: B. Pfleiderer/K. Greifeld/W. Bichmann, Ritual und Heilung, Berlin 21995, 33–65, hier 61: Pflanzenheilkundige, Knochenrichter, Gesundbeter, Fetischeure, auf die Behandlung bestimmter Krankheiten spezialisierte Praktiker, Hebammen. 12 Bei diesem Exorzismus war Josephus anwesend und nennt als Augenzeugen Vespasian, seine Söhne und römische Offiziere (Ant. 8,46). Wenn er diese Geschichte ca. 20 Jahre später in seinen Antiquitates veröffentlicht, muss er damit rechnen, dass Augenzeugen noch leben. 13 Mk 5,40; 7,33; 8,23, vgl. Apg 9,40. Das ist ein traditionelles Element, vgl. 1 Reg 17,19; 2 Reg 4,4.33. 14 Speichel gilt als Heilmittel für Augenkrankheiten (u.a. Plin., Hist. Nat. 28,37.86; Tac., Hist. 4,81; bSchab 108b), vgl. KOLLMANN, Jesus und die Christen (s. Anm. 3), 235.

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wenigen rituellen Gesten betonen die persönliche Beziehung: Durch Absonderung von der Menge konzentriert sich alles auf die Beziehung des Heilers zum Kranken. Heilende Worte stehen im Zentrum. Berührung heilt. Singulär ist, wie Jesus die Zunge eines Taubstummen durch Speichel löst: „Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata! Das heißt: Tu dich auf!“ (Mk 7,33f.).

Meint die Erzählung, dass Jesus die Finger in die Ohren steckte, sie herauszog und mit ihnen Speichel auf die Zunge des Taubstummen strich? Wahrscheinlicher ist: Jesus hielt seinen Kopf in seinen Händen und berührte seine Zunge mit dem Speichel seines Mundes. Das wäre ein Kuss! Die „Armut“ ritueller Gesten bei den Heilungen Jesu ist bedeutsam: Alle Gesten signalisieren Zuwendung durch Worte und Berührungen. Das passt zum Charakter der Heilungen Jesu als Glaubensheilungen. Singulär ist das Motiv vom Glauben als heilender Kraft, während das Gebet fehlt (anders Joh 11,41f.), einzigartig ist das Verständnis der Exorzismen als Zeichen der Gottesherrschaft.15 Wir können schließen: Wenn nicht alle Arten von Heilungen in der Jesusüberlieferung begegnen und Wundermotive charakteristische Akzente haben, geht das wahrscheinlich auf den historischen Jesus zurück. Er wurde nicht vollständig an das allgemeine Muster eines Wundertäters assimiliert, sondern behielt ein individuelles Profil. 1.2 Wirkungsplausibilität der Wunderüberlieferung Jesu Die Wunderüberlieferung von Jesus hat Wirkungsplausibilität, d.h. sie lässt sich als Auswirkung des historischen Jesus im Urchristentum verständlich machen – einerseits durch breite Bezeugung in verschiedenen Überlieferungsströmen und Gattungen, andererseits durch tendenzwidrige Züge. Die Annahme einer Wundertätigkeit des historischen Jesus erklärt am besten, dass sie in fünf potentiell unabhängigen Überlieferungsströmungen bezeugt wird: Mk, Q, mt und lk Sondergut sowie im JohEv. Die Wunder Jesu werden in drei Formen überliefert: in Worten, Erzählungen und Summarien. Nur in der Wortüberlieferung begegnen typische Züge der Verkündigung Jesu: die Umkehr (Lk 10,13–15), das Kommen des Reiches Gottes (Lk 11,20), die Macht des Glaubens (Lk 17,5f.). In der Erzählüberlieferung fehlen diese typischen Motive. Nur das Glaubensmotiv ist der Wort- und Erzählüberlieferung gemeinsam. Die Summarien, eine 15

Chanina ben Dosa wirkte z.B. primär durch sein Gebet. Er kennt anders als Jesus keine eschatologische Deutung seiner Wunder.

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dritte Form der Wunderüberlieferung, sprechen nicht von Naturwundern wie Seewandel oder Brotvermehrung. Für die Historizität der Wunderüberlieferung spricht, dass Wunder Jesu über den Kreis seiner Anhänger hinaus bekannt waren. Josephus bezeugt sie (Jos., Ant. 18,63).16 Die Perikope vom fremden Exorzisten (Mk 9,38– 40) setzt bei Außenstehenden Bekanntschaft mit ihnen voraus. Nach Apg 19,13–17 hat sich die Nachricht von ihnen bis Ephesus verbreitet. Eine nicht-christliche Reaktion auf die Wunder ist (indirekt) in Mk 6,14f. erhalten. Das Volk sagt über Jesus: „Johannes der Täufer ist von den Toten auferstanden; darum tut er solche Taten.“ Es handelt sich um alte Tradition; nur wenn Jesu Herkunft aus Nazareth unbekannt war, konnte man ihn für den Täufer redivivus halten. Schließlich setzen die Verbreitungsnotizen über das Gerücht von Jesu Wundern voraus, dass Wundergeschichten von Jesus in nicht-christlichen Kreisen verbreitet wurden. Für Christen war das ein Problem. Sie begegneten hier einer nicht von ihnen kontrollierten Jesusüberlieferung. Das MkEv reintegriert sie in die christliche Literatur und versichert: Ihr Inhalt ist echt, aber dass sie überall erzählt werden, war gegen Jesu Willen (Mk 7,36; vgl. 1,44; 5,43). In den Überlieferungen finden sich tendenzwidrige Züge, die im Urchristentum Verlegenheit schufen und nicht erfunden sind: der im Zusammenhang mit Exorzismen erhobene Vorwurf des Teufelsbündnisses (Mk 3,22–27) oder die Aussage, dass Jesus wegen Unglaubens in seiner Heimatstadt keine Wunder tun konnte, was Mk abmildert (Mk 6,5). Andererseits gibt es drei Tendenzen, durch die sich die Wunderüberlieferung von der historischen Realität entfernt hat. Die erste Tendenz ist eine volkstümliche Verschiebung, die sich beim Vergleich von Wort- und Erzählüberlieferung zeigt: Mt 12,28par. sieht in den Exorzismen die Ankunft der Gottesherrschaft. Diese wird in Wundererzählungen nirgendwo erwähnt. Die Antwort auf die Frage des Täufers (Mt 11,2–6) nennt neben Heilungen eine Heilsverkündigung an Arme. Sie fehlt in Heilungserzählungen. Das Scheltwort gegen die galiläischen Städte (Mt 11,20–24) verknüpft Wunder und Umkehr: Wenn in Tyros und Sidon solche Wunder geschehen wären wie in Chorazim und Bethsaida, wären die Menschen dort umgekehrt. In Wundererzählungen fehlt die Aufforderung zur Umkehr. Das Wort vom bergeversetzenden Glauben meint (in Mk 11,23f.) einen Gebetsglauben, der Wunder vollbringt. In Wundererzählungen fehlt das Gebet (abgesehen von Joh 11,41f.), aber auch die typische

16 Es ist m.E. sehr wahrscheinlich, dass dem Testimonium Flavianum ein ursprüngliches Summarium über Jesus zugrunde liegt, das christlich überarbeitet wurde; vgl. THEIßEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 74–84.

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Gottesanrede „Abba“.17 Die Geschichten sind so erzählt, wie sie über den engeren Kreis der Jesusanhänger hinausdringen konnten – mit Motiven, mit denen man allgemein von Wundertätern erzählte, während die für Jesus spezifischen Züge verblassten. Deshalb haben die Wundergeschichten einen so „profanen Zug“ (M. Dibelius).18 Eine zweite Tendenz ist die Steigerung des Wunderbaren besonders im JohEv. Der Kranke am Teich von Bethesda ist 38 Jahre krank (Joh 5,5), der Blinde schon von Geburt an blind (Joh 9,1), bei Lazarus hat die Verwesung schon begonnen (Joh 11,39). Untersuchungen zu Tendenzen in mündlichen Tradition haben gezeigt: Beim Nacherzählen einer Geschichte prägen sich die Züge ein, in denen Regeln unserer Alltagswelt durchbrochen werden, „unwahrscheinliche“ Züge innerhalb der Alltagsontologie werden dabei zu „kontraintuitiven“ Zügen.19 Wir müssen damit rechnen, dass im Laufe der Überlieferung unwahrscheinliche Ereignisse zu Wundern wurden. Aus der unwahrscheinlichen Heilung eines Abszess am Auge könnte z.B. eine kontraintuitive Blindenheilung, aus der Heilung eines kranken Mädchens eine Totenerweckung geworden sein. Eine dritte Tendenz ist die Zunahme der Wundersymbolik. Sie beginnt bei Jesus, der seine Wunder als Anbruch des Gottesreiches deutete (Mt 12,28par.). Der Mk-Evangelist schreibt der Blindenheilung (8,22–26) tiefere Bedeutung zu. Er hat vorher die Jünger als „blind“ getadelt (Mk 8,18) und zeigt durch das Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,29), wie ihre Blindheit weicht. Im MtEv hat die Sturmstillung (Mt 8,23–27) symbolischen Sinn, weil die Jünger Jesus ins Boot „nachfolgen“ (Mt 8,23) und das Boot zum Symbol der Kirche wird. Im LkEv weist der wunderbare Fischzug des Petrus (Lk 5,1–11) auf die Gründung der Kirche. Im JohEv sind alle Wunder „Zeichen“, welche die Würde Jesu offenbaren. Wundergeschichten werden in der Antike zwar zur Legitimation von Macht erzählt 17 T. ONUKI, Urform und Entfaltungen der Heilungswundergeschichten Jesu. Zur formgeschichtlichen Verortung der ‚Semeia-Quelle‘ des Johannesevangeliums, in: ders., Heil und Erlösung. Studien zum Neuen Testament und zur Gnosis, WUNT 165, Tübingen 2004, 20–59, arbeitet einen weiteren Unterschied zur Wortüberlieferung, welche die Menschen aus ihrem Leben herausreißt, heraus: Wunderheilungen integrieren die Geheilten in ihre vertraute Welt. Sie werden nach Hause geschickt. Bartimäus, der Jesus „nachfolgt“, ist eine Ausnahme (Mk 10,52). 18 M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 41961, 74, unterscheidet bei den Wundergeschichten das erbauliche Paradigma und die Novelle mit profanen Motiven. 19 J.L. B ARRETT/M.A. NYHOF, Spreading Non-natural Concepts: The Role of Intuitive Conceptual Structures in Memory and Transmission of Cultural Materials, Journal of Cognition and Culture 1, 2001, 69–100; A. NORENZAYAN/S. ATRAN, Cognitive and Emotional Processes in the Cultural Transmission of Natural and Nonnatural Beliefs, in: M. Schaller/C.S. Crandall (Hgg.), The Psychological Foundations of Culture, Mahwah, NJ/London, 2004, 149–169.

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wie z.B. Wunder des Vespasian (Tac., Hist. 4,81; Suet., Vesp. 7). Auch die Wunder Jesu sollen ihn legitimieren (Apg 2,22), aber sie haben einen Mehrwert: die Blindenheilung weist auf eine innere Erleuchtung, die Brotspeisung auf Offenbarung als Himmelspeise usw. Diese symbolische Bedeutung der Wunder ist in der Antike singulär. Selbstverständlich müssen wir mit unhistorischen Wundergeschichten und Wundermotiven rechnen. So könnte das Weinwunder von Kana ein Weinwunders des Dionysos auf Jesus übertragen (Joh 2,1–11), die Geschichte von der Heilung am Teich Bethesda (Joh 5,1–9) eine Heilungsgeschichte aus antiken Heilkulten, zumal unmittelbar bei Bethesda ein antiker Heilkult existiert hat.20 Nur allgemeine Züge einer Heil- und Exorzismustätigkeit Jesu sind historisch gut bezeugt, nicht die Geschichtlichkeit jeder Erzählung.

2. Psychologische Aspekte: Die zerstörerische Macht des Traumas und die heilende Kraft des Glaubens21 Bei Jesu Wundern lassen sich Exorzismen und Therapien unterscheiden.22 Exorzismen sind ein Kampfgeschehen. Ein Dämon hat das Ich-Zentrum eines Menschen okkupiert und muss aus ihm vertrieben werden. Eine andere Struktur haben Wunderheilungen. Der Hilfesuchende ist krank. Das Wort für Krankheit ist dasselbe wie für Schwäche (asthéneia). Der Kranke erhält durch Handauflegung Kraft, die wie ein Fluidum verstanden wird, das vom Wundertäter auf den Kranken übergeht. Bei Exorzismen steht also die Vertreibung einer fremden Macht im Zentrum, bei Therapien die Einflößung einer Kraft, die ihm fehlt. Exorzismen entfernen etwas, Therapien füllen mit Lebenskraft auf.23 20

Vgl. A. DUPREZ, Jésus et les dieux guérisseurs, CahRB 12, Paris 1970; U.C. VAN W AHLDE, Archaeology and John’s Gospel, in: J.H. Charlesworth (Hg.), Jesus and Archaeology, Grand Rapids/Cambridge U.K. 2006, 523–586, bes. 560–566. 21 Vgl. G. THEIßEN, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 239–250. 22 Die sog. Naturwunder lassen sich in Geschenkwunder und Rettungswunder einteilen, vgl. T HEIßEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 267–268. Auffallend ist die Zunahme der Symbolik in ihnen: In der Brotspeisung finden sich Motive des Abendmahls, im Seewandel Motive einer Ostererscheinung, in Sturmstillung und im wunderbaren Fischzug wird die Situation der Kirche transparent, vgl. THEIßEN/MERZ, a.a.O., 273–275. 23 Bei den Therapien könnte man daher von „Adorzismen“ (anstelle von Exorzismen) sprechen. Bei Heilungen in vormodernen Kulturen geht es oft nicht darum, das Böse aus dem Kranken zu entfernen, sondern Geister, die den Kranken verlassen haben, wieder in ihn hinein zu bringen. Zur Unterscheidung von Adorzismus und Exorzismus vgl. L. DE HEUSCH, Cultes de possession et religions initiatiques de salut en Afrique, ACER 2

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2.1 Exorzismen Exorzismen setzen den Glauben an Geister und Dämonen voraus. Er lässt sich evolutionspsychologisch erklären: Einen Tiger für einen Stein zu halten, kann tödlich enden. Einen Stein für einen Tiger zu halten, ist harmlos. Daher haben wir eine Tendenz, unserer Umwelt feindliche Intentionen zuzuschreiben.24 Das könnte die Universalität des Geisterglaubens erklären: „Das Gespenst ist die Projektion des nächtlich jagenden Raubtiers“ (K. Lorenz). Eine zweite Voraussetzung für Exorzismen ist das Phänomen der Besessenheit, des Kontrollverlustes einer Person. Wir kennen heute Krankheitsbilder mit Kontrollverlust, die in anderen Kulturen als Besessenheit gedeutet werden. Schizophrene schreiben manchmal sexuelle oder aggressive Regungen bösen Mächten wie dem Teufel zu. Bei Epilepsien können Phänomene der Persönlichkeitsspaltung auftreten. Zwangsneurotiker erleben sich als von irrationalen Impulsen beherrscht. Traumatisierung führt zu dissoziativen Störungen. Aber auch jede „normale“ Suchterkrankung ist Kontrollverlust. Diese Formen von „Besessenheit“ lassen sich psychologisch deuten. Besessenheit war in der Antike darüber hinaus ein kulturelles Verhaltensskript, das Menschen unbewusst lernten, um ihre Probleme mitzuteilen – unabhängig davon, welche psychischen Störungen und Belastungen dahinter standen. Ebenso waren Exorzismen kulturelle Skripte,25 Menschen wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Ihre psychologische Deutung besteht meist darin, dass dabei abgespaltene Teile des Menschen wieder angeeignet werden und der Dämon als Schatten re-integriert wird. Davon unterscheiden sich jedoch exorzistische Praktiken in ihrem Selbstverständnis: (1) Die Exorzismen zielen nicht auf eine innere Integration abgespaltener Teile, sondern auf das Gegenteil: Sie wollen etwas Böses aus dem Menschen entfernen. Exorzismen sind Kampfhandlungen. (2) Sie werden nicht als individuelle „Therapie“ vollzogen, sondern wollen Menschen in die Gemeinschaft integrieren. Manchmal deuten sie einen sozialen Faktor an, wenn der Dämon eine fremde Sprache spricht.

Sollte in diesem Verständnis der Exorzismen nicht eine gewisse „Weisheit“ stecken? Daher sei eine andere psychologische Deutung urchristli(1962), 127–167. Hinweis von P. VON GEMÜNDEN, Die Fremdheit der Bibel wahrnehmen – der kulturanthropologische Beitrag zur Exegese, in: H. Assel/S. Beyerle/C. Böttrich (Hgg.), Beyond Biblical Theologies, WUNT 275, Tübingen 2012, 497–530. 24 S.E. GUTHRIE, Faces in the Clouds. A New Theory of Religion, New York/Oxford 2 1995. 25 Vgl. zu dieser Deutung von Besessenheit und Exorzismen C. STRECKER, Jesus and the Demoniacs, in: W. Stegemann/B.J. Malina/G. Theißen (Hgg.), The Social Setting of Jesus and the Gospels, Minneapolis 2002, 117–133.

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cher Exorzismen versucht, die an das Selbstverständnis der Exorzismen anknüpft.26 Besessenheit ist eine dissoziative Störung.27 Dissoziative Erscheinungen treten bei traumatischen Erfahrungen auf, bei sexuellem Missbrauch, Vergewaltigung, aggressiver Misshandlung und Folter, Verlusterfahrungen durch Tod, Unfall oder durch soziales Chaos. Eine sozialgeschichtliche Erklärung der Zunahme von Besessenheit bei politischer Unterdrückung liegt nahe: In Zeiten von Fremdherrschaft und Unterdrückung steigt die Wahrscheinlichkeit traumatischer Verletzungen. Bei Traumata spricht die Psychoanalyse von Introjekten der traumatisierenden Faktoren in den Traumatisierten. Die Opfer identifizieren sich mit dem Angreifer, d.h. mit dem misshandelnden und unterdrückenden Menschen. Wenn sie in „FlashBacks“ und Trauma-Inszenierungen die traumatisierende Situation noch einmal so intensiv erleben, als seien sie ihr hilflos ausgeliefert, erleben sie sich wie von einer fremden Macht besetzt. Sie wissen sehr wohl, dass sie nicht mehr in der Vergangenheit leben, sondern in der Gegenwart. Aber die Verletzungen der Vergangenheit lassen sie nicht los. Eine Therapie besteht nicht darin, diese traumatisierenden Introjekte anzueignen, sondern sie zu entfernen. Der traumatisierte Mensch muss darin unterstützt werden, die Abbilder der Peiniger und Folterer aus sich zu entfernen. In Mk 5,1–20 finden wir die Spuren eines traumatisierten Menschen: Er lebt in Grabhöhlen,28 kann nicht an Ketten gebunden werden, schlägt sich mit Steinen und ist von einem Dämon „Legion“ besessen. Es könnte sich um das Opfer römischer Soldaten handeln, der einmal Fesselung erfahren hat und sich gegen sie aufbäumt. Er hat die erfahrene Aggression introjiziert, so dass er sich weiter mit autoaggressiven Handlungen schädigt und durch Steine verletzt. Durch eine „symbolische“ Heilung wird dieser Besessene geheilt und in die Gemeinschaft integriert. Die Austreibung des Dämons wird dramatisch inszeniert, indem eine Schweineherde in den See gejagt wird. Viele Menschen träumten davon, dass man die Römer (in Ge-

26 B. GROM, Religionspsychologie, München/Göttingen 1992, 335, meint: Eine „psychologische Deutung kann die genauer untersuchten Besessenheitserlebnisse befriedigend erklären“. Dagegen vertritt K. BERGER, Historische Psychologie des Neuen Testaments, SBS 146/147, Stuttgart 1991, 79, die These: „Was ‚dämonisch‘ genannt zu werden pflegt, ist nicht psychologisch zu erfassen, sondern im Blick auf den Gott der Bibel.“ 27 Grundinformationen bei P. F IEDLER, Dissoziative Störungen, Fortschritte der Psychotherapie 17, Göttingen/Bern 2002. 28 Plato bezeugt, dass die nicht geläuterte Seele, „an den Denkmälern (mnématá) und Gräbern (táphous) umherschleicht (Plat., Phaed. 81cd). Ruhelose Tote sind in der Antike (1) unbestattete Menschen, (2) gewaltsam Getötete, (3) Unvollendete. Vgl. D. ZELLER, Erscheinungen Verstorbener im griechisch-römischen Bereich, in: ders., Das Neue Testament und seine hellenistische Umwelt, BBB 150, Hamburg 2006, 26–41, hier 32–36.

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stalt des Dämons Legion) ins Meer jagen könnte.29 In die Schilderung des Exorzismus am galiläischen See sind wahrscheinlich reale Erfahrungen mit traumatisierten Menschen eingeflossen. Insofern könnte selbst dieser etwas merkwürdige Exorzismus einen historischen Kern haben oder generelle Erfahrungen enthalten. Dissoziative Störungen sind jedoch nicht nur „natürliche“ Symptome, sondern auch kulturelle Skripte, d.h. eine körperliche Sprache, die andere Menschen erlernen können, um ihre Probleme öffentlich zu kommunizieren.30 Besonders Menschen mit der Fähigkeit, sich theatralisch darzustellen, also Histrioniker (lat. histrio = Schauspieler), können so ihren Problemen eine Sprache verleihen. Sie suchen öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Leiden als Krankheitsgewinn.31 Dämonische Besessenheit ist dann ein kulturelles Skript, das es ihnen möglicht macht, in die Öffentlichkeit zu drängen. Nur hier finden sie die gesuchte Zuwendung. So könnte man das Auftreten eines Besessenen in der Synagoge von Kapernaum deuten (Mk 1,23–28). Wo kann ein Histrioniker in einem jüdischen Dorf mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als in der Synagoge? Dass Jesus sie nicht sprechen lässt, steht in Kontrast zu heutigen Exorzismen in der katholischen Kirche, in denen der Dialog mit dem Dämon oft eskaliert – und so die Symptome verstärkt werden. Die Erzählungen von Exorzismen lassen nicht erkennen, was sie für Jesus selbst bedeuteten. Das sagen Jesusworte. Jesus war überzeugt, dass der Satan seine Macht verloren hatte (Lk 10,18; Mk 3,27). Mit seinen Exorzismen geht das Reich des Satans zu Ende (Mk 3,23–26). Jetzt gilt: „Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Lk 11,20). Es beginnt, wo Menschen ihre Selbstkontrolle wiedererlangen. Das Reich Gottes ist damit auch eine psychische Wirklichkeit, die beginnt, wo dissoziative Fremdbestimmung im Menschen durch Ich-Aktivität ersetzt wird. Daher könnte Jesus in Lk 17,20f. auch an das Innere des Menschen gedacht haben, wie es die alte Lutherübersetzung tat: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist inwendig in euch (entós hemôn).“32 29 Der Eber war das Symbol der Legion X Fretensis, die ab 70 n. Chr. in Jerusalem stationiert war. T. REINACH, Mon Nom est Légion, REJ 47 (1903), 172–178, sah als erster einen Zusammenhang mit Mk 5,1ff. In seiner Nachfolge stehen T HEIßEN, Lokalkolorit (s. Anm. 9), 117f., und M. KLINGHARDT, Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1–20, ZNW 98 (2007), 28–48. 30 STRECKER, Jesus and the Demoniacs (s. Anm. 25), 117–133. 31 GROM, Religionspsychologie (s. Anm. 26), 333. 32 Philologisch ist diese Deutung möglich. So T. HOLMÉN, The Alternatives of the Kingdom. Encountering the Semantic Restrictions of Luke 17,20–21 (evnto.j u``mw/n), ZNW 87 (1996), 204–229.

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Dort wo Menschen wieder mit ganzem Herzen und ganzer Seele Gott dienen, sind sie nicht fern vom Reich Gottes (Mk 12,28–34). Die Exorzismen haben das Ziel: Gott soll wieder über Menschen bestimmen können, und sie sollen sich Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und allen Kräften wieder zuwenden können. 2.2 Therapien Die zweite Form von Wunderheilungen sind Therapien als Vermittlung von Lebenskraft. Das zeigt eine der schönsten Wundergeschichten im Neuen Testament, die Heilung der blutflüssigen Frau (Mk 5,25–34).33 Diese Frau hat bei vielen Ärzten vergeblich Heilung gesucht und ist dadurch arm geworden. Das ist ein Topos. Aber auch dahinter steckt eine Realität: Die Wundertäter der ersten Christen boten ihre Hilfe ohne Geld an. Diese Frau berührt Jesus von hinten in der „abergläubischen“ Erwartung, durch die Berührung geheilt zu werden. Jesus spürt, dass eine Kraft von ihm weicht, und fragt, wer ihn berührt hat. Die Frau erzählt sodann zitternd in der Öffentlichkeit ihre Geschichte: „die ganze Wahrheit“. Hatte sie bisher ihr Stigma des Blutflusses, der sie unrein machte, verheimlicht? Dann wäre dieses Bekenntnis ein Schritt, dass sie nun öffentlich und offensiv zu ihrer Beeinträchtigung steht. Die Krankheit wird nachträglich in die öffentliche Kommunikation einbezogen. Jesus sagt ihr erst nach ihrem Geständnis: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage!“ (Mk 5,34) Eine psychologische Analyse des Wunderglaubens kann von der in dieser Formel enthaltenen Kausalattribution des Wunders ausgehen. Die Formel: „Dein Glaube hat dich gerettet (oder geheilt)!“ ist in dieser Zuspitzung einzigartig, wenn auch nicht analogielos. Das Glaubensmotiv begegnet in antiken Heilberichten in anderer Form. Im griechischen Epidauros, einem Heilkult des Gottes Asklepios, wurden die Besucher mit Inschriften von Heilungen konfrontiert. Diese in Stein gemeißelten Inschriften hatten dieselbe Funktion wie die Gerüchte über Jesu Wunder in Palästina. Sie sollten Hoffnung und Zuversicht erzeugen. Eine der ersten Inschriften reflektiert die Bedeutung des „Glaubens“ ganz anders als in der Jesusüberlieferung: „Ein Mann, der die Finger der Hand bis auf einen nicht rühren konnte, kam zu dem Gott als Bittsteller. Als er die Weihetafeln in dem Heiligtum sah, glaubte er die Heilungen nicht und machte sich über die Inschriften lustig. Beim Schlaf (im Heiltraum) sah er ein Gesicht; es schien ihm, während er unterhalb des Tempels Würfel spielte und mit dem Würfel werfen wollte, als sei der Gott erschienen und ihm auf die Hand gesprungen und habe ihm die Finger ausgestreckt; als er weggetreten sei, so schien ihm, habe er seine 33

T. VOGT, Angst und Identität im Markusevangelium. Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag, NTOA 26, Fribourg/Göttingen 1993, 101–141.

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Hand gekrümmt und jeden Finger einzeln ausgestreckt; nachdem er alle gerade gestreckt, habe der Gott gesagt: ‚Weil du also vorher ungläubig gegen sie warst, die doch nicht unglaubhaft waren, so soll in Zukunft dein Name ‚Apistos‘ sein.‘ Als es Tag geworden, kam er gesund heraus.“ (Epidauros W 3)

„Glaube“ bedeutet hier Glaube an die Faktizität der Wunder, er produziert sie nicht, sondern reagiert auf sie. Der Glaube der Jesusüberlieferung bringt dagegen das Wunder hervor und versetzt Berge (Mk 11,22ff.). Dieser Glaube ist mit drei sozialen Rollen verbunden. Zunächst ist es der Glaube der Geheilten, also der Glaube der blutflüssigen Frau (Mk 5,34), des blinden Bartimaios (Mk 10,52; vgl. Mt 9,29) oder des aussätzigen Samaritaners (Lk 17,19). Das Glaubensmotiv ist eine Spur, die der historische Jesus sowohl in Q (Lk 17,6) als auch im MkEv (Mk 11,22f.) hinterlassen hat. Das Motiv ist keine Rückprojektion urchristlichen Glaubens, da „Glaube“ im Urchristentum Glaube an den gekreuzigten und auferweckten Christus ist. Wunderglaube ist allgemeiner. Die Pointe des Glaubensmotivs ist die Kausalattribution der Heilung an den Glauben der Hilfesuchenden. Die kranken Menschen kommen zu Jesus in der Erwartung, von ihm Hilfe zu erlangen. Sie attribuieren die heilende Kraft an den Heiler. Aber Jesus reattribuiert sie im Widerspruch zu ihren Erwartungen an ihren Glauben. Damit hat Jesus die heilende Macht des Glaubens intuitiv entdeckt. Seine Entdeckung stimmt mit Erkenntnissen der modernen Medizin überein. Wir wissen, dass Glaube und Vertrauen sowohl auf Seiten des Arztes als auch auf Seiten des Patienten den Heilungsprozess unterstützen. Das ist ein gesichertes Resultat der Placeboforschung.34 Wenn Arzt und Patient die Überzeugung teilen, dass ein Medikament heilt, so unterstützt diese Überzeugung eindeutig den Heilprozess – selbst wenn es sich um ein Placebo handelt. Aber während ein Placebo auf „Illusion“ basiert, fehlt bei Jesus diese Illusion. Ein Placebo wirkt, weil suggeriert wird: Dieses Medikament hat eine nachweisbare Wirkung und wirkt eben nicht nur allein aufgrund von Glauben. Jesus aber sagt: Dein Glaube, nichts anderes hat dich geheilt!35 Als Glaube der Helfer wird der Glaube mit einer weiteren sozialen Rolle verbunden. Es ist der Glaube derer, die den gichtbrüchigen Kranken durch das Dach zu Jesus hinab lassen. Jesus „sah“ ihren Glauben, d.h. ihre Zuversicht in seine heilende Macht (Mk 2,5). Es ist der Glaube des Jairus (Mk 5,36), der Syrophönizierin (Mt 15,28), des Vaters des epileptischen 34 Vgl. H. BRODY, Ritual, Medicine, and the Placebo Response, in: Sax/Quack/Weinhold (Hgg.), Ritual Efficacy (s. Anm. 1), 151–167. 35 Es ist falsch, „Gott“ deshalb als Placebo zu bezeichnen. Die Wirkung eines Placebos basiert auf einer durch echte Medikamente geschaffenen Erwartung der heilenden Wirksamkeit und/oder auf einem konditionierten Lernen durch echte Medikamente, die durch Pseudomedikamente ersetzt wurden. Beim Gottesglauben gibt es keine Analogie zu den echten Medikamenten, die Erwartungen und Konditionierung begründen könnten.

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Knaben (Mk 9,23f.) und des Hauptmanns von Kapernaum (Mt 8,10). Manchmal hat man gegen eine „psychosomatische“ Deutung der Wunderheilungen eingewandt, dass der Glaube nicht nur den Kranken zugeschrieben wird, sondern ihrer Begleitung. Aber Krankheit ist auch ein soziales Phänomen. Die Theorie vom „sozialen Heilen“ meint, dass die Heiler soziale Konflikte in der Umwelt beheben, dadurch Stress reduzieren und so in einigen Fällen bei psychosomatischen Krankheiten helfen können.36 In zwei Fällen sind die kranken Personen nicht einmal anwesend; Jesus heilt aus der Ferne (Mt 8,5–13/Lk 7,1–10; Mk 7,24–30/Mt 15,21–28). In beiden Fällen handelt es sich um Nicht-Juden. Ist das Wunder also nicht ein Symbol dafür, dass sich die christliche Botschaft bald über Juden hinaus verbreitet hat? Aber ein stellvertretender Glaube kann therapeutisch effektiv sein. Das sagt die Theorie der „sozialen Heilung“. Kranke Menschen sind in ihre Gruppe eingebettet. Der Heiler aktiviert für sie Unterstützung. Der gemeinsam geteilte Glaube hat positive Effekte, indem er sozialen Stress und soziale Konflikte reduziert. Das gilt auch für Fernheilungen. Exkurs über moderne Fernheilungen: In den 50er Jahren des 20. Jh. machte ein Hamburger Arzt folgendes Experiment. Er kooperierte mit einem spirituellen Heiler in München, der von Beruf Jurist war.37 Der Heiler war überzeugt, dass er fähig sei, über große Distanzen hinweg heilende Botschaften zu senden. Der Arzt bat ihn darum, drei seiner Patienten zu helfen, erzählte aber den Patienten nichts von dieser Behandlung. Nach den Stunden, in denen der Heiler in München tätig gewesen war, war keine Besserung zu erkennen. Danach informierte der Arzt seine Patienten über den Heiler in München und seine außergewöhnliche Fähigkeit, aus der Ferne heilen zu können. Er gab ihnen dessen Schriften zu lesen und kündigte ihnen für eine bestimmte Zeit dessen spirituelle Fernbehandlung an. Der Heiler in München wusste von all dem nichts. Die Zeiten wurden so gewählt, dass er zu dieser Zeit ganz gewiss keine spirituellen Heilungsbotschaften sandte. Trotzdem erlebten die drei Patienten eine deutliche Besserung ihres Zustandes nach der ihnen mitgeteilten fiktiven Zeit.

Um Fernheilungen Jesu zu erklären, müssen wir nur voraussetzen, dass die Syrophönizierin ihrer Tochter erzählte, sie wolle einen berühmten galiläischen Heiler aufsuchen, der sie heilen werde. Es reicht, dass der Hauptmann von Kapernaum seinen Knecht informierte, er wolle den für seine Heilkraft bekannten Jesus um Hilfe bitten. Das kann erklären, dass sich die beiden Kranken seit der Zeit besser fühlten, als sie mit einer Begegnung ihres Fürsprechers mit Jesus rechnen konnten. Die beiden Heilungen können einen historischen Kern haben. Für uns reicht, wenn wir sicher sein dürfen, dass immer wieder Wunder dieser Art geschehen. Zuletzt noch ein Blick auf die Belege zum Unglauben der Umwelt. In zwei Texten erklärt er den Misserfolg von Heilungen. Die Einwohner der 36 W.S. SAX, God of Justice: Ritual and Social Healing in the Central Himalayas, New York 2008 37 H. REHDER, Wunderheilungen, ein Experiment, Hippokrates 26 (1955), 577–580.

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Heimatstadt Jesu staunen über die Wunder (Mk 6,2). Jesus muss jedoch feststellen, dass er ohne Ansehen in seiner Heimatstadt ist. „Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun, außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte“ (Mk 6,5f.). Solche Texte zeigen, dass Jesus und die ersten Christen sich mit Misserfolgen beim Heilen auseinandersetzen mussten. Eine mögliche Erklärung war mangelnder Glaube – nicht nur beim Kranken, sondern in seiner sozialen Umgebung. Wenn die Heimatstadt Jesu kein Zutrauen zu dessen Heilkraft hat, kann Jesus dort keine Heilungen vollziehen. Das Logion vom zurückkehrenden Dämon (Mt 12,43–45)38 entspricht bitterer Erfahrung. Nach einer vorübergehenden Erleichterung durch vormodernes Heilen kehrt die Krankheit zurück. Der Rückfall ist schlimmer als die ursprüngliche Krankheit. Wenn auch der große Heiler nicht helfen kann, ist die Verzweiflung des Kranken umso größer. Man muss auch fragen: Was wird in Wunderheilungen eigentlich geheilt? Die moderne Ethnomedizin unterscheidet bei Krankheit (sickness) zwischen organischer Dysfunktion (disease) und umfassendem Leiden (illness), d.h. dem medizinischen Befund und der Gesamtsituation des Erkrankten, zu der auch die Bewertung seines Leidens und seine soziale Position gehören. Wunderheiler heilen soziales Leiden (illness), nicht organische Krankheiten (disease) – Letzteres nur, sofern durch Reduktion des sozialen Leidens auch positive Rückwirkungen auf den Organismus zu erwarten sind.39 Selbstverständlich kann jede Verbesserung der Gesamtsituation die physische Widerstandskraft eines Kranken verbessern. Im Glaubensmotiv darf man eine Spur des historischen Jesus sehen: Eigentlich strömt die Menge zu ihm in der Erwartung, dass er die Kranken als Wundertäter mit seiner Macht heilt. Jesus aber verweist auf eine Kraft in den Kranken und den Hilfesuchenden selbst, er verändert ihre Kausalattribution der Heilung. Er hat erkannt, dass ohne Selbstaktivierung von Vertrauen bei den Kranken wie ihrer sozialen Umwelt keine Besserung geschehen kann. Der wunderwirkende Glauben wird zum Zeichen der wirksamen Gegenwart Gottes im Menschen. Jesus aber sieht darin mehr: den Beginn des Reiches Gottes. 2.3 Deutungen Wie sollen wir die Wunder Jesu im Rahmen moderner psychologischer Theorien beschreiben und deuten? Zunächst einmal lassen sie sich als cha38

Vgl. T. ONUKI, Tollwut in Q? Ein Versuch über Mt 12,43–45/Lk 11,24–26, in: ders. Heil und Erlösung (s. Anm. 17), 3–19. 39 J.J. P ILCH, Healing in the New Testament. Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, Minneapolis 1989.

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rismatisches, symbolisches, rituelles und soziales Heilen klassifizieren.40 Alle vier Attribute treffen für Jesu Heilungen zu. Der Begriff „charismatisches Heilen“ betont die Beziehung zwischen einem Heiler und seinen Anhängern. Charisma ist eine Interaktion zwischen einer Person mit irrationaler Ausstrahlungskraft und ihren Anhängern, die ihr vertrauen. Dieses Vertrauen meint die Formel: „Dein Glaube hat dich gerettet (bzw. geheilt)“. Dieser Glaube wurde durch die Gerüchte über Jesu Heilungen schon zu dessen Lebzeiten hervorgerufen. Die urchristlichen Heilungsgeschichten folgen daher nicht nur den Heilungen, sondern gingen ihnen auch voran; sie riefen jene Heilungserwartungen unter den Menschen hervor, ohne die sich Heilcharisma nicht entfalten kann. Wir hören in den Evangelien, dass sich die Kunde von den Heilungen Jesu sehr rasch im Volk verbreitete (Mk 1,28.45; 5,14.20; 7,37) und dass Menschen aufgrund der Gerüchte von ihm zu Jesus kamen (Mk 7,24f.). Diese Gerüchte sind der bis ins Leben Jesu zurückreichende Ursprung unserer Wundergeschichten. Sie dienten als Glauben erzeugende Geschichten. Sie waren konstitutiv für die Heilungen und beziehen sich nicht nur referenziell auf sie. Der Begriff „symbolisches Heilen“ bezieht sich auf kognitive Imaginationen, die im Heiler und seinen Klienten wirksam sind. Wir begegnen in den Wundern Jesu zwei symbolischen Konzepten: einerseits der Vorstellung einer magischen Kraft, die den Kranken erfüllt, andererseits einer antagonistischen Auseinandersetzung, die den Besessenen vom Dämon befreit. Weder heilende Energien noch Dämonen sind physikalische Realitäten, wohl aber Symbole, die im Innern der Kranken und Heiler wirken. Das gilt auch für die Sündenvergebung (Mk 2,1–12) und die Reinheitserklärung eines Aussätzigen (Mk 1,40–45). Ferner finden wir die Überzeugung, dass die Verwandlung von Kranken in Gesunde Teil einer Transformation der Welt ist – eine Überzeugung, die vor allem bei Jesus selbst und in den urchristlichen Wundertätern wirksam war; deswegen finden wir sie nur in der Wortüberlieferung. Der Begriff „rituelles Heilen“ bezieht sich auf traditionelle Muster bei den Heilungen, die wiederholt werden konnten, wie das Auflegen der Hände und der Gebrauch von Speichel (Mk 7,33; 8,23; Joh 9,6). Sie haben eine Tradition des Heilens im Urchristentums hervorgerufen, die von der Heilpraxis Jesu abweicht: Wenn nach Jak 5,13–16 die Ältesten zu einem kranken Gemeindeglied kommen, beten sie über ihm, obwohl das Gebet bei den uns überlieferten Wundern Jesu fehlt. Sie salben mit Öl, obwohl Jesus nicht mit Öl heilte. Sie heilen in seinem Namen, obwohl Jesus niemals den Namen Gottes bei seinen Heilungen anruft. Wahrscheinlich ersetzte das 40

B ICHMANN, Medizinische Systeme 46 (s. Anm. 11), unterscheidet „psycho- und soziotherapeutische Effekte“.

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Gebet die heilenden Worte Jesu, das Öl heilende Mittel wie die Spucke und der Name Jesu seine Anwesenheit. Der Begriff „soziales Heilen“ bezieht sich schließlich darauf, dass Jesu Heilungen soziale Unterstützung zugunsten der Kranken aktivierten und die Geheilten in ihre Gemeinschaft in Familie und Dorf reintegrierten: Am Ende von Wundergeschichten werden die geheilten Menschen in ihr Haus und ihre Familie geschickt (Mk 2,11; 5,19; 8,26). Andere Aussagen beziehen sich direkt auf den wiederhergestellten Frieden in der Gemeinschaft: Sündenvergebung dient dazu, eine Gruppe zu versöhnen (Mk 2,5). Die (kultische) Reinheitserklärung gibt einen Aussätzigen dem sozialen Leben zurück (Mk 1,41). Man kann daher Jesu Heilungen als soziales Heilen bezeichnen. Jesu Heiltätigkeit war also charismatisches, symbolisches, rituelles und soziales Heilen. Charisma und Symbol bilden die beiden inneren psychosomatischen bzw. psycho-symbolischen Aspekte von Heilungen. Die äußeren Aspekte bezeichnen wir als rituelles und soziales Heilen. Jesu Heilungen geschehen im Körper und in der Gemeinschaft, embodied and embedded. Die Wirksamkeit von Jesu Wunderheilungen lassen sich m.E. zufriedenstellend mit der kognitiven Theorie der Wirksamkeit symbolischer Heilungen erklären. Die Ethnomedizinerin Ina Rösing hat sie in drei Einzelhypothesen differenziert:41 (1) Die Übereinstimmung zwischen Heiler und Krankem hinsichtlich eines gemeinsamen Ziels ist für eine Effektivität rituellen Heilens wichtig: Nur dann können beide aus ihrer jeweiligen kognitiven Welt die Symbole aktivieren, die auf dieses 42 Ziel bezogen sind. Bei Jesus besteht ein Konsens zwischen Heiler und Kranken: Jesu Kraft ist darauf gerichtet zu heilen (Lk 5,17) und wird deswegen gesucht. (2) Symbolische Heilungen sind umso wirksamer, je mehr innere Vorgänge durch äußere Akte gestützt werden.43 In den Heilungen Jesu wird die innere Beziehung zu Jesus durch äußere rituelle Formen gestützt: vor allem durch Handauflegung. (3) Je mehr die Heilungen in die gesamte Sicht des Lebens (in die drei Wissenskreise des Menschen von sich selbst, von der Gemeinschaft und vom Kosmos) eingebettet sind, umso wirksamer sind sie.44 Jesus und die ersten Christen haben ih41

RÖSING, Dreifaltigkeit (s. Anm. 2), 714–727. RÖSING, a.a.O., 721, definiert ihre Zielbezogenheits-Hypothese so: „Heilwirksam sind nur Symbole oder Symbolsysteme, deren Bedeutungen mit diesem Ziel assoziiert oder verwandt sind oder es gewissermaßen einkreisen.“ 43 RÖSING, a.a.O., 722, formuliert ihre Konvergenz-Hypothese so: „Je mehr verschiedene Sinne und kognitive Modi in der Bedeutungsaktivierung auf das gleiche Bedeutungsziel hin einbezogen sind, desto wirksamer ist die Symbolische Heilung.“ 44 RÖSING, a.a.O., 723f., unterscheidet in ihrer Wissens-Kreis-Hypothese einen intrapersonellen, interpersonellen und transpersonalen Bedeutungskreis. „Symbolische Heilung ist wirksamer, wenn mehr als ein solcher bedeutungstragender Wissenskreis durch 42

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Gerd Theißen re Heilungen in eine Transformation der ganzen Welt eingebettet. Die Veränderungen einzelner Menschen waren Vorschein und Teil einer großen Veränderung.

Auf jeden Fall bietet sich folgende evolutionspsychologische Erklärung an:45 Menschen waren Jahrtausende lang auf vormedizinische Heilversuche angewiesen, die nach unserer Annahme alle mit Placebo-Effekten arbeiteten. Wer auf diese Heilversuche ansprach, hatte eine größere Wahrscheinlichkeit unser Vorfahr zu werden als andere. Daher ist es wahrscheinlich, dass in vielen Menschen auch heute diese Kraft des Glaubens als Möglichkeit vorhanden ist. Damit kommen wir zu einem Versuch, die Wunder in einem noch größeren Zusammenhang theologisch zu deuten.

3. Theologische Aspekte: Die Wunder Jesu als anti-selektionistische Zeichen einer neuen Welt Ich plädiere für eine schöpfungstheologische Deutung: Wundercharisma ist eine spontan auftretende Macht, die in der Schöpfung vorhanden ist. Sie hat sich in einer langen Evolution entwickelt. Dieses Charisma lässt sich nicht technisch ausnutzen. Weil es spontan auftritt, dabei von Interaktion und Vertrauen abhängig bleibt, liegt eine religiöse Deutung nahe. Jesus besaß solch ein Charisma in außergewöhnlichem Maße. Er hat es verstanden, diese Heilgabe mit dem Zentrum seiner Botschaft zu verbinden und ihnen eine religiöse Deutung als Anbruch einer neuen Welt zu geben. Die Wunder sind daher im Rahmen seiner gesamten Verkündigung zu deuten. Dabei dürfen wir nicht ausklammern, was uns in ihr fremd erscheint. Fremd ist uns die apokalyptische Naherwartung Jesu. Er glaubte, dass das Gottesreich schon verborgen in der Gegenwart präsent ist und bald hereinbrechen wird. Seine Naherwartung war ein Irrtum. Vertraut ist uns jedoch die Aufwertung des gegenwärtigen Augenblicks: Weder in ferner Vergangenheit entscheiden sich Heil und Unheil noch in der Zukunft, sondern hier und jetzt! Fremd sind uns die Wunder und Exorzismen: Jesus der Teufelsaustreiber gehört in eine fremde Welt. Vertraut ist uns jedoch der unbedingte Wille zum Leben, der sich in allen Wundergeschichten zeigt. Alle sollen genug zu essen haben, die Kranken sollen gesund werden, die Behinderten am Leben teilhaben, Menschen ihre Selbstbestimmung wieder erlangen. das Symbol oder Symbolsystem aktiviert wird. Und es sind solche Symbole am mächtigsten, welche gleichzeitig viele Wissenskreise aktivieren.“ 45 Zu dieser evolutionspsychologischen Deutung und über „Schamanen als Hypnotiseure“ vgl. D.C. DENNETT, Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt/Leipzig 2008, 175–181.

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Fremd ist uns an der radikalen Ethik Jesu, dass man um der Nachfolge willen nicht für das Begräbnis des Vaters sorgen und sogar die eigenen Kinder verlassen soll. Vertraut ist uns dagegen die Forderung der Nächstenliebe, des Statusverzichts und die Verheißung für die Schwachen: Den Armen soll die Gottesherrschaft gehören. Die Hungrigen sollen satt und die Weinenden getröstet werden. Es läge nahe, nur von den uns vertrauten Zügen her das Wirken Jesu zu deuten. Das soll niemandem verwehrt werden. Ausgeblendet blieben aber die bizarren Elemente. Meine Deutung bezieht auch sie mit ein. Dieser fremde und bizarre Jesus wird verständlich, wenn wir die Überlieferungen von ihm auf die Aufgabe aller menschlichen Kultur beziehen, Selektion zu reduzieren.46 Kultur beginnt mit der Chance, menschliches Leben dort zu ermöglichen, wo es unter natürlichen Bedingungen unmöglich wäre: Der Schwache erhält eine Chance zum Leben, die er ohne bewusste Anstrengungen und Ausgleich nicht hätte. Schon F. Nietzsche hat gesehen, dass das Christentum ein Gegenprinzip gegen die Selektion ist.47 In ihm wird der Schwache nicht nur geschützt, sondern ihm wird ein Vorrang zugesprochen: In der Gottesherrschaft sollen die Armen, Kranken, Hungernden und Kinder zur Geltung kommen. Die Wundergeschichten sind gewiss bizarr. Aber sie enthalten, wenn man sie in dem skizzierten evolutionären Rahmen sieht, einen beeindruckenden Protest gegen die natürliche Verteilung von Lebenschancen: Sie geben dem Leben am Rande des Lebens eine neue Chance. Die Ethik Jesu ist genauso bizarr. Sie vollzieht einen Bruch mit den Verhaltenstendenzen der bisherigen Evolution: Meist finden wir in ihr Familiensolidarität zwischen genetisch Verwandten verbunden mit Aggression gegen andere, die nicht genetisch verwandt sind. Bei Jesus ist es umgekehrt: Er verlangt von seinen Jüngern den Bruch mit der Familie und gleichzeitig die Liebe zum Feind. Mit diesen Verhaltensweisen überschreitet der Mensch eine Schwelle von einer alten zu einer neuen Welt. Es ist die Schwelle zwischen der biologischen und kulturellen Evolution. Nicht, dass sie damals in Palästina einmalig überschritten wurde. Diese Schwelle zieht sich durch die ganze menschliche Geschichte. Sie wurde immer wieder überschritten, in jedem einzelnen Menschen, der umkehrt und neu geboren wird. Aber damals 46 Dieser Versuch basiert auf G. T HEIßEN, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984; G. T HEIßEN, Biblischer Glaube und ‚Evolution. Der antiselektive Indikativ und Imperativ, in: ders., Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt. ‚Neutestamentliche Grenzgänge‘ im Dialog, NTOA 78, Göttingen 2011, 188–237. 47 F. NIETZSCHE, Der Antichrist § 7, in: ders., Werke, hg. v. G. Cocci/M. Montinari, Berlin 1969: „Das Mitleiden kreuzt im grossen ganzen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergang reif ist.“

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wurde im Rahmen der Apokalyptik ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass die Geschichte insgesamt ein Übergang ist: Nach Dan 7 sollen die tierischen Reiche abgelöst werden vom Reich des „Menschen“. Die ersten Christen haben diesen „Menschen“ mit Jesus identifiziert und in ihm den Übergang von einer durch Tiere geprägten Zeit zu einer „menschlicheren“ Welt gesehen. Dieser Übergang vollzieht sich noch immer hier und jetzt – in jedem Menschen, dessen Verhalten dem Selektionsprinzip der bisherigen Evolutionsphase entronnen ist. Das Gericht mit seiner grausamen Scheidung von Guten und Bösen stellt den Selektionsdruck dar, der über allem Leben wie ein dunkler Schatten liegt: Alles unterliegt einem harten „Anpassungsdruck“ an die Gesamtrealität und kann ihr doch nicht entsprechen. Die Verkündigung von Sündenvergebung und Gnade aber bedeutet: Aufhebung dieses Selektionsdrucks. Sie geschieht in einem ersten Schritt durch Moral in jeder Kultur, sie vollendet sich durch die Gewissheit von Gnade auch jenseits der Moral in der Religion. Die Wundergeschichten enthalten eine besondere Verheißung: Es ist genug Leben da. Darin stimmen die uns noch erkennbare Wundertätigkeit Jesu und die urchristlichen Wundergeschichten überein. Selbst wenn man den historischen Hintergrund dieser Erzählungen stark minimiert, enthalten sie eine deutliche Botschaft: einen antiselektionistischen Protest gegen das Leid. Von ihm ging ein starker Impuls aus, auch Menschen in aussichtsloser Lage beizustehen. Diesen Widerstand gegen das Leid findet man nicht in allen Kulturen. Er findet sich auch nicht in allen Wundergeschichten, die man sich auf dieser Welt erzählt hat. Sie sind ein Proprium der Wunder Jesu und der Wundergeschichten von ihm. Sie sind auch deshalb bis heute „wunderbare“ Geschichten. Noch immer kann man sie als Vorschein einer besseren Welt verstehen: Sie sind Zeichen dafür, dass der Mensch an einer Schwelle in der Evolution steht, die er immer wieder überschreitet und vor der er immer wieder versagt.

II. Geschichtliche Perspektiven

Wunder über Wunder: Israels Führung durch die Wüste Exodus 15,22–18,27 Eine Skizze Axel Graupner Wer den Pentateuch so liest, wie er gelesen werden will, nicht als Perikopensammlung, sondern als Buch, dem fällt nach dem Übergang von der Genesis zum Exodusbuch in der Perspektive des Themas dieses Bandes ein massiver Unterschied auf. Anders als die Vätererzählung, die keine Wundererzählungen umfasst, ist die Exoduserzählung Ex 1,1 – 15,21 durch die Plagenerzählung 7,8 – 10,29 und die Erzählung von der Errettung am (Schilf-)Meer 14,1–31 massiv wunderhaft ausgestaltet.1 Die mit 15,22 einsetzende und bis 18,27 reichende Wüstenerzählung besteht sogar, sieht man von der Itinerarnotiz 15,21 und 18,1–27 ab, ausschließlich aus einer Reihe von Wunderzählungen. Folgende Gliederung gibt einen groben Überblick: 15,22–26 Mara: die Verwandlung von „bitterem“ in „süßes“ Wasser 15,27 Elim 16,1–36 Speisung mit Wachteln und Manna: die Entdeckung des Sabbat (vgl. Gen 2,1–3) 17,1–7 Massa und Meriba (|| Num 20,1–13): Wasser aus dem Felsen 17,8–16 Sieg über die Amalekiter 18,1–27 Wiedersehen zwischen Jitro und Mose in der Wüste (V 1–12) und Einsetzung von Richtern zu Moses Entlastung (V 13–27; vgl. Num 11,10ff; Dtn 1,9–18)

1

Zur Plagenerzählung mit ihrem Präludium, Aarons Einsetzung als Moses Prophet und der Ankündigung der künftigen Ereignisse 7,1–7, vgl. W.H. SCHMIDT, Exodus, BK II/2,1–2; zu Ex 14 A. GRAUPNER, Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte, WMANT 97, Neukirchen-Vluyn 2002, 77–89.

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1. Israels Führung durch die Wüste als Thema des Pentateuch 1.1 Gegenwärtiger Zusammenhang, Eigenart, Alter und Herkunft der Überlieferung Ex 15,22 – 18,27 wird bibelkundlich in der Regel überschrieben: „Israels Führung durch die Wüste von Ägypten zum Sinai/Gottesberg“. Diese Überschrift ist sachgemäß, weil quellensprachlich orientiert. Der Pentateuch selbst, prophetische Literatur und der Psalter rekurrieren auf die Wüstenerzählung mit der Wurzel $lh hlk im hi. „führen“2 (in folgenden Zitaten kursiviert) und Jahwe als Subjekt: „Ich habe euch vierzig Jahre in der Wüste geführt: eure Kleider sind nicht an euch zerschlissen, und dein Schuh an deinem Fuß ist nicht zerschlissen.“ (Dtn 29,4; vgl. 8,15; 32,10–12; Ex 15,13; außerdem Ex 13,21; Neh 9,12.19) „Und sie sagten nicht: Wo ist Jahwe, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat, der uns führte in der Wüste, im Land der Steppe und des Abgrunds, im Land der Trockenheit und der Finsternis, im Land, dass niemand durchzieht und wo kein Mensch wohnt?“ (Jer 2,6; vgl. Am 2,10; ferner Jer 2,17 MT) „Und er ließ aufbrechen wie Kleinvieh (Schafe und Ziegen) sein Volk und führte sie wie eine Herde in der Wüste.“ (Ps 78,52; vgl. Ps 136,16)

Die Erweiterung der Überschrift um die geographischen Angaben „von Ägypten zum Sinai/Gottesberg“ zeigt an: Die Erzählungen von Israels Führung in der Wüste bilden eine literarische Brücke vom Schauplatz der Auszugserzählung zum Ort der Epiphanie Jahwes, auf die die Erzählung von Moses Berufung durch verschiedene Elemente vorausweist: die Ortsangabe ~yhlah rh „Gottesberg“ (Ex 3,1bβ; 18,5 E) bzw. Horeb (V 1bβfin Rdtr), die Assonanz von hns „Dornbusch“ (3,2 J) an ynys „Sinai“ (19, 16aα1.20 J),3 va „Feuer“ als Begleitphänomen der Epiphanie Jahwes (3,2; 19,18 J; vgl. 13,21 J) und die Wirkung, die Jahwes/Gottes Erscheinen in Ex 3 wie Ex 19 hervorruft. Es ist mysterium fascinosum (3,3; 19,12.13a J) bzw. mysterium tremendum (3,6b; 19,16b; 20,18b E). So legen sich Ex 3 und 19 wie ein Rahmen um Exodus- und Wüstenerzählung: Israel als Volksganzem wird nach seinem durch Jahwes Schläge (J) und Zeichen (P) erzwungenem Auszug (12,31–33 J; 12,40f P) bzw. seiner Flucht (14,5a E) und seiner Errettung am (Schilf-)Meer an gleichem Ort zuteil, was zuvor Mose als einzelnem zuteil wurde. Ex 15,22 eröffnet nach dem Abschluss der Exoduserzählung durch Moselied (15,1–19) und Mirjam-Hymnus (15,20f.) das neue Thema und knüpft dabei im gegenwärtigen Zusammenhang mit der Wurzel [sn „aufbrechen“ an 12,37 J und 13,20 P an: Israel, das sich nach 13,18 E bereits 2

Gesenius18 s.v. Zur Identität von Gottesberg (E), Horeb (Rdtr) und Sinai (J) vgl. W.H. SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose, EdF 191, Darmstadt 31995, 122–124. 3

Israels Führung durch die Wüste

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auf dem Weg zur Wüste befindet, aber durch die ägyptischen Verfolger am (Schilf-)Meer aufgehalten wurde, verlässt nun endgültig den Herrschaftsbereich der fremden Großmacht. Wie die Väter (Gen 12,9; 13,11; 33,12.17; 35,21; 37,17; 46,1aα J; 35,16 E; 20,1a; 35,5 RJE) ist nun das Volk unterwegs. Dabei begegnet ein letztes Mal mit der Wurzel acy „ausziehen“ ein Kennwort der Exoduserzählung. Das im Rahmen der Wüstenerzählung, ja des Pentateuch singuläre hi. [S;Y:w „er ließ aufbrechen“ schreibt Moses Führungsrolle fort. Auffällig ist die Ortsangabe „vom Schilfmeer“ (15,22). Das ältere jahwistische Geschichtswerk wie die jüngere Priesterschrift nennen den Ort der Errettung in Kap. 14 nur allgemein „das Meer“.4 Außerdem knüpft die Ortsangabe „vom Schilfmeer“ im gegenwärtigen Zusammenhang an die Notiz 13,18 an, die wegen der Verwendung des Appellativum Elohim gewöhnlich dem Elohisten zugeschrieben wird5: Ließ Gott das Volk „auf den Wüstenweg zum Schilfmeer“ abschwenken, so bricht es nun auf Moses Geheiß von dort auf. Dabei entspricht Moses Führungsrolle dem Auftrag, der ihm nach elohistischer Darstellung bei seiner Berufung zufällt (3,10). 15,22a ist darum gelegentlich E zugeschrieben worden.6 Allerdings lässt sich 15,22aα kaum vom Folgenden trennen. Der Subjekt- und Numeruswechsel in V 22a „Mose ließ Israel aufbrechen; so zogen sie aus in die Wüste Šur“ ist zwar stilistisch schwerfällig und hat bereits Sam wie G Mühe bereitet. Sie lesen statt der 3. Ps. pl. qal die 3. Ps. m. sg. hi. und vermeiden so den Subjektwechsel. Außerdem suchen sie den Numeruswechsel zu umgehen. G ändert „Israel“ in „die Israeliten“; Sam bietet statt des suff. 3. Ps. m. pl. das suff. 3. Ps. m. sg.7 Die Aufnahme des Kollektivum „Israel“ durch die 3. Ps. pl. ist aber grammatisch möglich, der Zusammenhang daher syntaktisch nicht zu beanstanden. Außerdem würde ohne V 22aα eine Angabe über das Subjekt in V 22aβ fehlen. So wird man den Versteil vorsichtshalber bei der Erzählung belassen. Die Erzählung führt die Wende der Not auf Jahwe zurück (V 25) und fügt sich bruchlos in den jahwistischen Faden ein.8 Stammt sie darum trotz der Angabe „vom Schilfmeer“ vom Jahwisten? Auch der Jahwist kennt eine Örtlichkeit namens 4

Eine Zuweisung von 15,22aα an die Priesterschrift (so M. NOTH, Das zweite Buch Mose. Exodus, ATD 5, Göttingen 61978, z.St.) hat darum wenig Wahrscheinlichkeit für sich, zumal P sonst die 3. Ps. pl. qal („sie brachen auf“) statt der 3. m. sg. hi. („er [Mose] ließ aufbrechen“) verwendet (s.u.). Man müsste sich mit der Annahme helfen, dass P 15,22aα aus einem vorgegebenen Itinerar geschöpft hat. Damit stützt aber eine Hypothese die andere. Vgl. E. AURELIUS, Der Fürbitter Israels. Eine Studie zum Mosebild im Alten Testament, CB.OT 27, Lund 1988, 153 mit Anm. 110. Der priesterschriftliche Faden wird erst in 15,27 wieder greifbar. Vgl. die Anknüpfung an 15,27 in 16,1 und V. FRITZ, Israel in der Wüste. Traditionsgeschichtliche Untersuchung der Wüstenüberlieferung des Jahwisten, MThSt 7, Marburg 1970, 7; anders AURELIUS, a.a.O., 154. 5 Vgl. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 1), 71ff. 6 Vgl. C.A. SIMPSON, The Early Traditions of Israel. A critical Analysis of the Predeuteronomistic Narrative of the Hexateuch, Oxford 1948, 187; G. HÖLSCHER, Geschichtsschreibung in Israel. Untersuchungen zum Jahwisten und Elohisten, SKHVL 50, Lund 1952, 139.307; außerdem B. B AENTSCH, Exodus – Leviticus – Numeri, HK I/2, Göttingen 1903, 141. 7 „Mose ließ Israel (M und Sam; G: die Israeliten) aufbrechen und führte es (M und Sam; G: sie) in die Wüste Šur hinaus.“ 8 FRITZ, Israel (s. Anm. 4), 8.

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„Schilfmeer“. Nach Ex 10,19 verwandelt Jahwe den Ostwind in einen starken Westwind, der die Heuschrecken hinweg trägt und in das Schilfmeer stößt. Wahrscheinlich identifiziert der Jahwist mit 15,22aα jenes Schilfmeer, das 10,19 zufolge in der Nähe Ägyptens, mithin am „Rande der Wüste“ (13,20 J) zu suchen ist, mit dem „Meer“ als Ort der Errettung (15,21; vgl. 14,27b J). Da auch die elohistische Darstellung mit 13,17f. jene Gleichsetzung kennt, dürfte sie durch die Überlieferung vorgegeben sein.

Ziel ist zunächst der Gottesberg (18,5fin E), nach Num 10,10 das verheißene Land. Im gegenwärtigen Zusammenhang erreichen die Israeliten den Sinai allerdings erst mit 19,1.2a. Der Widerspruch hat seine Ursache in der Entstehungsgeschichte des Pentateuch: eine jüngere (priesterschriftliche) Komposition überlagert eine ältere (jehowistische).9

Anders als die Josefgeschichte, die ebenfalls eine wichtige Brückenfunktion erfüllt, indem sie erzählt, wie Jakob/Israel mit seinen Söhnen nach Ägypten kam, und auf diese Weise Väter- und Volksgeschichte, Patriarchen- und Mosezeit verbindet, ist die Erzählung von Israels Führung in der Wüste keine „Einheit mit einem einzigen Spannungsbogen“.10 Während die Teile der Josefgeschichte seit je ein Ganzes bilden – Spannungsbogen und Einzelszene sind gleichursprünglich, die Abschnitte der Erzählung sind von jenem Spannungsbogen her entworfen und auf ihn hin verfasst –, besteht die Erzählung von Israels Führung in der Wüste – der Vätererzählung vergleichbar11 – aus „mehr oder weniger selbständige(n) Einzelerzählungen …, die nur locker in einen Handlungszusammenhang eingebunden sind“.12 Bereits Hugo Greßmann erkannte: Die Erzählungen „waren ursprünglich Einzelsagen; denn erstens setzen alle neu ein; zweitens nimmt keine auf die andere Bezug und drittens spielen sie an verschiedenen Orten ... Diese Erzählungen liefen zunächst selbständig um; zu dem Quellwunder waren sogar mancherlei Varianten vorhanden ... Ein Späterer fügte diese Komposition in die große Wüstenwanderung ein, indem er die Israeliten einfach von dem einen Ort der einen Sage zu dem der anderen ziehen läßt.“13

Jene Einzelüberlieferungen dürften, so eine schon aus geographischen Gründen nach wie vor naheliegende Vermutung M. Noths, ihre überlieferungsgeschichtliche Heimat im Bereich der Südstämme haben, 9

Vgl. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 1), 108f. G. VON RAD, Die Josephsgeschichte (1954), in: ders., Gottes Wirken in Israel, Neukirchen-Vluyn 1974, 22–41, hier 23. Dies gilt allerdings für die vorliegende Gestalt der Josefgeschichte wie ihre jahwistische und elohistische Vorstufe nur mit gewissen Einschränkungen. Vgl. etwa Gen *38f J und Kap. *48, die den streng novellistischen Aufbau der Vorgabe ausgestalten. 11 Klassisch H. GUNKEL: „Die Genesis ist eine Sammlung von Sagen.“ Genesis, HK I/1, Göttingen 41917, LXXXV. 12 SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose (s. Anm. 3), 91. 13 H. GREßMANN, Mose und seine Zeit, FRLANT 18, Göttingen 1913, 143. 10

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„die in einer unmittelbaren Berührung mit der Wüste zwischen Ägypten und Palästina standen, die die sie durchziehenden Karawanenwege mit ihren wenigen Wasserstellen kannten und daher aus eigener Kenntnis wußten, welchen Nöten und Bedrängnissen man in diesem Gebiete ausgesetzt war.“14

Die Erzählungen verbindende Elemente sind a) die personae dramatis: Mose15, Israel16, Jahwe17 bzw. Gott18, Aaron19, b) der Schauplatz: die Wüste und c) die Angaben über die Stationen der Wanderungen: Nach 12,37 J („Die Israeliten brachen von Ramses nach Sukkot auf …“), 13,18 E („Gott ließ das Volk auf den Wüstenweg zum Schilfmeer abschwenken …“) und 13,20 P („Sie brachen von Sukkot auf und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste“) 15,22 J 15,27 P 16,1 P

17,1 P JE/P

17,8 R 18,5* E

19,1.2a P

19,2b J

14

„Mose ließ Israel vom Schilfmeer aufbrechen. So zogen die Israeliten in die Wüste Šur hinaus.“ „Und sie kamen nach Elim.“ „Dann brachen sie von Elim auf. So kam die ganze Gemeinde der Israeliten in die Wüste Sin, die zwischen Elim und dem Sinai liegt, am fünfzehnten Tag des zweiten Monats nach ihrem Auszug aus dem Lande Ägypten.“ „Die ganze Gemeinde der Israeliten brach aus der Wüste Sin auf ...; und sie lagerten in Rephidim.“ „(Da kam Amalek und führte Krieg mit Israel) in Rephidim.“ „Und [] Moses Schwiegervater kam samt seinen Söhnen und seiner Frau zu Mose in die Wüste, wo er lagerte, an den Gottesberg.“ „Am dritten Neumondtag nach dem Auszug der Israeliten aus dem Lande Ägypten, an eben jenem Tage, kamen sie in die Wüste Sinai. (2a) Sie brachen von Rephidim auf und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich in der Wüste. „Israel lagerte sich dort gegenüber dem Berg.“

M. NOTH, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Darmstadt 21960, 63. Ex 15,22.24; 16,2.4.6.8f.11.15.19.20(bis).22.24f.28.32–34; 17,2(bis).6.9.10(bis).11. 14f; 18,1f. (jeweils bis).5(bis).6–8.12.13(bis).14f.24–27. 16 larfy „Israel“ Ex 15,22 J; 17,8*.11 J; 18,1(bis) E/RJE.9 RJE.25 red.; ~[h „das Volk“ 15,24 J; 16,4.27.30 J; 17,1bβ.2 J.3(bis) red.4.5*.6* J; 18,1a E.10 RJE.13(bis).14(tris) E.15 (red.).18 E.19 (red.).21–23 E.25f (red.); larfy ynb „die Israeliten“: 16,1.3.6.12.15.17.35a P; 17,7* J; larfy ynb td[ „die Gemeinde der Israeliten“: 16,2.9f P; 17,1abα P; larfy tyb „das Haus Israel“: 16,31 J. Die Verteilung ist charakteristisch. „Israel“ und „das Volk“ begegnen ausschließlich in der jahwistischen und elohistischen Darstellung sowie redaktionellen Versen, die Bezeichnung „die Israeliten“ und „die Gemeinde der Israeliten“ mit Ausnahme von 17,7* J ausschließlich in der priesterschriftlichen Darstellung, „Haus Israel“ nur beim Jahwisten. 17 Ex 15,25(bis).26; 16,3f.6.7f.(jeweils bis).9–12.15f.23(bis).25.28f.32–34; 17,1f.4f.7 (bis).14–16; 18,1.8(bis).9–11. 18 Ex 18,1.4.12(bis).15.19(tris).21.23. 19 Ex 16,2.6.9.10.33.24 P; 17,10.12 J; 18,12 (RJE oder RJE/P). 15

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Dabei dominiert im gegenwärtigen Zusammenhang das priesterschriftliche Wüstenitinerar, das mit Num 10,11f.; 20,1aα.22b; 22,1b; 27,12 seine Fortsetzung und Dtn 34,1aα seinen Abschluss findet. Die Priesterschrift formuliert zwar stets ähnlich, aber keineswegs stereotyp: [sn „aufbrechen“ + hnx „sich lagern“: Ex 13,20; 17,1abα awb „ankommen“ + hnx „sich lagern“: Ex 15,27 [sn „aufbrechen“ + awb „ankommen“: Ex 16,1 awb „ankommen“ allein: Ex 19,1; Num 20,1aα (red.); 20,22b [sn „aufbrechen“ allein: Num 10,12 hnx „sich lagern“ allein: Num 22,1b [sn „aufbrechen“ + awb „ankommen“ + hnx „sich lagern“: Ex 19,2

Die Abweichungen von Ex 13,20; 17,1abα lassen sich durch den Kontext erklären: a) Da die Notiz Ex 15,27 an 14,29 anschließt, kann von einem Aufbrechen der Israeliten „von ...“ nicht die Rede sein. Die Israeliten befinden sich bereits auf dem Marsch. b) Mit 19,1 zieht P die Ankunft am Sinai bewusst vor, um einen Einschnitt zu markieren. Ex 19,2a bietet mit dem Nacheinander der Verben [sn „aufbrechen“, awb „ankommen“ und hnx „sich lagern“ darum kaum zufällig die vollste Formulierung. c) Num 20,1aα dürfte redaktioneller Ersatz für eine vielleicht Ex 13,20; 17,1abα entsprechende P-Notiz sein, die bei der Zusammenarbeitung der Quellen weggefallen ist.20 d) In Num 10,11f. vertritt das Sich-Erheben und SichNiederlassen der Wolke die Aufbruchsnotiz. e) In Num 20,22b fehlt möglicherweise die Aussage „sie brachen auf von ...“, weil Num *20,2ff. P im gegenwärtigen Zusammenhang durch die Angabe „sie kam in die Wüste Sin“ (20,1aα) nur noch grob lokalisiert ist und man sich den Berg Hor als in eben dieser Wüste liegend dachte. f) Auch in Num 22,1b könnte ein Textausfall vorliegen, der durch die Quellenmischung bedingt ist.21 Die Stationen lassen sich allerdings kaum mehr genau oder gar nicht lokalisieren. Die Wüste Šur liegt, folgt man Gen 25,18a – einem Nachtrag – „vor (d.h. östlich von) Ägypten“. Šur ist in Gen 25,18 allerdings kein Gebiets-, sondern ein Ortsname (vgl. 1 Sam 15,7; 1 Sam 27,8).22 Die übrigen geographischen Angaben – Elim, die Wüste Sin, Rephidim – sind nicht bestimmbar. Bei „Sin“ liegt zudem der Verdacht nahe, „daß der Name der Wüstengegend ‚Sin‘ mit dem Namen ‚Sinai‘ zusammenhängt und daß bei

20

Vgl. M. NOTH, Das vierte Buch Mose. Numeri, ATD 7, Göttingen 41982, 127. Obwohl redaktionell, ist Ex 20,1aα wegen der Ortsangabe „in der Wüste“ 27,14 sachgemäß. 21 Vgl. aber auch H. SEEBASS, Numeri, BK IV/2, Neukirchen-Vluyn 2003, 362 und L. SCHMIDT, Das 4. Buch Mose. Numeri, ATD 7,2, Göttingen 2004, 122, die 22,1 insgesamt zu P stellen. 22 Als Bezeichnung einer Wüstenregion begegnet Šur innerhalb des Pentateuch nur Gen 16,7; 20,1a. Dabei gehört 16,7 zur jahwistischen Darstellung; 20,1a stammt wahrscheinlich von RJE. Vgl. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 1), 191.

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P nur künstlich zwischen einer ‚Sin-Wüste‘ und einer ‚Sinai-Wüste‘ (19, 1.2) unterschieden wird.“23 Weitere verbindende Elemente sind a) das Motiv des Murrens (Ex 15,24; 16,2f.7.8.9.12; 17,3; vgl. 17,2.7) und b) Ähnlichkeiten im Aufbau der Erzählungen:24 Itinerarnotiz (in charakteristisch unterschiedlicher Formulierung) 15,22b.23 J || 17,1bβ J Schilderung der Not: Wassermangel 15,24 J || 17,2a J Murren des Volkes gegen/Rechtsstreit des Volkes mit Mose 15,22b.24 J || 17,3 Rdtr Neuerliche Exposition und Murren des Volkes gegen Mose – in weitgehend paralleler Formulierung: rmoaLe hv,mo-l[; ~['h' WnL{ôIw: rm,aYOw: hv,mo-l[; ~['h' !l,Y"w: „Da murrte das Volk gegen Mose mit folgenden Worten/und sagte…“ 15,25aα1 J || 17,4 J Moses Hilfeschrei an Jahwe – wiederum in weitgehend paralleler Formulierung: hwhy-la, q[;c.YIw: hwhy-la, hv,mo q[;c.YIw: „Da schrie er/Mose zu Jahwe um Hilfe“ 15,25aα2 J || 17,5.6a* J Antwort Jahwes: Anweisung zur Behebung der Not 15,25aβγ J || 17,6b JAusführung der Anweisung durch Mose und Behebung der Not 15,23 J || 17,7* J Ätiologie des Ortsnamens, in 15,23 als Voraussetzung und in 17,7 als Folge der Handlung. 15,22a J || 17,1abα P

Außerdem lässt sich 15,22–26 im gegenwärtigen Zusammenhang wie eine Vorschau auf 16,1 – 18,27, ja die Sinaiperikope lesen: „Der kleine Abschnitt Ex 15,22ff. enthält gleichsam ein Vorspiel auf die kommenden Geschehnisse. V. 23ff. schneiden vor Ex 17 das Thema Wassermangel an, die Begriffe ‚Satzung und Recht‘ (V. 25b–26) deuten auf Ex 18 bzw. 20ff. sowie das Stichwort ‚versuchen‘ auf 17,2.7 hin, und in V. 24 setzt das für die Wüstenerzählungen typische Motiv des ‚Murrens‘ ein.“25

23

NOTH, Zweites Buch Mose (s. Anm. 4), 106. R.C. CULLEY, Studies in the Structure of Hebrew Narrative, 1976, 78–81, hier 84; A. SCHART, Mose und Israel im Konflikt. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zu den Wüstenerzählungen, OBO 98, Fribourg/Göttingen 1990, 184ff. 25 SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose (s. Anm. 3), 95. Vgl. auch E. RUPRECHT, Stellung und Bedeutung der Erzählung vom Mannawunder (Ex 16) im Aufbau der Priesterschrift, ZAW 86 (1974), 269–306, hier 301: „Einmal wird Ex 16 vorbereitet, indem ‚Satzung und Recht‘ gegeben wird, und so das Sabbatgebot für Ex 16 bereits vorausgesetzt werden kann. Zum anderen werden Ex 16 und 17,1–7 unter das gemeinsame Thema ‚Versuchung‘ gestellt, und zwar in doppelter Entfaltung: Ex 16 ‚versucht‘ Jahwe die Israeliten, 17,1–7 versuchen die Israeliten Jahwe. Dabei gerät 15,22–25a mit in den Lichtkegel dieser Themensetzung, indem das Murren der Israeliten von 17,1–7 her den Beigeschmack des Gottversuchens erhält.“ Zustimmend aufgenommen von L. PERLITT, Wovon der Mensch lebt (Dtn 8,3b), in: J. Jeremias/L. Perlitt (Hg.), Die Botschaft und die 24

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Tatsächlich reichen die Bezüge im gegenwärtigen Zusammenhang bis Ex 18,8* E/RJE: „Und Mose erzählt seinem Schwiegervater von all der Mühsal, die sie auf dem Marsch getroffen hatte, und (wie) Jahwe sie gerettet hatte.“

und mit der Selbstprädikation Jahwes als Arzt über 18,8 hinaus bis 23,25: „ich will Krankheit (hl'x]m; wie 15,26) aus deiner Mitte entfernen“.

26

Die Erzählungen schildern elementare Nöte des Daseins, zumal in der Wüste: Durst (15,22–25a; 17,1–7), Hunger (16,1ff.) und Bedrohung durch räuberische Beduinen (17,8ff.). Dabei bezeugen die Wüstenerzählungen als grundlegende Erfahrung die Führung und Bewahrung durch Jahwe. Das verbindet sie mit den Vätererzählungen der Genesis, allerdings mit dem Unterschied, dass an die Stelle der Familie das Volk getreten ist. Die Wüstenerzählungen erzählen Geschichte in Form von Geschichten, bieten aber keine Historiographie. Die Erfahrungen, die die Erzählungen wiedergeben, sind für die Wüste typisch, insofern zeitlos. Sie verweisen nicht auf bestimmte geschichtliche Situationen. Moses Sieg über Amalek ist zweifellos eine Retrojektion.27 Bereits die ältere Forschung erkannte: „Auf die Frage des Historikers geben sie fast keine Antwort; die Profangeschichte Israels steht nirgends auf so schwankendem Boden wie hier. Wo Einzelheiten gemeldet werden, da sind sie ohne inneren Zusammenhang und ohne Chronologie, so daß man sie bald so, bald anders einreihen kann.“28

Die Erzählungen weisen gelegentlich eine Ortsbindung auf: Mara (15,23), Massa und Meriba (17,7; vgl. „den Gipfel des Hügels“ V 9f und den Altar „Jahwe [ist] mein Feldzeichen“ V 15); Tabera (Num 11,1–3); KibrotHattaawa (Num 11,4ff.). Diese Ortslagen sind jedoch sämtlich nicht lokalisierbar. Ex 16 weist zwar keine feste Ortsbindung auf, knüpft aber mit Wachteln und Manna an Gegebenheiten der Wüste an. „Die Erzählungen sind also ihrem Charakter nach teils ätiologische Sagen, … teils etymologische Sagen, die Ortsnamen durch eine Geschichte auslegen, teils volkstümliche

Boten (FS H.W. Wolff), Neukirchen-Vluyn 1981, 403–426, hier 409, P. MAIBERGER, Das Manna. Eine literarische, etymologische und naturkundliche Untersuchung, ÄAT 6/1–2, Wiesbaden 1983, 221, und SCHART, Mose (s. Anm. 24), 176. Ihm zufolge ist 15,22–26 sogar „als Überschrift über Ex 16–18 zu verstehen“. 26 Die oben gebotene Übersetzung für Ex 18,8 ist harmonisierend. Der Anschluss von V 8bβ an V 8abα mit dem Narrativ ~lcyw zeigt, dass es sich um einen (jehowistischen) Zusatz handelt. Vgl. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 1), 98.102. 27 S. T IMM, Amalekiter: RGG4 1 (1998), 386: „Die Überlieferungen des AT zu Auseinandersetzungen mit den A[malekitern]. sind für David am vertrauenswürdigsten“. 28 GREßMANN, Mose (s. Anm. 13), 421.

Israels Führung durch die Wüste

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Wiedergabe von geschichtlichen Erinnerungen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten umgestaltet werden.“29

Ex 16 erzählt zwar mit V 32–34, dass Aaron auf Jahwes bzw. Moses Geheiß hin einen Omer Man als sichtbare Erinnerung an das Speisungswunder für die künftigen Generationen „vor Jahwe“/„dem Zeugnis“ aufstellte und 17,15f. vom Bau eines Altars, eine kultische Bindung der Erzählungen ist aber nicht erkennbar. 1.2 Mose Wie in der Exoduserzählung ist Mose auch in den Wüstenerzählungen die alles beherrschende Gestalt. Dabei begegnet Mose in verschiedenen Rollen: als Führer des Volkes (15,22a; 17,9; 18,1ff., bes. V 23), als vollmächtiger Fürbitter in der Not (15,25; 17,4), als von Gott beauftragter, ermächtigter Helfer in der Not (15,25; 17,5f; 17,11f.), als Richter und als Mittler des göttlichen Rechtswillens (18,13ff.). Allerdings kann man fragen und hat man gefragt, ob Mose seit je in den Einzelüberlieferungen verwurzelt ist.30 Tatsächlich lässt sich das Gegenteil kaum erweisen. Als Brückenthema dürfte das Thema „Führung in der Wüste“ „in den größeren Zusammenhang der Weiterbildung der Pentateuchüberlieferung … hineingehör(en)“.31 Das Thema „Führung in der Wüste“ „dürfte schlicht dem erzählerischen Motiv entsprungen sein, etwas Konkretes über die weiteren Schicksale der israelitischen Stämme nach der ‚Herausführung aus Ägypten’ auszusagen“.32

Allenfalls wird man sagen können: Da Mose in der Exoduserzählung fest verwurzelt ist33 und auch die Mosegrabtradition Anspruch hat, überlieferungsgeschichtliches Urgestein zu sein,34 muss Mose auch beim Zug der Ägyptengruppe von der Grenze Ägyptens bis an den Rand des Kulturlands eine (Führungs-)Rolle gespielt haben.35

29

H. GUTHE, Wüstenwanderung der Israeliten, RE XXI (81908), 537–548, hier 544. NOTH, Pentateuch (s. Anm. 14), 172ff, bes. 178–184. 31 NOTH, a.a.O., 62. 32 NOTH, a.a.O., 62f. 33 SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose (s. Anm. 3), 15–19.32–37.124–129. 34 NOTH, Pentateuch (s. Anm. 14), 186ff. 35 Vgl. in der Perspektive historischer Plausibilität S. HERMANN, Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, München 21980, 110: Mose „erscheint mit seiner Gruppe in einem überzeugenden historischen Kontinuum, das auch als überlieferungsgeschichtliches Kontinuum seine überragende Position verständlich macht.“ 30

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1.3 Das Murrmotiv Umstritten ist auch die ursprüngliche Verwurzelung des Murrmotivs: Ist es in der Überlieferung seit je zuhause oder ein theologisches Interpretament der Tradition, das erst später – noch während ihrer mündlichen Weitergabe oder erst bei ihrer Verschriftung – hinzukam? Folgt man G. von Rad, entstand das Bild der Wüstenwanderung als einer Zeit der Auflehnung Israels gegen Jahwe erst in der späten Königszeit und dem Exil, und zwar unter prophetischem Einfluss.36 Auch für G.W. Coats gilt: das Motiv wurde „secondarily imposed on Israel’s affirmation about Yahweh’s aid in the wilderness“.37 Dagegen urteilte C. Barth im Gespräch mit G. von Rad: „So scheint es an Zeugnissen für eine radikal ‚negative‘ Betrachtungsweise der Wüstentradition aus vorexilischer und vorprophetischer Zeit doch nicht ganz zu fehlen. Dieser negative Aspekt ist je und je in anderer Weise gesehen worden, aber eine Wüstentradition ohne negativen Aspekt hat es m.E. in Israel gar nie gegeben.“38 Das Murrmotiv „ist so typisch für die in Gefahr geratene wandernde Gruppe, daß es sicherlich mit zu dem ältesten Bestand der Erzählungen von der Wüstenwanderung gehört“.39

Bereits M. Noth urteilte: Das Motiv ist zwar „zu fest in der Substanz einzelner dieser Erzählungen verankert, als daß man es für ein etwa erst in den literarischen Gestaltungen eingeführtes theologisches Element halten könnte“; es stellt aber „in den meisten Fällen ein erst nachträglich in die Einzelerzählungen eingegangenes Element dar“.40

Überlieferungsgeschichtliche Heimat ist M. Noth zufolge Num 11,4ff. Dafür spricht, dass es dort „in anderer Ausdruckweise“ begegnet, „die der herrschenden festen Sprache vorauszugehen scheint“.41 Dasselbe gilt aber

36

G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments I, München 41962, 293–301. Allerdings gesteht er zu: „es gab einzelne Überlieferungen von einem Versagen Israels, von einem ‚Murren‘ in der Wüste, die sehr alt sind“ (297). 37 G.W. COATS, Rebellion in the Wilderness. The Murmuring Motif in the Wilderness Traditions of the Old Testament, Nashville 1968, 250. Vgl. auch S.J. DE VRIES, The Origin of the Murmuring Tradition, JBL 87 (1968), 51–58, und FRITZ, Israel (s. Anm. 4), 117–119: „Der Jahwist hat“ – angeregt durch die Meriba-Episode Ex 17,1bβ.2.4–7 – „das Motiv des murrenden Volkes in die Wüstenüberlieferung eingefügt“ (117f.). K.D. SCHUNCK zufolge ist das Murrmotiv „an die Quellenschicht P gebunden“ (!Wl lûn: ThWAT IV [1984], 527–530, hier 529). Dagegen sprechen allerdings bereits Ex 15,24; 17,3 J. Beide Stellen zeigen: „the murmuring motif is not simply the creation of P but was in fact already a part of the tradition which P received“ (COATS, a.a.O., 21). 38 C. B ARTH, Zur Bedeutung der Wüstentradition, VT.S 15 (1966), 14–23, hier 23. 39 RUPRECHT, Stellung (s. Anm. 25), 283; vgl. C. W ESTERMANN, Theologie des Alten Testaments in Grundzügen, GAT 6, Göttingen 21985, 31. 40 NOTH, Pentateuch (s. Anm. 14), 135f. Das Motiv wurzelt „in der Anschauung von der elenden Art des Lebens in der Wüste mit seinen ständigen Nöten, vor allem hinsichtlich des Essens und zumal des Trinkens“ (DERS., Zweites Buch Mose [s. Anm. 4], 102). 41 SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose (s. Anm. 3), 94.

Israels Führung durch die Wüste

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auch für Ex 17,2: „Da geriet das Volk mit Mose in Streit …“ Löst man das Motiv aus der Erzählung heraus, zerstört man sie. Schaut man sich die Erzählungen an, in denen das Murrmotiv fest verwurzelt ist, drängt sich der Eindruck auf: es ist aus den Ortsnamen – Meriba (Ex 17,7a), Tabera (Num 11,4), Kibrot-Hattawa (11,34) – herausgewachsen.

Ein Beispiel dafür, dass das Motiv sekundär in die Überlieferung implementiert wurde, um sie theologisch zu akzentuieren, bildet Ex 15,24. Die in der geschilderten Situation naheliegende Frage des Volkes „Was sollen wir trinken?“ und ihre Deutung als „Murren“ durch die Redeeinleitung stehen in Spannung zueinander. „The question as it stands simply does not appear in the form of an accusation. Quite the contrary, its principal function seems to be a request for information: ‘What shall we drink?’ What is the nature of the rebellion contained in this question?“42 Die Frage „connotes no hostile overtones“.43

Die Spannung tritt noch deutlicher hervor, vergleicht man 15,24 mit anderen an Mose und/oder Aaron gerichteten Fragen des Volkes, die eindeutig als Vorwurf gemeint sind. Sie werden durch hz hm „wozu“ (17,3), taz-hm (14,11), hml (Num 14,3; 20,5f; 21,5) oder [wdm (Num 16,3) „warum“ eröffnet und lehnen sich damit an die Form der vorgerichtlichen Beschuldigung an. Die Spannung zeigt sich auch in der Fortsetzung. Moses Hilfeschrei nimmt zwar die Frage des Volkes auf, lässt aber nicht erkennen, dass das Volk soeben seine Führungsrolle in Frage gestellt hat. Anders als in anderen Murrgeschichten folgt auf die Frage des Volkes keine Rechtfertigung des Angegriffenen.44 „… the formal structure associated with the verbs of murmuring comprises at least two principal elements: (1) a question addressed directly to the object of the murmuring, which challenges some past deed, and (2) a response from the adressee which provides an explanation for that event. Both of these elements have their setting in the preofficial stage of the Gerichtsrede.“45 „… the formal structure is not a creation for the wilderness traditions“.46

So lässt sich als Fazit festhalten: Das Murrmotiv ist beides – Vorgabe der Überlieferung und sekundäres theologisches Interpretament. Umstritten ist auch die Intention des Murrmotivs. So vermutet G.W. Coats: Das Murrmotiv ist Spiegel der bald nach der Reichsteilung einsetzenden Polemik des Südreichs gegen das Nordreich mit seiner Berufung 42

Ebd. COATS, 44 COATS, 45 COATS, 46 COATS, 43

Rebellion (s. Anm. 37), 51. a.a.O., 52. a.a.O., 40. a.a.O., 43.

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auf die Exodustradition.47 Dieser Erklärung steht schlicht die gesamtisraelitische Orientierung aller Themen der Pentateuchüberlieferung entgegen. S.J. de Vries meint dagegen: Das Murrmotiv dient dem Ausgleich zwischen den konkurrierenden Landeroberungstradition von Süden und Osten (vgl. Num 13f.)48, erfasst damit aber nur einen Teilaspekt der Funktionalisierung des Motivs. V. Fritz kombiniert beide Ansätze und modifiziert sie: „Mit seiner Darstellung des Verhaltens des Volkes bei der Wüstenwanderung verfolgt der Jahwist einmal die Absicht, das Scheitern der Landnahme von Süden aus zu erklären, den weiteren Wüstenaufenthalt und den Umweg in das Ostjordanland zu begründen“49.

Zum andern fungiert das Murrmotiv als Mahnung an die davidischsalomonische Zeit, „den Verlust der neugewonnenen staatlichen Einheit und Selbständigkeit zu verhindern“.50 Bleibt das Murrmotiv bei solchen Versuchen, es auf bestimmte historische Konstellationen zu beziehen, nicht unterbestimmt? Die Texte reden, wie wir noch sehen werden, theologisch grundsätzlich. Theologisch bedeutsam ist auch, dass die Murrgeschichten in zwei Gruppen zerfallen.51 Die Murrgeschichten vor und nach der Sinaiperikope weisen einen erheblichen Unterschied auf. Während Gott vor der Ankunft am Sinai auf das Murren des Volkes reagiert, indem er helfend eingreift, antwortet er nach dem Aufbruch vom Sinai auf die Auflehnung des Volkes mit Zorn und Strafe (Num 11,1–3.4–35; 13f.; 21,4–9; vgl. im Blick auf einzelne – Mirjam und Aaron, Korach, Datan und Abiram sowie Mose und Aaron – 20,1– 13; 12,1–16; 16,1ff.). Nach der Erfahrung seiner Epiphanie vor dem Volksganzen, mit der Jahwe die mit der Herausführung aus Ägypten, der anschließenden Errettung vor den Verfolgern und der Führung durch die Wüste begründete Gemeinschaft gleichsam besiegelt, ist Israels Auflehnung als Ausdruck des mangelnden Vertrauens in Gottes Heilswillen nicht mehr entschuldbar.

2. Mara und Elim Ex 15,22–27 Der Abschnitt zerfällt in drei Teile: 22–25a Mara 22a Aufbruch vom Schilfmeer und Auszug in die Wüste Schur 22b Schilderung der Not: Wassermangel auf dem dreitägigen Marsch 47

COATS, a.a.O., 219ff.251. DE VRIES, Origin (s. Anm. 37), 57f. 49 FRITZ, Israel (s. Anm. 4), 120f. 50 FRITZ, a.a.O., 122. 51 B.S. CHILDS, The Book of Exodus, OTL, Louisville 1974, 258f; vgl. P. B UIS, Les conflits entre Moïse et Israël dans Exode et Nombre, VT 28 (1978), 257–270. 48

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23a Ankunft in Mara und Verschärfung der Not: Ungenießbarkeit des Wassers 24 Murren des Volkes 25a Moses Hilfeschrei und Wende der Not: Verwandlung des „bitteren“ Wassers in „süßes“ 25b.26 Gabe von „Satzung und Recht“ und Prüfung des Volkes: 26 Bedingte Verheißung der Verschonung von den „Krankheiten Ägyptens“ 27 Ankunft und Lager in Elim

Dabei stehen sich V 22–25a und V 27 mit der Schilderung von Mangel und Überfluss kontrastierend gegenüber und wirken damit wie ein Rahmen um 25b.26. Nach herkömmlicher Auffassung spiegelt die Dreiteiligkeit des Aufbaus das Wachstum des Abschnitts wider. Die Mara-Episode ist mit der Wende der Not V 25a abgeschlossen. V 25b setzt mit eigenem Thema neu ein und schafft die Voraussetzung für die bedingte Heilsverheißung V 26, lässt aber offen, wer Subjekt und wer Objekt ist: Mose oder Jahwe bzw. Mose oder Israel. Erst durch die bedingte Segensverheißung V 26 wird deutlich: Subjekt ist Jahwe, Objekt das Volk. Die Notiz ist darum kaum die ursprüngliche Fortsetzung von V 22–25a, sondern ein Einschub.52 V 27 lässt sich zwar über V 25b.26 hinweg an V 25a anschließen, vermittelt aber ein anderes Bild von Israels Wüstenwanderung. Es fehlt das Motiv der Not. V 22–25a sind in der älteren Forschung gelegentlich der elohistischen Darstellung zugeordnet worden,53 jedoch kaum zu Recht. Die Erzählung führt die Wende der Not auf Jahwe zurück (V 25) und fügt sich bruchlos in den jahwistischen Faden ein: 15,22 schließt nahtlos an 15,20f. an. Außerdem entspricht der Aufbau der Erzählung weitgehend 17,1bβ.2.4–7 (s.o.). 15,22–25a dürfte darum aus der jahwistischen Darstellung stammen.54

52 So bereits B AENTSCH, Exodus (s. Anm. 6), 143; G. BEER, Exodus, HAT I/3, Tübingen 1939, 86; HÖLSCHER, Geschichtsschreibung (s. Anm. 6), 307; NOTH, Zweites Buch Mose (s. Anm. 4), 101; SIMPSON, Traditions (s. Anm. 6), 188. Nur V 26 halten für sekundär: R. SMEND, Die Erzählung des Hexateuchs. Auf ihre Quellen untersucht, Berlin 1912, 146; O. EIßFELDT, Hexateuch-Synopse, Leipzig 1922, 139*; H. HOLZINGER, Exodus, KHC II, Tübingen u.a. 1900, 53; E. AUERBACH, Moses, Amsterdam 1953, 78 Anm. 1. V 25b.26 lassen sich aber wie oben dargelegt kaum voneinander trennen. 53 B AENTSCH, Exodus (s. Anm. 6), 141; HÖLSCHER, Geschichtsschreibung (s. Anm. 6), 139.307. 54 W. RUDOLPH, Der „Elohist“ von Exodus bis Josua, BZAW 68, Berlin 1938, 33; M. NOTH, Pentateuch (s. Anm. 14), 32; DERS., Zweites Buch Mose (s. Anm. 4), 101; FRITZ, Israel (s. Anm. 4), 8. Gegen die Zuweisung der Erzählung an einen zweiten jahwistischen Faden (J1/L/N), wie sie von SMEND, Hexateuch (s. Anm. 52), 145; EIßFELDT, HexateuchSynopse (s. Anm. 52), 44; SIMPSON, Traditions (s. Anm. 52), 187 vorgeschlagen wurde, vgl. bereits RUDOLPH, „Elohist“, 33: Das Hauptargument, das Nebeneinander von Ex 15,22–25a und *17,1–7, ist nicht stichhaltig. 17,1–7 ist keine Dublette zu 15,22–25a.

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Der Einschub V 25b.26 dürfte dtr sein.55 Die Wendung „er setzte ihm Satzung und Recht“ hat in Jos 24,25 eine Wortparallele. Zum Doppelausdruck jpvmw qx ist außerdem 1 Kön 9,4 zu vergleichen („meine [sc. Jahwes] Satzungen und Gesetze“), außerdem 1 Sam 30,25b: „Und er (David) machte es zu Ordnung und Recht für Israel bis auf diesen Tag.“ Auch die Wendungen lwql [mv (Ri 2,20; 1 Sam 2,25; 15,1) und hwhy yny[b rvyh hf[ (Dtn 6,18; 12,25.28; 13,19; 21,9; Jos 9,25) sind typisch für dtr Kreise, außerdem die Interpretation der Verpflichtung Israels auf Gottes Willenskundgabe als Erprobung Israels (Dtn 8,2.16), die innerhalb der Wüstenerzählung in dem ebenfalls dtr Zusatz Ex 16,4bβ wiederkehrt.56 Der Zusatz enthält allerdings auch Elemente, die nicht typisch dtr sind: das hi. !yzah als Terminus für den Gesetzesgehorsam und die im Alten Testament singuläre Selbstprädikation Jahwes als Arzt.

V 27 ist Teil des priesterschriftlichen Wüstenitinerars (s.o.). 2.1. Ex 15,22–25a In ihrer vorliegenden Form sucht die Erzählung zu erklären, warum es an einer Wasserstelle in der Wüste genießbares Wasser gibt, obwohl sie Mara heißt.57 H. Greßmann58 und W. Rudolph59 zufolge handelt es sich um eine ursprünglich selbständige Einzelüberlieferung. Ihr Einsatz V 22, der mit dem hi. von [sn („aufbrechen lassen“) das neue Thema eröffnet, knüpft jedoch mit der Angabe „vom Schilfmeer“ und der Wurzel acy „ausziehen“ an die Exoduserzählung an und sucht einen Übergang von der Errettung am Meer zur Schilderung der Wüstenwanderung zu schaffen. V 22 stammt darum kaum aus alter Überlieferung. Außerdem entspricht der Aufbau der Erzählung dem Aufbau von 17,1f.4–7 J. So konnte V. Fritz urteilen: „Ausdrucksweise und Ablauf des Stückes weisen vielmehr auf die Bildung von Ex 15,22–25a durch den Jahwisten.“60 Differenzierter urteilen G.W. Coats und B.O. Long. G.W. Coats zufolge hätte man zu unterscheiden a) zwischen V 22b als Fragment einer Erzählung über Wassermangel in der Wüste, b) der Ätiologie von Mara V 23 und c) V 24.25a als „a legendary expansion of the aetiological saga“.61 B.O. Long zufolge liegt die älteste 55 NOTH, Zweites Buch Mose (s. Anm. 4), 101; COATS, Rebellion (s. Anm. 37), 49; FRITZ, Israel (s. Anm. 4), 7; SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose (s. Anm. 3), 96; anders W. J OHNSTONE, From the Sea to the Mountain. Exodus 15,22 – 19,2: A Case-Study in Editorial Techniques, in: M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Exodus. Redaction – Reception – Interpretation. BEThL 126, Leuven 1996, 245–263. Vgl. dazu GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 1), 91 Anm. 299. 56 Zur dtr Herkunft von Ex 16,4bβ vgl. K. GRÜNWALDT, Exil und Identität. Beschneidung, Passa und Sabbat in der Priesterschrift: BBB 85, Frankfurt/M. 1992, 142f. 57 NOTH, Zweites Buch Mose (s. Anm. 4), 102; SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose (s. Anm. 3), 95. 58 GREßMANN, Mose (s. Anm. 13), 121. 59 RUDOLPH, „Elohist“ (s. Anm. 54), 32. 60 FRITZ, Israel (s. Anm. 4), 41. 61 COATS, Rebellion (s. Anm. 37), 50.

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Form der Erzählung in V 22b.23.25a vor; V 22a, der die Episode in den Zusammenhang einbindet, und das Murrmotiv V 24 sind jahwistische Interpretamente.62 Tatsächlich steht die Ätiologie des Namens der Quelle Mara V 23 – darin ist G.W. Coats zuzustimmen – „alone, complete in itself“63 und dürfte darum den Kern der Überlieferung bilden: In der Ägypten unmittelbar vorgelagerten Wüste Šur gibt es eine Quelle, die man Mara nennt, weil ihr Wasser „bitter“, d.h. ungenießbar ist. Dass es einen Ort in der Wüste gibt, an dem zwar Wasser zu finden, dieses Wasser aber nicht trinkbar ist, ist in sich überlieferungswürdig, weil es der Orientierung in der Wüste dient. Diese Ätiologie wurde zu einer Wunder- und Errettungserzählung ausgebaut, die – darin ist B.O. Long zuzustimmen – in V 22b.23.25a greifbar ist. Obwohl das Wasser der Quelle „bitter“ ist, konnten die Wandernden daraus trinken, weil Jahwe ihnen einen Weg wies, das ungenießbare Wasser „süß“, d.h. genießbar zu machen.64 Teilt man M. Noths Zweifel an der Ursprünglichkeit der Mosegestalt in den Wüstenerzählungen,65 liegt die Vermutung nahe, dass die Rolle des vollmächtigen Fürbitters und von Jahwe ermächtigten Retters erst auf einer dritten Überlieferungsstufe mit Mose besetzt wurde. Diese Erzählung wurde dann vom Jahwisten aufgenommen, durch V 22a in den Zusammenhang seiner Darstellung eingebunden und durch das Murrmotiv (l[ !wl V 24) theologisch akzentuiert (s.o.). In der älteren Forschung wurde die Überlieferung gelegentlich noch stärker dekomponiert: Am Anfang stand eine rein profane Überlieferung, die die Erinnerung an einen Kniff bewahrte, wie man bitteres, ungenießbares Wasser süß, trinkbar machen kann. „Wenn es zutrifft, daß ein in der Wüste vorkommender Sauerdorn in bitteres Wasser gelegt, es in Süßwasser umwandelt, so würde V. 23–25a an natürliche Verhältnisse anknüpfen. In der Volkssage ist der natürliche Vorgang, eine Art homöopathisches Heilverfahren, auf ein unmittelbares Eingreifen Jahwes zurückgeführt, und zu einem Wunder gesteigert.“66 Diese naturalistische Interpretation scheitert jedoch daran, dass die Erzählung keinen wiederholbaren Vorgang schildert67 und ein solches Verfahren „vor Ort“

62 B.O. LONG, The Problem of Etiological Narrative in the Old Testament: BZAW 108, 1968, 12. 63 COATS, Rebellion (s. Anm. 37), 50. 64 P. REYMOND, L’eau, sa vie, et la signification dans l’Ancien Testament, Leiden 1958, 97. 65 Siehe meine Ausführungen oben S. 95. 66 BEER, Exodus (s. Anm. 52), 85. 67 „Der Sinn der Stelle ist nicht, daß die Quelle bitter bleibt und nur das Wasser, das man daraus trinkt, süß wird, wie man sie allgemein mißdeutet hat ...; sondern durch das Zauberholz ist sie ein für allemal süß geworden.“ E. MEYER, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme, Halle 1906 = Darmstadt 1967, 102; vgl. AUERBACH, Moses (s. Anm. 52), 79; N. LOHFINK, „Ich bin Jahwe, dein Arzt“ (Ex 15,26), in: ders. u.a., „Ich will euer

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unbekannt ist. „Die Reisenden des 19. Jahrhunderts, die dieser Frage mit besonderem Interesse nachgegangen sind, haben denn auch in dem gesamten Gebiet der Sinaihalbinsel einen solchen Brauch der Genießbarmachung salzhaltiger Quellen nicht feststellen können.“68

Ein ähnliches Wunder – Umwandlung von ungenießbarem Wasser in genießbares – wird in 2 Kön 2,19–22 von Elija erzählt. 2.2. Ex 15,25b.26 Das Alter des Einschubs ist umstritten. H. Gese hält ihn für frühdeuteronomisch.69 Das ist angesichts der dtr Diktion ausgeschlossen. N. Lohfink hat ihn dagegen RPent zugewiesen, da er mit Ex 9,8–12 bereits die Priesterschrift voraussetzt.70 A. Schart zufolge ist der Zusatz wegen seiner sprachlichen Berührungen mit Esr 7,10f in der Wendung „die Ordnung und das Recht“ (V 10) bzw. „in Angelegenheiten der Gebote Jahwes und seiner Ordnungen für Israel“ (V 11) „nicht allzuweit vor Esra zu datieren“.71 Die Gemeinsamkeit in dem Doppelausdruck „Satzung und Recht“ besagt jedoch nur, dass Esr 7,10f wie das gesamte Chronistische Geschichtswerk das Deuteronomistische voraussetzt und auch sprachlich auf es zurückgreift. N. Lohfink ist zuzugestehen: Die Bezeichnung der Plagen als „Krankheiten“ V 26, die in 23,25 wiederkehrt, ist ohne Anhalt an der jahwistischen Plagenerzählung.72 Die Annahme, dass jene Bezeichnung bereits das fünfte Zeichen der priesterschriftlichen Plagenerzählung voraussetzt, das in Geschwüren auf Mensch und Tier besteht (9,8–12), erklärt aber nicht die Ausdrucksweise: „alle Krankheiten“. Außerdem gelten „die Geschwüre, die zu Blasen aufplatzen“ ihrem Charakter als „Zeichen“ entsprechend nicht wie in 15,26 als unheilbar, sondern nur als vorübergehende Beeinträchtigung. Tatsächlich dürfte die Vorstellung, dass die Plagen aus unheilbaren Krankheiten bestanden, aus dem Deuteronomium stammen. Die bedingte Verheißung V 26bα und ihre Begründung in Versteil bβ lesen sich wie eine Umkehrung der Fluchandrohung Dtn 28,27. V 26baα fasst die Trias ~ylip'[' „Geschwüre (Tumore)“73, br"G" „Krätze“ und sr