Henrik Ibsen: Gedächtnisrede gehalten bei der Trauerfeier des Gießener Theatervereins am 14. November 1906 [Reprint 2019 ed.] 9783111546339, 9783111177687


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Programm der Gedächtnisfeier
Henrik Ibsen. Gedächtnisrede gehalten bei der Trauerfeier des Gießener Theatervereins am 14. November 1906
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Henrik Ibsen: Gedächtnisrede gehalten bei der Trauerfeier des Gießener Theatervereins am 14. November 1906 [Reprint 2019 ed.]
 9783111546339, 9783111177687

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Henrik Ibsen Gedächtnisrede gehalten bei der Trauerfeier des Gießener Theatervereins

am 14. November 1906

von

Professor Dr. Z. Collin

Verlag von Alfred Töpelmann (vormals I. Ricker) Gießen 1906

Programm der Gedächtnisfeier 1. a) Solvejg's Lied 1 au6 „epect Gynt" b) Solvejg s WregenUed j c) Der Schwan, Gedicht vertont von Eduard Grieg, gesungen von Frl. Ida Stammler. Am Klavier Lerr Julius Lahn. 2. Rede des Lerrn Professor Dr. Collin. 3. Rezitation von Gedichten durch Mitglieder des Stadttheaters: a) Sängersahrt (Lerr Kober). b) Agnes (Frl. Donecker). c) Eine Vogelweise (Frl. Schuster). d) Lichtscheu (Lerr Kober). e) Vogel und Vogelfänger (Frau Bayrhammer). f) Verbrannte Schiffe » (£)ecr Kerrscher). g) Der Bergmann / 4. „Peer Gynt", dritter Att, letzte Scene (Aase's Tod), dargestellt durch Mitglieder des Stadttheaters. Peer Gynt: Lerr Goll. Aase: Frl. von Iagemann Die Nachbarin: Frau Bons. 5. a) Örnulfs Drapa, aus „Nordische | Leerfahrt", | (Lerr Batof). b) An die Überlebenden

)

Henrik Ibsen (geboren am 20. März 1828, gestorben am 23. Mai 1906).

Aus der gewaltigsten Trauerrede des Altertums stammt

das stolze

Wort: Ausgezeichneter Männer Grab ist

die ganze Erde.

Die Kraft ihrer Wirkung, der Glanz

ihres Namens beschränkt sich nicht auf ihr Volk.

Keinem

Menschen ist aber eine stärkere und ausgedehntere Wirksam­

keit gegönnt als dem großen Künstler.

Sein Verlust gilt

noch am ehesten als unersetzlich. Denn bei keinem Menschen

haben wir so sehr das Gefühl des Eigenartigen und Ur­ sprünglichen als bei ihm.

Amerika würde entdeckt worden

sein, meint einer unserer großen Geschichtsschreiber, wenn Columbus in der Wiege gestorben wäre.

auch

Wenn Ra­

fael in der Wiege gestorben wäre, so wäre die Transfigu­ ration wohl ungemalt blieben. — Der Künstler ist stets

einzig in seiner Art.

Es gibt keinen Fortschritt über Lomer

hinaus,

über Michel Angelo,

hinaus.

Es kann nur immer wieder ein anderer erscheinen,

der dann seine Art hat.

über Bach,

über

Die Persönlichkeit ist

Goethe es, die

den

Künstler macht;

in

ihr

liegen

die Quellen seiner

schöpferischen Kraft; nur wer im tiefsten Sinn ist, der ver­ mag auch zu erschaffen.

Das Menschentum offenbart sich

in ihm am reichsten und schönsten.

Er ist nach

unsres

edelsten Dichters Zeugnis der einzige wahre Mensch. Persönlichkeit ist nun aber

Eine

auch der Mann gewesen,

dessen Gedächtnis wir uns heute versammelt haben.

zu

Seine

ganze Dichtung hallt von der Forderung wieder: Sei du selbst!

Ehre dies Selbst auch in jedem andern Menschen.

Niemals mißbrauche ihn als eine Sache; habe vielmehr den

Mut dich für andre zu opfern. Sei selbstlos! — Seine ganze Dichtung gibt darum auch ein Bild von den furcht­ baren Verwüstungen des schlimmsten Menschenfeindes, der

Selbstsucht.

Fast alle seine Dramen sind Tragödien oder

Tragikomödien des Egoismus und seiner notwendigen Be­

gleiterscheinungen: der Lüge, des Selbstbetrugs, der Heuchelei, der Feigheit.

„Eines Mannes Aufrichtigkeit und Tiefe des Blickes

ist es, was ihn zum Dichter macht."

Dies Wort Car­

lyles bewährt sich auch an Henrik Ibsen; und

daß

Dichten im wesentlichen Sehen sei, hat er selbst gelegentlich

betont.

Sein unbestechliches, vor nichts zurückschreckendes,

unheimlich scharfes Auge hat die verborgensten Winkel, die

abgründigsten Tiefen des Lebens durchforscht. Was er hier gesehen, es stand im schärfsten Gegensatz zu dem vollkom'

meneren Weltbild, das er als schöpferischer Künstler in sich erzeugt und in sich trug, aus dem er sich zugleich die Ge­ setze seines

Lebens, seines

sittlichen

handelns

entnahm.

Wohl waren auch der Welt da draußen die Gebote edelster

Sittlichkeit bekannt,

von den erhabensten Persönlichkeiten

ihr offenbart, wohl ward

die tiefste

und schönste Ethik,

die des Christentums, ihr stets von neuem vorgehalten. Wer

aber

lebte

im

Wahrheit?

Geiste der

wer

liebte

seinen

Nächsten wie sich selbst? wer hatte den Mut für ihn sich zu

opfern;

wer

lebte

nicht

vielmehr

sich

selbst

und

seinen Interessen? Wer war nicht gewillt, sich des andren als eines Werkzeugs zu bedienen oder rücksichtslos über ihn

hinwegzuschreiten, um emporzukommen? — So klaffte eine furchtbare Kluft zwischen Lehre und Leben; und was noch

schlimmer war, man tat so, als achte man diese Lehre auf das höchste, man stellte sich, als diene man ihr, man führte sie im Munde; man glich den Schriftgelehrten des Evange­

liums, die es wohl sagen, aber nicht tun. — Das Höchste und Beste ward als Maske mißbraucht, um dahinter unge­

scheut der Selbstsucht zu frönen, um sittlich zu scheinen,

aber nie es zu sein.

Als sich diese ganze leere und hohle

Welt des Scheins vor ihm auftat, da war es ihm, als sähe er lauter Schatten und Gespenster, ein unheimliches Reich von scheinbar Lebenden, alle in wilder Last vorüberhuschen­

den Trugbildern nachjagend: für mich die Macht, für mich

den Einfluß, für mich den Besitz, für mich

das Ansehen,

— für mich! — keiner an sein tiefstes und wahrstes Leben,

keiner an seine Seele denkend. Der Realist wird sich mit dieser Erscheinung als einer

erklären, „daß das

gegebenen Tatsache abfinden; er wird

Unsittliche genau so notwendig für das Leben ist wie das

Sittliche, und daß besonders Staat und Gesellschaft durch die

üblen Triebe

der

werden wie durch die guten."

Menschen Der

mehr

zusammengehalten

Idealist

wie Ibsen,

ganz erfüllt von seinen Vorstellungen einer sittlichen Kultur, denkt anders.

Die schmerzlichste Enttäuschung über den

Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit erzeugte ihm

seine Lebensaufgabe, den Verblendeten die Augen zu öffnen,

die Toten aus ihrem Schlaf zu einem wahren Leben zu

wecken.

Er dachte dabei zunächst nur an sein eigenes Volk.

Seine ersten Erfahrungen in der Menschenkenntnis hatte er in den kleinen und engen Städten seiner Leimat gemacht; sie wurden ihm auch dadurch erleichtert, daß er auf einer sozial

niedrigen Stufe stand.

Den Niedrigstehenden gegenüber übt

die Gesellschaft weit weniger Verstellung als von dem Loch­ geborenen oder Bessergestellten; am schlimmsten aber gehts

dem Deklassierten, dem Menschen, der von einer höheren auf eine niedere Stufe herabgedrückt wird; und dies Los ist gerade

Ibsen in früher Jugend zuteil geworden, als das Geschäft seines bis dahin reichen Vaters zusammenbrach, und als nun die Men­

schen des Städtchens ein völlig verändertes Gesicht zeigten. Der

Bankerott seines Vaters ward ihm zu einer Bankerotterklä­ rung der ganzen Gesellschaft.

Diesen jugendliche Eindruck hat das Leben nie in ihm zu verwischen vermocht.

Fast alle seine Leiden, von dem

ersten, dem Römer Catilina, bis zu dem letzten, dem Bild­ hauer Rubek, sind in irgend einem Sinne Bankerotteure; und der Gegensatz zwischen Schein und Wirklichkeit, der Wider­

spruch zwischen Leben und Idee, der Unterschied zwischen Egoismus und

Persönlichkeit wurden das große

Thema

seiner ganzen Dichtung. — Er fühlte sich mehr und mehr verpflichtet, seiner Zeit entgegenzutreten, sie aufzuklären und

aufzurütteln.

Er fühlte sich zum Reformator der Gesell­

schaft berufen. — So schreibt er im Jahre 1866 an seinen

König: „Nicht um ein sorgenfreies Auskommen kämpfe ich hier, sondern um das Lebenswerk, das, wie ich unerschütterlich glaube und weiß, Gott mir auferlegt hat: das Lebenswerk,

das mir als das wichtigste und notwendigste erscheint für

Norwegen: das Volk zu wecken und es zu lehren, groß zu

denken." Hierbei konnte er als Dichter nun einen doppelten Weg gehen: er konnte einmal das Ideal darstellen, große Per­ sönlichkeiten in ihrem Lebenskampf vorführen und durch sie wie in ihnen der Menge ihren weiten Abstand von dem Ideal zu zeigen versuchen. Aber er verkannte nicht, daß darin eine große Gefahr verborgen liege. Würde nicht gar diese verblendete, in Selbsttäuschung befangene, in Selbst­

überhebung groß gewordene Gesellschaft sich dem Wahne hingeben, sie selbst habe Anteil an dem dargestellten Ideal?

Ein Ibsen geistesverwandter Denker, der Däne Kierke­ gaard, hat darum von seinem ausschließlich ethischen Stand­

punkt aus gar den Dichter als den Allergefährlichsten, als einen Betrüger ausgerufen. Denn er verschuldet durch seine Darstellung des Schönen, Großen, Guten, daß der Mensch es sich genügen läßt, dies alles allein in der Einbildungskraft zu genießen, daß er also genug getan zu haben glaubt, es in diesen» Abstand von der Wirklichkeit auf sich wirken zu lassen, während er sich entschieden dagegen sträuben würde, dieses Gute, Große, Schöne auch in sein eigenes Leben einzuführen. Aus ähnlichen Erwägungen ist denn auch Ibsen schließlich auf den anderen möglichen Weg gedrängt worden: nicht das Ideal zu zeichnen, sondern die Wirklichkeit, um so der Gesellschaft im Spiegel der Kunst ihr wahres Gesicht zu zeigen. Ja doch nur vorübergehende, erhebende Gefühle bei ihr auszulösen, wäre verfehlt ge­ wesen; hier mußte vielmehr der stärkste Druck auf die Seele des Menschen ausgeübt werden. Er sah darin das einzige Mittel, das Ansittliche, das der Selbsterkenntnis mit der größten Zähigkeit sich Widersetzende mit furchtbarer Gewalt

zu erdrücken und den Menschen zu nötigen, in banger Todes­ angst vor den Schrecken der Vernichtung in sich zu gehen

und sich selbst, sein besseres Ich, zu suchen.

Die Kunst soll

keine Depressionsgefühle erregen, hört man stets es von neuem verkünden. Die Kunst hat sich aber nie um eine dem großen Publikum gefällige Ästhetik gekümmert. In dem „König Ödipus" des Sophokles hat der Leid den Vater

getötet, die Mutter geheiratet und in ruchloser Ehe Kinder

gezeugt; und als dann den Verblendeten die Erkenntnis von all dem Furchtbaren aufgeht, da erhängt sich Iokaste und Ödipus beraubt sich selbst des Augenlichts zur Strafe für seine Verblendung. — heimatlos,

der Äerrschermacht

entkleidet, mit blutenden Augenhöhlen steht er zum Schlüsse,

ein Bild des Jammers, vor uns. Diese Tragödie ist durch­ aus nicht zur Verherrlichung der Menschen gedichtet, son­ dern zur Verherrlichung der Macht der Götter, die noch

an dem Sohne die Sünden des Vaters rächt; und Ibsens

furchtbarste Tragödie, „Die Gespenster", verkündet gerade in der niederschmetternden Katastrophe die erhabene Macht des

Sittengesetzes, die unerbittlich an den Kindern der Eltern Sünde straft.

Die eigentliche Schuldige ist hier die Mutter.

Denn hätte sie die Kraft der Persönlichkeit gehabt, nimmer

hätte sie sich

dem ungeliebten Manne

verkauft; wäre sie

nicht feige und unwahrhaftig gewesen, nimmer hätte sie dem

unsittlichen Manne in ruchloser Ehe den Sohn geboren, an

dem sich dann der Fluch des Gesetzes erfüllt. — Freilich mußte Ibsen gerade bei diesem Versuch der Wirklichkeits­

darstellung eine bittere Enttäuschung erleben; er hatte die Ehrlichkeit und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis bei dem

großen Publikum überschätzt.

Als diesem sein Gesicht, der

Maske beraubt, entgegenstarrte, da erkannte es nicht sich

und wollte sich auch nicht erkennen; nein, es sah darin die Züge des Dichters.

Du bist der Ansittliche, gellte es ihm

von allen Seiten in seiner Leimat entgegen und von allen Seiten wurde seine Persönlichkeit mit Schmutz

beworfen,

und als die Meininger das Stück in Berlin (1887) aufführen wollten, da verbot damals die Polizei ein Werk, das im

letzten Grunde die Sittlichkeit verherrlicht.

Eine solche Auf­

nahme konnte den Dichter nur in seiner pessimistischen Be­ trachtung der Gesellschaft bestärken; in seiner Entrüstung konnte es ihm hier wohl begegnen,

daß er das vorhandene

Gute übersah; freilich ist es ja auch schwerer zu entdecken,

weil

Selbstlosigkeit

die

nicht geneigt

Wirken auf dem Markte auszuschreien, auch in den Niederungen

ist,

ihr

und

Tun

weil sie sich

des Lebens finden kann,

man kaum einen Blick gönnt.

und

denen

Wer das Leben vom Stand­

punkt der sittlichen Kultur betrachtet, für dessen Auge ver­

schieben

sich

aber

die

Löhenverhältnisse.

Da

kann es

dann kommen, daß der Niedrige erhöht und der Lohe er­ niedrigt wird. — Allerdings wird dem menschlichen Dünkel

diese Erscheinung immer höchst widerwärtig bleiben.

So

vermag Ibsens Kaiser Julian in seinem törichten Bil­

dungsstolz es nicht

zu fassen und

nicht

zu greifen, wie

Christus sein Reich mit „zwölf geringen Männern, Fischern,

dumpfen Leuten" zu gründen vermochte. Wenn nun Ibsen auch der Gegenwart voll Mißtrauen

und Zweifel gegenübersteht, so fehlt ihm doch nicht der op­

timistische Glaube an eine schönere Zukunft des Menschen­ geschlechts.

Er hat für diese einst kommende Zeit das Wort

„das dritte Reich" gefunden, in dem einst die großen Wider­ sprüche unsres Lebens sich in harmonischer Verschmelzung ausiösen werden.

Ibsens Dichtung beschäftigt sich aber nicht bloß mit

dem äußeren Leben, sondern auch mit seinem eigenen, inneren

Leben. Er wäre nicht der große Wahrhaftige gewesen, wenn er nicht mit gleicher Strenge des Blickes auch in sich selbst ge­ schaut hätte. Er ist zuerst sein eigener Richter gewesen, ehe er

die Gesellschaft vor Gericht lud; er hat mit den Dämonen seines Innern gekämpft, ehe er seinen großen Kampf gegen die Außenwelt eröffnete.

Der folgende Vers legt davon

Zeugnis ab: Leben heißt — dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich;

Dichten — Gerichtstag halten Über sein eignes Ich.

So enthüllt uns seine Poesie auch sein eigenes Wesen; und hier hat er nach seinem Geständnis nicht allein das ge­ staltet, was sich blitzartig und nur in seinen besten Stunden als etwas Großes und Schönes in ihm lebendig geregt hat, sondern auch das Entgegengesetzte, was der nach innen ge­ wandten Betrachtung wie Schlacken und Bodensatz des eigenen Wesens erschien; in diesem Fall ist ihm sein Dichten wie ein reinigendes Bad gewesen; das also, was seine Dar­ stellung des äußeren Lebens nach seinem Wunsch auch den

anderen hätte sein sollen, eine Läuterung, eine Katharsis von den in seinen Werken dargestellten, aber auch zugleich den Menschen selbst anhaftenden Mängeln und Schäden. Seiner Wahrhaftigkeit ist es nicht entgangen, daß er auch daran teilnehme, daß er eine Mitschuld daran trage, aber daß er auch dafür mitverantwortlich sei. So schlug ihm sein Ge­ wissen für sich wie für die anderen und trieb ihn in den

Streit gegen den Leichtsinn, der sorglos an den Ab­ gründen des Lebens dahin tanzt, wie gegen den Stumpf­ sinn, der faul und bequem im Sumpfe dahinlebt.

So ereignisarm sein äußeres Dasein verlief, so reich

war das Leben seiner Seele.

In großen Männern sind die

weltgeschichtlichen Gegensätze weit stärker ausgeprägt und

deutlicher zu erkennen.

So hing sein Lerz einerseits an den

starken und ungebrochenen Triebmenschen der Vorzeit, wie sie in den Sagen seines Volkes weiterlebten, den Vollblut­ egoisten, den Menschen von ungebändigter, stolzer Naturkraft; auf der andern Seite aber verkannte er nicht, anders wie

Nietzsche, den unermeßlichen Wert der christlichen Ethik;

so sah er in dem Triebmenschen, der durch sie, aber ohne äußeren Zwang durch innere Nötigung, gebändigt und zur Selbstbeherrschung geführt wäre, im Grunde sein Mensch­

heitsideal.

Da

aber

Triebleben

und

christliche

Kultur

zunächst feindlich gegenüberstehen, so hat er mit Vorliebe,

mehr oder weniger verhüllt, ihren Widerstreit dargestellt, der nur selten mit der Aussöhnung endet.

Zum ersten Mal

deutlicher in seiner „Nordischen Leerfahrt", wo deshalb auch

im Gegensatz zu dem maß- und rücksichtslosen Lebens- und Freiheitsdrang der Ljördis, der Brunhilde der Nibelungen­ sage, Sigurd zum Christen gemacht ist.

Der Vereinigungspunkt für die anscheinend so unver­ söhnlichen Feinde, Triebmenschentum und Christentum, lag

für Ibsen in ihrem Verhältnis zu dem, was ihm das Höchste schien, dem persönlichen Leben.

Am Christ zu werden, dazu

gehört Kraft; denn hier gilt es, sein selbstisches Ich zu

überwinden und so zu seinem wahren, unvergänglichen Selbst zu gelangen.

Eine vollkommene Wiedergeburt, eine „Um-

Wandlung" ist hier nötig, vor deren Schmerzen der schwäch­ liche Egoist bangt, und zu der am ehesten noch ungebrochene Naturkraft den Mut hat.



In diesem Zusammenhang

offenbart sich so als der Kern von Ibsens Weltanschauung

ein religiös gefärbter Persönlichkeitsglaube. — Das Kraftvolle, das in Ibsens Seele wohnte und ihn, den Nach­

kommen der alten Wikinger, in den Kampf trieb, fand jedoch in ihm eine starke Hemmung durch den Dämon seines ganzen Lebens, den Zweifel. Sein durch Enttäuschungen verstärktes

Mißtrauen, das ihn dazu brachte, hinter jede Erscheinung der Außenwelt ein Fragezeichen zu machen, bei keiner ge­

wonnenen Erkenntnis stehen zu bleiben, sondern sie sofort wieder in Frage zu ziehen, dieses Mißtrauen hat er auch

gegen sich selbst gewendet.

So stellt sich jener Berufs­

gläubigkeit das Bedenken entgegen: zu dieser Aufgabe ausersehen,

auszuführen?

Bist du in der Tat

bist du der Mann dazu, sie

Dieser Widerspruch in Ibsens Seele hatte

seine Wurzel in dem tragischen Mißverhältnis von Wollen

und Können.

Man überschaue seine Selben; fast alle be­

gehren sie, was über ihre Kraft geht. — Hierin liegt etwas

„Eine überspanntes Phantasie oder

spezifisch Norwegisches.

ein überspannter Wille", — läßt Björnson in einem seiner

Dramen sagen — „darum ist in uns stets etwas über unsere Kraft"; und er läßt dies aus der Eigenart der nordischen Natur erklären, die so außerordentlich und so un­

gewöhnlich ist, daß sie auch von den Menschen das Außer­ gewöhnliche fordere.

Ich habe bisher

mehr von dem Menschen als dem

Künstler Ibsen gesprochen.

Denn wenn er auch zu Zeiten

noch so sehr von seinem Beruf, die kranke Zeit zu heilen,

der wankenden Gesellschaft stärkere Stützen zu geben, hin­

genommen war,

so

ist

er

doch

vor allem auch Dichter

gewesen, und hier war seine Aufgabe, Menschen darzustellen.

In der ersten Epoche seiner dichterischen Wirksamkeit (1848 bis 1864) sind seine Gestalten noch vorwiegend der Sage und

der Geschichte der Vergangenheit entnommen; aber auch da­ mals waren ihm die geschichtlichen Vorgänge bereits bloß symbolische Beispiele für ewige, innere, seelische Tragik. Die

erste reifere Frucht seiner dramatischen Dichtung ist die „Nordische Leerfahrt" (1857), in uns aus der Nibelungensage wohl vertrauten Gestalten der Völsungensage mit den Menschen der isländischen Familiensage ver­ schmolz. Lier entfaltet sich zum ersten Mal die wahrhaft unheimliche Kunst des Dichters, in die gefährlichsten Tiefen der menschlichen Seele sich einzugraben und die in ihnen hausenden Dämonen darzustellen: in der Schilderung der Ljördis, der Brunhilde der deutschen Sage. Ibsen, der selbst damals in Enge und Anfreiheit festgebunden war, zeigt hier ihre entsetzlichen Verwüstungen in einer ursprünglich starken und großen, aber ungezügelten Natur, die, gewaltsam von der Luft des großen Lebens abgeschnitten, auf das furcht­ barste entartet und sich innerlich zersetzt. Das Anheil, das sie um sich verbreitet, greift auch zerstörend in ihres greisen Pflegevaters Geschick ein. Sie ist mitschuldig an dem Tode seiner sieben Söhne. Der tiefgebeugte Recke, der zugleich der Skaldenkunst mächtig ist, findet dann seine Wiederauf­

richtung in dem Trauerlied, das er den gefallenen Leldensöhnen singt. Das ist Oernulfs Drapa. Die bedeutendste Leistung der ersten Epoche, in der er im Dienste der national­ norwegischen Romantik dichtete, sind die „Kronpräten­ denten" (von 1863). Den Stoff gab ihm hier die nor­ wegische Königsgeschichte des 13. Jahrhunderts. An diesem Werk offenbart es sich, wie ihm selbst die Göttergabe der Poesie Erdenweh und -wunden zu heilen vermocht hat. Denn es ist in der trübsten Zeit seines Lebens geschaffen, da er verkannt und verlästert, zugleich mit der bittersten Not

kämpfend, wohl an sich selbst hätte irre werden können; aber gerade in diesen Tagen des Leidens hat er sich dazu erhoben, den Leiden zu zeichnen, der von allen am festesten auf seinen

Füßen steht: den König Laakon.

Er ist vielleicht nicht als

König geboren — darum macht ihm sein Nebenbuhler, der

Lerzog Skule, die Krone streitig — aber er ist der geborene König. Anbeirrt, mit genialer Selbstsicherheit, geht er seinen Weg, erfüllt von einem großen, verheißungsvollen Gedanken, seinem zersplitterten Volk die Einheit zu bringen, einem Ge­ danken, den kein anderer damals zu denken gewagt, den er

selbst schöpferisch in seiner Brust erzeugt, den zu verwirk­ lichen ihm als seine von Gott gewollte Lebensaufgabe vor der Seele steht. An seinem unerschütterlichen Glauben zer­ schellt sein Gegner, der unfruchtbare Zweifler Skule. Durch freiwilligen Opfertod büßt er seine Schuld für die Empörung gegen den von Gott Berufenen und rettet damit das Leil der Seele. Der tragische Schluß gibt zugleich eine bestimmte Antwort auf eine Zweifelsfrage, die in Skules Seele auf­ getaucht war, die aber auch Ibsen selbst quälte zu jener Zeit, da er, verachtet und verspottet, den raschen Siegeslauf Björnsons beobachten mußte: Warum gab Gott jenem das Glück und die Kraft, warum mir das Leid und die Ankraft, war­ um ist er sein Kind, warum ich sein Stiefkind? Die Antwort

lautet: Es mußte so sein; denn nie hätte der Irrende seinen Weg zu Gott gefunden, hätte er ihn nicht auf den Läuterungs­ pfad des Leidens gelenkt. Damit hatte aber auch Ibsen die Macht der Notwendigkeit in seinem eignen Lebensgang erkannt und damit war er innerlich frei geworden. So hatte er denn doch, er, der bergmannsartig in die Tiefe der menschlichen Seele eingedrungen war, einen Schimmer des schmerzlich ge­ suchten Lichtes erhascht. Die frohe und jubelnde Stimmung

des nach langer Nacht zu innerer Klarheit gekommenen Dichters blickt uns mit leuchtenden Augen aus dem Gedicht „Sängerfahrt" entgegen, das auf der Fahrt zum Sänger­

feste in Bergen entstanden ist, unmittelbar vor der in wenigen Sommerwochen erfolgten Ausarbeitung der „Kronpräten­ denten". Die Festfahrt auf dem Sängerschiff wird ihm zum Sinnbild seiner Lebensfahrt. Wie von dem fahnengeschmückten, liedumrauschten Schiffe ein Abglanz von Licht, die Ahnung

von etwas Großem, auf den in Sorgen und in Alltagsarbeit herangewachsenen Schiffer am Strande ausstrahlt, so möge auch von seiner Lebensfahrt eine erweckende, fruchtbringende Wirkung ausgehen. Indes diese glückliche Stimmung sollte nicht lange anhalten. Eine neue, bittere Enttäuschung harrte seiner, die ihn auf das äußerste gegen sein Volk aufbrachte. Es war sein Verhalten im deutsch-dänischen Krieg von 1864 Man feierte Verbrüderungsfeste mit hohen Worten und schickte Adressen; als dann aber der Bruder in ernste Not geriet, blieben die Taten aus. Der Idealist Ibsen sah in dieser norwegischen Realpolitik nichts als Mangel an sitt­ licher Größe und Kraft. Sein Ingrimm über die Halbheit und den Mangel an Opfermut kannte keine Grenzen; darum begrüßte er es als eine Erlösung, als ihm ein Staatsstipendium eine Auslandsreise möglich machte. — Damit begab er sich in eine freiwillige Verbannung, aus der er nicht zurück­ zukehren gedachte; er hatte seine Schiffe hinter sich ver­ brannt; erst nach Jahren mischen sich wieder Töne sehn­ süchtiger Anhänglichkeit in die nachgrollende Erbitterung, die man mit der Dantes über seine Vaterstadt vergleichen mag. Aus dieser tiefen Entrüstung erwuchsen ihm seine beiden großen Dramen „Brand" (1866) und „Peer Gynt" (1867). Das ganze Wesen des allzusehr zu grüblerischer Selbst-

betrachtung geneigten Dichters war in Aufruhr geraten. Mit der Kampfeswut des schwer gereizten Wikingers stürzt er sich in den Krieg gegen sein eigenes Volk. So hallt sein Brand, dessen Leld nach seinem Geständnis Ibsen, selbst ist in seinen besten Augenblicken, von wildem Kampfgeschrei wider gegen die Halbheit und Schlaffheit der Zeit, gegen

die Hohlheit des öffentlichen Lebens, das sich in Phrasen berauscht, gegen den leeren Stolz auf eine große Vorzeit. Die Arsache dieser Schwäche ist die Zersplitterung der ursprüng­ lichen Einheit und Ganzheit der menschlichen Natur. Von allem ist der Mensch ein wenig, aber nichts ganz, nichts

durch und durch. Was ist es, das ihn wieder kräftig und stark mache? Allein der Wille. Der Wille muß so ge­ stählt werden, daß der Mensch freudig bereit ist, freiwillig

das Schwerste und Schmerzlichste auf sich zu nehmen. Ein neuer Mensch muß erstehen, aber auch ein neuer Gott. Denn dies schwache Geschlecht hat sich auch einen schwachen, alles verzeihenden, alles gewährenden Gott zurechtgemacht. Not tut ihm aber ein strenger, unerbittlicher Gott, der von ihm alles fordert oder nichts; ein Gott nach dem Sinne des strengen Christusworts: „So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein." Die furchtbare Gewalt dieser unbedingten Forderung, alles zu opfern, richtet Brand auch gegen sein eigenes Weib, das er sich einst gewonnen, als es seinem hohen Ernst gegenüber sich klar ward über sein spielerisches, am Abgrund sorglos hingaukelndes Schmetterlingsdasein, in dem es sich, mit dem haltlos-lebensfrohen Verlobten, einem Künstler, in törichtem Liebesspiel tändelnd, eine Zeitlang ge­ fiel. — Das Letzte, was Brand von der durch ihn Um-

gewandelten verlangt, das geht über ihre Kraft und bricht ihr das Äerz; und Brand selbst muß schließlich zu spät zu der Erkenntnis kommen, daß sein Gott, den er, der Mensch,

in seiner Vermessenheit auf den Weltenthron zu setzen ver­ suchte, nicht Gott ist. Noch im Todessturz, von einer Lawine auf den Schneefeldern des norwegischen Fjeld erfaßt, zu denen ihn seine nach kurzem Begeisterungsrausch rasch ernüchterte Gemeinde emporgetrieben hat, sieht er den Limmel um Aufklärung an; und eine Stimme von oben verkündet: Gott ist die Liebel Dieser Schluß, der keines­

wegs ironisch gemeint ist, ist ein besonders charakteristischer Beweis für die Tatsache, die auch sonst bei Ibsen zu be­ obachten ist, des Irrewerdens an sich selber und seinem Beruf. Das Drama, das als Strafgericht über das norwegische Volk begonnen war, endet in einem Strafgericht über Brand, über den Dichter selbst. — Was aber hier abgebrochen wurde, setzt von neuem ein in „Peer Gynt". In ihm, einer Lieb­

lingsgestalt des norwegischen Volksmärchens, ist das Volk selbst mit all seinen Schwächen und Schäden dargestellt. Peer Gynt ist der vollendete Egoist, dessen Selbstsucht stets neue Nahrung saugt aus seiner überspannten Phantasie, der Nationalkrankheit des nordischen Menschen. Denn eben die überreich wuchernde Einbildungskraft bringt ihn dazu, in Illusionen statt in der Idee zu leben; sie spiegelt ihm vor, etwas zu sein, während er nichts ist; sie verführt ihn dazu, trotz seiner Nichtigkeit das höchste für sich zu begehren; sie hält ihn ab, sich selbst zu erkennen und in sich zu gehen. Ihre schlimmste Frucht ist die Lüge, die jedoch es gar nicht merkt, daß sie lügt. In der bunten Fülle teils märchenhafter, teils wirklicher, aber stets symbolischer Situationen dieses köstlichsten und

schönsten Werks, das Ibsen gelungen ist, erweist sich immer

von neuem die lächerliche Anmaßung, die feige Verleugnung, die freche Willkür, die schamlose Rücksichtslosigkeit und die schmähliche Rücksichtnahme auf eigne Interessen, die kümmer­ lichste Selbstgenügsamkeit und dazu die lächerliche Verblen­ dung, er selbst, d. h. eine Persönlichkeit, zu sein. And doch könnte er er selbst werden, hätte er den Mut dem Bösen in ihm fest ins Auge zu sehen und es in sich zu überwinden. Statt dessen flieht er feige vor den Spiegelungen seines bösen Gewissens und verläßt die Geliebte, die ihm eine Äelferin in jenem Streite hätte sein können. Das ist Solvejg, die zarteste, feinste und lieblich-kräftigste Frauen­ gestalt, die der Dichter gezeichnet hat; in ihr lebt Peer Gynts ungetrübtes, von Gott gewolltes, ideales Bild, das zu verwirklichen seine Lebensaufgabe wäre. Bevor er die Leimat verläßt, kehrt er noch einmal bei der sterbenden Mutter ein, die durch seine Schuld in die bitterste Rot ge­ raten ist. In der wunderbaren Scene, die sich hier ergibt, in der durch den schönen Schein die häßlichste Wirklichkeit blickt, verrät der egoistische Phantast noch einmal sein ganzes Wesen. Mit gemütlichem Geplauder und zuletzt mit kindisch­ phantastischem Spiel, wie es die beiden Toren oft genug ge­ übt haben, täuscht er sie und sich über den Ernst und die Schwere der letzten Stunde hinweg und sucht sie in den Limmel hineinzulügen. So betrügt der Feigling die Mutter um die Todesangst und damit um die letzte Möglichkeit in sich zu gehen und die Seele zu retten. Als aber gen Ende seines Lebens die Stunde der Rechenschaft für ihn schlägt, da er­ hebt sich unter den anklagend-klagenden Geisterklängen, die ihn umtönen, auch der Mutter Stimme: „Du hast mich falsch gefahren; das Limmelsschloß habe ich nicht gesehen;

der Teufel saß neben dir auf dem Bock."

Die erlogene

Himmelfahrt ist für sie in der Wirklichkeit zur Höllenfahrt

geworden. — 3m Alter erst kehrt er wieder heim. Getreulich

hat indes die verlassene Geliebte, in deren Lerzen allein seine bessere Seele wohnt, auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes geharrt.

Zufällig stößt er eines Tages auf ihre

einsame Lütte und hört mit zitterndem Grauen ihren frommen,

erwartungsvollen Gesang.

Zu spät erkennt er jetzt: hier ist

sein Lebensglück gewesen, das er draußen gesucht, der Tor. — Doch noch immer wagt er nicht zu ihr einzugehen; so groß ist des Sünders Angst vor den Schmerzen der Wiedergeburt. Erst die Furcht vor dem schon auf ihn wartenden Tod, der

für den Egoisten die völlige Selbstvernichtung bedeutet, gibt ihm die Kraft der Selbstüberwindung.

Reuevoll sinkt er

der Geliebten zu Füßen und birgt sein Laupt in ihrem Schoße.

Indem sie ihn gleichsam in sich aufnimmt, wird er

in dem Mutterschoße selbstloser Liebe, der Caritas, neu­ geboren. Das Schlummerlied, das sie ihm singt, dessen Töne

Sie vorhin

vernommen

selbstischen Ichs.

haben,

ist

das

Sterbelied

des

Indes geht die Sonne des Pfingstfestes

leuchtend auf, des Tages der Ausgießung des heiligen Geistes;

und mit ihm ist der Geist des persönlichen, des ewigen Lebens

in Peer Gynt entzündet.

So schließt dies Drama des

Egoismus mit dem Mysterium der Wiedergeburt. —

Eine furchtbare Tragikomödie der Selbstsucht ist das Doppeldrama „Kaiser und Galiläer". Lier vermißt sich der abtrünnige Kaiser Julian in eitler Selbstüberhebung, in

nichtiger Anmaßung als Lerr der Erde dem Lerrn des Limmels den Krieg zu erklären; und in diesem Kampf macht

er sich nicht bloß schuldig, sondern auch lächerlich.

Seine

Verfolgung stärkt nur das Christentum und füllt das schon

gesunkene mit neuer Lebenskraft. In diesem religiösen Drama findet Ibsens Persönlichkeitsforderung eine neue Formel. Sie

lautet:

Werde du selbst, indem du deinen Eigenwillen in

Gotteswillen umschaffest.

Schon vor der Vollendung dieses seines letzten historischen Dramas hatte Ibsen mit dem „Bund der Jugend", einer vortrefflichen Komödie, den Übergang zu dem realistischen

Zeitdrama vollzogen, bei dem es ihm immer mehr darauf ankam

die Illusion der Wirklichkeit zu erwecken: vor allem durch einen höchst lebenswahren Dialog wie durch eine Charak­ teristik, die jeder Schönfärberei geflissentlich aus dem Wege

geht; durch die Darstellung einer aus dem Banalen und

Trivialen sich

leise loslösenden und

schwellenden Tragik des Alltags.

immer

mächtiger an­

Er hat zugleich dadurch

den Schauspieler zur Einfachheit und Schlichtheit des Spiels erzogen, zum Verzicht auf alles Theaterhafte gebildet.

Ernsthafter wurde der Kampf seit den Gesellschaft" (1877).

„Stützen

— der

Er gilt nach wie vor der Selbst­

sucht; aber er beschränkt sich auf den engen Kreis der Familie.

Das Verhältnis der Eltern zu den Kindern, des

Gatten zur Frau,

des Freundes

zum Freunde wird auf

seine selbstsüchtigen Bestandteile hin untersucht, der morsche Untergrund scheinbaren oder zum Scheine aufrecht erhaltenen

Familienglückes aufgezeigt. hier

Als

ein Friedensstörer ist er

aufgetreten im Sinne des Christuswortes: „Ich bin

gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater, und

die Tochter wider ihre Mutter und die Schnur wider ihre Schwieger."

Denn die Wahrheit, in unsere verlogene Ge­

sellschaft eingeführt, wird als Sprengmittel wirken, nicht als

Stütze. — In einer langen Reihe von dramatischen Gleich­ niss en, deren Stoff aus dem alltäglichen Leben genommen

ist, hat er nochmals seine Wahrheit, sie schließlich immer stärker verhüllend, verkündet. Ich muß mich damit begnügen,

Sie

hier

auf das

Drama

hinzuweisen,

demnächst

das

auf diesen Brettern zur Aufführung gelangt: „Die Frau vom

Meer"

(1888); ein

Drama, das

uns

menschliche

Selbstsucht, verschieden abgestuft, in den drei verschiedenen

Paaren des Stückes darstellt. — Als Ibsen daran arbeitete, erklärte er einem Besucher: „Die Menschen in Norwegen werden vom Meer ganz intensiv bestimmt. Ich glaube nicht, daß man anderwärts leicht ein Verständnis davon haben

wird." — Auch er selbst fühlte

sich in seinem

Banne.

„Was mich am meisten anzieht", schreibt er noch später an

einen Freund, „das ist das Meer" — nnd er träumte da­

mals davon, sich zwischen Kopenhagen und Lelsingör auf einer freien, offnen Stätte niederzulaffen, wo er alle Meeres­

segler sehen könne, wie sie aus weiter Ferne kommen und in weite Ferne ziehen. — Man erkennt hier: zwischen dem

Meer und dem Norweger besteht eine Wahlverwandt­

schaft;

das

weite,

offene Meer befriedigt sein

Frei­

heitsgefühl; das Meer, das Wasser überhaupt, übt zugleich

als furchtbare Naturgewalt einen lockenden Reiz aus.

So

bildeten sich einst die Sagen von Meer- und Wasserdämonen

aus, die den Menschen an sich locken ziehen.

und in die

Tiefe

Die Volksphantasie verkörpert die Natur in be­

stimmten Gestalten. — Die Leldin des Ibsenischen Dramas,

Ellida, ist am offenen Meere groß geworden und damit auch in ihr eine wahlverwandtschaftliche Liebe zu ihm. Am dies Ver­ hältnis deutlicher darzustellen, hat Ibsen Ellida in Bezie­

hung gesetzt zu einem Mann, den man als einen bürgerlichen Nachkommen des Meerdämons der Sage bezeichnen

darf.

Denn er ist als eine Personifikation des Meeres gedacht.

— Er ist die Freiheit, aber auch wieder der grauenvoll

lockende Zwang des Meeres.

Mit ihm verlobt sich nun

Ellida auf höchst romantische Weise so, daß man erkennt,

Nun geht der

sie verbinde sich zugleich mit dem Meere.

Meermann, der zugleich Seemann ist, auf Reisen.

Sobald

er sich entfernt, läßt auch seine dämonische Gewalt nach, und

Ellida hält sich nicht mehr für gebunden. Sie heiratet dann nach einiger Zeit einen Arzt, Dr. Mangel.

sie aber in eine doppelte Anfreiheit. weiten Meer

an

einen

engen

Damit gerät

Einmal wird sie vom Fjord

verpflanzt,

und

dann hat sie die Ehe mit Dr. Mangel nicht aus innerem

Trieb, nicht mit klarem und freiem Willen eingegangen. Die Beweggründe waren auf beiden Seiten selbstsüchtig; sie ließ es sich gefallen, versorgt zu werden; und er brauchte nach

dem Tode seiner ersten Frau für sein Laus eine neue Frau. Das zuerst noch dunkle Gefühl der Anfreiheit legt sich wie

ein schwerer Druck auf die Seele Ellidas. erstenmal auftritt, bemerken wir denn

Da sie zum

auch an ihr alle

Zeichen einer schleichenden seelischen Erkrankung,

Arzt

Mangel vollkommen hilflos gegenübersteht.

der der Denn

unter dem Druck der Anfreiheit ist sowohl die Sehnsucht nach dem Meere wieder in ihr erwacht, als auch der Mann vom Meere wieder Gewalt über sie erhalten hat. Im wei­

teren vollzieht sich dann doch die Leitung.

Den Anstoß

dazu gibt das Wiedererscheinen des unheimlichen Verlobten. In der Volkssage ist es hergebracht, daß der Naturdämon

bei der Lochzeit der Angetreuen erscheint und sie gewaltsam

in sein nasses Element holt.

freiwillig folge.

Lier verlangt er, daß sie ihm

Das ist das Zauberwort, das ihm neue,

stärkere Gewalt über sie gibt und blitzartig ihr ganzes bis­

heriges Leben erleuchtet. — Jetzt erst erkennt sie klar, was

ihrer Ehe fehlt: die Freiwilligkeit.

Ihre Ehe ist keine

wahre Ehe, und so fordert sie von ihrem Manne die Frei­ heit.

Jedoch erst nach längerem, schweren Kampfe entschließt

er sich dazu.

Das

aber bringt die

Denn

Entscheidung.

dieser Entschluß, der aus einem qualvoll ringenden Serzen

geboren ist, offenbart eine Selbstlosigkeit und einen Opfer, mut, der von tiefster Liebe zeugt.

Ster geschieht also das

Wenn Nora von der auf das ab­

Wunderbare wirklich.

stoßendste wirkenden Selbstsucht ihres Mannes und seiner Unfähigkeit zum Opfermut aus dem Sause getrieben wird,

vermag Ellida, die das Gegenteil erfahren hat,

Manne zu bleiben.

sicheren Boden erhalten.

den Dämon,

der sie

in die Flucht.

bei ihrem

Ihre Ehe hat jetzt einen wahren und

Die Macht selbstloser Liebe jagt

gelockt und zugleich geängstigt

hat,

Das Naturhafte, Triebmäßige, das auch in

der Frau vom Meere lebt, wird also besiegt und

umge-

wandelt durch den Geist der wahren Liebe, die die edelste Frucht der Kultur ist.

Diese großen Gegensätze Ibsenischen

Dichtens und Denkens beherrschen also auch dies seltsame, aus Wirklichkeit

und

Romantik gewobene Drama.

Der

Mensch ist nicht mehr bloß Naturprodukt, er gehört auch der Kultur, der Sitte, an.

Aber

er wird

ihr nicht in

Wahrheit angehören, wenn man ihn mit Gewalt dazu zwingt;

sondern nur dann, wenn man ihm die Freiheit der Wahl unter eigener Verantwortung überläßt.

Das ist der Weis­

heit letzter Schluß in Ibsens „Frau vom Meer." —

Die Reihe seiner Tragödien des Egoismus schließt sein dramatischer Epilog: „Wenn wir Toten erwachen" (1899). Der Dichter hat hier den Wahrheitsmut, auch das Künst­

lerdasein auf

seine

egoistischen

Bestandteile

und wenn wir auch nie den Dichter völlig

zu

prüfen;

seinen

Ge-

stallen gleichsetzen dürfen, so drängt sich uns doch die Emp­ findung auf, daß er hier noch einmal zum Abschluß

einer

50jährigen dichterischen Tätigkeit Gerichtstag über sich selbst gehalten hat.

„Pax vo bi sc um“: Friede sei mit

euch, so lautet

das letzte Wort seines letzten Dramas, das letzte auch, was

er als Dichter geschrieben hat. selbst gefunden, er,

der

Den Frieden hat er nun

den faulen Frieden dieser Welt,

mahnend und warnend, zürnend und höhnend, so oft gestört hat; er, der einst in den Tagen der Jugend hoffnungsstark mit dem Wahlspruch in den Kampf gestürmt war: Ich oder die Lüge — eins von uns muß weichen —

hat nun die Waffen für immer niedergelegt.

Sein Leben ist eine lange Arbeitswoche gewesen, aber

auch, wie er selbst bekannt, eine lange Leidenswoche.

Da

er die Gabe des Leids empfing, da ward er Dichter.

9ln

sich selbst hat er gelitten, mehr noch an dem Leben seiner heimgesucht sah.

Zeit, die er von schwerer Krankheit

hier sein scharf lauernder Blick zu mag nur der urteilen,

trübe gesehen,

der den Mut zur

Ob

darüber

Selbsterkenntnis

hat.

Er selbst hat seine Hoffnungen

setzt.

Wir aber dürfen unsern Glauben an eine schon be­

auf die Zukunft ge­

stehende sittliche Kultur der Menschheit gerade auf Männer wie Lenrik Ibsen gründen.

des Menschenlebens.

Sie sind die stärksten Stützen

Der göttliche Geist

der Wahrheit

der von ihnen ausströmt, ist im letzten und tiefsten Grunde

das welterhaltende Prinzip;

aus ihm wächst immer von

neuem der Kampfesmut auf,

„der früher oder später den

Widerstand der stumpfen Welt besiegt."