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German Pages 240 [241] Year 2014
HENKERSFEST Emmerichs fünfter Fall
Kriminalroman von Stefanie Wider-Groth
Das „Henkersfest“ ist ein Kriminalroman, Haupt- und Nebenfiguren sowie die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten oder Namensgleichheiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Umschlaggestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart, unter Verwendung einer Abbildung von Stefan Schmid Lektorat: Karin Haller, Stuttgart Satz und Gestaltung: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-2878-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF) 978-3-8062-2935-6 eBook (epub) 978-3-8062-2936-3
„Ei, ich will ein Tröglein machen“, sprach das Kind. „Daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß geworden bin.“ (aus: „Der alte Großvater und sein Enkel“ – Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm)
1 Der Schnellzug glitt gemächlich durch das Gleisvorfeld des Hauptbahnhofs, trotz beträchtlicher Verspätung schien er es keineswegs eilig zu haben, sein Ziel zu erreichen. Von Emmy Steisshofer allerdings konnte dasselbe behauptet werden, sie saß im Zug und blickte mit Unbehagen aus dem Fenster. Einerseits, weil sie sich bereits mit durchaus gemischten Gefühlen auf die Reise begeben hatte, andererseits, weil ihr nicht gefiel, was sie draußen sah. Wo einmal das wogende Grün uralter Bäume die Reisenden empfangen hatte, klaffte eine hässliche Brache, auf deren Anblick Emmy sich zwar eingestellt hatte, allerdings ohne damit zu rechnen, wie sehr die Realität doch in der Lage war, auch die schlimmsten Vorstellungen zu übertreffen. Den Streit um den Bahnhof selbst hatte sie lediglich im Fernsehen, gelegentlich auch in einer Illustrierten, jedoch immer aus der Distanz verfolgt. Staunend und oft ungläubig zwar, aber ohne nennenswerte emotionale Anteilnahme. Dafür war die alte Heimat einfach zu weit weg und ihre eigenen Probleme zu überwältigend gewesen. Inzwischen hatte man dem Bahnhof beide Seitenflügel amputiert, und es erschien ihr doch einigermaßen wahnwitzig, das Herz der Stadt in dieser Weise zu zerstören. Wobei sie keineswegs plante, lange genug in Stuttgart zu verweilen, um sich vom Zustand des Bahnhofs in weitere Betrübnis stürzen zu lassen, schließlich plagten sie genügend andere Sorgen. Sorgen, die geeignet waren, schiere Existenzangst auszulösen. Sie hatte warten müssen, diese Angst, während sie Hubert ihre ganze Kraft und Auf-
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merksamkeit widmete. Mit seinem Tod aber war eine Lähmung über Emmy gekommen, gerade so, als habe Hubert die letzten Reste der ihr verbliebenen Lebensenergie mit hinübergenommen. Als Reiseproviant, in das Schattenreich seiner zukünftigen Existenz. Denn davon war Emmy überzeugt, dass Hubert irgendwo weiterexistierte. Die Lähmung war zunächst stärker gewesen als die Angst. Anstatt etwas zu unternehmen, das ihr eigenes Überleben sicherstellen konnte, hatte Emmy sich wochenlang im Schlafzimmer verkrochen, nur das Allernötigste eingekauft und auch das seltene Klingeln des Telefons ignoriert. Bis die Mitteilung der Bank gekommen war: keine weiteren Kontoüberziehungen mehr, den Dauerauftrag für die Miete könne man bedauerlicherweise nicht mehr ausführen, man erwarte sie zu einem persönlichen Gespräch. Da hatte die Angst wieder überhand genommen, ein Verlust der Wohnung schien undenkbar. Emmy hatte sich aufgerappelt, ihren einzigen Sparvertrag aufgelöst und die Lebensversicherung eingefordert, von der Hubert behauptet hatte, sie sei damit im Falle eines Falles gut versorgt. Davon allerdings konnte nun wirklich keine Rede sein, die Summe von etwas über vierzigtausend Euro stellte lediglich ein finanzielles Polster dar, das, bei sparsamer Lebensführung, geeignet war, die nächsten zwei, vielleicht auch drei Jahre zu überbrücken. Das eigentliche Erbe des bekannten Tierfilmers Hubert Hofer, der den Zusatz „Steiss“ im Nachnamen der Öffentlichkeit gerne vorenthalten hatte, würden andere antreten. Die Rechte an den Filmen und sein altes Bauernhaus im Allgäu gehörten jetzt den Töchtern aus Huberts erster Ehe. Emmy blieben die Erinnerungen, eine teure Mietwohnung im Speckgürtel von München und ein paar wunderschöne Bildbände, die das Ergebnis ihrer Arbeit als Fotografin während der gemeinsam unternommenen Reisen waren. Von Bildbänden aber, obendrein von solchen, die bereits teilweise vergriffen waren, konnte niemand leben, auch Emmy nicht. Also hatte sie versucht, in München und Umgebung Aufträge an Land zu ziehen, was aber, ohne Beziehungen, ein schwieriges Unterfangen war. Zum Schuljahresende das eine oder andere Klassenfoto, im Früh-
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jahr ein paar Hochzeiter am Ammersee, Tanzstundenabschlussbälle oder auch mal eine Weihnachtsfeier im Seniorenheim. Wer brauchte, im Zeitalter der knipsenden Telefone, noch eine Fotografin? Die niemals eine entsprechende Ausbildung gemacht hatte noch irgendwelche Zeugnisse vorweisen konnte? Kein Mensch, denn jede Privatperson konnte selbst knipsen, so viel sie wollte, bis etwas Passendes dabei war. Professionelle Auftraggeber dagegen bestanden auf Zeugnissen und Referenzen. Emmys finanzielles Polster schmolz dahin, die Angst wurde ihr zum ständigen Begleiter. In ihren schlimmsten Augenblicken wähnte sie sich bereits in einer Umschulung zur Altenpflegerin, denn nur dies schien heutzutage noch ein Beruf mit Perspektive zu sein. Nicht aber für Emmy, die nach Huberts Krankheit jedem Aufenthalt in Räumen, die einem Krankenhaus auch nur entfernt ähnelten, einen unüberwindbaren Widerwillen entgegenbrachte. Ihre Situation war also keineswegs als rosig zu bezeichnen, woran vermutlich auch der Brief, der sie zurück nach Stuttgart geführt hatte, nichts ändern würde. „Liebe Schwester“, hieß es darin, „ich bin kein großer Briefeschreiber, habe aber leider keine E-Mail-Adresse oder eine Telefonnummer von Dir. Ich kenne Dich ja auch kaum, aber ich habe sonst keine Verwandten. Ich brauche dringend Hilfe von jemand, auf dem ich mich verlassen kann. Ich bin nämlich krank und in Schwierigkeiten, und meiner Mutter geht es schlecht. Ich wäre froh, wenn Du bald kommen könntest. Falls Du kein Geld hast, zahle ich die Reise, wenn Du hier bist, auch die Unterkunft. Bitte melde Dich bei mir, Telefon und E-Mail siehe Briefkopf. Viele Grüße von Deinem Bruder Bernd“ Es hatte Emmy nach all den Jahren, in denen sie keinerlei Kontakt zu Bernd gehabt hatte, einige Überwindung gekostet, auf den Brief zu reagieren. Ausschlaggebend war schließlich die Bemerkung hinsichtlich des Zustands der Mutter, die ja nun zufällig auch die ihrige war, gewesen. Die fehlerhafte Anwendung des Dativs ebenso ignorierend wie den Umstand, dass – typisch Bernd – fast jeder Satz in diesem Brief mit „Ich“ begann, hatte sie eine Verabredung mit ihm getroffen. Nicht in dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht
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hatte und in dem die Mutter immer noch wohnte, sondern auf neutralem Boden. Bernd würde sie auf dem Henkersfest erwarten. ★★★ Eben dort, auf dem Wilhelmsplatz, der einstigen Richtstätte der Stadt Stuttgart, fanden sich zur selben Zeit Reiner und Gabi Emmerich ein. Es war dies so ziemlich das einzige der zahllosen Feste, die jeden Sommer in der Stuttgarter Innenstadt gefeiert wurden, zu dessen Besuch man Emmerich noch überreden konnte. Was in erster Linie daran lag, dass der Festplatz ebenso wie der Andrang des Publikums überschaubar waren. Die Beschaffung von Getränken ließ sich in einem zumutbaren Zeitraum ohne übermäßiges Schlangestehen bewältigen, schwäbisch ausgedrückt, hielt sich die „Drucketse“ in Grenzen. Hinzu kam, dass die Veranstalter einen besonderen Wert auf die Qualität der Beschallung zu legen schienen, hier gab es häufig Bands zu hören, die sich abseits der musikalisch ausgelatschten, oft allzu gefälligen Pfade bewegten. Wenn das Wetter also mitmachte, was es nicht in jedem Jahr, wohl aber in diesem, tat, ließ Emmerich sich gerne überreden, Gabi zu begleiten. Wie immer war sie mit Freundinnen verabredet, eine davon, Angelika, saß bereits unter einem der großen Partyschirme am Straßenrand und winkte. „Hier! Wir sitzen hier. Lutz ist auch da. Macht schon, ich kann den Tisch nicht mehr lange freihalten.“ Emmerichs setzten sich folgsam auf die freie Bierbank gegenüber, darauf bedacht, möglichst viel Platz einzunehmen, der dann den später Eintreffenden zur Verfügung gestellt werden konnte. Eine bewährte Taktik, die allerdings dem eigentlichen Charakter der ortsüblichen „Hocketse“ widersprach und Emmerich jedes Mal daran erinnerte, wie manche Leute in südlichen Gefilden mit Handtüchern die Liegestühle reservierten. Weil aber auch ein Kriminalhauptkommissar nicht dazu verpflichtet sein konnte, seine Handlungen stets strengsten moralischen Vorstellungen zu unter-
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werfen, schon gar nicht, wenn diese Handlungen in der Freizeit erfolgten, breitete Emmerich, in der Absicht, den Platz neben sich für seinen besten Freund freizuhalten, sorgfältig die leichte Regenjacke, die er sicherheitshalber mitgenommen hatte, über den leeren Rest der Bank, wandte sich an Angelika und fragte: „Wo ist Lutz?“ „Wo wird er sein? Du kennst ihn doch.“ Angelika zog eine Schnute. „Er wollte was zu trinken holen. Wahrscheinlich steht er vor der Bühne.“ „Dann geh ich auch mal …“ „Nein. Du bleibst. Bis ein paar Leute mehr hier sind. Ich warte nicht noch mal alleine.“ „Gabi ist doch bei dir.“ „Wir beide sind nicht dick genug für eine komplette Biergarnitur“, mischte Emmerichs Gemahlin sich praktisch ein. „Ach wirklich? Aber ich?“ „Du bist dicker“, stellten beide Damen unisono fest, Angelika fügte hinzu: „Es dauert bestimmt nicht lange.“ Zwanzig Minuten später trafen zwei weitere Frauen ein, die Emmerich vom Sehen kannte, er nickte Gabi zu, schnappte seine Jacke, machte sich auf in Richtung Bierstand und von dort zur Bühne. Unterwegs geriet er unversehens zwischen eine Gruppe junger Männer in quittengelben T-Shirts. „Oi, Alder“, johlte einer frohgemut, entwand ihm flugs seinen vollen Becher und reichte ihn dem Träger eines rosaroten Hasenkostüms. „Das hassu sicher für den Bräudigamm gekauft.“ „Sicher nicht“, widersprach Emmerich verblüfft, während er einigermaßen erstaunt zur Kenntnis nahm, dass die T-Shirts mit den Worten „Hasiputzis letzte Nacht in Freiheit“ sowie dem Bildnis eines traurigen Karnickels hinter Gittern bedruckt waren. „Geben Sie das sofort wieder her. Das ist ja wohl …“ „Lass mal“, unterbrach ihn von hinten, begleitet von einem freundschaftlichen Schulterklopfen, eine vertraute Stimme. Emme-
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rich fuhr herum und blickte verdutzt in das Gesicht seines Kollegen Mirko Frenzel. „Ach, du bist das“, raunzte er unerfreut. „Würdest du mir bitte erklären, was das soll?“ „Junggesellenabschied“, griente Frenzel freundlich. „In dem Kostüm steckt der Kollege …“ „Bräutigam“, fiel ihm Emmerich ins Wort. „Das hab ich schon verstanden. Und wer genau von unserer Truppe sich entblödet, in einem dermaßen dämlichen Aufzug in der Öffentlichkeit herumzulaufen, das will ich gar nicht wissen.“ „Macht man eben so. Heutzutage.“ Frenzel sah geduldig drein. „Ich ersetze dir das Bier.“ „Darum geht es nicht. Es geht um …“ Und wieder erhielt Emmerich aus heiterem Himmel einen Schlag auf die Schulter versetzt, diesmal allerdings keineswegs in freundschaftlicher Manier. Ein Mann mit kariertem Hemd und grüner Basecap schubste ihn ungebührlich grob zur Seite, rannte zur nahen Straßenkreuzung und von dort in Richtung Altstadt. Ihm folgte ein zweiter Mann in einem schwarzen Kapuzenpulli, der so etwas wie einen Strick über dem Kopf schwang. Emmerich brauchte zwei Sekunden, um wieder festen Stand zu finden. „Sakrament“, wandte er sich an Frenzel. „Ich muss schon sagen, komische Sitten habt ihr hier. Heutzutage. Mit einer Henkersschlinge in der Stadt herumzurennen …“ „Passt doch zum Fest, was willst du?“ Auch Mirko sah den Männern hinterher, die aber bereits so gut wie außer Sicht waren. „Die gehören nicht zu uns. Was ist jetzt mit dem Bier?“ „Betrachte es als Spende“, winkte Emmerich großzügig ab. „Ich hol mir ein frisches und geh meinen Kumpel suchen.“ ★★★ Emmy streifte auf der Suche nach Bernd ziellos über das Henkersfest. Sie erinnerte sich der Anfänge dieses Festes, einschließlich der
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Diskussionen, die der damals von vielen als anstößig empfundene Name ausgelöst hatte. Das mochte nun annähernd zwanzig Jahre her sein, fast so viele trennten sie von ihrer in Stuttgart verbrachten Jugend. Nahezu ebenso lange hatte sie Bernd nicht mehr gesehen, es war nicht anzunehmen, dass sie ihn unter dem feiernden Partyvolk ohne Weiteres erkennen würde. Er werde deshalb, hatte er angekündigt, eine grüne Mütze mit den Worten „Hells Kepfle“ in Lautschrift tragen. Was Emmy für einen Mann in dem Alter, das Bernd inzwischen erreicht haben musste, nicht nur etwas albern fand. Offenbar war es auch nicht gerade die zündende Idee eines wirklich hellen Kopfes gewesen, denn bislang war es ihr nicht gelungen, ihren Bruder anhand dieses besonders originellen Merkmals zu identifizieren. Genau genommen handelte es sich bei Bernd auch lediglich um ihren Halbbruder, er war das Kind aus Mutters Ehe, während sie sich eine ganze Kindheit lang als unerwünschter Bastard gefühlt hatte. Nicht, was die Mutter selbst anlangte, wohl aber den Rest der Familie Schlaicher, deren Name zwar auch einmal der ihre gewesen war, die sie aber stets hatte spüren lassen, dass sie nicht dazugehörte. Emmy war das Ergebnis einer sogenannten Mesalliance, einer äußerst kurzfristigen Verbindung, die ihre damals schon in den Vierzigern stehende Mutter in einem Anfall von Jugendwahn nach dem Ableben von Schlaicher senior mit einem Türken, Griechen oder Marokkaner eingegangen war – so jedenfalls hatte es in der Verwandtschaft, die ja eigentlich auch nicht die von Emmy war, geheißen. Sie dagegen wusste, dass er ein Jugoslawe gewesen war, Jossip mit Namen, mehr aber auch nicht. Kurz nach ihrer Geburt war dieser Jossip aus Mutters Leben wieder verschwunden, ob nach Serbien, Kroatien, Slowenien oder Montenegro wusste niemand. Über Emmys Herkunft wurde kein Wort mehr verloren, schon gar nicht von der Mutter, der die Affäre peinlich war. Es war daher kaum verwunderlich, dass Emmy, die mit Eintritt der Pubertät begonnen hatte, lästige Fragen zu stellen, sich zu einem recht aufsässigen Teenager entwickelte und ihr Verhältnis zur Familie, in dem der unbekannte Vater trotz Abwesenheit, oder vielleicht
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gerade deshalb, eine nicht unbedeutende Rolle spielte, ein gespanntes war. Dies galt nicht zuletzt auch für den siebzehn Jahre älteren Bruder, der alleine das Haus erben würde, in dem Emmy aufgewachsen war. Sie hatte es nie als Heim empfunden, eher wie ein Hotel, das zu verlassen man sie irgendwann zwingen würde. Bevor es so weit kommen konnte, war sie daher selbst gegangen und hatte einen großen Teil ihrer Jugend in Wohngemeinschaften und den damals angesagten Clubs der Stadt verbracht. Bis sie in einer warmen Sommernacht vor dem „Palast der Republik“ Hubert Steisshofer über den Weg gelaufen war und es sie, an seiner Seite, erst nach München und dann in die halbe Welt verschlagen hatte. Dass Hubert, nebenbei bemerkt, ebenfalls siebzehn Jahre älter gewesen war als sie, war ihr erst später bewusst geworden, spielte aber nun, da er tot war, keine Rolle mehr. Stattdessen also wieder Bernd. Mehrfach schon hatte sie nun seine Handynummer gewählt, außer einem Freizeichen aber nichts zu hören bekommen. Am verabredeten Treffpunkt rechts neben der Bühne war kein Mann mit grüner Schirmmütze aufgetaucht, auch keiner, der einem Bernd, wie sie ihn in Erinnerung hatte, irgendwie ähnlich sah. Unkonzentriert und einigermaßen ratlos lauschte Emmy der Band, bis Polizeisirenen für einige Minuten die Musik übertönten. Herumzustehen und zu warten, hatte so keinen Sinn, zudem war sie durstig. Emmy beschloss, ihren Posten zu verlassen und etwas zu trinken.
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2 „Hörst du?“, röhrte Lutz, im Duell mit einem fulminanten Gitarrensolo, gut gelaunt in das geneigte Ohr seines Freundes Emmerich. „Das Blaulicht? Deine Kollegen sind in der Nähe unterwegs.“ „Mir völlig wurscht. Bin außer Dienst.“ „Der Bassist ist gut, nicht wahr?“ Emmerich, dessen Aufmerksamkeit naturgemäß dem Schlagzeug galt, nickte beiläufig. „Ich würde allerdings“, trompetete Lutz mit fachmännischem Gesichtsausdruck, „keinen dieser Fünfsaiter benutzen.“ „Natürlich nicht“, stimmte Emmerich lauthals zu. „Du könntest ihn ja gar nicht spielen.“ Eine beleidigte kleine Weile lang hielt Lutz den Mund, wippte im Rhythmus mit dem Fuß und hörte zu, bevor er die Pause vor dem nächsten Stück nutzte: „Der Schlagzeuger kann mehr als du.“ „Das ist kein Kunststück“, räumte Emmerich gutmütig ein. „Schließlich ist er zwanzig Jahre jünger und im Training.“ „Wenn wir so eine Sängerin hätten …“ „Vergiss es.“ Emmerich beobachtete leidenschaftslos die gut gebaute, junge Frau, die in der Tat über ein beachtliches Stimmvolumen verfügte. „Auch die ist zwanzig Jahre jünger. Mindestens. Wir werden keine Rockstars mehr.“ „Leider“, entgegnete Lutz kleinlaut, reckte beim neuerlichen Ertönen eines Martinshorns den Kopf, spähte über die Menge hinweg und fügte hinzu: „Jetzt kommt auch noch ein Krankenwagen.“ „Geht mich nichts an. Wahrscheinlich Ärger in der Altstadt. Zum Wohl.“
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Sie prosteten sich zu. Auf der Bühne wurden die Instrumente gestimmt, ein Mann mit Kellnerschürze trat hinzu, gestikulierte und reichte der Sängerin einen Zettel. Die griff zum Mikrofon, verdrehte die Augen und erklärte gelangweilt: „Achtung, eine Durchsage. Gesucht wird Reiner Emmerich. Ich wiederhole, Reiner Emmerich. Falls er sich hier irgendwo aufhält … bitte so schnell wie möglich da unten an die Straßenkreuzung kommen. Ein Kollege braucht ihn.“ Die Basstrommel unterstützte ihre Worte mit drei dumpfen Schlägen. „Fertig, Jungs? Wir machen weiter. Two, three, four …“ „Scheißdreck“, brüllte Emmerich mit Inbrunst in das einsetzende Gitarrenriff hinein. ★★★ Inzwischen war es Nacht geworden. Emmy hatte eine Portion italienischer Vorspeisen vom Pappteller verdrückt, ein Wasser dazu getrunken, eine Zigarette geraucht und immer noch keine Spur von Bernd entdeckt. Längst stand sie wieder nahe bei der Bühne und überlegte, was zu tun war. Ein Hotel kam aus finanziellen Gründen nicht infrage. Nach Hause, zur Mutter, der es schlecht ging, zu fahren, hatte wohl ebenso keinen Sinn. Wobei es durchaus in ihrer Absicht gelegen hatte, ihr einen Besuch abzustatten, wo sie nun schon einmal da war. Allerdings erst am Tag darauf und schon gar nicht um diese Zeit. Die Aussicht, sich die Nacht in irgendwelchen Kneipen um die Ohren zu schlagen, konnte jedoch auch nicht als erfreulich bezeichnet werden. Ohne Bernd und die von ihm avisierte Unterkunft würde Emmy kaum etwas anderes übrig bleiben, als unverrichteter Dinge den Zug zurück nach München zu nehmen. Außer Spesen nichts gewesen, murmelte sie schlechter Laune vor sich hin. Selber schuld, ich hätt’s mir denken können, Bernd war und ist ein blöder Hund … „Emily?“ Vor ihr stand ein Unbekannter, ungefähr in ihrem Alter, in Jeans und T-Shirt, mit kleinem Ziegenbart, spärlicher Kopfbehaarung und
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einer dieser Brillen mit dickem, schwarzem Rand, die sich gegenwärtig, besonders bei Politikern, großer Beliebtheit erfreuten. Emmy sah ihn fragend an. „Du bist doch Emily?“, wiederholte der Unbekannte seine Frage. „Emily Schlaicher? Die mit mir auf dem Gymnasium war? Sag bloß, du kennst mich nicht mehr.“ „Äääh …“ „Micha. Michael Föhnfelder. Ich hab zwei Jahre in der gleichen Klasse eine Reihe hinter dir gesessen.“ „Jetzt echt?“ „Damals hatte ich noch eine andere Frisur.“ „Wirklich?“ „Na, klar. Ich hab dich ewig nicht mehr in der Stadt gesehen.“ „Ich wohn ja auch schon lange nicht mehr hier.“ Emmy versuchte, aus der Erinnerung heraus, ein jüngeres Gesicht auf das vorhandene ihres Gegenübers zu projizieren, was ihr aber nicht gelingen wollte. „Und Schlaicher heiße ich auch nicht mehr.“ „Du bist verheiratet?“ Allenfalls ein kleiner Schimmer der Enttäuschung war im Ausdruck des Unbekannten wahrzunehmen. „Verwitwet“, korrigierte Emmy, lediglich der Ordnung halber. „Ach du meine Güte“, entgegnete der fremde Micha mitleidig, aber unverkennbar erleichtert. „Das musst du mir erzählen. Komm, lass uns was trinken …“ „Ich weiß nicht“, wehrte Emmy ab. „Eigentlich bin ich schon wieder auf dem Rückweg. Mein Zug … ich sollte zum Bahnhof …“ „Quatsch mit Bahnhof. Zeit für einen Drink ist immer. Wo wir uns so lange nicht gesehen haben. Fahr doch später. Oder du bleibst noch über Nacht. Kannst bei mir pennen.“ Das Angebot ließ Emmy zögern. Eine Unterkunft umsonst eröffnete die Möglichkeit, wenigstens einen Teil ihrer Pläne am morgigen Samstag umzusetzen und noch nach der Mutter zu sehen, bevor sie die Rückreise antrat. Andererseits stand zu befürchten, dass für die Übernachtung trotzdem eine Entlohnung erwartet wurde, wenn auch nicht in Form von Geld.
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„Erinnerst du dich noch an Dr. Häfele?“, machte Emmy schließlich einen Versuch, die Identität des angeblichen Klassenkameraden zu überprüfen. „Chemie“, erwiderte der Ziegenbart wie aus der Pistole geschossen. „Als die Schießbaumwolle brannte. Ich hatte ein Loch in meinem nagelneuen Fanta-4-T-Shirt.“ Endlich formte sich in Emmys Kopf ein Bild. Das eines mageren Jünglings in viel zu großen Hosen, wie sie früher einmal modern gewesen waren. Einer, der eher zu den Unscheinbaren denn zu den Vorlauten gezählt und auf den Spitznamen „Föhni“ gehört hatte. Unter dem er in Emmys kopfinternem Speicher auch abgelegt war, weshalb bei „Micha“ keine Erinnerungen wach geworden waren. Unschlüssig sah sie auf ihre Armbanduhr, sie hatte keine Ahnung, wann ein Zug zurück nach München ging. „Jetzt komm schon“, forderte Micha energisch und griff nach ihrem Rucksack. „Ich hab Durst. Und keine Angst, ich tu dir nichts.“ ★★★ Wo die Hauptstätter Straße, einer Stadtautobahn gleich, am Wilhelmsplatz vorbeiführte, stand, nach wie vor im quittengelben Hemd, Mirko zwischen einem uniformierten Polizisten auf der einen und Gabi auf der anderen Seite. Schon von Weitem war zu sehen, dass die Gruppe in eine Diskussion verwickelt war, bei der der Polizist nur eine Nebenrolle spielte. Emmerich eilte hinzu und wandte sich an Mirko Frenzel. „Was ist los? Und gnade dir Gott, wenn’s nicht was wirklich Wichtiges ist.“ „Messerstecherei in der Weberstraße.“ Mirko deutete vage Richtung Altstadt. „Gleich da drüben. Sieht so aus, als hätten wir einen Toten.“ „Das mag so sein oder auch nicht“, erklärte Gabi mit Elan. „Reiner hat jedenfalls nichts damit zu tun.“
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„Bitte, Frau Emmerich. Ich kann doch nichts dafür, dass wir gerade in der Nähe sind.“ „Wen interessiert denn Nähe? Der Dienstplan zählt. Mein Mann hat frei.“ „Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber das gilt auch für mich. Trotzdem können wir nicht einfach …“ „Es kommt überhaupt nicht infrage, dass mein Mann …“ „Glauben Sie mir doch, es wird nicht lange dauern. Wir werden uns die Sache nur kurz ansehen. Zuerst mal sind die Kollegen vom KDD an der Reihe.“ „Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber den Reiner braucht da keiner.“ „Guter Spruch, den merke ich mir“, grinste Mirko und sah seinen Vorgesetzten an. „Jetzt sag doch auch mal was.“ „Was denn?“ Emmerich betrachtete Gabi unbehaglich, ihre Augen sprühten Blitze. „Mein Gott, sie ist doch nicht meine Frau“, nuschelte Mirko etwas undeutlich, aber nicht so, dass er nicht verstanden wurde. „Sie“, sagte Gabi und stampfte mit dem Fuß auf, „haben es bislang ja auch zu keiner Frau gebracht. Soweit ich weiß. Und wenn Sie so weitermachen, wird das auch nichts mehr.“ „Also ehrlich, Spatz.“ Emmerich legte einen Arm um die Schultern der erbosten Gattin. „Wir wollen nicht persönlich werden, oder? Mirko kann wirklich nichts dafür. Er tut nur seine Pflicht.“ „Ist doch wahr.“ Gabi wischte sich eine Zornesträne aus dem Augenwinkel. „Jedes Mal, wenn man sich einen schönen Abend machen will, muss irgendwas passieren.“ „Nicht jedes Mal“, widersprach Emmerich sanft. „Das gehört nun mal zu meinem Job. Stell dir vor, ich wäre Arzt …“ „Du bist keiner. Warum sollte ich mir so was vorstellen?“ „Wenn ich dir verspreche, dass es bestimmt nicht lange dauert? Du und deine Freundinnen … euch wird doch nicht langweilig …“ „Es geht nicht um mich. Du hast heute frei.“
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„Aber das wird vielleicht mein Fall. Deshalb würde ich schon gerne …“ „Weißt du was?“ Gabi zückte ein Taschentuch und putzte sich die Nase. „Mach doch, was du willst. Ich warte jedenfalls nicht auf dich.“ „Musst du nicht.“ „Dann ist’s ja gut.“ „Spatz.“ Emmerich zog sie an sich. „Ich will keinen Streit mit dir.“ Gabi steckte das Taschentuch wieder ein, sah ihn für den Bruchteil einer Sekunde so trotzig an, als sei sie nicht etwas über fünfzig, sondern etwas über fünf und drückte ihm einen schnellen Kuss ins Gesicht. „Wir haben keinen Streit“, sagte sie leise. „Das Leben ist zu kurz dafür.“
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3 Der Polizist ging voraus, Emmerich und Frenzel hinterher. Die Weberstraße verdiente ihren Namen nicht, es handelte sich mehr um eine Gasse, eine der wenigen in der Stadt, die von den Bomben des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben waren. Wo es hineinging, in die Gasse, war schon von Weitem ein kleiner Pulk von Schaulustigen zu sehen, die sich um einen oder vielleicht auch zwei Streifenwagen herum versammelt hatten. „Und du willst ernsthaft in diesem T-Shirt vor all die Leute treten?“, wollte Emmerich wissen, während sie sich der Gruppe näherten. „Was soll ich machen?“ Mirko zuckte die Schultern. „Ich hab kein anderes dabei.“ „Du kannst es umdrehen“ „Wie? Mit dem Bild nach hinten?“ „Nein. Links herum.“ „Die Nähte außen? Glaubst du, das sieht besser aus?“ „Alles sieht besser aus als ein Kaninchen hinter Gittern.“ Der Pulk war erreicht, sie drängten sich hindurch bis zum bereits von den Kollegen abgesperrten Bereich. Viel zu sehen gab es nicht, auf dem Pflaster lag ein regungsloser Körper unter einer Decke, daneben standen zwei Sanitäter im Gespräch mit einem Notarzt und einem Polizisten. Dahinter zwei weitere Kollegen, die einen aufgeregten, kleinen Mann zu beruhigen versuchten, sowie ein zweites Absperrband, das die Neugierigen auf der gegenüberliegenden Seite zurückhielt. Emmerich und Frenzel betraten den Schauplatz des Geschehens. „Nichts mehr zu machen“, sagte der Notarzt, nachdem man sich mit knappen Worten gegenseitig vorgestellt hatte. „Mehrere
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Messerstiche, die auf den ersten Blick nicht tödlich aussehen. Trotzdem … tut mir leid. Sie werden den Mann ja sicher obduzieren lassen.“ „Sicher“, bestätigte Emmerich. „Sonst noch etwas, das ich wissen müsste?“ „Nicht von meiner Seite. Wir würden gerne weiter. Ist viel los, heute Nacht.“ „Wir halten Sie nicht auf.“ Emmerich wandte sich an einen der Kollegen. „Der KDD ist informiert?“ „Müsste jeden Augenblick da sein“, nickte der Polizist. „Hoffentlich. Wir haben alle Hände voll damit zu tun, die Leute abzuwimmeln.“ „Wann ist das Ganze denn passiert?“ „Ist höchstens eine halbe Stunde her. Schätze ich mal.“ „Wer hat euch gerufen?“ „Weiß ich gar nicht. Hören Sie, bitte …“ Der Polizist eilte zum gegenüberliegenden Absperrband, wo eine gepflegte Dame im Rentenalter versuchte, unter dem Band hindurchzuschlüpfen. „Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie können hier im Moment nicht durch.“ „Das will ich gar nicht“, erklärte die Dame resolut, ohne sich von ihrer Absicht abhalten zu lassen. „Durch. Ich will hinein. In dieses Haus da. Wir haben hier eine Veranstaltung. Die anderen sind alle drinnen.“ „Es tut mir leid …“ „Und ich muss aufs Klo. Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt. Sie können eine Seniorin in meinem Alter nicht davon abhalten, aufs Klo zu gehen. Das ist Diskriminierung. Ich werde mich beschweren. Ich weiß nur noch nicht wo.“ Emmerich sah die Frau an und darauf das Haus, auf das sie zeigte. Es handelte sich um ein liebevoll restauriertes, mittelalterliches Bauwerk, das sich wohltuend von seinen etwas heruntergekommenen Nachbarn unterschied. Aus den Fenstern im Erdgeschoss starrte neugierig eine unbestimmte Anzahl weiterer Senioren.
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„Oh, du lieber Gott“, stöhnte Frenzel an seiner Seite leise. „Wenn das alles Zeugen sind …“ „Durchlassen“, entschied Emmerich energisch. „Aber nur sie. Du gehst mit ihr rein und fragst, ob die Leute drinnen etwas von dem Vorfall mitbekommen haben. Wer ist der aufgeregte Herr da drüben?“ „Ein Zeuge“, erklärte der Polizist, während Mirko die gepflegte Dame zuvorkommend in das gepflegte Haus geleitete. „Behauptet, alles aus nächster Nähe beobachtet zu haben. Wenn ich es recht verstanden habe.“ Dort, wo Emmerich und Frenzel hergekommen waren, geriet die Menge in Bewegung und wurde schließlich abgedrängt, um einem Bus des Kriminaldauerdienstes Platz zu machen. Polizist und Kommissar seufzten erleichtert auf angesichts der eintreffenden Verstärkung. „Seht zu, dass ihr von möglichst vielen Leuten hier die Personalien kriegt, bevor sie sich verdünnisieren“, wies Emmerich den Polizisten an. „Ich schaue mal, was der Herr zu sagen hat.“ „Geht klar“, entgegnete der Kollege. Emmerich ging ein paar Schritte weiter. Es handelte sich um die Sorte Tatort, die er von allen am wenigsten schätzte. Theoretisch hätte man für jeden glotzenden Passanten einen Beamten gebraucht, um festzustellen, wie lange sich dieser Passant bereits in der Nähe aufhielt. Praktisch war dies unmöglich, selbst wenn der Täter sich noch unter den Neugierigen befand. Was, nach Emmerichs Erfahrung, durchaus im Bereich des Möglichen lag. Tatorte mit weniger Öffentlichkeit waren eindeutig zu bevorzugen, man konnte sich die Dinge aber, wie so oft im Leben, nicht aussuchen. „Wen haben wir hier?“, fragte er also die Kollegen, die den erregten kleinen Mann in Schach hielten. „Das ist Herr …“ „Günlay. Yavuz Günlay“, erklärte temperamentvoll der kleine Mann, der trotz sommerlicher Hitze korrekt in Anzug und Krawatte daherkam. „Ich alles hab gesehen. Alles. Sind Sie der Kommissar?“
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„Bin ich“, bestätigte Emmerich jovial. „Was haben Sie gesehen?“ „Alles. Die Mord. Die Mörder …“ „Es waren mehrere?“ „Nix mehrere. Eine Mann. Eine Mörder. Eine Messer. Mann hat gerufen ,Arscheloche. Riesenarscheloche. Ich dir geben. Ich dir zeigen. Ich dein Henker‘.“ Herr Günlay hielt kurz inne, bevor er mit Nachdruck hinzusetzte: „Henker! Sie verstehen? Von Fest.“ „Nein“, entgegnete Emmerich freundlich und löste behutsam Herrn Günlays Hand vom Ärmel seiner Regenjacke, die im Begriff war, sich dort festzukrallen. „Noch einmal von vorn und bitte langsam.“ „Der Zeuge glaubt“, versuchte der jüngere der beiden uniformierten Kollegen zu erklären, „dass die beiden Männer, Täter und Opfer, von da drüben kamen. Dort steigt eine Party namens Henkersfest.“ Emmerich registrierte nur nebenbei, dass man ihm offenbar, aufgrund seines fortgeschrittenen Alters vermutlich, die Kenntnis derartiger Festivitäten nicht mehr zutraute. „Wie sah der Mörder aus?“, stellte er, ohne auf die Bemerkung einzugehen, die Frage, deren Antwort ihm am dringlichsten zu sein schien. „Schwarze Mann“, erwiderte Herr Günlay prompt. „Ein Farbiger?“ „Nix farbig. Schwarze Pulli. Mit Kapuze.“ „Haben Sie sein Gesicht gesehen?“ „Nix gesehen. Kapuze groß. Hat gestochen zweimal, dreimal. Diese Mann …“ – Herr Günlay wies auf den regungslosen Körper – „… ist gefallen hin. Wieder gestochen. Dann Seil um Kopf. Und weg.“ „Weg? Wohin?“ Herr Günlay zeigte dorthin, wo die Weberstraße weiter in die Stuttgarter Altstadt und hinein ins Rotlichtviertel führte. „Ich alles hab gesehen. Wie hoch ist Belohnung?“ „Davon kann keine Rede sein“, wehrte Emmerich die Ansprüche des Zeugen ab und wandte sich an den Kollegen. „Sehen Sie zu,
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dass wir eine ordentliche Aussage von ihm bekommen. Und klären Sie ihn über seine Pflichten als Staatsbürger auf.“ „Ich nix Deutscher“, insistierte Günlay sofort fuchtelnd. „Aber Bürger“, gab Emmerich bestimmt und abschließend zurück, während er bemerkte, dass Mirko aus der Tür des restaurierten Hauses getreten war. Er winkte ihn heran, näherte sich dem Körper und hob vorsichtig die Decke dort, wo der Kopf des Toten vermutet werden durfte. Ein vielstimmiges Raunen der Schaulustigen begleitete sein Tun. Unübersehbar war das von Günlay erwähnte Seil, das in Form einer Henkersschlinge locker um den Hals des Toten hing. Die grüne Kappe hatte ihm jemand so übers Gesicht gelegt, dass es nicht zu erkennen war. „Herrgottsack, verdammt noch mal“, fluchte Emmerich so leise, dass nur Mirko ihn verstehen konnte. „Es ist der Typ, der mich vorhin ums Haar umgerannt hat.“ „Mmmhh“, machte Mirko zustimmend, aber wenig aussagekräftig. „Wir hätten den Täter aufhalten können. Er war keine fünf Zentimeter weit von uns entfernt.“ „Mmmhh“, nickte Mirko ein zweites Mal. „Wir haben’s aber nicht getan.“ In einer Tasche des Toten klingelte ein Handy. ★★★ „Er geht immer noch nicht ran.“ Emmy Steisshofer schob ihr Telefon zurück in die Jackentasche. „Was soll ich denn jetzt tun?“ „Hab ich dir doch gesagt.“ Micha, der mittlerweile Ziegenbärtige, der seinen alten Spitznamen nicht mehr ausgesprochen wissen wollte, lächelte munter. „Du kannst mein Sofa nehmen. Vorher ziehen wir noch ein paar Runden um die Häuser …“ „Welche Häuser? Gibt’s denn die ganzen alten Läden noch? ,Die Röhre‘? ,Das Unbekannte Tier‘?“
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„Es gibt andere. Am Hans-im-Glück-Brunnen zum Beispiel. Da kann man sich auch besser unterhalten.“ Emmy unterdrückte mit Mühe ein herzhaftes Gähnen. Sie hatte Micha bei einem Caipirinha in dürren Worten den Verlauf ihres bisherigen Lebens sowie die momentane Situation geschildert. Natürlich immer in der Hoffnung, dass sich an dieser Situation in naher Zukunft etwas ändern würde. Im Gegenzug war ihr ein annähernd einstündiger Vortrag betreffend die Karriere des einstigen Schulkameraden zuteil geworden, die sich offenbar in erster Linie dadurch auszeichnete, keine zu sein. Als DJ fühle er sich mittlerweile etwas zu alt, hatte Micha ihr gestanden, er mache das nur noch in Ausnahmefällen. Die Medienbranche sei wohl interessant, leider aber völlig überlaufen. Sein nächstes Projekt werde voraussichtlich irgendwas mit Kochen und Veranstaltungen sein. Was Emmy davon halte? Und ob sie wohl Interesse habe, mitzumachen? Nein, das hatte Emmy nicht, auch wenn sie dies vorerst für sich behielt, um nicht den Verlust des in Aussicht gestellten Nachtlagers zu riskieren. Welchen Sinn sollte es haben, eine ungewisse Zukunft in München gegen eine noch ungewissere in Stuttgart zu vertauschen? Hier hatte sie nicht einmal eine Wohnung. Auch wenn er allem Anschein nach nicht auf ein Abenteuer aus, sondern eher auf der Suche nach einer Geldgeberin war, kam Michas Sofa allenfalls für diese eine Nacht infrage. Nur dass ihr nicht der Sinn danach stand, sich vorher noch stundenlang herumzutreiben. „Sag bloß nicht, dass du müde bist.“ Micha drohte ihr schelmisch mit dem Zeigefinger. „Doch“, sagte Emmy, diesmal ihr Gähnen hinter der vorgehaltenen Hand verbergend. „Hundemüde. Ich bin seit heute früh um sieben auf den Füßen.“ „Na, dann.“ Überraschenderweise brachte Micha keine weiteren Einwendungen vor. „Ich hab noch Bier zu Hause. Es ist nicht weit. Wir können laufen.“ ★★★
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Das öffentliche Interesse hatte nachgelassen, nachdem der Tatort mit aufgespannten Folien vor den Blicken der Schaulustigen verborgen worden war. Zwischen den Folien ging die Spurensicherung routiniert ihrer Arbeit nach, für Emmerich und Frenzel, die sich zunächst an der Suche nach weiteren Zeugen unter den herumstehenden Passanten beteiligt hatten, gab es wenig zu tun. „Geh zurück aufs Fest“, sagte Mirko irgendwann. „Deine Gabi freut sich. Ich komme hier alleine klar.“ „Meinst du? Was ist mit deinem Junggesellenabschied?“ „Die sind inzwischen sicher blau und über alle Berge.“ „Tut mir leid für dich.“ „Mir nicht.“ Mirko sah für einen Augenblick versonnen drein. „Ich mag keine Junggesellenabschiede.“ Bevor Emmerich etwas erwidern konnte, fiel ihm nicht nur Gabis Bemerkung hinsichtlich der nicht vorhandenen Partnerin des Jüngeren ein, gleichzeitig öffnete sich auch neben ihm die Tür des restaurierten Hauses. Er verzichtete auf eine Antwort und sah stattdessen fragend die gepflegte Dame an, der er zuvor den Durchgang gestattet hatte. „Ich wollte mich nur erkundigen“, sagte die liebenswürdig, sorgfältig darauf bedacht, jeden Blick in Richtung des Toten zu vermeiden, „wann wir hier herausdürfen? Unter diesen Umständen können wir uns leider keinen Vortrag über die Geologie der Schwäbischen Alb anhören.“ „Verständlich“, meinte Emmerich, sich lediglich für den Bruchteil einer Sekunde fragend, ob er selbst überhaupt in der Lage wäre, Derartiges durchzustehen, egal unter welchen Umständen. „Ich frage mal. Vielleicht, wenn Sie hintereinander an der Wand entlanggehen.“ Wenig später kam er mit einem positiven Bescheid zurück. Woraufhin sich im Gänsemarsch eine kleine Kolonne von knapp zwanzig Personen im letzten Lebensdrittel hastig in Richtung des Absperrbandes in Bewegung setzte, die gepflegte Dame gleich zu Anfang, während ein Mann in beigen Hosen und leichter Strickjacke den Abschluss bildete. Emmerich schätzte ihn auf etwas über
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siebzig. Neben dem Leichnam, der gerade unbedeckt von einem Fotografen aus verschiedenen Positionen abgelichtet wurde, blieb der Mann stehen. „Sie“, sagte er ungerührt und winkte Emmerich. „Ich glaub, den kenne ich.“ „Im Ernst?“ „Wohlgemerkt“, sagte der Mann bedächtig. „Ganz sicher bin ich nicht. Aber, wenn mich nicht alles täuscht, ist das der Junge von Frau Schlaicher.“ „Und wer ist …“ „Müssen wir das hier besprechen?“ „Nein. Entschuldigen Sie, das müssen wir natürlich nicht. Wir können gerne ein paar Meter weiter gehen.“ Der Mann jedoch runzelte die Stirn und sah hinter der sich zügig entfernenden Kolonne her. „Meine Mitfahrgelegenheit“, wehrte er entschuldigend Emmerichs Ansinnen ab. „Darauf bin ich angewiesen. Ich kann jetzt nicht bleiben. Hier …“ Etwas umständlich wurde eine Börse aus der Gesäßtasche der beigen Hose gezogen, eine Visitenkarte daraus entnommen und Emmerich überreicht. „Rufen Sie mich an. Von mir aus auch am Samstag. Oder Sonntag. Für mich sind alle Tage gleich. Am besten um die Mittagszeit.“ „Herr … Kröhl?“, vergewisserte sich Emmerich, das Kärtchen so entziffernd, wie er es eben ohne seine Lesehilfe in der schlecht beleuchteten Gasse vermochte. „Pröhl“, verbesserte der Mann. „Klaus Friedrich Pröhl. Meine Mutter heißt Adelheid.“ „Ach was?“ „Die ist befreundet mit Frau Schlaicher. Aber das erkläre ich Ihnen dann. Jetzt muss ich wirklich …“
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4 Emmy erwachte nach einer wenig komfortabel verbrachten Nacht mit schmerzendem Rücken. Das Sofa in Michas kleiner Junggesellenwohnung hatte lediglich ein Liegen mit angezogenen Knien gestattet, die hygienischen Verhältnisse im Apartment konnten insgesamt als zweifelhaft bezeichnet werden. Micha selbst schnarchte nach dem Genuss mehrerer Biere und einer halben Flasche Magenbitter vernehmlich hinter der geschlossenen Schlafzimmertür. Ein Zustand, an dem Emmy nicht vorhatte, aus eigener Initiative heraus etwas zu ändern. Ihr erster Blick galt, in der Hoffnung, eine Nachricht von Bernd vorzufinden, dem Handy. Nichts dergleichen war der Fall, stattdessen entdeckte sie den Anruf einer fremden Nummer mit Stuttgarter Vorwahl und außerdem, dass der Akku so gut wie leer war. Emmy kramte das Netzteil aus ihrem Rucksack, verband es mit dem Telefon und der nächstliegenden Steckdose, bevor sie sich an die Erkundung von Bad und Küche machte. Eine Dusche zu nehmen, schien angesichts eines einzigen vorhandenen Handtuchs mit deutlichen Gebrauchsspuren wenig empfehlenswert, die Kaffeemaschine dagegen setzte sie nach mehrfachem Ausspülen der Kanne in Betrieb. Im Kühlschrank entdeckte sie Brot, Margarine und ein halb volles Glas Brombeermarmelade. Kein opulentes Frühstück zwar, aber doch besser als nichts und vor allem kostenfrei. Zwei Brote und eine Tasse Kaffee später überlegte sie, was als Nächstes wohl zu tun sein mochte. Nicht warten, bis Micha erwachte jedenfalls, um ihr weitere, viel versprechende Geschäftsmodelle vorzutragen. Sie hatten noch ein, zwei nette Stunden miteinander verbracht, vorwiegend mit dem Austausch alter Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Schulzeit und dem wechselseitigen Beklagen der gegenwärtigen individuellen Wirtschaftslage, bis Emmy
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irgendwann die Augen zugefallen waren. Aller zweifellos vorhandenen gegenseitigen Sympathie zum Trotz sah sie sich außerstande, mit Micha wahlweise eine Kneipe zu eröffnen, einen Suppen- und Sandwichlieferservice zu gründen oder ihren Lebensunterhalt durch Haushaltsauflösungen und das anschließende Beschicken von Flohmärkten zu bestreiten. Sang- und klanglos zu verschwinden, gehörte sich natürlich auch nicht, also suchte sie nach einem Stift und notierte ein paar Dankesworte samt ihrer Handynummer auf einem herumliegenden, gebrauchten Briefumschlag. Der Akku erwies sich auch nach einer guten halben Stunde als nur knapp gefüllt, weshalb Emmy vorerst darauf verzichtete, die fremde Nummer zurückzurufen. Sie schüttelte die Sofakissen, entdeckte dabei eine gebrauchte Herrenunterhose, die sich zweifellos die ganze Nacht unter ihrem Kopf befunden haben musste, faltete die geliehene Fleecedecke ordentlich zusammen, legte den Umschlag darauf und verließ wenig später auf Zehenspitzen Michas Wohnung. Drei Stockwerke tiefer gelangte sie auf eine ihr unbekannte Straße, sie hatte in der vergangenen Nacht nicht darauf geachtet, wo genau Micha sie eigentlich hingeführt hatte. Die Länge des gemeinsam zurückgelegten Weges allerdings hatte höchstens zwanzig Minuten betragen. Emmy wandte sich daher instinktiv bergab, wo gemäß der Topografie der Stadt das Zentrum vermutet werden durfte. Ihre nächste Anlaufstelle sollte notgedrungen das Haus ihrer Kindheit sein, sie konnte nur hoffen, Bernd oder die Mutter dort anzutreffen. Emmy lief, bis sie an einer Ampel ein freies Taxi entdeckte, und ließ sich in die Neue Weinsteige fahren. ★★★ Der Samstag war sonnig und damit vom Charakter her geeignet für einen der Ausflüge, die Emmerichs sich vorgenommen hatten, in Zukunft öfter zu unternehmen. Einfach so, um dem Leben wieder etwas mehr Schwung zu verleihen. Man wohnte vielleicht nicht mehr so schön wie früher − mit der Bahnhofsbaustelle direkt vor
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dem Haus. Dafür aber immer noch nicht allzu weit entfernt von allerlei Naherholungsgebieten, einem zoologisch-botanischen Garten von internationalem Ruf und zahlreichen Museen. Emmerich jedoch verspürte ein unbestimmtes Gefühl von Diensteifer und sah als Erstes sowohl auf dem Anrufbeantworter als auch auf seinem Handy nach, ob sich eine Nachricht von Frenzel darauf fände. Weder noch, wusste er wenig später, nicht aber, ob ihm dies nun recht oder unrecht sein sollte. Er hatte, nachdem er am gestrigen Abend Mirko das Feld überlassen hatte, insgesamt noch eine ziemlich vergnügliche Zeit mit Gabi, Angelika und Lutz verbracht, sich nach der Rückkehr auf dem heimischen Sofa ein weiteres Weizenbier einverleibt, den Wecker nicht gestellt und gut geschlafen. Ausgeruht bereitete er das gemeinsame Frühstück vor, während ihn wegen dieses Wohlbefindens bereits das schlechte Gewissen plagte. Was, wenn Mirko sich die Nacht um die Ohren geschlagen, womöglich bereits erste Ermittlungen eingeleitet oder, schlimmer noch, ohne seine Beteiligung den Chef informiert hatte? Nun, redete Emmerich sich selbst gut zu, während er Tassen und Teller ins Wohnzimmer trug, das ist kaum zu befürchten. Den Chef am Sonntag zu erreichen, traut sich niemand, der es nicht dringend muss. Zum Ermitteln brauchen wir Anhaltspunkte und Ergebnisse des KDD. Mirko ist kein Anfänger, ich kenne ihn schließlich lang genug … „Morgen, Hasi.“ Im Nachthemd, mit verwuschelten Haaren, sah Gabi auch nach mehr als zwanzig Jahren Ehe einfach bezaubernd aus, zumindest fand dies Emmerich. „Morgen, Spatz“, grüßte er daher, einen Handkuss andeutend, zurück. „Frühstück ist gleich fertig.“ „Herrlich.“ Gabi streckte die Arme in die Höhe und gähnte herzhaft. „Bist du im Dienst?“ „Ich weiß es nicht.“ „Glaubst du, du könntest es herausfinden?“ „Vermutlich sollte ich das, was?“ „Ist nur so eine Idee von mir.“ Gabi setzte sich an den gedeckten Tisch. „Man könnte dann ein wenig besser planen, weißt du.“
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„Planen? Was denn?“ Zum unbestimmten Diensteifer gesellte sich ein ebenso unbestimmter Widerwille, Emmerich war nicht geneigt, sich das Frühstück mit seiner Frau verderben zu lassen. „Wollten wir heute irgendwo hinfahren?“ Statt einer Antwort bedachte Gabi ihn mit einem verschlafenen, einerseits durchaus liebenswürdigen, anderseits aber auch etwas rätselhaften Blick. „Wir zwei fahren irgendwo hin“, begann sie leise zu summen. „Wo ich ganz allein mit dir bin … Wer hat das gesungen?“ „Meine Güte“, entgegnete Emmerich erstaunt. „Woher soll ich das wissen? Keine Ahnung. Was dir immer einfällt …“ „Cindy und Bert?“ „Bert ist tot.“ „Ich weiß. Chris Roberts?“ „Peter Rubin“, vermutete Emmerich, dessen musikalischer Geschmack sich kaum an Schlagern aus den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts orientierte, wenngleich er natürlich trotzdem die meisten davon kannte, bestimmt. „Aber was hat das mit deinen Plänen für den Tag zu tun?“ „Immer wieder sonntags“, trällerte Gabi unbeeindruckt vor sich hin, „kommt die Erinnerung. Jabbadabbadappdapp. Dapp Dapp.“ „Schön, dass du so gute Laune hast.“ „Das ist von Cindy und Bert. Ich bin ganz sicher.“ Gabi konzentrierte sich nun auf das Streichen eines Honigbrötchens und hielt den Blick hartnäckig gesenkt. „Du versuchst, mir etwas Unangenehmes schmackhaft zu machen“, argwöhnte Emmerich misstrauisch. „Was haben wir letzten Sonntag gemacht?“ „Bei deiner Mutter den Keller aufgeräumt.“ „Richtig.“ Gabi lächelte erfreut und sah ihn nun auch wieder an. „Heute wäre der Dachboden dran.“ „Erst muss ich ein paar Telefonate führen“, erklärte Emmerich, machte ein pflichtbewusstes Gesicht und zog das Handy aus der Tasche seines Morgenmantels. Die Nummer des Strickjackenträgers
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hatte er sich, aus Furcht, die Visitenkarte im Trubel des Straßenfestes zu verlieren, noch am gestrigen Abend eingespeichert. Wenig später lauschte er dem Freizeichen, das bald von einer jugendlichen Stimme abgelöst wurde: „Hallo?“ „Kriminalhauptkommissar Emmerich. Ich hätte gern Herrn Pröhl gesprochen.“ „Den Opa?“ „Klaus Friedrich Pröhl.“ „Moment.“ Minuten später erwog Emmerich gerade, ob man ihn vielleicht vergessen hatte, als der alte Herr sich meldete. „Sie müssen mich entschuldigen“, bat er etwas außer Atem. „Meine Tochter ist mit den Kindern zu Besuch.“ „Das macht gar nichts“, antwortete Emmerich generös. „Ich rufe an wegen …“ „Gestern Abend, weiß schon. Ich bin nämlich im Kopf noch völlig klar. Genau wie meine Mutter.“ „Eben. Sie sagten ja …“ „Meine Mutter ist sechsundneunzig Jahre alt.“ Herr Pröhl hielt inne, um die Information auf seinen Gesprächspartner wirken zu lassen. Es hörte sich so an, als betrachte er allein diese Tatsache als seinen ganz persönlichen Verdienst. „Sehr schön“, fühlte Emmerich sich gefordert, einzuwerfen. „Leider“, fuhr Herr Pröhl unbeeindruckt fort, „ist sie nicht mehr so mobil wie früher. Aber im Kopf noch völlig klar.“ „Das erwähnten Sie bereits.“ „Meine Mutter wohnt in einem sehr exklusiven Senioreninstitut. Ich hätte sie natürlich gerne hier behalten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nur bin ich auch nicht mehr so mobil wie früher.“ „Ich verstehe Sie sehr gut. Sie sind nicht mehr der Jüngste.“ „Ich gehe schwimmen“, äußerte Herr Pröhl mit vorwurfsvollem Unterton. „Ich mache Nordic Walking. Trotzdem lassen meine Kräfte nach.“
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„Das tut mir leid, aber ich wollte eigentlich …“ „Ich rauche nicht, und ich ernähre mich gesund. Und im Kopf bin ich …“ „ … noch völlig klar, Sie sagten es“, unterbrach Emmerich in der Hoffnung, Herrn Pröhl von seinem Gesundheitszustand abzulenken. „Es geht mir jetzt auch mehr um die Frau Schlaicher. Von der Sie gestern sprachen.“ „Meine Mutter“, sagte Herr Pröhl pikiert, „kann sich das leisten. Dieses Institut. Nettes Personal und interessante Mitbewohnerinnen. Ich hab mir selbst schon überlegt, ob ich nicht auf meine alten Tage … ich wäre allerdings der einzige Herr … bislang wohnen dort nur Damen …“ „Auch Frau Schlaicher?“, versuchte Emmerich die Sache behutsam zu beschleunigen. Eine Erörterung des Umstands, dass hochbetagte Herren unter ebensolchen Damen aufgrund der unterschiedlichen Lebenserwartungen recht selten anzutreffen waren, wollte er vermeiden. „Wie? Ach so. Ja, die Frau Schlaicher … die macht uns in letzter Zeit ein wenig Sorgen.“ „Uns?“ „Meiner Mutter. Frau Schlaicher ist nämlich um einiges jünger als sie. Also höchstens achtzig. Mutter meint, es wäre …“ „Sie vermuteten, der tote Mann von gestern Abend wäre der … Junge von Frau Schlaicher“, zitierte Emmerich seinen Gesprächspartner kurz entschlossen. „Junge“ schien ihm in diesem Zusammenhang ohnehin das falsche Wort zu sein, das Opfer des Messerstechers war in seinem eigenen Alter gewesen. „Richtig“, bestätigte Herr Pröhl nach einer kurzen Pause des Nachdenkens. „Jetzt, wo Sie es sagen … ich erinnere mich. Ein toter Mann, der aussah wie der Sohn von Lisbeth Schlaicher. Bert. Soweit ich weiß. Vielleicht auch Bernd.“ „Sind Sie sicher?“ „Hrm, hrm, hrrmmhh“, räusperte sich Pröhl, bevor er hörbar Atem holte. „Also sicher bin ich mir natürlich nicht. Ich kenne Bert
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von den Besuchen bei meiner Mutter. Es gibt einen Gesellschaftraum. Im Senioreninstitut. Meine Mutter nimmt dort gerne ihren Kaffee. Es ist netter als im Zimmer, sagt sie. Weil man da Gesellschaft hat. Oft sind auch Angehörige zu Besuch. Neulich, zum Beispiel, eine Dame, die …“ Im Flur klingelte das Telefon. Emmerich sah auffordernd Gabi an, die wenig begeistert dreinsah, aber dennoch hinausging. „Frenzel“, vermeldete sie wenig später und hielt Emmerich den Hörer hin. „Sekunde“, entgegnete der augenrollend, während sich der Pröhl’sche Monolog weiter munter in sein Ohr ergoss. „ … sogar in Peru ist sie gewesen. Das würde mich ja nun auch mal reizen, ich …“ „Entschuldigen Sie bitte, ich muss auflegen. Wo genau ist dieses Institut?“ „Neue Weinsteige. So warten Sie doch, ich bin gleich zu Ende.“ „Hat es einen Namen?“ „Vogelgarten. Lassen Sie mich nur noch kurz erzählen, wie …“ „Vielen Dank, Herr Pröhl, und guten Tag.“ Emmerich unterbrach die Verbindung resolut, schaltete das Handy aus und nahm den Festnetzapparat. „Mirko. Ich hab schon versucht, dich anzurufen.“ „Hab’s gesehen.“ Frenzel berichtete in angenehm knappen Worten, bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung und deshalb vorübergehend nicht erreichbar gewesen zu sein. „Ergebnis?“ „Drei Stichwunden im oberen Bereich des Rückens. Alle nicht besonders tief und damit auch nicht tödlich. Gestorben ist der Mann an einem Herzinfarkt.“ „Und was glaubst du, sollten wir jetzt tun?“ „Davon ausgehen, dass es sich um eine Körperverletzung mit Todesfolge handelt“, schlug Frenzel vor. „Das fällt in unseren Zuständigkeitsbereich.“
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„Rechtfertigt aber kaum die Einrichtung einer Sonderkommission.“ „Nein, das glaub ich auch nicht. Es reicht, wenn wir uns am Montag im Büro besprechen. Du kannst dir ein ruhiges Wochenende machen.“ Emmerich füllte heißen Tee in seine Tasse, pustete und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. Gabi war längst aufgestanden, um sich anzuziehen. Von einem ruhigen Wochenende konnte keine Rede sein, solange der Dachboden der Schwiegermutter drohte. Emmerich kannte diesen Dachboden, er beherbergte die gesammelten Antiquitäten der Familie seiner Frau aus den letzten drei Jahrzehnten. Es gab auch keinen Zweifel daran, dass man ihn räumen musste, diesen Dachboden. Insbesondere deshalb, weil Gabi entschlossen war, ihn mittels Ausbau baldigst in ein hübsches ZweiZimmer-Apartment für Jule zu verwandeln. Warum es aber seine Aufgabe sein sollte, sich ausgerechnet an einem der seltenen perfekten Sommertage mit den staubigen Relikten der Vergangenheit zu befassen, war nicht ohne Weiteres einzusehen. „Bist du noch dran?“, wollte Mirko wissen. „Ja, doch. Was ist mit der Identifizierung?“ „Wir sind noch nicht so weit. Abgesehen von ein paar Münzen und einem Prepaid-Handy hatte der Mann nichts bei sich. Nicht mal eine Jacke. Auf dem Handy hat jemand mehrmals angerufen und eine kurze SMS an den lieben Bernd geschickt. Eine gewisse Emmy. Ich habe versucht, diese Emmy zu erreichen. Hat aber bislang nicht geklappt. Da bleib ich dran. Vermissen tut den Mann noch niemand.“ „Bernd? Sagtest du Bernd?“ „Jawohl.“ „Was steht in der SMS?“ „Ich bin da. Wo bist du?“ „Sehr aussagekräftig“, meinte Emmerich, trank einen größeren Schluck vom mittlerweile abgekühlten Tee und dachte nach. „Hör zu“, sagte er sodann laut genug, dass Gabi ihn hören konnte. „Bitte
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prüfe, ob irgendwo ein Bernd mit Nachnamen Schlaicher gemeldet ist. Ich habe Grund zu der Annahme, dass es sich dabei um den Toten handelt.“ „Wie kommst du darauf?“ „Eine Zeugenaussage“, erklärte Emmerich und fügte etwas leiser hinzu: „Keine besonders zuverlässige, allerdings.“ „Wenn du meinst.“ „Ich dagegen“, verkündete Emmerich nun wieder deutlich, „gehe noch mal aufs Henkersfest. Der Mann war schließlich auf der Flucht, als wir ihn gesehen haben. Vielleicht hat er seine Jacke in der Eile dort vergessen. Vielleicht ist sie gefunden worden.“ „Gute Idee“, stimmte Mirko zu. „Obwohl wir für so was auch die Kollegen schicken könnten …“ „Das Personal ist knapp“, verkündete Emmerich bestimmt. „Wir telefonieren später wieder.“ Gabi hatte ihr Nachthemd gegen Shorts und Shirt getauscht, Emmerich hörte sie energisch an der Tür zu Jules Zimmer klopfen. Zwecks Entlastung seines Gewissens trug er das benutzte Geschirr mit Ausnahme des Gedecks für seine Tochter in die Küche. „Kein Dachboden?“, fragte Gabi knapp, als er sie, mit Porzellan beladen, im Flur passierte. „Später. Ich komme nach.“ „Na, klar.“ Es klang nicht so, als schenke sie ihm Glauben. „Du bist sauer.“ „Nein“, sagte Gabi, während hinter der Tür protestierende Geräusche laut wurden. „Ich nehme Jule mit. Du würdest sowieso im Weg herumstehen. Wir brauchen dich erst, wenn es darum geht, die alten Möbel hinunterzutragen.“
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5 Das Taxi hielt vor einer jener schönen, alten Villen, deren Errichtung sich auch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nur sehr vermögende Leute hatten leisten können. Bernds Vorfahren väterlicherseits mussten solche Leute gewesen sein. Die Mutter dagegen entstammte einfacheren Verhältnissen, hatte den eigenen Vater durch den Krieg verloren und so mit ihrer Tochter wenigstens das Aufwachsen ohne den männlichen Elternteil gemeinsam. Damit aber, so Emmys Auffassung, endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Im Gegensatz zu ihr war die Mutter, dank der gemachten, sogenannten „guten Partie“, niemals gezwungen gewesen, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen und mutmaßlich immer noch der Ansicht, dass es genügen müsse, wenn eine Frau für Mann und Kinder ein gemütliches Zuhause schaffte. Dem Weltbürger Hubert Steisshofer und dessen „Herumzigeunern“ hatte sie entsprechend skeptisch gegenübergestanden, für Emmys eigenen Drang zum Reisen nur begrenztes Verständnis aufgebracht. Seit Huberts Tod vertrat sie den Standpunkt des „Ich-hab’s-ja-gleich-gewusst“, eine Auffassung, die für Emmy wenig hilfreich war und nicht dazu beigetragen hatte, die Entfremdung zwischen den beiden Frauen zu verringern. Besucht hatte sie das Haus in der Neuen Weinsteige ohnehin schon lange nicht mehr, aber so waren auch die Anrufe immer seltener geworden. Emmy entlohnte den Taxifahrer, schulterte ihren Rucksack, holte tief Luft und ging entschlossen auf die Villa zu. Die Haustür samt Klingel war offenbar erneuert worden, ebenso das dazugehörige Schild, wo nun über dem Familiennamen merkwürdigerweise das Wort „Vogelgarten“ stand. Darunter einige weitere Namen, die Emmy gar nichts sagten. Sie drückte einmal kurz auf den Klingelknopf, dann, nachdem nichts geschah, ein
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zweites Mal noch etwas länger. Im oberen Stockwerk wurde ein Fenster geöffnet, das weißhaarige Haupt einer alten Dame, die ohne Zweifel nicht Lisbeth Schlaicher war, erschien. „Zu wem wollen Sie?“ „Zu meiner Mutter“, entgegnete Emmy, den Kopf in den Nacken gelegt, während sie versuchte, sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen. „Ich kenne Sie nicht. Wer ist Ihre Mutter?“ „Frau Schlaicher.“ „Ach, Gott“, sagte die alte Dame ratlos. „Was machen wir denn da?“ „Kann sie nicht kommen und mir öffnen?“ Emmy nahm an, dass es sich bei der zum Haupt gehörenden Person um eine Freundin der Mutter handeln musste. „Nein“, verneinte die. „Sie ist doch krank. Ich selbst bin noch gar nicht angezogen, ich kann so nicht ins Erdgeschoss. Und Frau Finkelstein kommt erst in einer Stunde.“ Eine Information, mit der Emmy nichts anzufangen wusste. „Was ist mit meinem Bruder?“, wollte sie deshalb, ohne weiter nachzudenken, wissen. „Ist er daheim?“ „Ihr Bruder?“, wiederholte die alte Dame fragend. „Bernd.“ „Im Haus ist alles ruhig.“ Es war dies keine Antwort, die Emmy erwartet hatte, sie schloss daraus, dass Bernd entweder abwesend oder noch im Bett sein musste. Beides änderte nichts daran, dass die Haustür geschlossen blieb. „Warten Sie“, rief die unbekannte alte Dame im selben Augenblick. „Ich habe eine Idee. Es kann aber ein Weilchen dauern.“ ★★★ Die Stimmung war vielleicht ein wenig anders, die Musik etwas leiser, das Henkersfest selbst aber am Samstag schon ebenso gut besucht wie am Vorabend. Emmerich widerstand der Versuchung,
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sich mit einem frisch gezapften Bier auf einem sonnigen Plätzchen niederzulassen, nur mit Mühe. Stattdessen begann er, sich an den Getränkeständen zu erkundigen, ob es irgendwo eine Sammelstelle für verlorene oder herrenlose Gegenstände gäbe. Er erntete einiges Achselzucken, bevor ihn eine junge Frau ein paar Häuser weiter, die Hauptstätter Straße entlang, ins Café Stella schickte. Dort herrschte reger Betrieb, wieder musste Emmerich warten, bis sich jemand für ihn zuständig fühlte, dann aber wurde er eine Treppe nach oben geführt, in einen kleinen, gemütlichen Raum, wo sich auf einem schwarzen Sofa ein Berg aus Rucksäcken, Handtaschen, Pullovern, Regenschirmen, Kopfbedeckungen und Jacken aller Art stapelte. Ob er die, die er suche, beschreiben könne, wurde er der Form halber gefragt. Emmerich zeigte seinen Dienstausweis, was mit einem erleichterten Lächeln und der Bemerkung, er könne sich so lange er wolle und ganz in Ruhe umsehen, quittiert wurde. Woraufhin die Kellnerin geschäftig wieder nach unten eilte und ihn alleine ließ. Während der nächsten halben Stunde bekam Emmerich daher die Gelegenheit, sich ungehindert darüber zu wundern, was seine Mitbürger so alles an einem gewöhnlichen Freitagabend mit sich herumtrugen. Eine Stimme, die unvermittelt dreimal wiederholte „Geh ans Telefon, du Depp“ ließ ihn zusammenzucken, entpuppte sich dann aber als der Klingelton eines Handys, das sich in einer Jackentasche meldete. Weitere Telefone unterhielten ihn mit konventionelleren Melodien, er legte sämtliche Behältnisse und Kleidungsstücke, die solche Geräusche von sich gaben, ohne weitere Durchsuchung zur Seite. Der Tote hatte wenig bei sich gehabt, immerhin aber sein Handy, es war nicht davon auszugehen, dass er mehrere besessen hatte, und Emmerich bedauerte bereits, keine Handschuhe mitgenommen zu haben. Mehrfach waren seine Finger nun schon mit gebrauchten Taschentüchern in Berührung gekommen, außerdem mit einem halb aufgegessenen Salamibrötchen und einer etwas zerdrückten Banane. Aus einer Handtasche entwendete er ohne schlechtes Gewissen ein Päckchen mit Papiertüchern, aus einer anderen ein Salbeibonbon, das er in den Mund steckte, um
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seine Sinne von den zahlreichen, keineswegs immer wohltuenden Gerüchen zu befreien, die von dem Stapel ausgingen. Letztlich aber waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt, aus einer neu wirkenden Outdoorjacke zog er irgendwann eine schmale Börse, die den Ausweis eines Bernhard Schlaichers enthielt. Dazu die Karte einer Krankenkasse, eine weitere zum Geldabheben, dreihundertzwanzig Euro in bar, einige Visitenkarten und zwei gebrauchte Fahrscheine der Stuttgarter Verkehrsbetriebe. Weitere Taschen der damit reichlich ausgestatteten Jacke enthielten eine Brille, einen teuer aussehenden Kugelschreiber, Medikamente und einen Schlüsselbund. Emmerich stopfte alles zurück in die Jacke und behielt nur den Ausweis in der Hand, als sein eigenes Handy sich meldete. „Schlaicher, Bernhard“, sagte Mirko ohne weitere Begrüßung. „Geboren im Januar 1958, gemeldet in Stuttgart, Katharinenstraße.“ „Stimmt“, entgegnete Emmerich mit Blick auf den Ausweis. „Was soll das heißen? Stimmt?“ „Dass ich tatsächlich seine Jacke gefunden habe. Mit Papieren und allem, was der Mensch so braucht.“ „Also suchen wir jetzt die Angehörigen?“ „Seine Mutter lebt in einem Seniorenheim namens Vogelgarten. Soll in der Neuen Weinsteige sein.“ „Das weißt du schon?“ „Gelernt ist gelernt“, verwies Emmerich nonchalant auf seinen Vorsprung an Berufserfahrung. „Sie wird sicher ein älteres Semester sein“, vermutete Mirko unbehaglich. „Ich geh da keinesfalls alleine hin.“ „Natürlich nicht. Vielleicht gibt es ja noch andere. Angehörige, meine ich.“ „Das wär mir recht.“ Mirko hüstelte. „Du weißt, ich kenn mich aus. Mit den älteren Semestern. Bekanntlich wohne ich bei meiner Oma. Es ist nicht immer einfach.“ „Was ist schon einfach in diesem Leben?“, meinte Emmerich, der ebenfalls wenig motiviert war, mit einer Todesbotschaft im Seniorenheim aufzukreuzen. Die Outdoorjacke verfügte über einen Auf-
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hänger, er schob den Zeigefinger hindurch und hängte sich das Kleidungsstück salopp über die rechte Schulter. „Darf ich einen Vorschlag machen?“ „Bitte.“ „Wir treffen uns auf dem Henkersfest und gehen dann zuerst mal in die Katharinenstraße.“ „Das machen wir.“ Mirko wirkte erleichtert. „In einer halben Stunde bin ich da.“ ★★★ Die Zigarette, die Emmy sich angesteckt hatte, um das „Weilchen“ zu überbrücken, war längst geraucht, als die Tür der Villa endlich von innen geöffnet wurde. Wieder sah sie sich einer ihr unbekannten Frau in vorgerücktem Alter gegenüber; diese allerdings musste sich das Haar gefärbt haben, es war von einem dunklen Braun ohne einen grauen Faden. Die Frau stützte sich auf einen Stock, kam aber rein optisch noch recht flott daher, als habe sie sich gerade ausgehfertig angekleidet. „Sie müssen die Emilie sein“, sagte sie ohne Umschweife. „Kommen Sie nur herein. Die Besuchszeit beginnt zwar erst ein wenig später, aber für Sie können wir sicher eine Ausnahme machen. Sie kommen von weit her, nicht wahr?“ „Besuchszeit?“ „Wir öffnen normalerweise niemals selbst. Wenn wir allein im Haus sind. Es könnte ja Gott weiß wer vor der Türe stehen.“ Emmy rührte sich nicht vom Fleck, während sie versuchte, zu verstehen, was da vorging. Ihr Unvermögen war ihr wohl auch anzusehen, denn ihr Gegenüber setzte mit einem freundlichen Lächeln hinzu: „Sie waren lange nicht mehr hier, habe ich recht? Da wissen Sie vielleicht noch gar nicht, dass wir uns zu einer Wohngemeinschaft zusammengetan haben.“ „Wir? Wer ist denn wir?“
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„Nun, Ihre Mutter und … aber kommen Sie doch erst einmal herein.“ Mit einer gehörigen Portion Skepsis trat Emmy über die Schwelle, nur um als Erstes einen ihr fremden Geruch wahrzunehmen. Das Haus hatte auch schon früher alt gerochen, nach Staub und Kölnisch Wasser, nach lang gebrauchtem Holz und Möbelpolitur. Jetzt aber … „Hier entlang“, bat die Frau mit dem Stock und zeigte dorthin, wo sich einst die Bibliothek von Schlaicher senior befunden hatte. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Möbius. Wiltraud Möbius.“ „Steisshofer“, erwiderte Emmy, sich ungläubig umsehend, mechanisch. Der alte Bauernschrank, der immer die Diele dominiert hatte, war entfernt worden. An seiner Stelle befand sich nun ein Kasten aus silbrigem Metall, den Emmy schnell als rollstuhlgerechten Lift identifizierte, mit dem man ins obere Stockwerk gelangen konnte. Nicht ein Teppich bedeckte mehr das offenbar neu versiegelte Parkett, weiße Raufasertapeten in Verbindung mit zwei modernen Kunstdrucken an der Wand schufen eine völlig andere Atmosphäre als die Holzvertäfelungen, die Emmy gekannt hatte. Hinzu kam eine geradezu unheimliche Stille, nirgendwo tickte mehr eine Uhr, kein Radio lief, sämtliche Fenster schienen geschlossen zu sein, es drang kein einziges Geräusch von draußen an ihr Ohr. „Alles neu, ja, ja“, sagte Frau Möbius nickend. „Sie werden staunen, was aus der Küche geworden ist. Wenn Sie wollen, führe ich Sie gern ein wenig herum.“ „Eigentlich wollte ich nur zu meiner Mutter.“ „Mittagsruhe. Sicher schläft sie noch. Am besten, Sie warten auf Frau Finkelstein.“ „Wer, zum Kuckuck, ist Frau Finkelstein?“ „Sie kommt immer am Wochenende, macht Kaffee und richtet uns das Abendessen.“ „Tatsächlich?“
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Frau Möbius, die vorangegangen war, blieb stehen, drehte sich um und stützte sich auf ihren Stock. „Sie wissen überhaupt nichts, stimmt’s?“, sagte sie, Emmy von unten herauf ansehend. „Darüber, was aus Ihrem Elternhaus geworden ist.“ „Es ist nicht mein …“, wollte Emmy schon zu einer Erklärung ansetzen, entschied dann aber, dass ihre familiären Verhältnisse Frau Möbius eigentlich nichts angingen. Auch wenn die sich im Haus bewegte, als sei es das ihre. „Ist Bernd zu Hause?“, fragte sie stattdessen knapp. „Ihr Bruder“, entgegnete Frau Möbius mit wissender Miene und schüttelte den Kopf. „Er wohnt schon lange nicht mehr hier. Für gewöhnlich schaut er einmal am Tag vorbei. Meistens gegen Abend. Aber das bekomme ich gar nicht immer mit.“ „Wissen Sie, ob er gestern hier war?“ „Gestern? Lassen Sie mich nachdenken.“ Frau Möbius legte die ohnehin schon etwas runzelige Stirn in tiefe Falten. „Nein“, sagte sie nach einer kleinen Weile. „Gestern kam nicht einmal Alina.“ „Alina?“ „Seine Freundin. Oder Lebenspartnerin, wie man heute sagt.“ „Ich habe mehrfach versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Wir waren verabredet, aber er hat mich versetzt.“ „Ja.“ Frau Möbius lächelte wieder freundlich, aber unverbindlich. „Ich fürchte, da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Kommen Sie doch einfach in mein Zimmer, bis die Mittagsruhe endet. Wir warten auf Frau Finkelstein und können dabei ein wenig plaudern.“
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6 Mitten in der Stadt und am Rand des Rotlichtviertels gelegen war die Katharinenstraße nicht das, was man sich gemeinhin unter einer angenehmen Wohngegend vorstellte. Dennoch lebten Menschen hier und nicht einmal wenige. Geschäftsleute gingen gutbürgerlichen Berufen nach, Kinder zur Schule, Familienväter und -mütter zur Arbeit, zum Arzt oder zum Einkaufen. Dazwischen aber tummelten sich Damen, die einschlägige Dienstleistungen anboten, ebenso wie Herren, die geneigt waren, diese Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und den urbanen Straßenverkehr durch ausdauerndes Um-den-Block-Herumfahren belebten. Emmerich und Frenzel standen vor einem der typischen Mehrfamilienhäuser, das, der Anzahl der Klingeln nach zu schließen, von zwölf Parteien bewohnt wurde. Das Schildchen von B. Schlaicher und A. Kopkin fand sich gleich unten rechts, die Haustür war nur angelehnt, weshalb die Kommissare hineingingen und auf den Knopf direkt neben der Wohnungstür im Hochparterre drückten. Drinnen ertönte ein melodisches „Ding Dong“, mehr tat sich nicht. Sie versuchten es erfolglos ein zweites Mal, als sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete. Im Rahmen erschien eine Blonde, auf den ersten Blick attraktiv und lediglich mit einem türkisseidenen Mäntelchen bekleidet, das allenfalls das Nötigste bedeckte. „Na, ihr Süßen“, sagte die Blonde, sämtlichen Klischees entsprechend, mit verrauchter Stimme. „Was könnt ihr beide wohl von diesen beiden wollen?“ „Geht Sie das was an?“, fragte Mirko mit hochgezogenen Brauen.
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„Natürlich nicht, mein Jungchen“, entgegnete die Blonde beinahe zärtlich. „Aber Polizei im Haus … das geht mich wohl was an.“ „Das haben Sie sofort bemerkt?“ Emmerich ging ein paar Schritte auf die Blonde zu. „Da haben Sie ja eine richtig schnelle Auffassungsgabe.“ Auf den zweiten Blick, den er nicht umhinkam zu tun, waren tiefe Falten unter einer dicken Schicht Make-up erkennbar, im großzügigen, aber nicht üppigen Dekolleté seines Gegenübers sah er erste Altersflecken. „Aber immer“, lächelte die Frau herausfordernd, schob ein Bein nach vorne, was zu einer leichten Öffnung des Mäntelchens führte, und wackelte mit den Hüften. Emmerich ignorierte sowohl das Wackeln als auch Bein und Öffnung. „Sind Sie persönlich bekannt mit Ihren Nachbarn?“ „Es ist keiner da, falls Sie das meinen“, überging die Blonde seine eigentliche Frage. „Aber das haben Sie sich ja sicher schon gedacht.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Aus dem Leichenschauhaus führt kein Weg zurück, nicht wahr?“ „Das wissen Sie auch schon?“ „Bei meiner Auffassungsgabe …“ Sie ließ den Satz unvollendet und grinste spöttisch. „Jetzt hören Sie mal zu, Frau …“ Frenzel war neben Emmerich getreten und wirkte ungehalten. „Wenn Sie irgendetwas wissen, sind Sie verpflichtet, eine Aussage zu machen. Wenn nicht hier, dann nehmen wir Sie mit. Aufs Präsidium.“ „Nicht so hastig, Jungchen.“ Die Blonde wandte sich Mirko zu, streckte einen Zeigefinger mit einem blutroten, überlangen Nagel aus und fuhr ihm damit leicht über das Kinn. „Hab ich gesagt, dass ich nichts sagen will?“ „Ääää … nein“, brachte Mirko, der mit einem Ausdruck des Schreckens im Gesicht versucht hatte, der Berührung zu entgehen, gerade so hervor, dass Emmerich sich veranlasst sah, einzugreifen.
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„Gnädige Frau“, sagte er, eine Verbeugung andeutend. „Würden Sie uns wohl freundlicherweise an Ihrem Wissen teilhaben lassen?“ „Schon besser.“ Die Blonde zwinkerte. „Es gibt noch Männer mit Manieren.“ „Dann haben Sie hoffentlich auch nichts dagegen, wenn wir kurz zu Ihnen hineinkommen?“ „In einer Stunde, Süßer. Im Moment hab ich Besuch.“ „In einer Stunde, meinetwegen.“ „Ich werde Sie erwarten.“ Ein zweites Zwinkern, ein erneutes Wackeln, und die Frau verschwand hinter ihrer Tür. „Jesus Maria“, erklärte Frenzel und wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn. „So sind sie halt, die alten Huren.“ Emmerich grinste. „Was machen wir?“ „Zurück aufs Henkersfest. Die Sonne lacht. Ich könnt ein Bier vertragen.“ „Im Dienst?“ „Wer spricht von Dienst? Es ist Samstag. Ich hab frei.“ „Und die Vernehmung? In einer Stunde?“ „Ist freiwillig. Ich glaube kaum, dass die Dame uns jemals ein Protokoll unterschreiben wird.“ ★★★ Die Plauderei im durchaus behaglich ausgestatteten Zimmer der Frau Möbius schien nicht darauf angelegt zu sein, bald ein Ende zu finden. Genau genommen plauderte auch hauptsächlich sie, indem sie nämlich vom Leben in der Wohngemeinschaft erzählte. Emmy jedoch ließ sie gewähren, einerseits, weil sie selbst nichts Wesentliches beizutragen hatte, andererseits, weil sie so immerhin das eine oder andere erfuhr. Zum Beispiel, dass die Mutter wohl einen nicht unerheblichen Betrag durch die Finanzkrise verloren hatte und deshalb seit ein paar Jahren auf die Mieten der Mitbewohnerinnen
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angewiesen war. Dass es sich dabei um zwei Personen im oberen Stockwerk und um zwei weitere im Erdgeschoss handelte. Wobei – leider Gottes – Frau Holzapfel aus dem Erkerzimmer vor einigen Wochen verstorben war, und man demnächst sicherlich mit einem Neuzugang rechnen durfte. Um alles Notwendige kümmerte sich Bernd, was Wiltraud Möbius als ein großes Glück betrachtete, auch wenn er in letzter Zeit einen etwas zerstreuten Eindruck bei ihr hinterlassen habe. „Aber“, schwatzte sie nachsichtig, „es ist ja auch kein Wunder. Die ganzen Schwierigkeiten mit der Scheidung und dann noch Lisbeths Schlägle. Das kann einen Mann schon aus der Bahn werfen. Die Männer sind so viel empfindlicher als wir, man kann nur hoffen, dass …“ „Meine Mutter hatte einen Schlaganfall?“ An dieser Stelle sah Emmy sich veranlasst, den Redefluss zu unterbrechen. „Wann ist das passiert?“ „Oh je, mein Zeitgefühl“, seufzte ihr Gegenüber resigniert. „Was haben wir jetzt? Noch Juni?“ „Ende Juli.“ „Ja dann … es ist schon eine Weile her. Mindestens vier Wochen, es war im Juni. Glaube ich doch. Sie war im Krankenhaus. Oder in der Reha? Oder in beidem? Jedenfalls ist sie inzwischen wieder hier. Hat man Sie denn gar nicht informiert?“ „Nein“, entgegnete Emmy einsilbig, während sie die Neuigkeit auf sich wirken ließ. „Das tut mir leid“, sagte Frau Möbius teilnahmsvoll, haschte nach Emmys Hand und tätschelte sie freundlich. „Aber Sie dürfen es Ihrem Bruder nicht übelnehmen. Seine Frau hat ihn Hals über Kopf verlassen. Wo wir doch immer dachten, die beiden wären so ein gutes Paar. Bevor Alina kam, war ja Maritta hier. Ich hab sie sehr gemocht, es ist so schade, Sie haben sie sicher auch gekannt …“ Dem war nicht so, tatsächlich hatte Emmy zwar vor einigen Jahren durch die Mutter von einer Heirat Bernds gehört, sich aber nie um eine Bekanntschaft mit der Schwägerin bemüht und ihre Exis-
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tenz nach einer Weile wieder so gut wie vergessen. Immerhin schien nun klar zu sein, was der Bruder mit den Worten „Ich bin in Schwierigkeiten“ gemeint haben mochte. Frau Möbius ließ ihre Hand wieder los. „Die beiden“, äußerte sie nachdenklich, „sind mir sehr ans Herz gewachsen. Fast, als wären es meine eigenen Kinder. Ich habe leider keine, müssen Sie wissen. Nur zwei Neffen, die in Norddeutschland zu Hause sind. Die haben keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Deshalb wollte ich Maritta und Bernd eine Betreuungsvollmacht geben. Das ist jetzt alles liegen geblieben, weil …“ „Entschuldigen Sie.“ Emmy fühlte sich ein wenig überwältigt von allem, was sie in den letzten Minuten erfahren hatte. „Wann kommt denn nun diese Frau …“ „Finkelstein?“ Wiltraud Möbius lächelte und sah zu einer Wanduhr mit übergroßen Ziffern. „Sie müsste längst im Haus sein. Gleich ist unsere Kaffeezeit. Sie trinken doch ein Tässchen mit?“ ★★★ Mittels Strohhalm nippte Frenzel an einem cocktailartigen Getränk von undefinierbarer Farbe mit kleinen Eiswürfeln und grünen Blättern. Emmerich schlürfte genüsslich die Schaumkrone vom Bier, während er überlegte, ob er sich mit einer Nachfrage blamieren würde. Die Neugier siegte schließlich über seine Bedenken. „Was ist das?“, wollte er, auf das undefinierbare Getränk zeigend, wissen. „Keine Ahnung“, entgegnete Frenzel zu seiner Erleichterung prompt. „Es ist alkoholfrei, schmeckt und löscht den Durst. Mit Pfefferminze obendrauf.“ „Wie im Tee?“ Emmerich schauderte es beim bloßen Gedanken an den Geschmack, den er seit frühester Kindheit mit fiebrigen Erkältungen und Magenverstimmungen verband. „Wie? Im Tee?“, wiederholte Frenzel mit veränderter Betonung und guckte verständnislos. „Es ist doch kalt.“
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Emmerich schloss daraus, dass eine Generation, die Junggesellenabschiede in Hasenkostümen feierte, bei Kinderkrankheiten mit anderen Mitteln als Pfefferminztee malträtiert worden sein musste. Vermutlich auch nicht mit Einläufen und Lebertran oder … „Entschuldigung“, unterbrach eine ihm unbekannte, junge Frau mit Kellnerschürze seine träge dahinfließenden Erinnerungen. „Sind Sie der Kommissar, der vorhin im Café Stella war?“ „Bin ich“, bestätigte Emmerich ein wenig überrascht. „Untersuchen Sie die Angelegenheit von gestern Abend? Der Tote mit der Henkersschlinge?“ Es war dies das Ärgerliche an den Fällen, die sich in aller Öffentlichkeit abspielten − sie sprachen sich herum, bevor die eigentliche Arbeit überhaupt begonnen hatte. Einschließlich von Details, die damit als Täterwissen ausgeschlossen werden konnten und zumeist auch unter Entstehung von allerlei Gerüchten, die geeignet waren, potenzielle Zeugenaussagen zu beeinflussen oder gar zu verfälschen. Emmerich war keinesfalls geneigt, solchen Gerüchten neue Nahrung zu geben oder irgendwelche Neugier zu befriedigen. „Wissen Sie etwas darüber?“, antwortete er daher mit einer Gegenfrage und in strengem Duktus. „Mein Freund hat was gesehen“, erwiderte die junge Frau. „Er traut sich aber nicht an Ihren Tisch. Weil er schon mal Ärger hatte. Mit den Bu … Ihren Kollegen.“ „Hat er ein Kapitalverbrechen begangen?“ „Nein. Nur was geraucht. Vor über einem Jahr.“ „Dann werden wir ihn schon nicht fressen, Ihren Freund. Wo ist er zu finden?“ „Er steht da drüben“, sagte die junge Frau und winkte einem durchaus sympathisch wirkenden Endzwanziger mit dunklen Locken, der die Szene mit den Händen in den Hosentaschen etwas unsicher aus einer Entfernung von einigen Metern beobachtete. „Reden Sie mit ihm, er heißt Pascal. Ich muss wieder an die Arbeit.“
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Sie wandte sich ab, wechselte einige Worte mit dem jungen Mann und verschwand im Gewühl. Emmerich winkte ebenfalls und bemühte sich um ein aufforderndes Lächeln. Pascal kam näher, aber nicht zu nahe. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagte Emmerich in väterlicher Art. „Betäubungsmittel sind nicht unsere Abteilung.“ „Hmm“, grunzte der Endzwanziger unschlüssig, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. „Das kann mal vorkommen“, versuchte Frenzel locker, den Kontakt zu intensivieren. „Sie wirken nicht, als wären Sie ein Dealer.“ „Ich konsumiere auch nicht regelmäßig“, erklärte Pascal mit leichtem Trotz. „Dann haben Sie nichts zu befürchten.“ Emmerich deutete auf sein Bier. „Möchten Sie was trinken?“ Pascal richtete seinen Blick vage auf Mirkos Glas. „Von mir aus einen Ipanema“, gestand er nach einer Pause zögernd zu und brachte schließlich sogar ein „Danke“ heraus, nachdem Mirko ihm ebenfalls einen Cocktail überreicht hatte. „Und jetzt erzählen Sie frei von der Leber weg“, forderte Emmerich freundlich. Pascal sah ihn skeptisch an und wandte sich an Mirko. „Gestern Abend“, begann er, immer noch zurückhaltend, „war ich auch hier. Gleich da vorn, neben der Bühne. Der Typ mit der grünen Mütze … also, der, der in der Weberstraße … Sie wissen schon … der saß ganz in meiner Nähe. Ist mir allerdings erst richtig aufgefallen, als der andere dazukam.“ „Welcher andere?“ „Na, der andere halt. Der ihn dann verfolgt hat. Und … äh … ermordet.“ „Woher wissen Sie denn so genau, was in der Weberstraße vorgefallen ist?“ Mirko sog an seinem Drink und lächelte vertraulich. „Schmeckt gut, das Zeug, nicht wahr?“ „Wie?“ Pascal wirkte irritiert, nickte dann aber. „Ja, man kann es trinken. Also … das weiß ich, weil … eine Bekannte von mir …
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Anja … die war auf dem Weg hierher und ist gerade dort vorbeigelaufen, als … sie hat mir davon erzählt …“ „Sie hat die Tat beobachtet?“, mischte Emmerich sich ein. „Ihre Bekannte?“ Pascal erschrak dermaßen, dass er zusammenzuckte und etwas von seinem Drink verschüttete. Gerade so, als wäre Emmerich − im Gegensatz zu Mirko – so etwas wie ein Schreckgespenst. „A … a … a …“, stotterte er unbeholfen, „D … d … d …“ „Immer mit der Ruhe“, sagte Frenzel gemütlich, woraufhin der junge Mann sich wieder ihm zuwandte. „Der mit der grünen Mütze saß also bei der Bühne. Dann kam ein zweiter Mann hinzu und …“ Pascal schien von einer plötzlich eingetretenen Starre befallen zu sein, er stand stocksteif da, hatte den Mund geöffnet und sah Mirko schweigend an. „Ein Mann mit einem schwarzen Kapuzenpullover?“, soufflierte der vorsichtig weiter. Pascal brachte immerhin ein Nicken zustande. „Und dann geschah etwas, das Ihre Aufmerksamkeit erregte?“ Neues Nicken. „Bitte erzählen Sie. Lassen Sie sich Zeit.“ Dies tat Pascal, indem er zunächst umständlich ein Papiertaschentuch zutage förderte, um eine vom Verschütten feucht gewordene Stelle am Hosenbein zu trocknen. Anschließend holte er mehrfach hörbar Atem und nahm offensichtlich seinen ganzen Mut zusammen. „Ich glaub, das war der Erwin“, stieß er hervor und lief knallrot an. Was, nach Emmerichs Erfahrung, darauf schließen ließ, dass ihm diese Mitteilung ausgesprochen schwergefallen sein musste und Pascal sich nun wie ein Verräter fühlte. Dies wiederum legte die Annahme nahe, dass der junge Zeuge ein persönliches Verhältnis zu diesem Erwin hatte, nicht eng genug, um ihn von einer Aussage abzuhalten, aber immerhin so, dass sich Gewissenskonflikte einstellten. Um Pascal nicht nochmals zu erschrecken, überließ er Mirko das Weiterfragen. „Erwin?“
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„Ich weiß nicht, wie er wirklich heißt. Alle nennen ihn halt so.“ Pascal erläuterte, dass es sich bei Erwin um ein stadtbekanntes Individuum undefinierbaren Alters, aber sicher über fünfzig, handele. Normalerweise angetrunken unterwegs, auf der Suche nach beliebiger Gesellschaft. Nicht gänzlich unvermögend, sondern in der Lage, sich diese Gesellschaft durch das Spendieren von Getränken zu erkaufen. Weshalb man ihn, in studentischen Kreisen, von Zeit zu Zeit gewillt war, zu ertragen. „Auch wenn er labern kann, bis einem das Ohr abfällt. Außerdem muss ihm irgendwas passiert sein, in den letzten Wochen. Er war noch besoffener als sonst und hat auch nichts mehr ausgegeben.“ „Deshalb ist er Ihnen aufgefallen?“ „Nicht deshalb.“ Pascal schüttelte den Kopf und schien sich wieder etwas entspannt zu haben. „Es war der Pulli. So etwas hat der Erwin normalerweise nie getragen, er sah aus wie neu und war für die Jahreszeit viel zu warm. Und dann kam der Streit dazu.“ „Ein Streit?“ „Die beiden haben sich bestimmt eine halbe Stunde lang ganz normal unterhalten, bevor das Geschrei losging. Plötzlich ist der Erwin aufgesprungen und hat dem Typ mit einer Henkersschlinge gedroht. ,Ich bring dich um‘, hat er gerufen. Ein paar Leute in der Nähe haben noch gelacht. Wahrscheinlich dachten sie, das sei ein Gag. Von wegen Henkersfest und so …“ „Und dann?“ „Der Typ schrie so was wie ,Du kannst mich mal‘. Da ist der Erwin so in Wut geraten, dass er ein Messer rausgeholt hat. Auch was Neues übrigens, ich hab ihn noch nie so aggressiv gesehen. Normalerweise ist der Erwin friedlich. Blau, aber friedlich.“ „Wie ging’s weiter?“ „Der Typ ist aufgestanden und wollte weg. Erwin hat versucht, ihn festzuhalten. Ging aber nicht, mit der Schlinge in der einen und dem Messer in der anderen Hand. Der Typ ist losgerannt. Erwin hinterher. Das war’s. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
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Mirko ließ ein paar Sekunden verstreichen, als denke er über das Gehörte nach, sog an seinem Ipanema und musterte dabei über den Rand seines Glases hinweg den jungen Mann. „Aber vielleicht Ihre Bekannte?“, fragte er schließlich behutsam. „Anja?“ Wieder versteifte Pascal sich merklich, reagierte aber immerhin. „Ich weiß nicht so genau, was sie gesehen hat“, äußerte er widerstrebend. „Auch nicht, ob sie bereit ist, mit der Polizei zu sprechen. Niemand spricht gerne mit der Polizei. Jedenfalls will ich nicht schuld sein, wenn … Der Erwin ist immerhin ihr Stammgast, trinkt reichlich und sorgt für einen ordentlichen Umsatz.“ „Das heißt, Anja arbeitet in der Gastronomie?“ „Aushilfsjob. Eigentlich studiert sie.“ „Und wo …?“ Pascal sah nach rechts und links, machte eine winkende Bewegung, lotste Emmerich und Mirko zur Rückseite des Getränkestandes und deutete zur gegenüberliegenden Straßenseite. „Sehen Sie … da drüben … in dem Straßencafé … die Blonde mit dem Pferdeschwanz? Das ist Anja. Aber von mir haben Sie das nicht.“ „Danke schön“, sagte Mirko höflich. „Wenn Sie uns dann bitte noch Ihre Personalien …“ „Sorry“, entgegnete Pascal entschieden und wandte sich ab. „Ich hab einen dringenden Termin.“ Weg war er, bevor auch nur einer der beiden Kommissare widersprechen konnte.
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7 „Ich würde gern mein Handy laden und dann zu meiner Mutter.“ Beides war eigentlich ihr gutes Recht in diesem Haus, dachte sich Emmy und wunderte sich gleichzeitig, warum sie beinahe um Erlaubnis fragte. Frau Finkelstein jedoch hatte sich als eine ausgesprochen resolute Person entpuppt, eine kleine, kompakte Frau in den Sechzigern, die noch vor weniger als zwei Jahrzehnten in einer Kittelschürze aufgetreten wäre. Insgesamt machte sie auf Emmy einen erschreckend vitalen und überaus tüchtigen Eindruck, der seine Wirkung weder auf die zum Kaffee erschienenen Hausbewohnerinnen noch auf sie selbst verfehlte. Zum Kaffee gab es Marmorkuchen, von Frau Finkelstein gebacken, dazu Sahne, von Frau Finkelstein geschlagen, an einem adrett gerichteten, natürlich von Frau Finkelstein gedeckten, Tisch. Alles im einstigen Esszimmer der Schlaichers, das durch die Entfernung einer Wand mit der Küche verbunden und so in einen vielseitig nutzbaren Gemeinschaftsraum verwandelt worden war. Nebenan, im ehemaligen Wohnzimmer, lebte nun eine gewisse Frau Heimerdinger, deren Verhalten bei Emmy den Verdacht einer beginnenden Demenz aufkommen ließ. Von oben, mittels Lift herunterkommend, vervollständigte eine Frau Pröhl die Runde. Nur Lisbeth Schlaicher fehlte. „Ich kann Kaffee und Kuchen mit hinaufnehmen.“ „Kommt nicht infrage“, erwiderte Frau Finkelstein gelassen, während sie aus einer Thermoskanne zierliche, geblümte Tässchen füllte. „Nicht, dass uns Ihre Mutter aus dem Rhythmus kommt. Sie können später mit nach oben und mir beim Füttern helfen.“ „Ach, das schöne Porzellan“, seufzte Frau Heimerdinger. „Man muss sie füttern?“ Emmy hatte den unbestimmten Eindruck, dass Frau Finkelstein es ihr persönlich übelnahm, sich so
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lange nicht für den Zustand der Mutter interessiert zu haben, und erhielt umgehend die Bestätigung dieses Eindrucks. „Komisch, dass Sie das nicht wissen“, sagte die kleine Frau ironisch. „Wo Sie doch die Tochter sind.“ „Bei uns zu Hause gab es ein Service mit Goldrand“, äußerte Frau Heimerdinger wehmütig. „Ludwigsburger Porzellan.“ Emmy antwortete nichts, Frau Finkelstein ging ihr Verhältnis zur Mutter ebenso wenig etwas an wie zuvor Frau Möbius. Für eine kleine Weile wurde am Kaffeetisch geschwiegen und gelöffelt, bis die Älteste in der Runde den letzten Bissen Marmorkuchen zu sich genommen hatte und sich kehlig räusperte. „Sie sind die Fotografin, richtig?“, stellte Frau Pröhl mit einer lauten Stimme, die nicht so recht zu ihrem Alter passen wollte, fest. „Emily Steisshofer. Ich habe alle Ihre Bücher.“ „Sie kennen mich?“ „Was glauben Sie denn? Ihre Mutter hat ja in den Wochen vor dem Schlaganfall von fast nichts anderem mehr erzählt. Die Gattin des berühmten Tierfilmers Hubert Hofer.“ „Ach?“ Emmy verschlug es, wie man so schön sagte, regelrecht die Sprache. Das hörte sich so an, als wäre die Mutter stolz auf sie gewesen. Etwas, das sie ihr gegenüber in all den Jahren niemals ausgedrückt hatte. „Hubert ist tot“, entgegnete sie tonlos. „Ich weiß“, trompetete Frau Pröhl. „In zwanzig Jahren wird niemand mehr seine Filme kennen. Aber Ihre Bücher … die schauen sich dann noch meine Ururenkel an.“ „Wir hatten zu Hause viele Bücher“, warf Frau Heimerdinger, zufrieden in die Runde strahlend, ein. „Auch mit Tieren. Filme gab es damals nicht.“ „Inge, du weißt nicht, wovon wir reden.“ Frau Pröhl betrachtete tadelnd ihre Mitbewohnerin. „Achte auf deine Worte. Sonst geht es dir noch wie der armen Margot.“ „Holzapfel“, tuschelte an Emmys Seite Frau Möbius erklärend. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie verstorben ist.“
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„Quatsch. Verstorben“, widersprach Frau Pröhl energisch. „Margot wurde abgeschoben. Sie hätte sonst zu viel gekostet. Inge passiert dasselbe, wenn sie nicht aufpasst, was sie sagt.“ „Na, na, na“, mahnte Frau Finkelstein beschwichtigend und begann, die Kuchenteller abzuräumen. „Wir wollen nicht vergessen, dass Besuch da ist.“ „Der Besuch darf ruhig erfahren, was hier los ist. Wir können uns ja nicht mehr wehren.“ „Sie dürfen das“, sagte Frau Finkelstein, an Emmy gewandt, leise, „nicht alles für bare Münze nehmen. Unsere alten Damen bekommen so manches nicht mehr richtig mit.“ Geschickt zerteilte sie zwei Stücke Marmorkuchen auf einem frischen Teller in mundgerechte Portionen, fügte etwas Sahne hinzu und füllte stilles Wasser in eine Schnabeltasse. „Wenn es Ihnen recht ist, dann gehen wir jetzt hinauf zu Ihrer Mutter. Das Handy laden Sie am besten oben.“ „Gerne.“ Emmy stand auf und ignorierte fürs Erste die Irritationen, die Frau Pröhls Bemerkungen bei ihr ausgelöst hatten. „Kann ich etwas helfen?“ Frau Finkelstein drückte ihr wortlos den Teller, ein frisches Küchentuch und zwei Papierservietten in die Hand, sah die Runde am Kaffeetisch an und sagte: „Ich bin gleich wieder da“. Anschließend ging sie ohne eine weitere Bemerkung voran nach oben, in den ersten Stock, und dort zum Schlafzimmer von Emmys Mutter. Durch die geschlossene Tür konnte man einen Fernseher hören. „Ich hoffe, Sie erschrecken nicht“, sagte Frau Finkelstein und öffnete die Tür. ★★★ „Auf zu Anja“, bestimmte Emmerich, stellte seinen leeren Becher ab und setzte sich in Bewegung. Mirko, der immer noch in der Menschenmenge nach dem entschwundenen Pascal Ausschau hielt, sah unentschlossen drein.
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„Den finden wir schon, wenn es nötig wird“, sagte Emmerich. „Jetzt komm mit, sonst verpassen wir am Ende noch unsere Verabredung in der Katharinenstraße.“ Gemeinsam überquerten sie die Straße. Das Café gegenüber war bis auf den letzten Platz belegt, die Bedienung mit dem Pferdeschwanz voll ausgelastet. Für psychologisch wertvolle Vorspiele fehlte hier die Zeit, Emmerich entschied sich für ein direktes Vorgehen und zückte seinen Ausweis. „Kripo Stuttgart“, sprach er das Mädchen an, als es im Begriff war, mit einem leeren Tablett zurück ins Lokal zu eilen. „Sie sind Anja. Wir haben ein paar dringende Fragen an Sie.“ „Doch nicht jetzt.“ Anja sah entgeistert drein. „Ich habe keine Zeit.“ „Doch, Sie haben. Es dauert höchstens fünf Minuten.“ „In fünf Minuten motzen hier zehn Leute. Und mein Chef.“ „Interessiert mich nicht, lassen Sie sie motzen. Ihrem Chef sage ich nötigenfalls selbst Bescheid.“ „Bitte nicht.“ In Anjas Augen trat ein erschrecktes Flackern, und Emmerich fragte sich zum sicher ein millionsten Mal in seinem Leben, warum ganz normale Leute, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen, dermaßen panisch reagieren konnten, nur weil ein Polizeibeamter die Beantwortung einiger harmloser Fragen verlangte. Es war ein Rätsel, das er wahrscheinlich auch während des verbleibenden Restes seiner Berufslaufbahn nicht lösen würde. „Fragen Sie schon. Aber beeilen Sie sich.“ „Sie sollen den Vorfall in der Weberstraße gestern Abend beobachtet haben. Und den Täter kennen.“ Das Mädchen presste das leere Tablett vor den Brustkorb und verschränkte abwehrend die Arme darüber. „Wer sagt das?“ „Kein Kommentar. Wir haben es gehört.“ „Scheiße“, sagte Anja, legte den Kopf in den Nacken und sah himmelwärts. Hinter ihr wurden erste Rufe nach Bedienung laut. „Es stimmt“, räumte sie hastig ein. „Er hatte eine Kapuze auf, aber
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ich wette trotzdem, dass es Erwin war. Einer meiner Stammgäste. Der andere war Schlaicher. Sein Vermieter. Gleich hier um die Ecke, in der Katharinenstraße.“ „Erwin und weiter?“ „Gar nicht Erwin.“ Anja lächelte schief, während sie beschwichtigende Gesten in Richtung der Rufenden machte. „Das ist nur sein Spitzname. Eigentlich heißt er Winfried. Winfried Holzapfel. Es tut mir leid für ihn. Ich glaube, er hatte bisher nicht viel Glück im Leben.“ „Soll vorkommen“, antwortete Emmerich gleichmütig. Anja sah für einen Augenblick nachdenklich zu Boden, bevor sie tief Luft holte und das Tablett vom Brustkorb nahm. „War es das? Ich muss weitermachen.“ „Vielleicht benötigen wir Sie nochmals.“ „Da drinnen weiß man, wo ich zu erreichen bin.“ Anja deutete auf den Eingang zum Lokal. „Dann springen Sie“, gestattete Emmerich. „Einen schönen Samstag noch.“ Schweigend legten sie nach dieser Neuigkeit den kurzen Weg zum Mietshaus in der Katharinenstraße zurück. Vor der immer noch nur angelehnten Tür betrachtete Mirko die Klingelschilder, deutete auf eines, das etwas über dem von B. Schlaicher und A. Kopkin angebracht war, und sagte: „Tatsächlich. Holzapfel. Wir haben ihn.“ „Also erst zu ihm?“ Emmerich sah Mirko fragend an. „Klar doch. Stell dir vor, er ist zu Hause und der Fall gelöst. So schnell waren wir selten.“ „Es wäre in der Tat erstaunlich“, nickte Emmerich, betrat das Treppenhaus, in dem es nun intensiv nach einem merkwürdigen Gemisch aus Bratfett und billigem Rasierwasser roch, und schickte sich an, in den dritten Stock hinaufzusteigen. Er kam nicht weit, links von ihm erschien die Blonde in der Türe ihres Apartments. „Hallo, ihr Süßen. Wolltet ihr nicht zu mir?“ Das türkisfarbene Mäntelchen hatte sie mit einem samtigen Hausanzug in Rosa ver-
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tauscht. Aufgedruckte Mäuse zierten das Oberteil. Emmerich ging die wenigen Stufen, die er bereits gestiegen war, wieder hinunter und ignorierte Mirkos missbilligendes Räuspern. „Wir sind etwas zu früh, gnädige Frau, und wollten noch nicht stören.“ „Hi, hi, hi“, kicherte die Blonde schelmisch. „Wie es der Zufall will, habe ich auch jetzt schon Zeit für euch. Ich bitte, einzutreten.“ „Freundlichsten Dank“, entgegnete Emmerich übertrieben liebenswürdig und betrat einen schlecht beleuchteten, kleinen Flur, der eindeutig die Quelle des Geruchs nach billigem Rasierwasser war. Mirko folgte, demonstrativ einen Hustenanfall mimend. „Nach links“, dirigierte die Gastgeberin, ging selbst voran und durchschritt einen scheppernden Vorhang aus bunten Plastikperlen. Dahinter lag ein stickiges, düsteres Wohnzimmer, in dem die Vorhänge zugezogen waren und mehrere Teelichte brannten. Stofftiere und künstliche Blumen vervollständigten das Erscheinungsbild, dazu ein Wandteppich in Schwarz und Gold, der einen Raubkatzenkopf zeigte. Emmerich folgte der Bitte, auf einem Sofa, das von einem etwas abgewetzten Überwurf bedeckt wurde, Platz zu nehmen. Mirko nicht. Er blieb unmittelbar hinter dem Plastikvorhang stehen. „Ich beiß dich nicht, mein Jungchen“, sagte die Blonde augenzwinkernd. „Möchtet ihr was trinken?“ „Machen Sie sich keine Mühe“, lehnte Emmerich das Angebot, so höflich es ihm möglich war, ab. Dass der Sauerstoff in diesem Zimmer bei drei atmenden Personen für mehr als zehn Minuten reichte, konnte bezweifelt werden. „Erzählen Sie mir lieber, was Sie über Herrn Schlaicher wissen.“ „Ach, der Bernd.“ Die Blonde setzte sich in einen Polstersessel, der, wie das Sofa und vermutlich auch seine Besitzerin, schon bessere Tage gesehen hatte. „Er war mal so ein hübscher, junger Mann.“ „Das dürfte ein Weilchen her sein, Frau …“, versuchte Emmerich, die offenbar bevorstehende, ausufernde Selbstinszenierung seines Gegenübers durch betonte Sachlichkeit im Keim zu ersticken. „Ich bin die Moni.“
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„Und Schlaicher war der Besitzer dieses Hauses?“ „Der Besitzer?“ Moni schloss die Augen, ließ einige Sekunden verstreichen und presste schließlich zwei Krokodilstränen unter den geschlossenen Lidern hervor. „Ach nein, ich glaube nicht. Ist es nicht schrecklich, dass er auf so eine hässliche Weise sterben musste? Der arme Bernd!“ „Schrecklich?“, bestätigte Emmerich kurz angebunden. „Was soll das heißen? Sie glauben nicht?“ „Nun, seine Mutter lebt doch noch, nicht wahr? Als ich eingezogen bin, vor dreißig Jahren, da hat es seinem Vater gehört. Das Haus. Mit dem hab ich den Mietvertrag geschlossen.“ Moni öffnete die Augen wieder und kicherte. „Ein fescher Mann war das, bei Gott. Ich hab ihn gut gekannt, den alten Schlaicher. Einen eigenen Verlag hat er gehabt. Und einen Porsche.“ „Das Haus gehört also der Mutter? Von Bernd Schlaicher?“ „Sie hat es geerbt.“ Wenn Moni ihm sein Desinteresse an ihren Erinnerungen übelnahm, so ließ sie es sich nicht anmerken. „An sie überweise ich die Miete. Die ist immer noch sehr günstig für hiesige Verhältnisse. Sonst wäre ich schon längst hier weg.“ „Das wär’ ich auch“, murmelte Mirko vor dem Plastikvorhang. „Einen Umzug kann ich mir nicht leisten“, erklärte Moni bedauernd. „Alles viel zu teuer, und wer würde mich schon nehmen? Schließlich muss ich noch arbeiten. Das kann ich hier in Ruhe tun. Hoffentlich auch weiterhin.“ „Warum auch nicht?“ „Sehen Sie sich das Haus doch an. Seit ein paar Jahren, seit es Bernd verwaltet, wird hier nichts mehr gemacht. Da wird schon eines Tages irgendein Investor kommen und eines dieser modernen Laufhäuser für Mädchen aus Osteuropa bauen wollen. Dann ist Schluss für mich. Aber das werde ich mir bezahlen lassen. So einfach bekommt mich keiner raus.“ „Bernd Schlaicher war also der Hausverwalter?“ „Sag ich doch. Niemand weiß, was passiert, wenn seine Mutter stirbt. Wobei …“ Moni legte kurz die Stirn in Falten und riss danach
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die Augen auf. „Jetzt hat es Bernd ja zuerst erwischt. Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht. Wer erbt denn nun das Haus?“ „Sie werden es sicherlich erfahren“, entgegnete Emmerich gemächlich. Die Luft im Zimmer, so zumindest schien es ihm, wurde knapper. „Wissen Sie, mit wem er sich die Wohnung teilte?“ Moni nickte. „Alina. Auch aus Osteuropa. Vögeln tut Bernd sie schon eine ganze Weile. Eingezogen ist er erst vor ein paar Wochen.“ „Kennen Sie Herrn Holzapfel vom dritten Stock?“ „Den Erwin? Was wollen Sie von dem?“ Etwas in der Art, wie sie ein Bein über das andere schlug und einen Schmollmund machte, ließ Emmerich vermuten, dass sein Gegenüber plötzlich auf der Hut war. „Kennen Sie ihn?“, wiederholte er seine Frage. „Der Erwin ist ein ganz ein Lieber“, erwiderte Moni abweisend, kringelte sich eine blonde Strähne um den Zeigefinger und schob sich das Ende samt Fingerspitze in trotziger Kleinmädchenart zwischen die rosa bemalten Lippen. „Hatte er Streit mit Schlaicher?“ „Erwin doch nicht.“ Finger und Strähne verweilten, wo sie waren, was die Verständlichkeit von Monis Worten etwas erschwerte. „Der wohnt seit Ewigkeiten hier. Seine Mutter und die von Bernd … das waren dicke Freundinnen. Wenn Sie jemanden suchen, der Streit mit Schlaicher hatte …“ „Ja?“ Moni nahm den Finger aus dem Mund und sah zur Zimmerdecke. „Ich will nicht schlecht über jemand Bestimmtes reden“, erklärte sie nach einer Pause tugendhaft. „Aber da gibt es andere. Ganz andere.“ ★★★
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Vor dem Fernseher, in einem modernen, elektrisch verstellbaren Sessel, dessen Vorhandensein Emmy neu war, saß regungslos eine Gestalt. Schlohweißes Haar rahmte ein fahles, ausdrucksloses Gesicht, dessen Mund leicht offen stand. Über die Knie hatte man der Gestalt eine leichte Wolldecke gelegt, die Fernbedienung für das TV-Gerät ruhte dort in einer Kuhle zwischen den bedeckten Beinen. Auf dem Bildschirm erläuterte ein Anzugträger die mutmaßlichen Auswirkungen der Finanzkrise auf Griechenland. Frau Finkelstein griff sich die Fernbedienung und brachte den Anzugträger ohne Weiteres zum Schweigen. „Es gibt Kuchen“, rief sie fröhlich. „Und Ihre Tochter ist gekommen.“ Die Gestalt reagierte mit einem leichten Stöhnen. „Hierherum“, kommandierte Frau Finkelstein, rückte einen Schemel neben dem Sessel zurecht und bedeutete Emmy, sich daraufzusetzen. „Auf dieser Seite kann sie Sie besser sehen. Die andere ist leider fast gelähmt.“ „Um Gottes willen“, stammelte Emmy entsetzt und blieb stehen. „Ich wusste nicht … ist sie denn ein Pflegefall? Warum hat mich niemand informiert?“ „Das fragen Sie am besten Ihren Bruder“, entgegnete Frau Finkelstein, entfernte geschäftig die Wolldecke, breitete das Küchentuch über den Schoß der Mutter und reichte Emmy den Kuchenteller. „Bitte sehr. Immer nur ein Stück auf einmal. Warten, bis sie geschluckt hat und dann etwas Wasser mit der Schnabeltasse nachgießen. Trauen Sie sich das zu?“ „Ich weiß nicht.“ Immer noch sah Emmy sich außerstande, etwas anderes zu tun, als dazustehen und das fremde Wesen, das so gar keine Ähnlichkeit mit der gewohnten Erscheinung ihrer Mutter hatte, anzustarren. „Dann fange ich schon mal an, wenn Sie nichts dagegen haben“, bemerkte Frau Finkelstein ungerührt und setzte sich selbst auf den Schemel. „Eine Steckdose für Ihr Handy finden Sie da drüben. So, und jetzt machen wir schön happi happi.“
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Tatsächlich öffnete Emmys Mutter folgsam ein wenig weiter ihren Mund, ließ sich ein Kuchenstück hineinschieben und begann, schildkrötenartig zu malmen. „Kann sie denn nicht mehr sprechen?“ „Schwierig. An guten Tagen manchmal. Natürlich nicht mehr so wie früher.“ „Ist sie in ärztlicher Behandlung?“ „Ein Dr. Eder sieht regelmäßig nach den Hausbewohnerinnen. Aber auch das besprechen Sie am besten mit Ihrem Bruder Bernd. Oder mit dem Pflegedienst.“ „Ich kann meinen Bruder nicht erreichen. Wir waren verabredet. Gestern Abend. Er ist nicht gekommen.“ „Ja, er ist ein wenig sprunghaft, Ihr Bruder“, nickte Frau Finkelstein, wischte mit professioneller Geste etwas Sahne aus dem Mundwinkel von Emmys Mutter und setzte die Schnabeltasse an. „Besonders in den letzten Wochen, meine ich. Schön glucki glucki.“ Emmy steckte ihr Ladegerät in die Steckdose, hängte das Handy daran und warf dabei einen Blick auf den kleinen Bildschirm. Wieder zwei Anrufe von der unbekannten Nummer mit Stuttgarter Vorwahl sowie ein weiterer von einem mobilen Telefon. Ihre Mutter hustete und erhielt das nächste Kuchenstück. „Am Wochenende kommt Herr Schlaicher für gewöhnlich kurz, bevor ich gehe. Wir warten auf den Pflegedienst und machen Lisbeth bettfertig, anschließend unterhält er sich meist noch ein wenig mit den anderen Damen“, erläuterte Frau Finkelstein im Plauderton. „Das Haus ist also jetzt ein Pflegeheim?“ „Oh nein. Da müssen Sie sehr vorsichtig sein, mit dem, was Sie sagen. Beim Vogelgarten handelt es sich um eine ganz private Wohngemeinschaft. Die Einzige, die Pflege braucht, ist Lisbeth. Und wenn Sie meine Meinung hören wollen …“ „Gerne.“ „Lange geht das nicht mehr gut. Wir sind hier nicht für solche Fälle eingerichtet. Auch Frau Holzapfel hätte nicht mehr bleiben
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können, wacklig wie sie war. Sie ist gestorben, bevor ich etwas unternehmen konnte, aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Leute in so einem Zustand in einem richtigen Heim eine bessere Versorgung haben. Da kann Ihr Bruder mir erzählen, was er will. Natürlich wohnt es sich in so einer Wohngemeinschaft schöner, und das Heim ist teuer. Aber leben wir nicht in einem sozialen Staat? Es wird sich doch wohl auch für Ihre Mutter eine bessere Lösung finden lassen.“ „Ich weiß nicht“, murmelte Emmy ein zweites Mal und spürte, wie ein Gefühl beginnender Überforderung in ihr aufstieg. Wäre ich bloß zu Hause in Olching geblieben, schoss es ihr durch den Kopf. Andererseits war klar, dass die Probleme, welche sich hier stellten, nicht durch ihre Abwesenheit zu lösen waren. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als auf Bernd, von dessen Handy sie nur vermuten konnte, dass es kaputtgegangen war, zu warten. Vorsichtig umrundete sie den Fernsehsessel, um auf die „bessere“ Seite der Mutter zu gelangen. „Mama? Ich bin’s. Emmy.“ Ein Paar dunkler, fast schwarzer Schildkrötenaugen wandte sich ihr langsam zu. „Hehi“, gab die Mutter von sich, hustete und spuckte ein Stückchen Kuchen aus. ★★★ Frenzel atmete tief durch, als sie wieder im Treppenhaus standen, und strebte dem Ausgang zu. „Wohin so eilig?“, insistierte Emmerich und deutete nach oben. „Wollten wir nicht nachsehen, ob Holzapfel da ist?“ „Ich bekomme keine Luft mehr. Wie kann man in so einer Bude leben?“ „Monis Problem, nicht unseres. Meinst du, du schaffst es die paar Treppen hoch?“
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„Sehe ich aus wie eine Memme?“ Frenzel wischte sich mit der bloßen Hand Schweißperlen von seiner Stirn. „Ja“, nickte Emmerich mitleidig. „Jetzt gerade schon.“ „Du kannst mich mal“, entgegnete Mirko, wandte sich um und nahm zwei Stufen zugleich. „Wo bleibst du?“, fragte er im dritten Stock nach Emmerichs dort deutlich späterem Eintreffen spöttisch. „Weißt du“, meinte der milde, während er schnaufend vor einer mit etwas angejahrten Aufklebern bestückten Wohnungstür stehen blieb, „ich bin über fünfzig. Ich muss niemand mehr etwas beweisen. Schon gar nicht, wenn’s um sportliche Leistungen geht.“ „Wenn du meinst.“ Frenzel schien nicht überzeugt zu sein, aber auch nicht gewillt, die Diskussion fortzusetzen. Stattdessen studierte er die Kleber. Es handelte sich um das in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts übliche Sammelsurium aus „Atomkraft − Nein Danke“-, „Ich bremse auch für Tiere“- und „Nazis raus“-Motiven. Der angeblich indianische Spruch vom Geld, das man nicht essen könne, fehlte genauso wenig wie die weiße Friedenstaube auf blauem Grund, die allerdings zur Hälfte von einem relativ neuen „Oben bleiben“-Sticker der Gegner von Stuttgart 21 verdeckt wurde. „Hoffentlich ist der nicht da“, sagte Mirko, drückte auf den Klingelknopf und schnüffelte. „Ich hab wirklich keinen Bock auf noch so ein stinkendes Loch.“ „Das Bratfett kann von überall herkommen. Sei froh, dass es nicht nach Kohl und Bohnerwachs riecht. So wie früher.“ „Hier mieft noch etwas anderes. Wetten, dass der Kerl da drinnen kifft?“ „Und wenn schon.“ Emmerich drückte den Knopf ein zweites Mal. „Ich vermute, du hast Glück. Scheint alles ruhig zu bleiben hinter dieser Tür.“ „Soll ich ihn zur Fahndung ausschreiben?“ „Kann nichts schaden.“ „Und dann?“
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„Dann reicht es mir für heute. Ich will noch was von meinem Wochenende haben.“ „Kein Versuch mehr unten? Bei Schlaicher und Alina Kopkin?“ „Meinetwegen.“ Emmerich klingelte ohne große Erwartungen zum dritten Mal und verharrte noch einige Sekunden, bevor er den Weg zurück ins Erdgeschoss antrat. Auch dort erfolgte keine Reaktion auf das melodische „Ding Dong“, dafür war zu hören, wie hinter Monis Tür ein Schlüssel umgedreht wurde. „Nichts wie raus hier“, stöhnte Mirko und eilte auf die Katharinenstraße. „Wir sehen uns übermorgen im Büro.“
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8 Am Montag knüllte Emmerich die Schlaicher’sche Outdoorjacke ohne Rücksicht auf eventuelle Proteste der spurensichernden Kollegen zu einem Bündel, packte sie in eine von Gabis Jutetaschen und machte sich auf den Weg ins Präsidium. Versehen mit dem Hinweis seiner Gattin, er möge allerspätestens um fünf Uhr nachmittags zurück sein und, bitte, dieses eine Mal auch wirklich pünktlich. „Warum denn?“, hatte Emmerich gefragt und Kopfschütteln geerntet. „Weil um fünf der Makler kommt“, hatte Gabi mit einem Anflug von Resignation geantwortet. „Seit Donnerstag steht der Termin. Aber du kannst dir ja nichts merken.“ Tatsächlich erinnerte Emmerich sich dunkel, dass sie etwas in der Art erwähnt hatte, was ihm aber, ebenso tatsächlich, angesichts der Aufregungen am Wochenende vollständig entfallen war. „Ich hab das nicht vergessen“, hatte er daher, so würdevoll es ihm noch möglich war, versucht, sich herauszureden. „Die Frage lautet vielmehr … wozu brauchst du mich dabei?“ „Weil ich das ganz sicher nicht alleine mache. Mit einem Makler sprechen.“ „Wozu müssen wir das überhaupt? Sprich doch einfach nicht mit ihm.“ „Ich dachte, das hätten wir besprochen.“ Wieder konnte Emmerich nicht umhin, ihr im Stillen recht zu geben. Was seine eigene Motivation aber nicht steigerte, seine Begeisterung für die Angehörigen des makelnden Gewerbes hielt sich, obwohl er seit Jahrzehnten mit keinem von ihnen mehr zu tun gehabt hatte, in engen Grenzen. Um jedoch weiteren Erörterungen der
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Merkfähigkeit seiner Gehirnzellen aus dem Weg zu gehen, verzichtete er auf Widerspruch, sicherte zu, rechtzeitig wieder da zu sein, und verließ die Wohnung im vierten Stock nahe des Neckartors. Die seit beinahe drei Jahrzehnten ihre gemeinsame Heimat war und die Gabi seit geraumer Zeit gewillt war, zu verkaufen, um ins fast fertig renovierte Erdgeschoss bei ihrer Mutter einzuziehen. Wegen der Treppen. Wegen der Bahnhofsbaustelle. Und weil man ja nicht jünger werde. Alles Argumente, die auch in Emmerichs Ohren durchaus vernünftig klangen. Nur dass sich irgendetwas in ihm, ein Instinkt, ein Bauchgefühl, vielleicht auch schiere Trägheit gegen den Umzug sträubte. Mit der Jutetasche in der Hand gelang es ihm, sämtliche Gedanken daran beim Betreten des Präsidiums zu verdrängen. Gewohnheitsmäßig, jedoch ohne wirklich aufzusehen, nickte er grüßend in Richtung Pforte und wurde durch ein gar nicht gewohntes „Huhu“ überrascht. „Auch schon unterwegs?“, fügte aufgeräumt Hauptkommissarin Brigitte Kerner hinzu. „Heute mit Handtasche?“ „Beweismaterial“, entgegnete Emmerich, von so viel morgendlicher Munterkeit überrumpelt und deshalb ebenfalls auf einen höflichen Gruß verzichtend. „Es gab in der Nacht von Freitag auf Samstag einen Vorfall in der Altstadt.“ „Da komme ich gerade her“, verkündete Gitti und schloss sich ihm an, als er seinen Weg Richtung Büro fortsetzte. „Einsatz in aller Herrgottsfrühe. Suizid oder ein Unfall beim Einpersonensex. Vielleicht auch beides. Du erinnerst dich an den Schauspieler? Den man vor ein paar Jahren tot im Kleiderschrank seines Hotelzimmers aufgefunden hat?“ Emmerich nickte. „War er nicht der Hauptdarsteller in einem Film von Quentin Tarantino?“ „Eben der.“ Gitti blieb stehen und sah ihn an. „Du bist doch ein Mann“, stellte sie zutreffend, aber offensichtlich hilfesuchend fest. „Kannst du mir erklären, wie man auf die völlig hirnrissige Idee verfallen kann, sich mit einer Henkersschlinge an der eigenen Gar-
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derobe aufzuknüpfen? Untenrum ganz nackt. Nur der Slip hing ihm noch um die Füße.“ „Es hat mit Sauerstoffmangel zu tun“, erklärte Emmerich, in seinem Gedächtnis nach den merkwürdigen Beweggründen menschlicher Handlungen kramend, die ihm im Laufe seines Berufslebens bereits untergekommen waren. „Muss für einen ganz besonderen Kick im Hirn sorgen. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass nicht jeder Mann, schon gar nicht ich … sagtest du Henkersschlinge?“ „Ja.“ „Und Altstadt?“ „Ja.“ „Wo genau in der Altstadt?“ „In der Katharinenstraße.“ „Wie hat der Mann geheißen?“ Gitti starrte ihn verwundert an. „Holzapfel“, sagte sie, ohne nachzudenken. „Ein Name, den man sich leicht merken kann. Den Vornamen allerdings müsste ich …“ „Ich kenn ihn schon“, fiel ihr Emmerich, erregt die Jutetasche schwenkend, ins Wort. „Winfried. Mich laust der Affe.“ ★★★ Emmy erwachte im Erkerzimmer. Sie benötigte ein paar Minuten, um die ungewohnte Umgebung richtig einordnen zu können, und ein paar weitere, bis sie die Geschehnisse der letzten Tage vollständig rekapituliert hatte. Dazu gehörte, dass Bernd nicht gekommen war. Weder um die Zeit, zu der er, laut Aussage von Frau Finkelstein, für gewöhnlich auftauchte, noch später und auch nicht am Sonntag. Frau Finkelstein selbst hatte dies anfänglich mit zunehmender Gereiztheit, später dann mit zunehmender Besorgnis zur Kenntnis genommen, aber natürlich nicht vermocht, etwas an der simplen Tatsache zu ändern. Ihre zahlreichen Versuche, Bernd telefonisch zu erreichen, waren ebenso erfolglos geblieben wie Emmys
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eigene zuvor. Für Bernds Freundin Alina galt Ähnliches, Frau Finkelstein verfügte zwar über eine Handynummer, das dazugehörende Gerät aber war abgeschaltet. Gemeinsam hatten sie und Emmy am Samstag zunächst die Hausbewohnerinnen mit einem leichten Abendbrot versorgt, Lisbeth Schlaicher zu Bett gebracht und die Visite des privaten Pflegedienstes, der dabei half, abgewartet. Zu diesem Zeitpunkt waren beide Frauen bereits in tiefer Ratlosigkeit verbunden, eine Ratlosigkeit, die auch von Frau Möbius und Frau Pröhl, denen Bernds Ausbleiben nicht entgangen war, geteilt wurde. Verschiedene Möglichkeiten des Handelns waren diskutiert und wieder verworfen worden, bis man schließlich zu dem Schluss gekommen war, dass es am besten sei, erst einmal abzuwarten. Emmy hatte das derzeit unbewohnte Erkerzimmer bezogen, auf eine Nacht mehr oder weniger fern von Olching kam es nun schließlich auch nicht an. Aus der einen Nacht waren inzwischen zwei geworden, ihr Vorschlag, Erkundigungen nach Bernds Verbleib bei Krankenhäusern oder Polizeidienststellen anzustellen, war auf heftige Gegenwehr sowohl vonseiten der Hausbewohnerinnen als auch von Frau Finkelstein gestoßen. Die Vehemenz des Widerstands erschien ihr wenig nachvollziehbar, andererseits betrachtete sie es nicht als ihre Aufgabe, sich in die Angelegenheiten der Wohngemeinschaft einzumischen. Sie hatte den Sonntag weitgehend bei der Mutter zugebracht; bedauerlicherweise, ohne dass ein wie auch immer geartetes Gespräch möglich gewesen wäre. Am Abend hatte Frau Finkelstein den Heimweg angetreten und versprochen, ausnahmsweise am Montagvormittag wieder vorbeizuschauen. Emmy hoffte, dass sie sich damit nicht allzu lange Zeit lassen würde, und beschloss, zuvor endlich die Nummern derer, die auf ihrem Handy angerufen hatten, zurückzurufen. Die erste entpuppte sich als die von Micha, dessen Sprachbox um das Hinterlassen einer Nachricht bat. Wofür Emmy keine Notwendigkeit sah. Nach Anwahl der zweiten Nummer meldete sich eine fremde Männerstimme: „Ja, bitte?“
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„Guten Tag. Sie haben auf meinem Handy angerufen.“ „Wer spricht denn dort?“ „Ich heiße Steisshofer. Emily Steisshofer.“ „Moment.“ Emmy hörte Straßengeräusche und wie jemand „Tschüss Oma, bis später“ rief. Danach sprach der unbekannte Gesprächsteilnehmer weiter. „Lautet Ihr Spitzname zufällig ,Emmy‘?“, wollte er schnaufend, als renne er während des Gespräches irgendwohin, wissen. „Nicht zufällig“, entgegnete Emmy befremdet. „Und kennen Sie vielleicht einen Bernhard Schlaicher?“ „Das ist mein Bruder. Ist etwas mit ihm?“ „Oh je“, hieß es, statt einer Antwort, am anderen Ende der Leitung. „Wo sind Sie gerade?“ „Zu Hause. Also … bei meiner Mutter. Unserer Mutter, genau gesagt …“ „Ist das das Altenheim in der Neuen Weinsteige?“ „Könnten Sie mir bitte erklären, worum es hier eigentlich geht?“ „Nicht am Telefon“, antwortete der unbekannte Mann bestimmt. „Bleiben Sie, wo Sie sind. In spätestens einer Stunde sind wir da.“ „Wir?“, wiederholte Emmy, zwischenzeitlich einigermaßen irritiert. „Wer sind Sie überhaupt?“ „Verzeihung, hab ich das noch nicht gesagt? Mirko Frenzel. Kommissar bei der Stuttgarter Kriminalpolizei.“ ★★★ „An der Garderobe hingen noch mal welche“, sagte Gitti versonnen, nachdem Emmerich seine Erzählung des Vorfalls in der Altstadt beendet hatte. „Henkersschlingen. In verschiedenen Größen. Aus alten Kabeln. Aus Wäscheleinen. Ein paar auch klassisch, aus ganz normalen Stricken. Der Gedanke, dass Holzapfel so was öfter mal benutzte, schien mir da nicht ganz abwegig zu sein.“
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Im Vorzimmer dudelte das Telefon, man konnte hören, wie Frau Sonderbar sich meldete. Emmerich schloss die Zwischentür, bevor er weitersprach. „Bei Schlaicher war’s so ein gedrehtes Seil. Wie man es früher an den Vorhängen benutzt hat.“ „Eine Kordel? Mit Quaste?“ „Hab keine gesehen. Vielleicht war das Holzapfels Hobby. Henkersschlingen basteln.“ „Komisches Hobby.“ „Auch nicht komischer als die Tatsache, dass er ausgerechnet heute früh tot an seiner Garderobe hängt.“ „Er hing schon etwas länger. Vierzig bis fünfzig Stunden. Meinte die Ärztin, die die Leichenschau vorgenommen hat.“ „Vierzig bis fünfzig Stunden?“ Emmerich begann zu rechnen. Mutmaßlich machte er dabei ein Gesicht, das auf beträchtliche Anstrengungen schließen ließ, denn Gitti half nach wenigen Sekunden nach: „Ungefähr seit Samstagvormittag. Als ich heute früh dort ankam, war die Wohnung offen und das Schloss bereits getauscht. Von den Kollegen der Feuerwehr, sie machen das routinemäßig so. Holzapfels Schlüsselbund steckte von innen, haben sie mir versichert. Die Ärztin hat weder Abwehrverletzungen noch Kampfspuren gefunden. Dafür deutliche Strangulationsmerkmale und eine Menge leerer Weinflaschen. Wäre nicht der Zettel an der Wohnungstür gewesen, hätte sie ohne Weiteres einen Unfall als Todesursache vermutet.“ „Ein Zettel? Was für ein Zettel?“ „Ein gelber. Ich hab ihn mitgenommen.“ Gitti beförderte mit Schwung ihre vielfarbig gemusterte Umhängetasche auf Emmerichs Schreibtisch, entnahm ihr ein durchsichtiges Beweismitteltütchen und reichte es weiter. Im Tütchen steckte etwas, das Emmerich als ein Bitte-nicht-stören-Schild, wie es in Hotels benutzt wurde, identifizieren konnte. Darauf klebte der erwähnte Zettel.
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„Bin erst am Dienstag wieder da. W. H.“, las er ab und fügte mit einem vorwurfsvollen Blick auf Gitti und seinen derangierten Schreibtisch hinzu: „Musst du hier alles durcheinanderbringen?“ „Sorry“, sagte die, nahm ihre Tasche wieder weg, stellte einen umgeworfenen Behälter mit Schreibutensilien wieder auf und arrangierte Locher, Hefter sowie einen Block gelber Haftnotizen unordentlich darum herum. „Deshalb haben wir auch einen Suizid in Betracht gezogen. Vielleicht wollte er nicht, dass man ihn früher findet.“ „Dienstag“, murmelte Emmerich abwesend. „Wohnungstür. Samstagvormittag. Oben bleiben. Friedenstaube. Nazis raus. Geld, das man nicht essen …“ „Alles gut bei dir?“, erkundigte sich Gitti beiläufig. „Mirko und ich“, gab Emmerich zurück, „standen am Samstagnachmittag vor dieser Wohnungstür. Es hing kein gelber Zettel dran. Auch kein Bitte-nicht-stören-Schild. Nur die Kleber, die ich gerade aufgezählt habe.“ „Bist du sicher? Am Samstagnachmittag? Da soll Holzapfel doch bereits …“ „ … tot gewesen sein, genau.“ Bevor er mehr sagen konnte, wurde die Tür zum Vorzimmer aufgerissen, Frenzel und Frau Sonderbar versuchten zeitgleich, durch die enge Öffnung zu gelangen. „Schön, dass du da bist. Wir müssen sofort in die Neue Weinsteige“, sagte Mirko, der, allen Geboten der Höflichkeit zum Trotz, den Sieg davongetragen hatte. Frau Sonderbar drängte sich rigoros an ihm vorbei. „Zuerst werden die Rückrufe erledigt. Drei Journalisten wollen Details zur Messerstecherei in der Weberstraße.“ „Herrgott noch mal“, beschwerte sich Emmerich. „Ich hab jetzt keine Zeit. Ich muss nachdenken.“ „Und ich habe versprochen, dass wir in spätestens einer Stunde da sind“, entgegnete Mirko. „Bei dieser Emmy. Die die Nachricht auf Schlaichers Handy hinterlassen hat. Sie ist die Schwester.“
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„Wir können die Presse nicht zu lange warten lassen.“ „Was ist denn nun mit Holzapfel? Glaubst du, es hat ihn jemand …“ „Ruhe“, brüllte Emmerich und freute sich still, dass eine solche tatsächlich umgehend eintrat. Drei Augenpaare sahen ihn beleidigt an. „Die Presse halten wir noch etwas hin“, entschied er, in der Absicht, Prioritäten zu setzen, nach kurzem Überlegen. „Da will sich sicher auch der Chef persönlich kümmern.“ „Der Chef“, beschied Frau Sonderbar ihn dünnlippig, „ist auf einem Polizeikongress. In Niedersachsen. Die ganze Woche noch.“ „Ja, dann …“ Emmerich sah zur Decke und danach zu Gitti. „Du bekommst heraus, wo Holzapfels Leiche sich befindet. Ich will eine gerichtsmedizinische Untersuchung.“ „Stell dir vor“, entgegnete Gitti mit äußerster Zurückhaltung, „das habe ich bereits veranlasst.“ „Prima. Hast du gut gemacht. Dann kann ich ja mit Mirko in die Neue Weinsteige.“ „Was sage ich den Journalisten?“ Frau Sonderbar bewies Hartnäckigkeit. „Die wimmeln Sie erst einmal ab. Keine neuen Erkenntnisse. Oder so.“ „Ich weiß nicht, ob ich mich dieser Aufgabe gewachsen fühle.“ Lediglich die langjährige Kenntnis des Charakters seiner Sekretärin hielt Emmerich davon ab, ein zweites Mal zu explodieren. Stattdessen klopfte er ihr aufmunternd aufs knochige, trotz sommerlicher Hitze von einer dünnen Strickjacke bedeckte Schulterblatt und zwinkerte. „Sie schaffen das“, erklärte er mit fester Stimme. „Ich weiß nämlich, dass ich mich auf Sie verlassen kann.“
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9 Unter einem Altersheim hatte Emmerich sich bislang einen nüchternen Zweckbau vorgestellt. Angesichts der historisch anmutenden Villa, vor der er nun mit Frenzel stand, fiel ihm jedoch wieder ein, dass Klaus Friedrich Pröhl von einem Institut gesprochen hatte. Während er noch überlegte, was ein solches wohl von einem Heim – und dieses wiederum von der heutzutage häufig Erwähnung findenden Seniorenresidenz – unterscheiden mochte, hatte Mirko schon den Klingelknopf gedrückt. Eine weibliche Person, bei der Emmerich sich keineswegs sicher war, ob man sie bereits zu den Senioren, mithin womöglich auch zu den Hausbewohnern rechnen musste, öffnete die Tür. „Frau Steisshofer?“, fragte Frenzel höflich. „Nein“, entgegnete die Person, nicht ohne eine Spur von Feindseligkeit. „Wir wollen zu Frau Steisshofer.“ „Ich sage ihr Bescheid. Es wird ein paar Minuten dauern.“ Ohne ein weiteres Wort wurde die Tür wieder geschlossen, Emmerich sah Frenzel an und zog die Brauen hoch. „Ich hab’s dir gleich gesagt“, brummte Mirko achselzuckend. „Es ist nicht immer einfach. Mit den älteren Semestern. Man braucht Geduld.“ „So alt war die noch gar nicht.“ „Aber sicher über sechzig.“ „Pah“, machte Emmerich wegwerfend. „Damit steht sie in der Blüte ihrer Arbeitsjahre. Wenn du unsere Rentenpolitiker fragst.“ „Du meinst, sie wohnt nicht hier? Sondern gehört zum Personal?“ „Woher soll ich das wissen?“
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„Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen.“ Mirko wirkte perplex. „Ich schätze, da kannst du in den nächsten Jahren noch einiges dazulernen, in diesem Land.“ Emmerich trat ein wenig zur Seite und widmete sein Augenmerk den beiden Briefkästen, die neben der Klingel in die Wand der alten Villa eingelassen waren. Haus Vogelgarten und Fam. Schlaicher war am oberen zu lesen, am unteren standen die Namen Möbius, Heimerdinger, Pröhl und … „ …. Holzapfel?“ Leise pfiff er durch die Zähne. „Das ist ja interessant.“ Im selben Augenblick ging die Türe wieder auf, sie standen vor einer jüngeren, ausgesprochen hübschen, wenn auch etwas übermüdet wirkenden Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und einem dominanten Paar ebensolcher Augenbrauen. „Wer von Ihnen ist Herr Frenzel?“, wollte sie ohne Umschweife wissen. „Ich“, antwortete Mirko und trat ein wenig vor. „Das ist mein Kollege …“ „Was ist mit meinem Bruder? Ist er tot?“ „Wollen wir nicht zuerst hineingehen? Es wäre …“ „Nein.“ Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Ich hab Sie was gefragt. Ich will wissen, ob er tot ist. Mein Bruder Bernd.“ „Bitte.“ Mirko zog die Schultern hoch und sah Emmerich an. Der nickte. „Wenn es Ihnen auf diese Weise lieber ist … ja, er ist tot.“ „Wann ist das passiert?“ „Am Freitagabend gegen zehn.“ „Woran ist er gestorben?“ „Die eigentliche Todesursache war ein Herzinfarkt. Zuvor allerdings …“ „Interessiert mich nicht“, erklärte die hübsche Frau. „Wo haben Sie ihn hingebracht? Wer muss sich um die Leiche kümmern?“ „Die ist noch gar nicht zur Bestattung freigegeben“, mischte Emmerich sich ein. „Sie nehmen unsere Nachricht ja sehr gelassen auf. Woran das wohl liegt?“
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„Haben Sie damit ein Problem?“ Es war dies nun eine Frage, die nicht ohne Weiteres mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten war. Die Umstände von Schlaichers Tod waren prinzipiell bekannt, tatsächlich war seine Schwester, von der Emmerich annahm, dass er sie vor sich hatte, niemandem über ihre Gefühle Rechenschaft schuldig. Er versuchte es andersherum: „Dem Herzinfarkt ging eine Messerattacke voraus. Ein Mann namens Winfried Holzapfel hat Ihren Bruder angegriffen. Wir nehmen an, dass der Infarkt erst dadurch ausgelöst wurde.“ „Und?“ Keine Regung zeigte sich im Gesicht mit den dominanten Augenbrauen, auch keine Reaktion auf die Nennung des Namens „Holzapfel“. „Sagt Ihnen dieser Mann etwas?“ „Nein.“ „Aber hier“, warf Mirko ein und zeigte auf den Briefkasten neben der Tür, „steht sein Name. Können Sie uns das erklären?“ Schlaichers Schwester verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ein paar Sekunden wortlos auf den Kasten, bevor sie gleichgültig erklärte: „Eine Frau Holzapfel hat mal hier gewohnt, ist aber verstorben. Damit Sie Bescheid wissen … mich geht das alles gar nichts an. Ich wohne bei München und bin nur zu Besuch. So schnell wie möglich fahre ich wieder weg.“ „Dann bringen Sie uns zu Ihrer Mutter. Sie wohnt hier, oder nicht?“ „Das können Sie vergessen. Meine Mutter ist nicht ansprechbar.“ „Aber irgendjemand muss doch zuständig sein.“ Mirko schien am Ende seiner Weisheit. „Glauben Sie mir, das hoffe ich auch.“ Das Augenbrauenpaar zog sich zusammen. „Vielleicht suchen Sie nach seiner Frau. Der von Bernd. Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß, dass sie Maritta heißt. Scheinbar hat sie sich von ihm getrennt, aber das kann noch nicht lange her sein. Eine Freundin gibt’s wohl außerdem. Alina, oder so.“
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„Das ist alles, was Sie uns dazu sagen können?“ „Alles.“ Schlaichers Schwester nickte bestätigend. „Und nun, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne zurück zu meiner Mutter.“ „Was ist mit den anderen Heimbewohnerinnen?“ „Nichts, was soll mit ihnen sein? Sie wollen ihre Ruhe.“ „Vielleicht könnten Sie uns behilflich sein“, machte Mirko einen letzten Versuch, das Bollwerk an der Türschwelle zu bezwingen. „Bei der Suche nach Ihrer Schwägerin.“ Das Bollwerk aber blieb vollständig unbeeindruckt. „Wozu? Ich sagte doch, ich kenne sie nicht persönlich. Mein Bruder und ich … wir hatten seit Jahren keinerlei Kontakt. Das war’s dann einfach.“ ★★★ Hinter Emmy, außerhalb des Blickfeldes der Kriminalbeamten, lauerte Frau Finkelstein. Ein Stückchen weiter stand die Tür zum Zimmer von Frau Möbius einen Spalt breit offen. Und vom ersten Stock herunter trötete Frau Pröhl: „Sind sie auch wirklich weg?“, kaum dass Emmy die Eingangstür geschlossen hatte. „Ich denke schon“, entgegnete die so, dass alle sie verstehen konnten, und durfte drei erleichterte Seufzer zur Kenntnis nehmen. „Welch ein Segen“, lobte Frau Pröhl von oben lautstark und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Von Frau Möbius war bereits nichts mehr zu sehen, die Finkelstein hingegen nahm ihre Jacke von der Garderobe und erklärte: „Dann gehe ich jetzt mal.“ „Wohin?“ „Na, heim. Ich bin doch nur am Wochenende da. Heute ist Montag.“ „Und mich lassen Sie einfach sitzen? Mitten im Schlamassel?“ „Je, nun.“ Immerhin besaß Frau Finkelstein den Anstand, in Verlegenheit zu geraten. „Ich verstehe schon, dass das nicht einfach für
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Sie ist. Aber auf mich wartet ein Enkelkind. Ich muss jetzt wirklich los.“ „Sie gehen nirgendwo hin.“ Emmy blieb stehen, wo sie war, und versperrte so den Ausgang. „Nicht, bevor ich weiß, was hier gespielt wird.“ „Das kann jemand anders Ihnen sicher besser …“ „Sehen Sie hier irgendjemand anderen?“ „Ich … ääh … nein.“ „Wer also kümmert sich dann um die alten Damen? Wenn Sie jetzt gehen und ich auch? Bislang hat das ja wohl der Bernd getan.“ „Tja …“, äußerte Frau Finkelstein und versuchte, unbeteiligt dreinzusehen. Emmy schwankte nach wie vor zwischen dem starken Impuls, ihren Rucksack zu packen und einfach abzuhauen, und dem instinktiven Wissen, dass man die Bewohnerinnen des Hauses nicht ohne Weiteres sich selbst überlassen konnte. Insbesondere die Mutter nicht, die zwar im Moment frisch gewaschen und gewindelt im Fernsehsessel saß, aber sicher spätestens zur Mittagszeit Hilfe beim Essen brauchen würde. Abgesehen davon, auch das kam Emmy ebenso wie zahllose andere, noch ungelöste Fragen sofort in den Sinn, dass ihr nicht klar war, wer überhaupt für das Vorhandensein einer Mittagsmahlzeit verantwortlich zeichnete. „Warum wollten Sie nicht, dass die Polizei das Haus betritt?“, fragte sie daher, lauter werdend, die sich windende Frau Finkelstein. „Wenn jemand hätte helfen können, dann doch sicher die Beamten. Ich kenne mich in Stuttgart schließlich überhaupt nicht aus.“ Frau Finkelstein machte eine hilflose Geste und blieb stumm. Dafür erklang ein leises Räuspern von Frau Möbius, die wieder durch den Spalt an ihrer Türe lugte. „Ich nehme an“, sagte sie zögerlich, „wir sind Ihnen eine Erklärung schuldig.“ „Das will ich meinen“, entgegnete Emmy energisch und machte ein paar Schritte auf sie zu. Frau Finkelstein ergriff umgehend die Gelegenheit und entwischte mit einem kurzen Abschiedsgruß durch die Eingangstüre.
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„Sie dürfen ihr das nicht übel nehmen“, bat Frau Möbius entschuldigend. „Wenn sie hier von den falschen Leuten angetroffen wird, kann es böse enden. Für uns alle.“ „Was heißt das? Dass sie schwarz arbeitet?“ „Natürlich.“ „Natürlich?“ „Genauso wie die Putzfrau. Anders könnten wir uns dieses Leben gar nicht leisten.“ „Ich bin sprachlos.“ „Und ich noch nicht zu Ende.“ Frau Möbius seufzte schwer. „Wir stecken ganz schön in der Klemme. Adelheid und ich, wir hoffen sehr, dass Sie uns helfen, da wieder herauszukommen. Wer sonst könnte es tun? Es geht ja auch um Ihre Mutter.“ „Ausgeschlossen.“ „Wir bezahlen Sie dafür“, sagte Frau Möbius bittend. ★★★ Zwecks Versorgung mit einem Leberkäsewecken zum zweiten Frühstück hatte Mirko auf einem Besuch beim Metzger am Feuersee bestanden. Emmerich kannte ihn lange und gut genug, um zu wissen, dass es sinnlos war, zu widersprechen. Mit leerem Magen, ohne Wecken, war Frenzel schlicht nicht zu gebrauchen. Er selbst hatte sich für ein belegtes Brötchen entschieden und dafür, dass man das Ganze getrost im Freien, auf einer der Bänke am betonierten Ufer des künstlich angelegten Gewässers genießen konnte. Sommertage in der Stadt, vor allem solche, die nicht im Büro auf dem Pragsattel verbracht werden mussten, galt es auszunutzen, auch wenn er sich – im Gegensatz zu Gabi – keine Gedanken über einen ausreichend hohen Vitamin-D-Spiegel oder die positiven Einflüsse der Sonnenstrahlen auf das menschliche Gemüt im Allgemeinen machte. Das alles mochte eine Rolle spielen für diejenigen, die sich dafür interessierten, ihm reichte der Umstand, luftig gekleidet im Warmen sitzen zu können. Mirko schien das ähnlich zu sehen, jedenfalls machte er nach dem
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Verzehr des Weckens keine Anstalten, wieder aufzustehen. Stattdessen streckte er die Beine aus und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Du glaubst also, bei Holzapfels Ableben ging es nicht mit rechten Dingen zu?“ „Mmmmhh“, brummte Emmerich mit geschlossenen Augen zustimmend. „Weil jemand anders diesen Zettel angebracht haben muss?“ „Mmmmhh.“ „Schätzungen hinsichtlich der Todeszeit sind nicht immer zuverlässig.“ „Mmmmhh.“ „Wir müssen das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung abwarten.“ „Mmmmhh.“ „Mein Gott, bist du gesprächig heute.“ Emmerich öffnete ein Auge. Leichte Schlieren trübten seinen Blick auf die gegenüberliegende Kirche, die, wie fast immer, zum Teil eingerüstet war. Hinter ihm übertönte das Piepen eines rückwärtsfahrenden Lastkraftwagens das kaum jemals abreißende Brausen des Verkehrs, von etwas weiter weg erklang das Lärmen eines Presslufthammers. Nur wer sehr genau hinhörte, konnte die Enten auf dem See leise schnattern hören. Sommer in der Stadt bedeutete eben auch, nie vergessen zu können, dass man inmitten einer solchen war. Träge schlug er auch das zweite Auge auf, wartete, bis die Schlieren verschwunden waren, und sah Mirko an. „Ich bin mir sicher, dass er bereits tot war, als wir vor seiner Tür gestanden haben. Du erinnerst dich an den Geruch?“ „Mmmmhh“, machte diesmal Frenzel. „Shit riecht anders.“ „Stimmt.“ „Du hast natürlich recht. Wir warten das Ergebnis der Untersuchung ab.“ „Aber …?“
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„Gitti sagte, dass eine Monika Gerbermann die Polizei gerufen habe. Ich schätze, das dürfte unsere Freundin Moni sein.“ „Und?“ „Wir gehen noch mal hin.“ „Oh nein.“ Frenzel zog ruckartig die Beine an und setzte sich aufrecht hin. „Nicht bei diesem Wetter. Nicht in diese Wohnung. Nicht mit mir.“ „Ich kann auch Gitti holen. Wenn Holzapfel ein Fall wird, dann ist es eher ihrer.“ „Schon verstanden“, knurrte Frenzel, stand auf und warf seine zerknüllte, fettige Tüte in den nächstgelegenen Papierkorb. „Bringen wir es hinter uns.“ Wenig später parkte er den Wagen in einer Bucht mit Uhr unweit des Mietshauses in der Katharinenstraße. „Hast du’s mitbekommen?“, fragte er beiläufig beim Aussteigen. „Die Kollegen in Berlin müssen jetzt Parkgebühren zahlen. Selbst im Einsatz. Und ins Halteverbot stehen dürfen sie auch nicht mehr.“ „Ein Irrsinn“, nickte Emmerich. „Wie sollen sie da arbeiten? Stell dir vor, es eilt und du musst erst einen regulären Parkplatz suchen.“ „Frag mich nicht.“ „Wenn es hier genauso kommt …“ „Wird es nicht. Hoffe ich doch.“ Frenzel schloss das Auto ab, zu Fuß legten sie die wenigen Meter zum Mietshaus zurück. „Soll ich dir sagen, was meine Meinung ist?“, wollte Mirko wissen, bevor er die, wie bislang auch, nur angelehnte Haustür aufstieß. „Wenn du meinst.“ „Langsam aber sicher erstickt das ganze Land. In Vorschriften, die gar nicht einzuhalten sind. Das gilt nicht nur für die Polizei.“ „Ja.“ „Ja? Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Man muss doch was dagegen tun.“
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„Wer?“ „Ich weiß nicht. Irgendwer.“ „Siehst du“, sagte Emmerich, versetzte der angelehnten Tür selbst einen leichten Tritt und betrat das Haus. „Genau deshalb tut niemand was.“
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10 Mirkos Hoffnung, Moni möge bei der Arbeit oder gar nicht zu Hause sein, erfüllte sich nicht, sie öffnete unmittelbar nach dem ersten Klingeln. Ihr Gesicht war ungeschminkt, die Augen gerötet, das blond gefärbte Haar mit einem Gummi am Hinterkopf zusammengefasst. „Ach, die Süßen“, grüßte sie müde, ohne die Spur eines neckischen Untertons. „Kommt ruhig rein, den Weg kennt ihr ja schon.“ Der Rasierwassergeruch war nun verflogen, im engen Wohnzimmer standen die Fenster offen. Moni deutete wortlos auf das Sofa, zog ein Papiertuch aus der Tasche ihres rosa Hausanzugs und putzte sich die Nase. „Ist es wegen Erwin?“, fragte sie, nachdem diesmal auch Mirko Platz genommen hatte. Emmerich nickte. „Niemals hat der sich umgebracht“, schniefte Moni, ihren Blick den geöffneten Fenstern zugewandt. „Und auch das andere … Sie wissen schon … der Erwin war vielleicht ein bisschen komisch in dieser Hinsicht. Aber das sind viele, ich könnte Ihnen Sachen erzählen …“ „Nicht nötig, danke“, wehrte Emmerich das Ansinnen eilig ab, blieb aber um einen einfühlsamen Ton bemüht. „Sie haben ihn wohl gut gekannt?“ „Seit über zwanzig Jahren“, jammerte Moni, den Kopf zwischen den Händen vergrabend. „Mein bester Freund. Mein einziger. Der nie mit mir schlafen wollte. Und mich trotzdem Mäuschen nannte. Den Anzug hier …,“ – Moni zeigte vage auf ihr Oberteil – „… den hat er mir geschenkt. Ist er nicht wunderschön?“
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„Sehr apart“, schwindelte Emmerich. „Steht Ihnen ganz hervorragend.“ „Und wir hatten noch so vieles vor. Später. Wenn ich mal das Geld habe, mein Mäuschen, hat er gesagt, dann fahren wir gemeinsam weg. In die Dominikanische Republik. Oder nach Thailand. Einmal einen Strand mit Palmen sehen. Und das warme Meer. Aber dann … dann kam heraus … er hat erfahren, dass …“ Der Rest des Satzes ging in erstickten Schluchzern unter. Unkoordiniert tastete Moni auf dem Couchtisch nach einer dort liegenden Packung weiterer Papiertaschentücher. Emmerich, wie immer in Gesellschaft weinender Frauen, trotz aller Lebenserfahrung, unsicher werdend, sah Mirko an. Der blieb in solchen Situationen gelassener, zuckte gleichmütig die Achseln, nahm ein Tuch aus der Packung und reichte es der bebenden Moni. „Was kam heraus, Frau Gerbermann?“, fragte er ruhig, nachdem sie sich geschnäuzt hatte. „Das Geld“, nuschelte Moni in ihr Taschentuch hinein. „Von seiner Mutter … das er erben sollte … nachdem sie gestorben war … es war fast alles fort. Ich hab gesagt: Das macht nichts, Erwin, wir bleiben eben hier und fahren an den Bodensee. Aber er war fix und fertig, er wusste gar nicht mehr, wovon er überhaupt noch leben sollte. Seine Mutter hat ihn schließlich auch immer unterstützt, die ganzen Jahre.“ „Herr Holzapfel hat nicht gearbeitet?“ „Wie denn, ach nein. Der Erwin war ein Philosoph, ein Schöngeist. So sensibel. In einem Büro oder in einer Fabrik, da wäre er glatt zugrunde gegangen. Seine Mutter … die hat das verstanden. So wie ich. Es ist nicht schön, da draußen in der Welt. Wenn man sensibel ist.“ „Nicht für Weicheier“, stimmte Mirko trocken zu und wich dem Knuff aus, den Emmerich ihm dafür verabreichen wollte. Moni bekam davon nichts mit. „Rührend hat er sich um sie gekümmert“, setzte sie ihr Loblied auf den Verblichenen fort. „Um seine Mutter. Jeden Tag, mehrere Stunden. Auch dann noch, als sie in dieses Heim gezogen ist. Weil
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sie ihr eigenes Haus vermieten musste. Finanzkrise, davon versteh ich nichts. Ich besaß nie so viel Geld, dass ich welches zu verlieren hatte.“ „Heime sind teuer“, warf Emmerich ein. „Da kann auch eine größere Summe schnell verschwinden.“ „Aber doch nicht ein ganzes Haus.“ Moni hob aufgebracht den Kopf. „Nein, das war Schlaicher. Erst hat er dem Erwin verboten, sie zu besuchen. Dann hat er sich an seine Mutter rangemacht und dann … ach, Erwin.“ Das Taschentuch trat in Aktion. Emmerich ließ ihr ein paar Sekunden, bevor er weiterforschte. „Damit ich Sie nicht falsch verstehe“, formulierte er behutsam. „Holzapfels Mutter lebte im Haus Vogelgarten?“ „Das hab ich doch gesagt.“ „Noch nicht, aber das macht nichts. Schlaicher wollte also nicht, dass Herr Holzapfel seine Mutter dort besucht?“ „Rausgeschmissen hat er ihn. Angeblich sei der Erwin dort mehrfach betrunken aufgekreuzt und hätte randaliert. Ich habe das nie geglaubt. Der Erwin war ein ruhiger Mensch. Kann schon sein, dass er ab und zu ein Glas zu viel erwischt hat. Trotzdem hat er nie die Contenance verloren.“ „Die was?“, fragte Mirko dazwischen. „Sein Benehmen“, erklärte Moni würdevoll. „Erwin war ein Kavalier alter Schule. Niemals hätte er so gesoffen, Flaschen zerschmettert und anschließend die Straßen vollgekotzt, wie das Ihre Generation heute so macht.“ „Bitte?“ „Nichts“, warf Emmerich hastig ein. „Holzapfel ging also leer aus? Es war nichts mehr übrig, als seine Mutter starb?“ „Schlaicher hat sich das Geld unter den Nagel gerissen“, behauptete Moni hartnäckig. „Der Erwin war beim Anwalt. Er wollte das alles klären lassen.“ „Und trotzdem ist er in der Nacht zum Samstag mit dem Messer auf Bernhard Schlaicher losgegangen.“
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„Ich hab es nicht verstanden.“ Moni trocknete sich die Augen und schien etwas gefasster. „Als ich davon gehört habe, bin ich gleich zu ihm nach oben. Er hat nicht aufgemacht. Und ist nicht ans Telefon gegangen. Auch am Sonntag nicht. Heute früh hing dann dieser Zettel an der Tür. Es ist aber nicht Erwins Art. Wegzufahren, ohne mir Bescheid zu geben. Weil ich seine Fische füttere, wenn er unterwegs ist. Also hab ich die Polizei gerufen.“ ★★★ Das Wort „bezahlen“ hatte Emmy umgestimmt. Wenn sie etwas wirklich dringend brauchte, dann war dies ohne Zweifel Geld. Und Frau Möbius hatte die Dringlichkeit ihrer Bitte bereits unaufgefordert mit zweihundert Euro unterstrichen. Als Anzahlung, wie sie betonte. „Schön, dann klären Sie mich auf“, verlangte Emmy, nach dem Verstauen der Scheine in den Taschen ihrer Jeans. „Was genau ist das Problem?“ „Das Alter“, entgegnete Frau Möbius, sichtlich erleichtert, trocken. „Wir haben nicht mehr die Kraft und schon gar nicht die Nerven, um gewisse Dinge noch so zu ordnen, dass sie für uns gut und richtig sind.“ „Versteh ich“, meinte Emmy vage. „Nein, das tun Sie nicht“, widersprach Frau Möbius traurig, zog einen Ordner aus einem Regal, das aussah wie das Überbleibsel einer einstmals monumentalen Schrankwand, und legte ihn auf das Tischchen vor ihrem Sofa. „Sehen Sie, ich bin keine Juristin. Aber ich habe es immerhin zur Chefsekretärin in der Rechtsabteilung einer großen Versicherung gebracht. Ein bisschen kenne ich mich also mit den Paragrafen aus.“ „Den Paragrafen?“ „Das Heimgesetz.“ Frau Möbius zeigte auf den Ordner. „Wir verstoßen hier mit unserer Wohngemeinschaft eigentlich permanent gegen das Heimgesetz. Dass wir uns dabei nicht wohlfühlen, dürfen Sie mir glauben. Es bleibt uns aber gar nichts anderes übrig.“
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„Versteh ich nicht.“ „Das sag ich doch. Deshalb versuche ich, es Ihnen zu erklären.“ „Wozu benötigen Sie ein Gesetz? Wohnen Sie doch einfach.“ „Ha.“ Frau Möbius lachte bitter. „Wenn es so einfach wäre. Studenten oder junge Leute … die können in dieser Hinsicht machen, was sie wollen. Aber uns Alten … uns traut man nichts mehr zu.“ „So alt sind Sie noch nicht.“ „Beinahe achtzig. Da gibt es gar nichts zu beschönigen. Adelheid ist sechsundneunzig, Inge dreiundachtzig. Wir sind nicht so krank wie Ihre Mutter, aber keine von uns könnte noch alleine leben. Trotzdem will keine in ein Pflegeheim. Wir haben uns hier, mithilfe Ihres Bruders, sehr gut eingerichtet. Für alle Kosten kommen wir gemeinsam auf, auch für das Personal. Was wir noch selber machen können, machen wir. Um den Rest haben sich Bernd und Maritta gekümmert. Seit Maritta weg ist, kam die neue Freundin. Sie hat es nicht so gut gemacht, trotzdem sind wir zurechtgekommen. Aber jetzt … ohne Bernd … wie soll das weitergehen?“ „Keine Ahnung.“ „Sie müssen diese Dinge übernehmen. Zumindest bis wir eine andere Lösung gefunden haben. Eine, die es uns ermöglicht, hier zu bleiben.“ „Ich weiß nicht.“ Emmy hatte bereits begonnen, die Annahme der zweihundert Euro zu bereuen. „Um welche Dinge würde es sich handeln?“ „Die Organisation des Hauses.“ Frau Möbius guckte hoffnungsvoll. „Unser gemeinsames Geld verwalten. Die Einkäufe erledigen. Die Termine mit Dr. Eder, der Friseurin, dem Physiotherapeuten und dem Fußpfleger abstimmen. Das Personal einteilen und abrechnen.“ „Sie meinen die Schwarzarbeiterinnen?“ „Alle Frauen sind angemeldet. Soweit ich weiß, zumindest. Sie bekommen nur mehr Geld, als es die Regelungen für Minijobs vorsehen.“
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„Auch das klingt nicht so, als sei es richtig“, sagte Emmy ohne Enthusiasmus. „Ich weiß.“ Die hoffnungsvolle Miene ihres Gegenübers war einer allenfalls leicht schuldbewussten gewichen. „Aber es geht nicht anders.“ „Und vom Heimgesetz habe ich noch nie etwas gehört.“ „Vielleicht ist das nicht so schlimm. Solange wir unauffällig bleiben und alles genauso machen wie bisher.“ „Wer sagt mir, wie es bisher gemacht wurde?“ „Das finden wir heraus.“ Frau Möbius lächelte nun sonnig. „Ein bisschen etwas können Adelheid und ich Ihnen erklären. Dann können wir im Keller nachsehen, dort ist das Büro Ihres Bruders. Und schließlich gibt es noch Klaus Friedrich Pröhl.“ „Wen?“ „Adelheids Sohn. Der ist noch jung, gerade mal einundsiebzig Jahre alt. Bestimmt kann er uns helfen, ich glaube, er war einmal Notar.“ Emmy starrte Frau Möbius wortlos an. Wenn sie es richtig verstanden hatte, erwartete man von ihr die Leitung einer illegalen Einrichtung inklusive der Beschäftigung nicht korrekt gemeldeter Arbeitskräfte. Und ganz offensichtlich existierte diese Einrichtung in dieser Form schon seit geraumer Zeit. Im Hause ihrer Mutter, unter der Ägide ihres Bruders. Mit Wissen und Billigung der noch keineswegs senilen, aber aufgrund ihres Lebensalters jede Form von Unrechtsbewusstsein in den Wind schlagenden Bewohnerinnen. Während sie noch überlegte, mit welcher Begründung sie die zweihundert Euro zurückgeben konnte, ohne Frau Möbius in eine unangemessene Verzweiflung zu stürzen, wurde an der Tür geklopft. „Herein“, rief Frau Möbius überrascht. Eine Frau in den Vierzigern, der man auf den ersten Blick ansah, dass sie nicht zu den Unvermögenden gehörte, betrat das Zimmer. „Maritta“, kreischte Frau Möbius ungläubig und erging sich minutenlang in überschwänglichen Bekundungen des Entzückens. „Jetzt wird alles gut“, erklärte
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sie Emmy schließlich ganz entspannt. „Darf ich vorstellen: Das ist Ihre Schwägerin.“ ★★★ Es gab noch einiges, was Emmerich interessierte, beispielsweise, woher Moni ihre Informationen bezüglich des Todes von Bernd Schlaicher bezogen hatte. Oder wer mit ihrer Andeutung, es gebe noch „ganz andere“, die in einem Interessenkonflikt mit dem Verstorbenen gestanden hätten, gemeint gewesen war. Bevor er aber fragen konnte, wurde das Gespräch durch ein Klingeln an der Wohnungstür gestört. „Kundschaft?“, fragte Mirko, begleitet von einem anzüglichen Grinsen, das er sich offensichtlich nicht verkneifen konnte, welches Emmerich aber für fehl am Platz und somit auch für unprofessionell hielt. Moni indes schien es gar nicht zu bemerken. Sie schüttelte lediglich den Kopf, murmelte etwas Unverständliches, stand auf und ging hinaus. „Sie ist ein Mensch wie jeder andere auch“, bemerkte Emmerich leise. „Zudem eine Zeugin, die wir womöglich dringend brauchen.“ „Weiß ich doch“, entgegnete Frenzel erstaunt. „Warum sagst du mir das extra?“ „Damit du dir das Grinsen sparst.“ „Also, komm … du musst doch selbst zugeben, dass … Sieh dir nur den rosa Anzug an. Ein Mäuschen, dessen Zuhälter ein arbeitsloser Alki ist?“ „Amüsiere dich privat darüber, wenn du es nötig hast. Das mit dem Weichei hättest du dir genauso sparen können.“ „Weil sie so sensibel ist?“ „Man muss Menschen respektieren. Besonders solche, denen es schlechter geht als einem selbst. Und keine voreiligen Schlüsse ziehen.“ „Inwiefern?“
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„Ich glaube nicht, dass Holzapfel ein Zuhälter im klassischen Sinn gewesen ist. Wahrscheinlich überhaupt kein Zuhälter.“ Mirko blieb die Antwort schuldig, denn von draußen war zu hören, wie Moni nach einem kurzen Wortwechsel mit demjenigen, der geklingelt hatte, ihre Wohnungstüre wieder schloss. Kurz darauf kam sie mit einem Päckchen unter dem Arm zurück ins Zimmer. „Für Alina“, erklärte sie und legte das Päckchen auf ein Regal neben der Tür. „Die Freundin von Herrn Schlaicher?“, nahm Emmerich den Faden wieder auf. Moni nickte. „Sie ist also nicht zu Hause?“ „Nein. Warum?“ „Weil wir uns auch mit ihr noch unterhalten sollten.“ „Ich habe sie die ganzen letzten Tage nicht gesehen. Das Handy hat sie aus.“ „Sie haben ihre Nummer?“ „In meinem Handy.“ „Wenn Sie uns die Nummer bitte geben würden.“ Es dauerte ein paar Minuten, bis Moni ihrem Speicher die entsprechende Zahlenfolge entlockt und auf einem Zettel notiert hatte. „Ich kann nicht besonders gut mit diesen Dingern umgehen“, entschuldigte sie sich anschließend. „Immerhin habe ich es geschafft, Alina eine Kurznachricht zu schicken. Wegen Erwin.“ „Das heißt, Herr Holzapfel und Schlaichers Freundin kannten sich ebenfalls?“ „Schlaicher hat sie durch Erwin überhaupt erst kennengelernt.“ „Und Sie selbst? Sind Sie auch mit ihr befreundet?“ „Das wäre zu viel gesagt. Alina ist so viele Jahre jünger.“ Monis Mienenspiel wechselte von sorgenvoll nach sentimental. „Ach ja, die Jugend“, seufzte sie gefühlvoll. „Weiß diese Alina, dass Schlaicher tot ist?“, fragte Mirko hastig. „Sicher“, entgegnete Moni gleichgültig. „Sie war in der Weberstraße. In der Nacht von Freitag auf Samstag. Sie hat mir doch da-
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von erzählt. Gleich, nachdem es passiert ist. Genau hier hat sie gesessen und geweint.“ „Und es kam keine von Ihnen auf die Idee, die Polizei zu informieren?“ „Die Polizei? Wozu denn?“ Mirko sah Emmerich an und verdrehte die Augen. Bevor jedoch einer von beiden eine weitere Frage stellen konnte, meldete sich Emmerichs Mobiltelefon. Er nahm es aus der Tasche und ging damit in den winzigen Flur. „Treffer“, informierte ihn Gitti am anderen Ende der Leitung. „Das vorläufige Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung sagt, dass Holzapfel sich nicht selbst erhängt haben kann. Die Strangulationsmerkmale müssen ihm in einer anderen Haltung zugefügt worden sein. Vermutlich hat er irgendwo gesessen, der Täter hat die Schlinge von der Seite zugezogen.“ „Und den Toten anschließend an die Garderobe gehängt?“ „So sieht es aus.“ „Holzapfel hat sich nicht gewehrt?“ „Keine Abwehrverletzungen. Daran hat auch die Untersuchung nichts geändert.“ „Erstaunlich.“ „Das Staunen habe ich mir lange abgewöhnt. Im Übrigen war er mächtig alkoholisiert.“ „Wie viel hat Holzapfel gewogen?“ „Weiß ich nicht.“ „Sei so gut, finde es heraus. Und schick die Spurensicherung in seine Wohnung. Mirko und ich sind schon im Haus.“ „Soll ich mitkommen?“ „Bitte.“ Emmerich steckte das Handy wieder ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Moni und Mirko saßen sich schweigend gegenüber, bemüht, dem Blick des jeweils anderen, so gut es in dem kleinen Raum eben ging, auszuweichen.
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„Es gibt Arbeit“, sagte Emmerich zu Mirko und darauf zu Moni: „Sie bleiben hier. Ich schicke Ihnen später eine Kollegin vorbei.“ „Warum?“ „Speichelprobe. Für den DNA-Abgleich.“ „Ich habe nichts getan.“ „Nur die Fische gefüttert.“ „Ist das jetzt verboten?“ „Sie waren in der Wohnung. Also brauchen wir Ihre DNA.“ In Monis Hirn schien eine Erkenntnis Gestalt anzunehmen, sie öffnete den Mund und sah Emmerich ungläubig an. „Ich kann Ihnen im Moment dazu nicht mehr sagen“, kam er ihrer Frage zuvor. „Versuchen Sie weiter, Alina zu erreichen. Wir melden uns wieder bei Ihnen.“
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11 Die Frau in den Vierzigern taxierte sie mit einem schnellen Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Emmys Aufmerksamkeit dagegen galt zunächst ihrem Gesicht, dessen Teint eine Spur zu gebräunt für hiesige Verhältnisse war. Das Honigblond der Haare dunkelte im Ansatz bereits nach und war damit auch nicht echt. Im Gegensatz zu ihren Ohrringen und einem Armband aus schwerem Gold. Dazu trug die Frau ein Business-Outfit im Stil der Bundeskanzlerin. Auf den ersten Blick erinnerte Maritta an eine jener hageren, robusten Damen, die ihre Gatten in modischer Treckingkleidung auf Jagdsafaris begleiteten. Emmy kannte die Spezies von ihren Reisen mit Hubert, gelegentlich hatten sie sich, vor allem aus hygienischen Gründen, Übernachtungen in den entsprechenden Lodges geleistet. Daheim, in Deutschland, machten solche Frauen einen etwas herben Eindruck, freundlich auftretend zwar, tatsächlich aber, für jemanden wie Emmy, unerreichbar. „Wie bitte?“, wandte Maritta sich, nachdem sie ihre Inspektion beendet hatte, fragend an Frau Möbius. „Was soll das heißen? Wer ist wessen Schwägerin?“ „Sie die von ihr“, entgegnete Frau Möbius stotternd. „Oder umgekehrt. Ich meine, wie man es nimmt. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind. Jetzt wird sicher alles gut.“ Maritta ignorierte das Gestammel und streckte Emmy eine beringte Hand entgegen. „Blind-Schlaicher“, stellte sie sich vor. „Und Sie sind wer?“ „Emily Steisshofer. Geborene Schlaicher.“ Emmy drückte die Hand nur kurz. „Bernds Halbschwester.“ „Ich wusste nicht, dass Sie kommen wollten. Er hat mir nichts davon gesagt.“
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„Nein, das war …“ eine spontane Idee von mir, wollte Emmy, eingedenk des Schreibens, das sie von Bernd erhalten hatte, geistesgegenwärtig sagen, kam aber nicht zu Wort. „Waren Sie bei Ihrer Mutter?“, fragte Maritta kurz angebunden. „Ja, ich …“ „Es geht ihr nicht besonders gut.“ „Ist mir schon aufgefallen.“ „Jedenfalls müssen Sie sich keine Sorgen um das Haus hier machen. Gehen Sie ruhig wieder hinauf, ich werde mich um alles kümmern.“ „Sie wissen also, dass Bernd …“ „Frau Finkelstein hat mich vor einer halben Stunde angerufen.“ Maritta wirkte nicht, als bereite es ihr besondere Mühe, angesichts der Nachricht vom Tod des Gatten ihre Fassung zu bewahren. „Es tut mir natürlich leid für Sie, dass das ausgerechnet jetzt passieren musste. Aber besonders nahegestanden sind Sie sich ja nicht. Soweit ich weiß.“ „Das vielleicht nicht, aber …“ „Sie müssen mich entschuldigen, ich habe nun einiges zu organisieren“, sagte Maritta Verzeihung heischend, ohne im Mindesten so auszusehen. „Wenn Sie wollen, können Sie gerne noch ein paar Nächte im Erkerzimmer wohnen bleiben. Ich bin sicher, wir werden noch Gelegenheit zu einer etwas ausführlicheren Erörterung der Dinge bekommen.“ Emmy verstand, dass sie sich als entlassen betrachten durfte. Sie verabschiedete sich daher mit einem kurzen Nicken von der plötzlich merkwürdig schweigsamen Frau Möbius, zog beim Verlassen des Raumes die Tür hinter sich zu, blieb dort stehen und legte das Ohr daran. „Haben Sie den Verstand verloren?“, hörte sie Maritta in gedämpftem, aber unüberhörbar verärgertem Ton sagen. „Ich kann nur hoffen, dass Sie dieser Frau nicht zu viel erzählt haben. Schließlich kennen wir sie gar nicht.“
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„Die Emilie ist sehr nett“, verteidigte sich halbherzig Frau Möbius. „Es spielt keine Rolle, ob sie nett ist. Sie versprechen mir jetzt, dass Sie schweigen werden. Sonst muss ich eine andere Lösung für Sie finden.“ „Nein. Bitte. Ich will nicht weg von hier. Ich will nicht in ein Heim.“ Emmy vernahm Schritte, die sich der Türe näherten. Hastig und auf Zehenspitzen trat sie den Rückzug ins obere Stockwerk an. Nach kurzem Zögern entschied sie sich gegen das Erkerzimmer, stattdessen ging sie in dasjenige der Mutter. Neben dem Fernsehsessel, auf dem Schemel, den Frau Finkelstein zum Füttern bereitgestellt hatte, saß Frau Pröhl. „Jetzt“, sagte sie betreten, „sitzen wir richtig in der Patsche.“ ★★★ Gitti und die Spurensicherung trafen unabhängig voneinander, aber nahezu zeitgleich ein. Schnell war man sich einig, die Kollegen erst einmal ungestört von neugierigen Kommissaren ihre Arbeit tun zu lassen und die Wartezeit im Straßencafé am Wilhelmsplatz zu verbringen. Anja mit dem blonden Pferdeschwanz erkannte Emmerich auf den ersten Blick wieder, nahm aber kommentarlos die Bestellung dreier Milchkaffees entgegen. Erst nachdem sie die Getränke, jeweils versehen mit einer Zuckerpackung und einem Keks, gebracht hatte, blieb sie stehen, drehte verlegen ihr Tablett und getraute sich schließlich zu fragen: „Gibt es etwas Neues? Vom Erwin?“ Emmerich kämpfte ein paar Sekunden mit den Vorschriften zum Datenschutz und dem, was ihm sein Instinkt zu tun riet. „Ich muss Ihnen leider“, siegte alsbald der Instinkt, „eine traurige Mitteilung machen. Herr Holzapfel ist tot.“ „So plötzlich?“ Anja sah zwar angemessen betroffen drein, gleichzeitig aber so, als erwarte sie weitere Enthüllungen. Die Emmerich natürlich nicht bereit zu geben war.
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„Ja“, entgegnete er und wartete. Anja aber schien weiter nichts mehr beitragen zu wollen, sondern sagte nur nach einer kleinen Pause: „Schade.“ „Kannten Sie ihn gut?“, versuchte Emmerich es nun mit Mitgefühl. „Er war oft hier. Ein angenehmer Kunde. Wenn meine Zeit es zuließ, haben wir auch ab und an ein Schwätzchen gehalten.“ „Worüber wurde so geschwätzt?“ „Dies und das“, erklärte Anja vage. „Von seinen Reisen hat er mir erzählt. Mit dem Rucksack ist er damals losgezogen. Einfach so, ohne Geld, ohne Handy, ohne alles. Das muss man sich mal vorstellen, heutzutage. Gejobbt hat er in halb Europa. Auch als Kellner, so wie ich. Da hatten wir immer gemeinsamen Gesprächsstoff.“ „Mehr war nicht?“ „Vor ein paar Wochen ist seine Mutter gestorben. Er hat das schlecht verkraftet, hat noch mehr getrunken als zuvor.“ „War er Alkoholiker? Ihrer Ansicht nach?“ „Schwer zu sagen“, sagte Anja und schien nachzudenken. „Wo verläuft die Grenze? Ich will das nicht beurteilen. Wir sind eine Kneipe. Wir sind auf Umsatz angewiesen. Wir halten niemanden vom Trinken ab. Trotzdem … manchmal dachte ich, weniger hätte ihm nicht geschadet. Zumal er in den letzten Wochen plötzlich anschreiben lassen wollte.“ „Holzapfel schuldet dem Lokal noch Geld?“ Anja schüttelte den Kopf. „Anschreiben gibt es bei uns nicht. Ich hab ihm zweimal einen ausgegeben, mehr konnte ich nicht für ihn tun.“ „Und zuvor? Hatte er genügend Geld?“ „Zumindest für die Zeche hat’s gereicht“, lächelte Anja mit leichter Wehmut. „Und für ein gutes Trinkgeld auch.“ „Sagte er etwas darüber, warum er plötzlich nicht mehr zahlen konnte?“
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„Nein. Ich hatte nur den Eindruck, dass er eine Riesenwut mit sich herumtrug. Viel mehr Wut als Trauer.“ In Gittis Umhängetasche klingelte das Handy, sie fischte es heraus und sagte: „Wir kommen gleich.“ Emmerich nahm dies zum Anlass, sich bei Anja zu bedanken und einen Schluck vom nicht mehr sonderlich warmen Milchkaffee zu trinken. „Ich fasse zusammen …“, begann er mit einer ausholenden Geste und wurde von Gitti unterbrochen. „Die Spurensicherung hat angerufen. Sie haben was gefunden, das sie uns gerne zeigen möchten.“ „Es wird doch wohl noch Zeit für einen kalten Kaffee und eine Zusammenfassung bleiben?“ „Scheinbar geht es um einen Termin, den Holzapfel für heute ausgemacht hat. Bei einem Anwalt. In einer Stunde. Wäre es nicht gut, wenn wir ihn wahrnehmen würden?“ „Doch“, sagte Mirko und stand auf. Emmerich verzichtete ohne Bedauern auf den Rest des Tasseninhalts, nahm aber den beiliegenden Keks und biss hinein. „Nicht zu dritt“, meinte er kauend. „Natürlich nicht. Ihr beide geht. Ich habe andere Pläne.“ „Hast du?“, fragte Emmerich und sah den Jüngeren erstaunt an. ★★★ Aus Lisbeth Schlaichers linkem Auge rollte eine Träne. Emmy beobachtete einen Augenblick lang fasziniert, wie sie sich langsam ihren Weg über die Wange der Mutter bahnte, bevor sie sie mit dem Ärmel wegtupfte. „Bitte weine nicht“, sagte sie einigermaßen hilflos. „Ich bin bei dir, ich lass dich nicht alleine.“ „Nehmen Sie sich einen Stuhl und setzen Sie sich neben mich“, befahl Frau Pröhl, die Lisbeths Hand in ihrer hielt. „Wir halten Kriegsrat.“
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„Kriegsrat?“, wiederholte Emmy ungläubig, tat aber das Verlangte. „Mit meiner Mutter?“ „Lisbeth bekommt noch viel mehr mit, als man von außen denken könnte. Nicht wahr, Lisbeth?“ „Haa“, äußerte überraschend die bewegungslose Frau im Fernsehsessel, drehte unendlich langsam ein wenig den Kopf und sah Emmy an. „Hehi.“ „Damit sind Sie gemeint“, erklärte Frau Pröhl. „Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie ebenfalls so nennen. Und Sie sagen Adelheid zu mir.“ „Wenn Sie meinen“, antwortete Emmy wenig überzeugt. Eine eigentlich Fremde einfach „Adelheid“ zu nennen, widerstrebte ihr zwar ebenso wie die Vorstellung, plötzlich als „Hehi“ zu firmieren, es war dies aber vermutlich das kleinste Problem, das sich gerade stellte. „Im Übrigen“, fuhr Adelheid Pröhl bereits fort, „haben Sie schon als Baby auf meinem Schoss gesessen. Auch wenn Sie sich daran vermutlich nicht erinnern werden.“ „Nein“, bestätigte Emmy schwach. „Wir haben unseren Lebensabend in Spanien verbracht. Mein Mann und ich. Sie brauchen daher nicht darüber nachzudenken, ob Sie mich vergessen haben. Seit Ihrer Taufe haben wir uns nicht gesehen. Trotzdem kenne ich Sie besser, als Sie denken.“ „Ach ja?“ „Weil Lisbeth mich immer auf dem Laufenden gehalten hat. Wir sind seit langer Zeit befreundet.“ „Haa … aahh“, stöhnte Emmys Mutter. Adelheid Pröhl tätschelte liebevoll ihre Hand. „Und deshalb wohnen wir nun auch zusammen. Als mein Mann gestorben ist, wollte ich nicht mehr alleine in Spanien leben. Ich kam zurück und zog zu meinem Sohn. Das erwies sich nicht als gute Lösung.“ „Nicht?“ „Nein. Ich war damals schon zu alt, um mich noch um jemand anderen kümmern zu können.“
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„Hätte es nicht umgekehrt sein sollen?“ Emmys Mutter gab erstaunlicherweise ein Geräusch von sich, das als Kichern interpretiert werden konnte, und über Adelheid Pröhls Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns. „Vielleicht lernen Sie ihn eines Tages kennen“, sagte sie nachsichtig. „Meinen Sohn. Dann werden Sie verstehen. Er kommt sehr nach seinem Vater, nicht Lisbeth?“ „Huuh“, machte Emmys Mutter, woraufhin Adelheid Pröhl nach der Schnabeltasse griff und sie ihrer Freundin an die Lippen hielt. „Kurzum“, sprach sie weiter, während Lisbeth Schlaicher vernehmlich schlürfte, „es ergab sich, dass ich eine andere Lösung suchen musste. Und nicht nur ich. Wir alle. In diesem Haus war Platz genug. Wir waren fest entschlossen, nicht ins Pflegeheim zu gehen. Nicht, solange wir noch einigermaßen rüstig waren.“ „Wer ist das? Wir alle?“ „Ursprünglich waren wir zu fünft“. Adelheid Pröhl setzte die Tasse wieder ab und wischte routiniert mithilfe eines Taschentuchs etwas Flüssigkeit von Lisbeth Schlaichers Kinn. „Wir beide, Inge Heimerdinger, Margot Kauz und Charlotte Holzapfel. Wir kennen uns seit über fünfzig Jahren. Aus dem Café Schapmann in der Königstraße. Das gibt es allerdings schon lange nicht mehr.“ An das Café erinnerte sich Emmy dunkel, es hatte im ersten Stock mit Blick auf die Geschäftsstraße gelegen, sich größter Beliebtheit beim Publikum erfreut, für ein Kind aber wenig Unterhaltsames geboten. „Ich dachte, Frau Holzapfel hätte Margot geheißen“, sagte sie etwas verwirrt. „Das bringt die Möbius immer durcheinander“, beschied Adelheid sie barsch. „Wie soll sie es auch besser wissen, sie gehört ja nicht zu uns. Margot heißt Kauz, Charlotte ist verstorben. Mit Inge geht es abwärts, und meine arme Lisbeth … aber das sehen Sie ja selbst.“ „Und wo ist Margot?“ Adelheid Pröhl sah Emmy an, dann Lisbeth und dann wieder Emmy.
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„Margot musste fort“, sagte sie langsam, als denke sie über jedes einzelne Wort, das sie aussprach, nach. „Haben Sie schon mal von Stuttgart 21 gehört?“ „Natürlich“, entgegnete Emmy überrascht. „Wissen Sie, warum es gebaut werden soll?“ „Äääh …?“ „Viele Leute verstehen das nicht. Aber Lisbeth und ich, wir wissen Bescheid. Ganz zu Anfang haben sie es uns gesagt, die Politiker. Es geht um eine schnelle Zugverbindung von Stuttgart nach Bratislava. Auch wenn davon heute niemand mehr spricht. Wozu, glauben Sie, braucht man eine solche Zugverbindung?“ „Ich habe keine Ahnung“, sagte Emmy, die zwar von dieser Begründung für den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs gehört hatte, sie aber wahlweise für vorgeschoben, unglaubhaft oder unsinnig hielt. „Nach Bratislava“, erklärte Adelheid Pröhl mit erhobenem Zeigefinger, „wird man die alten Leute bringen. Es werden viele sein. Ihre Versorgung in Deutschland ist zu teuer. Margot lebt schon dort, man hat das so für sie entschieden. Sie war zu schwach, um sich noch wehren zu können.“ „Das ist nicht Ihr Ernst.“ „Mein voller Ernst“, erklärte Adelheid Pröhl mit Nachdruck, und auch Emmys Mutter ließ ein zustimmendes „Ooohh“ hören. „Margot hat geschrieben. Es kam im Fernsehen. Heime in Osteuropa sind die Zukunft. Ich bin dankbar, dass ich das nicht mehr erleben muss, wenigstens hoffe ich …“ An der Zimmertür wurde kurz und hart geklopft, bevor sie von außen geöffnet wurde. Adelheid Pröhl verstummte abrupt, Lisbeth Schlaicher zuckte, als Maritta den Raum betrat. „Hier sind Sie“, stellte sie mit kühler Stimme, an Emmy gewandt fest. „Ich suche Sie schon überall.“ „Mich? Warum?“ „Ein Herr Frenzel steht vor der Tür und will Sie sprechen.“
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12 Dem Schriftwechsel im dünnen Aktenordner, den sie von den Kollegen der Spurensicherung erhalten hatten, war zu entnehmen, dass Holzapfels Anwalt, in Wahrheit eine Anwältin, nicht weit weg, im Gerberviertel, ansässig war. Obwohl mitten in der normalerweise überall geschäftigen Innenstadt gelegen und vor einigen Jahren von Grund auf modernisiert, war es in diesem Viertel seltsam ruhig, es waren kaum Passanten unterwegs. Was sicherlich nicht am dort angesiedelten Polizeirevier lag, sondern eher den vielen Baustellen an den Rändern des Quartiers zu verdanken war. Vielleicht aber auch, wie Emmerich glaubte, einer gewissen Sterilität der Neubauten, die so in jeder anderen Stadt auch hätten stehen können. Man konnte sagen, dass das Viertel, selbst für schwäbische Verhältnisse, insgesamt zu „sauber“ ausgefallen war; denn zum Leben gehörten, zumindest nach Emmerichs Ansicht, Chaos und Unordnung ebenso wie Reinlichkeit und Systematik. Wo Ersteres einstmals beinahe schon im Übermaß vorhanden gewesen war, hatte das Pendel nun gnadenlos in die andere Richtung ausgeschlagen. Läden, die auf das Vorhandensein von Laufkundschaft angewiesen waren, konnten in solch einer Umgebung keinesfalls überleben, allenfalls Geschäfte, die das Publikum gezielt aufsuchte. So wie den renommierten Fachhändler für den Verkauf von Noten, bei dem Emmerich in jungen Jahren seine erste Schlagzeugschule erworben hatte und der sich vor den hohen Mieten der 1-a-Lagen hierher geflüchtet hatte. Die Räume der gegenüberliegenden Krimibuchhandlung aber standen leer, wofür Gitti allerdings nicht die Umgebung, sondern das Internet verantwortlich machte. „Ist ja kein Wunder“, sagte sie leicht resigniert. „Wenn die Leute nur noch im Netz bestellen, und in Zukunft alle E-Books lesen. Die
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ganze Branche kämpft. Ich bin sehr gespannt, ob wir in zehn Jahren überhaupt noch Zeitungen haben werden.“ „Du kennst meine Meinung“, entgegnete Emmerich achselzuckend, riskierend, einmal mehr als nicht zukunftsfähig dazustehen. „Ich halte nichts davon. Vom Internet.“ „Aber wie soll es denn noch ohne gehen? Es hat so viele Vorteile gebracht. Nicht zuletzt auch für die Polizeiarbeit.“ „Genauso wie für Gauner, Verbrecher und Betrüger.“ „Jede neue Entwicklung hat Schattenseiten. Wir können schließlich nicht einfach stehen bleiben. Die Welt verändert sich, es gibt Gewinner und Verlierer. So war es doch schon immer.“ „Sicher“, sagte Emmerich gleichmütig. „Du scheinst nicht überzeugt zu sein.“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Ist mir jetzt zu kompliziert. Wie heißt diese Anwältin?“ Gitti schlug den dünnen Aktenordner auf. „Lämmerwein“, las sie ab. „Christophstraße. Um die Ecke.“ „Irgendwoher kenne ich den Namen.“ „Aus der Zeitung? Ist sie prominent?“ „Wir hatten schon einmal mit ihr zu tun.“ „Wir? Ich war in diesem Viertel noch nie bei einem Anwalt.“ „Sie war woanders. Damals. Vielleicht fällt’s mir wieder ein, wenn ich sie sehe.“ ★★★ Es war tatsächlich der jüngere der beiden Polizeibeamten, der auf Emmy wartete. Sie hatte ihm als Person bei der ersten Begegnung nur wenig Beachtung geschenkt, wohl, weil sie selbst zu nervös gewesen war. Jetzt jedenfalls machte er einen ausgesprochen schüchternen Eindruck auf sie, wie er so dastand und nicht wusste, wohin mit den Händen.
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„Hallo“, sagte er unschlüssig und fuhr sich durch die Haare. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie nochmals störe.“ „Macht nichts“, entgegnete Emmy höflich. „Worum geht es?“ „Meine Karte.“ Der Beamte reichte ihr ein kleines Stück Karton. „Ich habe vergessen, Sie Ihnen zu geben.“ „Danke“, sagte Emmy überrascht und nahm das Kärtchen. „Falls Ihnen noch etwas einfällt“, erklärte der Beamte, die Hände nun in seinen Hosentaschen vergrabend. „Und … wegen der Leiche.“ „Eeeh …?“ „Ich hab ja Ihre Nummer. Wir können also telefonieren, wenn sie zur Bestattung freigegeben wird.“ „Ich fürchte, da müssen Sie mit anderen reden. Mit meiner Schwägerin zum Beispiel. Sie ist im Haus, ich kann sie holen.“ „Es eilt nicht.“ „Nicht?“ „Durchaus nicht.“ „Ja, dann …?“ Emmy warf einen Blick auf das Kärtchen. Herr Frenzel machte keine Anstalten, zu gehen. „Kann ich noch etwas anderes für Sie tun?“ „Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Wie lange bleiben Sie noch in der Stadt?“ „Ich weiß nicht“, antwortete Emmy wahrheitsgemäß. Ihre Verwunderung über das Verhalten des Beamten versuchte sie, sich nicht anmerken zu lassen. „Wozu müssen Sie das wissen?“ „Es gibt da ein paar Dinge, die mich noch interessieren würden.“ „Frau Holzapfel betreffend?“ „Auch.“ Wieder gab es eine unnatürlich lange Pause im Gesprächsfluss. Schließlich räusperte sich Frenzel kehlig und sagte mit belegter Stimme. „Vielleicht darf ich Sie zum Abendessen einladen? Damit wir uns in Ruhe unterhalten können?“ „Ist das üblich? Bei Verhören?“ „Um Gottes willen. Es g … g … geht doch nicht um ein Verhör“, stotterte Frenzel unbeholfen. In Emmy keimte ein Verdacht. Hu-
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berts Tod lag nun einige Monate zurück, bislang war ihr jeder Sinn für männliche Annäherungsversuche schlichtweg abgegangen. Daheim, in Olching, hätte dies auch sicher weiterhin gegolten. Hier jedoch stand ihr ein neuer, wenig ersprießlicher Abend im Erkerzimmer bevor, aufgelockert einzig durch die Lektüre längst antiquarischer Taschenbücher, die irgendjemand dort zurückgelassen hatte. Die Annahme einer Einladung zum Abendessen zog nicht zwangsläufig die umgehende Aufnahme einer intimen Zweierbeziehung nach sich. Emmy beschloss also, dem jungen Polizeibeamten aus seiner Verlegenheit zu helfen. „Heute?“, fragte sie keck und nahm amüsiert zur Kenntnis, wie Herr Frenzel ob dieses offenbar unerwarteten Erfolgs ein wenig zuckte. „Gerne“, entgegnete er aufgeregt und nahm die Hände aus den Taschen. „Um sieben? Holen Sie mich ab?“ „Natürlich. Was mögen Sie denn so?“ Egal wollte Emmy spontan antworten, besann sich aber blitzschnell eines Besseren: „Wenn’s nichts ausmacht … am liebsten Schwäbisch. Das hatte ich schon lange nicht mehr.“ „Kein Problem, ich finde etwas Nettes“, versprach der Polizeibeamte freudig. „Dann bis heute Abend.“ ★★★ Das Büro lag im ersten Stock, die Tür wurde von einer Frau mit aschblonden, an einigen Stellen bereits ins Graue tendierenden Haaren geöffnet. „Ja, bitte?“, fragte sie in reserviertem Ton. „Wir wollen zu Frau Lämmerwein“, antwortete Emmerich. „Anstelle von Herrn Winfried Holzapfel, der nicht persönlich kommen kann.“ „Tatsächlich? Sie kommen mir bekannt vor.“
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„Hauptkommissar Reiner Emmerich, Kripo Stuttgart“, gab Emmerich der ihm ebenfalls vage vertraut erscheinenden Frau seine Identität bekannt. „Nicht schon wieder“, gab die, wenig begeistert und auch nicht unbedingt mit vollendeter Höflichkeit, zurück. „Wenn mich nicht alles täuscht“, mutmaßte Emmerich, „hatten wir schon einmal das Vergnügen miteinander.“ „Ein Vergnügen war das nicht“, entgegnete Carola Lämmerwein sarkastisch. „Und wenn Sie immer noch dort arbeiten, wo Sie damals waren, dann nehme ich mal an, dass es auch heute keines wird.“ „Sie haben recht. Wir sind leider dienstlich hier.“ Anstelle einer Antwort zog die Frau lediglich die Brauen hoch. „Meine Kollegin, Hauptkommissarin Brigitte Kerner. Dürfen wir hereinkommen?“ „Bitte.“ Carola Lämmerwein zog die Tür vollständig auf. Dahinter lag ein kleiner Flur mit wenigen Stühlen, einem offenen Zugang zu einer Teeküche, einer Tür mit der Aufschrift „WC“ und einer weiteren, die in das einzig vorhandene Büro führte. Dorthin wurden Emmerich und Gitti geleitet und gebeten, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Die Anwältin setzte sich, kerzengerade, auf die gegenüberliegende Seite. „Hatten Sie damals nicht eine größere Kanzlei?“, wollte Emmerich, sich umschauend und auf der Suche nach einer geeigneten Eröffnung des Gesprächs, interessehalber wissen. „In der Königstraße?“ „Kronprinzstraße“, verbesserte Carola Lämmerwein gelangweilt. „Nach dem Mord an Peter Nopper habe ich mich von meinem damaligen Partner getrennt. Größe ist nicht alles.“ „Wahrscheinlich nicht.“ „Und Sie? Sind immer noch bei der Mordkommission?“ „So ist es“, bestätigte Emmerich, auf den Hinweis, dass es eigentlich „Dezernat für Tötungsdelikte“ heißen müsste, verzichtend. „Soll das heißen, dass meinem Mandanten etwas … zugestoßen ist?“
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„Korrekt.“ „Wurde er umgebracht?“ „Es gibt einiges, das dafür spricht.“ „Super“, seufzte Carola Lämmerwein und gab ihre gerade Haltung auf. „Also hab ich wieder mal umsonst gearbeitet. Sind Sie befugt, mir Details zu sagen?“ Emmerich umriss in groben Zügen die Umstände des Todes von Winfried Holzapfel und beobachtete dabei die Mimik seines Gegenübers. Daraus war zu schließen, dass Carola Lämmerwein die sexuellen Vorlieben ihres Mandanten neu und auch offenbar zuwider waren. Er ging daher nicht weiter darauf ein, sondern wies auf den dünnen Aktenordner. „Wir haben in seiner Wohnung zwei Schreiben und eine Kostennote von Ihnen gefunden“, erklärte er abschließend. „Dazu den Zettel mit dem heutigen Termin. Deshalb sind wir hier.“ „Eine unbeglichene Kostennote“, konnte sich die Anwältin nicht verkneifen, zu erwidern. „Die vermutlich jetzt auch unbeglichen bleiben wird.“ „Das ist nicht unsere Baustelle. Wir suchen ein Motiv. Weshalb hat Holzapfel Sie aufgesucht?“ „Ein Schwerpunkt meiner Tätigkeit ist immer noch das Erbrecht. Es ging um seine Mutter.“ „Sie hat ihn enterbt?“ „Nein, so einfach ist die Sache nicht.“ Carola Lämmerwein stand auf und nahm ihrerseits einen etwas dickeren Ordner aus einem Regal hinter ihrem Rücken. „Der Erwin fühlte sich betrogen. Um das, was er für sein Erbe hielt.“ „Der Erwin?“ „Sein Spitzname. Wir kennen uns von früher. Sonst wäre er wohl kaum zu mir gekommen. Holzapfels finanzielle Lage ließ es eigentlich nicht zu, die Dienste einer Anwältin in Anspruch zu nehmen.“ „Und von wem fühlte Erwin sich betrogen?“ „Eins nach dem anderen“, erwiderte Carola Lämmerwein, setzte sich wieder hin und schlug den Ordner auf. „Die Mutter, Charlotte
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Holzapfel, verbrachte ihre letzten Lebensjahre in einer selbst verwalteten Seniorenwohngemeinschaft.“ Emmerich fügte in Gedanken den neuen Begriff seiner bereits vorhandenen Sammlung, bislang bestehend aus „Heimen“, „Instituten“ und „Residenzen“, hinzu. Wohnen im Alter schien mittlerweile eine komplizierte Angelegenheit geworden zu sein. „Haus Vogelgarten“, bestätigte er seine Kenntnis der Wohngemeinschaft. Carola Lämmerwein sah nur kurz auf, bevor sie weitersprach: „Wie viele alte Leute musste auch Frau Holzapfel irgendwann erkennen, dass sie mit der Organisation ihrer Angelegenheiten überfordert war. In den meisten Fällen überlässt man die Dinge dann den Kindern.“ „Wenn man welche hat.“ „Und wenn sie dazu in der Lage sind. Beim Erwin war das nicht der Fall. Die arme Frau Holzapfel hat das völlig richtig eingeschätzt.“ „Er war Alkoholiker, nicht wahr?“ „Davon können Sie ausgehen. Erwin lebte von der Stütze und den Zuwendungen der Frau Mama. Fälschlicherweise ging er davon aus, dass das ewig so anhalten würde.“ Carola Lämmerwein blätterte in ihrem Ordner und nahm etwas heraus. „In der besagten Seniorengemeinschaft jedenfalls wohnte Charlotte Holzapfel mit ein paar guten Freundinnen zusammen, versorgt vom Sohn der Hausbesitzerin. Der genoss dann wohl auch ihr Vertrauen, vor einigen Jahren hat sie sich entschlossen, ihm eine Betreuungsvollmacht auszustellen. Hier …“ Die Blätter aus dem Ordner wurden über den Tisch gereicht, Emmerich gab sie sogleich an Gitti weiter. Die Anwältin fuhr fort: „Eine solche Vollmacht ist sehr weitreichend. In diesem Fall wurde der Sohn der Hausbesitzerin, ein gewisser Bernhard Schlaicher, auch mit der Verwaltung einer Immobilie betraut. Ein marodes Mietshaus, aus dessen Erträgen Frau Holzapfel ihren Lebensunterhalt bestritten hat. Und den von Erwin, nebenbei.“
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„Und wo ist das Problem?“ „Schlaicher erklärte mir, dass bei diesem Haus aufwändige Sanierungsarbeiten nötig gewesen wären. Das Dach, die Heizung, die Elektrik, so ziemlich alles, was an einem Haus kaputtgehen kann. Dafür hätte Frau Holzapfel einen Kredit benötigt, den sie aufgrund ihres Alters nicht mehr bekommen hat. Schlaicher hat also dafür gesorgt, dass das Haus verkauft wurde. Vom Erlös hat Charlotte Holzapfel gelebt. Als sie starb, war nicht mehr allzu viel davon übrig. Weitaus weniger, als Erwin dachte. Er erwartete, das Haus zu erben.“ „Er selbst hat sich um nichts gekümmert?“ „Schlaicher sagte es mir so.“ „Wann haben Sie mit ihm gesprochen?“ „Letzte Woche. Am Mittwoch oder Donnerstag. Aus meiner Sicht war das rechtlich auch alles ganz korrekt. Sogar den Kaufvertrag habe ich besorgt.“ Wieder wanderte ein Schriftsatz aus dem Ordner über den Tisch, den Gitti entgegennahm. „Am Freitag“, fuhr Carola Lämmerwein fort, „habe ich Holzapfel das Ergebnis meiner Recherchen mitgeteilt und ihm von einer Klage abgeraten. Er wurde wütend. Sehr wütend.“ „So wütend, dass er noch am selben Abend auf Schlaicher mit dem Messer losgegangen ist“, sagte Emmerich mehr zu sich selbst. Carola Lämmerwein sah ihn fragend an. „Für Schlaicher war diese Attacke tödlich“, setzte er erklärend hinzu. „Nicht wegen des Messers, es war das Herz. Der Schreck.“ „Er sagte mir am Telefon, dass er eine Operation vor sich habe. Und sich nicht aufregen dürfe.“ „Das ist ihm dann wohl schwer misslungen.“ „Sehr bedauerlich“, nickte Carola Lämmerwein unbeteiligt. „Ich fürchte allerdings, dass ich nicht ganz verstehe … Wenn Schlaicher schon am Freitag außer Gefecht gesetzt wurde … wer hat dann Holzapfel auf dem Gewissen? Hängt beides überhaupt zusammen?“ „Wir wissen es noch nicht. Was glauben Sie?“ „Keine Ahnung. Bin ich Detektiv? Ich hasse solche Dinge.“ Carola Lämmerwein sah nicht so drein, als wolle oder könne sie noch
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Wesentliches beitragen. Stattdessen streckte sie die Hand aus und sah Gitti an. „Wenn Sie diese Unterlagen nicht mehr brauchen …“ „Kopien“, entgegnete Gitti, immer noch blätternd. „Wir hätten gern Kopien.“ „Von mir aus“, seufzte die Anwältin müde. „Ich nehme an, dass ich die Akte danach auch schließen kann.“ ★★★ Emmy saß im Erkerzimmer und zählte ihre Barschaft. Zweihundert Euro von Frau Möbius, einhundertsiebzehn, die sie selbst noch in der Börse hatte. Danach inspizierte sie den Inhalt ihres Rucksacks. Eine Ersatzjeans, ein letztes sauberes T-Shirt, ein Paar ebensolcher Socken, etwas Wäsche. Für einen längeren Besuch in Stuttgart war sie nicht gerüstet. Schon gar nicht fürs Ausgehen mit einem Fremden. Einem attraktiven Fremden, fügte sie in Gedanken hinzu und spürte leichtes Magenkribbeln. Ein Gefühl, von dem sie gedacht hatte, es gehöre für immer der Vergangenheit an. Das T-Shirt war olivgrün, etwas ausgewaschen und mit dem Logo einer Lodge am Amazonas bedruckt. Emmy schüttelte den Kopf und sah auf ihre Uhr. Es blieb ihr noch genügend Zeit, um sich vor dem abendlichen Date etwas Neues zu besorgen − sie beschloss, genau dies sofort zu tun. Im Begriff, das Zimmer zu verlassen, stieß sie beinahe mit Maritta zusammen, die vor der Türe stand. „Oh“, sagte sie in ihrer kühlen Art. „Wollen Sie ausgehen? Oder abreisen?“ „Nur schnell in die Stadt“, gab Emmy knapp zurück. Was sie von ihrer Schwägerin zu halten hatte, war ihr nicht ganz klar. Vermutlich war es aber auch nicht wichtig, sie ging nicht davon aus, dass die Bekanntschaft über einen längeren Zeitraum gepflegt werden würde. „Wir beide müssen reden“, erklärte Maritta und rang sich ein Lächeln ab. „Jetzt?“
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„Später habe ich einen Termin. Ich bin eine berufstätige Frau. Es war nicht geplant, dass ich heute überhaupt hierherkomme.“ „Wenn Sie meinen.“ Emmy ging zurück ins Zimmer, deutete auf den einzigen, dort vorhandenen Stuhl und setzte sich aufs Bett. Das Erkerzimmer war bis auf ein paar wenige Möbel leer. Neben dem Bett und dem Stuhl gab es noch einen kleinen Tisch mit ungewöhnlich hohen Beinen, einen zweckmäßigen, nicht besonders stabil wirkenden Schrank mit Schiebetüren, einen schäbigen Hocker, auf dem Emmys gebrauchte Kleidung lagerte, und ein Bild von Dürers betenden Händen in einem Plastikrahmen neben der Tür. Marittas Blick glitt zur Zimmerdecke, Emmys Augen folgten wie von selbst. Die Tapete über dem Schrank wies punktartige, dunkle Flecken auf. „Ich weiß nicht, was es ist“, sagte Maritta mit gefurchter Stirn. „Hoffentlich kein Schimmel. Das Haus, jedenfalls, ist in keinem guten Zustand. Auch darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.“ „Es ist nicht mein Haus“, entgegnete Emmy einigermaßen erschreckt und erfuhr eine Vision unendlich langwieriger, unendlich teurer Renovierungsmaßnahmen, die sie keinesfalls zu bewältigen vermochte. Maritta beobachtete sie immer noch lächelnd, nicht mitleidig, sondern eher spöttisch. So zumindest kam es Emmy vor. „Das weiß ich“, verkündete ihre Schwägerin ein paar Sekunden später. „Aber vielleicht hätten Sie es gerne?“ „Das Haus? Ich? Bestimmt nicht.“ „Dann hätten wir diesen Punkt ja schon geklärt. Bleibt also Ihre Mutter. Sie haben gesehen, wie es um sie steht.“ „Leider.“ Emmy nickte. „Ich wusste nichts davon. Bernd hat mir nie …“ „Ehrlich gesagt, hatten wir nicht den Eindruck, dass Sie sich für Lisbeths Zustand interessierten. Bernd und ich. Nicht einmal angerufen haben Sie. In den letzten Monaten.“ „Es tut mir leid“, antwortete Emmy lahm. Sie fühlte sich schuldig. „Mir ging’s nicht gut. Mein Mann … er starb. Alles war sehr schwer für mich.“
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„Natürlich. Das verstehe ich. Es ist auch nicht so, dass Sie sich um etwas kümmern müssten. Ihre Mutter ist schon angemeldet. In einem Pflegeheim. Mir ist nur wichtig, dass Sie nichts dagegen haben.“ „Wie sollte ich?“ Die Vision der Renovierungsarbeiten wich einer anderen, in der die Mutter wohlversorgt in einem Bett lag und Emmy daheim in Olching auf dem Sofa. Es schien, als habe Frau Möbius recht gehabt und nicht Frau Pröhl − beim Auftauchen der Schwägerin handelte es sich um einen wahren Glücksfall. „Nun …“, zögerte diese etwas, bevor sie fortfuhr: „Es ist eine Frage der Bezahlung. Ich möchte vermeiden, dass Sie mir eines Tages Vorwürfe machen.“ Und wieder bekam es Emmy mit der Angst zu tun. „Soll das heißen, dass ich zahlen muss? Für Mamas Aufenthalt im Pflegeheim?“ „Als Tochter wären Sie dazu gezwungen“, sagte Maritta ernst. „Trotzdem darf ich Sie beruhigen. Bernd und ich haben bereits alles so geregelt, dass Ihnen keine Verpflichtungen entstehen. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie mir weiter freie Hand lassen. Um alles so zu machen, wie geplant.“ „Selbstverständlich“, japste Emmy, deren Vorstellung von Bett und Sofa sich umgehend wieder verflüchtigt hatte, erleichtert. „Sie hätten also nichts dagegen, wenn wir eine kleine, diesbezügliche Vereinbarung schriftlich festhalten? Die Sie mir unterschreiben? Sie wären dann die Sorgen los.“ „Ich unterschreibe alles. Wenn es mich nur nichts kostet.“ „Das kann ich versprechen.“ Maritta lächelte wieder, nun etwas herzlicher als vorher, und stand auf. „Wie lange wollen Sie noch bleiben?“ „Ich weiß nicht“, entgegnete Emmy wahrheitsgemäß. „Vielleicht … bis zur Beerdigung? Brauchen Sie meine Hilfe?“ „Nicht nötig“, winkte Maritta ab. „Es wird wohl keine große Feier geben. Ich fragte nur wegen des Zimmers. Anfang August kommt
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eine neue Mitbewohnerin. Sie müssten dann in ein Hotel. Wenn ich suchen helfen soll …“ „Bis dahin bin ich weg“, sicherte Emmy hastig zu. „Dann sehen wir uns morgen. Um unsere Vereinbarung zu treffen.“
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13 Der Biergarten der „Tauberquelle“ gehörte, genauso wie das Gasthaus selbst, zu den ältesten der Stadt. Fachwerk, das noch niemand versuchte hatte, in ein austauschbares Geschäftsgebäude zu verwandeln, obwohl es zentral gelegen war. Im Prinzip also ein Wunder in Emmerichs bauwütiger Heimat, im Augenblick allerdings fehlte ihm die Zeit, dieses Wunder entsprechend zu genießen. Gitti hatte Carola Lämmerweins Kopien auf dem Biertisch in einer kleinen Laube ausgebreitet. „Was das wohl bedeutet?“, sinnierte sie mit gefurchter Stirn. „Der Bevollmächtigte kann für mich analog dem weitestmöglichen Wirkungskreis eines nach dem Betreuungsgesetz bestellten Betreuers dann auch weiterhandeln?“ „Er kann erforderliche Fürsorgemaßnahmen, auch soweit sie mit Freiheitsentziehung durch Unterbringung oder unterbringungsähnliche Maßnahmen verbunden sind, veranlassen“, zitierte Emmerich im besten Juristendeutsch weiter. „Und beliebige Vereinbarungen mit Kliniken, Alten- und Pflegeheimen treffen.“ „Ich glaube, mir wird schlecht.“ Gitti trank von ihrer Apfelschorle. „Wie kann man so was unterschreiben?“ „Was bleibt dir übrig, wenn du alt und krank bist?“ „Das ist ein Freibrief für … für …“ „Ich denke, man muss viel Vertrauen haben. Frau Holzapfel hat Bernhard Schlaicher sicher von klein auf gekannt. Wo sie doch eine dicke Freundin seiner Mutter war, wie unsere Zeugin Moni meinte.“ „Aber Freiheitsentziehung? Ich finde, das geht zu weit.“ „Es sind standardisierte Formulierungen. Man muss nicht alles praktisch tun, was theoretisch möglich ist.“
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„Diese Vollmacht ist für zwei Personen ausgestellt. Bernhard Schlaicher einerseits, Maritta Blind-Schlaicher andererseits.“ „Die eine wird die Ehefrau des anderen sein.“ „Sehe ich ebenso. Was nützt uns dieses Wissen?“ „Schwer zu sagen.“ Emmerich stützte beide Arme auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. „Den Kaufvertrag hat diese Frau unterschrieben.“ Gitti schob ein Blatt zwischen Emmerichs Ellbogen. Der ließ die Augen zu. „Und wenn schon. Die Lämmerwein hat doch gesagt, dass damit alles in Ordnung ist. Sie hat mit ihm telefoniert.“ „Die Vollmacht und der Kaufvertrag wurden vom selben Notar gemacht.“ „Hältst du das für ungewöhnlich?“ „Wahrscheinlich nicht. Wir könnten den Notar aufsuchen …“ „Was soll das bringen?“ „Dann gehen wir jetzt in die Wohnung? Die Spusi müsste fertig sein.“ „In welche Wohnung?“, fragte Emmerich unkonzentriert, öffnete die Augen und gähnte. „Holzapfel“, sagte Gitti streng, entfernte das Blatt vor ihm und sah ihn kritisch an. „Was ist heute los mit dir?“ Emmerich nahm die Ellbogen vom Tisch und richtete sich auf. „Immobiliengeschäfte“, erklärte er mit müdem Blick, „schlagen mir derzeit auf den Magen. Gabi will unsere Wohnung verkaufen.“ „Warum das denn? Die ist doch wunderschön.“ „Aber im vierten Stock. Ohne Aufzug. Wenn wir älter werden, meint sie …“ „Sie hat nicht unrecht“, wechselte Gitti in null Komma nichts die Fronten. „Aber … habt ihr etwas anderes in Aussicht? Wohnungen sind wahnsinnig teuer, vor allem in der Stadt.“ „Sie ist längst am Renovieren. Im Erdgeschoss. Bei ihrer Mutter. Mit Garten. Das ist nicht mein Problem.“ „Im Grünen?“ Gitti guckte entzückt. „Ist doch toll. Glückspilze seid ihr, du solltest froh sein.“
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„Es strengt mich alles maßlos an.“ „Was?“ „Dachboden und Keller räumen. Fliesen schleppen. Der ganze Dreck. Dazwischen ihre Mutter, die immer alles besser weiß. Jedes zweite Wochenende geht inzwischen dafür drauf.“ „Aber es lohnt sich. Ist für einen guten Zweck.“ „Ich weiß nicht“, äußerte Emmerich, wenig überzeugt. „Früher fiel mir so was leichter.“ „Das ist normal. Vermute ich.“ „Vielleicht. Ich bin nicht mehr der Jüngste …“ „Aus diesem Grund zieht ihr ja um.“ „Ach, wirklich? Willst du mir schonend beibringen, dass ich gleich danach am besten auch so eine Vollmacht unterschreiben soll?“ „Spinnst du? Nach den neuen Regelungen hast du noch viele Jahre bis zur Rente.“ „Eben“, seufzte Emmerich deprimiert. „Was nützt mir da ein Garten, wenn ich ihn nicht genießen kann?“ Gitti schob resolut die Lämmerwein’schen Blätter zusammen und steckte sie in ihre vielfarbig gemusterte Umhängetasche. „Das klingt mir jetzt zu destruktiv“, sagte sie munter. „Besser, wir gehen in Holzapfels Wohnung. Du wirst auf andere Gedanken kommen.“ Emmerich jedoch schüttelte den Kopf. „Lass uns das morgen machen“, bat er. „Ich habe versprochen, heute pünktlich zu Hause zu sein. Und vorher sollte ich vielleicht noch mal bei Frau Sonderbar im Präsidium vorbeischauen.“ ★★★ Die Königstraße hatte sich verändert, seit Emmy vor ein paar Jahren zum letzten Mal dort gewesen war. Wie überall gab es selbstverständlich auch hier inzwischen noch weniger Geschäfte, die nicht in irgendeiner Form zu einer der großen Einkaufsketten gehörten, doch das war es nicht, was Emmy gestört oder verwundert hätte.
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Was ihr fehlte, war das Flair von früher, sie brauchte eine ganze Weile, bis sie entdeckte, woran das lag. Nicht an den Straßenmusikanten, die heute statt südamerikanischer Panflötenmusik eher Melodien vom Balkan intonierten. Auch nicht an den Bettlern, die ihr zwar zahlreicher und ärmer vorkamen als einst, die es aber gleichwohl immer gegeben hatte. Nein, was fehlte, waren die Waren auf der Straße, die Kleiderständer vor den Läden, in denen man ziellos hatte stöbern können, die Körbe mit reduzierten Socken, Waren zum halben Preis, modischen Accessoires und nutzlosem Tand, die Dinge, die einen Stadtbummel erst zum Erlebnis machten. Die Einkaufsmeile wirkte nicht mehr so südländisch-locker, wie Emmy sie gekannt hatte, sondern eher nüchtern und steril. Ein Umstand, der vielleicht dem Eintritt der Finanzkrise geschuldet war, mutmaßte Emmy, vielleicht steigenden Zahlen von Ladendiebstahl, vielleicht auch gestiegenen Personalkosten, die den Händlern eine ständige Pflege der Auslagen zu aufwändig machten. Vielleicht aber auch eine Rückkehr zu altschwäbischen Vorstellungen von Sauberkeit und Ordnung, wer konnte das schon wissen? Der Vorteil lag eindeutig darin, dass weniger Möglichkeiten zum Geldausgeben lockten, Emmy hatte sich gezielt in der Damenabteilung eines Kaufhauses eine Bluse und ein neues Shirt gekauft. Dabei war es geblieben, sie befand sich auf dem Rückweg, als ihr wieder aufgeladenes Handy klingelte und Micha Föhnfelder sich meldete. „Tut mir leid, dass ich so einfach abgehauen bin“, sagte Emmy, die nicht unhöflich sein wollte. „Noch mal danke für das Sofa.“ „Keine Ursache“, erklärte Micha. „Bist du noch in Stuttgart?“ Emmy schwankte kurz zwischen dem Impuls zum Schwindeln und ihrem eigentlichen Hang zur Wahrheitsliebe. „Ja“, siegte die Letztere, doch sie setzte vorsichtshalber gleich hinzu: „Aber nicht mehr lange.“ „Ich habe eine Bitte.“ „Welche denn?“ „Könntest du ein paar gute Fotos von mir machen? Für Bewerbungen, du weißt schon, was ich meine …“
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Dazu hatte Emmy wenig Lust, doch natürlich war sie Micha etwas schuldig und ebenso natürlich hatte sie auch eine Kamera dabei. Nicht ihre beste, aber eine, die für diesen Zweck ausreichen mochte, vorausgesetzt, sie fand den richtigen Hintergrund. Eine leere Wand im Erkerzimmer, wo sich auch der Fotoapparat befand, zum Beispiel. „Meinetwegen“, gestand sie Micha deshalb zu. „In einer Stunde. Bei mir.“ Sie nannte die Adresse ihrer Mutter. „Ich kann nicht versprechen, dass sie gut werden. Die Bilder. Aber …“ „Die werden prima“, jubelte Micha, ohne auf ihren Einwand einzugehen. „Bis gleich, ich mach mich schon mal schön.“ ★★★ Den Journalisten habe sie mitgeteilt, erläuterte Frau Sonderbar nach Emmerichs Eintreffen im Präsidium triumphierend, dass es bei der Messerstecherei in der Weberstraße kein eigentliches Opfer gegeben habe. Nur einen Mann mit Herzinfarkt. Damit auch nichts Sensationelles, das sich zu berichten lohne. Emmerich, der nie auf die Idee verfallen wäre, seine Sekretärin wegen unerwartet guter Neuigkeiten zu umarmen, verspürte den starken Drang, ihr einen besonderen Dank aussprechen zu müssen: „Sehr gut“, sagte er deshalb anerkennend. „Sie dürfen sich was wünschen.“ „Jetzt?“, fragte Frau Sonderbar erstaunt. „Sofort?“ „Wenn Sie wollen.“ „Lieber später.“ Emmerich ging weiter in sein Büro, riss eine gelbe Haftnotiz vom Block, schrieb Ein Wunsch frei für Frau Sonderbar darauf und pappte den Zettel an seinen Telefonapparat. „Damit ich’s nicht vergesse“, teilte er ihr schmunzelnd mit. Frau Sonderbar, die ihm gefolgt war, legte mechanisch den Block wieder akkurat an seinen Platz und zeigte auf die Klarsichthülle mit
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dem Bitte-nicht-stören-Schild und der Notiz, die Gitti an Holzapfels Wohnungstür sichergestellt hatte. „Apropos gelber Zettel“, sagte sie streng. „Ich habe mir erlaubt, Ihren Schreibtisch aufzuräumen. Dabei ist mir dies hier aufgefallen.“ „Was ist damit?“ „Haben Sie sich den Zettel schon genauer angesehen?“ „Genauer? Es ist ein Zettel, auf dem steht, dass jemand erst am Dienstag wieder da ist.“ „Darum geht es. Welcher Jemand? Wessen Schrift ist das?“ „Mit dem Jemand dürfte Holzapfel gemeint sein. Ob es seine Schrift ist, wissen wir noch nicht.“ „Auf jeden Fall ist es nicht nur eine Schrift.“ „Nicht nur eine? Wie meinen Sie denn das?“ Emmerich nahm die Lesehilfe, die er in einer seiner Schubladen aufbewahrte, heraus. Immer noch brachte er es nicht übers Herz, die eigentliche Brille, die er sich vor einiger Zeit hatte anfertigen lassen, mit ins Büro zu nehmen. Mit Brillen, so fürchtete er insgeheim, mochte es sich ähnlich verhalten wie mit Schirmen. Man nahm sie mit, benötigte sie dann doch nicht ständig und vergaß sie schließlich irgendwo. Weshalb er auf das Mitführen von Schirmen im Allgemeinen längst verzichtete. Seinen Augengläsern, die schließlich nicht wenig gekostet hatten, wollte er das Schicksal des Vergessenwerdens erst gar nicht zumuten. Stattdessen griff er auf Lesehilfen zurück, von denen ihm tatsächlich schon einige verlustig gegangen waren. Weshalb er überall dort, wo er vermeinte, sie eventuell zu benötigen, eine der Billigbrillen installiert hatte. Das Büroexemplar gehörte zu den ältesten und glich einem Damenmodell aus den 50er-Jahren. Frau Sonderbar, obwohl längst an den Anblick des Modells gewöhnt, konnte sich ein missbilligendes Stirnrunzeln nicht verkneifen. „Die Initialen und das erste Wort. Wurden mit einem anderen Stift notiert als der Rest der Nachricht. Wenn man genau hinsieht, erkennt man es.“
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Emmerich hielt sich die Klarsichthülle unter die nunmehr bebrillte Nase. „Möglich“, räumte er ein. „Der Zettel hat auch nicht das richtige Format. Wenn Sie mich fragen, wurde oben ein Stückchen abgerissen.“ „Wozu?“ „Ich nehme an, dass dieser Zettel in Holzapfels Wohnung herumlag. Ursprünglich und in seiner Schrift stand etwas anderes darauf. Der Mörder hat die Botschaft geändert und gehofft, dass man den Unterschied nicht sieht. Vielleicht hatte er auch vor, die Nachricht am Dienstag wieder zu entfernen.“ „Und nicht damit gerechnet, dass Holzapfel vorher gefunden wird?“ „Immerhin wurde mithilfe dieser Nachricht doch versucht, den Eindruck zu erwecken, dass niemand zu Hause ist.“ „Stimmt“, meinte Emmerich, setzte die Lesehilfe ab und legte die Klarsichthülle zurück auf den Schreibtisch. „Wenn Sie bitte nochmals schauen wollen“, sagte Frau Sonderbar mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit und reichte ihm die Hülle wieder. „Die Notiz wurde geknickt und wieder auseinandergefaltet.“ „Wenn Sie es sagen“, entgegnete Emmerich, sah aber statt des Zettels gespannt seine Sekretärin an. Was ihm auch ohne Brille mühelos gelang. „Es gehört natürlich nicht zu meinen Aufgaben“, erklärte Frau Sonderbar und schlug auf ungewohnte Art in gespielter Verlegenheit die Augen nieder. „Aber ich habe eine Theorie entwickelt.“ Emmerich unterdrückte ein Grinsen. „Bitte tragen Sie sie vor“, forderte er höflich. „Auf dem Zettel stand etwas, das ihn verraten hätte. Den Mörder. Also hat er ihn erst einmal mitgenommen. Später kam ihm die Idee mit der Nachricht. Das würde erklären, warum kein Zettel da war, als Sie mit Herrn Frenzel vor der Tür gestanden haben.“
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„Und bedeuten, dass der Täter noch einmal zurückgekommen ist. Irgendwann, zwischen Samstagnachmittag und Montag früh.“ „Vielleicht hat jemand ihn in dieser Zeit gesehen?“ „Sagen Sie sofort den Kollegen, die die Nachbarn befragen, Bescheid. Dass sie sich auch danach erkundigen sollen.“ „Einen Augenblick noch“, entgegnete Frau Sonderbar, nahm die Hülle wieder an sich und drehte sie um. In mehreren Sprachen war „Bitte machen Sie mein Zimmer sauber“ auf dem Schild zu lesen. „Zeigen Sie das dem Tatortreiniger“, erlaubte Emmerich sich einen milden Scherz. Frau Sonderbar verzog keine Miene. „Haben Sie die Internetadresse gesehen? Unten, am Rand des Schildes?“ „Meinen Sie, die hilft uns weiter?“ „Man kann nie wissen. Wenn Sie wollen, drucke ich Ihnen schnell das Wichtigste von der dazugehörenden Homepage aus.“ „Das schadet sicher nichts.“ Emmerich warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Aber lesen kann ich es erst morgen. Heute muss ich pünktlich los.“ „Ach ja“, gab Frau Sonderbar, bereits im Verlassen des Büros begriffen, leichthin zurück. „Bevor ich es vergesse … Ihre Frau hat auch schon angerufen.“ „Gabi? Was wollte sie?“ „Ich soll Sie daran erinnern, dass Sie heute pünktlich …“ „Danke“, entgegnete Emmerich dezidiert. „In fünf Minuten bin ich weg.“ ★★★ Sah man von dem Umstand ab, dass er ein frisches T-Shirt trug, schien Micha trotz seiner vollmundigen Ankündigung nicht wesentlich schöner zu sein als am Freitagabend. Emmy reichte ihm ein Papiertaschentuch und bat ihn, sich den dünnen Schweißfilm abzutupfen, der sich auf dem haarlosen Haupt gebildet hatte. Was aber, wie sie fürchtete, auch nicht viel helfen würde, denn ohne Jackett
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und Krawatte wirkte Micha mit seinem Ziegenbärtchen auf allen Aufnahmen, die sie von ihm vor der nicht mehr ganz weißen Raufasertapete des Erkerzimmers machte, keineswegs wie ein seriöser Kandidat für einen seriösen Job. Dennoch zeigte er sich recht zufrieden, nachdem er die Bilder von der Kamera auf den mitgebrachten Laptop geladen hatte. „Es hilft nichts, sich zu verstellen“, erklärte er, um ihre vorgebrachten Zweifel zu zerstreuen. „Alles andere wäre ja nicht ich.“ „Trotzdem finde ich, du solltest …“ „Das wird heute nicht mehr so eng gesehen, glaub mir.“ „Wenn du meinst“, sagte Emmy, der die berufliche Laufbahn des einstigen Schulkameraden ja letztendlich auch egal sein konnte, wenig überzeugt und setzte lediglich interessehalber hinzu: „Als was bewirbst du dich? Bei wem?“ „Seniorberater“, verkündete Micha großspurig. „Mit Fixgehalt und Provision. Keine Vorkenntnisse erforderlich. Sogar ein Dienstwagen ist drin.“ Aus der Hosentasche fummelte er ein zerknülltes Stück Papier. „Hier ist die Anzeige.“ Emmy nahm das Papier, strich es glatt und las: „Da steht aber nicht Seniorberater“, wandte sie nach wenigen Sekunden ein. „Da steht Seniorenberater.“ „Macht keinen Unterschied“, tat Micha nonchalant ihren Einwand ab. Emmy gab sich entsetzt: „Es geht darum, alten Menschen Dinge zu verkaufen, die sie nicht wirklich brauchen.“ „Was ist daran ehrenrührig? Überflüssiges Zeug wird hergestellt, an den Mann gebracht und wieder weggeworfen. Darauf basiert doch unsere halbe Wirtschaft. Mindestens.“ „Du bist zynisch.“ „Ich muss überleben. Irgendwie.“ „Mit Heizkissen und Rheumadecken? Womöglich noch auf Kaffeefahrten?“ „Nein“, widersprach Micha, ohne Emmy anzusehen, holte ein Smartphone aus der anderen Hosentasche und begann zu tippen.
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„Darum geht’s hier nicht. Sieh her, das ist die Homepage von Gerontulos.“ „Wer?“ „Die Firma, die die Anzeige geschaltet hat.“ „Ich kann das jetzt nicht alles lesen. Auf dem kleinen Bildschirm.“ „Musst du nicht. Nur, damit du weißt, was Sache ist. Diese Firma verkauft keine Heizdecken, sie baut Seniorenresidenzen. Im Ausland. Billiger und weitaus schöner als bei uns.“ „In Bratislava“, bemerkte Emmy, eingedenk der Worte von Frau Pröhl, höhnisch und spontan. „Auch, soweit ich weiß“, entgegnete Micha ernsthaft. „Ich muss mich erst noch einlesen. Falls sie mich überhaupt zum Vorstellungsgespräch einladen.“ „Das heißt, du sollst den Leuten schmackhaft machen …“, blieb Emmy mitten im Satz stecken und sah ihn ungläubig an. „… dass sie mit ihren kleinen Renten dort viel besser versorgt werden als hier“, vollendete Micha überzeugt. „Ich finde, das ist eine gute Sache. Ich müsste nicht einmal mit schlechtem Gewissen arbeiten.“ „Aber … wenn sie hier Familie haben? Die alten Leute? Wenn sie die Sprache dort nicht sprechen …?“ „Müssen sie sie eben lernen. In einem netten Silver-Ager-Sprachkurs. Und wo deine Familie wohnt, ist heutzutage doch egal. Wozu gibt es Skype?“ Emmy wollte erneut widersprechen, doch dann kam ihr der eigene Lebensweg in den Sinn und sie biss sich auf die Lippen. Sie hatte nicht einmal über das weltweite Netz einen regelmäßigen Kontakt zur Mutter aufrechterhalten. Was natürlich einerseits daran gelegen hatte, dass diese mit den technischen Voraussetzungen dafür nicht vertraut war, aber – und das gestand sich Emmy ehrlicherweise ein – von ihr auch gar nicht angestrebt worden war. Sie war mit Hubert und sich selbst beschäftigt gewesen, um die Mutter kümmerte sich Bernd, sie hatte sich, ohne je darüber nachzudenken, einfach darauf verlassen, dass damit schon alles seine Ordnung hat-
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te. Ob in Stuttgart oder anderswo auf dieser Welt, wo die Mutter lebte, hatte für sie keine Rolle gespielt. Für die Mutter selbst allerdings sicher schon, nur … „Sorry, ich muss los“, unterbrach Micha ihren Gedankenfluss. „Ich will diese Bewerbung noch heute fertig machen.“ „Natürlich“, murmelte Emmy abwesend und reichte ihm die Hand. „Viel Glück damit.“ „Sehen wir uns noch mal, bevor du abreist?“ „Ich weiß nicht. Nein, wahrscheinlich nicht.“
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14 Fünf nach fünf schloss Emmerich die Tür zu seiner Wohnung auf und musste feststellen, dass der Makler sich bereits darin befand. Ein Mann, der exakt so aussah, wie man sich einen Makler vorstellte: Anzug, Krawatte, weißes Hemd, gegeltes Haar, Laptoptasche unterm Arm. „Von Königstein“, stellte er sich vor und hielt Emmerich die Visitenkarte, die er wohl gerade Gabi hatte reichen wollen, hin. „Tag“, brummte Emmerich, die Karte achtlos einschiebend. „Fangt schon mal an, ich brauche was zu trinken.“ „Schön haben Sie es hier“, sagte Herr von Königstein und sah zur Decke. „Diese wunderbaren alten Stuckarbeiten. Und die hohen Räume. Das ist schon etwas ganz Besonderes. Darf ich fragen, wann das Haus gebaut wurde?“ „Jahrhundertwende“, antwortete Gabi prompt, fügte aber nach kurzem Nachdenken hinzu: „Die vorletzte natürlich.“ „Und das Parkett ist original?“ Unter Herrn von Königsteins schicken Slippern knarrte eine Diele. „Wie originell.“ Emmerich verdrückte sich kommentarlos in die Küche, entledigte sich seiner Straßenschuhe, holte ein Weizenbier aus dem Kühlschrank und gönnte sich nach dem Einschenken einen großen Schluck. Er hatte das Glas noch nicht abgestellt, als der Makler mit Gabi im Gefolge durch die Tür kam. „Ah ja“, äußerte er, sich umsehend, bedeutungsschwanger. „Früher wurde natürlich anders gebaut. Als heute.“ „Was meinen Sie damit?“, wollte Gabi, deren Mienenspiel Emmerich schon jetzt eine gehörige Portion Skepsis entnehmen konnte, wissen.
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„Verstehen Sie mich bloß nicht falsch“, bat Herr von Königstein mit professionellem Lächeln. „Früher galt eine Küche als reiner Wirtschaftsraum. Heute denken wir da mehr an einen Wellnessund Eventbereich.“ „Tun wir das?“ Emmerich produzierte in voller Absicht einen kleinen Rülpser. „Aber sicher“, entgegnete der Makler unbeeindruckt. „Mit Kochinsel und Essplatz. Entsprechend größer sind die Räume heute.“ „Diese Küche war mal größer“, warf Gabi erklärend ein. „Ein Teil davon wurde abgetrennt. Nach dem Krieg. Um ein Bad einzubauen. In solchen Wohnungen gab es nämlich damals keine Bäder. Teilweise nicht einmal WCs. Wir dagegen haben sogar eines für Gäste.“ „Etagenklos“, nickte von Königstein, von dem angenommen werden durfte, dass er allein schon aufgrund seines Alters noch nie ein solches zu Gesicht bekommen hatte, wissend und mit leichtem Schaudern. „Unbeheizt und gleich für mehrere Parteien. Heute hat man da doch ein bisschen andere Ansprüche. Wie viele Quadratmeter, sagten Sie, haben Sie hier?“ „Sechsundachtzig“, knurrte Emmerich unwirsch. „Plus Veranda. Etagentoiletten waren einmal Luxus. Statt Abtritten und Plumpsklos. Damals war es Wellness, wenn die Leute ihr Geschäft …“ „Bitte, Hasi“, zischte Gabi warnend und setzte, an Herrn von Königstein gewandt, hinzu. „Dies ist die Veranda. Hat nicht jeder.“ „Darf ich?“ Der Makler betrat den lichten Vorbau mit Blick in den ortsüblichen Hinterhof, hüstelte und betrachtete prüfend erst Gabis Pflanzen und dann die Fenster. „Sehr hübsch. Was für ein schöner Drachenbaum. Sie haben einen grünen Daumen, was?“ „Es ist mein Lieblingsplatz“, entgegnete Gabi geschmeichelt. „Ja, ja“, sagte Herr von Königstein mit falscher Sentimentalität. „Man hängt an solchen Orten. Auch wenn’s ein wenig zugig ist. Die Fenster sind eben nur einfach verglast.“ Der geschmeichelte Ausdruck in Gabis Gesicht verschwand.
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„Hier zieht gar nichts“, erwiderte sie knapp. „Wollen Sie das Bad sehen?“ „Gerne.“ Makler und Gabi verließen die Küche, Emmerich hörte sie das Bad besichtigen und ging davon aus, dass dessen postmodernes 70er-Jahre-Design Herrn von Königstein auch nicht überzeugen würde. Er stellte die leere Bierflasche in den Korb fürs Altglas, nahm sein Weizen und wollte gerade ins Wohnzimmer gehen, als Jule, weitgehend ausgehfertig und mit feuchten Haaren, durch die Tür kam. „Muss das jetzt sein?“, fragte sie mit grimmigem Gesicht. „Wer ist der Schleimer, der mein Zimmer sehen will?“ „Mach dir keine Sorgen. Spätestens in einer halben Stunde ist er wieder weg.“ „Ihr wollt tatsächlich unsere Wohnung verkaufen. Hab ich recht?“ „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“, gab Emmerich ausweichend zurück und versuchte vergeblich, an seiner Tochter vorbei, in den Flur zu gelangen. „Wo soll ich dann wohnen?“, wollte sie eisig wissen. „Falls ich bei euren Plänen überhaupt noch eine Rolle spiele?“ „Jetzt lass die Kirche doch im Dorf. Mama will lediglich herausfinden, was wir bekommen könnten. Für die Wohnung.“ „Von diesem Pinguin?“ „Es ist ein Makler.“ „Voll übel.“ „Deshalb ist die Wohnung noch lange nicht verkauft.“ „Ihr zieht zu Oma und lasst mich einfach sitzen.“ „Davon kann keine Rede sein. Du weißt, dass Mama für dich bei Oma unterm Dach …“ „Und du weißt, dass ich das nicht will.“ Jule schüttelte den Kopf. So heftig, dass Emmerich ein paar Wassertropfen abbekam. „Glaub mir, wir finden eine Lösung.“ „Ha“, drückte Jule mit einem Ausdruck tiefster Verachtung ihren Unglauben aus und verfolgte mit den Augen, wie ihre Mutter den
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Besucher ins Wohnzimmer geleitete. „Macht was ihr wollt, ich muss jetzt weg.“ „Kind …“ Doch Jule hatte die Küche verlassen, voller Zorn, von dem ein Teil an Emmerich hängen geblieben war. Wütend stärkte er sich mit einem weiteren Schluck vom Weizenbier und ging ins Wohnzimmer. „Wie wird die Wohnung denn beheizt?“, fragte dort gerade Herr von Königstein. „Mit Kohle“, ließ Emmerich seine Frau gar nicht erst zu Wort kommen. „Ist nicht Ihr Ernst“, entsetzte sich der Makler und beließ den Mund, offenbar schockiert, gleich offen. „Aber sicher“, versetzte Emmerich ungerührt. „Mit meiner Kohle. Für die ich jeden Tag zur Arbeit gehe. Damit ich dann am Abend meine Ruhe habe.“ ★★★ Frenzel, der Polizeibeamte, hatte sich Mühe gegeben. Frisch rasiert duftete er nach etwas Gutem, hatte die Kleidung gewechselt und stand pünktlich vor der Tür, um Emmy abzuholen. Sie nahm diese Details wohlwollend zur Kenntnis und hoffte, auch ihrerseits mit neuem Shirt und neuer Bluse einen positiven Eindruck zu machen. Viel mehr erhoffte sie sich nicht, es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie mit einem Fremden ausging, sie war in dieser Hinsicht „aus der Übung“, wie man so sagte, und hatte schon beim Ankleiden festgestellt, dass dieser Umstand sie verunsicherte. Während der kurzen Autofahrt zu einem Parkhaus in der Innenstadt wurde kaum gesprochen, Frenzel konzentrierte sich auf den Verkehr. Erst als sie am Schillerplatz aus dem Parkhaus heraus zurück in die Oberwelt gelangten, begann das Eis zu tauen. „Ich fand schon immer“, sagte Emmy und sah sich um, „dass dieser Platz der schönste in der Stadt ist.“
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„Geht mir genauso“, erwiderte Frenzel, in Anbetracht dieser ersten Übereinstimmung sichtlich erfreut und zeigte auf die Terrasse des einzigen, sich dort befindlichen Lokals. „Deshalb hab ich genau hier reserviert.“ „Schön.“ Emmy entfuhr ein leises Kichern. „Früher war uns das zu spießig.“ „Wann früher?“ „In den Neunzigern. Meine damaligen Freunde … wir dachten, hier ist nur für alte Leute.“ „Na ja“, sagte Frenzel mit drolligem Grinsen. „Das ist ja nun schon eine Weile her.“ „Ich weiß. Vermutlich sind wir inzwischen selbst …“ „Aber nein.“ Ihr Begleiter ließ sich von einem Kellner den reservierten Tisch zeigen und rückte dort, ganz Kavalier, für Emmy einen Stuhl zurecht. „Sie auf keinen Fall. Und in diesem Altersheim … da sind Sie doch nur zu Besuch. Wenn ich Sie recht verstanden habe.“ „Schon.“ Emmy setzte sich, man einigte sich auf Wein und Wasser, Frenzel griff nach der Speisekarte. Sie entschied sich für lang nicht mehr genossene Kässpätzle mit Salat, er für einen Stuttgarter Filetteller. „Haben Sie noch viele Freunde?“, wollte er schließlich wissen. „In der Stadt?“ „Keinen einzigen. Ich war zu lange weg.“ „Erzählen Sie.“ Und tatsächlich gelang es Emmy, zum ersten Mal seit Huberts Tod, in unbefangener Art über ihr bisheriges Leben zu sprechen, Fragen zu beantworten, ohne zu weinen und sogar, selbst welche zu stellen. Speisen und Getränke wurden serviert, sie begann, den Abend zu genießen. Trotz der todschick gekleideten Damen am Nachbartisch, die sich lautstark über die Segnungen der Schönheitschirurgie unterhielten, oder des telefonierenden Mannes im Anzug, der nur wenig weiter saß. Die Neunziger waren vorbei und Emmy keine siebzehn mehr. Ebenso vorbei wie ihre Ehe und ihre Existenz
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irgendwo draußen in der Wildnis. Für eine erwachsene Frau, auf der Suche nach einem sinnvollen Dasein innerhalb der Zivilisation, gab es keinen Grund, sich in einem schicken Restaurant, in Gesellschaft solcher Leute unwohl oder fremd zu fühlen. Nicht einmal, als Emmy etwas erschrocken feststellen musste, dass während des Nachtischs ausgerechnet Maritta neben dem telefonierenden Mann im Anzug Platz genommen hatte, fühlte sie sich unbehaglich. Stattdessen wandte sie den Kopf ein wenig ab, senkte die Stimme und beschrieb Mirko Frenzel ausführlich die etwas komplizierten Verhältnisse im Haus ihrer Mutter, das nun den Namen „Vogelgarten“ trug. ★★★ Herrn von Königsteins Besuch neigte sich dem Ende zu. Emmerich und Gabi saßen ihm gegenüber auf dem Sofa und beobachteten schweigend, wie er geschäftig Daten in ein kleines Notebook tippte. „Dann wollen wir mal sehen“, sagte er schließlich, mehr zu sich selbst als zu seinen potenziellen Kunden. „Sechsundachtzig Quadratmeter. Altbau. Vierter Stock. Kein Aufzug, keine Tiefgarage. Keine energetische Gebäudesanierung in jüngster Zeit. Letzte Modernisierung sagen wir vor … vierzig Jahren?“ „Dreißig“, unterbrach Gabi den Monolog. „Außerdem haben wir zwischendurch immer wieder mal was machen lassen. Die Heizung beispielsweise.“ „Dreißig“, korrigierte sich von Königstein, milde lächelnd und tippte. Wenig später lehnte er sich zurück. „Das Programm errechnet nun den Wert der Immobilie. Einen Augenblick und … ah … da haben wir es schon.“ Das Notebook wurde so gedreht, dass Emmerich und Gabi den Bildschirm sehen konnten. „Einhundertzweiundvierzigtausend Euro.“ Gabi schnappte hörbar nach Luft, ansonsten schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben. Weshalb Emmerich sich, trotz seiner Wut, verpflichtet fühlte, wenigstens ein „Aha“ von sich zu geben.
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„Hatten Sie mit mehr gerechnet?“, fragte Herr von Königstein teilnahmsvoll. „Meine Frau …“, begann Emmerich zögerlich und war dankbar, als Gabi neben ihm tief Atem holte. „Oh ja“, sagte sie energisch. „Ich habe mich im Internet informiert. Zweitausend Euro pro Quadratmeter sind das Mindeste. Außerdem haben Sie die Veranda vergessen.“ „Die Veranda, liebe Frau Emmerich, ist nur ein Balkon, sie …“ „Was ist mit den hohen Räumen? Was mit den Stuckarbeiten? Und dem Originalparkett? Sagten Sie nicht, das sei etwas ganz Besonderes?“ „Selbstverständlich. Wenn Sie einen Liebhaber finden, der gerade genau so etwas sucht. Generell ist es aber eher so, dass Stadtwohnungen in dieser Größe heute nicht mehr so gefragt sind. Zumal in dieser Lage. Mit der Baustelle des neuen Hauptbahnhofs direkt vor der Tür.“ „Das kann noch Jahre dauern.“ „Eben.“ Herr von Königstein griente unverbindlich und drehte den Bildschirm um. „Ich dachte, die Immobilienpreise in den Innenstädten explodieren.“ „Nicht für jede Immobilie.“ Der junge Mann hatte das Tippen wieder aufgenommen. „Leider. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Warum vermieten Sie die Wohnung nicht? Meine Firma hat spezielle, aber durchaus seriöse und solvente Mieterinnen in der Kartei. Die sind an dieser Gegend, rund um das Neckartor, derzeit ausgesprochen interessiert. So um die eintausendfünfhundert Euro wären sicher drin. Im Monat. Die Vermittlung wäre für Sie kostenlos.“ Emmerich stand auf. „Vielen Dank für den Besuch“, sagte er höflich. „Wir denken noch mal darüber nach.“ „Meine Karte haben Sie?“, vergewisserte sich Herr von Königstein, klappte sein Notebook zusammen und erhob sich ebenfalls. „Dann darf ich mich verabschieden …?“
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„Gerne“, gab Emmerich zurück und beeilte sich, den Makler vor die Tür zu bringen. Wieder im Wohnzimmer sah er Gabi an. „Unverschämtheit“, sagte die. „Was hast du denn erwartet?“ „Mehr.“ „Ich hab dir gleich gesagt, dass es schwierig werden wird. Warum bleiben wir nicht einfach hier?“ „Das haben wir besprochen.“ Gabi studierte stirnrunzelnd die Visitenkarte des Herrn von Königstein. „Spezielle, aber solvente Mieterinnen“, zitierte sie nicht ohne Hohn. „Was der sich vorstellt? Glaubt er, man kann hier ohne Weiteres ein Bordell einrichten? Was würden wohl die Nachbarn dazu sagen?“ „Na ja“, grummelte Emmerich in keine besondere Richtung gewandt. „Der Flurfunk im Präsidium zwitschert …“ „Was?“ „Dass sich das Gewerbe tatsächlich inzwischen gern hier um die Ecke niederlässt. Die ganzen Bauarbeiter aus aller Herren Länder. Sind alle ohne Frauen da …“ „Widerlich“, schnaubte Gabi mit Inbrunst und betrachtete angeekelt das Emmerich’sche Sofa. „Dass so einer hier gesessen hat. Trellos-Immobilien. Nie wieder will ich den hier sehen.“ „Ganz meine Meinung“, stimmte Emmerich, dessen eigene Empörung sich bereits wieder gelegt hatte, erleichtert zu. „Was gibt es zu essen?“ ★★★ Zwischenzeitlich war Mirko ein frisches Pils serviert worden, vor Emmy stand ein Cappuccino. Sie hatten sich aufs „Du“ verständigt, doch obwohl Emmy ihn ausgesprochen nett fand, vielleicht sogar ein bisschen mehr als das, folgte sie seinen Schilderungen aus dem Polizeialltag nur noch mit halbem Ohr. Die andere Hälfte hatte in unmittelbarer Nähe die Worte „Bratislava“ und „Seniorenresidenz“ aufgeschnappt. Seither beobachtete sie verstohlen, wie
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der Mann im Anzug mehrfach versuchte, Marittas Hand zu halten oder den Arm um ihre Schwägerin zu legen. Die jedoch wehrte diese Versuche ab, was wiederum bei ihm auf Unverständnis stieß. Die beiden unterhielten sich in sehr gedämpftem Ton, gelegentlich nur wurde er ein wenig lauter. War das der Fall, gab Bernhards Gattin umgehend Zischlaute von sich, und es wurde fast wieder geflüstert. Nach ungefähr einer Viertelstunde des Beobachtens kam Emmy zu der Überzeugung, dass es für ein solches Verhalten nur zwei Gründe geben konnte. Entweder, die beiden hatten generell etwas zu verbergen, oder, und das schien ihr wahrscheinlicher zu sein, es war nur Maritta, die umgekehrt auch Emmy längst entdeckt hatte, von deren Anwesenheit alles andere als begeistert war und keinen Wert darauf legte, dass die Schwägerin sie zusammen mit dem Anzugträger sah. „Du hörst mir ja gar nicht zu“, sagte Mirko gerade leicht empört. „Tut mir leid“, gestand Emmy diesen Fehler sofort ein. „Ich muss lauschen.“ „Lauschen?“ Mirkos Blick folgte der kurzen Bewegung ihres Kinns. „Da drüben. Das ist meine Schwägerin. Die Witwe meines toten Bruders. Soweit ich weiß, lebten sie allerdings getrennt.“ Mirko trank gemächlich einen Schluck vom Pils und wischte sorgfältig imaginären Schaum aus den Mundwinkeln, während er das Paar unauffällig beäugte. „Das würde mich nicht wundern“, räumte er schließlich ein. „Es sieht so aus, als ob die Dame anderweitig gut versorgt ist.“ „Nicht wahr?“ „Spielt es für dich eine Rolle?“ „Nein, warum? Ich kenne diese Frau doch gar nicht.“ „Weshalb lauschst du dann?“ „Reine Neugier.“ Emmy kicherte wieder und erzählte von Bratislava, Stuttgart 21 und Frau Pröhls Theorie, dass der Umbau des Hauptbahnhofes nur dem einen Zweck diene, den vor lauter Arbeit schwer abkömmlichen Schwaben in naher Zukunft eine schnelle
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Verbindung zu ihren abgeschobenen, alten Angehörigen zu schaffen. Weil für deren Pflege zu Hause weder Geld noch Zeit in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen würde. „Was natürlich total abwegig ist“, schloss sie ihren Bericht. „Ich verstehe gar nicht, wie man darauf kommen kann.“ Frenzel jedoch, der amüsiert zugehört hatte, meinte nachdenklich: „Wer weiß? So habe ich das noch nie betrachtet.“ „Na, hör mal, wo kommen wir denn hin, wenn …“, wollte Emmy sich entrüsten, nahm aber gleichzeitig wahr, wie nebenan bezahlt wurde, und hielt wieder inne. Kurz darauf wurde auch Mirko mit den Worten „Schichtwechsel. Darf ich kassieren?“ zum Ziehen seiner Geldbörse bewogen. Danach waren Maritta und der Mann im Anzug weg, Emmy sah sie gerade noch an der Stiftskirche vorbei in Richtung Marktplatz entschwinden. Der schichtwechselnde Kellner räumte die benutzten Gläser ab, dazu etwas, das aussah wie ein großformatiger Prospekt. „Entschuldigung“, sagte Emmy höflich. „Darf ich das mal sehen?“ „Können Sie behalten“, entgegnete der Kellner gleichgültig. „Sie glauben nicht, was die Leute alles liegen lassen.“ „Danke.“ Emmy nahm den Prospekt entgegen, der sich bei genauerem Hinsehen als schick aufgemachte Infomappe entpuppte. Das Titelbild zeigte ein silberhaariges, braun gebranntes Paar auf einem sonnigen Balkon. Darunter stand „Sorgenfrei leben – Gerontulos Silver Stars – Griechenland, Kroatien, Slowakei“. Auf der Rückseite war ein leerer Strand zwischen blauem Meer und hohen, grünen Bergen zu sehen. Unten, am Rand, las Emmy: „Ein Unternehmen der Trellos-Gruppe“.
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15 Am nächsten Morgen hatte Emmerich das, was man andernorts den „Blues“ nannte. Eine unbestimmte Schwermütigkeit bedrückte ihn, ein Phänomen, das in letzter Zeit häufiger zu werden schien. Anfangs hatte er die Zerstörung seines geliebten Parks und das dadurch bedingte Ende seiner morgendlichen Spaziergänge zum Bahnhof dafür verantwortlich gemacht. Inzwischen jedoch war die Fahrt mit der Straßenbahn Routine geworden, die Anfälle von Melancholie aber kehrten mit schöner Regelmäßigkeit zurück. Manche ließen sich auf den Umstand zurückführen, dass so langsam, einer nach dem anderen, die Helden seiner Jugend abtraten. Hörte er vom Tod eines Ronnie James Dio, eines Jon Lord oder Gary Moore, wurde Emmerich inzwischen jedes Mal über die Maßen nachdenklich. Diese Musiker starben inzwischen nicht mehr durch die exzessive Einnahme diverser Drogen, denen er selbst niemals anheimgefallen war, sondern an ganz profanen Krankheiten. Der Gedanke, dass auch ihm selbst jederzeit etwas ganz Ähnliches widerfahren könne, hatte sich irgendwo bereits fest eingenistet, sosehr er auch bemüht war, ihn von sich zu weisen. Gabis Umzugspläne schlugen ihm schon deshalb aufs Gemüt, weil sie eine gewisse Endgültigkeit in sich bargen − für Emmerich kam das Verlassen der Innenstadt dem beginnenden Rückzug auf das Altenteil gleich. Seine Frau, das wusste er, freute sich auf diesen Lebensabschnitt, auf gemeinsame Reisen und den Garten. Ihm dagegen graute es. Übermäßiges Reisen reizte ihn schon lange nicht mehr, vom Garten waren in erster Linie körperliche Strapazen zu erwarten. Ein Leben ohne seine Arbeit konnte Emmerich sich schwer vorstellen, und noch blieben ihm ja auch etliche Jahre Zeit. Was aber, wenn sich während dieser Zeit herausstellen sollte, dass Gabi
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ganz umsonst für später plante, weil er längst eine heimtückische Krankheit in sich trug? Wie die meisten seiner Geschlechtsgenossen scheute Emmerich den vorsorglichen Gang zum Arzt, stattdessen achtete er selbst verstärkt auf bedenkliche Symptome wie plötzlich auftretende Verdauungsstörungen oder diffuse Zipperlein. Bislang hatten sich alle als harmlos und vorübergehend erwiesen, aber man konnte schließlich nicht wissen, was noch alles kommen mochte. Als ihm am Neckartor die Straßenbahn vor der Nase wegfuhr, kam ihm mit dem dazu passenden Lied der ebenfalls viel zu früh verstorbene Wolle Kriwanek in den Sinn, und um seine Laune war es endgültig geschehen. Umso härter traf ihn die offenbar von Tatendrang geprägte Stimmung im Präsidium. Frau Sonderbar empfing ihn mit Papieren wedelnd, Gitti Kerner wusste zu berichten, dass sie sie sich auf dem Weg zur Arbeit bereits das ehemalige Haus der Charlotte Holzapfel angesehen habe. „Komplett ausgebeint, die Bude. Vom Keller bis zum Dach.“ Gitti unterstrich ihre Worte mit ausladenden Gesten. „Eine Firma TrellosImmobilien baut dort zentral gelegene, exklusive Seniorenwohnungen. Das sind aber nicht die, die laut Kaufvertrag das Haus übernommen haben. Gekauft hat ein Unternehmen namens Gerontulos, die haben ihren Sitz in …“ „Genau“, fiel ihr Frau Sonderbar ins Wort. „Und nun sehen Sie sich mal die Internetadresse an. Die auf dem Bitte-nicht-störenSchild mit Ihrem gelben Zettel steht: ,www.Gerontulos.com‘.“ Jeden Punkt betonte sie durch eine Atempause. „Es ist nicht mein gelber Zettel“, gelang es Emmerich, mit schwacher Stimme einzuwerfen. Frau Sonderbar hielt ihm in fordernder Manier die Papiere hin, ihre Wangen wiesen eine leichte Rötung auf, von der Emmerich wusste, dass sie auf Empörung schließen ließ. „Ich habe alles ausgedruckt. Gerontulos baut überall Seniorenresidenzen. In der Slowakei sind schon welche fertig, in Kroatien und in Griechenland läuft noch die Planung, aber man kann sich bereits Wohnungen dort kaufen. Nur unser Stuttgart wird mit keinem Wort
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erwähnt. Vielleicht, weil die Immobilien hier alle an reiche Russen oder Araber verkauft werden?“ „Machen Sie halblang“, empfahl Emmerich, für den derartige Annahmen bislang außerhalb seines Vorstellungsbereiches lagen. Für Frau Sonderbar jedoch galt dies offensichtlich nicht. „Sie brauchen nur nach Baden-Baden zu gehen“, fuhr sie unbeirrt fort. „Dort sind die Russen schon. Oder in die Münchner Innenstadt, wo die Einheimischen sich weder die Preise in den Geschäften noch die Mieten mehr leisten können. Stattdessen sehen Sie die Scheichs beim Shoppen.“ „So weit wird’s hier schon nicht kommen.“ „Ich sehe schwarz“, orakelte unbeeindruckt Frau Sonderbar. „Wenn das unsere Zukunft sein soll, stellen Sie sich das bitte bloß mal vor! Haben wir etwa dafür ein Leben lang gearbeitet?“ „Ruhestand am Mittelmeer ist doch nichts Schlechtes“, versuchte Gitti die Sekretärin zu beschwichtigen. „In meinem Freundeskreis stellen sich das viele traumhaft vor.“ „In einem Land wie Griechenland? Wo das Gesundheitswesen heute schon zusammenbricht?“ Frau Sonderbar stand stocksteif da und betrachtete Gitti sichtbar schockiert. „Sie müssen schon entschuldigen, aber so saudumm können auch nur junge Leute schwätzen.“ „Kann ich“, sagte Emmerich leise, aber bestimmt, „bitte zuerst mal einen Kaffee haben?“ Beide Damen wandten ihm beinahe schon erschrocken ihre Blicke zu, es war anzunehmen, dass ihr Gespräch in dieser doch etwas erhitzten Art schon vor seinem Eintreffen geführt worden war. Frau Sonderbar geriet umgehend wieder in Bewegung. „Natürlich“, rief sie schuldbewusst. „Er ist längst fertig. Ich bringe Ihnen und Frau Kerner zwei Tassen ins Büro. Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen müde aus.“ „Geht schon“, brummte Emmerich undeutlich, nahm die ausgedruckten Seiten, ging damit ein Zimmer weiter und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder, wo er die Seiten überflog. „Schön und
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gut“, sagte er zu Gitti, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, „aber was können wir damit anfangen?“ „Ich weiß es auch noch nicht“, gestand die ein. „Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, oder?“ „So was kommt hin und wieder vor, deshalb muss es noch lange nichts bedeuten. Der Makler, der mich gestern heimgesucht hat, kam auch von Trellos-Immobilien. Von Seniorenresidenzen hat er nichts gesagt.“ „Also ein schlichter Zufall? Eine ganz normale Firma, die man bislang einfach nicht wahrgenommen hat? Weil wir normalerweise mit solchen Dingen nichts am Hut haben?“ „So würde ich die Sache sehen. Halten wir uns lieber an die handfesten Sachen.“ „Holzapfels Wohnung?“ „Zum Beispiel. Sollen wir gleich los, oder willst du noch auf Mirko warten?“ „Von mir aus können wir auch gleich.“ Emmerich und Gitti standen wieder auf. Im Vorzimmer war Frau Sonderbar soeben im Begriff, zwei volle Tassen Kaffee ins Büro zu bringen. „Später“, sagte Emmerich leichthin und ging zur Tür. „Später ist er kalt“, entgegnete Frau Sonderbar verständnislos. ★★★ Die Mutter hatte mit schier unendlicher Langsamkeit eine Scheibe Toast zu sich genommen, dazu eine halbe Schnabeltasse Tee. Emmy blieb geduldig, gelegentlich bewies ein sachter Druck auf ihren Unterarm, wo die Hand der Mutter ruhte, dass ihre Mühe wahrgenommen wurde. Hinzu kamen die Augen, die keine unnötige Sekunde von Emmy abließen und sie in einer Weise rührten, mit der schwer umzugehen war. Behutsam tupfte sie den Mund der Mutter trocken, als der Druck auf ihren Arm kaum merklich stärker wurde.
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„Ho hi Hend?“, brachte der Mund hervor. „Hag mi. Ho hi Hend?“ „Mama, ich verstehe dich nicht“, gab Emmy instinktiv zurück, obwohl ihr, ebenso instinktiv, völlig klar war, worum es der Mutter ging. Wo ist Bernd, übersetzte etwas in ihr, sag mir, wo ist Bernd. Dasselbe Etwas aber sträubte sich mit Vehemenz, die Frage zu beantworten. „Bernd musste eine Reise antreten“, kam ihr Adelheid Pröhl, die, auf einen Stock gestützt, während des Fütterns am Fenster gestanden hatte, zu Hilfe. „Eine lange Reise, Liebes. Es geht ihm gut, dort, wo er ist. Mach dir keine Sorgen. Dafür ist deine Tochter jetzt bei dir.“ „Hehi.“ Und wieder fühlte Emmy deutlich, wie die Augen versuchten, sie festzuhalten, bevor sie sich für eine endlose Minute schlossen. „Heihisch.“ „Ja, Mama“, murmelte Emmy ratlos, nahm die Hand von ihrem Unterarm und hielt sie zwischen ihren beiden fest. „Sie wird gleich schlafen“, bemerkte Adelheid Pröhl und bewegte sich bedächtig vom Fenster zur gegenüberliegenden Zimmerwand, wo neben einem Pflegebett ein massiver alter Schreibtisch aus dunklem Holz stand. „Ich weiß schon, was sie meint. Leider ist er abgeschlossen.“ Energisch klopfte sie auf die schwere Platte. „Hörst du mich, Lisbeth? Ich weiß, was du sagen willst. Ich kümmere mich darum.“ Emmys Mutter brachte es, ganz offensichtlich unter größten Anstrengungen, so weit, den Kopf ein wenig anzuheben. „Danke“, sagte sie so deutlich, wie sie seit Emmys Ankunft nichts gesagt hatte. „Ruh dich aus“, flötete Adelheid Pröhl, soweit ihr dies mit ihrer, für solche Töne eigentlich ungeeigneten Stimme möglich war, liebevoll, während sie Emmy winkte. „Wir gehen in mein Zimmer.“ Es war der größte Raum im oberen Geschoss, das einstige Schlafzimmer der Eheleute Schlaicher. Inzwischen wirkte es aller Geräumigkeit zum Trotz dennoch beengt, weil zu viele Möbel darin stan-
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den. Adelheid Pröhl setzte sich aufs Bett und zeigte auf den einzigen vorhandenen Stuhl. „Normalerweise kommt kein Besuch hierher“, erklärte sie entschuldigend. „Aber ich möchte das, was ich dir sagen will, nicht unten im Gemeinschaftsraum besprechen.“ „Nein“, stimmte Emmy zu. „Hier oben ist es sicher besser.“ „Es macht dir hoffentlich nichts aus, wenn ich dich duze?“ „Keine Ursache …“ „Für mich ist das einfacher, schließlich kannte ich dich doch als Kind.“ „Schon in Ordnung. Was ist nun mit dem Schreibtisch?“ Adelheid Pröhl hüstelte und gab sich offensichtlich Mühe, ihr von Natur aus recht durchdringendes Organ zu dämpfen. „Lisbeth verwahrt dort ihren Schmuck, ihr Geld und ihre wichtigsten Papiere. Alles, was bald dir gehören wird.“ „Bitte. Darüber will ich gar nicht …“ „Unsinn. Pietät ist etwas Wunderbares, aber den Tatsachen muss man sich stellen. Das war schon immer meine Meinung. Alle, die hier wohnen, sind auf Abruf hier. Ich weiß gar nicht, warum der Herrgott sich bei mir so lange Zeit lässt.“ „Ääähm …“ „Tatsache ist jedenfalls“, fuhr Adelheid Pröhl ebenso bar jeder Emotionen fort, wie sie begonnen hatte, „dass es mit Lisbeth nicht mehr lange geht. Und wenn man ehrlich ist, dann will man ihr das auch gar nicht wünschen. Nicht in diesem Zustand. Deshalb halte ich auch nichts davon, sie wegen ein paar Wochen oder Monaten noch in ein Heim zu bringen.“ „Maritta sagte mir, dass sie irgendwo angemeldet wurde.“ „Ich weiß. Lisbeth hat eine Höllenangst davor. Bernd war ebenfalls dagegen. Einer der Gründe, warum die beiden sich derart zerstritten haben, vermute ich.“ „Aber … wie soll es gehen? Ohne Bernd?“ „Ganz einfach“, erklärte Adelheid Pröhl und kniff die Augen streng zusammen. „Du wirst bei ihr bleiben, bis es vorüber ist.“
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Damit sprach sie aus, was Emmy längst im Kopf herumging. Viel zu schwer plagte sie das Gewissen, sonnenklar war, dass sie sich ewig Vorwürfe machen würde, wenn sie sich einmal mehr vor der Verantwortung drückte. Dennoch stellten sich Probleme, die sie kaum für lösbar hielt. „Du musst nicht glauben, dass du alleine bist“, sprach jedoch Adelheid Pröhl schon weiter. „Die Bewohnerinnen dieses Hauses haben eine Verpflichtung unterschrieben, wir helfen uns gegenseitig, solange es irgendwie möglich ist. Auch wenn wir nicht mehr rüstig sind, völlig nutzlos sind wir nicht. Es gibt eine Putzfrau, es gibt Lisbeths Pflegedienst, warme Mahlzeiten bekommen wir geliefert, nachts wechseln sich zwei Frauen ab, die in der Nähe wohnen und immer mal hereinschauen. Dazu trägt jede von uns ein Armband, mit dem wir einen Notdienst rufen können.“ Zum Beweis krempelte Adelheid Pröhl den Ärmel ihrer Bluse hoch. „Und am Wochenende hilft Frau Finkelstein. Das heißt, du hättest Samstag und Sonntag frei.“ „Ich weiß nicht …“ „Auch mein Sohn kommt regelmäßig zu Besuch. Und Inge Heimerdingers Tochter, wenn sie nicht gerade beruflich auf Reisen ist.“ „Aber … was wird aus meiner Wohnung? In München? Und wovon soll ich leben? Meine finanzielle Situation ist angespannt, ich …“ „Bernd hat das ja auch geschafft. Geld ist genug vorhanden. Du brauchst nur die Vollmacht für die Konten. Darum kann sich Klaus Friedrich kümmern.“ „Klaus Friedrich?“ „Mein Sohn. Kennt sich mit solchen Dingen aus. Nach der Wohnung kann vielleicht eine Nachbarin schauen?“ „Das wäre wahrscheinlich drin“, räumte Emmy, erstmals Bereitwilligkeit erkennen lassend, ein. Schon jetzt hatte eine Nachbarin den Schlüssel, und viel zu schauen gab es derzeit ohnehin nicht, in Olching. „Ich bräuchte was zum Anziehen, da hab ich nicht genug dabei“, ging sie zu praktischen Erwägungen über.
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„Kann man kaufen. Ich leihe dir das Nötige.“ „Und einen Platz zum Schlafen. Ins Erkerzimmer zieht bald jemand Neues ein.“ „Was ist mit dem Büro? Im Keller? Bernd hat dort manchmal übernachtet, wenn er Streit mit Maritta hatte.“ Emmy nickte. Langsam. Bei dem Büro konnte es sich nur um den ehemaligen Partyraum des alten Schlaicher handeln, einstmals ausgestattet mit einer kleinen Bar, schummrigem Licht und durchgesessenen Schaumstoffsofas. Groß genug auf jeden Fall, um dort ein Bett und einen Arbeitsplatz unterzubringen. Auch an das Vorhandensein von Tageslicht erinnerte sie sich, es fiel durch kleine Kippfenster oben an der Decke in den Raum. „Ich sehe es mir an. Für eine Weile geht es sicher.“ „Brav“, lobte sie Adelheid Pröhl. „Nichts anderes habe ich erwartet. Jetzt haben wir nur noch ein klitzekleines Problem.“ „Was für ein Problem?“ „Ich selbst komme die Treppe in den Keller nicht mehr runter. Deshalb hab ich die Möbius gebeten, nachzusehen. Das Büro ist verschlossen. Wie Lisbeths Schreibtisch. Die Schlüssel hatte Bernd immer in seiner Tasche. Das heißt, ich weiß nicht, wo sie sich im Augenblick befinden.“ Emmy kam der mit Mirko Frenzel verbrachte Abend in den Sinn. Ein unauffälliger Grund, ihn anzurufen, ergab sich gerade schneller, als gedacht. „Ich glaube“, sagte sie mit einem Lächeln, „dafür gibt es eine Lösung.“ ★★★ Im dritten Stock des Hauses in der Katharinenstraße entfernte Gitti Kerner das polizeiliche Siegel von der Wohnungstür und sperrte auf. Drinnen roch es nach wie vor recht streng, folgerichtig öffnete sie als Erstes alle Fenster. Emmerich dagegen sah sich bereits um, wobei sein Blick auf das Aquarium fiel. Nicht, dass er sich irgend-
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wie mit Fischen ausgekannt hätte, das Vorhandensein einer gelben Dose Futter aber aktivierte sein Verantwortungsgefühl. „Weißt du, wie viel man reintun muss?“, fragte er Gitti und betrachtete verblüfft die Tiere, die sich bereits in froher Erwartung unter einem kleinen Loch in der Abdeckplatte zu versammeln schienen. Gerade so, als hätten sie seine Anwesenheit bemerkt. „Die haben sicher seit Tagen nichts bekommen.“ „Keine Ahnung“, entgegnete Gitti. „Nicht zu viel, glaube ich. Sonst kann das Wasser kippen.“ Emmerich schüttete eine, nach seinem laienhaften Dafürhalten angemessene Menge bunter Flocken durch die Öffnung und sah zu, wie die Fische sich darüber hermachten. „Was machen wir mit ihnen?“, wollte Gitti wissen. „Jemand muss sie doch versorgen. Soll ich das Tierheim anrufen?“ „Sind sie auch für Fische zuständig?“ „Mir fällt nichts Besseres ein. Ich will nicht mit dem Tierschutz in Konflikt geraten.“ „Es sind nur Fische. Meine Oma hätte sie im Klo entsorgt.“ Gitti gab ein aufgebrachtes Schnaufen von sich. „Ich weiß, ich weiß“, lenkte Emmerich augenzwinkernd ein. „Das waren andere Zeiten. Vielleicht kann Moni sie nehmen.“ „Moni?“ „Frau Gerbermann vom Erdgeschoss. Sie kennt die Fische und die Wohnung. Wenn wir sie heraufbitten, kann sie uns eventuell auch sagen, ob irgendetwas fehlt.“ „Gute Idee. Wer geht sie holen?“ Emmerich guckte scheinbar fasziniert durch die Scheiben des Aquariums und schwieg. „Schon verstanden.“ Gitti machte sich auf den Weg. Abgesehen vom Aquarium schien die Wohnung auf den ersten Blick nichts Spektakuläres zu enthalten. Möbel, die alt, aber noch von besserer Qualität als die heutzutage erhältlichen waren, Teppichboden, der an einigen Stellen schon fleckig war, Vorhänge, die dringend einer Reinigung bedurften. Auf allem hatte die Spuren-
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sicherung Spuren hinterlassen. Emmerich zog nacheinander im Wohnzimmer ein paar Schubladen auf, entdeckte nichts Besonderes und war gerade mit einem weiteren Versuch im Schlafzimmer beschäftigt, als Gitti, schneller als erwartet, mit Moni im Schlepptau wieder eintraf. Die trug heute Himmelblau, quietschte „meine Süßen“ und eilte zum Aquarium. „Ich habe Flocken reingetan “, sagte Emmerich ohne weitere Einleitung. „Aber langfristig müssen Ihre Süßen umziehen. Vielleicht zu Ihnen, dachte ich.“ „Zu mir?“ Monika Gerbermann legte bedenklich die Stirn in Falten, schien den Ernst der Lage aber sofort zu erfassen. „Ein Plätzchen ließe sich wohl finden“, gestand sie bereitwillig zu. „Aber wie soll das Ding nach unten kommen? Es sind sicher achtzig Liter Wasser drin. Wenn nicht gar mehr.“ „Ich schicke zwei Kollegen. Die werden das schon schaukeln.“ „Ach ja?“, strahlte Monika Gerbermann. „Das wäre aber nett.“ „Die Polizei, dein Freund und Helfer“, murmelte Gitti leise und sarkastisch, bevor sie laut hinzusetzte: „Vielleicht dürfen wir dafür auch mit Ihrer Unterstützung rechnen?“ „Aber gern. Was soll ich machen?“ „Sagen Sie uns, ob Ihnen in der Wohnung etwas auffällt. Fehlt etwas? Ist etwas da, das nicht hierher gehört?“ Monika Gerbermann ließ von den Fischen, die sie ohnehin weitgehend ignorierten, ab, richtete sich auf und sah sich um. „Das Schreibzeug“, erklärte sie nach einer Weile zögernd und zeigte auf den Couchtisch. „Das hatte Erwin normalerweise hier auf dem Buffet. Dafür stand auf dem Tisch meist ein Tablett mit Knabberzeug und Gläsern. Erwin hat sich fast nur von diesem Knabbermist ernährt. Ich sagte immer: ,Erwin, das kann nicht gesund …‘“ „Offenbar hat er getauscht“, unterbrach sie Gitti mit Blick auf das Buffet. „Damit er Platz zum Schreiben hatte?“ „Wenn da etwas für uns dabei war, haben die Kollegen von der Spurensicherung es mitgenommen“, bemerkte Emmerich, der ne-
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ben dem Tablett einen Block gelber Haftnotizen entdeckt hatte, beiläufig. „Sonst noch etwas?“ „Hier drinnen?“ Monika Gerbermann drehte sich langsam einmal um die eigene Achse. „Also, auf die Schnelle … so auf den ersten Blick … fällt mir jetzt nichts mehr auf. Nur, dass das Fenster offen steht. Der Erwin war empfindlich gegen Zug, der hätte sicher nicht …“ „Das hat nichts zu bedeuten.“ Gitti zeigte in den Flur und damit fast zwangsläufig auf die Garderobe. Dabei handelte es sich um eine altmodische Messingstange mit sechs Haken, die unter dem ihr zugemuteten Gewicht nachgegeben und eine beträchtliche Schieflage eingenommen hatte. Darunter, auf dem Teppichboden, war ein großer, getrockneter Fleck erkennbar, bei dessen Anblick sich Monika Gerbermann schaudernd abwandte. „Hat er hier …“, stotterte sie unbeholfen, „ich meine, ist das da von …?“ „Nicht hinsehen“, empfahl Emmerich knapp. „Ist irgendetwas anders als gewöhnlich?“ Monika Gerbermann starrte verkrampft nach oben auf die Messingstange, wo neben einer einzelnen Winterjacke eine Auswahl von Henkersschlingen hing, wie anderswo vielleicht Regenschirme oder Einkaufstaschen. „Ich glaub nicht“, presste sie heraus. „Sicher?“ „Da fehlen zwei.“ „Was? Zwei?“ „Zwei von Erwins … Sie wissen schon.“ „Sie meinen, diese Dinger hier?“ Emmerich tippte eine der Schlingen an. „Genau. Es war so ein Tick von ihm. Er hat die gesammelt. Oder … besser gesagt, das Material. Daraus hat der dann dieses Zeug gebastelt. Anfangs, als ich ihn kennenlernte, fand ich das total pervers. Irgendwann dachte ich mir dann, dass er ja niemand damit wehtut. Viele Leute sammeln oder basteln seltsame Sachen, ich
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kannte mal einen, der … aber egal, das wird Sie kaum interessieren. Erwin jedenfalls hat gerne alte Westernfilme geguckt, vielleicht kam sein Tick von daher.“ „Sie meinen, er hat nicht … mit diesen Schlingen … an sich selbst …?“ Emmerich tat sich etwas schwer, die Frage nach Winfried Holzapfels sexuellen Vorlieben zu präzisieren. Monika Gerbermann sah ihn abwartend an, bevor ihr offenbar ein Licht aufging. „Aber nein“, kicherte sie ohne einen Anflug von Verlegenheit. „So einer war der Erwin nicht. Ganz im Vertrauen … er hat viel zu viel gesoffen, als dass in dieser Hinsicht bei ihm noch was gelaufen wäre. Ist zumindest meine Meinung.“ „Was also fehlt?“ „Er hatte zwei aus Lackleder. Mit Nieten. In Rosa und in Schwarz. Weiß der Kuckuck, wie er an die Riemen gekommen ist, und nicht, dass Sie jetzt wieder denken, dass …“ „Was ich denke, muss nicht Ihre Sorge sein“, sagte Emmerich freundlich. „Wenn Sie vielleicht noch einen Blick in die restlichen Räume werfen könnten?“ „Das Schlafzimmer habe ich nie gesehen“, erklärte Moni bestimmt. „Küche und Bad … einen Moment mal bitte.“ Schnell entschlossen öffnete sie die entsprechenden Türen und sah jeweils kurz in den dahinterliegenden Raum. „Sieht alles aus wie immer“, beschied sie Emmerich wenig später. „Soweit ich das beurteilen kann. Ich war eigentlich fast nur im Wohnzimmer, wenn ich ihn besucht habe. Wenn Sie die Küche sehen, wissen Sie, warum.“ „Ja“, ließ sich Gitti, die ebenfalls nur kurz hinter die beiden, bis dahin geschlossenen Türen geschaut hatte, knapp vernehmen. „Das Bad ist nicht viel besser. Wir müssen den Vermieter informieren. Wenn hier nicht bald etwas geschieht, bei dieser Hitze, dann hat er ein Problem.“ „Der Vermieter?“, platzte Monika Gerbermann heraus. „Der ist doch tot.“ „Da“, seufzte Emmerich und nickte, „haben Sie nun auch wieder recht. Also gehen Sie einfach wieder hinunter, in Ihr reizendes Zu-
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hause, und machen Sie den Fischen ein hübsches Plätzchen frei. Wir kümmern uns um alles, auch darum, dass die Tierchen bald bei Ihnen einziehen können.“ „Das heißt, Sie brauchen mich hier gar nicht mehr?“ Moni sah nur eine Spur beleidigt drein und dann nach oben. „Darf ich mir noch etwas mitnehmen? Ein Andenken an Erwin?“ „Ein Andenken? Was hätten Sie denn gerne?“ „Die blaue hier.“ Moni berührte eine von der Garderobe herabhängende Schlinge. „Wissen Sie, die Wolle war von mir. Er hat tagelang geflochten, bis er endlich einen richtigen Zopf hinbekommen hat, aus dem er dann …“ „Ich weiß nicht. Vielleicht brauchen wir die noch. Wenn wir den Täter haben, und es zu einem gerichtlichen Verfahren kommt.“ „Ich verrate Ihnen auch etwas dafür.“ „Tatsächlich? Was denn?“ Monika Gerbermann jedoch blickte hartnäckig die Garderobe an und schwieg. So lange, bis Emmerich endlich „meinetwegen“ brummte und ihr die blaue Schlinge reichte. Moni legte sie sich geschmackvollerweise um den Hals. „Passt zu meinem Hausanzug“, befand sie mit einem schiefen Lächeln. „Und was wollten Sie mir sagen?“ „Der Zettel. Sie erinnern sich doch sicher an den Zettel. Der an Erwins Türe klebte.“ „Selbstverständlich.“ „Er war unterschrieben mit W. H., Erwins Initialen. Das kann nur jemand gemacht haben, der ihn gar nicht kannte. Niemand, nicht einmal er selbst, hat ihn jemals Winfried genannt.“ „Danke. Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt?“ „Weil es mir jetzt erst eingefallen ist. Ich stand schließlich unter Schock. Hilft es Ihnen weiter?“ „Mal sehen“, erklärte Emmerich und öffnete Monika Gerbermann die Wohnungstür.
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16 Wie erwartet hatte Mirko Frenzel sofort bestätigt, dass man bei Bernds Sachen einen Schlüsselbund gefunden habe, und sich erboten, diesen Emmy schnellstmöglich zur Verfügung zu stellen. Oder ihr zumindest, falls eine Rückgabe sich aus ermittlungstechnischen Gründen als schwierig erweisen sollte, unter der Hand die Möglichkeit zum Nachmachen einzelner Schlüssel zu verschaffen. Ihr fast zwanzigminütiges Telefonat, bei dem aus unerfindlichen Gründen auch noch Emmys vorerst weiterer Verbleib in Stuttgart sowie der Gesundheitszustand der Mutter ausführlich erörtert worden waren, endete mit seinem Versprechen, sich noch am selben Tag wieder zu melden. Emmy machte ihr Bett, lüftete das Erkerzimmer und hinterließ der Nachbarin in Olching eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Danach gab es nichts mehr für sie zu tun, leise sah sie nach der Mutter, die aber tatsächlich schlief, und überlegte gerade, was mit dem angebrochenen Tag wohl anzufangen war, als sie von unten laute Stimmen hörte. Die eine gehörte zweifellos Frau Möbius und sprach: „So unterschreibe ich das nicht. Erst muss ich alles lesen. Dann muss ich darüber nachdenken.“ „Es sind ganz normale Standardformulierungen“, entgegnete die andere Stimme, von der Emmy annahm, dass sie Maritta gehörte. „Außerdem nur für den Notfall. Stellen Sie sich vor, es passiert Ihnen so etwas wie Frau Schlaicher. Aus heiterem Himmel sind Sie plötzlich handlungsunfähig …“ „Ich muss trotzdem erst darüber nachdenken.“ „Soll das heißen, dass ich den Notartermin absagen soll? Wer weiß, wann wir dann einen anderen bekommen. Die Kalender von Notaren sind meist voll.“
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„Mag sein. Aber Sie hätten mich vorher fragen müssen. Nicht einfach etwas ausmachen, und dann geht alles hoppla hopp. Ich muss doch vorbereitet sein.“ „Sie haben noch eine gute Stunde, um sich herzurichten. Der Termin ist erst zur Mittagszeit.“ „Ach was. Von wegen herrichten“, schnaubte Frau Möbius immer noch gut vernehmbar. Emmy bemühte sich krampfhaft, stillzuhalten und kein unnötiges Geräusch zu verursachen. „Von mir aus gehe ich in Unterwäsche zum Notar. Nein, ich will diesen Entwurf in Ruhe durchgehen und fachlichen Rat einholen. Das ist doch nicht zu viel verlangt.“ „Fachlichen Rat? Von wem?“ „Klaus Friedrich Pröhl weiß Bescheid in diesen Dingen. Sicher kommt er diese Woche noch vorbei.“ „Adelheids Sohn?“ Marittas Stimme wurde leiser und für Emmy unverständlich. Vorsichtig bewegte sie sich zum Treppengeländer im ersten Stock. Die beiden Frauen waren von dort nicht zu sehen, die Tür zum Zimmer von Frau Möbius allerdings stand offen. Das Gespräch wurde nun in gedämpftem Ton geführt, bis Frau Möbius plötzlich ausrief: „Ich weiß das alles und lasse mich dennoch nicht so unter Druck setzen. Wenn Sie das nicht verstehen, unterschreibe ich lieber gar nichts.“ „Dann eben nicht“, blaffte Maritta wütend zurück. „Ich bin sowieso in Eile. Denken Sie nach, so viel Sie wollen, ich sehe schnell nach Lisbeth und werde mich mit Bernhards Schwester unterhalten. Auf dem Rückweg schaue ich noch mal bei Ihnen rein. Wenn Sie dann immer noch nicht wollen, nehme ich die Sachen wieder mit.“ „Wie soll ich dann darüber nachdenken?“ „Es ist nicht mein Problem, wenn Sie mir nicht vertrauen. Niemand wird zu seinem Glück gezwungen.“ „Jetzt sind Sie mir böse.“ Frau Möbius hörte sich an, als begänne sie demnächst zu weinen.
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„Nicht böse“, meinte Maritta etwas sanfter. „Aber Sie müssen mich auch verstehen. Für mich ist die Situation gerade alles andere als einfach. Bis nachher.“ Emmy zog sich hastig vom Treppengeländer zurück und verdrückte sich ins Erkerzimmer, wo nur wenige Minuten später an der Tür geklopft wurde. „Ja, bitte“, sagte sie und öffnete. Maritta, wie üblich in langen Hosen und kurzem Blazer, wirkte vollkommen gelassen. „Guten Morgen“, grüßte sie höflich. „Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht.“ „Durchaus“, gab Emmy ebenso zurück. „Das Zimmer liegt sehr ruhig.“ „Unsere Bewohnerinnen haben Sie hoffentlich nicht belästigt?“ „Aber nein. Es sind doch alles nette, alte Damen.“ „Nur weil Sie fremd sind.“ Maritta lächelte kumpelhaft. „Wenn Sie die netten Damen besser kennen würden … Geschichten könnte ich Ihnen da erzählen … manchmal hat man schon seine liebe Mühe. Aber lassen wir das, darf ich hereinkommen?“ „Gerne.“ Emmy ließ die Schwägerin passieren. „Unsere Vereinbarung“, erklärte die und legte einen großen Umschlag auf den hochbeinigen Tisch. „Über die wir gestern sprachen. Wenn Sie gleich unterzeichnen wollen, können Sie getrost zurück nach München fahren.“ Emmy ließ den Umschlag liegen. „Ich habe darüber nachgedacht. Schließlich geht’s um meine Mutter. Die ganzen Jahre habe ich mich auf Bernd verlassen. Jetzt, wo er nicht mehr da ist … mein Gefühl sagt mir, dass es nun meine Aufgabe ist, nach ihr zu sehen.“ Marittas Lächeln wich einer kaum wahrnehmbaren Anspannung, sie zog die Schultern hoch, wandte sich ab und sah aus dem Fenster, als müsse sie ebenfalls nachdenken. „Was ist mit Ihrer Münchner Wohnung?“, fragte sie nach einer kleinen Weile. „Wer kümmert sich darum?“ „Das macht eine Nachbarin.“
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„Und wo wollen Sie hier wohnen? Ich habe Ihnen ja gesagt, dass dieses Zimmer bald benötigt wird.“ „Ich dachte an den alten Partykeller.“ „Den alten Partykeller? Ach? Glauben Sie, da kann man wohnen?“ „Anscheinend hatte Bernd dort ein Büro. Notfalls besorge ich mir eine Luftmatratze. Sie haben nicht zufällig einen Schlüssel?“ „Für den Keller? Ist er abgeschlossen?“ Marittas Schultern senkten sich ein wenig, sie drehte sich wieder um und sah Emmy an. „Nein, ich habe keinen Schlüssel. Aber ich kann versuchen, die Neuvermietung des Erkerzimmers um zwei Wochen zu verschieben. Wenn Ihnen das eine Hilfe ist.“ „Das ist nett, aber ich gehe davon aus, dass meine Mutter noch etwas länger durchhalten wird.“ „Sie wollen bleiben, bis Lisbeth … ich meine, bis sie …“ „Ja“, erklärte Emmy schlicht. „Aber … es kann noch Monate dauern. Vielleicht auch Jahre.“ „Das kann niemand wissen.“ „Ist Ihnen klar, was Sie sich da zumuten wollen?“ „So ungefähr. Schließlich habe ich auch meinen Mann versorgt. Alleine. Hier dagegen gibt es Unterstützung.“ „Und wovon“, wollte Maritta, der es nun kaum mehr gelang, ihren Unmut zu verbergen, wissen, „gedenken Sie, hier zu leben?“ „Für mich ist gesorgt“, entgegnete Emmy, ihre eigene, diesbezügliche Unsicherheit großspurig überspielend, souverän. „Außerdem spart Mama so das Geld fürs Heim. Es wird schon gehen.“ „Sie wollen, dass sie nicht ins Heim kommt?“ „Wer will schon in ein Heim? Mama sicher nicht. Sie hat es hier doch besser …“ „Aber sie ist bereits angemeldet.“ „Dann melde ich sie eben wieder ab.“ Maritta sog scharf die Luft ein und sah Emmy nun geradezu erbost an. Die fühlte sich sofort verunsichert. „Es tut mir leid“, brachte sie entschuldigend hervor. „Es war bestimmt nicht einfach, einen Platz zu bekommen. Ich möchte Ihnen
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auch für alles danken, was Sie unternommen haben, um zu helfen. Besonders, weil Sie ja gar nicht dazu verpflichtet waren, nach der Trennung von meinem Bruder. Ich organisiere dafür auch die Beerdigung, Sie müssen sich um nichts mehr kümmern …“ Maritta aber schnappte sich nur ihren Umschlag und ging zur Tür. „Wir sprechen uns“, sagte sie und verließ das Erkerzimmer. Emmy fand, dass ihre Worte wie eine Drohung geklungen hatten. ★★★ Im dritten Stock sah Emmerich zu, wie Gitti gewissenhaft die Wohnungstür erneut versiegelte. Im Hinuntergehen langte er in seine Hosentasche, holte einen Schlüsselbund heraus und klimperte demonstrativ damit. „Wenn sie wieder nicht zu Hause ist, dann gehen wir rein.“ „Wenn wer nicht zu Hause ist?“ „Alina Kopkin. Schlaichers Freundin.“ „Sonst geht’s dir gut?“ Gitti blieb stehen. „Der Fall Schlaicher ist weitgehend aufgeklärt. Wir können nicht einfach, ohne richterlichen Beschluss, in die Wohnung einer womöglich völlig unbeteiligten Person hinein.“ „Diese Person kannte auch den ermordeten Erwin. Und sie ist seit dem Wochenende unauffindbar.“ „Sie ist telefonisch nicht erreichbar“, korrigierte Gitti kleinlich. „Das ist ein großer Unterschied.“ „Vielleicht ist ihr ebenfalls etwas zugestoßen? Gefahr im Verzug?“ „Blödsinn.“ „Ich bin eben neugierig. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass Holzapfels Attacke auf Bernhard Schlaicher irgendwie mit seinem Tod zu tun hat.“ „Ist durchaus möglich, auch mein Gefühl sagt etwas Ähnliches. Trotzdem werden wir nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Wir können in Teufels Küche kommen.“
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„Wenn sie dort gut kochen …“ „Sehr witzig“, schnappte Gitti, den Weg treppab wieder fortsetzend. Emmerich folgte ihr gemächlich, bis man schließlich in der untersten Etage vor der fraglichen Türe ankam. „Früher“, sagte er augenzwinkernd, „waren wir da nicht so pingelig.“ „Früher ist lange her“, entgegnete Gitti säuerlich, sah das Zwinkern und musste lachen. „Also alles ganz legal, in Ordnung?“ „Abwarten.“ Emmerich drückte die Klingel und vernahm das ihm bereits bekannte „Ding Dong“. Dazu auch etwas, das wie ein Klopfen klang. „Jetzt scheint ja jemand da zu sein.“ Tatsächlich ging die Tür Sekunden später auf, im Rahmen erschien eine sehr junge, vielleicht zwanzigjährige Frau mit kindlichen Gesichtszügen. Ihre Füße waren nackt, die Beine steckten in silbernen Leggins, der Oberkörper in einem weißen Spaghettiträger-Top. Von weiter hinten in der Wohnung war stupide, rhythmisch wenig einfallsreiche, elektronische Musik zu hören. „Was gibt’s?“, fragte die sehr junge Frau und strich sich eine feuchte, dunkle Strähne aus dem kindlichen Gesicht. „Kenne ich Sie?“ „Noch nicht“, antwortete Emmerich, zeigte seine Marke und leierte die übliche Vorstellung herunter. Die junge Frau schaltete schnell. „Wegen Erwin? Wegen Bernd? Oder wegen beiden?“ „Sagen wir das Letzte. Lassen Sie uns rein?“ „Wenn Sie mein Besuch nicht stört“, entgegnete die junge Frau. Drinnen richtete sich ein muskelbepackter, tätowierter Oberkörper auf, der sich zuvor über einen großen Karton gebeugt hatte. Auch ein Unterkörper war vorhanden, gehüllt in eine billige Cargohose, drängte sich aber der vielen Muskeln mit den bunten Bildchen wegen kaum ins Bewusstsein des Betrachters. „Mein Bruder“, sagte die junge Frau, und „Alexander Kopkin“ der Tätowierte, während er sich die Hände an den Hosenbeinen abrieb, bevor er Emmerich die Rechte reichte. Die Schwester zeigte auf die Tür, die spiegelbildlich zu Monika Gerbermanns Wohnzimmer gelegen war. Dahinter
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allerdings befanden sich keine Möbel, sondern lediglich eine unbestimmte Anzahl gefüllter Umzugskartons. „Tut mir leid“, entschuldigte sich Alina Kopkin. „Einen Sitzplatz kann ich Ihnen nicht mehr bieten.“ „Sie ziehen um?“ „Ich bin mittendrin.“ „Waren Sie deshalb die letzten Tage nicht erreichbar?“ „So ungefähr. Wir waren in der neuen Wohnung, und ich hatte das Handy hier vergessen. Man fühlt sich fast wie amputiert, so ohne Handy. Aber deshalb umdrehen? Mitten auf der Autobahn? Das hätte sich auch nicht gelohnt.“ „Auf der Autobahn? Wo geht’s denn hin?“ „Nach Köln.“ Alina wechselte einen Blick mit ihrem Bruder, der nun abwartend, mit verschränkten Armen zwischen Wohnzimmer und Flur stand. Emmerich fühlte sich an einen jener Zerberusse erinnert, die des Nachts die Eingänge zu Clubs bewachten. Prompt setzte Alina hinzu: „Alex hat dort einen Job als Türsteher gefunden. Ich werde in einem Backshop arbeiten. Aber eigentlich wollen wir zum Fernsehen. In Köln gibt es viele Sender.“ „Zum Fernsehen, so, so“, wiederholte Emmerich, während er das nämliche Gerät studierte, das zu den wenigen, noch nicht verpackten Dingen gehörte und fast eine komplette Wand des ansonsten unmöblierten Wohnzimmers einnahm. „Was hat Ihr Freund dazu gesagt?“ „Wer?“ „Bernhard Schlaicher. Der war doch Ihr Freund. Oder sollte ich besser Lebensgefährte sagen?“ Wieder wechselten die Geschwister Kopkin einen Blick, diesmal einen, der von Ungläubigkeit einerseits, dann aber von Amüsement zeugte. Während er nur ein Geräusch, das klang wie „Pffff“, machte, begann sie zu kichern. „Was ist so komisch?“, fragte Emmerich. Alina benötigte einige Sekunden, um das Kichern wieder einzustellen.
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„Das haben Sie von Moni, oder? Diese Frau ist eine Pest. Hoffentlich werde ich nicht so, wenn ich mal alt bin.“ „Egal, woher wir es haben. Immerhin steht sein Name unter Ihrem an der Tür. Und er war hier gemeldet.“ „Ach so.“ Alina sah drein, als habe sie das Klingelschild noch nie wahrgenommen und ebenso wenig jemals einen Gedanken an das deutsche Meldewesen verschwendet. Was Emmerich ihr durchaus zutraute. „Das hat … ääähh … nichts zu bedeuten“, setzte sie hinzu, als er sie weiter abwartend anschaute. „Die Wohnung gehört ja schließlich Bernd. Ich hatte nur dieses Zimmer hier. Es war immer klar, dass das nur vorübergehend ist. Bis ich was anderes gefunden habe.“ „Sie hatten also kein Verhältnis? Auch kein – Verzeihung, wenn ich frage – sexuelles?“ Aus den Augenwinkeln nahm Emmerich wahr, wie der künftige Kölner Türsteher die Muskeln anspannte. In Alinas Augen dagegen trat kurz ein unsicheres Flackern, bevor sie den Blick nach unten senkte. „Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt“, sagte sie, was wohl stimmen mochte. „Bernd war ein alter Mann. Wie denken Sie von mir?“ Dies beschloss Emmerich, im Augenblick für sich zu behalten, um das Muskelpaket nicht zu irritieren. „Erzählen Sie uns mehr. Ihr Bruder kann ja so lange weiterpacken.“ „Ich stehe gut“, äußerte Alexander Kopkin. „Aber nicht hier“, gab Emmerich zurück. „Wir werden jetzt die Türe schließen und Sie dürfen draußen bleiben. Besser noch als packen, wäre ein kleiner Spaziergang. Ist auch viel gesünder.“ „Mir fehlt nichts.“ Um dies zu unterstreichen, wurde in Bodybuilder-Art ein Oberarm angewinkelt und eine Hand zur Faust geballt. „Uns auch nicht“, lächelte Gitti, die im Zimmer herumgeschlendert war und angelegentliche Blicke in die noch geöffneten Kartons geworfen hatte, liebenswürdig. „Und wir müssen nicht mal Pillen nehmen. Sie aber schon, nicht wahr?“
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Alexander Kopkins Miene war unschwer zu entnehmen, dass er weibliche Repräsentanten der Staatsgewalt in keiner Weise für ernst zu nehmend hielt. Mit erhobenen Brauen sah er Gitti geduldig so an, als halte er sie für einen unbotmäßigen Clubgast kurz vor dem Rausschmiss, und blieb stumm. „Hier“, sagte Gitti, fasste in einen der Kartons und hielt Kopkin eine Pappschachtel, bedruckt mit chinesischen Schriftzeichen, unter die Nase. „Gehört Ihnen, nicht? Ich weiß nicht, was das ist, aber vom Handel mit Anabolika aus dem Fernen Osten haben wir alle schon gehört. Was glauben Sie, käme heraus, wenn wir das analysieren lassen?“ „Abmarsch“, befahl Emmerich, bevor Kopkin die Frage beantworten konnte. „Sonst nehmen wir Ihre Schwester zur Befragung mit.“ Immer noch zögerte der Muskelmann. „Geh schon“, bat Alina. „Mir wird nichts passieren.“ ★★★ Durch das Fenster in der oberen Diele beobachtete Emmy, wie Maritta eilig das Haus verließ. Ihr Vorhaben, noch einmal bei Frau Möbius vorbeizuschauen, schien in Vergessenheit geraten zu sein. Auf der Straße angelangt, stieg Maritta in ein weißes Cabriolet mit offenem Verdeck, warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und holte ein Mobiltelefon heraus. Das anschließende Gespräch dauerte nicht lange und wurde von erregten Gesten begleitet. Emmy wartete, bis Maritta geendet hatte und weggefahren war, dann ging sie nach unten. Aus dem Zimmer von Frau Möbius klang ein leises Schluchzen, behutsam öffnete sie die Tür. „Geht’s Ihnen nicht gut?“ Frau Möbius saß gesenkten Kopfes auf ihrem zweisitzigen, braunsamtenen Sofa und hielt ein Spitzentüchlein in der Hand. Sie hob den Blick und sah Emmy wortlos an, als käme die aus einer anderen Welt.
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„Haben Sie Kummer?“, fragte Emmy und betrat das Zimmer. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Kummer“, wiederholte Frau Möbius abwesend, bevor sie sich einen leichten Ruck zu geben schien. „Nein, liebes Kind, ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können. Gegen das Alter ist kein Kraut gewachsen.“ „Müssen Sie deswegen weinen?“ „Ach nein. Oder vielleicht doch? Ich weiß es selbst nicht so genau.“ „Maritta war bei Ihnen. Ich hab’s gehört. Von oben.“ „Ja“, seufzte Frau Möbius, schnäuzte sich ein letztes Mal energisch und schob das Tüchlein unter ein spitzenbesetztes Sofakissen. „Sie hat Ihnen Angst gemacht, nicht wahr?“ „Wahrscheinlich ist sie einfach nur vernünftig. Ich muss oft daran denken, wie ungeduldig ich selbst früher war. Als meine Eltern damals alt geworden sind. Heute bin ich selbst kein bisschen besser. Wollen Sie sich setzen? Hier, neben mich?“ Emmy ließ sich, etwas unbehaglich, am äußersten Rand des Sofas nieder. Von dort konnte sie sehen, was auf dem Tischchen vor dem Sofa lag. Ein aufgefächerter Satz Papiere, zuoberst das Schreiben eines Notariats, adressiert an Maritta Blind-Schlaicher in Leonberg. Fettgedruckt war der Betreff „Vollmacht Wiltraud Möbius“ zu lesen. Emmy berührte das Schreiben. „Ist es das, was Ihnen Sorgen macht?“ „Haben Sie Angst vor dem Tod?“, wollte Frau Möbius wissen, anstatt die Frage zu beantworten. „Manchmal“, entgegnete Emmy verblüfft. „Sehen Sie, das ist der Fehler, den die Jugend macht“, nickte Frau Möbius wissend. „Der Tod ist gnädig. Angst vor dem Leben muss man haben. Zumindest vor dem, das einem am Ende des Weges übrig bleibt. Für Sie ist das alles natürlich noch weit weg, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.“ „Doch“, sagte Emmy nach wenigen Sekunden des Überdenkens. „Ich kenne diese Angst.“
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„Aber Sie können noch selbst etwas dagegen tun. Ich bin auf Hilfe angewiesen. Daran wird sich nichts mehr ändern.“ „Hilfe von Maritta?“ „Ich wüsste niemand sonst. Es war ja alles auch schon abgesprochen. Und dennoch … wenn Sie sehen, was in so einer Vollmacht steht … es wird einem ganz anders.“ „Darf ich?“, fragte Emmy mit Blick auf die Papiere. „Bitte“, erwiderte Frau Möbius. Emmy nahm die Blätter und begann zu lesen. ★★★ „So“, sagte Emmerich, nachdem Alexander Kopkin sich endlich ein T-Shirt übergestreift und widerwillig brummend vom Acker gemacht hatte. „Also kein Verhältnis mit Herrn Schlaicher. Da sind Sie sicher?“ „Nicht so, wie Sie vielleicht denken“, erklärte Alina ohne weitere Umschweife. „Klar hat er mich angebaggert. Zweimal hab ich nachgegeben. Aber nicht, weil ich was von ihm wollte. Das war eher umgekehrt. Mir ging es nur darum, dass er mich hier wohnen lässt.“ „Hatten Sie keinen Mietvertrag?“ „Woher denn? Auch keinen Untermietvertrag. In den letzten Wochen wollte er nicht einmal mehr Geld für dieses Zimmer.“ „Ein Wohltäter?“, fragte Gitti skeptisch. „Oder wie dürfen wir das verstehen?“ „Bullshit“, sagte Alina, zog ein Gummi aus ihren feuchten Haaren und schüttelte den Kopf. „Hilfe wollte er. Er hat jemand gebraucht, der sich um seine Mutter und ein paar andere alte Weiber kümmert. Schwarz natürlich, ohne Steuerkarte. Füttern, windeln, Essen kochen. Die meisten waren zwar noch halbwegs fit, mein Ding ist es trotzdem nicht gewesen.“ „Dennoch haben Sie sich darauf eingelassen?“ „Ich hab’s versucht. Blöder als bei mir zu Hause, wo mein Vater ständig besoffen rumproletet, dachte ich, kann es nicht sein. War es
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dann aber doch. Gott sei Dank hat Alex den Job in Köln gefunden und nimmt mich mit.“ „Also kein Verhältnis“, stellte Emmerich, dieses Thema beendend, abschließend fest. „Und Herr Schlaicher selbst hat im andern Zimmer dieser Wohnung hier gelebt?“ „Nee“, widersprach Alina, drehte ihr Haar zu einem Knoten und machte das Gummi wieder fest. „Was denn dann?“ „Wollen Sie was trinken?“ „Nein, verdammt noch mal“, schnauzte Emmerich ungnädig. „Ich will wissen, woran zum Teufel ich hier bin.“ „Schon gut, schon gut“, beschwichtigte Alina wenig beeindruckt. „Bleiben Sie cool. Ich hol mir nur schnell eine Kippe, bin gleich wieder da.“ Während sie draußen, dort wo die Musik herkam, herumhantierte, winkte Gitti Emmerich zu einem der Umzugskartons, hob den Deckel etwas an und ließ ihn stumm hineinsehen. Oben auf lag die Miniaturausgabe einer Henkersschlinge. Aus knallrotem Lackleder. Mit Nieten. Bevor er jedoch eine Bemerkung dazu loswerden konnte, kam Alina bereits mit einer angesteckten Zigarette und einem Aschenbecher zurück. „Jetzt, wo er tot ist, kann es ihm ja wohl egal sein. Wenn ich Ihnen was erzähle“, meinte sie lakonisch und öffnete ein Fenster. „Schlaicher hat in dieser Wohnung immer wieder Frauen untergebracht. Moni dachte sicher, dass es sich dabei um solche handelt, die wie sie … Sie verstehen, was ich meine? Möglich, dass das früher mal so war, aber inzwischen ging’s um etwas anderes. Diese Frauen haben in Bernds privatem Altersheim, oder wie immer Sie es nennen wollen, gearbeitet. Sie kommen für maximal drei Monate nach Deutschland. Mit einem Touristenvisum, dann geht es wieder heim. Offiziell hat er selbst natürlich hier gelebt, damit nichts auffällt.“ „Verstehe“, sagte Emmerich, den derartige Arrangements kaum mehr zum Staunen brachten, auch wenn ihm eines in dieser Form
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bislang nicht untergekommen war. „Haben Sie ebenfalls ein Touristenvisum?“ „Sehe ich so aus?“ Alina blies Rauch aus dem Fenster. „Wieso wohnen Sie dann hier?“ „Wegen Erwin.“ „Geht’s etwas genauer?“ „Oh, mein Gott“, seufzte Alina abgrundtief, nach dem Vorbild amerikanischer Fernsehserien. Als ginge sie davon aus, dass es sich bei diesem Gespräch um eine Art Generalprobe für das eigene Vorstelligwerden bei einem der anvisierten TV-Sender handele. Gitti trat ans Fenster und stellte sich unmittelbar neben sie. „Je schneller Sie reden, desto schneller haben Sie es hinter sich“, sagte sie mit harter Stimme. „Das hier ist weder Spaß noch Spiel. Nicht für Sie und nicht für uns.“ Alina wich zurück, um den individuell erforderlichen Abstand, den ein Mensch zum anderen braucht, wieder herzustellen, und holte tief Luft. „Ich rede doch“, gab sie mit beleidigtem Unterton zurück. „Als ich achtzehn wurde, da wollte ich von zu Hause nichts wie weg. Ohne Asche nicht so einfach. Aus der Stadt kannte ich Erwin, der hat mich gemocht. Er hat mir das Zimmer hier vermittelt und anfangs auch dafür bezahlt. Dann starb seine Mutter, und das Geld wurde ihm knapp. So kam Bernd auf die Idee, dass ich ihm helfen könnte. Und weil er Krach hatte, mit seiner Alten. Ich denke, die hat ihm den Laden organisiert. Seither kamen nämlich keine anderen Frauen mehr, dafür hat er immer öfter selbst hier übernachtet. Tierisch genervt hat mich das, ständig hat er jemanden gebraucht, zum Reden. Gleichzeitig war der Erwin eifersüchtig …“ Alina legte eine Pause ein und verdrehte effektvoll ihre Augen. „Ja?“ „Für mich war es die Hölle, das können Sie mir glauben. Ich bin so was von happy, dass es jetzt vorüber ist.“ „Das heißt“, hakte Gitti süffisant lächelnd ein, „Sie sind froh, dass Sie die beiden los sind?“
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„Wie?“ Alina schrak zusammen, warf ihre Zigarette zum Fenster hinaus, fuhr herum und sah Emmerich an. „Will sie behaupten, ich hätte was damit zu tun? Mit Erwins Tod?“ „Jeder ist verdächtig“, gab Emmerich mit ernster Miene eine ebenfalls jederzeit sendefähige Darbietung zum Besten. „Aber ich war gar nicht da. Ich war mit Alex in Köln. Ich habe ein Alibi.“ „Wir wollen sehen, was es taugt, Ihr Alibi“, meinte Gitti ruhig. „Gibt es weitere Zeugen? Woher wissen Sie, wann Erwin gestorben ist?“ „Ich weiß es nicht. Nur, wann man ihn gefunden hat. Von Moni. Sie hat mir eine SMS geschickt.“ „Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“ „Am Freitag. Ich war auf dem Heimweg, ein paar Häuser weiter gab es einen Auflauf, jemand sagte was von einer Messerstecherei. Vor dem Murrhardter Hof bin ich Erwin begegnet, er war total durch den Wind. Hat behauptet, er hätte gerade Bernd umgebracht. Wie immer war er ziemlich blau, ich hab ihm nichts geglaubt und ihn einfach mitgenommen. Das hätten Sie auch getan, wenn Sie Erwin gekannt hätten.“ „Und weiter?“ „Nichts weiter. Ich habe ihn hinaufgebracht, in seine Wohnung, ihm gesagt, dass ich für ein paar Tage verreise und erst am Dienstag zurück bin. Das hat er sich notiert, dann bin ich wieder weg. Unten stand natürlich Moni, im Flur, und wollte wissen, was denn los ist. Sie bekommt alles mit, was sich vor ihrer Türe tut. Immer. Also hab ich ihr das Nötigste erzählt, dann bin ich hier hinein. Am Samstag sind wir in aller Frühe los, Alex und ich.“ „Das war’s?“ „Ja. Ich brauche noch eine Zigarette, Sie machen mich ganz nervös.“ Erneut entschwand Alina nach draußen, kam aber alsbald rauchend wieder zurück. „Wollen Sie mir daraus jetzt einen Strick drehen?“
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„Apropos Strick.“ Gitti langte in einen Umzugskarton und angelte die Lacklederschlinge heraus. „Was ist dies hier?“ „Ein Galgendingsbums“, entgegnete Alina gleichgültig und sog an ihrem Glimmstängel. „Von Erwin, er hat die gebastelt. Aus allem, was ihm in die Finger kam. Die hier ist aus einem alten Gürtel von mir, ich hab ihm welche geschenkt, weil sie ihm so gut gefallen haben.“ „Auch in Rosa und in Schwarz?“ Alina nickte zwischen zwei Zügen und bedachte Gitti mit einem misstrauischen Blick. „Ist da was dabei? Wurde er etwa damit …“ „Nicht damit.“ Gitti legte die Schlinge zurück. „Haben Sie eine Ahnung, wer es getan haben könnte?“ „Keinen Schimmer. Erwin war ein Säufer, aber ein netter. Er konnte nerven, aber nicht so, dass man ihn dafür hassen musste. Ein alter Mann auf der Suche nach Anschluss. Manchmal hat er von seinen Touren durch die Stadt jemand zum Weitertrinken mit nach Hause gebracht. Vielleicht ist er an den Falschen geraten?“ „Möglich“, räumte Emmerich ein und überlegte, ob es noch mehr zu fragen gab, als an der Tür geklingelt wurde. „Das wird Alex sein“, mutmaßte Alina. „Sind Sie fertig? Wir müssen das Auto beladen.“ „Lassen Sie mir Ihre Telefonnummer da und die neue Adresse …“ Im selben Moment, just als Emmerich das Wort „Telefon“ aussprach, meldete sich, gleich dem Esel, der gerannt kommt, wenn man ihn nennt, in seiner Tasche das Handy. Er wandte sich ab und vernahm Mirkos Stimme, die unter dem fadenscheinigen Vorwand einer noch nicht näher erklärbaren, aber dringend zu verfolgenden Idee den Schlüsselbund Bernhard Schlaichers verlangte. Emmerich unterdrückte seine Neugier, kündigte sein baldiges Erscheinen im Präsidium an, drückte die rote Taste und wollte seinen begonnenen Satz zu Ende bringen. Gitti jedoch hielt ihm ein mit Marienkäfern bedrucktes Visitenkärtchen unter die Nase und verkündete: „Schon erledigt. Wir können los.“
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17 „So etwas“, sagte Emmy nach flüchtigem Studium, „würde ich nie unterschreiben.“ „So etwas“, gab Frau Möbius mit schiefem Lächeln zurück, „müssen Sie irgendwann unterschreiben. Sonst kann niemand für Sie handeln, wenn Sie selbst nicht mehr dazu in der Lage sind.“ „Aber es geht zu weit. Man begibt sich vollständig in die Hand einer anderen Person.“ „So ist es“, bestätigte Frau Möbius traurig. Emmy gewann den Eindruck, als beginne sie, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Wenn das nicht längst schon geschehen war. Ein paar Augenblicke hing sie der Vorstellung nach, selbst in eine derartige Lage zu geraten. Eine Vorstellung, die ihr so ausweglos erschien, dass die entschiedene Verdrängung derselben im Moment die einzig mögliche Lösung darstellte. Freilich nicht für Frau Möbius, so viel war Emmy durchaus klar. „Es eilt doch nicht“, versuchte sie, der alten Dame ein Türchen offen zu halten. „Noch geht es Ihnen gut.“ „Das kann sich von heute auf morgen ändern. Ich habe es oft genug bei anderen erlebt. Und dann ist es zu spät.“ Emmy dachte an ihre Mutter und Bernds Schreiben, das sie von Olching weggeholt hatte. Wer besaß inzwischen das Recht, für Lisbeth zu handeln? Doch wohl sie, nachdem Bernd nicht mehr da war. Eine andere Vollmacht als das rein biologisch begründete Verwandtschaftsverhältnis aber hatte sie nicht vorzuweisen. Unter diesen Umständen drohte bereits die Abmeldung vom bereits gebuchten Pflegeheim ein juristisch schwieriges Unterfangen zu werden. Was Emmy einen Seufzer entlockte.
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„Ja“, nickte Frau Möbius bestätigend, als könne sie diese Überlegungen auf telepathischem Weg mühelos verfolgen. „Lisbeth hat zwar rechtzeitig vorgesorgt. Aber jetzt war alles umsonst. Auch das kann passieren.“ „Irgendeine Lösung werden wir finden“, entgegnete Emmy entschlossen. „Für meine Mutter und für Sie. Frau Pröhl … Adelheid … hat mich ebenfalls gebeten, zu bleiben. Um das zu machen, was Bernd bislang übernommen hat. Ihr Sohn könne das mit den Vollmachten regeln. Hat sie gemeint.“ „Eine gute Idee.“ Wiltraud Möbius’ bekümmerte Miene wich einem erfreuten Ausdruck. „Haben Sie zugesagt?“ „Im Prinzip schon. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich es anstellen soll.“ „Fragen Sie Maritta. Sie hat so viel erledigt, bevor sie Bernd verlassen hat.“ „Warum eigentlich?“, entfuhr es Emmy spontan und eingedenk der Art, in der die Schwägerin den verstorbenen Gatten ihr gegenüber zu erwähnen pflegte. Weniger so, als habe Zwist und Zwietracht, sondern immer noch zumindest ein Einvernehmen zwischen den Eheleuten geherrscht. „Das Übliche“, erklärte Frau Möbius nicht ohne eine gewisse Resignation. „Freundinnen hätte er gehabt. Unter den osteuropäischen Mädchen, die bei uns gearbeitet haben. Zuletzt diese Alina, die ein paarmal hier gewesen ist.“ „Es hört sich nicht so an, als wären Sie davon überzeugt.“ „Wie soll ich sagen? Eine gute Ehe setzt voraus, dass man sich füreinander Zeit nimmt. Maritta hatte ja nie welche. Für Bernd. Immer war sie unterwegs und hat gearbeitet. So sind die modernen Frauen. Was glauben Sie, warum so viele Paare geschieden werden?“ „Sie meinen, die Frauen sind schuld?“ „Nicht die Frauen. Es sind die Umstände. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen, wenn Sie so wollen. Jeder hetzt nur noch herum. Gute Ehen sind unter diesen Voraussetzungen kaum möglich.“
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„Waren sie das jemals?“, fragte Emmy, während sie an ihre Zeit mit Hubert dachte. Eine glückliche Ehe, in der beide Partner Seite an Seite einer gemeinsamen Leidenschaft nachgegangen waren. Wobei man sich natürlich die Frage stellen konnte, ob es sich nicht in erster Linie um Huberts Leidenschaft gehandelt hatte, die Emmy im Interesse des Glücks zu ihrer eigenen gemacht hatte. Frau Möbius schien sich nicht weiter über das Thema auslassen zu wollen. „Fragen Sie mich nicht“, sagte sie und gähnte leise hinter der vorgehaltenen Hand. „Auch ich habe mein Leben lang gearbeitet und hatte keine Zeit für einen Mann. Aber vielleicht habe ich genau deshalb nie einen gefunden. Was mache ich nun mit diesen Papieren?“ „Abwarten“, empfahl Emmy nach einer kurzen Pause des Nachdenkens. „Zumindest so lange, bis wir wissen, wie es hier weitergeht.“ „Wenn Sie meinen. Bloß nicht zu lange. Nicht, dass Maritta denkt …“ „Was?“ „Ich möchte nicht, dass sie glaubt, ich würde ihr nicht vertrauen. Sorgen macht mir, dass sie vielleicht für mich auch keine Zeit haben wird. Ich mag niemandem zur Last fallen.“ War es ein kaum wahrnehmbarer Unterton in der Stimme der alten Dame, der Emmys Aufmerksamkeit erregte? Oder der Umstand, dass sie ihr Spitzentüchlein wieder unter dem Kissen hervorholte und es gesenkten Blickes mit den Händen umklammert hielt? Jedenfalls wagte Emmy, die Frage zu stellen, die ihr seit Beginn des Gespräches im Kopf herumging und die auch für sie selbst inzwischen eine gewisse Bedeutung erlangt hatte: „Tun Sie es denn? Vertrauen Sie ihr?“ Das Taschentuch trat umgehend in Aktion, Frau Möbius betupfte sich die Augen und schniefte. „Ach, liebes Kind“, sagte sie leise. „Ich habe Ihrem Bruder vertraut. Und nun? Wer bleibt denn übrig?“ „Das ist keine Antwort.“
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„Ich muss“, murmelte Frau Möbius kaum verstehbar, setzte sich aber den Bruchteil einer Sekunde später unerwartet gerade auf und schien die Ohren zu spitzen. „Was war das? Ist jemand gekommen? Ich meine, die Haustür sei gerade ins Schloss gefallen.“ „Tatsächlich?“, entgegnete Emmy, die nichts gehört hatte, aber mit den Geräuschen des Hauses auch nicht im selben Maße vertraut war wie ihre Gastgeberin, erstaunt. „Würden Sie nachsehen? Nicht, dass ein Einbrecher … ich würde mich sicherer fühlen.“ „Einbrecher? Am helllichten Tag?“ „Sie kommen immer tagsüber“, behauptete Frau Möbius überzeugt, als wäre die Ankunft von Einbrechern ein jederzeit zu erwartendes Phänomen. „Die Banden aus Osteuropa. Wir hatten so viele Frauen von dort im Haus. Wer weiß, ob nicht eine von ihnen uns ausspioniert hat?“ Eine Gefahr, die Emmy noch nie bedacht hatte, die aber nicht völlig von der Hand zu weisen war. Auch wenn sie wenig wahrscheinlich erschien. Sie lächelte und stand auf. „Wenn es Sie beruhigt, werde ich nachsehen.“ ★★★ Auf dem Rückweg ins Präsidium hatte Emmerich sich drei süße Stückchen besorgt, die er nun, hinter seinem Schreibtisch sitzend und in Erwartung von Frau Sonderbars Rache in Form einer Tasse abgestandenen Kaffees, aus der Tüte nahm. Seine Erwartung jedoch wurde nicht erfüllt, stattdessen verkündete Frau Sonderbar, die Lippen zu einem dünnen Lächeln feinen Triumphes gekräuselt, dass, bedauerlicherweise, überhaupt kein Kaffee mehr vorhanden sei. „Ihre Tasse hat Herr Frenzel sich genommen. Jetzt ist die Packung leer.“ „Haben wir was anderes zu trinken da?“, unterdrückte Emmerich jeden Ausdruck des Bedauerns. „Wasser.“
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„Sprudel? Schön kühl?“ „Wasser“, wiederholte Frau Sonderbar. „Aus dem Hahn. Es müsste eine annehmbare Trinktemperatur haben.“ „Was ist denn das für ein Büro? In dem es mitten im Sommer nicht einmal kalten Sprudel gibt?“ „Sie verlangen so was nie.“ „Ich bin nicht der Einzige hier“, versuchte Emmerich halbherzig, seine Position zu behaupten. „Unser Leitungswasser“, erklärte Frau Sonderbar unbeeindruckt, „kommt vom Bodensee. Es unterliegt strengeren Regeln als jedes Mineralwasser, das Sie kaufen können. Man braucht keine Flaschen, man schont die Umwelt, und es kostet nichts.“ „Aber es hat keine Kohlensäure.“ „Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen eine Vitaminbrausetablette ins Glas tun.“ „Danke“, gab Emmerich auf und biss in einen Kirschplunder. „Pures Wasser genügt.“ Blätterteig bröselte auf seinen Schreibtisch und auf seine Hose. „Was wollte Frenzel?“ Frau Sonderbar betrachtete ihn stumm. „Ich mache es weg, sobald ich gegessen habe“, kündigte Emmerich, erneut zubeißend, an. „Wir haben Teller im Schrank. Für solche Fälle.“ „Ein Blatt Papier tut es auch.“ „Nur, wenn es rechtzeitig ausgelegt wird. Und das Gebäck nicht fettig ist.“ Emmerich schob sich das letzte Stück Kirschplunder in den Mund, sah in seine Tüte und hatte eine Idee. „Übrigens“, sagte er kauend. „Ich habe Ihnen eins mitgebracht. Himbeere oder Aprikose? Das mögen Sie beides, oder?“ Frau Sonderbar schien aufzutauen. „Nett von Ihnen“, nickte sie hoheitsvoll. „Ich gehe Teller holen.“ Wenig später kam sie außerdem mit Servietten und zwei kleinen Plastikflaschen zurück. „Apfelschorle. Hatte ich zufällig noch da. Aber nicht gekühlt.“
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„Macht nix“, entgegnete Emmerich großzügig, reichte seiner Sekretärin die Tüte und nahm eines der Fläschchen. Vorsichtig, um kein weiteres Desaster auszulösen, öffnete er den Schraubverschluss, während sie die Backwaren auf die Teller legte und sich zu seinem Bedauern das mit den Himbeeren nahm. Keine Himbeeren allerdings waren zweifellos besser als eine missgestimmte Frau Sonderbar. „Frenzel“, erinnerte er, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte und damit ein zur Hälfte geleertes Fläschchen in der Hand hielt. „War auf der Suche nach einem Schlüssel.“ Frau Sonderbar zupfte zierlich, mit Daumen und Zeigefinger, Blätterteig von ihrem süßen Stückchen. „Dem von Herrn Schlaicher. Ich sagte, den hätten Sie dabei.“ „Richtig.“ Emmerich fischte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch. „Hat er erwähnt, wozu er ihn braucht?“ „Die Schwester hätte ihn angerufen. Ein paar Türen im Haus sind anscheinend verschlossen.“ „Es wird ja wohl Ersatzschlüssel geben.“ „Sie kennt sich nicht aus. Herr Frenzel meinte, dies sei eine gute Gelegenheit, mehr über das Haus zu erfahren. Er möchte gerne persönlich hin.“ „Soll Gitti mitnehmen. Geben Sie ihm Bescheid, dass ich zurück bin. Sonst noch etwas?“ „Die Spurensicherung hat Hundehaare gefunden. An Holzapfels Kleidung und auf dem Teppichboden im Flur.“ „Es waren keine Hunde in der Wohnung. Nur Fische.“ „Es sind auch nur wenige, einzelne Haare. Die vielleicht an der Kleidung des Täters gehaftet haben.“ „Ein mordender Tierfreund also?“ Frau Sonderbar gab keine Antwort, nahm eine einzelne Himbeere von ihrem Stückchen, steckte sie in den Mund und leckte sich sorgfältig die Fingerspitzen ab.
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„Schmeckt es nicht gut?“, fragte Emmerich, dessen Aprikosentasche längst gegessen war, hoffnungsvoll. „Oh doch, ganz wunderbar“, entgegnete Frau Sonderbar harmlos. „Ich esse gerne langsam, es verlängert den Genuss.“ „Haben die auch etwas über Henkersschlingen gesagt?“, konzentrierte Emmerich sich wieder auf seine eigentlichen Aufgaben und die Ergebnisse der Spurensicherung. „Zwei werden vermisst. Aus Lackleder. In Rosa und in Schwarz. Mit Nieten.“ „Lackleder?“, wiederholte Frau Sonderbar, nunmehr mit vollem Mund, und kicherte. „Nieten? Pikant.“ „Keineswegs. Holzapfel hat sie aus ein paar geschenkten, alten Gürteln gebastelt.“ „Nein, die Kollegen haben nichts dergleichen erwähnt.“ „Fragen Sie noch mal nach.“ „Jawohl“, nickte Frau Sonderbar und sah zur Seite, wo die Tür zum Büro geöffnet wurde. „Na, endlich“, sagte Mirko Frenzel ungeduldig. „Hast du die Schlüssel?“ „Hier.“ Emmerich hob den Bund hoch und klimperte. „Gib her.“ „Pressiert’s?“ „Immer. Du weißt, wir sind gehalten, unsere Fälle zügig zu bearbeiten.“ „Nimm Gitti mit.“ „Ein anderes Mal.“ Mirko schnappte sich den Schlüsselbund, bevor Emmerich auf die Idee kam, ihn fester zu halten, und entschwand eilig nach draußen. „Du bringst ihn zurück“, brüllte Emmerich hinterher. „Das sind Asservate!“ Mirko jedoch schien bereits außer Rufweite zu sein. ★★★
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Emmy verließ das Zimmer, wobei sie die Tür, wie Frau Möbius es gewohnt war, einen Spalt breit offen ließ. Im Hausflur sah sie niemand, von unten aber, dort wo der Partykeller lag, waren gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Sie beugte sich über das Geländer der nach unten führenden Treppe. „Hallo? Ist jemand da?“ Eine zutiefst idiotische Frage natürlich, aber immer noch besser, als auf gut Glück hinunterzusteigen und tatsächlich einem Einbrecher in die Arme zu laufen. Wieder hörte sie leises Gemurmel, dann tauchte Maritta aus den Tiefen des Kellergeschosses auf. „Ich bin es nur. Und ich bin auch gleich wieder weg.“ „Suchen Sie etwas?“ Emmy umrundete das Geländer und betrat den obersten Treppenabsatz. „Bemühen Sie sich meinetwegen nicht.“ „Der Keller ist abgeschlossen. Falls das, was Sie suchen, dort sein sollte. Die Schlüssel hatte Bernd in seiner Tasche, als …“ „Keine Sorge, ich komme schon zurecht.“ Maritta, die ihr ein paar Schritte entgegengekommen war, zuckte zusammen, als hinter ihr das Geräusch eines auf den gefliesten Boden fallenden Gegenstandes erklang. Emmy entschloss sich endgültig, hinunterzugehen. Im schlecht beleuchteten Flur des Untergeschosses stand ein Mann in blauen Arbeitshosen und rotem Polohemd. Auf dem Kopf trug er eine zur Hose passende Mütze, in der Hand hielt er etwas, das ein Stemmeisen sein mochte, neben ihm entdeckte sie einen geöffneten Werkzeugkasten. „Von der Schlüsselhilfe“, erklärte Maritta umstandslos. „Der Herr kommt von der Schlüsselhilfe. Ich weiß, dass die Türe abgeschlossen ist. Dahinter liegt Bernds Büro. Dort muss ich hin. Also bitte“ − sie wandte sich dem Handwerker zu –, „sind Sie jetzt so gut und öffnen Sie.“ „Augenblick“, sagte Emmy und trat näher. „Wollen Sie sie etwa aufbrechen?“
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„Ist alte Schloss“ verkündete in gebrochenem Deutsch der Mann mit der Mütze, ohne aufzusehen. „Sehr alte Schloss. Gibt niecht mehr Schliessel fier so alte Schloss.“ „Aber das ist nicht nötig. Ich bekomme den Schlüssel noch heute von der Polizei zurück.“ „Ach was?“, reagierte Maritta verblüfft. „Davon haben Sie mir nichts gesagt.“ „Sie haben mich auch nicht gefragt.“ „Soll iech dann gehen wieder fort?“, wollte der Handwerker wissen. „Wo bekommen Sie den Schlüssel zurück? Auf welchem Revier? Mit Bernds restlichen Sachen? Ich kann das für Sie übernehmen, ich habe ein Auto. Falls Sie dazu aufs Polizeipräsidium müssen. Das ist weit weg.“ „Sehr freundlich von Ihnen“, wehrte Emmy Marittas Angebot ab. „Aber auch das ist nicht erforderlich. Jemand bringt den Schlüssel her. Wir können den Raum dann gemeinsam öffnen.“ „Gemeinsam mit der Polizei? Suchen die auch … ich meine, weshalb interessiert sich die Polizei für Bernds Büro?“ Mehr unwillkürlich als aus einer bewussten Überlegung heraus unterdrückte Emmy den Impuls, ein derartiges Interesse abzustreiten und Maritta über die private Natur ihrer Bekanntschaft mit Mirko Frenzel aufzuklären. „Und wann, glauben Sie, kommt dieser Jemand?“, fragte die schon weiter. „Im Lauf des Tages.“ „Präziser geht es kaum“, stellte Maritta säuerlich fest, unschlüssig zwischen Emmy und dem Handwerker verharrend. Eine Pause trat ein, der Mann im Polohemd ging in die Hocke, verstaute sein Werkzeug im Kasten und klappte ihn zu. „Was soll das werden?“, fuhr Maritta ihn ungehalten an. „Iiech wieder gehen“, erwiderte der Schlüsselhelfer, ohne auch nur den Kopf zu heben, richtete sich auf, zog sich mit einem kurzen Griff den Schild der Mütze ins Gesicht und strebte zügig der Treppe
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zu. Emmy trat beiseite, um ihm Platz zu machen, Maritta eilte ihm mit den Worten „So warten Sie doch“ hinterher. In der Tasche ihrer Jeans vibrierte Emmys Handy, sie nahm es heraus und sah Mirko Frenzels Nummer. „Hallo?“ „Ich bin’s. Mit den Schlüsseln. Ich stehe vor der Tür und weiß nicht, wo ich klingeln soll.“
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18 Im Präsidium hatte Frau Sonderbar ihre Himbeerschnitte aufgegessen und Emmerichs Büro samt der benutzten Teller verlassen. Durch die Gläser seiner Lesehilfe betrachtete er eingehend den Block gelber Haftnotizen, den er aus Holzapfels Wohnung mitgenommen hatte, und überlegte gerade, ob er es wagen sollte, die alte Methode des Einfärbens mit Bleistift anzuwenden, um eine eventuell beim Schreiben durchgedrückte Notiz sichtbar zu machen, als Gitti hereinkam. Emmerich legte den Bleistift wieder weg. „Was machst du da?“, fragte sie mit erhobenen Brauen. „Was ausprobieren“, gab er knapp zurück. „Wenn das der Notizklotz ist, für den ich ihn halte, solltest du jegliche Experimente damit der Spurensicherung überlassen.“ „Das dauert mir zu lange. Abgesehen von ein paar unbrauchbaren Fingerabdrücken würden sie ohnehin nichts daran finden.“ „Aber du?“ „Ich will wissen, ob sich auf diesem Klotz Holzapfels Notiz wegen Alina befunden hat. Was dann nämlich bedeuten würde …“ „… dass daraus die Nachricht wurde, die wir am Montag früh an seiner Tür gefunden haben?“ „Korrekt. Wenn wir davon ausgehen können, dass ursprünglich die Worte ,Alina erst am Dienstag wieder da‘ auf diesem Zettel standen, wären das ,Bin‘ und die Initialen von einer dringend tatverdächtigen Person hinzugefügt worden. Während der Teil mit dem Namen abgetrennt wurde. In diesem Fall ließen sich die Kosten für ein grafologisches Gutachten eventuell rechtfertigen.“ „Wer hat ein Interesse daran, so etwas zu machen?“
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„Jemand, der den Eindruck erwecken wollte, dass Erwin nicht zu Hause ist. Damit niemand zu früh auf die Idee kommt, ihn zu suchen.“ „Oder jemand, der nicht wollte, dass Alinas Name in seiner Wohnung auftaucht. Vielleicht sogar beides?“ „Du meinst den Bruder? Alexander Kopkin? Er hätte den Zettel auch einfach mitnehmen können.“ „Lass mich nachdenken.“ Gitti setzte sich in einen der beiden Besucherstühle vor Emmerichs Schreibtisch. „Kopkin hätte vielleicht ein Motiv. Seine Schwester meinte, Erwin sei eifersüchtig gewesen. Womöglich hat sie auch bei dem ein paarmal nachgegeben. Wie sie das im Fall von Schlaicher ausgedrückt hat. Womöglich hat das Kopkin nicht gepasst …“ „Der Name hört sich russisch an. In diesen Kreisen passen Brüder noch auf ihre Schwestern auf.“ „Sie bevormunden sie. Wolltest du sagen.“ „Nehmen wir also an, unser Erwin betrachtete Alina tatsächlich als so etwas wie seine Freundin“, überlegte Emmerich weiter, ohne auf Gittis Bemerkung einzugehen. „Warum sonst hätte er eine Zeit lang für das Zimmer bezahlen sollen?“ „Warum sonst hätte Monika Gerbermann ausgerechnet ihr eine SMS geschickt, als die Leiche gefunden wurde?“ „Warum sonst hätte der Täter ausgerechnet die beiden Schlingen, die aus Alinas Gürteln gebastelt waren, mitgehen lassen?“ „Es passt schon ziemlich viel zusammen“, befand Gitti beifällig. „Wir hätten ihn nicht so einfach ziehen lassen sollen. Kopkin hat auch die Statur, die nötig ist, um einen wie Erwin hochzuheben.“ „Du weißt inzwischen, was er gewogen hat?“ Gitti nickte. „Etwas über neunzig Kilo. Nicht gerade ein Leichtgewicht.“ „Dass die Garderobenstange das so einfach ausgehalten hat“, wunderte sich Emmerich. „Hat sie nicht. Wir konnten uns ja selbst davon überzeugen, dass sie etwas abgerutscht war. Ich habe einen der Sanitäter erreicht, die
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ihn aufgefunden haben. Holzapfels Leiche hing zwar mit der Schlinge noch am Haken, kniete aber gleichzeitig gewissermaßen auf dem Boden. Leider kam keiner auf die Idee, davon ein Bild zu machen. Mit dem Handy, beispielsweise. So kann man sich die Auffindesituation wirklich kaum vorstellen.“ „Rettungsmaßnahmen stehen an erster Stelle.“ „Da war nichts mehr zu retten. Hätte man doch sehen müssen, meine ich.“ „Ich will mir“, meinte Emmerich, wieder zum Bleistift greifend, „darüber kein Urteil erlauben.“ Vorsichtig begann er, das oberste Blatt des Notizklotzes zu schwärzen. Gitti sah ihm dabei zu, sagte aber nichts, bis er ihr nach einer kleinen Weile das ganze Ding über den Schreibtisch schob. „Bitte sehr. Ich hatte recht. Sei so gut und sorg dafür, dass unser Original samt diesem Bitte-nicht-stören-Schild auf Fingerabdrücke und DNA untersucht wird. Auch wenn ich mir nicht allzu viel davon verspreche.“ „Und Kopkin? Glaubst du, der ist noch in der Katharinenstraße?“ „Einen Versuch ist’s wert. Schick einen Streifenwagen hin, wir lassen ihn erkennungsdienstlich behandeln. Die TV-Sender der Republik werden auf dieses viel versprechende Talent auch noch ein wenig warten können.“ ★★★ Sekunden später stand Emmy in Gesellschaft von Frau Möbius, Maritta und dem Handwerker wieder oben in der Diele. Während Frau Möbius bemerkte, dass es heute im Haus ja zugehe wie in einem Taubenschlag, gab der Handwerker leise Töne, von denen Emmy annahm, dass es sich um Flüche in einer ihr unbekannten Sprache handelte, von sich und öffnete die Haustür. Im Begriff, das Haus mit einigem Schwung zu verlassen, prallte er um ein Haar gegen den vor der Tür stehenden Mirko Frenzel, was ihm einerseits etwas lau-
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tere, ebenso fremd klingende Worte entlockte. Andererseits führte eine erschreckte Handbewegung Frenzels dazu, dass die blaue Mütze versehentlich vom dunklen Haar des Schlüsselhelfers gerissen wurde. Der äußerte daraufhin gut verständlich und akzentfrei „gottverdammte Scheiße aber auch“, bückte sich nach seiner Kopfbedeckung und suchte beinahe fluchtartig das Weite. Frenzel sah ihm, eine Entschuldigung auf den Lippen, verwundert hinterher. „Wer war denn das?“, wollte Frau Möbius wissen. „Und wer sind Sie?“ „Hauptkommissar Frenzel, Kripo Stuttgart. Ich möchte zu Frau Steisshofer hier. Lassen Sie sich durch mich nicht stören.“ „Polizei?“, staunte Frau Möbius, offenbar gewillt, die gebotene Auflockerung ihres fast immer gleichen Alltags bis zur letzten Sekunde auszukosten. „Ist es wegen Bernd? Soll ich eine Aussage machen?“ „Es handelt sich“, kam Emmy Frenzel zuvor, „um einen privaten Besuch. Wir werden ins Erkerzimmer gehen.“ „Aber …“, setzte Maritta an, besann sich eines Besseren und wandte sich ebenfalls an die enttäuscht dreinblickende Frau Möbius. „Am besten, Sie gehen auch wieder auf Ihr Zimmer.“ „Nein“, widersprach die alte Dame aufmüpfig. „Ich gehe in die Küche. Ich mache Tee. Möchten Sie eine Tasse Tee, Herr Kommissar?“ „Danke, sehr freundlich, aber ich habe nicht viel Zeit“, lehnte Frenzel höflich ab und sah Emmy an. „Komm mit nach oben“, sagte die und winkte. „Bernds Büro“, erinnerte Maritta mit einem Seitenblick auf Frau Möbius im Flüsterton. „Sie wollten mir das Büro aufsperren.“ „Eilt das so?“ „Ich habe auch noch was anderes zu tun.“ „Dann von mir aus“, stimmte Emmy unwillig zu. Vorgezogen hätte sie es, mit Mirko ein wenig im Erkerzimmer zu plaudern. Was um diese Tageszeit aber vermutlich ohnehin nur unter Zeitdruck möglich gewesen wäre. Die Inaugenscheinnahme des Kellers hinge-
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gen konnte ihretwegen warten, schon gar keinen Wert legte sie darauf, dies in Marittas Anwesenheit zu tun. „Wir gehen kurz hinein und Sie nehmen sich, was Sie brauchen. Ich sperre dann wieder ab.“ „So einfach geht das nicht. Wie ich ihn kenne, hat Bernd ein Chaos hinterlassen. Das will erst einmal geordnet sein. Lassen Sie mich einfach in das Zimmer und dann nehmen Sie sich in aller Ruhe Zeit für Ihren Besuch.“ „Eigentlich würde ich gerne dabei sein. Wenn es darum geht, Bernds Nachlass zu ordnen.“ „Seinen Nachlass?“ Maritta stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus. „Ich fürchte, da hegen Sie falsche Erwartungen. Nein, hier geht es nur um Unterlagen, die gebraucht werden, damit hier im Haus nichts durcheinander kommt.“ „Auch das würde mich …“ Mirko Frenzel gab ein deutliches Räuspern von sich. „Entschuldigen Sie bitte. Emmy. Frau … ääh …?“ „Blind-Schlaicher“, sagte Maritta knapp. „Ich bin die Witwe des Verstorbenen.“ „Aha. Nun … jedenfalls … es nützt nichts, sich schon jetzt zu streiten …“ „Wir streiten nicht“, fiel die Witwe Frenzel ins Wort. „Natürlich nicht. Ich wollte lediglich bemerken, dass ich Herrn Schlaichers Schlüssel noch im Wagen habe und Emmy … Frau Steisshofer … nur abholen wollte. Um Duplikate anfertigen zu lassen. Ich denke, in ein bis zwei Stunden sind wir zurück.“ „Tatsächlich? Und was spricht dagegen, dass Sie mir in der Zwischenzeit die Türe öffnen? Dann wäre ich wenigstens fertig, bis Sie wieder da sind.“ Frenzel sah Emmy an, die kaum merklich eine verneinende Kopfbewegung machte. „Die Ermittlungen“, entgegnete er freundlich, aber bestimmt. Maritta nahm dies mit einem erbosten Blick zur Kenntnis und sah auf ihre Armbanduhr.
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„Die Ermittlungen, ach so“, wiederholte sie sarkastisch. „Nun gut, wie Sie meinen. Ich werde also in zwei Stunden wieder hier sein. Ich hoffe, das gilt pünktlich auch für Sie.“ Wenig später verließ auch Emmy an Mirkos Seite das Haus an der Neuen Weinsteige. „Was für ein Drachen, diese Witwe“, meinte Mirko auf dem Weg zum Auto. „An der wirst du noch Freude haben.“ „Wie meinst du das?“ „Na, sie hat es doch gesagt. Wenn es um den Nachlass geht.“ „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ „Solltest du aber.“ „Ob sie deshalb unbedingt in das Büro will?“, spekulierte Emmy, berichtete vom Besuch des Handwerkers mit dem Stemmeisen und blieb plötzlich stehen. „Jetzt fällt mir ein“, sagte sie, sich einen leichten Klaps auf die Stirn versetzend, „was mir die ganze Zeit so komisch vorkam.“ „Komisch? Bei deiner Schwägerin?“ „Nein. Dieser Mann. Hast du jemals erlebt, dass einer von der Schlüsselhilfe geht, ohne gleich das Geld für seine Rechnung zu kassieren?“ „Vielleicht hat er nichts verlangt.“ „Nichts verlangt? Die Schlüsselhilfe? Du machst Witze.“ „Wieso?“, fragte Mirko und zeigte einladend auf einen silbernen Mercedes. „Ist doch ihr Bekannter.“ „Schickes Auto. Ein Bekannter von Maritta, meinst du? Wie kommst du darauf?“ „Dienstwagen“, reagierte Mirko auf das Kompliment. „Hast du ihn nicht erkannt? Das war der Mann, mit dem sie gestern am Schillerplatz gegessen hat.“ ★★★ Emmerich war mit etwas beschäftigt, das nicht gerade typisch für ihn war: Er suchte im Internet nach Herrn von Königstein. Nicht,
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weil er etwa beabsichtigte, den Makler alsbald wegen des Verkaufs der Wohnung erneut zu kontaktieren, sondern weil sein Versuch, sich auf demselben Weg, im Internet, Informationen über TrellosImmobilien zu verschaffen, keinerlei Ergebnisse gezeitigt hatte. Ein paar Augenblicke lang sann er der Frage nach, ob ein Unternehmen, das mittels Suchmaschine unauffindbar blieb, in der heutigen Zeit überhaupt als existent betrachtet werden durfte. Und inwiefern dies inzwischen auch für Privatpersonen gelten mochte, zumindest für solche, die das fünfzigste Lebensjahr noch nicht erreicht hatten. Machte sich einer heute womöglich bereits verdächtig oder durfte zumindest als suspekt betrachtet werden, der sich nicht mit ein paar Mausklicks finden ließ? Durfte man davon ausgehen, dass so jemand vielleicht gar nicht gefunden werden wollte und wenn ja, warum? Weil er etwas zu verbergen hatte? Im Gegensatz zu seiner Firma jedenfalls führte Herr von Königstein, Philipp mit Vornamen, ein Leben im Netz. Zuvörderst natürlich in den gängigen sozialen Netzwerken, zu denen Emmerich aber, mangels eigenem Account, keinen Zutritt hatte. Er selbst nämlich schätzte sich durchaus glücklich ob der Tatsache, dass niemand bei einer Eingabe seines Namens Rückschlüsse auf sein Privatleben ziehen konnte. Nicht der Chef, nicht die Kollegen, keine Versicherung, schon gar kein Makler und, am wichtigsten von allem, auch keiner, der aufgrund einer beruflich bedingten Begegnung Rachegelüste gegen die Polizei im Allgemeinen oder ihn persönlich im Besonderen hegte. Emmerich beschränkte sich daher auf die frei zugänglichen Einträge, von denen es einige gab, und klickte die angezeigten Bilder an. Philipp von Königstein in jüngeren Jahren, in der Hand einen geschmacklosen Pokal, bei einer nicht näher definierten Siegerehrung. Philipp von Königstein im Smoking, an der Seite einer Frau namens Sophia Schloz in Abendkleidung unter dem typischen Himmel eines weißen Partyzeltes. Und schließlich ein Foto, das drei Personen mit Sektgläsern an einem jener Stehtischchen zeigte, die bei Empfängen und dergleichen aufgestellt wurden. Die Bildunterschrift dazu lautete: Philipp von Königstein, Maritta Blind und Christos Trellos freuen sich. Das
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Foto, so die dazu genannte Homepage, stammte aus dem Jahr 2010, gehörte zu einer Serie mehrerer, ziemlich genauso aussehender Bilder, die andere Personen an Stehtischchen zeigte. Bei allen handelte es sich um erfolgreiche Absolventen einer Ausbildung zum Immobilienmakler an einer privaten Akademie für Erwachsenenbildung bei der Abschlussfeier. Emmerich versuchte es weiter und gab den Namen „Christos Trellos“ in den Rechner ein. Neben der Stehtischchenaufnahme erhielt er die Empfehlung, seine Suche nur in deutscher Sprache durchzuführen. Was er, im Prinzip, ja eigentlich tat, nur dass es ihm in diesem Fall nicht weiterhalf. Emmerich verlor die Lust an weiteren Recherchen und verließ die Suchmaschine. Immerhin, so hatte er herausgefunden, gab es einen Träger des Namens „Trellos“. Für den Fall, dass dieser eine Rolle bei der Aufklärung des Mordes an Winfried Holzapfel, den auch Emmerich im Stillen bereits nur noch Erwin nannte, spielen sollte, standen ihm bessere Möglichkeiten zur Verfügung. Beispielsweise, wenn es darum ging, den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Mannes und letztlich auch Christos Trellos persönlich ausfindig zu machen. Weitaus wahrscheinlicher aber war, dass es sich dabei um eine bloße Randfigur handelte und er seine Zeit mit Unnötigem verschwendete. Auch von Frau Sonderbars ausgedruckten Seiten, betreffend das Unternehmen mit dem merkwürdig anmutenden Namen „Gerontulos“ erwartete er sich nichts, studierte sie aber, in Ermangelung einer sinnvolleren Beschäftigung, ausgiebig. Hübsche Fotos, auf dem Ausdruck in Schwarz-Weiß, zeigten frohgemute Menschen im Rentenalter beim Wandern, beim Schwimmen, im Restaurant, beim Besichtigen eines historischen Platzes und als Publikum eines Pianisten. Sprüche wie „Hier finden Sie Natur noch pur“, „Vier-SterneKüche für Genießer“ oder „Kultur kommt bei uns nicht zu kurz“ ergänzten die Bilder. Auf den ersten Blick wirkte das Ganze wie Werbung für ein Kurhotel, erst weiter hinten ließen einige Aufnahmen der Innenräume leise Zweifel aufkommen, und es wurde klar, dass es sich um das, was man früher einmal schlicht „Altersheim“ genannt hatte, handelte. Heute dagegen, so hatte es Emmerich in-
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zwischen gelernt, hieß so etwas „Residenz“, was einen Menschen mit ausgeprägtem Sprachempfinden durchaus ins Grübeln bringen konnte. Emmerich jedoch hatte es aufgegeben, sich mit den hochtrabenden Wortschöpfungen der heutigen Zeit auseinanderzusetzen. In seinen Augen dienten diese lediglich der Verbrämung unangenehmer Tatsachen oder konnten gleich als schlichte Lügen abgetan werden. Egal, ob es nun hieß, die Mitarbeiter seien das wertvollste Kapital eines Unternehmens, eine Bank erbringe „Leistung aus Leidenschaft“ oder die Medizin sei für die Menschen da. Er misstraute inzwischen einfach generell – und nicht mehr nur berufsbedingt − zunächst einmal allem, was er im Fernsehen, im Radio, im Internet, in Zeitungen oder auch sonst wo zu hören oder zu lesen bekam. Mit so einer Einstellung, fand Emmerich, waren schlechte Erfahrungen zwar immer noch im Bereich des Möglichen, vor großen Enttäuschungen aber immerhin war man gefeit. Wer also in der Hoffung auf ein Luxusleben in eine sogenannte „Residenz“ statt in ein simples „Heim“ zog, durfte sich in seinen Augen nicht beschweren, wenn er dort feststellen musste, auf falsche Versprechungen hereingefallen zu sein. Dies galt auch für das hier beworbene Haus mit dem, für den letzten Lebensabschnitt besonders geschmackvollen Namen „Silver Star Sunset“, das sich vielleicht wirklich in einer schönen Gegend, nämlich unweit der slowakischen Hauptstadt Bratislava, zwischen grünen Wäldern und nahe der österreichischen Hauptstadt Wien befinden mochte. Gegen Arthrose, Alzheimer oder die sonstigen Gebrechen, die der Herrgott in seiner unerschöpflichen Güte für seine alternden Schäfchen vorgesehen hatte, bot es dennoch keinen Schutz, egal, wie man es nannte. So, wie das wertvollste Kapital der Unternehmen bei schlechter Auftragslage eben keinen Wert mehr darstellte, die Leidenschaft so mancher Bank sich auf das Befüllen der Konten ihrer Manager beschränkte und die Medizin zwar für die Menschen, mehr noch aber für die Hersteller von Medikamenten da war. Man durfte also getrost davon ausgehen, dass es Gerontulos ums Geldverdienen ging, was aber wiederum nicht von Grund auf als anrüchig zu bezeichnen
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war. Die Senioren der nahen Zukunft, zu denen Emmerich jeden unter siebzig rechnete, bildeten einen Markt, gerne auch als „Wachstumsmarkt“ bezeichnet, einfach nur deshalb, weil ihre Zahl im Zunehmen begriffen war. So ein Markt wiederum wurde nach gängiger Definition von Angebot und Nachfrage bestimmt. In diesem Fall einer Nachfrage, die fast zwangsweise erfolgen musste und damit schon beinahe paradiesische Verhältnisse für potenzielle Anbieter versprach. Zumindest so lange, wie die Nachfrager noch über ausreichende finanzielle Mittel verfügten. Was ja wohl so sein musste, wenn man glaubte, was behauptet wurde, dass nämlich Milliardenbeträge darauf warteten, in naher Zukunft per Erbe ihre Besitzer zu wechseln. Die legitime Aufgabe findiger Geschäftsleute konnte also nach den Marktgesetzen nur darin bestehen, diese Mittel abzuschöpfen, bevor der jeweilige Erbfall eintrat. Zudem galt es zu bedenken, dass selbst durchschnittliche Rentner im Vergleich mit jungen Menschen der Generation Praktikum noch über ein halbwegs ordentliches Einkommen verfügten. Kein Wunder also, dass Seniorenresidenzen nicht nur in Emmerichs Heimatstadt verstärkt errichtet wurden, sondern eben auch im Ausland. Sowohl nahe Bratislava, und bereits bezugsfertig, als auch in Kroatien oder Griechenland, bislang nur als Computergrafik existent. Wieso allerdings ein Bitte-nicht-stören-Schild mit der Internetadresse von Gerontulos an Holzapfels Tür gehangen hatte, erschloss sich aus der ausgedruckten Homepage nicht. Emmerich konnte nur vermuten, dass der Tote vielleicht für sich selbst einen Ruhestand in Bratislava in Betracht gezogen hatte, vielleicht auch für seine kurz vor ihm selbst verstorbene Mutter. Bewiesen aber war durch derartige Vermutungen gar nichts, mit einem leisen Seufzer legte er die Selbstdarstellung von Haus „Sunset“ wieder weg, leerte den Rest seiner Apfelschorle und blätterte müßig in einem seiner alten Musikmagazine, bis Gitti wiederkam. „Und?“ „Pech gehabt. Die Vögel sind schon ausgeflogen.“ „Schade.“
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„Es kommt noch besser“, sagte Gitti, ihren Platz im Besucherstuhl ihm gegenüber wieder einnehmend. „Eine Familie Kopkin ist bei uns gemeldet. Gar nicht weit weg von dir, in der Villastraße. Alina, Boris, Michail, Alexander und Valentina.“ Sie legte eine bedeutungsschwangere Pause ein. „Mach’s nicht so spannend“, meinte Emmerich, der für solche Pausen wenig übrig hatte. „Alexander Kopkin ist Jahrgang 1963. Er kann nur Alinas Vater sein. Boris und Michail sind minderjährig.“ „Du meinst, die haben uns verarscht?“ „Kreuzweise und wie die Profis.“ „Der Muskelmann war nicht ihr Bruder?“ „Natürlich ist nicht völlig auszuschließen, dass Alexander senior noch Sprösslinge aus einer anderen Ehe hat.“ „Wir haben nicht mal eine Autonummer. Die beiden können über alle Berge sein.“ „Die Kollegen haben sie nur knapp verpasst. Eine blonde Frau, so sagten sie, hätte gewusst, dass etwa zehn Minuten vor dem Eintreffen des Streifenwagens Alina und ein Mann in einem weißen Lieferwagen weggefahren sind. Ich nehme an, die Blonde war Frau Gerbermann. Vielleicht sind sie noch im Stadtgebiet.“ „Gequirlte Scheiße.“ Emmerich hieb mit der rechten Faust derart auf seinen Schreibtisch, dass Locher, Hefter und sonstige Büroutensilien munter hüpften. „Soll ich etwa eine Ringfahndung veranlassen? Damit wir am Ende einen kleinen Anabolika-Dealer dingfest machen? Die zwei sind keine Terroristen.“ „Natürlich nicht.“ Gitti blieb ruhig. „Ich habe darum gebeten, dass die Kollegen auf Streife ihr Augenmerk auf weiße Lieferwagen richten. Insbesondere auf solche, die in der Villastraße stehen. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.“ „Das darf nicht wahr sein. Wir fallen auf zwei Jugendliche rein. Wie Anfänger.“ „Jetzt reg dich ab. So etwas kann passieren.“
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„Nicht mir“, widersprach Emmerich mit unangemessen lauter Stimme. „Normalerweise. Daran ist Gabi schuld. Ich kann mich kaum mehr konzentrieren. Wegen diesem bescheuerten geplanten Umzug.“ „Ihr habt einen Termin?“, fragte Gitti beiläufig, wohl in der Absicht, ihn von weiteren Selbstvorwürfen abzulenken. „Nein.“ „Dann verstehe ich nicht ganz …“ „Ist doch auch egal“, relativierte Emmerich seinen unsinnigen Versuch, die Schuld fürs eigene Versagen jemand anderem in die Schuhe zu schieben, bärbeißig. „Was hältst du davon?“, fragte Gitti sanft. „Wir schicken die Spurensicherung in Alinas Wohnung. Sie finden sicher DNA vom Muskelmann. Wir wüssten bald, ob er als Täter überhaupt infrage kommt.“ „Haben wir denn etwas zum Vergleich? Material aus Holzapfels Apartment?“ „Selbstverständlich. Hundehaare, Menschenhaare, Hautpartikel, Fasern … irgendwas findet sich in einer Wohnung immer. Die Frage ist doch nur, wer was wann dort hinterlassen hat.“ „Also schön.“ „Dann brauche ich die Schlüssel. Für die Wohnung.“ „Die Schlüssel? Die hat Mirko.“ Bevor sich Emmerich nun allerdings wegen dieses Umstandes erregen konnte, trat Frau Sonderbar herein. Sie habe nicht gewusst, ob sie stören dürfe, sagte sie, immer noch in missbilligender Art, und setzte hinzu: „Weil Sie doch so brüllen müssen.“ „Ich brülle nicht“, widersprach Emmerich mit Würde. „Ich spreche engagierte Worte, um mein Durchsetzungsvermögen darzustellen.“ „Wenn Sie meinen.“ „Was gibt es?“ „Eine Frau Gerbermann hat angerufen. Was sie mit den Wohnungsschlüsseln einer Alina Kopkin machen solle? Die hätte sie in ihrem Briefkasten gefunden.“
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19 Der Mercedes schnurrte sanft die Neue Weinsteige hinauf, bog am Ortsausgang von Degerloch rechts ab und fuhr wieder bergab. „Ist das der Weg zum Schlüsseldienst?“, wunderte sich Emmy, als nach einer scharfen Kurve nur noch dichter Wald um sie herum war. Mirko grinste nur sekundenschnell zu ihr herüber. „Das ist der Weg zum Waldfriedhof. Wunderbar schattig und kühl bei dieser Hitze. Und meist um diese Zeit nur schwach besucht.“ „Aber … wollten wir nicht … die Duplikate …?“ „Längst erledigt.“ Der Mercedes wurde auf einen großen, weitgehend leeren Parkplatz gesteuert. „Sieh ins Handschuhfach.“ Emmy tat, wie geheißen, entdeckte eine kleine Plastiktüte und darin eine Anzahl neuer Schlüssel. „Die kannst du behalten. Kostet nichts“, informierte Mirko sie großzügig und nahm seinerseits den originalen Bund aus seiner Jackentasche. „Ich konnte alle kopieren lassen bis auf diesen hier.“ Mit spitzen Fingern hielt er ihr ein filigran gearbeitetes, altmodisches Bartschlüsselchen hin. „Er könnte zum Schreibtisch meiner Mutter passen“, nahm Emmy an. „Sonst war kein anderer, alter Schlüssel dabei?“ „Keiner“, bestätigte Mirko. „Vermisst du einen?“ „Der Knabe von der Schlüsselhilfe … Marittas Kumpel … er hat behauptet, das Büro habe ein sehr altes Schloss. Er war dabei, es aufzubrechen.“ „Wir werden das“, meinte Mirko und zog die Wagenschlüssel ab, „später gemeinsam überprüfen. Nach unserem Spaziergang.“ Emmy verstaute das Tütchen mit den Duplikaten sorgfältig in ihrer rechten Hosentasche, stieg aus und sah Mirko über das flache Dach des Mercedes an.
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„Musst du denn nicht arbeiten?“ „Ich arbeite“, entgegnete Mirko grinsend. „Ich führe wichtige Gespräche. Willst du zu den Promigräbern oder einfach nur so durch die Gegend laufen?“ „Promis sind mir völlig schnurz. Tote Promis sowieso.“ „Dann komm mit“, sagte Mirko, sich in Bewegung setzend. „Es ist ein schöner Friedhof. Friedlich. Vögel, Blümchen, Eichhörnchen. Ich bin gerne hier heroben. Man vergisst die Stadt. Wenigstens für eine kleine Weile.“ An der zweiten Wegkreuzung spürte Emmy, wie seine Hand mit einer sachten Berührung nach der ihren griff. Sie ließ die Berührung zu. „Einverstanden?“, fragte er nach ein paar Schritten mehr. „Einverstanden“, nickte sie mit einem Kloß im Hals. Hand in Hand, aus größerer Entfernung beinahe mit zwei schüchternen Teenagern zu verwechseln, schlenderten Emmy und Mirko gemächlich die Wege des friedlichen Friedhofs entlang. Wie Frenzel es vorhergesagt hatte, begegneten sie nur vereinzelt anderen Menschen. Ein schwarz gekleidetes Grüppchen, das auf dem Rückweg von einer Beisetzung sein mochte, ab und zu Frauen, bewaffnet mit Gießkannen, Harken und Setzlingen, ein Mann mit Gel im Haar in einem dunklen Mantel, eine Rose in der Hand, der es gleich ihnen nicht eilig zu haben schien. Gelegentlich verweilten sie vor einem der Gräber, bewunderten Blumen oder besondere Werke der Steinmetzkunst, lasen sich gegenseitig die Namen der Toten vor. Bis schließlich ein frisch aufgeschütteter Hügel mit einer kläglich vor sich hinwelkenden Schale darauf Mirkos Aufmerksamkeit erregte. „Charlotte Holzapfel“, las er von dem schlichten Holzkreuz, das am Kopfende des Hügels in der Erde steckte, ab und sah Emmy an. „Die Frau, die in deinem Zimmer wohnte.“ „Ja“, murmelte Emmy leise. „Das wird sie wohl sein. Die Blumen brauchen dringend Wasser.“ „Ist nicht dein Job.“
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„Bestimmt sieht niemand nach dem Grab. Jetzt, wo auch der Sohn …“ Emmy ließ den Satz unvollendet. „Es wird nicht das einzige sein. Um das sich keiner kümmert. Weiter vorne gibt es Baumgräber. So was oder anonym … das ist die Zukunft unserer Friedhöfe.“ „Ich weiß nicht, ob mir das gefallen soll“, meinte Emmy nachdenklich und fuhr herum, als sich unversehens ein Wasserstrahl über die welkende Schale ergoss. Direkt hinter ihr stand eine kleine, alte Frau mit einer großen, grünen Kanne. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie, stellte die Kanne auf den Boden und sah Mirko an. „Sind Sie der Sohn? Mein Beileid auch. Es ist dann ja doch recht schnell gegangen, nicht?“ „Sie haben sie gekannt?“, entgegnete Mirko überrascht, ohne auf ihre Fragen einzugehen. Die alte Frau trat an das Kreuz, ging schwerfällig in die Knie, entfernte etwas am Fuß des Kreuzes Sprossendes und warf es ins Gebüsch. „Gekannt?“, wiederholte sie langsam, nahm ihre Kanne und stellte sie neben das Nachbargrab. „Gekannt wäre zu viel gesagt. Getroffen haben wir uns ab und zu. Genau hier, wo unsere Männer liegen. Geschwätzt haben wir dann. Über früher. Mein Mann war Metzgermeister, wissen Sie. Und ihrer hat so gerne Fleisch gegessen …“ „Was meinten Sie damit? Es sei jetzt doch recht schnell gegangen?“ „Na, mit ihr. Wie lange ist’s jetzt her? Dass man sie beerdigt hat?“ Emmy schaute auf das Datum, das unter Charlotte Holzapfels Namen mit Filzstift auf das Kreuz geschrieben war, und rechnete zurück. „Acht Wochen? Ungefähr.“ „Eben“, nickte die Frau und begann zu gießen. „An Pfingsten ging es ihr noch gut. Da hab ich sie zum letzten Mal gesehen. Deshalb dachte ich mir schon, ob sie vielleicht … ob es womöglich … aber es geht mich ja nichts an. Das muss ein jedes selber wissen.“ „Bitte“, sagte Mirko und griff nach der Kanne. „Darf ich Ihnen helfen? Das ist doch viel zu schwer für Sie.“
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„Gerne“, überließ die alte Frau ihm ohne Umschweife das Gießen. „Obwohl ich es gewohnt bin.“ „Was dachten Sie? Was muss jeder selber wissen?“ „Ob sie vielleicht nachgeholfen hat? Darüber haben wir auch einmal geredet. Ob das nicht besser ist, als in ein Heim zu gehen. Wenn man alleine nicht mehr kann. Das Bäumchen nicht vergessen, bitte.“ Die Frau zeigte auf ein kniehohes Nadelgewächs, Mirko bewässerte es folgsam. „Aber“, wandte Emmy etwas verwundert ein, „sie war doch gut versorgt. Fast wie in einem Heim.“ „Das kann ich nicht beurteilen.“ Die Frau musterte sie interessiert. „Sie wollte ja auch niemandem lästig sein. Schon gar nicht ihrem Sohn. Da, wo sie wohnte jedenfalls, so hat sie es mir gesagt, hatte man wohl Zweifel. Ob es nicht irgendwann zu schwierig wird. Dabei ging es ihr wirklich gut. Genau wie ich hat sie gegossen. Immer gepflegt war es, das Grab. Nicht so, wie jetzt …“ „Wenn es ihr gut ging“, sagte Mirko und schwenkte die Kanne hin und her, um die letzten Tropfen Wasser zu verteilen, „warum hätte sie dann … nachhelfen sollen?“ Die Frau sah ihn von unten herauf an, als fiele es ihr nicht leicht, zu sagen, was ihr auf der Zunge lag. „Ihnen zuliebe“, erklärte sie schließlich, sich einen Ruck gebend. „Sie bräuchten doch das Erbe. Hat sie gesagt. Sie wollte nicht, dass alles, was noch übrig war, ausgegeben würde. Und dann auch noch im Ausland. ,Was soll ich denn im Ausland?‘, hat sie mich gefragt.“ „Ich fürchte, ich verstehe nicht …“ „Nein, sie wollte ja auch nicht mit Ihnen sprechen. Über dieses Thema. Zu schwer für Sie sei das. Ich weiß nur, dass eine Freundin von ihr schon dort war. In dem Heim im Ausland. Es ist billiger als hier, verstehen Sie. Und da hat man dann wohl in Betracht gezogen, dass auch sie demnächst …“ „Wer?“, fiel Emmy der kleinen Frau scharf ins Wort. „Wer hat das in Betracht gezogen?“
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Die kleine Frau zuckte erschreckt zusammen, nahm Mirko die Kanne ab und sah ihn zornig an. „Das weiß ich nicht“, erklärte sie beleidigt. „Ich war immer der Auffassung, dass es Ihre Aufgabe gewesen wäre. Sich um so etwas zu kümmern. Sie hat Sie viel zu sehr geschont. Aber Sie waren ja auch ein Einzelkind, nicht wahr?“ „Ich …“, versuchte Mirko, etwas zu erwidern, kam aber nicht zu Wort. „Ich kann nur hoffen“, sagte die kleine, alte Frau energisch, „dass Sie niemals vergessen, was Sie an ihr hatten. Und dass Sie keine Schuld auf sich geladen haben. Indem sie nämlich Hand an sich selbst gelegt hat. Wegen Ihnen.“ „Es tut mir leid“, entgegnete Mirko, einige Schritte zurücktretend und die Stimme etwas senkend. Auf dem Weg passierte, immer noch die Rose in der Hand, der Mann im dunklen Mantel. „Aber ich habe keine Ahnung, woran Charlotte Holzapfel gestorben ist.“ „Wie? Sie haben keine Ahnung? Sind Sie etwa gar nicht …?“ „Winfried Holzapfel wird in den nächsten Tagen ebenfalls beerdigt. Vermutlich hier. Ihre Bekannte hätte sich bestimmt gefreut, wenn sie gewusst hätte, dass Sie ab und zu nach der Grabstätte sehen.“ „Das ist die Höhe. Sie … wer sind Sie überhaupt?“ „Wir gehen nur spazieren“, sagte Mirko, nahm Emmys Arm und führte sie mit sanftem Druck zurück zum Weg. „Einen schönen Tag noch und vielen Dank für das Gespräch.“ ★★★ Emmerich saß hinter seinem Schreibtisch und versuchte, mangels besserer Beschäftigung, vergeblich, eine Henkersschlinge zu knüpfen. Er benutzte dazu eines dieser Bändchen, die man bei gesellschaftlichen Veranstaltungen um den Hals zu tragen hatte und die hinterher aus unerfindlichen Gründen nicht weggeworfen, sondern in der Schreibtischschublade gesammelt wurden. Den kleinen Karabiner, an
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dem das Kärtchen mit dem Namen des Bändchenträgers befestigt wurde, hatte er entfernt, das Material aus Kunstfasern aber erwies sich als zu schlüpfrig, um auch nur einen halbwegs haltbaren Knoten herzustellen. Hinzu kam die Erkenntnis, dass es vermutlich einer speziellen Technik bedurfte, die er nicht beherrschte, weshalb er schließlich doch wieder das Internet benutzte und zu seinem Erstaunen feststellen durfte, dass dort zahllose Anleitungen zu finden waren. Nicht nur solche, die das Knüpfen eines Henkersknotens genauestens erklärten, sondern auch andere, die sich detailliert mit seiner Anwendung befassten. Was Emmerich einmal mehr zu der Überzeugung brachte, dass im Netz Gefahren lauerten, die die Menschheit früher nicht gekannt hatte. Das Schlingenknüpfen gab er schließlich wieder auf, es gehörte wohl reichlich Übung dazu, um so wie Winfried Holzapfel mit beinahe jedem beliebigen Stückchen Stoff ein brauchbares Ergebnis zu erzielen. Müßig betrachtete er stattdessen auf seinem Bildschirm die Aufnahmen vom Hals des Toten, vergrößerte Poren und zoomte vermeintliche Hautrötungen heran, bis er sich fast sicher war, darin ein Muster zu erkennen. Emmerich griff zum Telefon, drückte eine Kurzwahltaste und verlangte Dr. Zweigle. „Im Haus unterwegs“, vertröstete ihn dessen Assistentin. „Wann ist er wieder da?“ „Ich weiß gar nicht, ob er noch einmal im Büro vorbeischaut. Dr. Zweigle moderiert heute Abend eine Krimilesung. Direkt in der Pathologie.“ „Wo?“ „In der Pathologie.“ „Stellt er gleich noch ein paar echte Leichen dazu aus?“ Die Assistentin kicherte. „Das kommt Ihnen komisch vor, nicht wahr? Aber die Leute mögen das. Damit sie sich auch wirklich gruseln können.“ Emmerich schüttelte, einigermaßen fassungslos, den Kopf, obwohl ihm klar war, dass Zweigles Assistentin ihn nicht sehen konnte. „Wir sind früher Geisterbahn gefahren“, sagte er ungläubig. „Wenn wir uns gruseln wollten.“
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„Damit“, kicherte die Assistentin wieder, „reißen Sie heute niemand mehr vom Stuhl. Kann ich ihm was ausrichten?“ „Die Sache Holzapfel“, rief sich Emmerich innerlich zur Ordnung. „Ich wüsste gerne, ob die Punkte am Hals von einem Nietengürtel stammen könnten. Schwarz. Oder Rosa. Hat er vielleicht Partikel gefunden? In diesen Farben?“ „Wenn ich ihn erwische, frage ich sofort“, versprach die Assistentin. „Sonst noch etwas?“ „Ob er das pietätvoll findet? Volksbelustigung vor seinen Kühlregalen.“ „Mein Gott, so ist das eben heutzutage. Sogar im Krematorium finden gelegentlich solche Lesungen statt. Man muss nicht hingehen, wenn es einem nicht gefällt.“ „Nein, das muss man sicher nicht“, stimmte Emmerich zu und legte auf. Ihm war, als habe er plötzlich einen Geruch in der Nase. Den typischen Geruch nämlich, der einem beim Besuch in Zweigles pathologischer Abteilung begegnete und von dem zumindest er überzeugt war, dass er einem in der Kleidung haften blieb. Wie man sich einer solchen Umgebung freiwillig, womöglich sogar lustvoll aussetzen konnte, war ihm schleierhaft. Es war anzunehmen, dass nur Leute, die selbst noch keine persönlichen Erfahrungen mit diesem, sehr speziellen, Geruch gemacht hatten, eine derartige Veranstaltung genießen konnten. Ihn jedenfalls erfüllte nun das dringende Bedürfnis nach frischer Luft, er wählte Monika Gerbermanns Nummer und kündigte die baldige Abholung von Alina Kopkins Wohnungsschlüsseln an. ★★★ „Ganz schön ausgebufft bist du“, sagte Emmy auf dem Weg über den weitläufigen Parkplatz, hin zum Auto. „Die arme Frau derart hereinzulegen.“ „Berufskrankheit.“ Mirko grinste schief. „Nimmst du so etwas übel?“
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„So lange du es nicht bei mir versuchst …“ „Ich werde mich bemühen.“ „Immerhin haben wir etwas erfahren. Etwas, das mich unruhig macht.“ „Die Sache mit dem Heim? Du wurdest ganz schön heftig.“ Mirko hielt aus einiger Entfernung die Wagenschlüssel in Richtung des Mercedes und nickte zufrieden, als ein elektronisches Geräusch das Öffnen des Fahrzeugs bestätigte. „Das ist halt ein Auto, was? Wenn ich mir den privat mal leisten könnte …“ „Lass doch das Auto. Mich beschäftigt diese Sache wirklich. Erst diese Margot, die jetzt in Bratislava lebt. Dann Charlotte Holzapfel, die dorthin sollte. Und meine Mutter? Die ist angeblich auch schon angemeldet. In einem Heim. Womöglich ebenfalls in Bratislava?“ „Das lässt sich doch herausfinden. Und notfalls auch wieder rückgängig machen.“ Mirko umrundete schwungvoll den Mercedes und öffnete die Tür für Emmy. „Ich weiß nicht, warum du dir deshalb Sorgen machst.“ „So einfach ist das nicht“, sagte Emmy, ohne einzusteigen, und erzählte von der Vollmacht, die sie nicht besaß. „Ich hab auch keine Vollmacht“, meinte Mirko leichthin. „Für meine Oma. Du denkst zu viel nach.“ Emmy aber schüttelte störrisch den Kopf und sah zum Friedhofseingang, wo gerade die kleine Frau, jetzt ohne Kanne, gefolgt vom Mann im dunklen Mantel, immer noch mit Rose, herauskam. „Ich will wissen“, sagte sie leise, „woran sie gestorben ist. Frau Holzapfel. Mir kommt das alles seltsam vor.“ „Schon gut.“ Mirko, der offenbar die kleine Frau ebenfalls entdeckt hatte, schlüpfte hastig in den Wagen. „Jetzt komm mit, mein Chef ist sicher schon nervös, weil er mich nicht erreichen kann.“ Emmy setzte sich auf den Beifahrersitz, nebenbei wahrnehmend, wie der Mann im dunklen Mantel samt seiner Rose ein paar Parkplätze weiter in einen dunklen Porsche stieg.
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„Hast du den gesehen?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln, kopfschüttelnd. „Nimmt seine Blume wieder mit, anstatt sie irgendwo abzulegen.“ „Das haben wir früher auch gelegentlich getan. Blumen auf dem Friedhof gemopst. Für die Mädels, wenn wir pleite waren.“ Mirko startete den sanften Motor, nebenan röhrte der Porsche kräftig. „Aber eine geile Karre hat er, oder?“ „Mindestens so geil“, meinte Emmy gleichgültig, lehnte sich in den komfortablen Ledersitz und schloss die Augen, „dass er sich einen Strauß im Laden leisten können müsste.“ ★★★ In Monika Gerbermanns beengtem Wohnzimmer roch es blumig, schwer und süßlich. Also nicht viel besser, dachte sich Emmerich, als bei Dr. Zweigle. Sie merkte schnell, dass er die Nase rümpfte, pustete die fliederfarbene Kerze, die den Duft verbreitete, hastig aus, öffnete die Fenster und zeigte auf ihr abgewetztes Sofa. „Gibt es etwas Neues? Wissen Sie schon, wer …?“ Emmerich schüttelte den Kopf, was sowohl ihrer Frage als auch ihrem Sofa gelten durfte, und streckte lediglich die Hand aus. „Die Schlüssel“, sagte er kurz angebunden. „Ich wollte nur die Schlüssel holen.“ „Die Schlüssel?“, gab Moni, wohl um Zeit zu schinden, ein paar Sekunden vor, den eigentlichen Zweck seines Besuches vergessen zu haben. „Ach, ja. Die Schlüssel. Wo habe ich die bloß hingelegt?“ Um die Form zu wahren, sah sie sich suchend im Zimmer um. Emmerich blieb schweigend stehen, bis ihm ein erleichtertes Lächeln zuteil wurde. Moni griff in die Hosentasche ihres heute orangefarbenen Hausanzuges, auf dessen Brust Strasssteinchen die Worte „Sexy Girl“ formten, und reichte ihm den Bund. „Zweimal Wohnung, zweimal Haustür, zweimal Briefkasten und einmal Hof. Ich weiß wirklich nicht, was sie sich dabei gedacht hat. Einfach so abzuhauen und mir das Ding zurückzulassen. Schließ-
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lich bin ich gar nicht zuständig, ich bin doch nicht der Hausmeister“, schimpfte sie leise vor sich hin. „Gibt es einen?“, hakte Emmerich fix ein. „Aber nein. Das hat doch alles Bernd gemacht. Oder seine Frau. Bis auf die Kehrwoche, natürlich.“ „Warum haben Sie die Frau nicht angerufen?“ „Maritta?“ Monis Stimme rutschte ein paar Lagen höher, bevor sie ein kurzes, hartes Lachen von sich gab. „Von der lasse ich die Finger. Abgesehen davon, dass die beiden auseinander waren. Hat Alina mir erzählt.“ „Hatten Sie Probleme mit der Frau?“ „Probleme?“ Wieder das kurze, harte Lachen. „Erzählen Sie.“ Statt einer Antwort aber zeigte Moni auf das Sofa, wandte sich um und nahm einen Packen Briefe aus einer Schublade ihrer Schrankwand. Emmerich ließ sich, wenig begeistert, in das abgewetzte Polster sinken. „Hier“, sagte Moni und reichte ihm den Packen. „Das sind die Mieterhöhungen der letzten Jahre. Die hat alle sie geschrieben. Immer zum Jahresende, wie das Amen in der Kirche. Mit ihrem Einzug hat das ganze Unglück angefangen.“ „Bei Herrn Schlaicher, meinen Sie?“ „Nein. Hier bei uns im Haus. Sie hatte die Wohnung gegenüber. Deren Schlüssel Sie in Ihren Händen halten. Das dürfte jetzt … lassen Sie mich rechnen … vier oder fünf Jahre her sein. Zwei hat sie gebraucht, bis sie Bernd im Sack hatte, seither geht es hier bergab.“ Moni legte eine Pause ein, griff nach einem Briefumschlag und fächelte sich Luft zu. „Ich darf mich nicht aufregen“, setzte sie nach einigem Wedeln hinzu. „Herzrhythmusstörungen. Der Arzt hat mir’s verboten.“ „Lassen Sie sich Zeit.“ Emmerich nahm einen anderen Umschlag und sah hinein. Die Mieterhöhung stammte aus dem Vorjahr. Für Monis kleine, sicher seit Langem nicht mehr renovierte Zwei-Zimmer-Wohnung wurden insgesamt vierhundertsechzig Euro plus achtzig Euro Nebenkosten verlangt.
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„Mehr arbeiten soll ich halt. Hat sie gesagt“, berichtete Moni dazu höhnisch. „Dabei muss sie selbst am besten wissen, wie schwierig das in meinem Alter ist.“ Es reichte aus, dass Emmerich die Brauen hob. „Schließlich war sie auch so eine“, sprudelten die Worte aus Moni nun geradezu heraus. „Eine wie ich. Schon ziemlich über dreißig, wie sie hier eingezogen ist. Da wird es kritisch, in unserem Beruf, da muss man schon kämpfen. Heutzutage noch viel mehr als früher. Mit der ganzen Konkurrenz aus aller Welt. Ich hab da noch Glück gehabt, ich konnte mir was auf die Seite legen und hab das auch getan. Nicht so viel, wie ich mir erhoffte, als ich angefangen habe, aber immerhin. Früher … da träumten wir alle den Traum vom großen Geld. Und natürlich, dass vielleicht ein Kunde käme … ein reicher Märchenprinz, der …“ „Verstehe ich das richtig“, wagte es Emmerich, Monis Redefluss zu unterbrechen, „Bernhard Schlaichers Frau war eine Prostituierte, die vor einigen Jahren hier eingezogen ist und es geschafft hat, ihn zu heiraten?“ „Das sag ich doch.“ Moni guckte konsterniert. „Gut ausgesehen hat sie und benehmen konnte sie sich auch, dass muss man ihr ja lassen. Außerdem war er in diesem Alter. Diesem kritischen Alter, in dem Männer, die sich nie festlegen wollten, plötzlich merken, dass es irgendwann zu spät sein könnte. Sie hatte leichtes Spiel bei ihm. Auch bei seiner Mutter. Ich will nicht einmal behaupten, dass sie ihm eine schlechte Frau war. Sie hat ihm alles aus der Hand genommen und sein Leben so organisiert, wie er das gewohnt war von zu Hause. Als die Mutter nicht mehr konnte. Nur für uns war das nicht gut. Für unsere Hausgemeinschaft hier. So viele, die einmal hier gewohnt haben, sind schon ausgezogen, wegen der erhöhten Mieten. Und es kommt nichts Gescheites nach. So etwas wäre nie passiert, wenn die alte Frau Schlaicher sich noch kümmern würde.“ „Nichts hält ewig“, kommentierte Emmerich, lediglich, um zu demonstrieren, dass er Monis Worten folgte.
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„Als ob ich das nicht wüsste“, gab die, sich wieder fächelnd, leichthin zurück. „Die Zeiten ändern sich und werden selten besser. Man braucht ein dickes Fell, um durchzuhalten.“ „Immerhin sind Sie noch da.“ „Wer weiß, wie lange noch. Ich habe Ihnen doch gesagt, wie es hier kommen wird. Erst ein Investor, dann ein Laufhaus … dafür wird sie schon sorgen. Unsere Stadt ist heutzutage ein beliebtes Ziel bei Sextouristen aus der halben Welt, und sie kennt sich in der Branche aus. Auf den armen Erwin muss sie nicht mehr Rücksicht nehmen.“ „Wie bitte?“, wurde Emmerich, der sich bereits überlegte, wie dem Sofa und seiner Besitzerin bald zu entrinnen wäre, hellhörig. „Ja, das können Sie nicht wissen“, sagte Moni und machte ein wichtiges Gesicht. „Der Erwin, der war ihr ein Dorn im Auge.“ „Sprechen Sie weiter“, bewies Emmerich Durchhaltevermögen. „Erwin genoss hier Sonderrechte. Er wohnte faktisch mietfrei. Weil doch seine Mutter und Frau Schlaicher … und schließlich ja auch er und Bernd … sie kannten sich von Kindesbeinen an. Der alte Schlaicher war ein sehr sozialer Mann, Erwin hat bei ihm einige Bücher veröffentlicht, es ist schon lange her. Verdient hat er nicht viel damit, dafür durfte er hier wohnen. Lebenslang. So steht es im Testament. Den wäre sie nicht losgeworden.“ „Und das erzählen Sie mir jetzt erst?“ „Ich kam ja nie zu Wort. Immer hatten Sie es eilig. Dabei habe ich Ihnen gleich zu Beginn gesagt, dass es andere gibt als Erwin. Die Streit mit Schlaicher hatten.“ „Sie meinen, seine Frau?“ Moni nickte hoheitsvoll, schichtete die Briefumschläge mit den Mieterhöhungen wieder zu einem Packen und wickelte ein Gummiband herum. „Aber seine Frau hat Schlaicher nicht tätlich angegriffen“, gab Emmerich zu bedenken. „Das war Winfried Holzapfel. Es gibt genügend Zeugen.“ „Ich kann nur sagen, was ich weiß“, erklärte Moni von oben herab. „Die richtigen Schlüsse müssen Sie schon selber daraus ziehen.“
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20 Mirko fuhr stadteinwärts, blieb an einer Ampel stehen, bog rechts ab, nahm die am Marienhospital vorbeiführende Hauptstraße, hielt vor der nächsten roten Ampel. Hinter dem Mercedes röhrte es beharrlich. „Die geile Karre folgt uns“, stellte Emmy fest. „Vielleicht hat er einfach nur den gleichen Weg“, versuchte Mirko, diese ihr schon beinah paranoid erscheinende Annahme zu relativieren. „So viele Routen gibt es nicht. Vom Waldfriedhof hinunter in die Stadt.“ Emmy drehte sich um und verrenkte den Hals, bis es ihr gelang, das Nummernschild des Porsches zu erkennen. „Eine S-EX-Nummer“, informierte sie Mirko, nachdem sie wieder eine bequeme Haltung eingenommen hatte. „Wie ich diese Typen hasse.“ Mirko blieb die Antwort schuldig, wenig später hatte er das Glück, eine der wenigen Parkbuchten in der Umgebung von Haus „Vogelgarten“ zu ergattern. Der Porsche bremste kurz und fuhr dann weiter. In der Wohnküche der alten Villa trafen sie auf eine munter plaudernde Gesellschaft. Sämtliche Hausbewohnerinnen bis auf Lisbeth Schlaicher, dazu Maritta, von der Emmy annahm, dass sie einfach nur gewartet hatte, und außerdem ein älterer Herr in einer zugeknöpften, blauen Strickjacke über einem weißen Hemd mit Fliege. Der Herr erhob sich, als sie mit Mirko im Schlepptau den Raum betrat. „Pröhl“, stellte er sich, eine Verbeugung andeutend, vor. „Klaus Friedrich Pröhl. Entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin ein großer Freund von Ihren Bildbänden.“ „Danke“, sagte Emmy überrascht.
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„Ganz besonders mag ich den vom Amazonas. Ich hoffe, Sie erzählen mir eines Tages von der Reise. Ganz Südamerika ist eine Leidenschaft von mir. Leider konnte ich nicht jedes Land bereisen. Ich habe Ecuador gesehen, Venezuela und Brasilien. Falls Sie Interesse haben, können Sie gerne meine Dias sehen …“ „Klaus Friedrich“, fiel ihm Adelheid ins Wort. „Willst du Emily und ihrem Freund nicht einen Kaffee anbieten?“ „Kaffee?“, wiederholte erstaunt der Herr und betrachtete etwas irritiert den Tisch. „Natürlich. Gerne. Ich weiß nur nicht, wo die Tassen … aber ich habe Kuchen mitgebracht. Möchten Sie ein Stückchen Bienenstich?“ „Später“, sagte Maritta streng, stand auf und setzte, an Emmy gewandt, hinzu: „Haben Sie die Schlüssel?“ „In meiner Tasche.“ „Können wir dann, bitte, gleich hinuntergehen? Ich sollte längst hier weg sein. Ihr Freund kann ja so lange Kuchen essen.“ „Mein Freund kommt mit“, entgegnete Emmy und ging voran, während sie gleichzeitig ein wenig staunte, wie leicht ihr das Wort „Freund“ über die Lippen gekommen war. Vor der Tür im Untergeschoss nahm sie das Plastiktütchen aus der Hosentasche, das dritte von sechs Duplikaten passte. „Ein sehr altes Schloss ist das aber nicht“, konnte sie sich nicht verkneifen, zu bemerken. „Davon verstehe ich nichts“, schnappte Maritta, stieß die Tür auf und betrat den Raum. Vom einstigen Partykeller war, abgesehen vielleicht vom nussbraunen Teppichboden, nichts mehr übrig. Stattdessen gab es Regale voller Ordner, einen aufgeräumten Schreibtisch, auf dem ein dunkler Bildschirm neben einem Fax- und Kopiergerät stand, und hinten, in der Ecke, ein gemachtes Bett. Unter einem Chaos stellte Emmy sich etwas anderes vor. „Danke“, lächelte Maritta dünn. „Sie brauchen nicht auf mich zu warten.“ „Ich fürchte doch“, entgegnete Mirko höflich. „Aus diesem Raum darf vorerst nichts entfernt werden.“ „Nichts entfernt werden? Wer sagt das?“
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„Ich. Also … die Polizei.“ „Wenn ich aber ein paar Unterlagen brauche? Die ich erst noch suchen muss?“ „Dann suchen Sie und machen sich Kopien.“ Mirko zeigte auf das Tischgerät. Maritta wirkte einen Sekundenbruchteil lang, als stünde sie kurz vor einem Wutanfall, bevor sie wortlos, aber zielstrebig zu einem der Regale ging. Emmy merkte sich den Ordner, den sie nach kurzer Suche herauszog. Irgendwo in Mirkos Kleidung klingelte ein Handy, er verließ das Büro, blieb aber im Untergeschoss, wo sie ihn kurz darauf telefonieren hörte. In der Zwischenzeit kopierte sich Maritta einige Seiten aus dem Ordner, stellte ihn zurück und sagte: „Fertig.“ „Dann sperre ich wieder zu“, erwiderte Emmy. „Erklären Sie mir eines: Warum bekommen Sie die Schlüssel, wenn hier angeblich keiner rein darf? Ohne Polizei?“ „Äääh …“, machte Emmy und geriet ins Schwimmen. „Wenn ich es nicht so eilig hätte“, zischte Maritta schlangengleich, „kämen Sie mir damit jetzt nicht davon.“ „Wohin pressiert’s denn so?“, fragte Mirko, der sein Gespräch beendet hatte und wieder ins Büro getreten war. „Geht Sie das was an?“ „Wir werden sehen. Jedenfalls muss ich Sie bitten, sich noch etwas in Geduld zu fassen.“ Emmy sah Mirko an, dessen Habitus und Auftreten seit seinem Wiedereintritt ins Büro eine seltsame Veränderung erfahren hatte. Wo vorher ein Mann gewesen war, der lediglich ihr zuliebe mittels eines mehr oder weniger aussichtsreichen Manövers versucht hatte, Maritta am Durchsuchen des Büros zu hindern, stand nun ein Beamter. Ein Beamter in Ausübung seines Dienstes, der mit einer anderen Stimme sprach. Auch Maritta war diese Veränderung nicht entgangen, sie holte Luft und straffte ihren Oberkörper. „Was soll das heißen?“ „Mein Chef ist auf dem Weg hierher. Er hat Fragen. Fragen an Sie.“
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„An mich? Ich weiß nichts. Ich war nicht dabei, als Bernhard überfallen wurde.“ „Um den geht es nicht. Es geht um Winfried Holzapfel. Den Sohn einer Dame, die bis vor Kurzem hier gewohnt hat.“ „Was habe ich mit dem zu tun?“ „Eben dieses“, sagte Mirko mit offensichtlich falscher Freundlichkeit, „gedenkt mein Chef, herauszufinden. Wir werden oben auf ihn warten.“ „Auf keinen Fall“, erklärte Maritta kategorisch, klemmte sich ihre Kopien unter den Arm und eilte aus dem Raum. „Aber sicher“, sagte Mirko und ging hinterher. Emmy schloss die Türe wieder ab und folgte. In der Diele erörterte der Beamte, in den sich ihr neuer Freund verwandelt hatte, der Schwägerin unter den aufmerksamen Blicken von Frau Möbius und Frau Heimerdinger, dass man das Warten auch durch eine gemeinsame Fahrt ins Polizeipräsidium ersetzen könne. Marittas Augen waren schmale Schlitze, doch angesichts des interessierten Publikums kapitulierte sie. „Wo können wir in Ruhe sprechen?“, fragte Mirko und sah Emmy an. „Ihr könnt das Erkerzimmer nehmen.“ „Draußen vor der Tür“, sagte, zeitgleich, Maritta. „Ich ziehe nur kurz andere Schuhe an und gehe dann zu meiner Mutter.“ Emmy zupfte Mirko am Ärmel und zog ihn ein wenig auf die Seite. „Den kleinen Schlüssel“, wisperte sie leise. „Gib ihn mir. Ich will versuchen, ob er oben zum Schreibtisch passt.“ „Wir sehen uns später noch“, gab Mirko, ebenso leise, zurück und reichte ihr den originalen Schlüsselbund. Emmy warf einen abschließenden Blick auf die in der Diele versammelte Runde, entschied, dass es nicht ihre Aufgabe sein konnte, dieselbe aufzulösen und ging nach oben, in ihr Zimmer. Dort angekommen legte sie, in der Absicht, ihre Turnschuhe gegen das Paar Badeschlappen aus ihrem spärlichen Gepäck zu tauschen, den Schlüsselbund auf den hochbeinigen Tisch und fand dort etwas vor, was sie die Luft anhal-
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ten ließ. Auf der zerkratzten Holzplatte lag, schweinchenrosa, aus Lackleder, mit Nieten, eine kleine Henkersschlinge auf einem Blatt Papier. Hau ab von hier, damit Dir nichts passiert, stand in großen Druckbuchstaben auf dem Blatt Papier. ★★★ Emmerich schätzte sich glücklich, Monis bedufteter Behausung entronnen zu sein, obwohl er neue Hinweise erhalten hatte. Auch die ungeplante Begegnung mit Gitti Kerner vor Monis Wohnungstür war zu seinen Gunsten ausgegangen. „Was tust du hier?“, hatte sie mit betontem Staunen wissen wollen. „Die Schlüssel holen.“ „Aber ich war schon auf dem Weg. Zusammen mit der Spurensicherung. Sie suchen nur noch einen Parkplatz.“ „Dann nimm die Schlüssel.“ „Die du jetzt einfach eingeschoben hättest? Sollten wir uns künftig vielleicht besser abstimmen?“ „Wozu? Jetzt ist doch alles gut.“ „Bleibst du hier?“ „Nein, ich muss weiter.“ Der nächste Glücksfall ergab sich durch einen Anruf bei Mirko Frenzel: Schlaichers Witwe befand sich gegenwärtig in dessen Einflussbereich, in der Neuen Weinsteige, er musste nur noch hin. Der Tag, den er so schlecht gestimmt begonnen hatte, konnte noch ein gutes Ende finden. Nach einem weiteren Anruf bei Frau Sonderbar und einem flotten Fußmarsch erwartete ihn der Kollege schon im Vorgarten der alten Villa. „Sie hat den Halter sicher gleich ermittelt“, sagte Emmerich anstelle eines Grußes. „Wozu willst du wissen, wer diesen Porsche fährt?“ „Nur so“, gab sich Mirko wenig mitteilsam. „Ich muss dich warnen, sie hat schlechte Laune.“
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„Frau Sonderbar?“ „Frau Schlaicher. Blind-Schlaicher, um genau zu sein.“ „Blind-Schlaicher?“, wiederholte Emmerich und fügte nachdenklich hinzu: „Philipp von Königstein, Maritta Blind und Christos Trellos freuen sich.“ „Wie meinen?“ Frenzel sah ihn an, als zweifle er am ordentlichen Zustand seiner geistigen Verfassung. „Ach, nur so“, winkte Emmerich ab. „Gehen wir rein?“ „Warum willst du sie so dringend sprechen?“ Emmerich berichtete vom Gespräch mit Monika Gerbermann, Frenzel hörte zu und nickte. „Nimm dir im Anschluss noch ein paar Minuten Zeit“, empfahl er, als Emmerich geendet hatte. „Und rede auch mit Emmy.“ „Emmy?“ Nun war es an Emmerich, den Kollegen staunend anzublicken. Ein Blick, dem Mirko, sichtlich verlegen, auswich. „Frau Steisshofer“, korrigierte er sich rasch. „Die Schwester von … du weißt schon …“ „Wegen der du vorhin Hals über Kopf entschwunden bist“, folgerte Emmerich gelassen. „Ich hab mich schon gefragt, warum das so lange gedauert hat. Wolltest du ihr nicht lediglich ein paar Türen öffnen?“ „Wir haben uns noch unterhalten.“ „Muss interessant gewesen sein.“ „Das war es auch.“ Mirko schob die Hände in die Hosentaschen, gab sich einen Ruck und sah ihm direkt ins Gesicht. „Damit du Bescheid weißt. Ich war gestern Abend mit ihr aus. Und ich erwarte, dass du das für dich behältst.“ „Sieh einer an“, sagte Emmerich und grinste. „Ausgerechnet du. Und ausgerechnet mit einer potenziellen Zeugin. Das ist keinesfalls korrekt, das weißt du.“ „Wo sonst soll ich mit diesem Job denn jemand kennenlernen, wenn nicht bei der Arbeit?“, verteidigte sich Mirko. „Sie wird’s schon nicht gewesen sein.“
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„Ich sagte ja auch Zeugin“, meinte Emmerich großmütig. „Jetzt mach dir mal nicht in die Hosen, bei mir ist dein Geheimnis bestens aufgehoben.“ „Dann können wir jetzt rein.“ ★★★ Du meine Güte, dachte Emmy angesichts des kleinen Ledergegenstandes, sind wir jetzt im Kindergarten? Denn so sah die Henkersschlinge, die da auf dem Tisch in ihrer Stube lag, tatsächlich aus: als hätte man sie für ein kleines Mädchen, das mit seinen Puppen „Hinrichtung“ spielen wollte, gemacht. Dabei war anzunehmen, dass es ein solches Spielzeug nicht zu kaufen gab, zumindest nicht in einem Fachgeschäft für kindliche Bedarfserfüllung. Ebenso war Emmy selbst kein kleines Mädchen und Rosa hatte ihr noch nie gefallen. Zusammen mit dem Blatt Papier konnte es sich also nur um eine überaus geschmacklose Drohung handeln, die dazu noch primitiv genannt werden durfte. Dennoch wusste Emmy, nicht zuletzt durch ihre Reisen, dass in vielen Fällen auch das Primitive ernst zu nehmen war. Was also tun, mit dieser Schlinge, die vielleicht am Rückspiegel eines LKWs, über dem Blechschild mit dem Namen des Fahrers gepasst hätte? Nicht anfassen und sie später Mirko übereignen, beschloss Emmy nach kurzem Nachdenken. Bis dahin bugsierte sie das ganze Arrangement durch vorsichtiges Ziehen am Blatt Papier an den äußersten Rand des Tisches und legte ihre neu gekaufte Bluse darüber. Anschließend wechselte sie, wie geplant, ihr Schuhwerk, nahm Bernds Schlüsselbund und ging damit hinüber, ins Zimmer ihrer Mutter. Der Fernseher war, kaum hörbar, eingeschaltet, auf dem Bildschirm war die Großaufnahme eines schlecht rasierten Mannes zu sehen. Darunter ein Balken mit den Worten: „Winfried Holzapfel. Hat kein Geld mehr für den Ruhestand.“ Wer hat das überhaupt noch?, dachte Emmy sich spontan und reagierte im selben Augenblick, den die Kamera zur Rückkehr in die Totale nutzte. Gesendet wurde eine Talkshow, weitere Personen und eine aufgeregte
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Moderatorin saßen auf einer roten Couch. Emmy sah die Mutter an, die leise schnarchend schlief. Bevor es ihr jedoch gelungen war, auf der Fernbedienung die Taste für den Ton zu finden, sah sie, wie schon der Abspann lief. Der Mann mit dem Namen „Winfried Holzapfel“ war aufgestanden und bekam sein Mikro abgenommen. Emmy schaute im Videotext, was sie verpasst hatte. Eine Sendung mit dem Titel „Arm im Alter – was uns in naher Zukunft droht“. Dazu der Hinweis, dass es sich um eine Wiederholung handelte. Auf dem Schreibtisch fand sie einen Stift und Papier, sie notierte sich den Titel, den Sender und die Uhrzeit. Anschließend steckte sie das filigrane Bartschlüsselchen in das Schlüsselloch der Schreibtischschublade und drehte. Die Lade öffnete sich wie der oft zitierte Sesam, und Emmy benötigte eine paar Sekunden, um sich nicht vorzukommen wie einer von Ali Babas vierzig Räubern, so sehr scheute sie davor zurück, in die Intimsphäre der Mutter einzudringen. Nach einem neuerlichen Blick auf die schlafende Gestalt im Fernsehsessel fasste sie sich schließlich ein Herz, ließ Schmuckschächtelchen, vergilbte Briefe oder dünne, alte Fotoalben unberücksichtigt, griff nach einer Ledermappe, die zuoberst in der Lade lag, und schlug sie auf. Vier computerbeschriftete, verschlossene Briefumschläge, offensichtlich neueren Datums, fielen aus der Mappe heraus. Emmy las „Testament“, „An Notar Klaus Friedrich Pröhl“, „Nur im Falle meines Todes zu öffnen“ und „Für meine Tochter Emily“. Sie legte die drei ersten Umschläge zurück, nahm den vierten, schlitzte ihn auf und begann, zu lesen. ★★★ Hinter der Haustür trafen Emmerich und Frenzel auf eine Kuchen essende Gesellschaft, aus der sich aber bei ihrem Eintreten in die gemütliche Wohnküche sofort eine Frau löste. Eine Frau vom Typus „herbe Schönheit“, wie Emmerich empfand, herb hauptsächlich deshalb, weil die Schönheit am Verblühen war. Sie wischte sich Mund und Hände mit einer Papierserviette ab, schnappte sich einen
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bereitstehenden, kleinen Reisekoffer und zeigte auf die Tür, durch die die beiden Kommissare hereingekommen waren. „Draußen“, erklärte sie und sah Frenzel an. „Ich sagte, wir können draußen sprechen.“ Emmerich blieb zwischen Frau und Türe stehen. „Mein Chef“, stellte Mirko vor. „Kriminalhauptkommissar Emmerich. Dezernat für Tötungsdelikte.“ „Ich bin in Eile.“ „Nicht doch“, widersprach Emmerich gemächlich. „Ich bin ganz sicher, wir haben alle Zeit der Welt. Frau Schlaicher?“ „Vielleicht sagen Sie mir mal, worum es geht?“ „Vielleicht könnten die Herrschaften hier uns diesen Raum für ein Stündchen überlassen?“ „Ein Stündchen?“ Während die Frau ihn ungläubig anstarrte, hatte das Grüppchen in der Wohnküche längst reagiert. Zwei alte Damen zogen sich in ein Zimmer im Erdgeschoss zurück, eine weitere ging zum offenen Aufzug und fuhr damit ein Stockwerk höher, der einzige Mann, der Emmerich in seiner Strickjacke vage bekannt vorkam, nickte grüßend und nahm die Treppe. „Bitte“, sagte er und zeigte auf den nun freien Esstisch. Mirko ging voran, schob das benutzte Geschirr zusammen und rückte demonstrativ einen Stuhl zurecht. „Das ist eine Unverschämtheit“, bemerkte die herbe Schönheit wütend. „Ich hoffe, Sie haben sehr gute Gründe, mich hier in dieser Weise zu behandeln.“ „Keine Angst, die haben wir.“ Emmerich blieb stehen, bis die Frau sich widerwillig zum Esstisch begab und sich, den Koffer in Reichweite zu ihrer Seite, auf den bereitgestellten Stuhl bequemte. Bevor er sich jedoch selbst gegenübersetzen konnte, spürte er sein Handy. Mit einer höflichen Geste gab er zu verstehen, dass es sich nur um Sekunden handeln konnte, wandte sich ab und vernahm Frau Sonderbars emotionslose Stimme. Der Porsche, dessen Nummer ihm Mirko durchgegeben hatte, gehörte Philipp von Königstein.
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21 Mein liebes Kind, begann der Brief, den Emmy in den Händen hielt. Es fällt mir schwer zu schreiben, denn wenn Du dieses liest, werde ich sehr krank sein oder vielleicht auch gar nicht mehr am Leben. Mir ist aber bewusst, dass Du selbst gerade eine schwere Zeit durchmachen musst mit Deinem kranken Mann – da will ich Dich nicht noch mit meinen Sorgen unnötig belasten. Ich gebe zu, dass ich nicht begeistert war, als Du Dich für ihn entschieden hast, aber ein solches Schicksal gönnt man niemand. Das Schreiben datierte vom letzten Dreikönigstag, war also ungefähr ein halbes Jahr alt. Emmy sah die Mutter an, spürte, wie die Trauer in ihr aufstieg, und biss sich auf die Lippen. Leider muss auch ich bemerken, dass meine Kräfte schwinden, was aber, in meinem Alter, kein großes Wunder ist. Es ist Dein Bruder, der mir Sorgen macht. Das Herz, so hat der Arzt gesagt. Bernd wird wohl bald einen Schrittmacher benötigen. Er hat sich in den letzten Jahren sehr um meine Freundinnen und mich gekümmert – so gut er es eben konnte. Wie Du weißt, hat er geheiratet vor ein paar Jahren, eine Frau, die viel jünger ist als er. Es scheint so in der Familie zu liegen, deshalb habe ich mir anfangs nichts dabei gedacht, sondern mich – im Gegenteil – gefreut. Inzwischen mussten wir, meine Freundinnen und ich, die wir hier im Haus zusammen wohnen, aber einige recht unerfreuliche Entwicklungen zur Kenntnis nehmen. Maritta neigt dazu, sich in Dinge einzumischen, die sie gar nichts angehen, während Bernd sich schwertut, ihr zu widersprechen. Die Einzelheiten will ich Dir ersparen, nicht aber, dass wir zu der Überzeugung gelangt sind, dass diese Frau in erster Linie finanzielle Interessen hat. Charlotte behauptet sogar, dass sie aus dem Rotlichtviertel stammt, ich will das nicht beurteilen, und es gibt auch in diesen Kreisen gute Menschen. Wieder ließ Emmy das Blatt ein wenig sinken, die lacklederne Schlinge mit den Nieten fiel ihr ein. Es gab nicht viele, die Gelegenheit gehabt hätten,
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sie in ihrem Zimmer zu platzieren, und dass es eine von den Hausbewohnerinnen hätte sein sollen, schien ihr ziemlich unwahrscheinlich. Im Brief begann ein neuer Absatz. Du, mein Emmchen, jedenfalls sollst wissen, dass ich für Dich gesorgt habe. Auch wenn die Immobilien Bernd bekommt, und sie es darauf abgesehen hat, mein Schmuck, das Festgeldkonto und der Inhalt meines Bankschließfaches gehören Dir. Mein Testament verwahrt der Sohn meiner lieben Freundin Adelheid, die Dir dieses Schreiben geben wird, wenn ich es nicht mehr kann. Bei Klaus Friedrich liegt auch eine Vollmacht, die du nur noch zu unterschreiben brauchst – für den Fall, dass Bernd mit seinem Herzen … aber darüber möchte ich gar nicht nachdenken. An dieser Stelle war die Schrift verwischt, einige Worte fehlten. Als habe die Mutter beim Verfassen weinen müssen. Emmy befand sich ebenfalls unmittelbar davor, sie verharrte kurz und schniefte leise, bevor sie sich den Rest des Briefes vornahm. Adelheid und ihrem Sohn kannst Du bedingungslos vertrauen, vor Maritta aber hüte Dich. Nun will ich hoffen, dass Du dies hier gar nicht lesen musst. Falls aber doch, dann will ich Dir noch sagen, dass ich Dich und Deinen Mut immer bewundert habe. Ich war nie so und habe es Dir deshalb vielleicht auch nie gesagt. Bleib wie Du bist. In Liebe … Deine Mama. ★★★ Die übrig gebliebenen Kuchenstückchen verlockten zum Naschen, doch Emmerich wusste, wann Zurückhaltung geboten war. Dennoch drehte er sich so, dass er die Stückchen im Rücken, Frau Schlaichers ungehaltenes Gesicht dagegen direkt vor sich hatte. „Zuerst die Personalien“, eröffnete er geschäftsmäßig die Unterhaltung. „Mein Kollege nimmt sie auf.“ Sie schien bereits dieses Ansinnen als eine Zumutung zu betrachten, diktierte Mirko aber widerwillig eine Adresse in Leonberg. „Und nun die erste Frage: Wo waren Sie am letzten Wochenende?“ „Zu Hause. Im Büro. Mit dem Hund spazieren.“
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„Wo ist das Büro?“ Sie tippte mit der Spitze ihres Zeigefingers auf die von Mirko notierte Adresse. „Hier.“ „Und wo gingen Sie spazieren?“ „Gerlinger Heide.“ „Zeugen?“ Sie benötigte einen Wimpernschlag zu lange für ihr „Nein“. „Waren Sie auch in Stuttgart?“ Diesmal kam das „Nein“ sofort. Emmerich seufzte trotzdem innerlich und wappnete sich für ein schwieriges Gespräch. Sein Gegenüber unverwandt ansehend, ließ er eine angemessen lange Pause verstreichen, bevor er fortfuhr: „Ein Porschefahrer namens Philipp von Königstein. Sagt der Ihnen etwas?“ Sowohl Frau Schlaicher als auch Mirko atmeten hörbar ein. Sie nahm ein Handy aus der Tasche ihres Bundeskanzlerinnen-Blazers und sah unschlüssig auf das Display. „Ich habe Sie etwas gefragt.“ „Flüchtig“, räumte sie ein, ohne vom Handy aufzusehen. „Genauer bitte.“ „Was wollen Sie von ihm?“, kam statt einer Antwort ihre Gegenfrage. „Ich führe dieses Interview“, gab Emmerich, der in diesem Stadium noch nicht von Vernehmung sprechen wollte, knapp zurück. Sie schob das Handy wieder ein. „Ein Kollege.“ „Das heißt, Sie arbeiten auch als Maklerin? Vielleicht für TrellosImmobilien?“ Immer noch hatte sie sich erstaunlich gut in der Hand, obwohl sie sich vermutlich längst fragte, was er noch so alles bereits über sie wusste. Andere begannen, an solchen Stellen unruhig zu werden, nicht so Maritta Schlaicher. Was, nach Emmerichs Erfahrung, auf eine gewisse Abgebrühtheit schließen ließ, die wiederum entweder
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grundsätzlich zum Charakter seines Gegenübers gehörte oder aber über einen langen Zeitraum antrainiert worden war. Keine Frau also, die mit Samthandschuhen angefasst werden musste. „Ich bin selbstständig“, entgegnete sie ohne eine erkennbare Emotion. „Ich arbeite auf eigene Rechnung.“ „Aber Sie kennen Christos Trellos?“, versetzte Emmerich, der so langsam begann, das Ganze als sportliche Herausforderung zu sehen, ihr den nächsten Haken. Und endlich, wenn auch kaum merklich, zuckte sie zusammen. „Auch ein Kollege. Wir waren gemeinsam auf einem Lehrgang. Das ist einige Jahre her.“ „Und heute? Haben Sie noch Kontakt?“ „Hören Sie mal“, ging sie nun, den Oberkörper aufrichtend, zum Gegenangriff über. „Wozu wollen Sie das wissen? Mit welcher Begründung halten Sie mich fest? Haben die Kollegen etwas ausgefressen? Was hat das mit mir zu tun?“ „Sind das Hundehaare? Da auf Ihrer Jacke?“ Emmerich deutete vage irgendwohin. Sie wischte sich mechanisch beide Ärmel ab. „Schon möglich. Würden Sie, bitte, meine Fragen beantworten?“ „Wie ich bereits erwähnte“, sagte Emmerich und lehnte sich zurück, „führe ich das Interview. Gestern Morgen wurde Winfried Holzapfel tot aufgefunden. In seiner Wohnung in der Katharinenstraße.“ Sie wirkte in keiner Weise überrascht und zog lediglich die Brauen hoch. Was allerdings, bei ihrer Art, noch keine besonderen Rückschlüsse zuließ. „Den haben Sie gekannt, das wissen wir“, kürzte Emmerich das Katz-und-Maus-Spielchen ein wenig ab. „Seine Mutter hat bis vor Kurzem hier gewohnt. Und er war’s, der Ihren Gatten überfallen hat. Es wäre also durchaus zu verstehen, wenn Sie, wie soll ich sagen, eine Aversion gegen ihn hegten.“ „Wie darf ich das verstehen?“ „Winfried Holzapfel starb keines natürlichen Todes. Wir ermitteln hier in einem Mordfall. Das dürfte auch Ihre Fragen von vorhin beantworten.“
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Ihr herbes, sonnengebräuntes Gesicht war nun konzentriert und wachsam, während sie zuvor eher versucht hatte, genervt zu wirken. Maritta Schlaicher verschränkte die Hände im Schoß und sah ihn an. „Wollen Sie mir etwas unterstellen? Soll ich einen Anwalt rufen?“ Eine Reaktion, mit der Emmerich nicht gerechnet hatte und die geeignet war, ein schnelles Ende des Gesprächs zu provozieren. Er beschloss, Tempo herauszunehmen. „Ich unterstelle Ihnen gar nichts“, sagte er, ihre zweite Frage übergehend. „Ich weiß nicht einmal, ob Sie wissen, welche Rolle Holzapfel beim Tod Ihres Mannes spielte. Wir versuchen nur, Ordnung in die Dinge zu bekommen. Dabei sind wir auf Hilfe angewiesen. Auch auf Ihre, möglicherweise.“ „Hilfe“, wiederholte sie, nahm die Hände wieder auseinander und schlug ein Bein über das andere. „Ja, dann …“ „So wüssten wir zum Beispiel gerne, was für ein Mensch er war.“ „Holzapfel? Ein Säufer“, erklärte Maritta Schlaicher, die Lippen verächtlich gekräuselt, nun wieder ganz entspannt. „Keiner, mit dem ich hätte bekannt sein wollen. Insofern werde ich Ihnen auch keine große Hilfe sein.“ „Was glauben Sie? Weshalb ist er auf ihn losgegangen? Auf Bernhard Schlaicher?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Könnte es um Geld gegangen sein? Um ein Mädchen? Soweit wir wissen, lebten Sie von Ihrem Mann getrennt?“ „Ich habe wirklich keine Ahnung.“ „Oder um die Wohnung? In der Katharinenstraße. Erwin soll dort nahezu mietfrei gewohnt haben.“ „Wer?“ „Herr Holzapfel. Sein Spitzname war Erwin.“ „Von mir aus.“ „Sie sollen dort das Haus verwaltet haben.“
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„Bernd war zu blöd dafür“, gab sich Maritta Schlaicher unverhofft eine spontane Blöße, riss sich aber umgehend wieder zusammen. „Verzeihung. Das tut wohl nichts zur Sache.“ „Aber nein“, säuselte nun Emmerich so einfühlsam er es nur vermochte. „Sprechen Sie weiter. Ich bin mir sicher, Sie sind eine gute Beobachterin. Eben solche Hinweise sind wichtig.“ Das Säuseln verfehlte seine Wirkung nicht, sie lächelte geschmeichelt. „Mein Mann“, sagte sie nachdenklich, „hatte ein viel zu weiches Herz. In geschäftlichen Dingen ist das … nicht besonders hilfreich.“ „Also haben Sie ihm diese Dinge abgenommen“, lächelte Emmerich mit der notwendigen Bewunderung zurück. „Weil Sie eine starke Frau sind.“ „Wenn Sie es so sagen wollen.“ „Nicht so weichherzig wie er?“ Sie sah ihn an, wieder vorsichtig, und schwieg. „Ich kann mir vorstellen“, fuhr Emmerich voller Verständnis fort, „dass Winfried Holzapfel ein schwieriger Mieter war. Mit so einem muss man erst mal fertig werden. Überhaupt, das ganze Haus, in dieser Gegend … sicher keine Aufgabe, um die man sich reißen würde.“ „Nein.“ „Eine Möglichkeit bestünde vielleicht darin, es eines Tages zu veräußern“, überlegte Emmerich, als sei er auf der Suche nach Lösungen. „Zu einem guten Preis. Immerhin liegt es mitten in der Stadt. Es ließe sich sicher ein Investor finden …“ „Ist das jetzt wichtig?“ „Die Firma Trellos-Immobilien beispielsweise?“ „Hören Sie doch damit auf“, fuhr ihn Maritta Schlaicher bissig an. „Mit diesem Gerede um den heißen Brei herum. Fragen Sie mich, was Sie wirklich wissen wollen, und lassen Sie mich gehen.“ „Sie wollen verreisen, hab ich recht? Heute ist Dienstag.“ „Was spielt das für eine Rolle? Ja, ich wollte weg. Inzwischen dürfte mein Flieger aber auf und davon geflogen sein.“
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„Wann haben Sie gebucht? Wohin? Urlaub oder dienstlich?“ „Muss ich darauf antworten?“ „Im Moment noch nicht. Wir finden es auch so heraus. Es ginge nur ein wenig schneller.“ „Vor zwei Wochen. Thessaloniki. Dienstlich“, schnappte Frau Schlaicher böse. In ihrem Blazer intonierte Abba „Waterloo“. „Darf ich? Alleine bitte?“ „Wir warten draußen“, sagte Emmerich mit ausgesuchter Höflichkeit, während sie ihr Handy zückte. „Wie die Hunde. Habe ich bereits erwähnt, dass wir Hundehaare in Holzapfels Wohnung gefunden haben?“ ★★★ Emmy benötigte ein Taschentuch und fand eines im Nachtkästchen neben dem Pflegebett. Sie schnaufte, schniefte, schnäuzte sich, trocknete die feuchten Augen, faltete den Brief zusammen und gab ihn zurück in seinen Umschlag. Die anderen drei Schreiben nahm sie ungeöffnet ebenfalls heraus, verschloss sorgfältig die Lade wieder, machte das Bartschlüsselchen von Bernds Bund ab und schob es in ihre Tasche. Zärtlich und nach wie vor gerührt strich sie der Mutter übers weiße Haar und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann verließ sie das Zimmer, ging auf Zehenspitzen über den Flur und klopfte bei Frau Pröhl. Drinnen stand Klaus Friedrich auf und nötigte sie, ganz Kavalier alter Schule, sich auf den einzig vorhandenen Stuhl zu setzen. Was Emmy angesichts des Altersunterschieds ein wenig peinlich war, aber er bestand darauf. „Nun“, fragte seine Mutter Adelheid, die, wie schon bei Emmys erstem Besuch in diesem Raum, auf ihrem Bett hockte, „was bringst du uns da Schönes?“ „Ich weiß nicht, ob es schön ist“, meinte Emmy und reichte ihr drei Umschläge. Das Schreiben ihrer Mutter behielt sie in der Hand. „Du hast es schon gelesen“, vermutete ganz richtig Adelheid Pröhl, sah die Umschläge durch und reichte zwei an ihren Sohn.
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„Das Testament hier ist von Bernd. Wir dürfen es nicht öffnen, ohne Erbschein, aber ich weiß, was drinnen steht. Den da kannst du lesen.“ Sie gab Emmy den Brief mit der Aufschrift „Nur im Falle meines Todes zu öffnen“ zurück. Die hielt den Umschlag zögernd in der Hand. „Mach auf. Der Fall des Todes ist ja eingetreten. Bernd sorgte sich zwar nur wegen der Operation, die ihm bevorgestanden hat. Jetzt ist es auf andere Art geschehen, aber das Ergebnis ist dasselbe.“ Dem war nicht zu widersprechen, also öffnete Emmy auch diesen Brief. Er war kurz gehalten und nur wenige Tage nach demjenigen geschrieben, der Emmy in Olching erreicht hatte. Sollte mir etwas zustoßen, schrieb Bernd, bitte ich, umgehend meine Schwester sowie Herrn Klaus Friedrich Pröhl zu verständigen (Adressen untenstehend). Keinesfalls zuständig ist meine Frau Maritta, auch wenn sie das behaupten sollte. Gez. Bernhard Schlaicher „Das war fürs Krankenhaus gedacht“, erläuterte Adelheid Pröhl. „Er wollte es dort für den Notfall in seinen Nachttisch legen.“ „Darf ich fragen …“, mischte sich ein wenig zögerlich, an seiner Fliege zupfend, Klaus Friedrich in die Unterhaltung ein, „… Sie haben doch einen Bekannten. Bei der Polizei. Weiß man denn schon etwas mehr darüber? Über Bernhards … Unfall?“ „Alles was ich sagen kann“, gab Emmy etwas zerstreut zurück, „ist, dass er einen Herzinfarkt bekommen hat. Ausgelöst durch die Attacke von Herrn Holzapfel.“ „Erwin?“, riefen zweistimmig und ungläubig Mutter und Sohn. „Erwin soll ihn angegriffen haben?“, hakte verunsichert Klaus Friedrich nach. „Nicht zu fassen.“ „So hat der Kommissar es mir erzählt. Leider ist Erwin inzwischen ebenfalls nicht mehr am Leben Die Polizei hat ihn ermordet aufgefunden.“ „Ermordet?“, echote Adelheid entsetzt. „Wie ist das passiert?“ „Darüber darf er mir keine Auskunft geben. Mein Bekannter.“
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„Eine Tragödie“, befand Klaus Friedrich Pröhl, holte ein frisch gebügeltes Taschentuch aus seiner Strickjacke, entfaltete es akkurat und betupfte sich damit die Stirn. „Erst seine Mutter und nun er …“ „Kann ich Sie auch etwas fragen?“ Emmy sah die beiden an. „Ich wüsste gerne, woran Charlotte Holzapfel gestorben ist.“ „Mutti, erzähl du“, forderte Klaus Friedrich und setzte sich neben Adelheid aufs Bett. „Das kam ganz unerwartet“, sagte die mechanisch. „Wir saßen noch beim Abendessen, Inges Tochter und Maritta waren zu Besuch, da klagte sie plötzlich über Bauchweh. Jemand fragte, ob der Arzt verständigt werden sollte, aber das hielt sie für unnötig. Sicher nur eine Magenverstimmung, hat sie gesagt. Sie ging dann früh ins Bett. Am nächsten Morgen ist sie nicht mehr aufgewacht. Herzversagen, meinte Dr. Eder.“ „Könnte es“, forschte Emmy vorsichtig, „auch eine Vergiftung gewesen sein?“ „Eine Vergiftung?“ Klaus Friedrich zog überrascht die Brauen hoch. „Sie meinen, jemand hätte sie … daran hat damals keiner gedacht. Jetzt natürlich … unter diesen Umständen … Sie haben recht, da sieht die Sache anders aus. Aber … was kann man tun? Man müsste es beweisen können.“ „So etwas ist möglich. Oft auch noch lange nach dem Tod. Man muss nur …“ „ … Charlotte exhumieren, meinen Sie? Oh nein, das geht nicht.“ Klaus Friedrich tupfte derart eifrig, dass seine Mutter ihm einen leichten Klaps versetzte. „Abgesehen davon nämlich, dass es sehr geschmacklos wäre und gegen jede Pietät verstieße, ist es nicht mehr machbar. Charlotte wurde eingeäschert.“ „Verstehe“, seufzte Emmy und wechselte das Thema. „Weiß jemand, in welchem Heim meine Mutter angemeldet wurde?“ „Maritta“, sagte Adelheid, sah dabei aber so aus, als sei die Sache mit Charlotte für sie noch nicht beendet. „Mir kommt gerade etwas in den Sinn. Es hat einen Streit gegeben, ach, was sag ich, Streit …
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das war ein handfester Krach, beinah schon eine Prügelei, vielleicht eine Woche vor Charlottes Tod …“ „Wer hat gestritten?“ „Bernd und Erwin. Unten, in der Diele. Wir hatten alle Mühe, die beiden zu beruhigen. Danach hat Bernd dem Erwin Hausverbot erteilt.“ „Warum?“ „Nicht so eilig, ich versuche ja, mich zu erinnern.“ Adelheid Pröhl stützte den Kopf in beide Hände und rieb sich die Wangen. „Erwin war natürlich angetrunken, aber das alleine kann es nicht gewesen sein, das war er immer. Charlotte stand oben am Geländer, sie war ganz verzweifelt und hat ständig wiederholt, sie gehe nicht ins Heim. Später hat sie mir erzählt, dass Maritta ihr einmal vorgeschlagen hätte, doch mit Margot nach Bratislava zu ziehen. Sie hat das natürlich abgelehnt, auch wenn die Rente klein war, schließlich hatte sie erst kurz zuvor ihr Haus verkauft …“ „Erwin und Bernd“, erinnerte sie Emmy. „Es ging um Geld“, erklärte nach kurzem Überlegen Adelheid Pröhl. „Erwin war stets knapp bei Kasse und ging zu seiner Mutter, wenn er etwas brauchte. Ich weiß nicht, was an diesem Abend zwischen den beiden vorgefallen ist, aber etwas muss sie ihm gesagt haben, das ihn so in Wut versetzte. Jedenfalls hat Erwin Bernd beschuldigt, sich an Charlottes Geld zu vergreifen. Was Bernd natürlich weit von sich gewiesen hat. Das Eigenartige daran war, dass er, als seine Empörung sich gelegt hatte, ein paar Tage später, meinte, er hätte ihm vielleicht Unrecht getan. Sie haben lange gesprochen miteinander, Bernd und Charlotte, und sich beide etwas merkwürdig benommen. Dann haben sich die Dinge überschlagen, alles war so aufregend. Erwin war im Fernsehen, Bernd hat sich von seiner Frau getrennt, Charlotte ist gestorben, es ging drunter und drüber hier im Haus. Ich war schrecklich froh, als wieder etwas Ruhe einkehrte, ein solches Auf und Ab vertrage ich nicht mehr …“ „Wie war das? Er hat sich von ihr getrennt? Nicht umgekehrt?“
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Adelheid Pröhl, die sich in Rage geredet hatte und dementsprechend heftig schnaufte, hielt abrupt den Atem an. „Wieso umgekehrt?“ „Jeder erzählt hier etwas anderes. Frau Möbius meinte, sie wäre gegangen. Wegen seiner Freundinnen.“ „Schon möglich, dass er welche hatte. Aber dass er sie verlassen hat, das weiß ich sicher. Deshalb hat er doch an dich geschrieben. Weil er ihr nicht mehr traute und wegen seiner Herz-OP.“ „Er muss etwas über sie herausgefunden haben“, überlegte Emmy, nahm den Brief der Mutter und las die Stelle über die mutmaßlichen, finanziellen Interessen der Schwägerin vor. „Charlotte Holzapfel hatte es gemacht wie alle alten Damen hier“, bemerkte Klaus Friedrich Pröhl. „Sie hat Bernd und seiner Frau Vollmacht erteilt. Damit sie sich um nichts mehr kümmern musste.“ „Warum nicht ihrem eigenen Sohn?“ „Der war dazu gar nicht in der Lage.“ „Das heißt, Maritta hat noch immer eine solche Vollmacht für alle Hausbewohnerinnen?“ „Nicht für Lisbeth, die hatte Bernd alleine. Und auch nicht für meine Mutter, selbstverständlich. Ich bin schließlich kein Hallodri wie der Erwin.“ „Also nur noch für Frau Heimerdinger? Und womöglich bald schon für Frau Möbius?“ Adelheid und Klaus Friedrich Pröhl wechselten einen Blick und nickten. „Ist das gut?“ Beide Pröhls sahen einander wieder an und schüttelten die Köpfe. „Ich muss mit Mirko reden“, sagte Emmy und stand auf. „Kommissar Frenzel. Mein Bekannter bei der Polizei.“
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22 Obwohl er hinter sich die Tür zur Wohnküche geschlossen hatte, ging Emmerich noch ein paar Schritte weiter weg bis zu den Schienen, in denen der rollstuhlgerechte Lift von oben nach unten und zurückgleiten konnte. Mirko folgte. „Was weißt du, was ich nicht weiß?“, verlangte er zu wissen. „Über Hundehaare, Trellos-Immobilien und den Porschefahrer?“ „Sprich nicht so laut“, kritisierte zischelnd Emmerich und wies mit dem Kinn auf eine andere Tür, die einen Spalt breit offen stand. Der Raum, in dem zuvor zwei der alten Damen verschwunden waren. „Es muss dich nicht jeder hören.“ „Du hast irgendetwas gegen sie?“ „Nicht in der Hand. Bis jetzt. Und wenn du, statt herumzuturteln, deine Zeit mit mir verbracht hättest …“ Emmerich sah nach oben, wo über ihren Köpfen die Liftkabine hing. „Das ist nicht schlecht, das Ding, was meinst du? Wenn man mal nicht mehr so fix auf den Füßen ist?“ „Reiner …“ „Verzeihung, ich erzähle schon“, sagte hastig Emmerich und berichtete, was es aus seiner Sicht der Dinge zu berichten gab. „Sie hatte also ein Motiv“, schloss er nach wenigen Minuten. „Sie wollte heute, am Dienstag, die Stadt verlassen. Sie kannte, als eine der wenigen, den Spitznamen Erwin nicht und könnte deshalb die Initialen W. H. auf einem gewissen gelben Zettel hinterlassen haben. Ein Hund ist ebenfalls vorhanden. Trotzdem kann sie es nicht gewesen sein.“ „Warum nicht?“ „Weil diese Frau ein Hering ist. Holzapfel wog neunzig Kilo. Selbst wenn wir annehmen, dass er betrunken oder vielleicht auch
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bewusstlos war und sich nicht gewehrt hat, als die Schlinge zugezogen wurde … sie hätte es wohl kaum geschafft, ihn im Alleingang aus seinem Wohnzimmer zu hieven. Geschweige denn, ihn an seiner Garderobe aufzuhängen.“ „Ein Komplize?“ „Kommt mir beim derzeitigen Stand unserer Unterhaltung nicht ganz unwahrscheinlich vor.“ „Der Porschefahrer?“ Im oberen Stockwerk wurde eine Tür geöffnet und geschlossen, leise Schritte tappten, eine Diele knarrte, eine zweite Tür ging auf und wieder zu. Mirko legte den Kopf in den Nacken. „Deine neue Freundin läuft dir schon nicht weg“, bemerkte Emmerich mit einem Zwinkern. „Ich dachte bloß, ich könnte schnell …“ „Du bleibst hier. Ich gebe ihr nur noch ein paar Minuten. Dann gehen wir wieder in die Küche. An der Geschichte fehlt noch viel. Und sie ist unser bester Anhaltspunkt.“ „Wie du meinst. Obwohl ich nicht davon ausgehe, dass sie uns ihren Kumpel ohne Weiteres verraten wird.“ „Mal sehen“, entgegnete Emmerich und drückte angelegentlich auf einen Knopf neben den Schienen. Die Liftkabine setzte sich nahezu geräuschlos in Bewegung. „Ich kenne vielleicht seinen Namen nicht. Trotzdem weiß ich, wer er war.“ „Tatsächlich?“ „So ein Lift ist wirklich eine gute Sache. Schweinemäßig teuer sicher, aber …“ „Lässt du mich teilnehmen? An deinem Wissen?“ „Angeblich hat sie keine Zeugen. Für das letzte Wochenende. An dieser Stelle hat sie, denke ich, gelogen.“ „Weshalb sollte sie das tun?“ „Das habe ich mich auch gefragt. Sie verzichtet sozusagen auf ein Alibi. Dafür muss sie gute Gründe haben.“ „Die wären?“
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Emmerich drückte einen anderen Knopf und sah hinterher, als der Lift wieder nach oben schwebte. „Wenn es diesen Kumpel gibt, wenn er ein Komplize ist … dann ist das der Mann, mit dem sie am Wochenende zusammen war.“ ★★★ Auf dem Bett im Erkerzimmer lag vor Emmy alles ausgebreitet, was sie in den Händen hatte, um die Vorgänge im Haus an der Neuen Weinsteige zu verstehen. Ihr Brief von Bernd, seine Notiz für das Krankenhaus, das Schreiben ihrer Mutter, eine kleine Spielzeughenkersschlinge und der bunte Hochglanzprospekt, den sie aus der „Alten Kanzlei“ mitgenommen hatte. Ein merkwürdiges Puzzle, dessen Teile alles andere als vollständig waren, lediglich eine zentrale Figur zeichnete sich bislang ab. Um die Figur herum ließen sich andere Teile zu Grüppchen kombinieren, dazwischen aber fehlten die Verbindungsglieder. Der Hochglanzprospekt beispielsweise, der für einen sorgenfreien Ruhestand nahe Bratislava, wahlweise unweit von Thessaloniki oder Zadar warb, ließ sich mit Margot und Charlotte Holzapfel verbinden – immer vorausgesetzt natürlich, dass die unbekannte Margot, von der Adelheid behauptet hatte, sie sei abgeschoben worden, tatsächlich im beworbenen Haus von Gerontulos wohnte. Die Schlinge dagegen passte thematisch zu derjenigen, die, wie sie von Mirko wusste, Charlottes Sohn ihrem Bruder um den Hals gelegt hatte. Hieß das nun, dass sie selbst damit rechnen musste, bald ebenso wie Bernd zu enden? Nein, entschied Emmy, schon um die Ruhe zu bewahren, schließlich war es Erwin gewesen, der Bernd bedroht hatte, und der wiederum weilte selbst nicht mehr unter den Lebenden. Lisbeths Schreiben, Bernds Notiz und auch das Verhalten ihrer Schwägerin sorgten dafür, dass Emmy Maritta zwischenzeitlich nur noch mit Vorsicht begegnete und auch fest entschlossen war, sie von der Mutter fernzuhalten. Bewiesen aber war damit rein gar nichts, ihre Annahme, bei Charlotte Holzapfels Tod sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, konnte nur eine Ver-
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mutung bleiben. Die dazu, womöglich, auch nur ihrer eigenen, viel zu lebhaften Fantasie entsprungen war und jeder Grundlage entbehrte. Übrig blieben nur die Tatsachen, dass Maritta versucht hatte, sie baldmöglichst wieder loszuwerden, vor ihr und ungestört in Bernds Büro zu kommen und längst nicht mehr so souverän auftrat wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Schließen ließ sich daraus höchstens, dass sich im Büro des Bruders etwas befinden mochte, das man ihr, Emmy, vorzuenthalten gedachte. Etwas, das sich außerdem dort immer noch befinden musste, weil Mirkos Anwesenheit die Schwägerin an einer gründlichen Suche gehindert hatte. Der nächste, naheliegende Schritt war daher, selbst wieder hinabzugehen. Emmy vergewisserte sich also, dass das Tütchen mit den Schlüsselduplikaten noch an seinem Platz in ihrer rechten Hosentasche steckte, und schickte sich an, das Erkerzimmer zu verlassen, als ihre Handymelodie ertönte. Eine Nummer, deren Ziffernfolge ihre vage bekannt erschien, wurde angezeigt. Sie drückte die Annahmetaste. „Micha?“ „Ja, ich bin’s“, vernahm sie die Stimme des ehemaligen Schulkameraden. „Ich wollte dir nur sagen … ich mach’s nicht.“ „Was?“ „Den Job. Für den ich mich bewerben wollte. Du hattest recht, ich kann es nicht, es ist nicht in Ordnung.“ „Gerontulos?“ „Dass du dir das gemerkt hast.“ „Zufälligerweise hatte ich gerade einen Prospekt von denen in der Hand.“ „Ich glaub, das sind Verbrecher.“ „Wie kommst du darauf?“, fragte Emmy und setzte sich aufs Bett. ★★★
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Maritta Schlaicher-Blind – oder auch Blind-Schlaicher, Emmerich hatte es nicht so mit den Doppelnamen – hielt bei der Rückkehr der Kommissare in die Küche ihr Handy noch am Ohr, drehte sich aber sofort um und bemerkte trocken: „Ich muss aufhören.“ Was sie dann auch umgehend, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, tat. Ihr letzter Satz zuvor, von Emmerich gerade noch so aufgeschnappt, hatte gelautet: „Nein, ich weiß nicht, was die beiden auf dem Friedhof wollten.“ Vor ihr, auf dem großen Esstisch, in unmittelbarer Nachbarschaft des Bienenstichs, lagen zwei dünne Heftchen mit dem Logo einer Fluggesellschaft. Emmerich legte eine Hand darauf, während sie das Telefon in der Tasche ihres Blazers verstaute, und schob sie zur Seite. Weit weg vom Kuchen, vor den ihr gegenüberliegenden Stuhl, auf den er sich bedächtig setzte. „Das sind meine“, sagte Frau Schlaicher sehr beherrscht und zeigte auf die Flugscheine. „Ist mir klar.“ „Dann geben Sie sie wieder her.“ „Es ging also um die verpasste Reise? Nach Saloniki? Ihr Gespräch?“ „Es war privat.“ „Selbstverständlich. Dann wollen wir mal sehen …“ Emmerich schlug die Heftchen auf und las die Namen, die in den Reiseunterlagen eingetragen waren. „Sprachen Sie gerade mit Herrn Christos Trellos?“ „Es geht Sie nichts an. Mit wem ich telefoniere.“ „Da ich seinen Flugschein hier in den Händen halte, gehe ich davon aus, dass auch er nicht reisen konnte. Heute. Am Dienstag. An Ihrer Seite.“ „Und wenn schon? Ist das Ihr Problem?“ „Ganz im Gegenteil“, erwiderte Emmerich liebenswürdig und zufrieden, dass damit sowohl die Bekanntschaft als auch das Gespräch mit Trellos eingestanden war. „Tatsächlich bin ich ausgesprochen froh, dass er noch im Lande weilt.“
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„Was wollen Sie von ihm?“ „Immer langsam, Sie werden’s schon noch sehen. Reden wir doch erst einmal von Ihnen.“ „Ich wüsste nicht“, entgegnete Frau Schlaicher und fixierte eine Thermoskanne, die neben der Platte mit dem Bienenstich auf dem Esstisch stand, „was es da zu reden gäbe.“ „Zum Beispiel Hunde. Lassen Sie uns über Hunde sprechen.“ „Was dagegen, wenn ich mir Kaffee genehmige?“ „Nur zu.“ Emmerich wartete, bis sie sich eine Tasse eingeschenkt hatte, und lehnte das Angebot, sich ebenfalls zu bedienen, höflich ab. „Haustiere sind etwas Schönes“, fuhr er in lockerem Gesprächston fort. „Ich persönlich halte eine Katze. Ein Hund ist etwas schwierig, mitten in der Stadt. Der braucht seinen Auslauf, nicht? Und er kostet Hundesteuer.“ „Wenn Sie es sagen …“ „Andererseits hat man Bewegung. Und kommt an die frische Luft. So wie Sie, am Wochenende. Auf der Gerlinger Heide, sagten Sie?“ Frau Schlaicher schwieg, leicht achselzuckend, und nippte am Kaffee. „Eine schöne Gegend“, meinte Emmerich. „Viele Hunde?“ „Leinenzwang.“ „Das heißt, man kommt mit fremden Tieren gar nicht in Berührung? Kein Herumtollen und Spielen?“ „Schon lange nicht mehr.“ „Das freut mich.“ „Weshalb? Haben Sie was gegen Hunde?“ „Behüte, ich bin Tierfreund“, lächelte Emmerich und deutete auf einen von den Ärmeln, die sein Gegenüber zuvor abgewischt hatte. „Nein, das bedeutet, dass die Haare da auf Ihren Kleidern nur von dem Hund stammen können, mit dem Sie spazieren waren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest.“ Frau Schlaicher sah an sich hinab und betrachtete die Ärmel einzeln.
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„Ich kann keine Haare sehen.“ „Schon möglich. Aber man hat sie überall. Besonders die ganz feinen. Ich kenne das von meiner Katze.“ „Ich hatte eine andere Jacke an.“ Emmerich ging darauf nicht ein. „Was war das für ein Hund?“, fragte er stattdessen. „Ein brauner.“ „Welche Rasse? Rüde oder Hündin? Wie alt?“ „Jetzt hören Sie mir mal gut zu …“, begann Frau Schlaicher hochfahrend und zornig, offenbar mit der Geduld am Ende, aber Emmerich fiel ihr sofort ins Wort. „Wie hoch ist die Hundesteuer?“ „Ich weiß es nicht, es ist nicht mein verdammter Hund. Wozu fragen Sie mich diesen Scheiß? Haben Sie nichts Besseres zu tun?“ „Könnte ich gerade nicht behaupten“, meinte Emmerich und grinste. „Diese Unterhaltung ist recht aufschlussreich für mich.“ Sie sackte wieder zusammen und machte eine resignierte Handbewegung. Emmerich beugte sich ein Stück weit über die Esstischplatte. „Wem gehört der Hund?“, fragte er freundlich. „Herrn Trellos? Waren Sie mit ihm zusammen? Am letzten Wochenende?“ Frau Schlaicher sah zur Küchendecke, stülpte die Lippen ein, setzte ihre Kaumuskulatur in Bewegung und gab keine Antwort. Emmerich ließ schweigend etwas Zeit verstreichen, während der er sie nicht aus den Augen ließ. Am Kopfende des Tisches tat es ihm Mirko gleich, bis er schließlich, nach Ablauf der gemeinsamen Schweigeminute, locker wissen wollte: „Warum interessiert Ihr Freund sich denn dafür, was wir auf dem Friedhof wollten? Frau Steisshofer und ich? Das hat er Sie vorhin gefragt, bevor Sie aufgelegt haben. Oder etwa nicht?“ Wieder gab es keine Antwort, lediglich das Malmen ihrer Mundwinkel verstärkte sich.
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„Woher weiß er überhaupt davon?“, fragte Mirko weiter. „Vielleicht von diesem Königstein? Mit dem Porsche? Es ist uns keineswegs entgangen, dass er uns gefolgt ist.“ „Philipp von Königstein“, warf Emmerich leichthin ein, holte seine Brieftasche hervor, entnahm ihr das entsprechende Visitenkärtchen und hielt es so, dass Maritta Schlaicher einen Blick darauf werfen konnte. „Arbeitet für Trellos-Immobilien. Und sucht Wohnungen für ganz spezielle Damen. Ich nehme an, Sie wissen wohl, welche Sorte Damen ich jetzt meine?“ Frau Schlaicher gab das Malmen auf und holte Luft. „Daran ist nichts auszusetzen. Ganz besonders nicht für die Vermieter. Eine bessere Rendite ist heutzutage kaum mehr zu erzielen.“ „Das glaube ich sofort. Wollten Sie Herrn Holzapfel deswegen loshaben? Wegen der Rendite?“ „Sie …“ „Oder vielleicht, weil er etwas wusste? Über Sie und diesen Trellos?“ „Wenn das hier so weitergeht“, sagte Frau Schlaicher, tastete nach ihrem Handy und sah nervös zur Tür, „… sollte ich wohl doch mit meinem Anwalt …“ Emmerich steckte Brieftasche und Kärtchen wieder ein. „Sie können später telefonieren. Erst mal fahren wir zusammen ins Präsidium. Dort machen wir ein schönes Protokoll, und Sie dürfen zum Erkennungsdienst. Was halten Sie davon?“ „Überhaupt nichts.“ Maritta Schlaicher war aufgesprungen und griff nach ihrem Reiseköfferchen. „Dazu haben Sie kein Recht. Ich habe nichts damit zu tun. Mit diesem sinnlosen Mord an einem alten Trinker. Und ich lasse mir nichts in die Schuhe schieben.“ „So etwas würden wir nie tun. Uns liegt einzig an der Wahrheit.“ „Dann lassen Sie mich gehen. Ich mache eine Aussage. Von mir aus auch auf dem Präsidium. Nur nicht jetzt. Vielleicht morgen. Oder übermorgen.“ „Wir wollen keine Zeit verlieren.“
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Frau Schlaicher strebte nun der Tür zu, die Hand nach der Klinke ausgestreckt. Mirko erhob sich flink und stellte sich dazwischen. „Tut mir leid“, fügte Emmerich hinzu. „Aber Sie könnten in der Zwischenzeit etwas unternehmen, das uns nicht gefällt. Oder schon im nächsten Flieger sitzen. Schlimmstenfalls gemeinsam mit Herrn Trellos. Den wir, so mein Eindruck, ebenfalls ganz dringend sprechen wollen. Und zwar, bevor Sie ihn gewarnt haben.“ „Dann … dann …“ Sie stammelte und sah wie gehetzt auf ihre Armbanduhr. „Dann gehen wir sofort. Je schneller es vorbei ist, desto besser.“ „Ganz meine Meinung“, stimmte Mirko zu, schickte sich an, die Tür zu öffnen, und wurde von Emmerich daran gehindert. „Nicht so hastig. Behalten Sie doch Platz.“ „Ich dachte, Sie wollten keine Zeit verlieren?“ Frau Schlaicher blickte irritiert vom einen zum anderen Kommissar. „Das ist richtig“, bestätigte Emmerich, die Hände gemütlich über dem Teil seines Körpers faltend, den seine Gattin an schlechten Tagen „Ranzen“ nannte. „Richtig ist aber auch, wie ich bereits erwähnte, dass wir gern Herrn Trellos kennenlernen würden. Es mag sein, dass mein Gefühl mich trügt, aber etwas in Ihrem Verhalten sagt mir, dass wir doch noch ein wenig warten sollten.“ „Worauf?“, fragte argwöhnisch Frau Schlaicher und „Weshalb?“ fast zeitgleich Mirko. „Wie gesagt, es ist nur ein Gefühl. Oder eine Ahnung, die mich überfallen hat. Ich ahne, ganz plötzlich, wie es halt so geht, dass Herr Trellos demnächst hier sein könnte.“ Maritta Schlaichers Reaktion ließ hoffen, dass ihn weder Gefühl noch Ahnung trogen. Sie stieß einen Schrei aus und pfefferte ihr Köfferchen in seine Richtung. Wobei sie lediglich den Tisch traf, auf dem das Geschirr bedenklich klirrte. „Schade“, sagte Emmerich bedauernd und wies auf eine Kaffeepfütze, die sich auf der Kuchenplatte bildete. „Schade um den schönen Bienenstich.“
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23 Auf dem altmodisch breiten, weiß lackierten Fensterbrett im Erker des gleichnamigen Zimmers saß Emmy und blickte hinunter auf die Straße. Früher einmal hatte dieses Zimmer Bernd gehört, und sie hatte ihn darum beneidet. Nicht zuletzt des Erkers wegen. Heute war Bernd nicht mehr da, und in Emmy reifte der Entschluss, ihr Lager lieber hier aufzuschlagen als in einem dunklen Kellerbüro. Keine weitere Seniorin würde einziehen, um in den Fängen ihrer Schwägerin zu landen. Der sie zwischenzeitlich mehr als kritisch gegenüberstand, zumal nach dem Gespräch mit Micha, der bereits wieder zur Eröffnung einer Suppenküche tendierte. „Bei Gerontulos geht es nicht darum, alten Leutchen ein sorgenfreies Leben zu verkaufen“, hatte er von seinem, mit der Firma geführten Telefonat berichtet. „Also … vielleicht auch, nur nicht in erster Linie. Und gewiss nicht solchen, die nur eine knappe Rente haben.“ „Worum dann?“ „Siebzig- oder Achtzigjährigen, möglichst Alleinstehenden, ihre hiesigen Immobilien abzuschwatzen. Erst jagt man ihnen Angst ein, man erzählt, wie mies die Heime hierzulande sind, dass sich niemand richtig um sie kümmert, wenn es ihnen schlechter geht und so weiter und so fort. Anschließend überzeugt man sie, ihre Häuser oder Grundstücke Gerontulos zu übertragen, und verspricht ihnen dafür eine luxuriöse Rundumversorgung für den Rest ihres irdischen Daseins. Nicht hier natürlich, sondern irgendwo im Ausland, wo es angeblich viel schöner ist und liebevoller zugeht, wo die Leute aber auch endgültig aus dem Weg sind. Dass der Preis einer solchen Rundumversorgung, selbst wenn sie gut sein sollte, in keinem Verhältnis zu den Erlösen steht, die man mit den übertragenen Immobilien erzielen kann, versteht sich wohl von selbst.“
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„Zweifellos.“ „Ich hätte gut verdienen können, sie zahlen hohe Provisionen. Auch eine Schulung hätte ich bekommen. Wie man mit den Leuten redet, wie man ihr Vertrauen kriegt, wie man es macht, dass sie einem eine Vollmacht geben. Alles ganz legal, hat der Mann am Telefon behauptet.“ „Es reizt dich trotzdem nicht?“ „Überteuerte Pfannen oder Rheumadecken zu verkaufen, ist ebenfalls legal.“ Micha war hell empört gewesen. „Aber das hat eine andere Dimension. Am liebsten würde ich zur Polizei gehen.“ „Ich hab die Polizei im Haus“, hatte Emmy daraufhin erwidert und versprochen, Michas aktuelle Informationen so schnell wie möglich weiterzugeben. Außerdem, sich bei nächster Gelegenheit wieder bei dem einstigen Schulkameraden zu melden. Inwieweit Maritta in die Geschäfte von Gerontulos verwickelt war, vermochte Emmy beim jetzigen Stand der Dinge nicht zu beurteilen. Dass sie aber in irgendeiner Form in der von Micha beschriebenen Art und Weise agierte, schien ihr zumindest naheliegend. Dazu moralisch nicht nur zweifelhaft, sondern geradezu abstoßend. Wobei für Maritta dasselbe galt wie für alle anderen, die nach Wohlstand strebten: Moral vertrug sich selten mit geschäftlichem Erfolg. Emmy sandte eine SMS mit der Bitte um ein paar Minuten Zeit an Mirko, danach kletterte sie vom Fensterbrett, öffnete einen der Flügel, lehnte sich hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Unten, auf der Straße, hatte ein Porsche einen Parkplatz gefunden, der genauso aussah, wie derjenige, der ihnen vom Waldfriedhof gefolgt war. Daneben standen, offenbar in ein lebhaftes Gespräch verwickelt, zwei Männer. Einer mit gegelten Haaren, der einen dunklen Mantel trug. Der zweite in hellblauen Handwerkerhosen und rotem Poloshirt. Als dazu noch unversehens ein wüster Schrei aus dem Gemeinschaftsraum an Emmys Ohren drang, beschloss sie, Mirko sofort zu informieren, drückte ihre Zigarette wieder aus und ging nach unten. ★★★
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Frau Blind-Schlaichers dunkle Pumps klackten auf den hellen Fliesen. Hin und her und her und hin, ansonsten herrschte Grabesstille in der kombinierten Wohn- und Essküche. Emmerich wandte stumm und regelmäßig den Kopf von einer Seite auf die andere, als beobachte er ein Tennismatch. Tatsächlich folgte sein Blick mit bewusster Penetranz der Frau im Kanzlerinnen-Blazer. Ein Kleidungsstück im Übrigen, dessen Beliebtheit bei der Damenwelt völliges Unverständnis bei ihm auslöste, kaschierte es doch die von Gabi so genannten „Problemzonen“ um die Hüften oder das Gesäß in vielen Fällen gar nicht und in den meisten andern nur schlecht. Wobei natürlich, wenn man es recht bedachte, auch nicht so ganz klar war, weshalb diese Zonen ein Problem sein sollten. Menschen waren nun einmal von der Natur nicht so gebaut, wie es die Modebranche gerne gesehen hätte, und keineswegs dazu verpflichtet, wie wandelnde Schaufensterpuppen aufzutreten. Mirko nutzte das gemeinsame Schweigen zum Studium seines Handybildschirms und zum Verfassen einer Nachricht. Anschließend schob er das Handy wieder ein, wandte sich an seinen Vorgesetzten und tuschelte: „Kann ich mal kurz raus?“ „Jetzt nicht“, widersprach ebenso leise Emmerich, veranlasste dadurch aber dennoch Frau Blind-Schlaicher dazu, ihr Hin und Her einzustellen. „Wie lange soll gewartet werden?“, fragte sie mit einer Stimme, der äußerste Selbstdisziplin anzuhören war. „Kommt darauf an“, gab Emmerich zurück. „Wann rechnen Sie mit seiner Ankunft? Der von Herrn Trellos, meine ich.“ Sie blieb die Antwort schuldig, ging zum Fenster und fasste nach dem Griff. „Das bleibt zu“, befahl Emmerich, ohne sich zu rühren. „Meinen Sie, ich springe raus?“ „Wer weiß.“ „Mir ist schlecht. Ich brauche frische Luft.“ „Sollten Sie umkippen, rufen wir sofort einen Arzt. Wenn Sie jetzt vom Fenster weggehen würden …“
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„Sie“, sagte Maritta Schlaicher, sah ihn mit einem Ausdruck größtmöglicher Verachtung an, befolgte aber seine Anweisung. „Wissen Sie, was Sie mich können?“ „Ich nehm es an“, nickte Emmerich gelassen. „Besser, Sie behalten es für sich.“ Mirkos Handy gab die Töne von sich, die den Erhalt der nächsten Nachricht signalisierten. „Herrgott, was ist denn los?“ „Das da“, entgegnete Frenzel und hielt ihm das Telefon unter die Nase. „Weiter weg. Ich kann’s nicht lesen.“ Sekunden später starrte Emmerich auf das nun eine Armeslänge vor ihm befindliche Display, zog die Brauen hoch und wisperte: „Wo kommt das her?“ „Frau Steisshofer. Sie will mich dringend sprechen. Deshalb wollte ich doch raus.“ „Moment.“ Emmerich wandte sich an Maritta Schlaicher. „Sagen Sie mir eines: Vermissen Sie zufällig eine kleine, rosa Spielzeughenkersschlinge?“ Ihre Antwort bestand aus einem Fauchen, sie glich mehr und mehr einem eingesperrten Raubtier, das kurz vor einem Angriff stand. „Setzen Sie sich hin“, verlangte Emmerich und zeigte auf den ihm gegenüberliegenden Stuhl. „Und regen Sie sich ab. Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Wut zu zügeln. Sie werden viel Geduld brauchen. In den nächsten Stunden.“ „Stunden?“ „Vielleicht werden es auch Tage. Es hängt ganz von Ihnen ab.“ „Wegen eines Kinderspielzeugs wollen Sie mich festhalten? Sie sind ja verrückt.“ „Es handelt sich nicht um ein Kinderspielzeug. Woher haben Sie die Schlinge?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, erklärte bissig Frau BlindSchlaicher, setzte sich auf ihren Stuhl und schlug die Beine übereinander. Emmerich sah Mirko an und machte eine auffordernde Geste. „Meine Freundin hier im Haus“, begann der, vage sein Handy schwenkend, und erntete ein neuerliches Fauchen. „Sie hat in ihrem
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Zimmer was gefunden. Eine kleine, rosa Henkersschlinge. Auf einem Blatt Papier. Mit einer Drohung.“ „Ja, und? Was habe ich damit zu tun?“ „Emmy meint, das könne nur von Ihnen sein.“ „So? Meint sie das? Dann soll sie es beweisen.“ „Frau Schlaicher.“ Emmerich beugte sich leicht über den großen Esstisch. „Henkersschlingen waren das Hobby von Herrn Holzapfel. Er hat sie gebastelt, aus allem, was ihm in die Finger kam. Ich frage Sie deshalb ein zweites Mal: Wo haben Sie die Schlinge her?“ „Ich sage gar nichts mehr. Ohne einen Anwalt.“ „Wie Sie meinen. Dann hören Sie sich eben an, was ich zu sagen habe.“ Emmerich stand auf. „Sie waren am letzten Wochenende in der Katharinenstraße bei Winfried Holzapfel. Der am vergangenen Freitag Ihren Gatten attackierte und Ihnen längst ein Dorn im Auge war. Sie haben ihn getötet und, quasi als Andenken, die rosa Schlinge mitgenommen. Anschließend haben Sie, einige Stunden später, einen Zettel an die Wohnungstür gehängt. Einen Zettel, der den Eindruck erwecken sollte, Holzapfel sei verreist. Bis Dienstag. Weil Sie wussten, dass Sie selbst an diesem Tag die Stadt verlassen würden. Ich gehe jede Wette ein, dass wir Ihre Spuren an diesem Zettel finden werden.“ „Nein“, erwiderte Maritta Schlaicher, die nun, trotz ihrer Bräune, ziemlich blass geworden war und sich ebenfalls erhob. „Das ist zu viel. Das lasse ich mir nicht anhängen.“ „Dann reden Sie, verdammt noch mal. Woher kommt diese Schlinge?“ „Ich habe sie gefunden.“ „Tatsächlich? Wo? Und wann?“ „Vor ein paar Wochen. Auf der Straße.“ „So machen wir nicht weiter.“ Emmerich sah Mirko an und schüttelte den Kopf. „Gib mir Handschellen. Frau Schlaicher, ich verhafte Sie. Wegen Mordes an Winfried Holzapfel.“ ★★★
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Gibt es etwas Blöderes, dachte Emmy resigniert, als sich durch eine geschlossene Tür hindurch SMS-Nachrichten zu schicken? Mit dem Handy in der Hand stand sie in der Diele und hörte wohl, dass hinter dieser Tür gesprochen wurde, ohne aber zu verstehen, was. Einfach hineinzugehen, getraute sie sich nicht, obwohl sie überzeugt war, dass ihr neues Wissen nutzen konnte. Mirko Frenzel hingegen kam nicht heraus, unschlüssig tappte sie ein paar Minuten in der Diele hin und her und brachte schließlich die nächste Nachricht auf den Weg: Der Schlüsselhilfe-Mann ist draußen. Spricht mit dem Porschefahrer. Kaum war der Sendeknopf gedrückt, stand Frau Möbius unversehens vor ihr. „Gibt es etwas Neues?“ „Woher denn?“, fragte Emmy und schüttelte den Kopf. „Sie sind doch alle noch da drin.“ „Wissen Sie, worum es geht? Was will der Chefinspektor von Maritta?“ „Ich weiß nicht, ob …“, setzte Emmy gerade zu einer Antwort an, als es in der Küche laut wurde. Es klang nach einem veritablen Wutanfall der Schwägerin. Sekunden später kam Mirko, ebenfalls ein Handy in der Hand, herausgehastet. „Keine Zeit für Fragen“, schnappte er kurz angebunden. „Wo ist der Schlüsselhilfe-Mann?“ „Unten. Auf der Straße.“ „Von wo kann ich ihn sehen?“ „Von meinem Zimmer aus.“ „Wo ist das? Zeig’s mir.“ Ohne Frau Möbius, die lautstark ihr Erstaunen bekundete, weiter zu beachten, eilten Emmy und Mirko nach oben. Emmy zeigte auf das Erkerfenster, Frenzel näherte sich ihm vorsichtig und spähte hinaus. „Das ist Frau Schlaichers Telefon, das ich da habe“, sagte er endlich erklärend. „Pass auf, ich bin gespannt, was jetzt passiert.“ Mirko drückte eine Taste, hielt das Gerät aber nicht ans Ohr, sondern schaute weiter angespannt hinunter auf die Straße. Emmy trat hin-
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zu und machte es ihm nach. Unten war zu sehen, wie der Schlüsselhilfe-Mann in seine Hosentasche fasste und seinerseits ein Telefon herauszog. Wenig später quäkte ein „Wie sieht’s aus? Sind sie weg?“ aus dem Apparat in Mirkos Hand. Der trennte sofort die Verbindung. „Siehst du“, meinte er zufrieden. „Wir hatten recht. Mein Chef und ich. Das ist Herr Trellos und er wartet schon auf deine Schwägerin. Danke für deine SMS.“ „Ich fürchte, ich verstehe nichts.“ Emmy krauste ihre Nase. „Wer ist denn Herr Trellos?“ „Der Schlüsselhilfe-Mann. Der Mann, mit dem Maritta Schlaicher essen geht. Der Mann, mit dem sie heute nach Thessaloniki fliegen wollte. Und vermutlich auch der Mörder von Herrn Holzapfel. Ich musste nur die Rückruftaste auf ihrem Handy drücken.“ „Und nun? Gehst du hinaus und nimmst ihn fest?“ „Alleine? Besser wär’s, er käme hier herein.“ „Ich glaube“, meinte Emmy nach einem weiteren Blick zur Straße, „genau das hat er vor. Was machen wir denn jetzt? Die Möbius … sie steht mitten in der Diele.“ „Das geht gar nicht.“ Mirko befand sich bereits zurück auf dem Weg nach unten. „Komm mit. Ich brauche deine Hilfe.“ In der Diele angekommen nahm er resolut den Arm der alten Dame und führte sie, allen selbstverständlich umgehend vorgebrachten Protesten zum Trotz, zurück in ihr Zimmer. Emmy hörte, wie er in einem Ton, den sie bislang noch nicht an ihm kannte, befehlend sprach: „Sie bleiben hier. Samt Ihrer Freundin. So lange, bis ich Entwarnung gebe. Und die Zimmertür bleibt zu.“ „Du lieber Gott, was ist denn los?“, äußerte Frau Möbius Unverständnis. „Polizeieinsatz. Kein Kommentar.“ „Und wenn wir zur Toilette müssen?“, erklang, erschreckt und etwas weinerlich, die Stimme von Frau Heimerdinger.
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„Müssen Sie nicht. Nicht in der nächsten halben Stunde.“ Mirko schloss die Zimmertür im selben Augenblick, als die Haustürklingel anschlug. „Schnell“, sagte er zu Emmy und drückte sich so gegen eine Wand, dass er von außen nicht zu sehen war. „Mach ihm auf und sorg dafür, dass er hereinkommt.“ „Aber … ich ….“, stammelte Emmy, einigermaßen schockiert von der Vorstellung, in wenigen Sekunden einem leibhaftigen Mörder gegenüberzustehen. „Bitte. Ich passe auf dich auf. Dir wird nichts geschehen.“ Es schien ihm ernst zu sein, also nahm Emmy ihren Mut zusammen, zählte bis zehn, holte Luft und öffnete die Haustür. Davor stand, wie erwartet, der Schlüsselhilfe-Mann. „Gudde Tag. Iiech mechte zu Frau Schlaicher.“ „Das tut mir leid, sie ist beschäftigt. Kann ich Ihnen helfen?“ „Iiech vermisse meine Schraubenschlissel.“ Es war nicht zu übersehen, dass der Mann versuchte, über Emmys Schulter hinweg einen Blick ins Innere des Hauses zu erhaschen. „Hab ich ihn wohl hiier vergesse?“ „Kommen Sie doch rein und sehen Sie nach“, bot Emmy an und trat zur Seite. Der Mann aber blieb vorsichtig. „Liieber warten auf Frau Schlaicher.“ „Ihr Werkzeug kann ja nur im Keller liegen“, sagte Emmy, ohne nachzudenken. „Gehen Sie einfach hinunter. Dann suche ich so lange nach Frau Schlaicher.“ Einladend hielt sie die Tür ein Stückchen weiter auf. Und tatsächlich nahm der Mann die letzten Stufen und betrat das Haus. Im nächsten Augenblick wurde Emmy unsanft weggeschubst, Mirko versetzte der Haustür einen Tritt und stellte sich davor. „Polizei. Sie sind vorläufig festgenommen.“ Es gab ein kurzes Handgemenge und dazu einiges Geschrei. Emmy nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie die Tür zum Zimmer von Frau Möbius den gewohnten Spalt breit aufging und zwei alte Gesichter neugierig herauslugten. Im oberen Stockwerk tauchten alsbald Klaus Friedrich Pröhl und seine Mutter Adelheid hinter
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dem Geländer auf. Aus der gemeinschaftlichen Wohnküche kam Mirko Frenzels Chef und sprach ein Machtwort: „Geben Sie es auf, Herr Trellos. In ein paar Minuten kommt ein Streifenwagen. Sie können nirgendwo mehr hin.“ So waren also fast alle versammelt, die sich gegenwärtig im Haus „Vogelgarten“ befanden, nur Maritta fehlte. Emmy entdeckte sie schließlich bewegungslos am Küchentisch sitzend, eine Hand mittels Handschellen an einem schön gedrechselten Tischbein festgemacht. Eine Entdeckung, die im selben Augenblick auch der Schlüsselhilfe-Mann gemacht haben musste, denn er rief in plötzlich einwandfreiem Deutsch: „Maritta! Darling! Was hat das alles zu bedeuten? Hast du etwas angestellt? Wieso wissen die, wer ich bin?“ Emmys Schwägerin aber schüttelte nur matt den Kopf, während Mirkos Chef die Standardfrage aller Fernsehkrimis stellte: „Herr Trellos, wo waren Sie am letzten Wochenende?“ „Wozu wollen Sie das wissen? Ich hab doch nichts gemacht …“ „Sie haben Winfried Holzapfel ermordet.“ „Was?“ Der Schlüsselhilfe-Mann wand sich erfolglos in Mirkos professionell festem Griff. „Wer soll das denn sein? Den kenn ich gar nicht …“ ★★★ „Zwecklos“, meinte Emmerich. „Entweder, Sie haben es für sie getan“ – er zeigte beiläufig mit dem Daumen auf Frau Schlaicher – „oder es ging nur um Geld. Das werden wir alles noch herausfinden, wenn Sie in U-Haft sitzen.“ Des Schlüsselhilfe-Manns eigentlich gut aussehendes Gesicht verwandelte sich in eine wutverzerrte Fratze. „Schlampe“, brüllte er in Richtung Küche. „Du blöde Hure. Warum könnt ihr Weiber nicht die Klappe halten?“ „Ich muss Sie korrigieren“, sagte Emmerich unbeeindruckt. „Ihre Freundin hat alles, was ihr möglich war, versucht, um Sie aus der
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Angelegenheit herauszuhalten. Verraten haben Sie sich selbst. Jetzt gerade, im Moment. Wo bleibt denn nur der Streifenwagen?“ Eine Frage, die umgehend eine Antwort fand, denn es klingelte erneut. Emmerich ließ zwei Kollegen ein, die den widerstrebenden falschen Handwerker ohne Federlesens übernahmen. „Wir sehen uns später“, lächelte er Trellos zu. „Einen schönen Aufenthalt bei uns.“ Dann wandte er sich wieder an Frau Schlaicher. „Was mach ich jetzt mit Ihnen?“ „Ich habe nichts getan“, jammerte die kläglich. „Nur den Zettel hingehängt. Nachdem ich erfahren habe, was passiert ist. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass er einfach hingeht und ihn umbringt? Nur weil ich ihm erzählt habe, dass Holzapfel Probleme macht. Dass er im Fernsehen auftritt wegen seiner Mutter. Ich hab es doch nur gut gemeint und wollte auch etwas erreichen. Bernd hatte so gar kein Talent. Zum Geldverdienen, meine ich. Und ohne Geld ist man ein Niemand. Chris war viel dynamischer als er, und ich dachte wirklich, dass ich ja letzten Endes niemand schade …“ „Das können wir alles später klären.“ Emmerich sah die Frau an, deren Selbstbewusstsein während der letzten halben Stunde gleich dem Inhalt eines Luftballons verpufft zu sein schien, und die nun wie ein Häufchen Elend an einem Tischbein hing. Dass der Kanzlerinnen-Blazer in dieser Position noch unvorteilhafter wirkte, trug sicher dazu bei, dass er schon beinah Mitleid mit ihr hatte. „Bitte“, sagte sie nun flehend. „Bitte verhaften Sie mich nicht. Ich bin so müde. Ich will heim. Und außerdem ist da der Hund. Er ist alleine ohne Chris. Jemand muss ihn doch versorgen.“ „Der Hund“, wiederholte Emmerich und nickte. „Natürlich, den hatte ich schon fast wieder vergessen. Von dem benötigen wir dann auch noch Haare, zum Vergleich. Versprechen Sie mir, dass Sie in der Gegend bleiben, mit dem Hund, und sich zu unserer Verfügung halten?“ „Natürlich.“ In Frau Schlaichers blasses Gesicht kehrte etwas Farbe zurück, sie richtete sich auf. „Wo sollte ich auch jetzt noch hin?“
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„Also gut“, gestand Emmerich zu und löste die Handschellen. „Ich nehme Sie beim Wort. Falls Sie versuchen abzuhauen, werden wir Sie finden.“ „Keine Angst.“ Sie war aufgestanden und rieb sich das Handgelenk. „Und damit Sie mir auch glauben, will ich Ihnen noch etwas verraten.“ „Nur zu. Tun Sie sich keinen Zwang an.“ „Die rosafarbene Henkersschlinge. Es war nicht auf der Straße, wo ich sie gefunden habe. Und auch nicht vor ein paar Wochen.“ „Sondern?“ „Am letzten Sonntag. In meinem Cabrio, das ich Chris geliehen hatte. Sie lag im Fußraum, zusammen mit einem schwarzen Nietengürtel. Ich hab mich noch gefragt, was das wohl sein soll, aber …“ „Na, das ist doch was“, fiel ihr Emmerich ins Wort. „Sie gestatten, dass ich diesen Gürtel sofort sicherstelle?“ „Er liegt immer noch in meinem Wagen.“ „Dann wollen wir ihn holen gehen“, meinte Emmerich, nahm galant das Reiseköfferchen und geleitete Frau Schlaicher in die Diele, wo er neben Mirko und dessen neuer Freundin auf eine interessierte Versammlung aller Hausbewohnerinnen einschließlich des Mannes in der Strickjacke stieß. „Danach können Sie nach Hause. Ich melde mich bei Ihnen.“ „Wird er … Chris … wird er wieder freikommen? Gegen Kaution vielleicht?“, wollte sie zaghaft von ihm wissen. „Das glaub ich kaum. Entscheiden tut es ohnehin der Richter.“ Die Frau, von der Emmerich den Eindruck hatte, dass sie gerade zum zweiten Mal zur Witwe geworden war, ging zur Haustür und sah dabei Mirkos neue Freundin an. „Sie“, sagte Maritta Schlaicher hasserfüllt, „wenn Sie nicht gekommen wären …“
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24 Tage später fand sich Emmy einmal mehr auf dem Waldfriedhof wieder. Wo sie, sowohl von Mirko als auch von ebenso gemischten Gefühlen wie bei ihrem Eintreffen in Stuttgart begleitet, eine kleine Begonie auf das Holzapfel’sche Familiengrab pflanzte. Sorgfältig klopfte sie die Erde fest, bevor sie aussprach, was sie sich dabei dachte: „Wie seltsam, dass hier Menschen liegen, die ich niemals kannte und niemals kennen werde und die trotzdem mein Leben nachhaltig beeinflusst haben.“ „Mmmhh“, brummte ihr Begleiter wortkarg, wohl, weil ihm dazu nichts weiter einfiel. „Wenn ich mir vorstelle“, fuhr Emmy fort, „dass auch anderswo auf dieser Welt Menschen, die ich niemals kannte und die ich niemals kennen werde, unterwegs sind, die dasselbe tun …“ „Was tun?“ „Mein Leben nachhaltig beeinflussen.“ „Was soll daran seltsam sein?“ Mirko nahm ihre ausgestreckte Hand und half ihr, sich aufzurichten. „Jeder wird von irgendwem beeinflusst und jeder beeinflusst andere. Nimm mal an, ich verärgere meinen Chef. Der geht heim und lässt den Ärger an Frau und Tochter aus. Die wiederum treffen sich anschließend schlecht gestimmt mit ihren jeweiligen Freundinnen, die dann wieder zu Hause bei ihren Partnern …“ „Du meinst, du wärst schuld, dass zwanzig Leute am gleichen Abend miese Laune haben?“ „Wäre möglich, oder?“ „Das find ich unheimlich.“ Emmy klopfte erdige Brösel von ihrer Kleidung und wischte sich die Hände mit einem Papiertaschentuch ab. „Diese Vorstellung. Man denkt doch immer, dass man über sein
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Leben weitgehend selbst entscheidet. Wenn man es aber so betrachtet …“ „Wie auch immer“, meinte Mirko und lenkte ihrer beider Schritte weg vom Grab. „Wichtig ist, was hinten rauskommt. Soll ein Bundeskanzler mal gesagt haben. Und für dich ist die Sache doch ganz ordentlich gelaufen.“ „Du findest es nicht ungerecht?“ Emmy ließ es zu, dass ihr ein Arm um die Schulter gelegt wurde. „Maritta gegenüber? Dass mein Bruder mir die Villa und das Mietshaus in der Katharinenstraße in seinem Testament vermacht hat?“ „Er hatte sicher seine Gründe.“ „Vielleicht sollte ich sie unterstützen?“ „Jetzt mach einen Punkt.“ Der Arm wurde wieder abgezogen, Mirko sah sie ernsthaft an. „Diese, deine Schwägerin wollte dieses Testament im Büro deines Bruders finden und verschwinden lassen. Darauf gehe ich jede Wette ein.“ „So etwas traust du ihr zu?“ „Problemlos. Wir hatten sie lange genug zur Vernehmung im Präsidium. Der traue ich noch ganz andere Sachen zu. Und ihr bleibt das Haus in Leonberg.“ „Aber nicht den Mord am armen Erwin.“ Emmy nahm den Arm, legte ihn dorthin, wo er gewesen war, und schmiegte ihrerseits den Kopf an seine Schulter. Ein schöne Schulter übrigens, durchaus geeignet, ihr die Geborgenheit zu vermitteln, die ihr so fehlte. „Das war Trellos. Erwiesenermaßen. Und blöd genug, um die Tatwaffe im Wagen deiner Schwägerin liegen zu lassen. Außerdem noch sämtliche Korrespondenz, die Holzapfel mit der Redaktion von dieser Talkshow führte, in seiner Wohnung. Dazu haben wir den gelben Zettel, von dem Maritta dachte, es sei schlau, ihn an Erwins Wohnungstür zu hängen.“ „Das heißt, es gibt genug Beweise?“ „Gegen ihn? Mehr als genug. Wobei die DNA-Spuren aus Holzapfels Wohnung noch gar nicht alle ausgewertet sind. Interessanter wird, ob wir auch ihr was nachweisen können.“
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„Was denn?“ „Na, Anstiftung zum Beispiel. Mein Chef … er denkt, sie ist die Intelligentere von beiden. Dieses … wie soll ich sagen … Geschäftsmodell, das die Firma Trellos da betrieben hat …“ „Die Art, wie sie versuchten, an gute Immobilien heranzukommen …?“ „ … um sie dann in teure Seniorenresidenzen oder lukrative Bordelle zu verwandeln …“ „Was meint dein Chef dazu?“ „Dass reichlich kriminelle Energie vorhanden sein muss, um sich so was auszudenken. Und dann auch noch durchzuziehen.“ „Er ist ein netter Kerl, dein Chef.“ Emmy sah Mirko von unten herauf an, doch bevor der etwas entgegnen konnte, klingelte sein Handy. „Wenn man vom Teufel spricht“, sagte er nach einem kurzen Blick auf das mobile Telefon und wandte sich ein wenig ab. „Was gibt es … Stuttgarter Rossbollen … Ich habe keine Ahnung … Guck doch mal im Internet … Ja, dir auch noch einen schönen Tag und Gruß an Gabi.“ „War er das?“, wollte Emmy wissen, nachdem das Handy wieder in Mirkos Tasche verschwunden war. „Was wollte er? Du musst doch jetzt nicht etwa weg?“ „Sicher nicht. Es ging nur um Frau Sonderbar. Unsere Sekretärin. Er hat ihr, scheint’s, versprochen, dass sie sich was wünschen darf. Und sie wünscht sich Rossbollen.“ „Pferdeäpfel?“ Emmy glaubte, sich verhört zu haben. „Nein. Es soll sich wohl um eine hiesige Pralinenspezialität handeln. Damit kenn ich mich nicht aus. Jetzt lass uns etwas schneller gehen, sonst kommen wir zu spät zu meiner Oma.“ Mirko ließ den Worten Taten folgen. „Liebe Güte“, schnaufte Emmy, nachdem der Friedhof beinahe schon im Dauerlauf verlassen worden war. „Haben wir es denn so eilig?“
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„Du kennst meine Oma nicht. Total nervös, nur weil du uns besuchen kommst. Die erste Frau seit Jahren, die ich mit nach Hause bringe.“ „Aber …“ „Ob du lieber Weißwein oder Rotwein trinkst. Ob sie Rouladen oder Kalbfleisch kochen soll. Spätzle oder Kartoffelbrei. Kopfsalat oder doch lieber Gemüse …“ „Das ist doch ganz egal. Ich bin nicht schleckig.“ „Ofenschlupfer oder Erdbeerkuchen …“ „Jetzt reg dich ab.“ „Sie treibt mich in den Wahnsinn, seit ich dich bei uns angekündigt habe.“ „Ich bin sicher“, meinte Emmy, wieder zu Atem gekommen, auf dem Parkplatz liebevoll, „dass sie es einfach nur gut mit uns meint. Alte Leute sind so. Ich bin gespannt, was da auf mich noch zukommt. In dieser Hinsicht.“ „Wie meinst du?“ Mirko, offenbar kaum weniger erregt als die noch unbekannte Oma, beruhigte sich ein wenig und sperrte den Mercedes, von dem Emmy sich nicht ganz sicher war, ob er korrekterweise auch für private Ausflüge genutzt werden durfte, auf. „Mein Erbe. Die Villa und das Mietshaus. Viel Arbeit, nehme ich mal an.“ „Ist doch gut. Du suchst doch welche.“ „Eigentlich in München.“ „Mir ist es lieber, du bleibst hier.“ Mirko öffnete die Fahrertür und wartete, bis Emmy auf der anderen Seite eingestiegen war, bevor er selbst ins Auto sprang. „Ehrlich?“ „Ganz ehrlich.“ Schweigend fuhren sie durch den Wald hinunter in die Stadt, bis die ersten Geschäfte am Straßenrand zu sehen waren. Emmy erinnerte sich der Rossbollen, und es fiel ihr etwas ein. „Ach Gott, was bring ich denn bloß mit? Für deine Oma?“ „Du musst nichts mitbringen.“
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„Mag sie Blumen? Einen schönen Strauß? Oder besser eine Topfpflanze …?“ „Bitte …“ „Vielleicht etwas Süßes? Pralinen oder Schokolade? Kekse oder Teegebäck …?“
Informationen Zum Autor Mit ihrer ersten Kurzgeschichte schaffte Stefanie Wider-Groth es auf Anhieb in die Anthologie des Würth-Literaturpreises 2008. Ihr erster Kriminalroman ›Tatort Hölderlinplatz‹ überzeugte als »spannender Erstling« (PRINZ Stuttgart) mit viel hintergründigem Humor. In dem mit Spannung erwarteten zweiten Wider-Groth-Krimi ›Mord im Chinagarten‹ ist es der Autorin »gelungen, einen raffiniert gestrickten Krimi zu kreieren, der den Leser vom Beginn bis zur letzten Seite in Spannung hält.« (Esslinger Zeitung). ›Schlossgartensterben‹ ist Hauptkommissar Emmerichs dritter Fall. Hierüber urteilen die Stuttgarter Nachrichten: »Hauptkommissar Emmerich, eine Mischung aus Brunetti und Bienzle«. Im Jahr 2012 erschien das ›Rätsel im Hoppenlau‹, der DEN Stuttgarter Friedhof zum Tatort macht. Das Neckar-Magazin meint: »Dieser Stuttgart-Krimi mit viel Lokalkolorit, seinen eigenwilligen Protagonisten, gewürzt mit schwäbischem Humor, ist von der ersten bis zur letzten Seite ein packendes Lesevergnügen.« Die studierte Germanistin lebt in Stuttgart, arbeitet als Bilanzbuchhalterin und spielt in einer Rockband.