Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817): Freidenker – Diplomat – Orientkenner 9783110647662, 9783110645835

Heinrich Friedrich von Diez was one of the most dazzling figures of the late Enlightenment era. A freethinker from an ea

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German Pages 434 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817)
1. Grundlegungen: Zur Forschung über Heinrich Friedrich von Diez
Heinrich Friedrich von Diez: New Perspectives
2. Der frühe Diez als Radikalaufklärer und Freidenker
Der frühe Diez und die deutsche Sprache
»Ich will keine Wahrheiten lehren. Ich schreibe nur, was ich denke«1
Die Pflicht des Weisen zur Aufklärung
»… geradezu gegen das Christenthum«?
Der Philosoph, Freigeist und Orientalist
Die Anthropologie des Genies
3. Die besten Jahre: Diez als Diplomat in Istanbul
Heinrich Friedrich Diez in Konstantinopel
»Die Türken als Menschen zu studiren«
Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz
4. Der Orientkenner: Diezʼ späte Jahre
Eine langatmige und unergiebige Polemik?
Von Sittenlehre und Tugend, Einsicht und Erfahrung
Gedanken und Bemerkungen zu zwei türkischen Handschriften
5. Der Sammler Diez
»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht«
Heinrich Friedrich von Diez und seine Sammlung abendländischer Handschriften
Heinrich Friedrich von Diez and Costumes turcs
6. Prominente Wirkung: Diez und Goethe
Goethes Hochschätzung des ›Liebhabers‹ und ›Polemikers‹ Diez
7. Anhang
Zeittafel
Siglenverzeichnis
Bibliographie
Personenregister
Autorenverzeichnis
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Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817): Freidenker – Diplomat – Orientkenner
 9783110647662, 9783110645835

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Heinrich Friedrich von Diez (1751 – 1817)

Werkprofile

Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Frank Grunert und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Stefanie Buchenau, Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow und John Zammito

Band 12

Heinrich Friedrich von Diez (1751 – 1817)

Freidenker – Diplomat – Orientkenner Herausgegeben von Christoph Rauch und Gideon Stiening

ISBN 978-3-11-064583-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064766-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064617-7 ISSN 2199-4811 Library of Congress Control Number: 2019956359 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Abb. 1: Heinrich Friedrich von Diez, Pastellgemälde von unbekanntem Maler, ca. 1791. © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Inhalt Katharina Mommsen Geleitwort | 1 Christoph Rauch, Gideon Stiening Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) Freidenker – Diplomat – Orientkenner | 3

1 Grundlegungen: Zur Forschung über Heinrich Friedrich von Diez Lela Gibson Heinrich Friedrich von Diez: New Perspectives | 19

2 Der frühe Diez als Radikalaufklärer und Freidenker Manfred Voigts Der frühe Diez und die deutsche Sprache | 29 Dieter Hüning »Ich will keine Wahrheiten lehren. Ich schreibe nur, was ich denke« Diez’ Abgesang auf die Konzeption des Naturzustandes | 41 Kay Zenker Die Pflicht des Weisen zur Aufklärung Diez’ Verteidigung der Pressefreiheit im Kontext seiner philosophischen Anschauungen | 61 Wolf Christoph Seifert »… geradezu gegen das Christenthum«? Christian Wilhelm Dohm und Heinrich Friedrich Diez zu Judenemanzipation und Religionskritik | 109 Arne Klawitter Der Philosoph, Freigeist und Orientalist Heinrich Friedrich Diez im Spiegel bislang unbekannter früher Schriften | 133

VIII | Inhalt

Gideon Stiening Die Anthropologie des Genies Anmerkungen zu Diezʼ Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773) | 147

3 Die besten Jahre: Diez als Diplomat in Istanbul Martin Mulsow, Anne-Simone Rous Heinrich Friedrich Diez in Konstantinopel Seine chiffrierten Briefe an Dohm und die Fallstricke der Diplomatie | 169 Christoph Rauch »Die Türken als Menschen zu studiren« Die Briefe von Diez an Tychsen | 191 Henning Sievert Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz | 221

4 Der Orientkenner: Diezʼ späte Jahre Klaus Kreiser Eine langatmige und unergiebige Polemik? Die Fehde zwischen Heinrich Friedrich von Diez und Joseph von Hammer-Purgstall | 243 Jaqueline Jüling Von Sittenlehre und Tugend, Einsicht und Erfahrung Das Orientbild Heinrich Friedrich von Diezʼ und dessen Einfluss auf August Tholuck | 273 Semih Tezcan Gedanken und Bemerkungen zu zwei türkischen Handschriften Dresd. Ea 86 Kitāb-ı Dedem Ḳorḳud und Ms. Diez A quart. 31 Kitābı Oġuznāme-i Türkī ve Tatarca Żarb-ı Mes̠el | 297

Inhalt | IX

5 Der Sammler Diez Katrin Böhme »Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« Die Bibliothek Diez, ihre Kataloge und ihre Systematik | 309 Ursula Winter Heinrich Friedrich von Diez und seine Sammlung abendländischer Handschriften | 335 Elisabeth Fraser Heinrich Friedrich von Diez and Costumes turcs An Ottoman Costume Album in Prussia | 349

6 Prominente Wirkung: Diez und Goethe Hendrik Birus Goethes Hochschätzung des ›Liebhabers‹ und ›Polemikers‹ Diez | 381

7 Anhang Zeittafel | 405 Siglenverzeichnis | 409 Bibliographie | 411 Personenregister | 419 Autorenverzeichnis | 423

Katharina Mommsen

Geleitwort Dank der Bemühungen der Herausgeber und der insgesamt achtzehn Autoren/Innen wissen wir heute erheblich mehr über Heinrich Friedrich von Diez als noch vor einem halben Jahrhundert. In vieler Hinsicht fällt auf den »seltsamen Prälaten«, wie Annemarie Schimmel ihn 1963 in ihrer Rezension von Goethe und Diez bezeichnete, ganz neues Licht. Nun sehen wir ihn geradezu vor uns, den schon durch seine hünenhafte Statur alle anderen Zeitgenossen überragenden, eigenwilligen Freigeist und Esprit fort, dem es nie an Selbstbewusstsein mangelte und der sogar Friedrich den Großen zu beeindrucken vermochte. Imponierend war Diez auch als Sammler ungeheurer Mengen morgen- und abendländischer Handschriften, Kalligraphien, Bücher, Instrumente, Gemmen und mancherlei Kunstwerke. Der Mehrzahl seiner Zeitgenossen war Diez durch seinen geistigen Zuschnitt als selbständiger Denker, Radikalaufklärer und Philosoph überlegen. Als Polemiker, Verteidiger der Pressefreiheit und eigenwilliger Diplomat gewann er Einfluss; als Befürworter der Judenemanzipation und als Freund der Türken machte er von sich reden. Dass der 65-jährige Goethe, der dem zwei Jahre jüngeren Diez nie begegnet war, ihn in den Abhandlungen zum West-östlichen Divan zu seinem »Freund« erklärte und dessen Übersetzung des Kabus Nameh stärker propagierte als je ein anderes Buch, gehört zu den verblüffendsten Auswirkungen von Diez’ Persönlichkeit, zumal Goethe keineswegs mit dessen in höheren Jahren zunehmenden Orthodoxismus übereinstimmte. Doch da nach Goethes Überzeugung der wahre Grund menschlicher Verhältnisse nicht in Talenten oder dem Geschick zu diesem oder jenem, sondern in der Persönlichkeit liegt und der Mensch alles, was er vermag, durch seine Persönlichkeit wirkt, finden wir auch den Schlüssel seiner Zuneigung und Bewunderung für Diez in dessen großer Persönlichkeit.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-001

Christoph Rauch, Gideon Stiening

Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) Freidenker – Diplomat – Orientkenner

1 Ungewöhnliche Individualität um 1800: Zwischen Theorie und Praxis Die Aufklärung und ihre Gegenströmungen brachten ab 1750 ein Individualitätsverständnis hervor,1 dessen schwerer Druck entweder auf dem Einzelnen lastete oder ihn zu besonderen Leistungen anspornte. Dabei war dieser Individualismus von ständischen Beschränkungen befreit, bezog sich auf den ›ganzen – aus Körper und Seele bestehenden – Menschen‹ und konnte sich öffentlich wie privat realisieren, d. h. er war nicht mehr notwendig an Institutionen gebunden. Konsequent erweitert wurde dieses Verständnis von »Einzigartigkeit«2 im Konzept des Genies, das keineswegs erst dem Sturm und Drang, sondern – u. a. durch den Hallenser Philosophen Georg Friedrich Meier – schon der Hochaufklärung im Begriff des alter deus zur Verfügung stand.3 Schon Meier aber wie erst recht der spätaufklärerische Philosoph und Genietheoretiker Jakob Friedrich Abel beschränkten den Begriff des Genies bzw. des außergewöhnlichen Individuums keineswegs auf den Künstler; so schreibt Abel in seiner Rede über das Genie aus dem Jahre 1776: Jeder findet Genie in den Schöpfungen der Ariost, der Raphael, der Newton oder in den Großtaten der Cäsar, der Gustav Adolf oder der Turenne, kurz, da, wo er ausnehmende Würkungen des Geistes wahrzunehmen glaubt.4

Neben Dichtern und bildenden Künstler sind es also auch Wissenschaftler oder Politiker, denen der Status des Genies zugeschrieben werden konnte. Die Möglich|| 1 Vgl. hierzu u. a. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 49ff. oder auch Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Hamburg 2015, S. 763ff. 2 Vgl. hierzu Undine Eberlein: Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt a. M., New York 2000. 3 Vgl. hierzu Gideon Stiening: »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste«. Georg Friedrich Meiers ästhetische Theorie. In: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als ›wahre Weltweisheit‹. Hg. von Frank Grunert u. Gideon Stiening. Berlin, Boston 2015, S. 299–321. 4 Jacob Friedrich Abel: Rede, über die Entstehung und die Kennzeichen grosser Geister [Rede über das Genie]. Stuttgart 1776 [ND, hg. von Walter Müller-Seidel. Marbach 1955], S. 16.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-002

4 | Christoph Rauch, Gideon Stiening keiten, Ungewöhnliches zu leisten – und zwar unabhängig von seinem Stand – schienen insbesondere in den 1770er Jahren auch in den deutschsprachigen Ländern nahezu unbegrenzt und führten verständlicherweise bei einem nicht geringen Teil der künstlerischen, wissenschaftlichen oder politischen Intelligenz zu einem Bedürfnis nach exzeptioneller Realisation der eigenen Einzigartigkeit. Dabei wird noch bis kurz nach dem Jahrhundertereignis der Französischen Revolution das Selbstverständnis der Früh- und Hochaufklärung nach praktischer Verwirklichung rational gewonnener Einsichten, nach einem ›Wandel durch Vernunft‹,5 mit dem radikalisierten Individualitätsverständnis der Spätaufklärung und des Sturm und Drang verbunden: Politische Akteure wie Katharina II., Friedrich II., Joseph II., aber auch Friedrich Gentz suchten nach Austausch mit der und Einsichten in die Theorie, und langjährige Theoretiker wie Voltaire, Johann Nikolaus Tetens, oder noch Georg Forster fanden den Weg in eine politische Praxis, mit dem sie sich eine Umsetzung ihrer Gedankenarbeit versprachen. Erst das Scheitern der Revolution beendete diese Liaisons d’Amour zwischen Theorie und Praxis im Zeichen aufgeklärter Individualität.6 Eine dieser sich am Geniegedanken in Theorie und Praxis berauschenden ›ungewöhnlichen Individuen‹ der Jahre zwischen 1750 und 1800 war der Jurist, Verwaltungspolitiker, Diplomat und spätere Orientkenner Heinrich Friedrich von Diez.

2 Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) – eine biographische Skizze Heinrich Friedrich von Diez ist eine der schillerndsten Gestalten der Zeit um 1800. Früh schon strebte der mit einem gesunden, bisweilen überbordenden Selbstverständnis ausgestattete Jurist, Politiker und Privatgelehrte über die ihm durch seine Herkunft gesetzten Grenzen hinaus. Als Sohn eines Textilkaufmanns wählte er nicht die kaufmännische Laufbahn, sondern bezog nach dem Besuch eines Magdeburger Gymnasiums die Universität Halle (Saale), um dort ab 1769 Rechtswissenschaften zu studieren. Zwar lag dieser Studienort auch räumlich dem Heimatort Magdeburg nahe, dennoch dokumentiert die Wahl zugleich die Ambitionen des jungen Studenten, galt die Universität Halle – zumal deren juristische Fakultät – seit den Zeiten

|| 5 Vgl. hierzu Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009. 6 Vgl. Gideon Stiening: Empirische oder wahre Politik? Kants kritische Überlegungen zur Staatsklugheit. In: Kants Entwurf Zum ewigen Frieden. Hg. von Dieter Hüning u. Stefan Klingner. BadenBaden 2018, S. 259–276.

Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) | 5

Christian Thomasiusʼ als europäische Spitzenanstalt.7 Dass diese herausgehobene Stellung akademischer Intellektualität schon seit einigen Jahren nach Göttingen abgewandert war, dürfte sich dem juristischen Neuling erst später erschlossen haben. Schon in Halle nimmt Diez eine Reihe von Kontakten zu aufstrebenden publizistischen Größen der in vielerlei Hinsicht innovativen 1770er Jahre auf;8 so pflegt er eine intensive Freundschaft mit dem Kommilitonen Ludwig August Unzer, der ihn einige Jahre später mit Jakob Mauvillon bekannt machen wird und der schon früh zu Epikureismus und Atheismus sich entschieden hatte. Unzer dürfte Diez auf dessen Weg zum Freigeist nachhaltig beeinflusst haben.9 Großen Eindruck scheint die Mitgliedschaft in einer geheimen Gesellschaft, der Amicistenloge Constantia,10 auf den sich zunehmend zum Atheisten und ›Materialisten‹ entwickelnden Diez gemacht zu haben: Erste Publikationen11 zeugen von einer Begeisterung für staatsferne, auf moralischen Ordnungsmustern basierende Vergemeinschaftungen; Freundschaft scheint ihm das Ideal menschlicher Gemeinschaft zu sein. Nach erfolgreicher Beendigung des Studiums kehrt Diez 1773 nach Magdeburg zurück, um vor allem aus finanziellen Gründen eine Laufbahn in der politischen Verwaltung dieser sich erst allmählich von den Folgen des Siebenjährigen Krieges erholenden Provinzmetropole zu beginnen. Nach den intellektuell erlebnisreichen Jahren in Halle fühlt sich Diez in der verschlafenen Hauptstadt des Herzogtums Magdeburg12 offenkundig gelangweilt und isoliert; an Jakob Mauvillon schreibt er im Oktober 1773:

|| 7 Vgl. hierzu u.a. Kay Zenker: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012, S. 159ff. 8 Zur Eigentümlichkeit der 1770er Jahre vgl. die Skizze in Gideon Stiening: Im Netzwerk eines Materialisten. Anmerkungen zum Briefwechsel Michael Hißmanns. In: Wissenschaft in Korrespondenzen. Wissenschaftliche Briefe aus und nach Göttingen. Hg. von Karsten Engel. Göttingen 2019, S. 95–118. 9 Zum wenig erforschten Ludwig August Unzer vgl. u. a. Arne Klawitter: Das »abgeschmackte« deutsche Publikum und seine »Gellertomanie«. Ludwig August Unzers und Jakob Mauvillons ›Dichterbriefe‹ und deren Verteidigung durch Christian Rautenberg. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 3–38. 10 Siehe hierzu Franz Babinger: Ein orientalischer Berater Goethes. Heinrich Friedrich von Diez. In: Goethe-Jahrbuch 34 (1913), S. 83–100, hier S. 84. 11 Vgl. hierzu die Überblicke bei Manfred Voigts: Nachwort. In: Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften. Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 457–540 sowie Arne Klawitter: »… aber anderen muss ich unbekannt bleiben«. Über das Programm der Philosophischen Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion (1773) und ihrem bislang unbekannten Verfasser. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 43.1 (2019), S. 11–27. 12 Vgl. hierzu u. a. Helmut Asmus: 1200 Jahre Magdeburg – Die Jahre 1631 bis 1848. 4 Bde. Magdeburg 2000–2009, Bd. 2, S. 202ff.

6 | Christoph Rauch, Gideon Stiening Wie gern vermiede ich den Missklang, und lebte unter einstimmigen Menschen! So muss ich jetzt meine besten Freuden aus der Ferne verschreiben, und meinen Trost in den Briefen weniger suchen, da ich in meinem Wohnorte auch nicht einen Kopf antreffen kann, zu dem ich mich brüderlich gesellen könnte.13

Diez wird von dieser Stimmung aber nicht abgehalten, im Laufe der nächsten Jahre in der politischen Verwaltung Magdeburgs Karriere zu machen – immerhin steigt er bis zum Kanzleidirektor auf, d.h. einem leitenden Posten in der herzoglichen Regierung. Darüber hinaus pflegt Diez einen regen Briefverkehr mit einer Reihe von Aufklärern, so – wie erwähnt – mit Jakob Mauvillon, aber auch mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt. Dem Radikalaufklärer Mauvillon gegenüber eröffnet er in umfangreichen Briefen seine freidenkerische, d. h. religionskritische und materialistische Überzeugung. Den wichtigsten Kontakt aber knüpft er schon in den Jahren 1772/73 mit dem gleichaltrigen Christian Konrad Wilhelm Dohm, der zu diesem Zeitpunkt noch zwischen dem Jurastudium in Leipzig und einer Privatausbildung bei Basedow in Dessau schwankte. Kurze Zeit später wechselt Dohm nach Göttingen, um dort sein Studium zu beenden, aber schon währenddessen eine publizistische Karriere zu starten. Später wird er politischer Funktionsträger am preußischen Hof und dabei für Diez’ weiteren Lebensweg eine gewichtige Rolle spielen. Diez aber, der zwischen 1773 und 1784 in Magdeburg seine Laufbahn verfolgt und an einem Netzwerk von Briefwechseln mit unterschiedlichen Aufklärern arbeitet, ist darüber hinaus in erheblichem Maße publizistisch tätig. Neben einigen noch in Halle verfertigten insbesondere religionskritischen Schriften sind es vor allem Grundlagenwerke zur moralischen und politischen Philosophie, die Diez in beachtlicher Anzahl der Öffentlichkeit präsentiert – so eine praktische Anthropologie und ein Naturrecht.14 Tatsächlich sieht sich der Verwaltungsjurist in diesen Jahren vor allem als Philosophen; an Mauvillon schreibt er im Oktober 1773: Wollen Sie etwas mit mir anfangen, so müssen wir philosophiren. Darin bin ich so weit erfahren, als die Grenze meines Tadels geht. Ich habe mich bisher bemühet, meine Begriffe vom Menschen und denen Weltdingen, so viel als sich thun lässt, zu rectificiren. Darauf will ich denn ferner, so lange ich lebe meine Stunden verwenden, die mir von der Rechtsgelehrtheit

|| 13 Diez an Mauvillon, 3. Oktober 1773. In: Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzoglich-braunschweigischen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon, gesammlt von F. Mauvillon, seinem Sohn. Deutschland (sic) 1801, S. 78; Diez wiederholt diese Klage im August 1774 und bezeichnet sich als »Eremit«; vgl. ebd., S. 102f. 14 Vgl. hierzu die beiden Textbände Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 11) sowie Heinrich Friedrich Diez: Philosophische Abhandlungen, Rezensionen und unveröffentlichte Briefe (1773–1780). Hg. von Arne Klawitter. Würzburg 2018.

Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) | 7

und ihren Geschäften übrig gelassen werden. Ich würde ganz als Philosoph mein Leben hinbringen, wenn ich nur könnte.15

Seit Mitte der 1770er Jahre – verstärkt seit Beginn der 1780er Jahre – wendet sich Diez gesellschaftspolitischen Themen zu, die er gleichwohl noch weitgehend auf der Grundlage seiner früh gewonnenen naturalistisch-epikureischen Philosophie behandelt, wie dem Patriotismus, der Frauenbildung, der Pressefreiheit oder der Judenemanzipation. Der junge, aufstrebende Verwaltungspolitiker16 erweist sich in diesen Texten als energischer, der Lust an der Polemik freien Lauf lassender, radikaler Aufklärer mit Tendenzen zur Sprach- und Rebellionskultur des Sturm und Drang. Ungewöhnlich konsequent für die Zeit, aber im Einklang mit den materialistischen Tendenzen der spätaufklärerischen Religionskritik – beispielsweise bei Michael Hißmann oder eben Jakob Mauvillon17 – erweist sich Diezens Kritik an christlichen Dogmen und deren soziopolitischen Funktionen. So heißt es in Zustimmung zu Ausführungen des Freundes zur Immortalitas animae – einem auch im 18. Jahrhundert in den unterschiedlichsten Disziplinen noch kontrovers debattierten Thema:18 Bei Ihrer Theorie verwerfen Sie also ohnfehlbar die Unsterblichkeit des Menschen: denn was sollte nach dem Tode fortdauren, da alles Körper ist.19

Auch Diez ist lange dieser materialistischen Überzeugung, die einen ethischen Naturalismus und lebensweltlichen Epikureismus ebenso nach sich zieht wie die strikte Ablehnung jeglicher Theologie. Dass diesem ›jungen Wilden‹ mit Tendenzen zum Sturm und Drang entgegen seiner beruflichen Existenz sein »System«, wie er es nennt, nicht äußerlich war, lässt er den Freund und radikalaufklärerischen Kombatenden Jakob Mauvillon durchaus wissen:

|| 15 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 13), S. 78f. 16 Vgl. hierzu auch Bernd G. Ulbrich: »Der so wunderliche als treffliche Mann …«. Das Lebenswerk des Heinrich Friedrich von Diez. In: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 11 (2002), S. 117–139. 17 Vgl. hierzu den Brief Mauvillons an Hißmann, 23. Juni 1777. In: Michael Hißmann, Briefwechsel. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich. Berlin 2016, S. 13: »Denn unter uns u. als Freund gesagt, bin ich überzeugt, daß man der Menschheit keinen wichtigern Dienst erzeigen kann als an der Untergrabung des Christentums zu arbeiten. Diese Religion macht die Menschen schwach, furchtsam, kleinmüthig; sie erstickt jede Hoheit des Geistes, allen Adel der Seelen.« 18 Vgl. hierzu Dieter Hüning, Stefan Klingner u. Gideon Stiening (Hg.): Das Problem der Unsterblichkeit in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts. Hamburg 2018 [Aufklärung 29 (2017)]. 19 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 13), S. 97.

8 | Christoph Rauch, Gideon Stiening Was Sie vom Genusse des Lebens sagen, missbilige ich gar nicht. Es war eine Zeit, wo ich wie ein gesunder Epikurer lebte und das Zurückdenken daran ist mir noch allezeit sehr angenehm: aber ich bin, weiss nicht wie, davon abgekommen, und habe nur die Vorstellung übrig, dass ich vielleicht einst früh oder spät, zu dieser Lebensart wieder zurückkehren kann. Denn wer kann Bürge für sich seyn, da wir uns nach den Zeiten bequemen und ändern? Lebten wir bey einander o Freund wie wünsch ich es! so würden wir wegen der Macht des Beispiels und Umgangs, einer von dem andern etwas annehmen und dadurch in unsrer Denkart selbst harmonischer werden. Dies, ich gestehe es Ihnen, ist auch noch der einzige Grund, der mich bewegt mit meinen Freunden über diese oder jene Sätze zu concerciren, zum Versuch nemlich, ob ich sie zu meinen Meinungen herüber bringen könne. Denn die besten Vorsätze, die wiederholtesten Versicherungen nichts befördert so sehr das Zutrauen und Innigkeit unter Freunden als die Uebereinstimmung in Betrachtungen und Lehren.20

Schon früh aber scheint Diez auch unter Fernweh zu leiden. Die mit seinen Interessen an einer philosophischen Anthropologie und Geschichte verbundene Rezeption ethnologischer Studien und Reiseberichte21 sowie seine Kenntnisse der historischen und kulturellen Diversifikationen des Menschengeschlechts festigen in ihm das Bedürfnis nach dem unmittelbaren Erleben und dem Sammeln von Erfahrungen im Nahen Osten und dabei insbesondere in der Türkei. Die sich in den späten 1770er und frühen 1780er Jahren einmal mehr verstärkende ›Türkenmode‹ des 18. Jahrhunderts,22 die immerhin 1782 auch zum großen Erfolg von Mozarts Entführung aus dem Serail beitrug,23 dürfte bei dem in seinen jungen Jahren stets am Puls des Zeitgeistes lebenden Diez ein Übriges getan haben. Als sich dann im Jahre 1784 die Gelegenheit bot, griff Diez energisch zu: Im Frühjahr dieses Jahres erhielt er von seinem Freund Dohm, der seit 1779 in Berlin zunächst als Archivar, dann als Geheimer Kriegsrat tätig war, die Nachricht, dass Friedrich II. den preußischen Geschäftsträger in Konstantinopel, Christian Friedrich von Gaffron, wegen diplomatischer Verfehlungen im Zusammenhang eines drohenden türkisch-russischen Krieges abberufen hatte.24 Durch Vermittlung Dohms kam || 20 Ebd., S. 135. 21 Vgl. hierzu Heinrich Friedrich Diez: Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773). In: ders.: Frühe Schriften. Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 43ff. 22 Vgl. hierzu u. a. Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutschmorgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin, New-York 2005; Barbara SchmidtHaberkamp (Hg.): Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert. Göttingen 2011; Thomas Wünsch: Das Kamel und das Pferd. ›Fremde Dinge‹ als Provokation der Selbstinszenierung in Polen im Zeitalter der Türkenkriege. In: Präsenz und Evidenz femder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts. Hg. von Birgit Neumann. Göttingen 2015, S. 339–355. 23 Vgl. hierzu Stefanie Steiner: »Im Mohrenland gefangen …« Bilder des Orients und Aspekte der Aufklärung in Mozarts Opern. In: Mozart und die europäische Spätaufklärung. Hg. von Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 83–108. 24 Zu diesen Vorgängen vgl. u.a. Joseph Croitoru: Die Deutschen und der Orient. Faszination, Verachtung und die Widersprüche der Aufklärung. München 2018, S. 214ff. Siehe auch den Beitrag von Martin Mulsow und Anne-Simone Rous in diesem Band.

Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) | 9

Diez in die engere Wahl für diesen Posten und konnte den König während einer Audienz überzeugen, ihm dieses Amt zu übertragen.25 Ab Ende 1784 lebte Diez folglich als preußischer Chargé dʼAffaires an der Hohen Pforte in Konstantinopel und hatte damit einerseits das Ziel, in einflussreicher, nicht mehr subalterner Stellung politisch tätig zu sein, erreicht, andererseits aber auch seinen Wunsch nach einer näheren Kenntnisnahme der osmanischen Kultur erfüllt. Diez wurde in den kommenden Jahren auch von beiden Handlungsfeldern eingenommen; so musste er vielerlei diplomatisches Geschick im Vorfeld des dann 1787 endgültig ausbrechenden Krieges zwischen dem russischen und dem osmanischen Reich beweisen. Dohm lieferte ihm die entsprechenden Informationen über die Vorgänge am Berliner Hof, und Diez nutze dieses Wissen für durchaus eigenständige, bisweilen gar eigenmächtige Verhandlungen mit der Pforte, die deutlich machten, dass er sowohl die Interessen Preußens in Konstantinopel, als auch die Interessen der Türken in Berlin zu vertreten wusste. Erst 1790 scheint er den Bogen seiner eigenmächtigen Diplomatie überspannt zu haben und wird – allerdings ohne Einsicht in eigene Fehler – nach Berlin zurückbeordert. Neben seiner komplexen und arbeitsreichen diplomatischen Tätigkeit scheint der zunächst als Dilettant und Liebhaber des Orients agierende Diez26 genügend Zeit gefunden zu haben, ein enormes Vermögen zu akkumulieren27 und auf dieser Grundlage eine große Anzahl von Manuskripten und Büchern zu erwerben. Um diesem Interesse kompetent nachgehen zu können, erlernte Diez zudem die türkische Sprache.28 Seine Fähigkeit in der Auswertung von Artefakten, Manuskripten und Büchern nahm damit zu, so dass er bald den Status des Dilettanten abstreifen konnte. Über Diezens Jahre in der Türkei ist nach wie vor wenig bekannt. Die geplante Edition seiner Briefe aus dieser Zeit dürften allerdings substanziell Neues zu Tage fördern. Sicher dagegen ist, dass Diez im Januar 1790 aus Konstantinopel abberufen wurde, weil er sich in eigenmächtiger und der preußischen Russlandpolitik zu Beginn der 1790er Jahre ungünstiger Weise verhalten hatte.29 Während Diez selber sich

|| 25 Diese ist eindrucksvoll geschildert in einem Brief von Diez an Gleim vom 29. Juli 1791, abgedruckt in Literarisches Conversations-Blatt, Nr. 77 (3. April 1821), S. 305f. 26 Vgl. hierzu Andrea Polaschegg: Doppelter Dilettantismus? Zur Spannung von Poetik und Philologie im deutschen Orientalismus um 1800 und ihrer trickreichen Auflösung im »West-östlichen Divan«. In: Dilettantismus um 1800. Hg. von Stefan Blechschmidt u. Andrea Hinz. Heidelberg 2007, S. 143–166. 27 Diez wird dieses Vermögen vor allem mit der »Erteilung von damals sehr gesuchten preußischen Pässen und Handelsbriefen« (Babinger: Berater Goethes [s. Anm. 10], S. 93) erworben haben. 28 Siehe hierzu Christian Conrad Wilhelm Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit oder Beiträge zur Geschichte vom letzten Viertel des achtzehnten und vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts 1778 bis 1806. 4 Bde. Lemgo, Hannover 1814–1819, Bd. 2, S. 43. 29 Vgl. hierzu Babinger: Berater Goethes (s. Anm. 10), S. 91ff.

10 | Christoph Rauch, Gideon Stiening über diese Entscheidung vor allem empört zeigte, waren seine türkischen Partner und Freunde offenbar ehrlich betrübt,30 verloren sie doch einen europäischen Diplomaten, der ihrer Kultur außerordentlich wohlgesonnen war. Der geschasste Gesandte zog sich nach seiner mit der Erteilung einer üppigen Rente versüßten Rückkehr zunächst auf ein Landgut in Phillipsthal bei Potsdam zurück. Ab 1798 lebte er im pommerschen Kolberg, wo er bereits seit längerem eine Pfründe des Domstifts und den Titel eines Prälaten innehielt. Mit der Belagerung Kolbergs durch die Franzosen zog Diez 1807 nach Berlin. Die frei gewordene, und d. h. vor allem die von politischer Betätigung entlastete Zeit gestaltete er insbesondere mit der Sichtung und Ordnung seiner in der Türkei erworbenen Handschriften, Bücher und Münzen. Finanziell reichlich abgesichert, widmete er sich einem Leben im türkischen Habit und der Kultivierung umfangreicher Briefnetzwerke, die er u. a. dazu nutzte, weiteres orientalistisches Fachwissen zu erwerben, um seine aus Konstantinopel mitgeführten Materialien sachgerecht zu ordnen und zu bewerten. Schon früh nach seiner Rückkehr plant er, den Europäern die orientalische Literatur und Denkungsart durch Editionen und Übersetzungen von Originalquellen aus seiner Sammlung näher zu bringen. Doch erst etwa 20 Jahre nach seiner Rückkehr wendet sich Diez erneut mit Publikationen an die Öffentlichkeit. Die schon während der Zeit in Konstantinopel eingestellte Tätigkeit als Publizist wird also erst ab 1809 wieder aufgenommen: Vor allem mit seinen Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, die ab 1811 bis kurz vor seinem Tode erschienen,31 erreichte Diez noch einmal die interessierte Öffentlichkeit. Auch Goethe war auf den privatgelehrten Orientkenner aufmerksam geworden und ließ sich von ihm für seine Arbeit am West-östlichen Divan unterrichten.32 1814 wird Diez aufgrund dieser öffentlich sichtbaren Kenntnis des Orients in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, eine für einen Privatgelehrten ungewöhnliche Auszeichnung – zumal Diez seinem seit frühester Jugend wirksamen polemischen Talent in einer öffentlich ausgetragenen Kontroverse mit dem schon damals berühmten Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall freien Lauf gelassen hatte.33 In den letzten Lebensmonaten lebte bei ihm als Privatsekretär der TheologieStudent August Tholuck (1799–1877), der später ein bekannter Alttestamentler werden sollte. Vermutlich half er Diez auch bei seiner Arbeit an der osmanischen Bi|| 30 Vgl. die Schilderungen ebd., S. 93. 31 Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften. 2 Bde. Berlin 1811–1815. 32 Vgl. hierzu Katharina Mommsen: Goethe und Diez. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-Epoche. Berlin 1961, 21995 sowie den Beitrag von Hendrik Birus in diesem Band. 33 Vgl. hierzu Heinrich Friedrich von Diez: Unfug und Betrug in der morgenländischen Literatur: nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften. Halle a. d. S., Berlin 1815.

Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) | 11

beledition, die Diez seit 1814 beschäftigte und die er nicht mehr zum Abschluss bringen konnte. Am 7. April 1817 stirbt Heinrich Friedrich von Diez und hinterlässt seine umfangreichen Sammlungen an Büchern, Handschriften und Artefakten dem preußischen Staat. Dass mit Diez eine jener Persönlichkeiten starb, die sich selbst an dem oben skizzierten Individualitätsverständnis der Spätaufklärung ausbildeten bzw. von ihm prägen ließen, dokumentiert ein kurzer Auszug aus einer Beschreibung des diezschen Charakters auf der Grundlage eines Briefes seines Freundes Christan Dohm; im 6. Band von Johann Heinrich Zinkeisens Geschichte des osmanischen Reiches, 1859 veröffentlicht und also noch in ›Sichtweite‹ der diezschen Persönlichkeit, heißt es über ihn: Es ist nicht ohne Interesse, hier an die Charakteristik zu erinnern, welche der durch seine ›Denkwürdigkeiten‹ berühmt gewordene Geheimerath von Dohm, damals im auswärtigen Departement thätig, in einem Empfehlungsschreiben an den Grafen von Finckenstein, das uns gleichfalls im Originale vorliegt, von diesen später in der orientalischen Diplomatie und Wissenschaft bedeutend hervortretenden Manne entworfen hat. Er erklärt Diez für »einen Mann von ausgezeichneten und sehr großen Talenten, einem außerordentlichen Fleiße und Kenntnissen von sehr weitem Umfange, der jedem Posten Ehre machen werde.« Doch traue er ihm nicht die erforderlichen Kenntnissen der französischen und italienischen Sprache zu; auch habe er sich in Magdeburg wenig Freunde zu erwerben gewußt, »welches wenigstens zum Theil Eigenschaften bei ihm vermuthen macht, die nicht ganz zu der Stelle passen, die er zu erhalten wünscht.« »Ich muß auch gestehen«, fügt dann Dohm gleich hinzu, »daß, wenn Herr Diez mich um Rath gefragt hätte, ich ihm, wie ich ihn und die Stelle in Constantinopel kenne, die Bewerbung um dieselbe nicht gerathen haben würde.« Schließlich gibt er ihm aber doch nochmals das Zeugniß, »daß derselbe als ein wirklich superiorer Kopf alle übrigen Schwierigkeiten überwinden und wahrscheinlich dem Staate nützliche Dienste leisten werde.« Zugleich sei er durch ein sehr vortheilhaftes Aeußere begünstigt, und wenn er auch in Religionssachen etwas freisinnig denke, so könne man doch nicht bezweifeln, daß er ein vollkommen rechtschaffener und edel denkender Mann sei.34

Natürlich sind das klug inszenierte Sätze des Freundes zum Zweck der Protektion für die Stelle in Konstantinopel; und doch zeigen sie viele der Eigentümlichkeiten dieser sich als Genie wahrnehmenden und gerierenden Persönlichkeit.

3 Rezeptionsgeschichte und Forschungsstand Diez geriet nach seinem Tod zunächst weitgehend in Vergessenheit, seine späten orientalistischen Veröffentlichungen fanden nicht die gewünschte Verbreitung. Natürlich hat sein vergleichsweise kurzes Wirken als Diplomat in Konstantinopel

|| 34 Johann Wilhelm Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reichs in Europa. 7 Bde. Hamburg, Gotha 1840–1863, Bd. 6, S. 470f.

12 | Christoph Rauch, Gideon Stiening einen festen Platz in der Geschichtsschreibung der preußisch-osmanischen Beziehungen.35 Aber erst die Goethe-Forschung des 20. Jahrhunderts wurde auf den Gelehrten Diez wieder aufmerksam. Es ist in gewisser Weise bezeichnend, dass der Aufsatz von Franz Babinger im Goethe-Jahrbuch 1913 sowie Curt Balckes Überblick über sein Vermächtnis an der Staatsbibliothek von 1928 in der Literatur über lange Zeit, wenn nicht bis heute, als maßgebliche Quelle zu Leben und Wirken von Diez herangezogen wurden.36 Die umfassende Arbeit von Katharina Mommsen zu Diez’ Einfluss auf die Entstehung des West-östlichen Divan (1961) ist bis heute das Standardwerk auf diesem Gebiet. Der Aufsatz von Bernd G. Ulbrich (1996) förderte zahlreiche neue biographische Details zu Tage. Schließlich rückte die Neuedition der frühen Schriften durch Manfred Voigts von 2010 den jungen Publizisten Diez in das Bewusstsein der Aufklärungsforschung und schuf die Grundlage für eine breitere Rezeption seiner verstreut veröffentlichten Texte. Eine kritische Würdigung seines Beitrags für die Orientalistik jenseits der Divan-Forschung ist bisher kaum erfolgt. Babinger attestierte Diez bereits, »daß er die morgenländische Wissenschaft […] volkstümlich zu machen sich bemühte; um die Orientalistik als Fachwissenschaft zu fördern, fehlte ihm das gelehrte Rüstzeug«.37 In den jüngeren Darstellungen zur Geschichte der Orientalistik, etwa von Suzanne L. Marchand oder Ursula Wokoeck (beide 2009),38 wird Diez nicht genannt. Sabine Mangold hingegen geht auf den Konflikt zwischen Diez und Hammer ausführlich ein und bewertet ihn als Begleitphänomen der Professionalisierung und Ausdifferenzierung der Orientalistik und ihrer Abgrenzung zum Dilettantismus.39 Als »Entdecker« der oġusischen Volkserzählungen, dem Buch von Dede Korkut, ist sein Name in der Turkologie nie ganz in Vergessenheit geraten. Anlässlich des 200. Jahrestages der Veröffentlichung von Der neuentdeckte oghuzische Cyklop verglichen mit dem Homerischen erschien in Baku eine 25-bändige Neuausgabe mit Übersetzungen in 24 Sprachen, darunter Chinesisch, Hindi und Japanisch.40 In ihrer Dissertation (2015) stützt Lela Gibson die These, dass Deutsche während ihres Aufenthaltes im Osmanischen Reich islamisch-mystisches Gedankengut aufnahmen

|| 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. Babinger: Berater Goethes (s. Anm. 10); Curt Balcke: Heinrich Friedrich von Diez und sein Vermächtnis in der Preußischen Staatsbibliothek. In: Von Büchern und Bibliotheken. Hg. von Gustav Abb. Berlin 1928, S. 187–200. 37 Babinger: Berater Goethes (s. Anm. 10), S. 99. 38 Vgl. Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. Washington 2009 sowie Ursula Wokoeck: German Orientalism. The study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945. London 2009. 39 Sabine Mangold: Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 48–51. 40 »Kitabi-Dädä Qorqud« vä Henrix Fridrix fon Dits. 25 Bde. Baku 2015.

Zur Einführung: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) | 13

und damit die intellektuellen Strömungen im 19. Jahrhundert nachhaltig beeinflussten, zu großen Teilen auf eine intellektuelle Biographie von Diez. Die ›Bibliothek Diez‹ stellt eine der bedeutendsten Gelehrtenbibliotheken seiner Zeit dar, mit der ein großer Teil seines Nachruhms verbunden ist. Sie ist bisher in ihrer Gesamtheit kaum Gegenstand der buchgeschichtlichen Forschung gewesen.41 Die abendländischen Handschriften der Sammlung wurden von Ursula Winter umfassend erschlossen. Die orientalischen Handschriften, die fast ausnahmslos in den großen Katalogen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfasst wurden, werden aufgrund der zunehmenden Beschäftigung mit den sogenannten Diez-Alben stärker als Sammlung betrachtet.42

4 Aufbau und Beiträge des Bandes Leben und Werk Heinrich Friedrich von Diezʼ sind somit in unterschiedlichem Maße, insgesamt aber noch ausnehmend lückenhaft erforscht worden. Die Herausgeber haben sich bemüht, Beiträge für aussagekräftige Aspekte aller drei Lebensphasen des Magdeburger Radikalaufklärers und späteren protestantischen Orthodoxen zu gewinnen. Lela Gibson hat sich schon in ihrer Dissertation zu orientalischen Einflüssen auf die deutsche Politik zwischen 1770 und 1825 eingehend mit Diez beschäftigt. In dessen philosophischem Skeptizismus erkennt sie in ihrem grundlegenden Beitrag ein Kontinuum, das sich trotz äußerlich radikal erscheinender Umbrüche durch sein ganzes Leben zieht. In der nach langer Unterbrechung erst 1809 wiederaufgenommenen Publikationstätigkeit sieht Gibson eine Reaktion auf die preußischen politischen und militärischen Reformen der Napoleonischen Zeit. Der zweite Abschnitt des Bandes Der frühe Diez als Radikalaufklärer und Freidenker wird von Beiträgen gestaltet, die sich mit den frühen Texten Diezens beschäftigen. Manfred Voigts eröffnet diese noch immer seltene Perspektive mit einer Betrachtung der diezschen Thesen und Theorien zu Fragen der Sprachordnung und Sprachentwicklung, insbesondere der deutschen Sprache. Schon hier zeigt sich Diez auf der Höhe der Zeit, die intensive Debatten über Stellung und Geschichte der deutschen Sprache im europäischen Kontext führte. Kay Zenker wendet anschließend den Blick auf Diezens Texte zu Fragen der Zensur bzw. der Pressefreiheit. Zenker arbeitet minutiös heraus, dass Diez seine politische Apologie der Freidenkerei || 41 Einen guten Überblick bietet nach wie vor Ursula Winter: Die Bibliothek Diez in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 53 (1974), S. 10– 29. 42 Vgl. hierzu Julia Gonnella, Friederike Weis u. Christoph Rauch (Hg.): The Diez Albums. Contexts and Contents. Leiden, Boston 2016.

14 | Christoph Rauch, Gideon Stiening und der Freiheit von der Zensur mit genuin philosophischen Argumenten ausführt. Wolf Christoph Seiferts Ausführungen über Diezens Texte zur Emanzipation der Juden, die er in solidarischer Kritik an der Schrift seines Freundes Christian Konrad Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden verfasst, schließt hieran an. Denn Diezens Verschärfung der noch weitgehend moderaten Vorschläge Dohms basiert auf einer philosophischen Kritik an der politischen Rolle positiver Religionen. Arne Klawitter kann auf der Grundlage umfangreicher Recherchen mit der Entdeckung neuer Texte Diezens aufwarten, die dieser anonym veröffentlicht hatte, nunmehr aber als seine Werke ausgewiesen werden können. Diez zeigt sich schon in diesen frühen Rezensionen als radikaler Aufklärer. Gideon Stiening beschließt diese Sektion mit einer Interpretation der praktischen Anthropologie, die Diez in seinen frühen Texten entwickelte. Hierbei zeigt sich, dass der Magdeburger Verwaltungspolitiker einen Geniebegriff entwarf, der Affinitäten zum Sturm und Drang aufweist. Der folgende Abschnitt Die besten Jahre: Diez als Diplomat in Istanbul nimmt eine einschneidende Lebensphase in den Blick, über die bislang am wenigsten bekannt war. Martin Mulsow und Anne-Simone Rous entschlüsseln erstmals teilweise chiffrierte Briefe, die Diez aus Konstantinopel an seinen Freund Dohm schickte. Am Beispiel der Entlassung des Vorgängers Gaffrons aus dem diplomatischen Dienst und Diez’ Rolle dabei machen sie deutlich, wie dadurch die bisher bekannten offiziellen und halboffiziellen Berichte um eine persönliche Perspektive bereichert werden. Es werden zudem die komplexen Methoden zum Verschlüsseln der Briefe und Strategien zu ihrer Dechiffrierung vorgestellt. Christoph Rauch stellt die Briefe an den Rostocker Orientalisten Tychsen vor und erörtert, was man aus diesen über Diez’ Aufenthalt in Konstantinopel erfahren kann, seinen Alltag, seine Einsichten und Sammeltätigkeit betreffend. Der Beitrag diskutiert auch Diez’ Haltung zum Islam. Es wird deutlich, dass Diez vor allem dann an der islamischen Religion interessiert war, wenn es dem besseren Verständnis der gegenwärtigen osmanischen Gesellschaft diente. Henning Sievert untersucht die in Diez’ Bibliothek erhaltene Korrespondenz in osmanischer Sprache. Dabei gibt der Autor nicht nur Auskunft über die Korrespondenzpartner und Inhalte der Briefe, sondern zieht auch Rückschlüsse auf die Besonderheiten und Schwierigkeiten des interkulturellen Austauschs, wie auch auf die Methoden des Türkisch-Lernens in dieser Epoche. Der vierte Abschnitt Der Orientkenner: Diez’ späte Jahre thematisiert insbesondere die Wirkung, die seine orientalistischen Veröffentlichungen bereits zu Lebzeiten auslösten. Ausgehend von der ungewöhnlich scharfen und umfangreichen Polemik gegen den Wiener Orientalisten Hammer-Purgstall unternimmt Klaus Kreiser eine Einordnung von Diez’ osmanistischem Werk bzw. seiner philologischen Fähigkeiten vor dem Hintergrund der sich damals ausdifferenzierenden orientalistischen Fächer, der Herausbildung von Fachzeitschriften und akademischen orientalistischen Netzwerken in Europa. Jaqueline Jüling dokumentiert anschließend das enge Verhältnis zwischen Diez und seinem Schüler August Tholuck, wobei hier religionsund kulturpolitische Fragen im Zentrum stehen. Im Beitrag von Semih Tezcan wird

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thematisiert, wie Diez an bestimmte Handschriften gelangte. Am Beispiel der oġusischen Volkserzählungen wirft er die Frage auf, ob europäische Orientalisten durch Bestellung bestimmter Abschriften und – im konkreten Falle von Diez – durch eigene Kopiertätigkeit in den Überlieferungsprozess dieser eher oralen Traditionen zugehörigen Literatur eingegriffen haben. Der fünfte Abschnitt Der Sammler Diez nimmt seine bedeutende Bibliothek in den Blick, der ein wesentlicher Anteil an seinem Nachruhm zukommt. Katrin Böhme stellt in ihrem Beitrag die mit 24.800 Drucken in 15.500 Bänden äußerst umfangreiche Druckschriftensammlung der ›Bibliothek Diez‹ vor und beschreibt die von ihrem einstigen Besitzer angelegten Kataloge. In der von Diez erstellten Systematik erkennt Böhme eine teleologische Wissenschaftsauffassung. Die ›Bibliothek Diez‹ vermittelt auch in ihrer inhaltlichen Breite einen Eindruck von den vielseitigen Interessen ihres Besitzers. Dies wird nicht zuletzt von Ursula Winter verdeutlicht, die die Sammlung abendländischer Handschriften vorstellt. Elisabeth Fraser untersucht die Provenienz eines osmanischen Kostümalbums im British Museum, dessen Vorbesitzer Diez gewesen sein soll. Während Zweifel an der Provenienz nicht völlig ausgeräumt werden können, stellt eine kodikologische Analyse von Papier und Einband eine recht eindeutige Verbindung nach Berlin her. Der Band wird abgeschlossen durch Hendrik Birusʼ innovative Studie über das Verhältnis Johann Wolfgang von Goethes zu Diez als Dilettanten und Polemiker. Birus dokumentiert präzise die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Einflusses des Orientkenners Diez auf den Dichter des Divans. Mit großer Betroffenheit haben wir die Nachricht vom Tode zweier Tagungsteilnehmer entgegennehmen müssen: Völlig überraschend starb Semih Tezcan nur wenige Tage nach dem Symposium im September 2017. Manfred Voigts erlag im September 2019 einer langen und schweren Krankheit. Beide Wissenschaftler haben bedeutende Beiträge zur Forschung geleistet, auf die Herausgeber und Autoren des Bandes mit Dankbarkeit zurückblicken. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im September 2017 an der Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz stattfand. Ihrer Generaldirektorin Frau Barbara Schneider-Kempf sei an dieser Stelle für die wohlwollende Unterstützung des Vorhabens aufrichtig gedankt. Für die wertvolle praktische und administrative Hilfe vor, während und nach der Tagung sei an dieser Stelle Frau Joanna Matsukas und Frau Kristina Münchow ganz herzlich gedankt. Die Tagung hätte ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung nicht zustande kommen können. Dafür gilt ihr unser Dank. Zu danken ist darüber hinaus Dr. Oliver Bach (München), der sich mit Geduld und Umsicht des Typoskripts angenommen hat. Schließlich gilt ein besonderer Dank dem Verlag Walter de Gruyter, der sich für unseren Sammelband zu Heinrich Friedrich von Diez mit großem Engagement einsetzte.

| 1 Grundlegungen: Zur Forschung über Heinrich Friedrich von Diez

Lela Gibson

Heinrich Friedrich von Diez: New Perspectives Two hundred years after his death, Heinrich Friedrich von Diez is remembered for his contributions to the Enlightenment, Prussian diplomacy, and German orientalism. Based largely on the rich treasury of his documents housed at the Staatsbibliothek zu Berlin, scholars have been able to reconstruct much of Diez’s biography.1 However, some questions remain about his later years, in which his conservatism appears to stand in stark contrast to the freethinking days of his youth. This paper examines Diez’s life in three main periods – his youth, time in Istanbul, and later years – with a focus on his later thought to show that the basis of his ideas remained rooted in questions of the law and skepticism, although his perspective changed as he aged. That is, his views throughout his life can be seen as various aspects of a coherent system of philosophical thought rather than a series of radical disjunctures.

1 Diez’s Early Years, 1769–1784 On April 22, 1769, an eighteen-year-old boy named Heinrich Diez matriculated into law studies at the Friedrichs-Universität (now Martin-Luther-Universität HalleWittenberg) in Halle.2 He left his family in Magdeburg, where his father Christian was a textile merchant. The university in Halle was a major center of the German Enlightenment, and Diez’s studies prepared him for his later involvement in Enlightenment debates, which eventually brought him to the attention of the Prussian king Frederick the Great, who appointed him the chargé dʼaffaires to the Ottoman Empire in 1784. During this time period, Diez became involved with the German Enlightenment, publishing a number of texts, which are now collected in a volume by Manfred Voigts entitled Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften (1772–1784).3 The focus of many of Diez’s early texts is on moral philosophy. Diez began his publications during his third year of study in Halle. These early writings now show Diez’s interest in moral philosophy, particularly natural law. Trained in the study of law, it appears that Diez often viewed the world through the prism of law. For example, he argued in the 1772 pamphlet Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt || 1 See, for example, Ursula Winter: Die europäischen Handschriften der Bibliothek Diez: Teil 1. Die Manuscripta Dieziana B Santeniana. Leipzig 1986, pp. 3–7 and Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften (1772–1784). Ed. by Manfred Voigts. Würzburg 2010, pp. 457–540. 2 Archiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Rep. 46, Nr. 5. 3 Diez: Frühe Schriften (s. note 1).

https://doi.org/10.1515/9783110647662-003

20 | Lela Gibson that »the essence of all religions consists of the rules of a sound natural law; these were created from the nature of God and the moral nature of Man«.4 This puts Diez’s thought in line with the Enlightenment interest in natural law. Diez also cultivated relationships with members of what now can be considered the »radical Enlightenment«.5 Shortly after his graduation from Halle 1773, Diez traveled to Halberstadt, where he met with Ludwig Unzer and other Enlightenment thinkers. Diez and Unzer most likely visited Ludwig Gleim (1719–1803) and the circle of young poets around him called the Halberstädter Dichterkreis. Diez reportedly developed a »frequent correspondence« with Gleim; however, the majority of these letters no longer remain.6 Gleim was also in touch with a number of Diez’s other correspondents, including Unzer.7 Around the same time, Diez also developed a friendship with the Enlightenment thinker Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751–1820), who was also a close friend of Gleim.8 As Diez’s involvement with these two major figures of the German Enlightenment grew, so did his interest in the political implications of moral philosophy. After his publications on moral philosophy, Diez took a five-year break from publishing before becoming directly involved in some of the main political debates of the German Enlightenment. During these years, Diez also worked at the Prussian judiciary in Magdeburg (Provinzial Justizcollegium) and was eventually Chancellery Director (Kanzleidirektor).9 His 1781 work, Apologie zur Duldung und Pressfreiheit, argued that freethinking should be protected by the state through freedom of religion and the press. Jonathan Israel described Diez’s work as »the first major plea for comprehensive freedom of thought and press in central Europe«.10 Diez supported press freedom due to his support of Pyrrhonian skepticism, which held that »there was insufficient and inadequate evidence to determine if any knowledge was possible, and hence one ought to suspend judgment on all questions concerning knowledge«.11 Pyrrhonian skepticism was introduced to the German-speaking world || 4 »[D]as Wesentliche aller Religionen bestehet in den Vorschriften eines gesunden Naturrechts; diese werden aus der Natur GOttes und aus der moralischen Natur des Menschen geschöpft.« Diez: Frühe Schriften (s. note 1), p. 19. 5 See Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650– 1750. Oxford 2001. 6 Franz Babinger: Ein orientalistischer Berater Goethes. Heinrich Friedrich von Diez. In: GoetheJahrbuch 34 (1913), pp. 83–100, here p. 85; one of the letters is reprinted on page 87. 7 See Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Slg. Darmstaedter 3a 1760: Unzer, Johann August. Letter dated April 23, 1776. 8 Babinger: Ein orientalistischer Berater Goethes (s. note 6), pp. 86. 9 Ibid., p. 85. 10 Jonathan I. Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750– 1790. Oxford 2011, p. 188. 11 Richard Popkin: The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle. Revised and Expanded Edition. Oxford 2003, p. xvii.

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through a German translation of David Hume’s (1711–1776) Treatise of Human Nature, first published in German in 1755, and it became an important philosophical standpoint before Kant’s publication of The Critique of Pure Reason in 1781, one of whose main goal was to directly address Hume’s skepticism.12 Skepticism formed the basis of Diez’s thought not only in his early years but in his later ones as well.

2 Diez in Istanbul, 1784–1790 Diez’s participation in Enlightenment debates and this development of a network of connections led to a diplomatic appointment in Istanbul. Dohm, who by this time worked in the Prussian Foreign Ministry, alerted Diez that a position in Istanbul was becoming available and arranged an audience with Frederick the Great for him in 1784, who gave him the job. Diez departed to Istanbul later that year, where he learned Turkish. Diez’s diplomatic activities in Istanbul are documented in an article by D.S. Margoliouth, and many of his diplomatic reports remain in the Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz.13

3 Diez’s Later Years, 1790–1817 In September 1790, by then almost forty years old, Diez arrived in Berlin from Istanbul. His diplomatic service continued in Berlin for another year as he assisted with the Ottoman embassy of Ahmed Azmi Efendi (d. 1821), who resided in Berlin for thirteen months as the result of the Prussian-Ottoman Alliance Treaty negotiated by Diez, in 1791. Diez arranged diplomatic receptions, accompanied the embassy to visits throughout the city, and hosted the diplomatic entourage for lunch at his private residence.14 Later that year, Diez moved to an estate in Philippsthal, near Potsdam, although he acquired a sinecure at the Kolberg Cathedral (Kolberger Dom) (now Kołobrzeg, Poland), in a small town of 4,000 located on the Baltic Sea, shortly

|| 12 For the reception of Hume in the German-speaking world, and his influence on Kant, see Manfred Kuehn: Kant’s Conception of »Hume’s Problem«. In: Journal of the History of Philosophy 21 (1983), pp. 175–193 and Paul Guyer: Knowledge, Reason, and Taste. Kant’s Response to Hume. Princeton 2008. 13 David Samuel Margoliouth: Turkish Diplomacy in the Eighteenth Century. In: The Muslim World 7 (1917), pp. 36–54. 14 For Diez’s involvement with the embassy, see Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen Feb. 15, 1791; Feb. 17, 1791; Feb. 22, 1791; Feb. 24, 1791; March 5, 1791; March 15, 1791; March 29, 1791, and Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I HA Rep 11 10555.

22 | Lela Gibson thereafter. He began his translation work there, which he continued after he moved to Berlin in 1807 after the Napoleonic invasion of Kolberg. In Berlin, Diez purchased a villa outside of the city in a park near the Spree River in the Stralauer Viertel. He was now at the center of political debates about the future. Diez invited many of Berlin’s notable thinkers to daily lunches at his house, which had rooms decorated in various styles, including a Chinese room, a Persian room, and a Turkish room.15 The lunches were held in the Turkish room according to diplomatic standards.16 Guests included philologist Friedrich August Wolf (1759– 1824) and Alexander von Humboldt (1769–1859).17 During these years, Diez engaged with two main topics of his youth, Pyrrhonian skepticism and natural law, albeit from a different perspective. First, throughout his life, Diez remained committed to the ideas of Renaissance philosopher Michel de Montaigne (1533–1592), who reintroduced Pyrrhonian skepticism, or the notion that any certain knowledge is impossible to achieve, to the West. Pyrrhonian skepticism led Diez to support freedom of speech in his youth and became a foundation of his religious faith in his later years, similar to the Catholic Montaigne’s own fideistic views. Whereas in his youth, skepticism meant trying to reach knowledge through the cultivation of morality, in his later years, skepticism led him to embrace revelation (doubting the other forms of knowledge based in human cognition). He also became interested in Montaigne’s notion of moral development through »self-knowledge« (Selbsterkenntnis). Although he drew diverse conclusions from Montaigne’s philosophy throughout his life, Montaigne’s work remained a constant foundation of Diez’s thought. Second, Diez’s commitment to moral philosophy also remained steadfast, although the basis changed. In his youth, he argued that the source of morality is natural law (Naturrecht). After his residence in Istanbul, Diez began to see the Bible as the basis of moral law. This would not contradict the position of his youth if he come to view the Bible as a source of natural law. Eventually, he would work on a translation of the Bible into Ottoman Turkish, a project that he did not live to complete.18 Despite Diez’s turn towards the Bible, he remained an anomaly amongst other Christians in Prussia. In his writings, he barely ever mentioned the Church and had an almost singular focus on the Bible itself. He continued to write against the new rationalist theologians (Neologs), who he believed were destroying Christianity. Diez’s emphasis on Montaigne’s skepticism departed from the traditional Lutheran || 15 Leopold Witte: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s. Bd. 1. Leipzig 1884, p. 55. 16 Ibid. 17 Kurt Balcke: Neues über »Goethes orientalischen Berater« Heinrich Friedrich von Diez. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 84 (1930), pp. 74–77, here p. 76. 18 More information about this project can be found in the Cambridge Bible Society Archives at the Cambridge University Library.

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emphasis on faith alone (sole fide) as the basis of justification. However, Diez’s approach to the Bible as a source of revelation and direct religious knowledge (rather than theology, even that of his day) was almost an extreme version of the Lutheran concept of sola scriptura, the belief that »only Sacred Scripture can establish articles of faith; all theology is to be drawn from the written Word of God alone«.19 This describes Diez’s dismissal of rationalism and a lack of mention of the Church, or even orthodox Lutheran theologians such as Johann Gerhard (1582–1637). He viewed the Bible as a source of law, which also contradicted contemporary antinomian tendencies in Lutheranism. In short, Diez apparently did not support any theologians of his time although he did attend the Prussian Domkirche, which was under the patronage of the Prussian royal court. Furthermore, a major part of the later Protestant »Awakening«, which began towards the end of Diez’s life, is a focus on Jesus as a redeemer. In contrast, Diez does not mention Jesus in his works and instead almost exclusively focuses on the Old Testament. Instead of salvation through faith, which Diez never mentions, his writings are primarily concerned with the cultivation of morality in this world through religious law and self-knowledge. This puts his thought squarely with classical philosophy rather than the Christianity of his era. Diez’s changing outlook could be explained by the turn towards conservatism in the Prussian court after the death of Frederick the Great in 1786. Frederick’s successor, Frederick William II (r. 1786–1797) instituted reforms to diminish the influence of neologism. For example, the Edict on Religion of 1788 sought to decrease the influence of Christian rationalism by forbidding any preaching or education outside of Lutheran orthodoxy.20 This attack on the Enlightenment and promotion of a restyled orthodox Christianity fit almost precisely with Diez’s views during this period. Frederick William’s II successors, Frederick William III and Frederick William IV, also instituted policies to reinvigorate the Church from a conservative religious standpoint. In what became known as the Protestant »Awakening« they sought to reform Church structures and revitalize Christianity in Prussia. Under Frederick III, the Calvinist (Reformed) Churches and Lutheran Churches merged into the Prussian Union of Churches in 1817. Diez opposed Frederickʼs III reforms, since he viewed them as part of a ›new‹ system straying away from a foundation in the Bible. Frederick’s III son, Frederick William IV, while he was still the crown prince, was a guest at Diez’s house. He later dabbled in orientalism, suggesting at least a tentative link between Diez and the Prussian court after Diez’s return to Berlin. Also known as the Romantic king, Frederick IV envisioned a mystical Christianity, or

|| 19 Robert D. Preus: The Theology of Post-Reformation Lutheranism. A Study of Theological Prolegomena. Vol. 1. St. Louis 1970, p. 256. 20 See Michael Sauter: Visions of the Enlightenment. The Edict on Religion of 1788 and the Politics of the Public Sphere in Eighteenth-Century Prussia. Leiden, Boston 2009.

24 | Lela Gibson »neo-Pietism«, that drew inspiration from the Middle Ages. Diez was certainly part of the intellectual milieu that tried to influence the crown prince before his accession to the throne and Diez’s own thought fits with the changing views of the court. Diez remained loyal to those views in the midst of others who sought modernization of the state. Prussian reformers Karl Freiherr vom Stein (1757–1831) and Karl August Fürst von Hardenberg (1750–1822) initiated a series of military, administrative and educational reforms in 1807 aimed at strengthening the Prussian state in the wake of defeat in the Napoleonic Wars. The reforms, among other things, abolished serfdom, reformed education, and opened the civil service to all classes. They set the stage for the modern Prussian state in which citizens eventually had equal rights and access to mass education. Diez, who was a dedicated monarchist and supported the feudal system, viewed these reforms as introducing new elements into society that were not based on divine law. In reaction to these reforms, Diez began to publish his translations of the manuscripts he collected in Istanbul. Diez originally translated the Ottoman works into German for his own self-study. However, the Napoleonic Wars and subsequent Prussian reforms strengthened Diez’s idea that the Prussian state was headed in the wrong direction. He decided to publish his translations, using them to express his political vision of the future rooted in religious renewal. He published all of his work at his own expense and gave the proceeds to the Berlin Cathedral’s charity (Almosenkasse beim Dom zu Berlin). His explanation for deciding to publish his translations is as follows: I decided for myself long ago to let the ripe fruits of my labor rest until after my death, since completely different motivations other than fame and fortune motivated my work. However, unexpected times have interfered, making it no longer advisable to trust my wishes to an uncertain future after death.21

Diez’s first critique of Prussian reforms can be found in a translation he published in the orientalist journal Fundgruben des Orients 1809 entitled Ermahnung an Islambol. This poem also started a feud with a fellow orientalist and former diplomat to the Ottoman Empire, Joseph von Hammer (1774–1856), who was the editor of the journal.22 In the poem, the author accused the Ottoman government of abandoning reli|| 21 »Ich für meine Person war lange entschlossen, die gereiften Früchte meiner Musse bis nach meinem Tode ruhen zu lassen, indem mich ganz andere Triebfedern als Ruhm und Gewinn bey der Arbeit beseelt haben. Es sind aber unvermuthet Zeiten eingebrochen, welche es nicht räthlich mehr finden lassen, meine Wünsche einer unsichern Zukunft nach dem Tode anzuvertrauen.« Heinrich Friedrich von Diez: Über Inhalt und Vortrag, Entstehung, und Schicksale des königlichen Buchs, eines Werks von der Regierungskunst als Ankündigung einer Uebersetzung nebst Probe aus dem Türkisch-Persisch-Arabischen des Waassi Aly Dschelebi. Berlin 1811, p. 4f. 22 For an overview of the feud, see Katharina Mommsen: Goethe und Diez. Frankfurt a. M. 1995, pp. 8–24 and Klaus Kreiserʼs contribution to this volume.

Heinrich Friedrich von Diez: New Perspectives | 25

gious law and pursuing worldly ends. Diez’s translation of it could be read as a critique of Prussian legal reforms that began two years before its publication. Diez lashed out at the reforms explicitly in an 164-page introduction to his translation of the Ottoman Humayunname, which he titled the Königliche Buch, in 1811.23 For example, Diez dismissed all reforms that are not based on the Ten Commandments and old Lutheran catechism as »useless«.24 He also wrote: […] in many countries, people stopped holding such laws in high esteem long ago, since they ceased making the religion of the Old and New Testament as the first and fundamental Godgiven law the unconditional basis of all administration. They even separated it from the state and, at the same time, betrayed it as an object of idle speculation and the human arbitrariness of anyone’s ideas, whereas God did not leave his commandments for the review and critique of humans, rather he ordered them only for the observation and obedience of them, prince and subject alike.25

For Diez, the »basis of all administration« should be Biblical rather than secular law. In a complete turnaround from his early work, Diez critiqued the new laws for separating Church and state. In Diez’s view, the Bible is first and foremost a book of law that must be obeyed, which means it should also be the basis of any type of state administration. Biblical criticism, he argues, is nothing more than »idle speculation« and »arbitrariness of anyone’s ideas«, which misses the main point of the Bible as a code of law rather than something for »review and critique«. This is an attack on the Neologs, who tried to reconcile the Bible with reason and an historical perspective. In addition to the question of law, Diez’s later work also retains his earlier interest in Greek skepticism. In the introduction to the Buch des Kabus, for example, Diez wrote that every man of learning places less weight upon knowledge as he ages until he eventually realizes that he does not know anything at all.26 Diez noted the ancient Greek philosopher Xenophanes (570–475 BC) was »the first to say that only God knows the truth and humans can only have opinions«.27 Diez’s concept of moral philosophy was rooted in the necessity to know oneself in order to reach knowledge || 23 Diez: Über Inhalt und Vortrag (s. note 21). 24 Ibid., p. 31. 25 »[I]n mehrern Ländern schon lange nicht mehr an solche Gesetze der ersten Nothwendigkeit gedacht, seitdem man aufgehört hat, die Religion des alten und neuen Bundes als die von Gott geoffenbarte erste und wesentliche Gesetzgebung zur unbedingten Grundlage aller Verwaltung zu machen. Man hat sie sogar vom Staate geschieden und gleichsam als einen Gegenstand müssiger Speculation und menschlicher Willkühr Jedermanns Einfällen Preis gegeben, während dass Gott seine Gebote nicht der Beurtheilung und Kritik der Menschen überlassen, sondern sie ihnen, Fürsten wie Unterthanen, nur zur Befolgung und Gehorsamung vorgeschrieben hat.« Ibid., p. 30f. 26 Heinrich Friedrich von Diez: Buch des Kabus oder Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach. Berlin 1811, p. 251. 27 Ibid., p. 238.

26 | Lela Gibson of God. In a page-long footnote, Diez described the concept of self-knowledge, as »one of the greatest truths that can be spoken and also one of the basic truths of real Christianity«.28 This represents a development of his views on skepticism. Indeed, Diez’s manuscripts left a little-known contribution to Christian theology. On the morning of January 12, 1817, an eighteen-year-old boy named August Tholuck (1799–1877) knocked on his door. He had travelled almost four hundred kilometers northwest from his hometown of Breslau (now Wrocław, Poland) after reading Diez’s work and becoming »enthusiastic« about Diez’s religious views.29 Diez allowed Tholuck to move in with him that day and become his assistant. He used Diez’s manuscript collection to write his dissertation and subsequently wrote some of the major works of modern Biblical exegesis. Only four months after Tholuck moved into Diez’s house, Diez died in Tholuck’s arms on the morning of Easter Monday, April 7, 1817. Two hundred years later, Diez’s life reveals significant connections between orientalism, diplomacy, and Prussian politics. A closer look at his writings also shows a coherent philosophical system underpinning his work, based on the law and skepticism, although his perspectives changed during his lifetime. Although Diez may have wanted to be left alone in posterity – having burnt much of his personal correspondence and having his grave simply marked »Wohltäter der Armen« – the rich sources he bequeathed to the Staatsbibliothek zu Berlin have ensured the opposite.

|| 28 Ibid., p. 286. 29 Witte: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s (s. note 15), p. 53.

| 2 Der frühe Diez als Radikalaufklärer und Freidenker

Manfred Voigts

Der frühe Diez und die deutsche Sprache In den folgenden Ausführungen geht es nur um drei Texte von Diez, und zwar um die Sprachbemerkungen von 1782, um das 1783 erschienenen Buch Über deutsche Sprach- und Schreibart und um die in den Berichten der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten1 im selben Jahr veröffentlichten Selbstanzeige dieses Buches. Da diese Selbstanzeige aber nichts Neues bringt und in großen Teilen aus wörtlichen oder fast wörtlichen Ausschnitten aus dem Buch besteht, sind es eigentlich nur zwei Texte. Die Themen, die Diez hier behandelte, wurden auch von vielen anderen Autoren behandelt, und ohne deren Kenntnis kann man Diez nicht verstehen. Im Folgenden soll ein erster Versuch gemacht werden, die Positionen, die Diez in seinen Sprach-Schriften einnahm, in ihren historischen Zusammenhang zu stellen. Es können hier aber nur einige wenige Punkte angesprochen werden, eine umfassende Würdigung und Beurteilung der beiden Schriften von Diez bedarf einer breiteren und tieferen Bearbeitung. Beginnen wir gleich mit dem ersten Satz der Sprachbemerkungen: »Sprachen haben sehr ungleiche Schicksale.«2 Dieser kurze Satz ist – was man ihm nicht sofort ansieht – eine Replik auf eine Aussage von Friedrich II. 1780 war seine französisch geschriebene Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur erschienen, im selben Jahr noch übersetzte Christian Wilhelm von Dohm die Schrift und man kann wohl davon ausgehen, dass dieser seinen Freund Diez hiervon in Kenntnis gesetzt hat. Der vollständige Titel lautete in dieser Übersetzung: Über die deutsche Literatur; die Mängel, die man ihr vorwerfen kann; die Ursachen derselben und die Mittel, sie zu verbessern. Im dritten Absatz schon legte Friedrich II. dar, dass es einen »natürlichen Gang der Literatur«3 gebe, nach dem sich die Sprachen zu allen Zeiten und in allen Kulturen gleich entwickeln würden. Dem widersprach Diez in dem ›ungleichen Schicksal‹ deutlich, und es ist davon auszugehen, dass er seine eigene Position auch im Widerspruch zu seinem König formuliert hatte. So schrieb der König über das alte Griechenland und das neuere Italien: Die berühmtesten Dichter, Redner und Geschichtsschreiber dieser Länder setzten die Sprache derselben durch ihre Schriften fest. Das Publikum nahm nach einer stillschweigenden Übereinstimmung die Wendungen, Phrasen und Metaphern als die besten und richtigsten an, wel-

|| 1 Alle drei Texte in: Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften (1772–1784). Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010: Sprachbemerkungen, S. 243–252, Über deutsche Sprech- und Schreibart, S. 269– 305, Über deutsche Sprach- und Schreibart. Selbstanzeige, S. 365–374. 2 Diez: Sprachbemerkungen (s. Anm. 1), S. 243. 3 Friedrich II.: Über die deutsche Literatur. In: Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1985, S. 61.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-004

30 | Manfred Voigts che jene großen Künstler in ihren Werken gebraucht hatten. Ihre Ausdrücke wurden nach und nach allgemein ausgebreitet, und die Sprachen wurden durch sie verschönert, veredelt und bereichert.4

Diez war da ganz anderer Meinung und schrieb: Unter der Herrschaft der Künste und Wissenschaften kann es nie fehlen, daß nicht Jeder gewisse Begriffe erlangen sollte, die fruchtbar genug sind, andre zu erzeugen, welche seiner Sprache neue Stufen ansetzen, so ungehaltig sie auch oft scheinen mögen, wenn man sie, wie gewöhnlich, nur obenhin betrachtet.5

Ein Jahr später, in seinem Buch über Sprach- und Schreibart, verdeutlichte er noch einmal: Erst mit Schriftstellern tritt jede Sprache aus ihrer Kindheit. Jeder Nation erste Schriftsteller sind nicht so wohl Leute, die viel gedacht und erfunden, als die viel Wörter und Redensarten sich zugeeignet haben. Ihren Zeitgenossen sind sie freilich im Denken überlegen, weil sie sprachkundiger sind als andere. Aber ihr Denken ist mehr Sache des treuen Gedächtnisses, als des forschenden Geistes, welcher den Zeiten voller Aufklärung vorbehalten bleibt.6

Es ist bemerkenswert, dass Diez in der Beurteilung der ›berühmtesten Dichter‹ ähnlich dachte wie Lessing. In seinem noch heute lesenswerten Vortrag Friedrich der Grosse und die deutsche Literatur von 1874 sagte Daniel Jacoby: »Er [Lessing] hielt nichts von dem oft so viel und hoch gerühmten Einfluss der Grossen auf die Kunst; nicht bloss in seinen Briefen spricht er das wiederholt aus.«7 Diez sah in den Schriftstellern jener frühen Zeit der Sprachentwicklung also etwas völlig anderes als Friedrich II., und er betonte, dass die Geschichte der Sprache sich in voraufklärerischen Zeiten anders vollziehe als in der Aufklärung, er dachte also zumindest in Ansätzen historisch. Konsequent skizzierte Diez die deutsche Sprachentwicklung seit Luther und wies darauf hin, dass er im Gegensatz zur Auffassung Friedrichs davon ausging, dass die Schriftsteller keineswegs immer positiv auf die Sprachentwicklung gewirkt haben. Auch wenn Diez sich hier gegen den Sprachforscher Johann Christoph Adelung wendete, war in der Sache auch der König gemeint. Dieser hatte seine Äußerungen zur deutschen Literatur auf Französisch geschrieben, denn die deutsche Sprache beherrschte er nur unzureichend und bezeichnete sie als »halb barbarische Sprache«.8 Die griechische Sprache war für ihn »die harmonischste von allen«,9 und

|| 4 Friedrich II.: Über die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 62. 5 Diez: Sprachbemerkungen (s. Anm. 1), S. 244. 6 Diez: Über deutsche Sprech- und Schreibart (s. Anm. 1), S. 269. 7 Daniel Jacoby: Friedrich der Grosse und die deutsche Literatur. Basel 1875, S. 37. 8 Friedrich II.: Über die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 62. 9 Ebd., S. 60.

Der frühe Diez und die deutsche Sprache | 31

da für ihn vor allem Vokale dem Ohr schmeicheln, machte er den Vorschlag, an bestimmte Wörter ein a anzuhängen: sagena, gebena oder nehmena solle es heißen.10 Von der deutschen Literatur hatte er herzlich wenig Ahnung, nannte Götz von Berlichingen eine »abscheuliche Nachahmung jener schlechten englischen Stücke«,11 nämlich der Theaterstücke Shakespeares. Dass er dennoch der deutschen Literatur ›schönere Tage‹ voraussagte, lag nicht an der Kenntnis der Literatur, sondern eben an der unhistorischen Annahme, dass jede nationale Literatur einmal solch einen Höhepunkt erreichen müsse. Diez zählte seinerseits 29 Autoren auf, bei denen er zumindest Bruchstücke jenes Schreibstils gefunden habe, den er für gut und richtig halte.12 Ein größerer Widerspruch zu der Auffassung Voltaires, die von Friedrich geteilt wurde, ist kaum zu denken. Dieser meinte in einem Brief aus Potsdam: »Ich bin hier in Frankreich. Man redet nur unsere Sprache. Das Deutsche ist für Soldaten und Pferde.«13 Herder schrieb in seinen Humanitätsbriefen dasselbe – aber in kritischer Absicht: »Mit wem man deutsch sprach, der war ein Knecht, ein Diener.«14 Die Wissenschaftssprache war Latein, die Gesellschaftssprache Französisch. Daniel Jacoby beschrieb dies so: »Von französischen Sprachmeistern wimmelte es, welche hoffähig waren, während der deutsche Dichter den Rang eines Hofkutschers hatte.«15 Deutsch wurde als zu barbarisch angesehen, um es an den entstehenden Gymnasien zu lehren.16 Adolf Mattias, der 1907 ein gewichtiges Werk über den Deutschunterricht veröffentlichte, vermutete sogar, dass die deutsche Sprache oft nur deshalb gelernt wurde, weil sie verboten war und Schillers Räuber nur unter der Hand zur Lektüre weitergegeben wurde. Wir sehen also: Sich mit der deutschen Sprache ernsthaft zu befassen war ein höchst bedenkliches und ein gegen den Adel sowie die Hofkultur gerichtetes Unternehmen. Noch 1798 fragte Joachim Heinrich Campe, der große Pädagoge und Lehrer Wilhelm von Humboldts, in seinem Väterlichen Rat für meine Tochter: »Sollst Du Französisch lernen, um in der großen Welt zu figurieren und mit dem deutschen Adel mitten in Deutschland französisch plaudern zu können?«17 – sie sollte es natürlich nicht. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass Diez, als er sich auf Anraten von Dohms auf die Stelle des preußischen Gesandten an der Hohen Pforte bewarb,

|| 10 Ebd., S. 77. 11 Ebd., S. 82. 12 Vgl. Diez: Deutsche Sprechart (s. Anm. 1), S. 287. 13 Friedrich der Große: Über die deutsche Literatur. Übersetzt und mit Justus Mösers Gegenschrift hg. von Heinrich Simon. Leipzig 1886, S. 60, Anm. 2. 14 Johann Gottfried Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Weimar 1971, S. 296. 15 Jacoby: Friedrich der Grosse (s. Anm. 7), S. 9. 16 Adolf Matthias: Geschichte des deutschen Unterrichts. Erster Band erster Teil. München 1907, S. 98. 17 Helmut König: Vorwort. In: Johann Heinrich Campe: Briefe aus Paris, während der Französischen Revolution geschrieben. Berlin 1961, S. 22.

32 | Manfred Voigts schnell noch sein Französisch aufpolieren musste. Der König war erkältet, und dadurch hatte er drei Tage Zeit, in denen er durch von Dohm in das höfische Französisch soweit eingeführt wurde, dass er gerade so mit dem König sprechen konnte18 – mit dem bekannten Ergebnis, dass er die Stelle bekam, ohne die er die großartige Sammlung von Büchern und Manuskripten nicht hätte zusammenstellen können, die in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Wie diplomatisch und kompliziert damals die Vorbereitung eines Gespräches mit dem König war, berichtete Gottlieb Wilhelm Rabener 1757 in einem Brief an Christian Fürchtegott Gellert. Rabener wollte sich nicht von einem Franzosen, dem Marquis d’Argent, bei Friedrich II. vorstellen lassen. Der Marquis d’Argent soll es also nicht seyn, welcher mich zu den Füssen des Königs legt. Der König ist so gnädig, sich meine Weigerung gefallen zu lassen. Er will (wird das wohl die Nachwelt glauben?) deutsch, deutsch will der große Friedrich mit mir reden.19

In einem Punkt allerdings hatte Friedrich Recht, nämlich in der Feststellung, die deutsche Sprache sei »in so viele verschiedene Dialekte verteilt, als Deutschland Provinzen hat.«20 Gewöhnlich wird Martin Luther als Schöpfer einer einheitlichen deutschen Sprache angesehen, aber dieser tat nur den ersten Schritt, dem viele andere folgen mussten. Diez bezog sich in seinen Sprachbemerkungen auf Johann Christoph Adelung – den Diez hier noch ›Adlung‹ schrieb –, der von 1774 bis 1786 in fünf Bänden ein Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hoch-deutschen Mundart herausgegeben hatte. Der Begriff einer ›hochdeutschen Mundart‹ weist schon auf das Problem hin. Da es kein allgemein anerkanntes Hochdeutsch gab, wählte Adelung die Mundart von Meißen, also die Sprache von Ober-Sachsen, als das maßgebende Deutsch aus.21 Berühmt ist in diesem Zusammenhang jene Stelle in Goethes Faust, in der Gretchen sagt: »Ach neige (sächsisch ausgesprochen: neiche), / Du Schmerzensreiche, / Dein Antlitz gnädig meiner Not!«22 Der Vorschlag Adelungs machte aber wenig Eindruck und so versuchte jede gelehrte Gesellschaft und jedes kritische Wochenblatt, sich durch eine besondere Rechtschreibung von den Konkurrenten abzusetzen.23 Auch viele Schriftsteller nahmen es mit dem Hochdeutschen nicht so genau und schrieben heute so und || 18 Vgl. Wilhelm Gronau: Christian Wilhelm Dohm nach seinem Wollen und Handeln. Lemgo 1824, S. 108f. 19 Brief an Gellert vom 18. Januar 1757. In: Christian Fürchtegott Gellert: Sämtliche Schriften, neue rechtmäßige Ausgabe. Hg. von Julius Ludwig Klee. Leipzig 1839, Teil 8, S. 200f. Zit. nach: Horst Steinmetz: Nachwort. In: Friedrich II. (s. Anm. 3), S. 343, Anm. 20. 20 Friedrich II.: Über die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 62. 21 Matthias: Geschichte des deutschen Unterrichts (s. Anm. 16), S. 108. 22 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Truns u. a. München 1988, Bd. 9, S. 114. 23 Matthias: Geschichte des deutschen Unterrichts (s. Anm. 16), S. 121.

Der frühe Diez und die deutsche Sprache | 33

morgen anders.24 Es war dies eine Zeit, in der noch nicht feststand, ob man das Wort ›Stein‹ ›Schtein‹ aussprechen solle oder ›Stein‹, wie es geschrieben und in Niedersachsen bis heute auch ausgesprochen wurde.25 Auch der Bestand an Wörtern war noch unsicher, deshalb schrieb Adelung sein Wörterbuch – und Diez schrieb seine Ergänzungen, die hier aber nicht näher betrachtet werden können. Die deutsche Sprache war in jenen Jahren noch im Stadium des Entstehens, Daniel Jacoby stellte fest, dass »noch gegen Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts keine überall angenommene deutsche Schriftsprache zu finden war«.26 Adolf Matthias schrieb: »Gegen Ende des Jahrhunderts finden sich also schon allerhand Ansätze zu einem umfassenden Betrieb der deutschen Literatur«27 – aber eben nur Ansätze. Alles, was Diez zur deutschen Sprache schrieb, hat dies zur Voraussetzung, sowohl seine Vorschläge zu neuen Wörtern als auch seine Überlegungen zum Verhältnis von Sprachgebrauch und Grammatik und seine Verbesserungsvorschläge für den Deutschunterricht. Die lange Liste von Wörtern, die er in seinen Sprachbemerkungen vorlegte,28 war der Versuch, unmittelbar in den Sprachbestand einzugreifen, die Erklärungen der neuen Wörter waren daher keine Beschreibungen im normalen Sinne, sondern Definitionen von Fortbildungen bisher schon bekannter und verwendeter Wörter. Eins von ihnen lautete ›Nachgedanken‹, das er definierte als »Gedanken, die aus geprüften Vordersätzen gezogen, die wohl überlegt sind, oder zur Überlegung Gelegenheit geben.«29 Noch im selben Jahr 1782 nutzte er diese Wortschöpfung als Titel seiner Sammlung von knapp formulierten Überlegungen, die in zwei Teilen in den Berichten der Allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten gedruckt wurden.30 Friedrich II. hatte festgestellt, dass nur die berühmtesten Dichter, Redner und Geschichtsschreiber an der Fortbildung der Sprache arbeiten dürften und Diez hatte dem widersprochen: Jeder könne neue Begriffe bilden. Auf welche Fähigkeit aber konnte sich diese Sprach-Fortbildung stützen? Diez behält die Sprachschöpfung »erfindenden Köpfe[n]« vor, die »die Natur [...] von Zeit zu Zeit hervorgehen läßt.«31 Genaueren Aufschluss über die Sprachschöpfung hätte man durch seine Theorie des Denkens und Empfindens erhalten können, die er schon Jahre zuvor begonnen, aber

|| 24 Ebd., S. 130. 25 Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom Sylbenmaße. In: Klopstock’s sämmtliche Werke, Bd. 10. Leipzig 1855, S. 164. 26 Jacoby: Friedrich der Grosse (s. Anm. 7), S. 26. 27 Ebd., S. 197. 28 Vgl. Diez: Sprachbemerkungen (s. Anm. 1), S. 248–252. 29 Ebd., S. 250. 30 Vgl. Heinrich Friedrich von Diez: Nachgedanken. In: Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 253– 268. 31 Ebd., S. 246.

34 | Manfred Voigts nie beendet hatte.32 Empfinden und Gefühl waren nach Diez für die Sprachschöpfung unerlässlich. Damit stand er nun nicht allein. In allen Überlegungen zur Sprache in diesen Jahren spielten Gefühl, Geschmack, Gehör, Empfinden, also die sinnliche Seite der Sprache, eine wichtige Rolle. Auch der König war der Meinung, dass »der gute Geschmack und das feine Gefühl«33 für das Geistesleben notwendig seien. Gottsched forderte den »Wohlklang« beim Sprachgebrauch,34 und auch für Adelung waren Geschmack und Sprachgefühl von großer Wichtigkeit.35 Wie so oft verstecken sich aber hinter den gleichen Worten sehr verschiedene Bedeutungen. Auf der einen Seite findet man diejenigen, denen die französische Sprache Vorbild war, bei denen mit dem Wort ›Geschmack‹ der ›bel esprit‹ gemeint war, dessen Vorbild der galante Mann des Hofes war, der ›homme de bon goût‹.36 Diesem Ziel folgte im 17. Jahrhundert Christian Thomasius, der 1687 die erste Vorlesung auf Deutsch hielt mit dem Titel Welcher Gestalt man denen Franzosen im gemeinen Leben und Wandel nachahmen soll.37 Aber auch noch Gottsched mit seinen Bemühungen um einen ›galanten Sprachstil‹38 stand dieser Auffassung nahe. Auf der anderen Seite findet man Diez. Zunächst hört er sich ganz ähnlich wie Thomasius und Gottsched an: »In der That man kann nach meinem Gefühl nicht geistreich ohne wohllautend, nicht wohllautend werden ohne geistreich zu seyn.«39 Dann aber vollzog er eine Wendung fort von der Gleichgewichtigkeit von Wohllaut und Geist; er betonte, dass »Schönheit des Ausdrucks ursprünglich nur dazu bestimmt ist, jedem Gedanken seinen wahren Werth zu geben«.40 Hier steht der Gedanke im Mittelpunkt und die Schönheit des Ausdrucks dient nur der Verdeutlichung seines wahren Wertes. Ganz anders Friedrich II., der feststellte, durch Diskussionen sogar im Bereich der Wissenschaften »würde der Geschmack und das feine Gefühl entstehen, das mit ebenso richtiger als geschwinder Beurteilung das Schöne empfindet, das Mittelmäßige verwirft und das Schlechte verachtet.«41 Hier kann die Empfindung über das Schöne und die Richtigkeit eines Gegenstandes urteilen. Man kann also mit etwas Zuspitzung sagen: Bei denen, die die französische Sprache bevorzugen, stehen Geschmack und Gefühl über der Schönheit und Wahrheit, während bei Diez die Schönheit zur Wahrheit hinführen soll. Es kann nun nicht behauptet wer-

|| 32 Ebd., S. 297. 33 Friedrich II.: Über die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 93. 34 Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1973 (auch Frankfurt a. M. u.a. 1975), S. 95. 35 Ebd., S. 108. 36 Ebd., S. 80. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 87. 39 Diez: Über deutsche Sprech- und Schreibart (s. Anm. 1), S. 280. 40 Ebd., S. 281. 41 Friedrich II.: Über die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 93.

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den, dass Diez diese Position in seinen Sprach-Schriften überall und konsequent vertreten hätte, aber die Tendenz zur Überwindung der französisierenden Sprachauffassung ist unübersehbar. Für Diez waren »Zeichen und Begriffe [...] erste und letzte Bestandtheile des menschlichen Denkens«,42 nicht eine durch Gefühl und Geschmack bestimmte Schönheit. Zwei weitere Problemkomplexe sollen hier noch dargestellt werden, der der Übersetzung und der des Verhältnisses von Sprachgebrauch und Grammatik. In einer Situation, in der nicht nur in den Kreisen um den König, sondern weit darüber hinaus Französisch gesprochen wurde und die Wissenschaft erst langsam sich vom Lateinischen verabschiedete, gleichzeitig aber bürgerliche Kreise vor allem wegen der nationalen Identität deutsch sprachen, hatte das Übersetzen eine zentrale Bedeutung. Durch das Übersetzen der klassischen griechischen und lateinischen Texte sollte die deutsche Sprache erlernt werden, durch das Erlernen der französischen Sprache der Stil der deutschen verbessert werden. Diez hat sich diesen Problemen mit einer für seine Zeit zweifellos seltenen, vielleicht sogar einzigartigen Radikalität genähert. Die Muttersprache nahm für ihn eine besondere Stellung ein. »Muttersprache allein ist als Material und Form des Denkens zugleich zu betrachten, weil jedes Wort derselben für uns so wohl Abbild als Zeichen eines Gegenstandes ist«.43 Er benutzte, um dies zu unterstreichen, einen in diesem Zusammenhang höchst selten gebrauchten Begriff; es sei die »wahre Sprache der Seele, die man nur in seiner Muttersprache reden kann«.44 Alle Sprachen, die man nach der Muttersprache erlernt, waren für ihn ›mittelbare‹ Sprachen. Die Worte der fremden Sprache, so Diez, werden von den Kindern in die Muttersprache übersetzt, um verstanden zu werden. »In diesem Sinn ist Muttersprache jederzeit Mittler zwischen mittelbarer Sprache und Gegenständen.«45 Das Problem der Fremdsprachen und damit der Übersetzung wurde von Diez also in den Vorgang des Lernens und Sprechens hineingenommen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass fremde Sprachen für Diez unbedeutend gewesen wären. Zwar sei die Menschenvernunft im Allgemeinen auf der ganzen Erde dieselbe, aber durch verschiedene Umstände hätten sich verschiedene Mundarten ausgebildet, in denen gewisse eigenthümliche Vorstellungsarten« ausgebildet seien. Diese Besonderheiten der anderen nationalen Sprachen solle man zur Ergänzung der eigenen Vorstellungen nutzen: Unstreitig muß also Menschenverstand nur um so weiter vorrücken, je mehr Geist der Sprache aus

|| 42 Diez: Über deutsche Sprech- und Schreibart (s. Anm. 1), S. 292f. 43 Ebd., S. 296. 44 Ebd., S. 294. 45 Ebd., S. 295.

36 | Manfred Voigts Schranken der Einseitigkeit heraustritt und Eigenthümlichkeiten aus Begriffen andrer Völker sich zuzueignen strebt.46

Dieser Weltoffenheit folgt dann allerdings eine Wendung, die besondere Aufmerksamkeit verdient, weil sie für die deutsche Geschichte von Bedeutung war. Und Diez gehörte sicher zu den ersten, die diese Wendung vollzogen. Er war der Meinung, dass die Sprache bei den Franzosen und Engländern aus eigener Kraft eine Höhe erreichte, die keine Hilfe von außen brauche. Die deutsche Sprache habe aber solch eine Höhe nicht erreicht – noch nicht. Und er setzte seinen Gedankengang fort: Aber Deutschlands-Sprache scheint noch einst unsern Nachkommen einen Vorsprung vor andern Erdbewohnern zu verheißen. Denn da sie neben ihrem natürlichen Reichthum noch mit so vieler Empfänglichkeit für fremde Sprachen begabt worden: so müßte alle Vermuthung triegen, wenn sie nicht mit der Zeit das Licht aller Nazionen, um deren Sprache und Kenntnisse wir uns bewerben werden, mit dem ihrigen vereinigen sollte.47

Die Schwäche der deutschen Sprache werde sich – so die offenbar feste Überzeugung von Diez – in Stärke verwandeln, die Abhängigkeit von den Fremdsprachen werde dazu führen, dass die deutsche Sprache einen Vorsprung vor allen anderen Sprachen erreichen könne. Noch 35 Jahre später hat Goethe den Franzosen jene ›Empfänglichkeit für fremde Sprachen‹ aberkannt, die Diez für die Deutschen in Anspruch genommen hatte. In den Noten zum West-östlichen Diwan lesen wir: »Der Franzose, wie er sich fremde Worte mundrecht macht, verfährt auch so mit den Gefühlen, Gedanken, ja den Gegenständen, er fordert durchaus für jede fremde Frucht ein Surrogat, das auf seinem Grund und Boden gewachsen ist.«48 Dass Goethe gleich anschließend auch Christoph Martin Wieland diesen Vorwurf machte, kann nicht überraschen, diesem wurde oft vorgeworfen, eine allzu große Nähe zu den Franzosen zu haben. Richtig ist aber, dass in Deutschland in diesen Jahren weitaus mehr Übersetzungen angefertigt wurden als in vergleichbaren Ländern. Die Überhöhung dieser Tatsache aber zur Konstruktion einer Art Sonderstellung der deutschen Sprache auf der ganzen Welt weist nur auf die politische Schwäche des Bildungsbürgertums gegenüber dem weiterhin französisch sprechenden Adel hin. Und es ist kein Zufall, dass dieser Gedanke von Diez in dem Moment seine geradezu klassische Formulierung fand, als die Franzosen Berlin besetzt hatten. 1808 stellte Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation fest,

|| 46 Ebd., S. 283. 47 Ebd., S. 283f. 48 Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans. In: ders.: Poetische Werke. Bd. 3: Gedichte und Singspiele III: West-östlicher Divan, Epen, (Berliner Ausgabe). Hg. von Siegfried Seidel. Berlin, Weimar 21973, S. 308.

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daß der Deutsche [...] auch dieses Ausländers eigene Sprachen weit gründlicher verstehen und weit eigentümlicher besitzen lernt, denn jener selbst, der sie redet; daß daher der Deutsche, wenn er sich nur aller Vortheile bedient, den Ausländer immerfort übersehen und ihn vollkommen, sogar besser, denn er selbst, verstehen, und ihn nach seiner ganzen Ausdehnung übersetzen kann; dagegen der Ausländer, ohne eine höchst mühsame Erlernung der deutschen Sprache, den wahren Deutschen niemals verstehen kann, und das ächt Deutsche ohne Zweifel unübersetzt lassen wird.49

Es ist kaum anzunehmen, dass Diez diese Aussagen unterschrieben hätte, er hat aber als einer der ersten die Frage nach der Übersetzung benutzt, um der deutschen Sprache eine besondere und allen anderen Sprachen überlegene Stellung zu verleihen. Die Engländer und Franzosen hätten »vielleicht keine einzige mittelbare Sprache bis zu jener Vollkommenheit getrieben [...], wodurch Deutsche oft berühmt geworden sind.«50 Während Fichte seine Vorstellungen zur Übersetzung in ein umfassendes Konzept der Auserwähltheit der Deutschen einbaute, beließ es Diez bei diesen zitierten kurzen Bemerkungen. Nun kommen wir zum Verhältnis von Sprachgebrauch und Grammatik, das besonders problematisch ist, wenn sich eine Sprache gerade erst bildet und verfestigt. In Zeiten, in denen der Sprachgebrauch nicht gesichert war, wurde in den Schulen das Erlernen der Sprache mit der Grammatik begonnen. In dem Maße, in dem sich der Gebrauch vereinheitlichte, konnte der Unterricht mit dem Sprechen der Sprache beginnen. Diez stand gerade in der Epoche des Umbruchs, in der auch wegen der geradezu lawinenartig anschwellenden Zahl von Druckerzeugnissen aller Art sich die deutsche Sprache zu vereinheitlichen begann. Der im Einzelnen durchaus komplizierten Beziehung von Sprachgebrauch und Grammatik stellte sich Diez aber nicht, er nahm einen fortschrittlichen, aber einseitigen Standpunkt ein. »Jede Nazion hatte schon Jahrhunderte geredet, ehe sie nach Regeln ihrer Sprache forschte. Langer Gebrauch hatte eben erst Regeln erschaffen und Menschen in Stand gesezt, sie zu finden.«51 Was aber, ist hier zu fragen, wenn innerhalb einer Nation sehr unterschiedliche Dialekte gesprochen werden, die alle ihre besonderen Regeln mit sich tragen? Nach Diez dürfte es nur von Zeit zu Zeit neue Grammatiken geben, nämlich dann, wenn der »Geist der Zeit« die Sprache deutlich verändert habe – mit der Begründung: »weil Grammatiker nur Theorie von jedesmaliger richtiger Praktik darstellen sollen, die ihr unverfehlbares Muster seyn muß«.52 In Deutschland aber war gar noch nicht ausgemacht, welches die ›richtige Praktik‹ sei. Diez ruft daher aus: »Ja, wehe dem Volke, welches in Grammatik seine Hauptwissenschaft suchen

|| 49 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. In: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke. Hg. von Johann Hermann Fichte. Berlin 1845 (ND: Berlin 1965), Bd. 6, S. 326. 50 Diez: Über deutsche Sprech- und Schreibart (s. Anm. 1), S. 303. 51 Ebd., S. 271. 52 Ebd.

38 | Manfred Voigts möchte! [...] [I]hre Sprache würde für weitre Vervollkommnung still stehen«.53 Für Diez hatte die Grammatik eine rein dienende Funktion, der Sprachgebrauch hatte für ihn Vorrang. Er sah sich offenbar durch die aufblühende deutsche Literatur zu dieser Annahme berechtigt. Vielleicht war aber der entscheidende Grund, weshalb sich Diez hier der Kompliziertheit der Realität entzog, sein Ziel, in den Schulen die Vorherrschaft des Grammatikunterrichtes zu brechen und das lebendige Gespräch in der eigenen Muttersprache zur Grundlage des Deutschunterrichtes zu machen. Dass die Kompliziertheit der realen Sprachentwicklung in Deutschland aber ein wichtiges Thema blieb, soll hier abschließend zumindest angedeutet werden. Zwölf Jahre nach Diez hat sich Wieland in seiner Schrift Grammatische Gespräche mit derselben Problematik befasst. In einem imaginierten Gespräch zwischen den personifizierten Begriffen Wohlklang, Grammatik, Sprachgebrauch und Buchstabe stellt die Grammatik ihre Ratgeber vor: Sprachähnlichkeit, Ableitung und Wohlklang. Der Sprachgebrauch sagt nun: »Ich gebiete ohne Rathgeber. Meinst du, daß ich einer der gewöhnlichen Regenten sey? Ich herrsche allein!« Die Grammatik: »Aber wenn du nun über dieses und jenes nicht entschieden hast?« Der Sprachgebrauch: »So bleibt es unentschieden, bis ich mich erkläre. Es ist einmal das Schicksal der lebenden Sprachen, daß sie immer etwas haben, welches nicht festgesetzt ist.«54 Klopstock, Befürworter der Französischen Revolution und von der Nationalversammlung in Paris als Ehrenbürger aufgenommen, war natürlich heftiger Kritiker aller alleinherrschender Regenten, also auch der Alleinherrschaft des Sprachgebrauches. In der Beurteilung des Sprachgebrauches war er also skeptischer als Diez. Wir sehen hier eine differenziertere Position als die, die Diez eingenommen hatte, der aktiv in die Sprachentwicklung eingreifen wollte. Hier sollte ein kleiner Einblick gegeben werden in die breite Diskussion über die Fragen der Sprache, innerhalb derer Diez seine Texte zur deutschen Sprache schrieb. Leider aber hat er sich offenbar nicht mit einer sehr wichtigen Schrift zum Thema auseinandergesetzt, nämlich mit dem Buch Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen von Johann Carl Wezel, das schon 1781 erschienen war55 und in dem auch er sich ausführlich und kritisch mit Friedrich II. auseinandergesetzt hat. In Deutschland waren diese Diskussionen deswegen von so großer Bedeutung, weil durch die Sprache die nationale Einheit gegen die feudalistische Zersplitterung gestärkt werden sollte. In diesen Diskussionen nahm Diez Stellung zu vielen Fragen, von denen hier nur wenige angesprochen werden konnten. Und er nahm dabei eine Stellung ein, die die nationale Einheit stärken sollte, die gleichzei|| 53 Ebd., S. 272. 54 Friedrich Gottlieb Klopstock: Grammatische Gespäche. In: Klopstock’s sämmtliche Werke. Leipzig 1857, Bd. 9, S. 45. 55 Johann Carl Wezel: Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen. In: Johann Carl Wezel: Kritische Schriften im Faksimiledruck herausgegeben mit einem Nachwort und Anmerkungen von Albert R. Schmitt. Stuttgart 1975, Bd. 3, S. 53–396.

Der frühe Diez und die deutsche Sprache | 39

tig aber weltoffen blieb. Wie eingangs gesagt kann dies aber nur eine erste Einschätzung sein, eine umfassende und detaillierte Erforschung steht noch aus.

Dieter Hüning

»Ich will keine Wahrheiten lehren. Ich schreibe nur, was ich denke«1 Diez’ Abgesang auf die Konzeption des Naturzustandes

1 Einleitung Als Friedrich Wilhelm von Mauvillon im Jahre 1801 den Briefwechsel seines Vaters veröffentlichte, waren darunter auch Briefe, die Heinrich Friedrich Diez in den Jahren 1773 bis 1775 an Jakob Mauvillon gerichtet hatte. Der Herausgeber war sich der Brisanz der Briefe der »Jugendfreunde«2 seines Vaters sehr wohl bewusst: er habe deshalb nur die Briefe von solchen Schreibern veröffentlicht, die seines Wissens bereits verstorben waren: [K]onnte ich wol, als Mann von Ehre, Briefe öffentlich bekannt machen von noch lebenden Männern, ohne erst dazu ihre Erlaubniss zu haben? Dieses würde eine schändliche That sein, und fern sei es von mir, den Namen Mauvillon durch eine solche Handlung zu beschimpfen.3

Über Diez selbst äußerte sich der Herausgeber wie folgt: »Herr Diez hatte lange nichts im Publikum von sich hören lassen, nach eingezogenen Erkundigungen hat man nur gesagt, daß er todt sei.« Es wäre interessant gewesen zu erfahren, wie Diez − falls ihm Mauvillons Briefwechsel bekannt geworden ist − auf die Veröffentlichung seiner frühen Briefe reagiert hat. Der Herausgeber selbst hatte das erklärte Bedürfnis, den Vorwurf, sein Vater hätte gemeinsam mit Mirabeau diverse »Revolutionspläne« ausgebrütet, zu entkräften. Vielmehr habe er »dem Dienste seines Landesherrn alles« aufgeopfert.4 In den Briefen an Mauvillon sei von Revolutionsprojekten nichts zu finden. Dass Mauvillons Sohn derartige Rechtfertigungen glaubte vorbringen zu müssen, ist angesichts der zeitgenössischen Verhältnisse, insbesondere in Bezug auf die veränderte Bewertung der Französischen Revolution leicht verständlich. Dennoch

|| 1 [Jakob] Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten. Hg. von Friedrich Wilhelm von Mauvillon. Deutschland [sic] 1801, S. 17, Anm. Alle übrigen Zitate von Diez stammen aus folgender Ausgabe: Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften (1772–1784). Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010. Dort werden allerdings Diezʼ Briefe aus Mauvillons Briefwechsel nicht erwähnt. 2 Ebd., S. 17. 3 Ebd., S. 18. 4 Ebd., S. 9.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-005

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können solche späteren Beschwichtigungsversuche nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere der frühe Diez Positionen der Radikalaufklärung propagiert hatte, für die vergleichbare Vorbilder v. a. im französischen Materialismus zu finden sind. Ich werde mich im Folgenden auf Diezʼ Schrift über den Stand der Natur aus dem Jahre 1775 beschränken, um anhand dieser Schrift den philosophischen Gehalt dieser radikalaufklärerischen Position herauszuarbeiten.5 Dabei werde ich zu zeigen versuchen, wie Diez’ skeptizistische Grundhaltung sich auf seine Darstellung des Naturzustandes auswirkt und ihn zu einer radikalen kultur- und wertrelativistischen Position führt.

2 »Der Scepticismus ist meine Lehre«.6 Diezʼ erkenntnistheoretische Perspektive Das 18. Jahrhundert war erfüllt von Debatten über das »Bild des wahren Naturzustandes«.7 Die Frage nach Beschaffenheit, Historizität und methodischer Funktion des Naturzustandes waren beliebte Gegenstände, an denen die unterschiedlichen Autoren ihre Gedanken der Kultur- bzw. Zivilisationsentwicklung und zum Gang der Geschichte festmachten und darüber diskutierten, ob die Konzeption des Naturzustandes möglicherweise ein geeignetes Modell für die Beantwortung dieser Fragen

|| 5 Vgl. zur Radikalaufklärung die diversen Studien insbesondere von Jonathan Israel sowie den Sammelband von Jonathan I. Israel u. Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung. Berlin 2014. Winfried Schröder hat in diesem Sammelband in einem scharfsinnigen Aufsatz allerdings auf die Grenzen von Israels »Begriffsverständnis« von Radikalität der Aufklärung aufmerksam gemacht: Weil Israel unter Radikalität in erster Linie die Propagierung materialistischer bzw. religionskritischer Positionen versteht, deren Inspirationsquelle die Philosophie Spinozas gewesen sei, neigt er dazu, die Positionen anderer Aufklärer, die zu einem Bekenntnis zum Materialismus bzw. Atheismus nicht bereit waren, als »moderate Enlightenment« abzuwerten. Insofern entwickelt er auch kein Bewusstsein für die Radikalität der philosophischen Positionen Humes oder Kants. Darüber hinaus scheint ein Problem von Israels Aufklärungsgeschichte in der Unterschätzung der erkenntnistheoretisch motivierten Angriffe auf die Metaphysik zu bestehen, denn in erkenntnistheoretischer Hinsicht war Spinoza keineswegs radikal. 6 Mauvillon: Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 77. 7 So die Formulierung in Rousseaus Discours sur lʼinégalité: »[L]e tableau du veritable état de Nature«. In: ders.: Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1964, Bd. 3, S. 160 (im Folgenden: OC Band, Seite). Diezʼ Untertitel zu seiner Schrift Der Stand der Natur bringt diese Kontroversen um das angemessene Verständnis des Naturzustandes schön zum Ausdruck: »Laudabor ab his, culpabor ab illis – Von diesen wird er gelobt, von jenen angeklagt« (S. 115).

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darstellt.8 Bevor ich im Einzelnen auf Diez’ Darstellung des Naturzustandes eingehe, möchte ich aber zunächst seine erkenntnistheoretische Position skizzieren. Denn Diezʼ Schrift nimmt in den angesprochenen Debatten eine Sonderstellung ein, nicht etwa wegen der Brillanz seiner Argumentation, sondern wegen des erklärten psychologischen Naturalismus,9 den Diez selbst als Materialismus bzw. als »physiologisches System« bezeichnet,10 das insbesondere die Eigenständigkeit des Denkens zugunsten der Abhängigkeit von den Sinnesorganen infrage stellt, welche Diez im folgenden »Hauptsatze [s]einer Theorie« zusammenfasst, nämlich »dass ich mit den Augen, dem Gehör und den Sprachorganen oder Munde, denke«. Dass dieser physiologische Reduktionismus, in welchem der gesamte mentale Gehalt des Bewusstseins auf die »Reizbarkeit der Nerven« als die »Quelle aller Empfindungen« zurückgeführt wird, selbst kein Gegenstand der Erfahrung ist, weil die Erfahrung nur aus unseren Empfindungen besteht, wird von Diez selbst hervorgehoben. Es handelt sich bei diesen Überlegungen bloß um »Stoff zu analogischen Schlüssen«.

|| 8 Eine umfassende, vergleichende Dogmengeschichte des Schicksals der Naturzustandskonzeption im Zeitalter der Aufklärung ist m. W. nicht vorhanden, dafür aber zahlreiche Einzelstudien zu einzelnen Autoren bzw. Aspekte der Debatte. Zu dieser Debatte vgl. u. a. Frank Grunert: Das Recht der Natur als Recht des Gefühls. Zur Naturrechtslehre von Johann Jacob Schmauss. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), S. 137–153; Merio Scattola: Das Naturrecht der Triebe, oder das Ende des Naturrechts. Johann Jacob Schmauß und Johann Christian Claproth. In: Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert. Hg. von Vanda Fiorillo u. Frank Grunert. Berlin 2009, S. 231–250; Dieter Hüning: »Eine fruchtbare philosophische Fiktion«. Michael Hißmanns Beitrag zur Anthropologisierung des Naturzustandes. In: Michael Hißmann (1772–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hg. von Heiner F. Klemme, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich. Berlin 2012, S. 121–145; Alexander Schmidt: Neo-Epikureismus und die Krise des Naturrechts. Michael Hißmann (1752–1784) über Naturzustand und Gerechtigkeit. In: Aufklärung 25 (2013), S. 159–182; sowie Gideon Stiening: »Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft«. Herders Naturrechts- und Staatsverständnis. In: Herder und die Klassische Deutsche Philosophie. Festschrift Marion Heinz zum 65. Geburtstag. Hg. Von Dieter Hüning, Gideon Stiening u. Violetta Stolz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. 115–135. 9 Daniel Minary: Le problème de l'athéisme en Allemagne à la fin du »Siècle des Lumières«. Besançon, Paris 1993, S. 435. Minarys umfassende Studie zur Religionskritik der deutschen Spätaufklärung — 1992 als thèse de doctorat an der Universität Straßburg eingereicht — ist leider weitgehend unbekannt geblieben. Schon in seinem Brief an Mauvillon vom 19. Dezember 1773 hatte Diez mit Blick auf seine Beobachtungen über die Natur des Menschen erklärt, er schreibe als »Naturalist«, der von »einigen Naturgesetzen« und von einem »anderen Leben [...] kein Wort mehr glaube« (Mauvillon: Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 93f.). Dieser psychologische Naturalismus äußert sich insbesondere in Diezʼ Erklärung des »so sehr gemeinen Wunsch[es] der Erhaltung und Fortdauer unseres Seins«, das sein Briefpartner Mauvillon für ein »Gesetz der Natur« erklärt hatte, während Diez hierin nur eine »Wirkung der Gewohnheit zu leben« sieht: »Jeder oft wiederholte Genuss wird uns ein Bedürfnis«; Brief an Mauvillon vom 5. Juni 1774. In: Mauvillon: Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 113f. 10 Ebd., S. 79: »Meine Meinung ist natürlicherweise Materialismus.«

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Dass andere davon überzeugt werden können, ist irrelevant, »denn ob ich andern beweise, davon ist beim Sceptiker niemals die Frage«.11 Im Zentrum von Diezʼ radikalem Skeptizistismus stehen Begründungsfragen der praktischen Philosophie, insofern er zu kulturrelativistischen Positionen gelangt. Zum quasi-nihilistischen Charakter seiner Konzeption hatte sich Diez in seinem Briefwechsel mit Mauvillon mit Nachdruck bekannt: Mein System ist arg, und kehrt die Gestalten meist aller Dinge um. Ich stehe weit unter den Naturalisten [soll heißen: ich stehe mitten unter den Naturalisten, D.H.]. Ich glaube gar nichts und leugne alles. Nichts achten. Der Skeptizismus ist meine Lehre. Geringfügigkeit aller Dinge, die Summe meiner Sätze.12

An einer anderen Stelle, die deutliche Bezüge zum Begriff der Isosthenie bei Sextus Empiricus aufweist,13 heißt es bei Diez: Wenn ich alles bey Seite setze, mir einen Haufen aufgeklärter Köpfe vorstelle, und auf ein Mittel sinne, wodurch unter ihnen die sittliche Gleichheit [im Sinne einer Indifferenz gegen das, was einer tut] bewirkt werden könne: so find ich nur ein einziges darin, daß sie alle einem gänzlichen Pyrrhonißmus zugethan seyn müßten. Der Pyrrhonier kennt nichts, was besser und schlechter, was vernünftiger und dümmer, achtungswerther und verächtlicher wäre, weil er nirgends positive Bestimmungen, nirgends Regeln und gewisse Wahrheiten zulässt. Mithin würde eine solche Gesellschaft von den Krämpfen und Mißhelligkeiten frey seyn, die uns jetzt das politische Leben unangehnem machen.14

Die naheliegende Frage, wie denn Menschen ihre Handlungszwecke überhaupt koodinieren können, wenn sie über keinerlei gemeinsame Maßstäbe der Beurteilung verfügen, und ob nicht gerade deshalb, weil – wie Diez betont – die je individuellen Urteile nicht mit den Urteilen anderer zu »allgemeinen Regeln und Grundsätzen« zusammenstimmen können,15 permanent »Krämpfe und Mißhelligkeiten« zu erwarten wären, stellt der Radikalaufklärer nicht. Dass der Pyrrhonismus »gerade das Mittel« sein würde, »die Menschen zu vereinzeln, und alle gesellschaftliche Bande aufzulösen«, war jedenfalls ein Einwand, den der Rezensent der Naturzustandsschrift in der Allgemeinen deutschen Bibliothek erhob.16 || 11 Ebd., S. 84f. 12 Ebd. S. 77 (Brief an Mauvillon vom 16. Oktober 1773). 13 Friedo Ricken: Antike Skeptiker. München 1994, S. 106: Sextus definiert »Isosthenie« – wörtlich »Gleichkräftigkeit« – »als Gleichheit hinsichtlich der Glaubhaftigkeit und Unglaubhaftigkeit, so daß keines der widerstreitenden Argumente vor den anderen liegt, weil es glaubhafter wäre. Die Isosthenie macht die Zustimmung unmöglich und bewirkt so die Urteilsenthaltung.« 14 Heinrich Friedrich Diez: Der Stand der Natur [1775]. In: ders.: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 115– 146, hier S. 138. 15 Ebd., S. 142. 16 [Anon.:] Rezension von Diez: Der Stand der Natur. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, Anhang zu dem 25. bis 36. Bande (1779), S. 1058: »Der Pyrrhonimus würde gerade das Mittel seyn, die Men-

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Der radikale Charakter des diezschen Skeptizismus, der nach seinem eigenen Bekunden »von ganz besonderer Art« ist17 und von ihm als neu erfunden betrachtet wird,18 wird noch verstärkt, wenn der Autor erklärt: [D]ass ich für mich keine Stufenfolge auf der Welt annehme, in dem Universo keine Absicht und Zweck entdecke, in absolut keine Güter und Übel statuire, auf alle menschliche Kenntnis und Grübelei, (ohngeachtet ich ihnen jetzt selbst noch anhängen muss) nicht den geringsten Werth setze, dass ich von der Eitelkeit alles Thuns und Wesens so lebendig durchdrungen bin, dass ich nicht absehe, was es mir nützt, gelebt zu haben, noch weniger, wozu es dienen sollte und könnte, nach dem Tode abermals zu leben, dass dies alles eine Quelle von Überdruss wird etc.19

Dennoch ist Diez kein reiner bzw. kein konsequenter Anhänger des Pyrrhonismus, was er auch ‒ vermutlich nachdem ihm Mauvillon entsprechende Einwände gemacht hatte ‒ selbst konzediert: Ich gebe gerne zu, dass ich nicht in dem Sinne Sceptiker bin, worin man diesen Namen zu nehmen pflegt. Ich ziehe nur das Wort auf mich, weil es noch am ersten auf mich passt. Der Zweifler entscheidet nichts absolut, weil er nicht weiss auf welcher Seite Wahrheit ist. Ich aber suche keine Wahrheiten, und leugne dass es dergleichen gebe und geben könne. Die Unterschiede, die man macht, als Wahrheit, Irrthum, Vorurtheil, Falschheit etc. hebe ich auf, und bringe alles auf das Wort Ideen zurück, die sich jeder nach seiner Art macht. Will man jene Termen beibehalten, so sage ich, das ist Wahrheit was jeder glaubt, er glaube nun, dass die Erde still stehe, oder dass kein Gott existiere. Es kömmt also alles darauf an, wovon ich überzeugt bin, entscheide ich absolut, es bestehe solches zu leugnen oder adfirmiren, und dazwischen zweifle ich nicht.20

Darüber hinaus spielt für Diez die praktische Zielsetzung der pyrrhonischen Skepsis, d. h. die Ataraxie als Befreiung von innerer Unruhe keine Rolle;21 sie kollidiert nämlich bei ihm permanent mit dem eher polemischen Interesse der Zurückweisung konkurrierender Theorien. Das gleiche gilt für das Mittel, durch das die Skeptiker die Ataraxie erreichen wollten, d. h. die pyrrhonische Forderung der epoché, der Urteilsenthaltung. Diez betont stattdessen, dass die Vorstellungen, die er »zur || schen zu vereinzelnen, und alle gesellschaftlichen Bande aufzulösen. [...] Denn ohne gemeinschaftliche Begriffe und Grundsätze, die von mehrern für wahr gehalten werden, und von deren Wahrheit sie die Überzeugung bey andern voraussetzen, kann es keine gleiche Gesinnungen, kein gemeinschaftliches Interesse, kein welchselseitiges Vertrauen, und also auch keine Gesellschaft geben. [...] Kurz, wenn nichts absolut, alles individuell relativ ist, so hört auch alle wechselseitige Beziehung, alles Verhältniß auf.« 17 Brief an Mauvillon. In: Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 79. 18 Ebd.: »Ich glaubte etwas neues erfunden zu haben, weil ich meine Theorie weder von einem Alten noch Neuen erdacht oder berührt fand.« 19 Ebd., S. 115f. 20 Ebd., S. 107f. 21 Ricken: Skeptiker (s. Anm. 13), S. 101.

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Richtschnur [s]einer Urtheile nehme«, auf Ideen gründen, die »blos individuell und persönlich sind«. Er behauptet z. B., dass »die Erfahrung die Grundlage« seines theoretischen Gebäudes sei – eine für einen Pyrrhoneer unsinnige Voraussetzung, denn die pyrrhonische Skepsis zeichnet sich ja gerade durch einen radikalen Außenweltskeptizismus aus. Der Wahrheitsbegriff löst sich unter diesen Voraussetzungen notwendigerweise auf und wird reduziert auf den Aspekt des subjektiven Fürwahrhaltens: Wahr ist dasjenige, wovon jemand überzeugt ist. In Bezug auf eine frühere Ansicht, die inzwischen durch ihr Gegenteil abgelöst wurde, erklärt Diez, »dass ich in allem damals die Wahrheit redete, weil meine Überzeugung so beschaffen war. Jetzt ist diese alles Gegenteil, ich finde aber an sich betrachtet keinen Grund, mich jetzt für klüger oder besser zu halten, denn ich habe mich bloss geändert. Inzwischen sind diese Begriffe relativ«.22 Es ist keine Überraschung, dass ein Hauptobjekt seiner naturalistischen Kritik die religiösen Vorstellungen seiner Zeitgenossen sind. Aber auch sein Briefpartner Mauvillon gerät in den Fokus seiner Kritik. In seinem umfangreichen dritten Brief an Mauvillon vom 19. Dezember 1773 vermutet er, dieser würde »ohnfehlbar die Unsterblichkeit des Menschen« verwerfen, »denn was sollte nach dem Tode fortdauere, da alles Körper ist«.23 Nachdem ihm Mauvillon zwischenzeitlich seinen »Wunsch eines zukünftigen Lebens« mitgeteilt hatte, kommentiert Diez mit einer psychologischen Betrachtung: Den unter unserm Geschlechte so sehr gemeinen Wunsch der Erhaltung und Fortdauer unsers Seins nennen Sie ein Gesetz der Natur, und ich heisse es die Wirkung der Gewohnheit zu leben. Jeder oft wiederholte Genuss wird uns ein Bedürfniss.24

Über die Frage der Vereinbarkeit von Skeptizismus und Materialismus gibt sich Diez keine Rechenschaft. Der zeitgenössische französische Materialismus, der in dʼHolbachs Système de la nature kulminiert, gebraucht die skeptische Perspektive zur Zurückweisung insbesondere theologischer Positionen. Darüber hinaus wird zugestanden, dass die begrenzte menschliche Erkenntnis z. B. auch das Wesen der Materie nicht erkennen könne. Wenn es dʼHolbach allerdings um die Verkündung der Prinzipien der materialistischen Ontologie geht, tritt die Skepsis in den Hintergrund, weil für ihn die Skepsis eine argumentative Waffe im Kampf gegen religiöse Vorurteile darstellt, aber kein Selbstzweck ist. Wenn Diez schließlich behauptet, dass »die Regeln der Gerechtigkeit nicht allgemein« seien, sondern bloß relative Geltung besitzen, weil sie »blosse Principien [sind], die der Vernünftige von unseren [gesellschaftlichen] Verbindungen abgezogen« hat, dann ist auch dies kein mit dem Pyrrhonismus vereinbarer Standpunkt. || 22 Mauvillon: Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 94. 23 Ebd., S. 97. 24 Ebd., S. 113.

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Zwischen der Behauptung der Relativität von Normen und der pyrrhonischen Weigerung, überhaupt Wert- bzw. Sollensurteile zu fällen, liegt ein großer Unterschied25 – anders ausgedrückt: Normativer Relatismus und normativer Skeptizismus oder Nihilismus fallen nicht zusammen.26 Ich würde deshalb bei Diez von einem funktionalen oder eingeschränkten Skeptizismus sprechen, der sich weniger auf die Probleme der theoretischen Philosophie, als vielmehr in erster Linie auf diejenigen der praktischen Philosophie bezieht. Ob Diez überhaupt ein Bewusstsein für die Probleme der gleichzeitigen Behauptung von Skeptizismus, materialistischem Naturalismus und empiristischer Epistemologie hatte, sei dahingestellt. Jedenfalls lässt er sich selbst nicht auf derartige methodologische Fragen ein. Im Geiste dieses funktionalen Skeptizismus hat Diez nach eigenem Bekunden seine Untersuchungen »[ü]ber den Menschen, über die wirkende Ursache seines Denkens, über das, [was]27 an ihm Moralität sein soll, und deren Ursprung«28 betrieben. Auch in dieser Hinsicht verspricht Diez »neue Aussichten«, die darin bestehen sollen, dass »die ersten Gründe der Sittenlehre [...] genetisch auseinander gesetzt« werden. Besonders geht es ihm darum »zu beweisen, dass es keine ewigen und unveränderlichen Regeln, Gesetze der Natur gebe«.29 Darin liegt der Unterschied zu den vorhergegangenen Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen. In einem langen Brief an Jakob Mauvillon vom 19. Dezember 1773 distanziert sich Diez von seinen Beobachtungen; sie seien nur geschrieben worden, »um zu schreiben«30– wobei sich der Leser dann fragt, ob er nur lesen soll, um zu lesen. Zwar hätte er auch hier als »Naturalist« gesprochen, und zwar als ein solcher, der »nicht gern alle Religion vergessen wollte«. Wegen dieses Tributs an den Zeitgeist hätte er in den Beobachtungen »zuweilen von einem andern Leben, von einigen Naturgesetzen etc.[,] von Dingen, wovon ich kein Wort mehr glaube«, gesprochen. »Die Schrift ist jetzt in meinen Augen einfältig«. Seine jetzige Überzeugung sei nun »alles Gegentheil«.31 || 25 Obwohl auch die Pyrrhoneer eine je individuelle Orientierung an der »Lebenserfahrung« kennen, vgl. Ricken: Skeptiker (s. Anm. 13), S. 142. 26 Schon der Verfasser der Rezension in der AdB ([s. Anm. 16], S. 1056) hat hier ein Problem gesehen. Der »Hauptgrundsatz des Verfassers, [...] daß es eben so wenig eine absolute Natur, als eine absolute Wahrheit giebt«, kann nämlich in zweifacher Weise verstanden werden: »Dieß kann nun entweder so viel heißen, daß es keine solche, mit dem Namen der Natur ausschließungsweise zu belegende Beschaffenheit, die einen ganz besondern Zustand ausmachte, gebe; oder den Sinn haben, daß man keine solche allgemeine, diesen Namen verdienende Beschaffenheit annehmen könne, die unter allen Umständen in der Welt zum Grunde läge, und gleich wäre.« 27 Im Original »wenn« statt »was«. 28 Mauvillon: Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 79. 29 Ebd., S. 92. 30 Ebd., S. 93. 31 Ebd., S. 93f.

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Diese theoretische Gegenposition zu seinen früheren Ansichten soll im Folgenden durch die Schrift Der Stand der Natur von 1775 entwickelt worden sein. Sie kann deshalb als die Einlösung des Versprechens, die Relativität aller Normen und Werte zu beweisen, und als die Einlösung der Anwendung des Pyrrhonismus auf die »ersten Gründe der Sittenlehre« betrachtet werden.32

3 Die Lehre vom Naturzustand im Zeitalter der Aufklärung Die Geschichte der neuzeitlichen Naturzustandskonzeptionen datiert von den staatsphilosophischen Schriften De cive und Leviathan des Thomas Hobbes. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass es nicht auch schon zuvor entsprechende Modelle eines ursprünglichen Zustandes, z. B. des Zustandes vor dem Sündenfall gegeben hätte. Aber mit Hobbes beginnt eine neue Epoche, weil von ihm die juridischen Begründungsfunktionen der Naturzustandskonzeption deutlich herausgearbeitet werden. Für Hobbes und seine unmittelbaren Nachfolger ist – bei allen Unterschieden in der Ausgestaltung – der Naturzustand ein juridisches (rechtsphilosophisches) Modell, es ist derjenige Zustand, der dem Staat logisch vorhergeht. Zwar finden sich schon bei Hobbes Versuche, die Existenz des Naturzustandes anhand historischer Beispiele zu illustrieren, – so soll es naturzustandsähnliche Verhältnisse in den Wäldern Germaniens zur Zeit der römischen Invasion gegeben haben, oder es wird behauptet, man könne aus der Lebensweise der sogenannten ›wilden Völker‹ in Übersee erkennen, was der Naturzustand bedeute. Aber solche historischen Illustrationen dienen nur der Verplausibilisierung des Modells und sind keineswegs zur Begründung der juridischen Funktion erforderlich. Mit anderen Worten: die Historizität des Naturzustandes ist für Hobbes keine Wahrheitsbedingung des Modells. Hobbesʼ Nachfolger – Samuel Pufendorf, John Locke, Christian Thomasius und viele andere – lehnen zwar zumeist die hobbessche Behauptung, der Naturzustand sei notwendigerweise zugleich ein Kriegszustand, ab. Aber sie stimmen mit ihm in der juridischen Funktionsbestimmung überein, wonach der Naturzustand das Modell der ursprünglichen Rechtslage der Menschen sei.33

|| 32 Ebd. 33 Allerdings wird die juridische Begründungsfunktion des Naturzustandes schon bei John Locke mit historisierenden Überlegungen vermischt, da Locke unterschiedliche Phasen des Naturzustandes insbesondere mit der »Invention of Money« verknüpft, vgl. John Locke: Second Treatise of Government. In: ders.: Two Treatises of Government. Ed. by Peter Laslett. Cambridge 1988, § 36.

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Diez liest Hobbesʼ Ausführungen über den Naturzustand von Anfang an durch die Brille der rousseauschen Kritik im Diskurs über die Ungleichheit. Wenn Hobbes den Naturzustand als »Stand des Kriege und der Zwietracht, der Furcht und des Mißtrauens« bestimmt habe, »wo niemand sein Haupt zum Schlaf sicher hinlegen könne«, so resultiere diese Vorstellung daraus, dass Hobbes sein »Bild der Natur aus der bürgerlichen Gesellschaft entlehnt« habe.34 Diez kommt einerseits dem hobbesschen Selbstverständnis recht nahe, wenn er betont, Hobbes sei zu seiner Konzeption des Naturzustandes auf dem Wege der Abstraktion gelangt, indem er »in seinen Ideen« den Staat und alles, was die Bürger »jetzt unter Recht und Ordnung zwingt«,35 aufgelöst habe. Auch seine Aussage: »Ein Stand der Natur soll eigentlich bedeuten, was die bürgerliche Verbindung nicht ist«,36 steht in Übereinstimmung mit Hobbesʼ Position. In den »Ruinen« der bürgerlichen Gesellschaft habe dieser dann den Naturzustand erblickt, wo die Idee der »natürliche[n] Unabhängigkeit« und der »Willkür jedes Einzelnen« an die Stelle des Rechts tritt. Aber anstatt an dieser Stelle nach der methodischen Funktion dieser Abstraktion des Naturzustandes zu fragen, wiederholt Diez nur das rousseausche Mißverständnis, indem er den Naturzustand als historisches Ursprungsszenario liest: [S]o legt er [Hobbes] seinem Naturkinde einen aufgeklärten Verstand, künstliche Sitten und alle unsre Leidenschaften, als Ruhmbegierde etc. bey. Er vergaß, daß er unsre Gesellschaft voraus setzte, indem er die Natur schilderte.37

Hobbes trifft dieser Vorwurf der Projektion der Eigenschaften des zivilisierten Menschen in den Naturzustand der Sache nach nicht. Denn anders als Rousseau und – in seiner Nachfolge – Diez behaupten, geht es Hobbes überhaupt nicht um die Rekonstruktion eines ursprünglichen Zustands, der den Beginn der Menschheitsgeschichte bzw. eine frühe Epoche der Zivilisation markieren würde. Sein Thema ist vielmehr die Klärung der ursprünglichen Rechtslage der Menschen in einem Zustand des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen, in dem keine souveräne Staatsgewalt existiert, die in der Lage wäre, die Befolgung der von ihr gesetzten Normen zu erzwingen – dies ist die Formaldefinition des Naturzustandes. Der Naturzustand ist für Hobbes kein historischer Zustand, er bezeichnet nicht die vorgeschichtliche Existenzweise der Menschen. Der Naturzustand ist ein fiktives Modell in juridischer Absicht; er herrscht nach Hobbes überall dort, wo keine souveräne Zwangsgewalt existiert, weshalb ein Anwendungsfall der Naturzustandskonzeption der Bürgerkrieg ist.

|| 34 Diez: Stand der Natur (s. Anm. 14), S. 117. 35 Ebd., S. 119. 36 Ebd., S. 120. 37 Ebd., S. 119.

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Es beruht deshalb auch nicht auf einem angemessenen Verständnis von Hobbesʼ rechtsphilosophischen Beweisabsichten, wenn Diez durch eine Reihe von historischen, anthropologischen und ethnologischen Betrachtungen den Nachweis erbringen will, dass Hobbesʼ Identifikation von Naturzustand und Kriegszustand falsch ist, und der »pflichtentlaßne Bürger« zum »Wütrig aus Vorsatz« wird. In keiner der zeitgenössischen Wissenschaften wird nach Diezʼ Ansicht die hobbessche Naturzustandskonzeption bestätigt: Finden wir nun unter wilden Völkern den Charakter nicht, den Hobbes zum Loose der natürlichen Freyheit einsetzt: so muß ich wohl billig Bedenken tragen, sein Ideal in der Welt der Natur zu suchen.38

Für nahezu 100 Jahre blieb die von Hobbes und seinen Nachfolgern entwickelte Naturzustandskonzeption − trotz aller unterschiedlichen Ausrichtungen und Bewertungen − im Wesentlichen ein juridisches Begründungsmodell. Dies ändert sich allmählich aufgrund des Vordringens der historischen Sichtweise innerhalb der Aufklärungsphilosophie, für die so unterschiedliche Autoren wie Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Herder, Ferguson und schließlich Kant stehen. Einen entscheidenden Einschnitt in der Betrachtungsweise des Naturzustandes stellt Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit aus dem Jahre 1750 dar: Aus dem Naturzustand als einem juridischen Lehrstück für die Klärung der Frage, welche Rechte und Pflichten die Menschen ursprünglich haben und wie ihr rechtliches Verhältnis zueinander beschaffen ist, wird bei Rousseu eine hypothetische Überlegungen über den Nullpunkt der Menschheitsgeschichte, von der aus die nachfolgenden sozialen, kulturellen, politischen usw. Verhältnisse in zivilisationskritischer Perspektive zu betrachten sind. Nur am Rande sei erwähnt, dass auch die andere naturrechtliche Argumentationsfigur, die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, ein ähnliches Schicksal erleidet.39 David Hume hat in dieser Hinsicht einen der einflussreichsten Aufsätze verfasst. Rousseau beginnt seinen Zweiten Diskurs mit einer umfassenden Kritik an den Naturzustandskonzeptionen seiner Vorgänger. Insbesondere Hobbesʼ Version des Naturzustandes wird kritisiert. Der Generalvorwurf Rousseaus an seine Vorgänger ist derjenige einer unzulässigen Projektion: Sie hätten durchweg den natürlichen mit dem zivilisierten Menschen verwechselt bzw. Eigenschaften, die nur dem zivili-

|| 38 Ebd. 39 Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden – durchaus unter dem Einfluss empiristischer Tendenzen der Erkenntnistheorie – apriorische wie hypothetische Überlegungen zum Gegenstand der Kritik. So häufen sich z. B. die Einwände gegen den staatsphilosophischen Kontraktualismus mit dem Hinweis, dass die Staaten keineswegs aus einem Vertragsakt hervorgegangen sind und deshalb als bloß fiktives Modell der Staatsentstehung zurückgewiesen.

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sierten Menschen zukommen, auf den natürlichen bzw. wilden Menschen übertragen. Diesen falschen Projektionen will Rousseau den »wahren Naturzustand« entgegensetzen. Um zu diesem ›wahren Naturzustand‹ zu gelangen, ist es nach Rousseau erforderlich, die ursprünglichen, natürlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen von denjenigen zu unterscheiden, die kulturell oder zivilisatorisch erworben worden sind.40 Der ›wahre Naturzustand‹ ist nun für Rousseau der Zustand der Menschen vor Beginn ihrer Vergesellschaftung, denn auch die Soziabilität ist für Rousseau eine Eigenschaft, die erst erworben werden muss. Man kann aus dieser Skizze bereits entnehmen, dass sich für Rousseau der Naturzustand gewissermaßen als Nullpunkt der Menschheitsentwicklung darstellt. Nun ist sich auch Rousseau darüber im Klaren, dass wir keine historisch sicheren Informationen über diesen Zustand haben. Es handelt sich deshalb um eine hypothetische Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die Rousseau im Auge hat. Der Endpunkt, d. h. das gegenwärtige Zeitalter der angeblichen Kultivierung ist bekannt. Der Geschichtsphilosoph hat die Aufgabe, die Etappen dieses Entwicklungsgangs zu benennen. Allerdings wäre es ein Missverständnis, wenn man nur diesen geschichtsphilosophischen Aspekt von Rousseaus Naturzustandskonzeption betonen wollte. Was Rousseau eigentlich beabsichtigt, ist eine umfassende Kultur- und Zivilisationskritik. Er beklagt vor allem das Auseinanderfallen von Sein und Schein beim modernen Menschen: Die Menschen sind nach seiner Auffassung inzwischen daran gewöhnt, sich hinter einer Fassade der Höflichkeit und der Zivilisiertheit anders zu präsentieren, als sie in Wahrheit sind. Es gehört zu den Entfremdungsphänomenen der modernen Gesellschaft, dass sich die einzelnen in erster Linie durch die Frage definieren, wie sie von anderen wahrgenommen werden bzw. wahrgenommen werden wollen. Neben diesen eher sozialpsychologischen Aspekten ist Rousseau vor allem ein Kritiker der Ökonomie der modernen kommerziellen Gesellschaft, die er für einen einzigen Skandal hält. Rousseau hat seinen gesellschaftlichen Gegenentwurf auf folgende Formel gebracht: Niemand soll so reich sein, dass er in der Lage ist, einen anderen zu kaufen; niemand soll so arm sein, dass er sich an einen anderen als Lohnarbeiter verkaufen muss. Die Autoren in der Nachfolge Rousseaus verstehen den Naturzustand dann fast nur noch in dieser anthropologisch-geschichtsphilosophischen Perspektive als ursprüngliche Situation eines historischen Ausgangspunktes der Menschheitsentwicklung. Es geht nunmehr nicht um die Aufdeckung der ›ursprünglichen Rechtslage‹ der Menschen, sondern − wie Adam Ferguson in seiner History of Civil Society

|| 40 »[D]e démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans la nature actuelle de l’homme, et de bien connoître un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais, et dont il est pourtant nécessaire d’avoir des Notions justes pour bien juger de nôtre état présent« (OC III, S. 123).

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das zeitgenössische Verständnis des Naturzustandes skizziert − darum, »die ursprünglichen Eigenschaften des menschlichen Charakters zu unterscheiden und die Grenzen zwischen Natur und Kunst festzustellen«.41

4 Diezʼ Naturzustandskonzeption Man kann Diezʼ Schrift über den Stand der Natur thematisch in drei Abteilungen untergliedern. 1. Diez liefert in seiner Schrift zunächst eine Übersicht über die verschiedenen Varianten des Naturzustandes, die er vorgefunden hatte. 2. Der zweite Abschnitt liefert eine Kritik an den normativen Voraussetzungen der neuzeitlichen Naturrechtslehre, die sich insbesondere an der Lehre von den natürlichen Gesetzen festmacht. 3. Der dritte Abschnitt beinhaltet, was man mit Manfred Voigts als das »eigentliche Thema« der Schrift bezeichnen kann, nämlich Diezʼ »Vernunftkritik«. In der Tat bietet Diez die Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher, rechtlicher, religiöser und sonstiger ideologischer Phänomene auf, um hiermit den Absolutheitsanspruch der Vernunft und die damit verknüpfte Behauptung, es gebe eine, aber auch nur eine, Wahrheit zu bestreiten. Neben den schon skizzierten Naturrechtsentwürfen von Hobbes und Rousseau erwähnt er noch eine dritte Variante des Naturzustandes, ohne allerdings Namen zu nennen. Diese dritte Variante sei von »einigen Philosophen, die es weder mit Hobbes noch mit Rousseau halten«, vertreten worden. Sie seien der Auffassung gewesen, »daß der Stand der Natur derjenige sey, wo dem natürlichen Gesetz von jedem gehuldigt und nachgelebt werde, wo die vernünftige Tugend und die ausgebildetste Vernunft, mit Ausschluß des Lasters, gleiche Ansprüche auf die Menschen haben«.42 Diese von Diez gegebene Übersicht über die verschiedenen Varianten des Naturzustandes dient nicht dazu, die Frage nach dem ›wahren Naturzustand‹ positiv zu beantworten. Man wird im Gegenteil eher feststellen müssen, dass für Diez die || 41 »[T]o distinguish, in the human character, its original qualities, and to point out the limits between nature and art, some have represented mankind in their first condition, as possessed of mere animal sensibility, without any exercise of the faculties that render them superior to the brutes, without any political union, without any means of explaining their sentiments, and even without possessing any of the apprehensions and passions which the voice and the gesture are so well fitted to express. Others have made the state of nature to consist in perpetual wars kindled by competition for dominion and interest, where every individual had a separate quarrel with his kind, and where the presence of a fellow creature was the signal of battle« (Adam Ferguson: Essay on the History of Civil Society. Hg. von Duncan Forbes. Edinburgh 1966, I.1, S. 2). 42 Diez: Stand der Natur (s. Anm. 14), S. 126.

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Vielheit von Naturzustandsentwürfen ein Indiz dafür ist, dass diese Ausdruck für »sehr verschiedene Ideale« sind.43 Wenn Diez diese Entwürfe insgesamt als verfehlt beurteilt, »so geschieht es nicht in der Arroganz einer absoluten Entscheidung, sondern blos in der Absicht eines besondern Versuchs«.44 Wenn Diez erklärt: »Mit Rousseau habe ich wenig zu streiten. Wir stehen nicht weit von einander«,45 so bezieht sich diese Nähe nicht auf den rousseauschen Naturzustand, sondern insbesondere Rousseaus Kulturkritik: – So heißt es – ganz rousseauistisch in Anlehnung an dessen Diskurs über die Wissenschaften und Künste – bei Diez: »Mit der Bearbeitung der Wissenschaften und mit der Kultur der Künste sind Laster und Bosheiten unmittelbar gegattet, weil sie sich gegen einander wie Wirkung und Ursache verhalten«.46 – Das gleiche gilt für den ebenfalls bei Rousseau zu findenden Zusammenhang von Fortschritten der Vernunft, also Aufklärung, und Moralität: »Wenn die Vernunft den höchsten Gipfel ihrer Vervollkommnung erreicht haben wird, denn wird auch die Sittenverderbniß zur äussersten Stufe des Greuels gestiegen sein«.47 Täglich könne man deshalb auch »von Neuem« die Erfahrung machen, »daß im gesitteten Leben die Übel die Summe des Guten bey weitem überwiegen«.48 – Auch die Idealisierung des »Leben[s] des Wilden«, mit der die Naturzustandsschrift endet, ist ganz im Geiste Rousseaus verfasst: »Nach diesem Maaß überlegt ich oft« – so Diez –, »welcher Lebenszustand es wohl seyn würde, worin der Mensch, meiner Meynung nach, am glücklichsten wäre, und immer that meine Stimme für den kummerlosen Wandel des rohen Wilden den Ausspruch. [...] Könnten wir glücklicher seyn, wenn es uns allen, ein solch Leben zu führen, verliehen wäre?«49 Denn die Existenzweise des »Wilden« zeichnet sich einerseits durch weitgehende Bedürfnislosigkeit und fehlendes Zeitbewusstsein – »ihn nagen keine Wünsche, Sorgen und Hoffnungen; er sieht nicht über den gegenwärtigen Augenblick hinaus«50 –, sowie durch Abwesenheit intellektueller Reflexion aus, er ist deshalb mit sich und seiner Umwelt in völliger Übereinstimmung.

|| 43 Ebd., S. 116. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 123. 46 Ebd., S. 137. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 142. 49 Ebd., S. 142f. 50 Ebd., S. 143.

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Während Diezʼ Affinität im Hinblick auf Rousseaus Kultur- und Zivilisationskritik sehr deutlich ist, wird Rousseaus im Zweiten Diskurs entwickelte Konzeption des Naturzustandes einer scharfen Kritik unterzogen. Diese Kritik betrifft die isolierte, vorsoziale, vorsprachliche und reflexionslose Existenzweise der Menschen, die Rousseau als die ursprüngliche angenommen hatte: Dieser Weltweise setzt den Stand der Natur in ein Weltalter, wo die Menschen ohne Sprachen, ohne Sitten, ohne Besitzthum, ohne Gesetze und Oberhaupt, jeder für sich, doch ruhig, friedlich und glücklich neben einander lebten, und blos als Thiere, vielleicht auf Vieren kriechend, ihrem Instinkt folgten.51

Diezʼ Haupteinwand betrifft weniger Rousseaus Annahme der isolierten, vorsozialen Existenz der Menschen im Naturzustand als die Behauptung der Abwesenheit sprachlicher Kommunikation: »Menschen ohne Sprache! Das ist wider die Gewohnheit der Welt, ich möchte sonst sagen, wider unsre Bestimmung.« Diez macht auch darauf aufmerksam, dass Rousseau – neben Condillac und Herder – sich selbst mit einer eigenen Schrift an der zeitgenössischen Debatte um die Entstehung der Sprache beteiligt hatte, aber er selbst hält dies für ein Scheinproblem, weil er anders als Herder der Auffassung ist, dass die Sprache »nie einen ersten Ursprung gehabt habe«, sondern irgendeine primitive Form der Kommunikation zur ursprünglichen Existenzweise der Menschen gehört. Die Sprache ist »nie erfunden« worden:52 Lebt aber der Mensch mit Menschen: so wird man wohl den Satz ohne weitern Beweis annehmen: daß jeder Mensch auch alles lernen, und sich zueignen werde, durch ausdrücklichen Unterricht und selbst eigne Nachahmung, was seines Gleichen thun, was seiner Art eigen ist.53

Auch die zeitgenössischen Reiseberichte und anthropologischen Forschungen hätten gezeigt, dass bei allen Völkern und Stämmen die Sprache im Gebrauch ist, so dass Diez zu dem Ergebnis kommt, »daß ein Stand der Natur, wie ihn Rousseau meynt, niemals habe existieren können«.54

5 Das Problem der Normativität Trotz Ausblendung der juridischen Begründungsfunktion der Naturzustandshypothese bleibt die Frage nach der Genesis normativer Vorstellungen für Diez das eigentliche Thema seiner Überlegungen. Den Anspruch der »Gesetze der Natur«, wel-

|| 51 Ebd., S. 123. 52 Vgl. auch Mauvillon: Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 88. 53 Diez: Stand der Natur (s. Anm. 14), S. 124. 54 Ebd., S. 125.

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che die Naturrechtslehre aus der Naturzustandsanalyse zu gewinnen suchte, bestimmt Diez naturalistisch. Er betrachtet sie als Prinzipien, die einerseits die »Quellen wahrer Glückseligkeit« und andererseits die »Triebfedern der reinsten Sitten« und die allgemeinen konventionellen »Regeln der Gerechtigkeit« ausmachen. Dass es demgegenüber normative Prinzipien gäbe, die einen universalen »Ausspruch für die Moralität auf dem ganzen Erdboden« oder ein »vollkommenste[s] Ideal dessen, was unterm Monde Recht oder Unrecht seyn muß«,55 darstellen, wird von Diez bestritten: Die angeblich universellen Normen des Naturrechts sind hypostasierte Abstraktionen, d. h. »bloße Auszüge aus unsrer Gesellschaft, bloße Principien, die der Vernünftige von unsren Verbindungen abgezogen, oder von denen er wenigstens durch Vergleichung andrer Umstände die Anmerkung gemacht hat, daß sie für unsre Wohlfahrt beförderlich seyn würden«.56 Diez’ antinormativistische »Antithese« lautet, »daß in jedem Lande eine eigne Art der Moralität im Schwange sey, die mit den übrigen mehr oder weniger, oder gar nichts gemein hat«.57 Für Diez speisen sich die normativistischen Vorstellungen aus dem unreflektierten Eurozentrismus der Aufklärungsphilosophie. Diese formuliert keine ewigen Wahrheiten, weil sie nur die Vorstellungen ihrer Epoche verallgemeinern. Deshalb haben die Aufklärer auch kein Recht, »im Namen der ganzen Menschheit ein Urtheil zu sprechen. Jenseits des Meers wohnen auch Menschen! [...] Wer hat denn, wenn ich fragen darf, diese Universalmonarchie des europäischen Verstandes gestiftet?«58 Originell sind solche Bekundungen nicht; sie sind schon längst von Rousseau, Herder oder Diderot vorgebracht worden. Diez beruft sich auf Karneades, den führenden Vertreter der akademischen Skepsis des 2. vorchristlichen Jahrhunderts, über dessen Gerechtigkeitskritik und normativen Relativismus Cicero im dritten Buch seiner Schrift De re publica ausführlich gehandelt hatte und der, seitdem Grotius ihn in den Prolegomena seines Hauptwerkes De jure belli ac pacis als seinen theoretischen Antipoden charakterisiert hatte, allgemein als Wortführer der Naturrechtsleugner fungierte. Unter Berufung auf Karneades verweist Diez auf den empirischen Ursprung aller Normen: Es gibt »vor der Errichtung der Gesellschaft keine Regeln des Rechts und Unrechts«.59 Die von Diez nur angedeutete »Untersuchung über den Zustand wilder Nationen« soll den Nachweis »auffallender Gegensätze« in den Moralvorstellungen verdeutlichen und auf diese Weise »die Gewissheiten und Ideale von Grund aus« erschüttern.60

|| 55 Ebd., S. 127. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 129. 58 Ebd., S. 127. 59 Ebd. 60 Mauvillon: Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 92.

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6 Vernunftkritik und Kritik des Naturbegriffs Manfred Voigts hat in seinem Kommentar zur Edition der Frühen Schriften von Diez die These aufgestellt, das »eigentliche Thema« der Naturzustandskritik sei das, was man heute als »Vernunftkritik« bezeichnen würde.61 In der Tat bietet Diez die Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher, rechtlicher, religiöser und sonstiger ideologischer Phänomene auf, um hiermit den Absolutheitsanspruch der Vernunft und die damit verknüpfte Behauptung, es gebe eine, aber auch nur eine Wahrheit zu bestreiten. Dieser Einwand mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Auch ist in der Philosophie der Aufklärung dieser Gegensatz von Einheit der Vernunft und Relativität der menschlichen Lebensverhältnisse vielfach thematisiert worden. Aber bei genauerer Überlegung gilt der Schluss von der Vielfalt rechtlicher und moralischer Verhältnisse auf die Unmöglichkeit einer einheitlichen Moralphilosophie mit absolutem Geltungsanspruch ihrer Normen nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen, die sich keineswegs von selbst verstehen. Man braucht hier nur an das Beispiel der kantischen Ethik zu erinnern. Kant hat derartige zeitgenössische relativistische Einwände zum Anlass genommen, der Moralphilosophie ein neues Fundament zu verschaffen. Man kann durchaus sagen, dass Kant mit dieser Neubegründung der Moralphilosophie derartigen Einwänden, wie wir sie bei Diez finden, in gewisser Weise Recht gibt: Auf einer empirischhistorischen Grundlage ist keine Ethik mit unbedingtem Geltungsanspruch möglich. Die Konsequenz, die Kant aus dieser Einsicht zieht, besteht darin, dass er die normativen Geltungsfragen und damit die Frage nach der Wahrheit der Moral strikt von den empirischen Weltverhältnissen abtrennt, so dass man sagen kann: Das Reich der Moral ist nicht von dieser Welt. Kant geht in dieser Hinsicht so weit zu behaupten, dass der kategorische Imperativ selbst dann wahr ist, wenn es bisher noch keine einzige Handlung gegeben habe, die aus dem bloßen Willen zur Befolgung des moralischen Gesetzes hervorgegangen ist. Dass die Menschen also tagtäglich in tausenderlei Hinsicht gegen ein moralisches Normensystem verstoßen, ist für Kant – anders als für Diez – ein irrelevanter Einwand. Die Ethik sagt nämlich nichts darüber aus, wie Menschen wirklich handeln, sondern wie sie handeln sollen. Die moralischen Prinzipien – seien sie nun juridischer oder ethischer Art – können deshalb auch nicht aus der empirischen Natur des Menschen abgeleitet oder unter Hinweis auf diese bestritten werden: Kant behauptete, hierin durchaus in Übereinstimmung mit Diez, dass in Fragen der Moralphilosophie die Empirie die »Mutter allen Scheins« sei, nur hat er aus dieser Einsicht ganz andere Konsequenzen gezogen. Solche kantischen Rettungsversuchen der Moralphilosophie bilden das Gegenprogramm zu dem, was Diez selbst beabsich-

|| 61 Vgl. Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 476.

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tigt. Diez kommt in seiner Schrift abschließend auf die Frage zu sprechen: »Wo werden wir demnach den Stand der Natur suchen?«62 Seine Antwort lautet, dass die Suche vergeblich ist, weil es überhaupt keinen übergreifenden Begriff von Natur gibt, der es ermöglichte, gesellschaftliche Verhältnisse als natürlich bzw. unnatürlich zu bezeichnen. Diez erläutert dies an der gängigen Klassifikation von ›Gesitteten und Wilden‹.63 Derartige »Benennungen sind willkürlich und entscheiden nichts«. Sie deuten zwar eine »Differenz« an, nämlich einerseits das Vorhandensein von »Kunst, Wissenschaft und politische[r] Erziehung« auf der einen, bzw. deren »partiale Abwesenheit« auf der anderen Seite. Aber wegen der Gleichzeitigkeit derartiger unterschiedlicher Entwicklungsstufen, also wegen der Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen – denn stets waren »Gesittung und Wildheit, Politik und gesetzlose Gleichheit, wissenschaftliche und ungekünstelte Einsichten über die Erde verbreitet«64 – fehlt die Berechtigung, dem einen Zustand das Prädikat ›natürlich‹ zu verleihen und es dem anderen abzusprechen. Der Begriff der Natur ist entweder extensional leer oder bedeutungslos: Wir müssen dieses Wort [Natur] entweder bey unsern Betrachtungen ganz ausmerzen, und unter die Chimaeren verweisen – oder wir müssen alles auf der Welt, was existirt, wie es ist, wie es war und seyn wird, das alles die Natur nennen. [...] [W]ir können nicht sagen, hier oder da ist die Natur ausschlußweise, sondern sie herrscht überall, nur unter verschiednen Gestalten.65

Der Sache nach war diese Kritik am normativ aufgeladenen Naturbegriff nicht neu. Diez hatte sie vermutlich beim schottischen Sozialphilosophen Adam Ferguson gelesen. Ferguson selbst hatte die Benutzung der Naturzustandshypothese abgelehnt. Nach seinem Verständnis ist der Historiker der civil society ebenso wie der »natural historian« verpflichtet, »Tatsachen zu sammeln, anstatt Mutmaßungen anzustellen«.66 Er spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Frage nach dem Naturzustand geleitet sei von der »törichten Hoffnung darauf, dass wir die Geheimnisse der Natur bis zur Quelle des Seins erforschen« könnten. In Wahrheit handele es sich bloß um »fruchtlose Untersuchungen«, die den Anlass »für mancherlei wilde Vermutungen« gegeben hätten.67 Überhaupt erweist sich die Frage nach dem Naturzustand schon für Ferguson als sinnlos:

|| 62 Diez: Stand der Natur (s. Anm. 14), S. 138. 63 Ebd., S. 139. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 »[T]o collect facts, not to offer conjectures« (Ferguson: History [s. Anm. 41], S. 2). 67 »[A] fond expectation, perhaps, that we may be able to penetrate the secrets of nature, to the very source of existence« und von den »many fruitless inquiries«, die in dieser Hinsicht angestellt worden seien.

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Wenn wir deshalb gefragt werden, wo der Naturzustand zu finden ist, so können wir antworten: hier ist er; und es kommt nicht darauf an, ob man meint, dass wir dabei von der Britischen Insel sprechen oder vom Kap der Guten Hoffnung oder von der Magellanstraße. Solange dieses tätige Wesen im Begriff ist, seine Talente anzuwenden und auf alle Gegenstände rings herum zu wirken, sind alle Situationen in gleicher Weise natürlich,

so dass dem Menschen das Leben in einer Hütte wie in einem Palast gleichermaßen natürlich ist. Die Entgegensetzung von Natur und Kunst (im Sinne von Technologie) ist unsinnig, weil zu allen Zeiten – sowohl »in den Lebensverhältnissen des Wilden wie denen des Bürgers […] Beweise von menschlicher Erfindungsgabe« und Kunstfertigkeit zu finden sind.68 Für die Anthropologie der Spätaufklärung wird – so können wir mit Blick auf Diezʼ Naturzustandsschrift, die von dem Göttinger Materialisten Michael Hißmann aufgegriffen wurde,69 festhalten – die Konzeption des Naturzustandes insgesamt fragwürdig. Der Naturzustand wurde von der überwiegenden Zahl der Anthropologen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur noch als »bloße Hypothese« akzeptiert, die – entweder zur »Entdeckung des gesellschaftlichen Zustandes als die dem Menschen eigentlich natürliche und angemessene Lebensform« sowie die Entdeckung der ursprünglichen Rechte und Pflichten der Menschen zum Ziel hat, – oder als Hypothese, die das Wesen des Menschen, seine Menschheit bzw. seinen geschichtlichen Ursprung zum Gegenstand hat.70 Unsere Betrachtung der diezschen Naturzustandsschrift schließt mit einem eher ernüchternden Ergebnis: Diez ist ein radikaler Kritiker der zeitgenössischen Überzeugungen und zwar sowohl derjenigen, die die religiösen Überzeugungen von den meisten Vertretern der Aufklärungsphilosophie kritisierten, als auch derjenigen, die || 68 »If we are asked therefore, Where the state of nature is to be found? we may answer, It is here; and it matters not whether we are understood to speak in the island of Great Britain, at the Cape of Good Hope, or the Straits of Magellan. While this active being is in the train of employing his talents, and of operating on the subjects around him, all situations are equally natural. If we are told, That vice, at least, is contrary to nature; we may answer, It is worse; it is folly and wretchedness. But if nature is only opposed to art, in what situation of the human race are the footsteps of art unknown? In the condition of the savage, as well as in that of the citizen, are many proofs of human invention; and in either is not any permanent station, but a mere stage through which this travelling being is destined to pass. If the palace be unnatural, the cottage is so no less; and the highest refinements of political and moral apprehension, are not more artificial in their kind, than the first operations of sentiment and reason« (Ferguson: History [s. Anm. 41], S. 8). 69 Auf Diez’ »kleine, aber trefliche« Schrift verweist Hißmann in seinen Betrachtungen über die Naturgesetze. In: Deutsches Museum 1778, 2. Band, S. 529–543, hier S. 531. 70 Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, S. 114ff.

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zum weithin akzeptierten Argumentationsbestand dieser Philosophie gehörten. Das Spezifische seiner Auseinandersetzung mit den Fragen der Moral- und Rechtsphilosophie ist der Skeptizismus, aber es ist dies ein Skeptizismus der Verzweiflung, der letztlich alle systematischen philosopischen Fragen für irrelevant hält, weil es keine objektiv wahre Theorie gibt, sondern nur subjektiv für wahr gehaltene Ansichten. Es liegt auf der Hand, dass das Festhalten an einer solchen Position psychologisch wenig für sich hat. Wer von der »Eitelkeit alles Thuns und Wesens« und von der Relativität aller Aussagen überzeugt ist, hat wenig Grund, das philosophische Geschäft fortzusetzen. Der »geistige Umschwung«, den Manfred Voigts um das Jahr 1784 konstatiert, wäre deshalb auch wenig überraschend. Wer die Wissenschaft preisgibt, ist reif für den Glauben. Es ist insofern keine Überraschung und kein psychologisches Geheimnis, wenn der späte Diez als »hyperorthodox und Zelot bis zur Verketzerung« erscheint.71

|| 71 Voigts (s. Anm. 1), S. 460.

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Die Pflicht des Weisen zur Aufklärung Diez’ Verteidigung der Pressefreiheit im Kontext seiner philosophischen Anschauungen

1 Vorbemerkungen Im Jahr 1781 erschien die Apologie der Duldung und Preßfreyheit (im Folgenden: Apologie).1 Das Titelblatt verrät weder den Druckort noch den Autor der Schrift, sondern lediglich den Namen des Herausgebers: Heinrich Friedrich Diez. Noch im selben Jahr publizierte Diez in den Berichten der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten eine Rezension zur Apologie, in der er die Fiktion aufrechterhielt, dass es sich bei dem Autor der Schrift um eine andere Person handele als ihn.2 Allerdings wurde schnell bekannt, dass er selbst der Autor der Apologie und die Schrift in Magdeburg gedruckt worden war. Falls Diez auf Anonymität abgezielt haben sollte, war dieser Versuch rasch gescheitert. Schon bevor Diez die Apologie herausgab, war er mit etlichen, thematisch unterschiedlich ausgerichteten Veröffentlichungen als Autor in Erscheinung getreten. 1772 publizierte er anonym eine Abhandlungen über die Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt (1772),3 ein Jahr später die »Erste Sammlung« seiner anthropologisch-moralischen Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773)4 sowie eine Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion (1773),5 ein weiteres Jahr später die Untersuchungen Von dem Zustande der Rechte in || 1 [Heinrich Friedrich Diez:] Apologie der Duldung und Preßfreyheit. Hg. von dems.: [Magdeburg] 1781. (ND ders.: Frühe Schriften (1772–1784). Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 163–191; 1798 erschien die Apologie in einer neuen Ausgabe (wiederum ohne Nennung des Druckortes in Magdeburg), die mir allerdings nicht zugänglich war. Auf die Neuedition weisen verschiedene bibliographische Werke hin. Exemplarisch: Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller, angefangen von Georg Christoph Hamberger, fortgesetzt von Johann Georg Meusel. Bd. 9. 5., verm. u. verbess. Ausgabe. Lemgo 1801, S. 240. 2 [Heinrich Friedrich] Diez: Rezension zu: Apologie. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten, Jg. 1781, 7. St., S. 523–533 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 199–204). 3 [Heinrich Friedrich Diez:] Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt. Halle 1772 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 13–25). 4 Heinrich Friedrich Diez: Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen. Halle 1773 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 27–92). Eine ›zweite Sammlung‹ ist nicht erschienen. 5 Heinrich Friedrich Diez: Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion (EA Lemgo 1773). In: ders.: Philosophische Abhandlungen, Rezensionen und unveröffentlichte Briefe (1773–1784). Hg. u. kommentiert von Arne Klawitter. Würzburg 2018, S. 13–23.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-006

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Deutschland und Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie (beide 1774)6 sowie den Versuch über dem Patriotißmus (1774).7 In den darauffolgenden Jahren erschienen Der Stand der Natur (1775),8 die beiden Aufsätze Über Frauenzimmer. Ein Fragment und Über deutsche Handschrift,9 eine Biographie des schottischen Dichters John Barclay und die Miszellen für Denker (alle 1780).10 Zudem hat Diez seit 1774 Rezensionen zu Schriften von Jean de Sales, Voltaire, Carl Renatus Hausen, Johann Heinrich Els, Giovanni Cataneo und Johann Gottlieb Schummel verfasst.11 Die Beschäftigung mit dem Menschen als Natur- und Gesellschaftswesen sowie mit den psychologischen Eigenheiten des Menschen und ihren Wechselwirkungen stand in den früheren Publikationen im Vordergrund; später trat – provoziert durch Diez’ anthropologische Beobachtungen – das Interesse an Sprachgeschichte und Sprachtheorie mehr und mehr in den Vordergrund. Angesichts der thematischen Ausrichtung der genannten Schriften wird bereits deutlich, dass sich Diez mit dezidiert philosophischen Themen befasst hat. Es muss daher irritieren, wenn Manfred Voigts, der Herausgeber von Diez’ Schriften, feststellt: »Diez war kein Philosoph«, er war sogar »das Gegenbild eines ›deutschen‹ Philosophen«.12 Voigts begründet seine Einschätzung mit dem Verweis darauf, dass Diez kein »Idealist«, sondern »Realist« gewesen sei, dass er die von der »Philosophie seiner Zeit« aufgestellten moralischen Ideale als unerreichbar und falsch sowie das damit verbundene Menschenbild und die »allgemein verbreitete metaphysische Philosophie« als realitätsfern kritisiert habe.13 Insbesondere sei Diez ein Gegner der

|| 6 Heinrich Friedrich Diez: Von dem Zustande der Rechte in Deutschland. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, Bd. 5 (1774), S. 638–662 (ND Diez: Philosophische Abhandlungen [s. Anm. 5], S. 25–37; ders.: Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, Bd. 6 (1774), S. 629–660 (ND Diez: Philosophische Abhandlungen [s. Anm. 5], S. 39–55. 7 H[einrich] F[riedrich] Diez: Versuch über dem Patriotißmus. Frankfurt a. M., Leipzig 1774 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 93–113). 8 [Heinrich Friedrich Diez:] Der Stand der Natur. [Lemgo] 1775 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 115–144). 9 H[einrich] F[riedrich] Diez: Über Frauenzimmer. Ein Fragment. In: Deutsches Museum, Bd. 1 (1780), 4. St., S. 348–351, (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 145–146); [ders.]: Über deutsche Handschrift. In: Deutsches Museum, Bd. 1 (1780), 5. St., S. 441–445. 10 Heinrich Friedrich Diez: Johan Barklai. In: Deutsches Museum, Bd. 1 (1780), 5. St., S. 447–455, 7. St., S. 48-61, (ND Diez: Philosophische Abhandlungen [s. Anm. 5], S. 61–66); ders.: Miszellen für Denker. In: Deutsches Museum, Bd. 1 (1780), 8. St., S. 135–143, Bd. 2 (1780), 9. St., S. 269–282, (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 147–162). 11 Die Rezensionen finden sich neu ediert in: Diez: Philosophische Abhandlungen (s. Anm. 5), S. 68–92. 12 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 465. Freilich stellt sich hier sofort die Frage, wie das Bild eines ›deutschen‹ Philosophen – mit Blick auf das späte 18. Jahrhundert oder auch überhaupt – aussehen mag. 13 Ebd.

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»sich […] herausbildenden System-Philosophie« gewesen. Damit wird klarer, was Voigts gemeint haben dürfte: Diez war kein Philosoph des im 18. Jahrhundert die deutschen Universitäten dominierenden Typus, nämlich des rationalistischen, auf ein universales System zielenden Philosophieprofessors, oder kürzer ausgedrückt: Diez war kein Philosoph wie Christian Wolff. In der Tat war er ein Realist und erhoffte sich vom Materialismus die vielversprechendsten Fortschritte in der Philosophie. Aber Diez war auch Skeptiker, Deist und – vor allem – Relativist. Er erachtete keine Philosophie für endgültig, kein Dogma und kein wissenschaftliches System für objektiv wahr, sondern betrachtete Philosophie, Wissenschaft und Religionen im Ganzen als einen Widerstreit von Meinungen, für die prinzipiell keine Letztbegründungen gegeben werden können. Meinungen und Überzeugungen zu haben, nicht endgültiges Wissen, galt Diez als conditio humana, als ein unüberwindbares Proprium des Menschen. Diese anthropologische Einschätzung bildet auch den Hintergrund für seine Verteidigung der Denk-, Rede- und Pressefreiheit. Mag man Diez als Philosophen anerkennen oder nicht, in jedem Fall hat er sich selbst als Philosophen betrachtet. Nicht nur, dass er u. a. eine Philosophische Abhandlung verfasst und in seinen frühen Schriften größtenteils philosophische Themen behandelt hat; er hat sich in seinen Texten auch immer wieder als Philosoph, bisweilen sogar als Weiser oder als Genie inszeniert. Auch der Realismus, den Diez vertreten hat, ist eine philosophisch begründete Haltung. Wenngleich es zutrifft, dass er weder ein Schulphilosoph noch ein ›Systemphilosoph‹ gewesen ist, bedeutet dies nicht, dass sein Denken unphilosophisch und gänzlich unsystematisch gewesen wäre. Diez war zwar nicht darauf aus, ein philosophisches Gesamtsystem im Stil der rationalistischen Schulphilosophie zu entfalten, aber dennoch gibt es inhaltliche und tendenziell systematische Querverbindungen zwischen seinen philosophischen Schriften. Allerdings sind die Beziehungen, die diese Systematik kennzeichnen, schwerer zu erkennen als die der akademischen Philosophien der Frühen Neuzeit. Dies trifft auch auf die Apologie der Duldung und Preßfreyheit zu.

2 ›Freidenker‹ Bei der Apologie handelt es sich nach dem Urteil Voigts’ um »eine der wichtigsten Schriften von Diez«.14 In ihr finden sich einige explizite, vor allem aber implizite Bezüge auf seine anderen Texte. Auch wenn die Apologie, die in der Forschungsliteratur meist nur beiläufig erwähnt wird, zunächst nicht als philosophischer Traktat, sondern als politische Kampfschrift erscheint, ist die Position, die Diez in ihr entfaltet und verteidigt, ohne den Bezug auf seine naturrechtlichen, anthropologischen

|| 14 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 483.

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und erkenntnistheoretischen Texte nicht vollständig erfassbar. Denn in der Apologie greift Diez auf einige Prämissen zurück, deren Gültigkeit er zuvor andernorts nachzuweisen sich bemüht hatte. Darüber hinaus konnte Diez zur Verteidigung der (meist positiv bewerteten) Denkfreiheit und der (meist negativ bewerteten) Freidenkerei auf ein reichhaltiges Arsenal von Argumenten zurückgreifen. Denn die Debatte über die Denkfreiheit und ihre Grenzen war bereits lange geführt worden und hatte eine entsprechend große Menge an Schriften hervorgebracht. Es ist schwer zu sagen, welche dieser Publikationen Diez gekannt hat und inwieweit sie ihn beeinflusst haben. Zweifellos gekannt hat er die 1747 von Heinrich Gottlob von Justi anonym veröffentlichte Abhandlung über die Uhrsachen des Verfalls der Religion und der einreissenden Freydenkerey, aus der er unübersehbar einige wichtige Anregungen erhalten hat.15 Jedenfalls schaltete sich Diez mit der Apologie als Verteidiger des freien Denkens in eine bereits seit langem geführte Auseinandersetzung ein.16 Seine Fokussierung auf die Pressefreiheit hingegen markiert – zumindest in chronologischer Hinsicht – den Beginn einer Phase, in der dieses Thema intensiver diskutiert wurde als jemals zuvor.17 Der Titel Apologie der Duldung und Preßfreyheit lässt offen, um welchen Zusammenhang der Begriffe ›Duldung‹ und ›Preßfreyheit‹ es in dieser Schrift geht. Zunächst bleibt unklar, wer oder was von wem in welchem Kontext geduldet und wessen Pressefreiheit gegen welche intendierten oder faktischen Einschränkungen verteidigt werden soll. Vor allem aber blendet der Titel einen Ausdruck aus, dem innerhalb des Textes größte Bedeutung zukommt, weil er dort sowohl das Objekt der Duldung als auch das Subjekt der Pressefreiheit kennzeichnet, nämlich den Ausdruck ›Freidenker‹. Die Apologie ist eine Kampfschrift eines einzelnen Freidenkers, in der die Freidenker im Allgemeinen verteidigt werden sollen. Mit dem Ausdruck ›Freidenker‹ wurde im 18. Jahrhundert allerdings nicht der im alltagssprachlichen Sinn frei denkende Mensch bezeichnet, sondern eine faktisch durchaus heterogene Gruppe von Personen, die mit ebenso heterogenen Motiven vor allem, aber nicht ausschließlich, theologische Dogmen und religiöse Konventionen in Frage stellten. Die Objekte ihrer Kritik konnten einzelne Lehrsätze, aber auch offenbarungstheologische oder sogar theologische Positionen im Ganzen sein, so dass

|| 15 [Heinrich Gottlob von Justi:] Uhrsachen des Verfalls der Religion und der einreissenden Freydenkerey. Berlin 1747; vgl. Dirk Fleischer: Kirchenverständnis aus polizeiwissenschaftlicher Sicht. Johann Heinrich Gottlob von Justis Verständnis der Kirche. In: Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit. Hg. von Albrecht Beutel, Volker Leppin u. Udo Sträter. Leipzig 2006, S. 71–83, hier S. 75. 16 Vgl. Kay Zenker: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012; zu Diez siehe bes. S. 458–460. 17 Einige Beispiele finden sich bei Carl Gottlob Rösselt: Die neuere Litteratur der Polizey und Cameralistik, vorzüglich vom Jahr 1762. bis 1802. Zweyter Theil. Chemnitz 1802, S. 126f. Auch hier wird Diez’ Apologie als früheste Schrift über Pressefreiheit genannt.

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sich unter den sogenannten Freidenkern sowohl Theisten als auch Deisten und sogar Atheisten finden. Seinen Ursprung hat der Ausdruck ›Freidenker‹ in der englischen Aufklärung (free thinker) und war dort zunächst noch zu einer positiv konnotierten Selbstbezeichnung einiger Philosophen avanciert. Wenig später, v. a. in Frankreich (libertin, esprits fort), bald aber auch in Deutschland (Freigeist, Freidenker), wurde der Ausdruck zu einem abwertenden Kampfbegriff, der auf Personen angewandt wurde, in deren Äußerungen man eine Gefahr für den Glauben und das Wohl des Staates erblickte. Dadurch wurden die Bezeichnungen ›Freidenkerei‹ und ›Freigeisterei‹ auch in Deutschland oft als Synonym für ganz unterschiedliche, faktisch miteinander unvereinbare religiöse wie antireligiöse Haltungen verwendet. Es handelt sich insofern nicht nur um einen Kampf-, sondern auch um einen undifferenzierten Sammelbegriff. Diez war die Vielschichtigkeit, die in der Verwendung des Begriffs ›Freidenker‹ zum Ausdruck kam, durchaus bewusst; er bemühte sich deshalb zunächst um dessen Klärung. Dabei ging er von staatsvertraglichen und anthropologischen Theorien aus, die er bereits zuvor in anderen Schriften erörtert hatte. Es ist deshalb für ein adäquates Verständnis der Apologie notwendig, die entsprechenden Bezüge, die von Diez keineswegs immer deutlich hervorgehoben worden sind, sichtbar zu machen. Dass es Diez in seiner Schrift in der Tat um eine prinzipielle, nämlich philosophisch fundierte Verteidigung der Freidenker geht, wird gleich am Anfang der Apologie deutlich. Er beginnt mit der Erörterung des Ursprungs der Begriffe des freien und des eingeschränkten Denkens, allerdings nicht aus literatur-, sondern aus gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive, und er bedient sich dabei naturrechtlicher und staatsphilosophischer Prämissen, die für die entsprechenden Teilbereiche der Philosophie im 18. Jahrhundert durchaus charakteristisch sind. Sein Ansatz sei hier kurz dargestellt: Im Naturzustand erfährt das menschliche Denken keinerlei Einschränkung, weshalb das »unbegrenzte Denken« Teil der »natürlichen Bestimmung« des Menschen ist.18 Die Begriffe ›freies Denken‹ und ›eingeschränktes Denken‹ sind Prägungen »gesittete[r] Staaten«, sie gelten Diez insofern als artifiziell. Von Natur aus »denken wir blos«, und zwar in dem uns von Natur aus möglichen Grad. Da die Einschränkung der Denkfreiheit nur in Staaten, in denen sich bestimmte Sitten etabliert haben, erfolgen kann, ist es auch nur in ihnen möglich, dass der Mensch diese Einschränkung als Unglück und die uneingeschränkte Denkfreiheit als Glück empfindet. Nicht das Denken, sondern das Bewusstsein der Denkfreiheit und ihrer möglichen wie faktischen Einschränkung wird damit zu einem Phänomen des Gesellschaftszustandes erklärt. Der in ihm geborene Mensch wird nämlich – anders als im Naturzustand – daran gewöhnt, »anders zu seyn«, als ihn »die Natur gemacht« hat. Diese Gewöhnung hat bewirkt, dass die Menschen nicht mehr ohne || 18 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 163.

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weiteres erkennen, dass die Denkfreiheit ein konstitutiver Aspekt ihrer natürlichen Bestimmung ist. Das zunehmend fehlende Bewusstsein des natürlichen Rechts zu denken hat sogar bei vielen, auch unter Gelehrten, zu der falschen Einschätzung geführt, dass die Denkfreiheit dem Menschen von Natur aus überhaupt nicht zukommt. Andere hingegen, offenbar nur wenige, sind sich ihres Rechts bewusst geblieben. Auf diese Weise haben sich zwei »Klassen« herausgebildet, von denen eine die Denkfreiheit des Menschen bestreitet und ihr deshalb Grenzen setzen will, während die andere gegen diese Begrenzungen ankämpft. Erst im Kontext dieser Spannungslage, die in einen Kampf um bestimmte, zu einem »Volkssistem« erhobene »Erkänntnißarten« kulminiert, gewinnt der Begriff der Denkfreiheit für Diez an Kontur.19 Schon in den Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen hatte er bestimmte »Systeme« als Grund für eine verbreitete »Sklaverey« im Denken scharf angegriffen.20 Das Hauptproblem besteht seiner Ansicht nach darin, dass das menschliche »Selbst« in der Philosophie kaum in den Blick genommen worden sei. Die Hoffnung, in diesem Feld endlich einen Erkenntnisfortschritt zu erzielen, ist aus seiner Sicht erst kürzlich wieder zunichte gemacht worden, nämlich durch die »vor kurzem angebetete Methode, welche man blindlings auf die Bearbeitung aller Wissenschaften und Kenntnisse übertragen wollte«. Mehr noch, die »Systeme«, die mit dieser Methode auf vermeintlich »unumstößlichen Gründen« errichtet worden sind, haben sich geradezu als »Fesseln« eines »Gängelwagen[s]« erwiesen.21 Eine »höher[e] Betrachtung des Menschen« ist damit verhindert worden, denn sie erfordert »Freyheit«. Der Mensch muss deshalb endlich in die Lage versetzt werden, »frey denken und erfinden« zu dürfen.22 Damit richtet sich Diez zunächst nicht gegen die Religion, sondern gegen eine bestimmte Philosophie, nämlich gegen die Philosophie Christian Wolffs und seiner Anhänger. Sie ist es, die – dem Anspruch nach überall streng nach einer einheitlichen ›philosophischen Methode‹ verfahrend – ein umfassendes System aller Wissenschaften bilden soll. In der Tat hatte Wolff, mehr oder weniger explizit, alle Philosophie, die nicht seiner Methode folgte, als Pseudophilosophie verworfen.23 Diez, der während seines Studiums in Halle die Philosophie Wolffs detailliert kennengelernt haben dürfte, lehnt diese an einer universalen Methode orientierte Philosophie aus fundamentalen Gründen ab. Die Anwendung der »angebetete[n] Methode« in

|| 19 Ebd. 20 Ebd., S. 28. 21 Ebd. Die Metapher des »Gängelwagen[s]« benutzte später bekanntlich auch Kant (AA VIII, S. 115). 22 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 28. 23 Vgl. exemplarisch Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Hist.-krit. Ausgabe. Übersetzt, eingeleitet u. hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, bes. Kap. IV, §§ 136–138 (S. 156–159).

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allen Wissenschaften hält er für eine »belachenswürdige Thorheit«, weil sie allgemeine Gründe voraussetze, die nicht bewiesen werden könnten.24 Er betrachtet die Ergebnisse der rationalistischen Philosophie deshalb als bloße »Hypothesen«, die auf unbegründeten Behauptungen basieren, und bestreitet insofern den gesamten Erkenntniswert des auf ihnen aufgebauten philosophischen Systems.25 In der Apologie dehnt Diez die Kritik an der spekulativen rationalistischen Philosophie auf die Religionen aus, die er – bemerkenswerterweise – unter die Wissenschaften subsummiert.26 Diese prima facie irritierende Zuordnung erklärt sich erst durch Diez’ Erkenntnisrelativismus, den er andernorts deutlicher erläutert hat. In einer Rezension von 1774 hatte er die Bedeutung der Frage hervorgehoben, was Wahrheit, genauer, was »Wahrheit unter Menschen« sei.27 Seine Antwort veranschaulicht seinen erkenntisrelativistischen Standpunkt deutlich: Da alle menschlichen Begriffe relativ zur jeweiligen individuellen »Art zu denken« sind, die ihrerseits von wiederum individuellen Unterschieden abhängen, nämlich von »Erziehung, Unterricht, körperlicher Disposition, Leidenschaften, Nahrungsart, gesellschaftlichen Verbindungen, Intressen« u. a., sind auch die »Erkenntnisgründe« von Mensch zu Mensch verschieden. »Alles kömt auf Überzeugungen an, die unter Millionen nicht einerlei seyn können«.28 Aufgrund dieser Einsicht bestreitet Diez, dass Menschen objektive Wahrheiten erkennen können. Zugleich bestreitet er damit den absoluten Erkenntnisanspruch, der von Seiten Wolffs und seiner Schüler erhoben worden war, indem sie ihre Philosophie auf Prinzipien gründeten, die sie als absolut gewiss behaupteten, ohne den »algemeinen und absoluten Maasstaab, wornach man die Richtigkeit oder Seichtheit der Schlußgründe ungezweifelt bestimmen könnte«, kenntlich gemacht zu haben. Nach Diez’ Auffassung war ihnen dies nicht möglich, weil es einen solchen Maßstab nicht gibt, sondern lediglich unterschiedliche »individuelle Überzeugungen«. Daher gelten ihm »Bücher, Künste und Wissenschaften« lediglich »als die Archive individueller Meinungen, Raisonnements und Werkereien der Urheber und Erfinder«.29 Jede Proklamation vorgeblich absoluter Wahrheit erscheint aus dieser Perspektive als »wißlerische Arroganz«.30 || 24 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 29. 25 Übrigens hält Diez die Philosophie Wolffs für weitgehend unselbständig, nämlich für stark von Leibniz abhängig. Dessen Monadologie betrachtet Diez ebenfalls als »System«, das allerdings von seinen Gegnern gestürzt worden sei, weil diese es als gefährlich für die Religion und die Sitten betrachtet hätten. Vgl. Diez: Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie. In: ders.: Philosophische Abhandlungen (s. Anm. 5), S. 42. 26 Vgl. Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 199. 27 Heinrich Friedrich Diez: Rezension zu: Über die Nationalvorurtheile, ein Buch für alle Stände. Hg. von Carl Renatus Hausen. 1ster Theil. 2. Aufl. Frankfurt a. d. O. 1773. In: ders.: Philosophische Abhandlungen (s. Anm. 5), S. 74–78, hier S. 74. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 74f. 30 Ebd., S. 75.

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Da die Religionen ebenfalls Anspruch auf absolute Wahrheit erheben und ihre Vertreter eigene Lehrsysteme entwickeln, haben Religion und Wissenschaften aus Diez’ Sicht eine gemeinsame Charakteristik, was ihn dazu führt, die Religionen unter die Wissenschaften zu subsummieren. Vor dem skizzierten Hintergrund versteht Diez den Begriff ›Freidenker‹ vor allem als Kampfbegriff, und zwar als abwertende Bezeichnung, mit der die Verteidiger eines etablierten ›Volkssystems‹ diejenigen etikettieren, die dieses System in Frage stellen. Da der Fundus an Erkenntnissen, die als wahr betrachtet werden, nach Diez’ Auffassung historisch bedingt Transformationen unterworfen ist, ändert sich auch der Bewertungsmaßstab, nach dem mutmaßliche Freidenker als solche beurteilt werden. Der Begriff ›Freidenker‹ wird deshalb, wie alle Begriffe aus demselben Begriffsfeld, als relativer Begriff betrachtet. Zum Beleg seiner Relativitätsthese führt Diez etliche Beispiele an. An ihnen wird einerseits deutlich, dass Philosophie und Wissenschaft gerade den Theoretikern die wichtigsten Fortschritte verdanken, die von ihren jeweiligen Zeitgenossen als Freidenker beschimpft worden waren. Andererseits sollen Exempel aus der Religionsgeschichte offenbar belegen, dass sich der angesprochene Relativismus des Ausdrucks ›Freidenker‹ auch in ihr spiegelt. Aus Sicht seiner religiösen Widersacher sei sogar Christus ein Freidenker gewesen. Ausgehend von der Relativität des Begriffs ›Freidenker‹ kommt Diez zu dem Urteil, dass dieser Begriff oft missbraucht wurde und immer noch oft missbraucht wird, während zugleich sein relativer Charakter durch die einseitige Verwendung als Kampfund Spottbegriff verdeckt werden soll. Allerdings beobachtet Diez bereits eine gewisse Rehabilitierung dieses Ausdrucks, denn er werde von den Gegnern des freien Denkens inzwischen so ausschweifend verwendet, dass er nun auch zur Bezeichnung der »grösten Geister aller Nationen und Zeiten« dient und auf diese Weise auch wieder eine positive Bedeutung erhält.31

3 Freies Denken und Religion Diez ist der Auffassung, dass das freie Denken den Menschen in die Lage versetzt, »die gemeinsten Glaubenslehren in den Wissenschaften als die ärgsten Paradoxen [sic!]« erkennen zu können.32 Dazu muss das freie Denken dem Menschen allerdings zur »Gewohnheit« werden, d. h. die im Gesellschaftszustand etablierte Gewöhnung an Normen, die der natürlichen Wesenheit des Menschen zuwiderlaufen, muss überwunden werden. Auf die Frage, wie und durch wen dies geleistet werden kann, gibt Diez eine bemerkenswerte Antwort: durch »Übung und beständigen Umgang

|| 31 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 164. 32 Ebd.

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mit lebenden und todten Philosophen«. Die Beschäftigung mit der Philosophie einschließlich ihrer Geschichte wird damit zu einer unverzichtbaren pädagogischen Aufgabe, nämlich zum Mittel, dem Menschen das freie Denken als Teil seiner natürlichen Bestimmung bewusst zu machen und es zu entfalten. Damit sind sowohl der Zusammenhang zwischen Denkfreiheit und Philosophie einerseits und die zentrale Rolle der Philosophie für den Menschen im Gesellschaftszustand andererseits deutlich markiert. Im Feld der Religion ist der Aufgabe, die Menschen durch die Philosophie wieder zum Bewusstsein ihres natürlichen Rechts auf Denkfreiheit zu verhelfen, nach Diez’ Einschätzung besonders dringend nachzukommen, denn dort habe es »in fast allen Jahrhunderten und unter allen Nationen« die größte Beeinträchtigung der Denk- und Schreibfreiheit gegeben. Ähnliche Ansichten hatte Diez bereits 1773 in der Philosophischen Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion geäußert.33 Darin begrüßt er zwar zunächst, dass der erste Schritt auf dem Weg zu einer »algemeine[n] Toleranz« getan sei, »denn man hats uns erlaubt, zu denken, was wir wollen«, aber er weist zugleich darauf hin, dass man sich von der »Fessel« der »Despotenstimme unsrer sclavischen Mitbrüder« erst noch befreien müsse.34 Vom Zustand der christlichen Religion zeichnet er ein düsteres Bild: Das 18. Jahrhundert ist das unchristlichste Säkulum, das es jemals gegeben hat. Die Religion ist heruntergekommen zu einer »Sache des gemeinen Volkes«, so dass die Geistlichkeit bereits um das bloße Überleben kämpfen muss. Diejenigen, die sich für Gläubige ausgeben, verhalten sich faktisch nicht anders als Ungläubige. Diesen Zustand betrachtet Diez einerseits als das Ergebnis einer Entwicklung, die bereits in der Antike begonnen hat, andererseits mutmaßt er einen Zusammenhang mit bestimmten menschlichen Charakteristika, die diese historische Entwicklung bewirkt haben. So verweist er nicht nur auf die »Geschichte des Christentums« und die Unbestimmtheit und Zweideutigkeit der Bibel als mögliche Ursachen für den Religionsverfall, sondern er geht auch davon aus, dass der »menschliche Verstand [...] zu unruhig, zu skeptisch und wißbegierig [ist], als daß es seine Natur erlauben sollte, niemals sich wider eine Lehre, deren Wahrheit für ungezweifelt gehalten wird, aufzulehnen«.35 Zudem hält er es für wahrscheinlich, dass beide Ursachen zugleich wirken. Diez hält es für vollkommen natürlich, dass die Menschen allen als göttlich ausgegebenen Lehren mit Zweifel begegnen. Ihr Streben nach Wissen verträgt sich seiner Überzeugung nach nicht mit Dogmen, mit denen die Fähigkeit zur »unbestimmbaren Erweiterung« des Wissens eingeschränkt wird.36 Insbesondere das Verhältnis von Religion und Philosophie

|| 33 Zu dieser Schrift siehe Arne Klawitter: Nachwort. In: Diez: Philosophische Abhandlungen (s. Anm. 5), S. 205–236, hier S. 210–213. 34 Ebd., S. 13. 35 Ebd., S. 14f. 36 Ebd., S. 15.

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werde brisant, wenn die Philosophie darauf abzielt, Wahrheiten zu erkennen, die von religiöser Seite als bereits bekannt und erwiesen proklamiert werden. Dieses Spannungsverhältnis hat, wie Diez weiter erörtert, schon in der Frühzeit des Christentums zu Glaubensspaltungen und zu Auseinandersetzungen zwischen Religion und Philosophie geführt, z. T. auch zu Versuchen ihrer Vereinigung, die allerdings mehr geschadet als genützt hätten. Den Ursprung dieser Spannungen erkennt Diez darin, dass der ursprüngliche Zweck, den Christus mit seiner Aufforderung zum Glauben verfolgt habe, nämlich die Besserung der Menschen und ihre Vorbereitung zu einem »seligern Leben«, als »Norm« aus dem Blick geraten sei. Stattdessen habe man sich durch den Vorwurf der »Speculation« auf eine Auseinandersetzung mit philosophischen Lehren eingelassen und den Versuch unternommen, unterschiedliche philosophische Lehren mit der Religion »zu vereinigen«. Nachdem dies gescheitert sei, habe man auf »Betrügereien« zurückgegriffen, um die Religion zu verteidigen, was bis in die Gegenwart hinein zu tiefgehenden Glaubensspaltungen geführt habe. Die Reformation, die Diez ebenfalls zu diesen Spaltungen zählt, erscheint vor diesem Hintergrund keineswegs als ein positives Ereignis. Sie habe nämlich dazu geführt, »der Speculation eine weite Bahn« zu öffnen und so der »Zweifeley« und Freigeisterei großen Raum gegeben. Die »Lehrer der Orthodoxie« selbst hätten durch ihre Streitigkeiten über ihre »Lehrgebäude« den Menschen die Mittel »in die Hände gegeben [...], vieles, was sie sonst für wunderbar und übernatürlich hielten, ganz natürlich zu erklären: so wurden sie, vom Berufe weniger gebunden, auf die Bahn einer freiern Denkungsart geleitet«.37 Freilich geht es Diez nicht darum, Partei für die Religion und gegen die »freie Denkungsart« und »Freigeisterei« zu ergreifen. Was zunächst anmuten mag wie die Suche nach einem geeigneten Mittel, die Religion gegen die Philosophie zu verteidigen, ist vielmehr ein Plädoyer für die endgültige Abkehr von ihren vorgeblichen »Mysterien« und für die Hinwendung zum vernünftigen Denken.38 Irrationaler Glaube, z. B. an Wunder, gilt Diez schlichtweg als Dummheit, und »die Dummheit sieht wunderbare Dinge«. Er betont dagegen die Kraft der »lichtere[n] Vernunft«, die dort, wo die Dummheit Wunder sieht, »lauter Gewöhnlichkeiten« erblicke. Der Wunderglaube werde immer dann »verworfen und belacht, wenn in dem Schattenthal Licht aufgeht«, und so scheine auch die christliche Religion vom Licht der Vernunft entzaubert zu werden. Die Erlaubnis zum »Denken in der Religion«, die »der Würde des Menschen anständig« sei, habe überall zu »Heterodoxie« und »Freydenkerey« geführt. Die Denkfreiheit scheine die Religion zu zerstören; nur das Papsttum wehre sich noch einigermaßen erfolgreich, nämlich durch theologische »Auktorität« und religiöse »Sklaverey«.

|| 37 Ebd., S. 16. 38 Ebd.

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An seine Analyse der Ursachen des Verfalls der Religion knüpft Diez nun in der Apologie an und beschreibt zunächst den status quo: Auf Basis religiöser Überzeugungen sind »Lehrgebäude« errichtet worden, deren Erbauer »unbedingten Beifall« fordern und jeden Zweifel an ihrer Wahrheit bestrafen. Von der Religion ausgehend hat sich die »angemaaßte Herrschaft über menschliche Vernunft« ausgebreitet.39 Dabei geht es im Kern meistens gar nicht um Religion oder Wahrheit, sondern um Macht, vor allem um politische Macht, zu deren Erlangung oder Verteidigung der religiöse Glaube instrumentalisiert und, um dies zu kaschieren, das freie Denken unterdrückt wird. Hinzu kommen die sogar unter den Theologen verbreiteten Voroder Fehlurteile über die eigene Religion und über sich selbst. Das Ziel, das mit der Unterdrückung vernünftigen Denkens verfolgt wurde, war immer, bestimmte Überzeugungen unter den Menschen dauerhaft zu zementieren. Diez hält dieses Ziel prinzipiell – nicht nur in der Religion, sondern auch in Philosophie und Wissenschaft – für unerreichbar, weil er die menschlichen Überzeugungen und Erkenntnisse als unvermeidlich wandelbar betrachtet. Endgültig wahre Lehrgebäude sind für ihn »ein Werk der Einbildung und der willkührlichen Wortfügung«.40 Sie zu verteidigen, gleicht einem Versuch, »etwas auf ewig zu binden, was sich auf ewig nicht binden läßt«. Für Diez ist das empirisch evident. Ebenso klar ist ihm aber auch, dass sich aus der bloßen Einsicht in die Unvermeidbarkeit des Wandels menschlicher Überzeugungen nicht das Recht der Denk-, Rede- und Schreibfreiheit ergibt. Die wesentliche Einschränkung dieser Freiheiten besteht seiner Auffassung nach darin, dass die Fragen, »worinn Glükseligkeit, Wahrheit und Vernunft bestehn«,41 nach Vorgabe der Freiheitsunterdrücker nur esoterisch beantwortet werden sollen, also im Verbot oder zumindest der Unterdrückung ihrer exoterischen Erörterung. Ihr liegt die Furcht zu Grunde, »den großen Haufen mit seinen angebornen Rechten« vertraut zu machen, weil man davon den Umsturz der in rechtlicher Hinsicht hierarchisch geordneten Staaten erwartet. Diez hält diese Furcht für unbegründet, sie beruhe auf nur »halbe[r] Einsicht in die Beschaffenheit der Dinge« und werde in einer bloßen »Modesprache« als einer »Sprache des Vorurtheils« verbreitet, allerdings mit großer Wirksamkeit. Der allgemeine Gebrauch der Denk-, Redeund Schreibfreiheit wird nach seiner Überzeugung allerdings nicht zum Niedergang der Ständegesellschaft führen,42 denn der Weise, der frei denkt, redet und schreibt, zielt, gerade weil er weise ist, nicht darauf, sämtliche »falsche Meinungen« zu be|| 39 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 164. 40 Ebd., S. 165. 41 Ebd. 42 Ebd. Offenbar geht Diez davon aus, dass ohnehin nur der »wahre Weise« diese Freiheiten gebrauchen würde (obwohl er, wie soeben erwähnt, durchaus fordert, »den großen Haufen mit seinen angebornen Rechten vertraut« zu machen, was seiner Auffassung nach aber erst dann Aussicht auf Erfolg haben könne, wenn der Weise in seinem Kampf bestimmte Erfolge erzielt hat).

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kämpfen.43 Er wird vorherrschende Meinungen, auch wenn sie falsch sind, schonen, sofern sie unschädlich sind, denn ihm ist klar, dass es nicht nur ständische Unterschiede zwischen den Menschen gibt, sondern auch Differenzen im Hinblick auf die individuellen Geisteskräfte (wenngleich diese Unterschiede überhaupt erst durch die Hierarchie der Ständeordnung entstanden seien). Und der Weise weiß auch, dass die »Tugend des Pöbels« in der »Gewohnheit« besteht, dass das einfache Volk »das Gute aus Vorurtheil« liebt und »aus Instinkt und grobem Eigennuz« ungerecht handelt – im Gegensatz zur »auserlesenen Schaar der feinern Köpfe im Staat«. Diese Argumente, die in der Apologie tendenziell als bloße Behauptungen erscheinen, basieren auf anthropologischen Theorien, die Diez in früheren Schriften entfaltet hatte. Einige Ansätze davon finden sich bereits in seiner ersten, noch anonym veröffentlichten Schrift über die Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt (1772). Ausführlicher entfaltet hat er sie dann in den Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773). Auf beide Schriften ist daher kurz einzugehen.

4 Der anthropologische, moralphilosophische und psychologische Kontext der Apologie Die Abhandlung über die Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt ist während Diez’ Studienzeit entstanden und anonym publiziert worden. In ihr macht sich bereits ein gewisses Selbstverständnis des Autors als Aufklärer bemerkbar. Diez möchte nämlich nicht nur gegenüber den anderen Mitgliedern seiner Bruderschaft seinen »thätigen Eifer« bezeugen, sondern Außenstehende »belehren« und ihre »Vorurtheile zerstören«.44 Das schon im Titel der Schrift formulierte Ziel der Schrift ist es, die Leser von den Vorteilen geheimer Gesellschaften, vor allem den ›moralischen‹, zu überzeugen. Diez’ Überlegungen deuten bereits philosophische Positionierungen an, die über das Ziel einer bloßen Apologie hinausweisen. Besonders auffällig sind einige Definitionen, die als programmatische Ansatzpunkte der Abhandlung dienen. Die erste lautet: »Das Wesentliche von denkenden Kräften, Willen, Empfindungen, Naturtrieben und Leidenschaften nenne ich die moralische Natur des Menschen oder die Menschheit.«45 Diese Formulierung lässt freilich, zumal sie kaum erläutert wird, vieles offen. Der Verweis darauf, dass ein guter und vollkommener Orden sich auf die »Moralität« beziehe, nämlich besonders mit der moralischen Natur des Menschen »in Gemeinschaft stehen« solle, wird zwar ergänzt durch den Hinweis, dass für einen solchen Orden die »Befolgung der Gesezze der Natur« und

|| 43 Ebd., S. 165. 44 Ebd., S. 13. 45 Ebd., S. 14.

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die »thätige Tugend« von vordringlicher Bedeutung seien, aber weiterführende Erläuterungen liefert Diez nicht. Stattdessen folgt, neben einigen tendenziell panegyrischen Äußerungen über den eigenen Geheimbund, die Hinwendung auf die Frage, was einen guten Bürger ausmache. Auch hier unterbleiben umfassende theoretische Darlegungen, obgleich Diez wenig später behauptet, bewiesen zu haben, »daß ein Bündniß auf den Menschen überhaupt reichen Seegen herabfliessen lasse«.46 Stattdessen betont er, dass »Patriotismus und Liebe« zu den wesentlichen Kennzeichen eines guten Bürgers zählen und dass es für den Staat zuträglich sei, wenn seine Bürger lernen würden, »ohne Gewalt [zu] gehorchen«.47 Mit Blick auf die Apologie ist allerdings von größerem Belang, dass Diez schon hier von einem Stufenmodell von »Staaten und Classen« ausgeht, demzufolge »jeder Privatmann, jeder Beamte, jede Familie, jedes Collegium etc.« zum »Wohl des Staats« beitragen soll. Die Mitgliedschaft in einer der Moralität verpflichteten Gemeinschaft gilt ihm, da sie mit »schweren Pflichten« einhergehe, als eine besonders gute Vorbereitung auf die »leichtern Verbindlichkeiten gegen den Staat«.48 Derartige Gemeinschaften betrachtet Diez daher als »Schule[n] der Besserung«, in denen die Heranwachsenden ihre »Wildheit« überwinden. Hier wird bereits ein wesentlicher Zug im philosophisch-anthropologischen Denken Diezens greifbar: Der Mensch ist in der Regel von Natur aus wild, hart, widerspenstig, zerfressen von ungezügeltem »Ehrgeiz«, und diese natürlichen Eigenschaften können durch die Freundschaft, insbesondere durch die »Patriotische Freundschaft«, wie sie in Geheimgesellschaften gebildet werde, kanalisiert und gesteuert werden. Diese patriotische Freundschaft mache die Menschen für den Staat nützlicher als alle »Vaterlandsliebe«.49 Neben moral- und staatsphilosophischen Aspekten nimmt Diez in Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt auch schon die religionsphilosophische Dimension in den Blick. Um das verbreitete »Vorurtheil« zu widerlegen, Geheimorden würden religionsfeindliche Lehren verbreiten, weist er auf die prinzipielle Unmöglichkeit hin, aus den äußeren Handlungen der Menschen ihre innere Religiosität zu erkennen. Dies bezieht er auch auf die Geheimbünde. Eine jede gute Verbindung beruhe nämlich auf den »Vorschriften eines gesunden Naturrechts«, und diese würden »aus der Natur GOttes und aus der moralischen Natur des Menschen

|| 46 Ebd., S. 16. 47 Ebd., S. 15. 48 Ebd., S. 16. 49 Ebd., S. 17; zu diesen Gedanken angeregt wurde Diez offenbar durch die Lektüre des Essai sur une amitié patriotique, der ursprünglich 1769 anonym in La Haye publiziert worden und 1771 in der von Diez benutzten deutschen Übersetzung unter dem Titel Versuch über eine patriotische Freundschaft, worinnen unfehlbare Mittel vorgeschlagen werden, die Menschen tugendhafter und zu bessern Bürgern zu machen in Prag erschienen war. Dass Diez die deutsche Übersetzung benutzt hat, geht aus dem Wortlaut der von ihm angeführten Zitate (ebd., S. 18) hervor.

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geschöpft«.50 Und er fügt hinzu: »Nicht Heuchler, nicht Dogmatiker etc. sondern die in der That Tugendhaften« seien die »wahren Säulen« einer solchen Gemeinschaft. Daraus wird deutlich, dass es Diez – der in seinem Text vor allem die eigene Loge der ›Amicisten‹ im Blick hat und deren Grundsätze verteidigen möchte – zwar um den Schutz der Religion vor Spott geht, aber durchaus nicht um die Hervorhebung eines bestimmten offenbarungsreligiösen Dogmas. Stattdessen wird hier auf das Naturrecht und auf ein vernunftgegründetes Religionsverständnis verwiesen.51 Im Ganzen bemüht sich Diez bereits in seiner ersten Schrift, verbreitete Vorurteile zu entkräften und angemessene Kriterien für wahre Urteile zu identifizieren. Philosophische Reflexionen spielen hier allerdings nur im Hintergrund eine Rolle, wenngleich das Ziel einer Aufklärung über einen Sachverhalt im Vordergrund steht. In jedem Fall sind es aber schon hier die Religion und ihre Vertreter, die aufgrund ihres dogmatischen Wahrheitsanspruches zum Adressaten von Diez’ Kritik werden, während er zugleich für ein rational begründetes, am Naturrecht orientiertes Religionsverständnis sowie für eine allgemeine pädagogische Reform plädiert: Gebildet werden sollen vor allem »das Herz und überhaupt das moralische Gefühl«. Noch wichtiger für ein tiefgehendes Verständnis der Apologie sind die Überlegungen, die Diez in den Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773) vorgelegt hat. Diez verfolg darin das Ziel, den »Umfang« der sittlichen Natur des Menschen zu ermitteln,52 und zwar im Ausgang von der Beobachtung des Menschen. Wie schon erwähnt, betrachtet er es als ein wesentliches Problem, dass in der

|| 50 Ebd., S. 19. 51 Diesen Aspekt verbindet er mit dem letzten Schwerpunkt seines Textes, nämlich mit einem Plädoyer für die Erziehung. »Die Erziehung ist es, welche den natürlichen Menschen bildet; sie nimmt ihm das Rauhe ab und schmücket ihn mit Schönheit; sie macht ihn andern angenehm, und beglükt ihn auf ein Menschenleben.« Faktisch seien Erziehungsversuche jedoch oft erfolglos, einerseits aufgrund sorglosen Mangels an Mühe, andererseits aufgrund von Unwissenheit infolge eines unzureichenden Studiums der »Welt« und des »menschliche[n] Herz[ens]«. Statt dieses Studium zu befördern, »nähret man das Erkenntnißvermögen, und beschweret den Verstand mit unnüzzen Kenntnissen«; besser wäre es, »das Herz und überhaupt das moralische Gefühl« zu bilden. Dies nicht nur erkannt, sondern auch ein entsprechendes Erziehungsprogramm entwickelt und in die Tat umgesetzt zu haben, sei eine besonders verdienstvolle Sache. Mit großer Hochachtung spricht Diez schon hier von Johann Bernhard von Basedow (1724–1790) als einem besonders verdienstvollen Mann (vgl. ebd., S. 19f.). Vielleicht war Diez bekannt, dass dieser gerade ein Jahr zuvor von Fürst Leopold III. nach Dessau berufen worden war, um dort sein aufklärungspädagogisches Konzept praktisch anzuwenden. Definitiv bekannt waren Diez jedenfalls die Spannungen, in die Basedow zuvor in Altona wegen seiner pädagogischen Auffassungen geraten war. Was Diez unter ›Verdienst‹ versteht, klärt sein Verweis auf die seinerzeit populäre Schrift des Philosophen Thomas Abbt: Vom Verdienste – der zweite der beiden von ihm hier zitierten Texte. Thomas Abbt: Vom Verdienste. Berlin, Stettin 1765 (2. Aufl. Goslar 1766; neue verm. u. sehr verb. Aufl. Berlin 1768; 3. Aufl. Berlin [u. a.] 1772; u. ö.). Welche Ausgabe Diez benutzt hat, bleibt allerdings unklar, da seine Seitenangabe mit keiner der drei in Frage kommenden Auflagen in Einklang steht. 52 Ebd., S. 28.

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Philosophie das menschliche »Selbst« bislang kaum in den Blick genommen worden sei. Die Hoffnung, hier einen Erkenntnisfortschritt zu erzielen, ist nach Diez’ Auffassung vor allem durch die »vor kurzem angebetete Methode, welche man blindlings auf die Bearbeitung aller Wissenschaften und Kenntnisse übertragen wollte«, zunichte gemacht worden. Die »Systeme«, die mit dieser Methode auf vermeintlich »unumstößlichen Gründen« errichtet worden seien, gelten ihm als »Fesseln« eines »Gängelwagen[s]«, die das Denken geradewegs in die »Sklaverey« geführt haben. Die »höher[e] Betrachtung des Menschen« erfordert aber – so Diez – »Freyheit«, er muss »frey denken und erfinden« dürfen. Damit richtet sich Diez ganz offenkundig gegen die Philosophie Wolffs und seiner Anhänger, denn sie war es, die unter genauer Anwendung einer einheitlichen ›philosophischen Methode‹ ein umfassendes System aller Wissenschaften bilden sollte. In der Tat hatte Wolff alle Philosophie, die nicht seiner Methode folgte, als Pseudophilosophie verworfen. Diez, der die Lehren Wolffs während seines Studiums in Halle zweifellos detailliert kennengelernt hat, lehnt diese Philosophie aus fundamentalen Gründen ab. Zum einen kritisiert er die Anwendung der »vor kurzer Zeit angebetete[n] Methode« in allen Wissenschaften, ferner sei es eine »belachenswürdige Thorheit«, allgemeine Gründe vorauszusetzen.53 Auch betrachtet er die Ergebnisse dieser Philosophie als bloße »Hypothesen«, weil sie auf unbegründeten Behauptungen basiere. Diez bestreitet letztlich den Erkenntniswert der gesamten wolffischen Philosophie als Systemphilosophie. Aber seine Kritik reicht noch viel weiter. Mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein konstatiert er: Der größte Theil unserer bisherigen Philosophie ist in der That nichts anders gewesen, als eine Sammlung der Ereignüsse, die nach angenommenen Grundsäzzen gebildet waren. Letztere sind meistentheils falsch, weil die Erfahrung an ihrer Erfindung den wenigsten oder gar keinen Antheil hat.54

Damit wendet sich Diez gegen jede ›rationalistische‹ Philosophie und gegen alle »unfruchtbare[n] Metaphysiken«.55 Im Gegenzug hebt er die Bedeutung der »Beobachtungen« hervor, die der Formulierung von Grundsätzen vorangehen müsse. Er fordert, die deutliche Erkenntnis über das »Selbst« des Menschen anzustreben: Jeder soll »sich selbst [...] prüfen«, »in den Handlungen sein eigene[s] Bild [...] sehen« und »den Menschen in dem Menschen« studieren.56 Diese Selbstprüfung soll sogar vor aller Auseinandersetzung mit anderen Menschen (insbesondere mit historischen Personen) erfolgen. Allerdings geht Diez davon aus, dass nicht jeder Mensch über die dafür nötigen Dispositionen und Kompetenzen verfügt. Es bedarf seiner

|| 53 Ebd., S. 29. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 31. 56 Ebd., S. 29.

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Auffassung nach nämlich sowohl bestimmter Dispositionen als auch bestimmter Erfahrungen und Fähigkeiten. Es kommt auf natürliche und erlernte Fähigkeiten an, aber auch auf Erfahrung und die richtige Erziehung.57 Diez’ Kritik an der rationalistischen Philosophie kann den Eindruck erwecken, dass aus seiner Sicht fast alle Philosophie unnütz und falsch ist. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass zunächst nur Cicero und Seneca von der Kritik ausgenommen werden: Während »unfruchtbare Metaphysiken« in Vergessenheit geraten, bleiben diese beiden »unsere Lehrer, so lange wahrer Geschmack herrschen« wird.58 Dann aber nennt Diez auch etliche Beispiele von »Männer[n], die wir als wahre Philosophen ehren müssen«, und es ist aufschlussreich, welche Namen hier genannt werden: Friedrich II. (1712–1786), dessen Merkwürdigkeiten zur Brandenburgischen Geschichte Diez als »ewiges Meisterstück« lobt,59 Karl Renatus Hausen (1740–1805), Thomas Abbt (1738–1766), Isaak Iselin (1728–1782), Christoph Martin Wieland (1733–1813), dessen anonym publizierte Dialoge des Diogenes von Synope Diez kennt, aber offenbar für eine antike Schrift hält,60 ferner Immanuel Kant (1724– 1804), dessen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen er ebenso zitiert wie Karl Friedrich Flögels (1729–1788) Geschichte des menschlichen Verstandes,61 und Moses Mendelssohn (1729–1786). Diez erblickt insofern die ›richtige‹ und nützliche Philosophie durchaus in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts, aber teils abseits der Schulphilosophie und in jedem Fall abseits der traditionellen Schulphilosophie des Wolffianismus. Darüber hinaus betont er die Leistungen der »Verfasser der Romanen, die ihre handelnde Personen, nach natürlichen Anlagen bilden, sie in die gewöhnliche Verfassung der Welt sezzen, ihnen keine übertriebene Tugend beylegen und selbige nicht einzig von der Liebe berauscht herumirren lassen«.62 Genannt werden hier Henry Fielding (1707–1754), The History of Tom Jones, a Foundling,63 dem Diez fälschlicherweise auch die Autorschaft des von Tobias George

|| 57 Ebd., S. 30: »Wer aus der Mutterschooß keine durchdringende Seele, wer aus der Erziehung kein gutes Herz mitgebracht; wer nie ausgeschweift; wer nie geliebt, und wer nie auf Flügeln des Ehrgeizes seinen Geist über die nahe gelegene Gegend erhoben hat – der werfe sich auch nie zum Richter der Menschen auf [...]. Denn er kennet die innersten Bewegungen des Herzens und die entferntesten Gründe der Handlungen nicht.« 58 Ebd., S. 31. 59 Ebd.; vgl. [Friedrich II.:] Mémoires pour servir à l'histoire de Brandenbourg. [s. l.] 1750, dt. Übers.: Merkwürdigkeiten zur Brandenburgischen Geschichte. Aus dem Französischen übersetzt. [s. l.] 1758 (3. Aufl. Berlin 1761). 60 [Christoph Martin Wieland:] Sokrates Mainomenos oder die Dialogen des Diogenes von Synope. Aus einer alten Handschrift. Leipzig 1770. 61 Karl Friedrich Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes. Breßlau 1765 (2. Aufl. 1773; 3. Aufl. 1776 u. Frankfurt a. d. O. 1778; ND Frankfurt a. M. 1972). 62 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 31. 63 Henry Fielding: The History of Tom Jones, a Foundling, in four volumes. London 1749; dt. Übers. v. Matthias Arnold Wodarch: Historie des menschlichen Herzens, nach den Abwechselungen der

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Smollet (1721–1771) verfassten Romans The adventures of Peregrine Pickle64 zuschreibt, sowie Laurence Sterne (1712–1777), dessen A Sentimental Journey Through France and Italy von Diez allerdings nur unter Vorbehalten zur Lektüre empfohlen wird.65 Romane, die den Menschen »nach natürlichen Anlagen bilden«, d. h. so darstellen, wie er in Wirklichkeit ist, können Diez zufolge dem wahren Philosophen, der als solcher den Menschen studieren soll, ebenso als Material dienen wie Lustund Trauerspiele, die »uns den Menschen in würklichen Tagen« vorstellen.66 Diez fordert die Analyse des Menschen in seiner faktischen Realität, nämlich als einen »Sterblichen im Glanze« und als »Vieh«, das »auf der Erde schleicht und in der Erniedrigung kriecht«.67 Der Mensch soll vollumfänglich betrachtet werden, und zwar einschließlich seiner Emotionen und psychologischen Eigenschaften.68 Eine solch umfassende Beobachtung der moralischen Natur des Menschen ist nach Diezʼ Auffassung bislang kaum oder gar nicht gelungen. Es handele sich um »ein ziemlich unbearbeitetes Feld«, in dem weitgehend nutzlose Begriffslehren entstanden seien – ganz gleich, ob sie im Rahmen der Metaphysik oder der Sittenlehre entwickelt worden seien. Es sehe, »unserer aufgeklärten Zeiten ungeachtet, um diese Kenntniße [...] noch sehr mager« aus.69 Insofern betreibt Diez nach eigener Überzeugung philosophische Pionierarbeit und bemüht sich zunächst um eine Bestimmung des Wesentlichen des menschlichen »Selbst«. Zum Substanziellen des Selbst gehört seinem Ansatz nach (1.) das Denkvermögen, (2.) das Sittliche, dass im Prozess der »Bildung

|| Tugenden und Laster in den sonderbaren Begebenheiten Thomas Jones, eines Fündlings. Moralisch und satyrisch beschrieben. 6 Theile. Hamburg 1749–1761; weitere Ausg.: Geschichte des Thomas Jones, eines Fündlings. Aus dem Englischen Heinrich Fieldingʼs ehemals übersetzet, und nunmehr nach der neuesten Original-Ausgabe ganz umgearbeitet. 4 Bde. Hamburg 1771. 64 [Tobias George Smollet:] The adventures of Peregrine Pickle. In which are included, Memoirs of a lady of quality. 4 Bde. London 1751 (u. ö.); dt. Übers.: Begebenheiten des Peregrine Pickels. Worinn zugleich die Geschichte eines vornehmen Frauenzimmers enthalten ist. 4 Theile. Leipzig 1753. 65 Laurence Sterne: A Sentimental Journey Through France and Italy. London 1768; dt. Übers. von Matthias Tobias Christoph Mittelstedt in: Versuch über die Menschliche Natur in Herrn Yoricks, Verfasser des Tristram Shandy, Reisen durch Franckreich und Italien. Braunschweig 1769 (u. ö.). 66 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S, 31. 67 Ebd., S. 32. Zugleich distanziert sich Diez aber auch von Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Auffassung, dass der Mensch durch Wissenschaften und Künste verdorben worden sei und deshalb den bloßen Naturzustand anstreben solle. Die besonderen Vorzüge des Menschen, nämlich die »Größe des Geistes«, die »Liebe« und die »Freundschaft«, seien in einem »thierischen Leben« unmöglich, Rousseaus Ansicht sei daher eine bloße »Thorheit«. 68 Ebd., S. 33: »Die Stärke des Geistes und seine Schwäche; der mittelmäßige Kopf und der dumme; das schöne Herz und die Falschheit; die Triebe und Gewohnheiten des Menschen und seine Leidenschaften; sein Gefühl und die Unempfindlichkeit; kurz, das Maaß der Seelenkräfte, die Tugenden und Laster müssen dem Beobachter in ihrem wahren Werthe erscheinen, und auf jedes insbesondere von allem diesen aufmerksam seyn – heißt den Menschen betrachten.« 69 Ebd., S. 34f.

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und Veredlung« zum »Moralisch[en]« werden kann. Der »Gegenstand des Menschen« seien die »Seelenkräfte an sich und die Vermischung des Geistigen mit dem Sinnlichen«, weshalb in allen menschlichen Handlungen das Sinnliche und das Intellektuelle untrennbar bleiben. Es komme vor allem darauf an, was von beiden jeweils »am meisten arbeitet«. Zudem sei Moralisches prinzipiell nicht ohne Sinnliches denkbar.70 Unter »Moralität« oder »Sittlichkeit« versteht Diez »das Verhältniß, in welchem unsere Handlungen mit den ersten Grundgesäzzen der moralischen Natur« stehen.71 »Schön« ist die Moralität dann, wenn die Handlungen »das Gepräge jener unveränderlichen Gesezze, die ein reines Naturrecht lehren soll, tragen«. Durch diese Behauptung erweist sich Diez als Anhänger einer naturrechtlich normierten Moral. Allerdings bleibt das von ihm zugrunde gelegte Naturrechtsverständnis zunächst weitgehend unklar. Bemerkenswert ist allerdings die Haltung, die Diez im Ausgang von seinem Begriff der Sittlichkeit im Hinblick auf die menschlichen Affekte einnimmt. Denn während in der deutschen Philosophie spätestens seit der Frühaufklärung, vor allem unter dem Einfluss von Christian Thomasius (1655–1728), die Affekte aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Willens- und Urteilsbildung als negative Faktoren betrachtet worden sind, werden sie von Diez als positiv, nämlich als »sittlich«, d. h. moralisch, betrachtet. Dies gilt ausdrücklich für den Ehrgeiz und die Wollust, die von Thomasius neben dem Geldgeiz als die drei Hauptaffekte des Menschen angesehen worden waren. Nach Diez’ Auffassung ist der Ehrgeiz dann »sittlich, wenn er unverblendet wahres Verdienst sucht, das ist, wenn er zum Wohl seiner Mitbürger, zum Flor des Staats und zum Besten der Welt kühne Unternehmungen wagt«. Anders als bei Thomasius wird die Moralität des Ehrgeizes an die Bedingung geknüpft, auf einen moralisch positiven sozialen Zweck abzuzielen. Zudem wird sie mit der Voraussetzung verbunden, dass der Ehrgeizige nicht verblendet ist. Beides setzt allerdings voraus, dass der Ehrgeizige erkennen kann, was »wahres Verdienst« ist, und dass er begründet darauf hoffen kann, durch soziale Handlungen seinen Affekt zu befriedigen. Kurz, Diez’ Konzept des moralischen Ehrgeizes setzt bereits die Beherrschung des Affekts durch die Vernunft und zugleich ein hohes Maß an Erkenntnis voraus. Damit weicht er stark vom herkömmlichen Verständnis ab, mit dem der Begriff des Affekts in der frühaufklärerischen Philosophie verbunden war. Das zeigt sich auch mit Blick auf den Affekt der Wollust, in dem Diez genau dann eine »untadelhafte Sittlichkeit« erblickt, »wenn die Seele und das Herz an dem Vergnügen Theil nehmen und wenn durch ihre Würckungen kein wahres, überwiegendes Übel befördert wird«. Auch hier wird bereits vorausgesetzt, dass der Wollüstige weiß, ob seine affektiven Handlungen ein Übel bewirken werden oder nicht. Denn das bloße Ausbleiben einer schädlichen Wirkung nach einer affektiv motivier|| 70 Ebd., S. 35. 71 Ebd., S. 36.

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ten Handlung kann nicht dazu führen, den Handelnden als moralisch anzusehen. Tatsächlich weist Diez der Rationalität in Sachen der menschlichen Moral keinen Ort zu. Als die »sittliche Natur des Menschen« identifiziert er zwar alle »Bestimmungen [...], welche die Quelle seiner Denkungsart, seiner Leiden und seiner Handlungen in sich begreiffen sollen«, nämlich – wie er unter Verweis auf »die Metaphysiker« bestimmt – »das Wesen, die Eigenschaften, die Vermögen, die Kräfte und Receptivitäten«, also insbesondere »Wille, Empfindungen, Naturtriebe und Leidenschaften«. Die Rationalität oder das Erkenntnisvermögen, die traditionellerweise als menschliches Seelenvermögen betrachtet worden waren, bleiben hier ungenannt. Stattdessen wird die Bedeutung der Emotion hervorgehoben und der Mensch als moralisch ambivalentes Wesen akzeptiert, anstatt ihn, wie in der deutschen Aufklärungsphilosophie aufgrund religiöser Ansichten (Sündenfall) meistens üblich, als defizitär zu betrachten. Diez behauptet sogar, dass es geradezu ein typisches Merkmal großer Genies sei, »jederzeit mit unordentlichen Neigungen und rasenden Leidenschaften behaftet« zu sein.72 Mit dieser Auffassung stellt er sich ausdrücklich dem Vernunftoptimismus der rationalistischen Schulphilosophie entgegen und nähert sich einem normativen Moralverständnis, dessen Normen durch drei Kriterien, nämlich (1.) durch den Charakter des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens, (2.) durch seine Emotionalität und (3.) durch das Kriterium der Nützlichkeit (»nichts ist ohne Nuzzen«73) bestimmt werden. Die moralische Natur des Menschen wird zugleich zum »Gesezzbuch«, das die göttlich vorgegebenen Naturgesetze enthält. Da der Mensch als ein nach Vollkommenheit strebendes Wesen und zugleich als gesellschaftliches Wesen (letztlich als »Weltbürger«) sowie als ein Wesen mit »Selbstliebe« betrachtet wird, ergeben sich aus der Abwägung dieser Eigenschaften konkrete Pflichten. Weil alle Menschen über eine moralische Natur verfügen, gelten diese Pflichten als allgemein verbindlich: Jeder Mensch hat eine moralische Natur; nur ist sie bey jedem in besonderer Einkleidung gehüllt, dahin gehören Temperamente, Bau des Körpers etc. etc. etc. Die Hauptpflichten eines jeglichen ist es, sich nach dem abgezogenen Muster zu bilden.74

Mit der moralphilosophischen Aufwertung der Emotionalität und der Affekte vollzieht Diez eine Abkehr von der scholastischen Tradition. Die Maxime der Überwindung aller Leidenschaften hält er für einen fundamentalen »Irrthum«, der aus dem Mangel an Kenntnis des menschlichen Selbst entstanden ist.75 Er proklamiert die »Empfindungen« als »Pflichten des Herzens« und die Leidenschaften als in der

|| 72 Ebd., S. 37. 73 Ebd., S. 38. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 39.

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sittlichen Natur des Menschen gegründet.76 Der Mensch neigt von Natur aus »zum Guten oder Nüzzlichen«, nämlich zu dem, was seine »Vollkommenheit befördert«, und zwar sowohl als soziales wie auch als ein sich selbst liebendes Wesen. Das »Vergnügen« teilt Diez, je nachdem es sinnliche oder sittliche Empfindungen hervorruft, in physisches und moralisches ein. Es verleitet bisweilen zwar zu »bösen Thaten«, aber in einem erträglichen Ausmaß. In Anlehnung an Platon bestimmt er die Leidenschaften als die wesentlichen »Bewegungsgründe zum Handeln und Leiden«.77 Statt sie auszumerzen, soll man die Leidenschaften, von denen Diez drei Arten identifiziert (»Eigennuzz«, »Wollust«, »Ehrgeiz«), als natürliche Dispositionen akzeptieren, die den Weg zur eigenen Vervollkommnung erhellen. Der Mensch soll Vollkommenheiten suchen, die ihn vergnügen und nützen, nach feiner (allerdings nicht nach grober) Wollust streben und den wahren (allerdings nicht den eitlen) Ehrgeiz als Antrieb zum Fleiß betrachten.78 Die Frage, wie die Affekte beherrscht werden können, ist für Diez irrelevant, er hält sie für nicht beherrschbar. Ihn interessiert deshalb vielmehr, »welche Menschen den Leidenschaften vorzüglich unterthan sind, bey welchen sie ihre ganze Gewalt ausüben«.79 Seine Antwort auf diese Frage enthüllt die Reichweite der Konsequenzen, die sich aus seinen psychologischen Prämissen ergeben: Es sind die »grosse[n], ausserordentliche[n] Genies«. Ihnen, und zwar nur ihnen, ist eine »ungewöhnliche Kraft zu Denken« verliehen, die im Zusammenspiel mit den Leidenschaften geradezu unbändige schöpferische und organisatorische Potentiale entfaltet. Damit vollzieht Diez in der Bewertung gesellschaftlicher Individuen in Absetzung zur philosophischen Tradition eine vollständige Umkehr: Derjenige, der »sonst sehr vernünftig genannt« wird, gilt nun als bloßer Phlegmatiker;80 der dem Anspruch nach rein rationale Denker wird jetzt zum gefühlsfeindlichen, schwerfälligen Individuum erklärt. Der seine Affekte beherrschende Rationalist wird als philosophisches Ideal ersetzt durch das emotionsreiche Genie. Damit vollzieht Diez faktisch auch eine Abkehr vom Ideal eines auf Rationalität ausgerichteten Aufklärungsverständnisses. Im Hinblick auf den Affekt des Eigennutzes spricht er sich ausdrücklich für einen uneingeschränkten Liberalismus aus.81 Zugleich plädiert er

|| 76 Ebd., S. 40. 77 Ebd., S. 41. 78 Ebd., S. 41f.; an dieser Stelle führt Diez ein längeres Zitat aus Iselins Über die Geschichte der Menschheit an, das verrät, von welcher jungen philosophischen Strömung Diez vom Beginn seines eigenen philosophischen Schaffens an besonders stark beeinflusst worden ist. Dazu später mehr. Vgl. Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1764 (Zürich 21768, 3 1770, Basel 41779 u. ö.). 79 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 44. 80 Ebd., S. 45. 81 Ebd., S. 47.

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für ein pädagogisches Konzept, das die individuellen Leidenschaften und Neigungen der Kinder möglichst früh berücksichtigt. Am Beispiel der Wollust wird die Kritik am Vernunftoptimismus der Schulphilosophie besonders deutlich. Diez versucht zu zeigen, dass die Vernunft zwar die Ursachen des Affekts zu identifizieren und sogar zu zerstören vermag, dass dies aber nicht von der Vernunft des Affektierten selbst, sondern nur durch die Vernunft eines Anderen und nur durch Anwendung äußeren Zwangs geleistet werden kann. Ähnliches gilt für den Eigennutz, der weder durch Moral noch durch Vernünftelei gezügelt werden könne.82 Das einzige Mittel zur Lenkung – nicht der Bekämpfung – der Leidenschaften ist nach Diez die Erziehung. Sie soll möglichst zahlreiche Gelegenheiten zu Mitleid und Freigebigkeit geben. Vernunftgeleitetes sinnliches Vergnügen wird als unmöglich verworfen: Kein Mensch handelt primär rational, auch wenn dies eine Wahrheit ist, die niemand »öffentlich bekennen« will, und man sich stattdessen hinter der »Larve« einer »Scheintugend« zu verbergen sucht.83 Die Wollust gilt als eine weder durch äußere Zwänge noch durch Erziehung oder Vernunft beherrschbare menschliche Leidenschaft. Die Geschichte liefert Diez dafür zahlreiche Belege. Er stellt fest, dass »Stoff für die Begierden« immer da ist und dass die Leidenschaften immer wieder alle anerzogenen oder aufgezwängten Grundsätze überwinden, seien sie moralischer oder rationaler Art.84 Daher zieht Diez das Fazit: Es ist wahr und wird ewig wahr bleiben, daß wir der Leidenschaft anhängen. Es ist gewiß, daß wir nur denn überwindlich sind, wenn die Leidenschaften es für gut befinden; wenn sie nicht arbeiten.85

Leidenschaften gehören nach Diez’ Überzeugung zu den natürlichen Dispositionen des Menschen. Sie können geleugnet werden und man kann versuchen, sie zu bekämpfen, aber letztlich liegt es nicht in der Macht des Menschen, sich ihnen zu entziehen. Es kann deshalb nicht darum gehen, die Leidenschaften zu beherrschen oder gar zu beseitigen. Dieser Befund führt Diez einerseits zu der Feststellung, dass Leidenschaften keine Sünde vor Gott sind, was er am Beispiel des außerehelichen Beischlafs verdeutlicht, dessen Verbot er aus moralischer Sicht für unbegründet und aus gesellschaftsphilosophischer Sicht für falsch hält. Andererseits ergibt sich für ihn dadurch die eigentliche Aufgabe, die es zu bewältigen gilt: Man muss die jungen Menschen, in denen wir die Anlage zu einer Ausschweifungsfähigen Leidenschaft entdekken, bey rechter Zeit zu bilden, ihnen Grundsäzze zur Verfeinerung einzuflössen, die

|| 82 Diez verweist in diesem Zusammenhang (vgl. ebd., S. 43f.) übrigens auf Immanuel Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (Königsberg 1764, 21766), AA II, S. 205– 256. 83 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 51. 84 Ebd., S. 54. 85 Ebd., S. 58.

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sich eindrükken, ehe die übrigen Züge des sittlichen Charakters in die Form der herrschenden Leidenschaft gegossen werden.86

Diez zielt in diesem Zusammenhang nicht nur auf eine neue Bewertung der Leidenschaften, sondern auf eine grundlegende Reform der Psychologie und insofern auch auf eine Reform der Philosophie. Ausgehend von der Überzeugung, dass es eine naturrechtlich gebotene Pflicht sei, »sich mit dem Unendlichen nach unserem Vermögen bekannt zu machen; den Geist und das Herz des Menschen mit dem ganzen Gefolge seiner übrigen wesentlichen Bestimmungen kennen zu lernen; die physische Natur in ihren Ursachen und Würkungen zu studieren«, bemüht er sich vor allem um eine adäquate Beobachtung und Analyse der menschlichen »Geisteskräfte«.87 Dabei geht er von dem (durchaus nicht neuen) empiristischen Standpunkt aus, dass alle Erkenntnis, »so abstrakt sie auch sein mag«, ihren Ursprung in den Sinnen habe.88 Ausdrücklich verwirft er die methodische Unterscheidung zwischen empirischer und rationaler Psychologie, wie sie vor allem bei Wolff zu finden ist, als eine der vielen »unnüzzen und baufälligen Einteilungen« im Feld der Philosophie.89 Zwar gesteht er der Terminologie, die in Bezug auf die Erkenntnisvermögen von den Scholastikern entwickelt worden war,90 einen gewissen Nutzen zu, kritisiert aber die »grosse Lükke«, die in ihrer Anwendung entstehe, wenn man »die Verbindung zwischen diesen Kräften« nicht in Betracht ziehe, »das Verhältniß derselben« nicht bestimme und nicht erforsche, »inwiefern eine Kraft die andere ausschließt, inwieweit diese durch jene verstärket oder geschwächet werde«.91 In diesen unerledigten Aufgaben erkennt Diez den eigentlichen »Hauptsizz der Psychologie« als philosophischer Teildisziplin.92 Für die Erneuerung der Psychologie liefert Diez selbst einige Ansätze. Die wichtigsten Impulse dazu hat er aus der Lektüre der Schriften von Isaak Iselin, Karl Friedrich Flögel und Thomas Abbt gewonnen.93 Besonders der Einfluss von Iselins Geschichte der Menschheit ist bei Diez deutlich zu erkennen. Diez geht es zunächst um die Bestimmung der Charakteristika des »Genies« und der typischen psycholo-

|| 86 Ebd., S. 58. 87 Ebd., S. 59. 88 Ebd., S. 60. 89 Ebd. Die Tatsache, dass die rationalistische Philosophie Wolffs die empiristisch fundierte Begriffsbildung als Beginn alles Philosophierens und aller Erkenntnis ansieht, wird von Diez völlig ausgeblendet. 90 Diez nennt exemplarisch die Begriffe »Verstand, Vernunft, Scharfsinn, Wizz, Tiefsinn, Urteilskraft, Erfindungsvermögen, Gedächtniß«; vgl. ebd., S. 60. 91 Ebd., S. 60f. 92 Ebd., S. 61. 93 Diez zitiert Iselin: Geschichte der Menschheit (s. Anm. 78), Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes (s. Anm. 61) sowie Abbt: Vom Verdienste (s. Anm. 51).

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gischen Eigenschaften »grosser Männer«.94 Als hervorragende Beispiele dieser hervorstechenden Personen gelten ihm Alexander der Große und ein Monarch aus »unsern Tagen«, der »in vieler Absicht alle grossen Prinzen des Alterthums übertrifft«, womit zweifellos Friedrich II. gemeint ist.95 Während der Römer Lucius Sergius Catilina, der berühmte Anführer der nach ihm benannten Verschwörung, zwar ein »großer Mensch« gewesen sei, aber nicht »im Guten gearbeitet« habe, sei Leibniz ebenfalls ein Genie gewesen. Auch Wolff wird als Genie betrachtet, aber weil er sich durch Leibniz’ Philosophie habe beschränken lassen und sich durch sein eigenes philosophisches System Fesseln angelegt habe, stehe er »in der Reihe der grossen Geister [...] auf einer untern Stufe«.96 Diesen Bewertungen liegt ein dreistufiges Schema zugrunde, nach dem alle Menschen in »Genies«, »mittelmäßige Menschen« und »schwache und kleine Seelen« eingeteilt werden können.97 Ausgehend nicht von einem hypothetischen oder gar idealisierten, sondern vom faktischen Gesellschaftszustand bemüht sich Diez um die Beantwortung der Frage, wie die Menschen aufgrund ihrer individuellen Psyche und Fähigkeiten am besten zum Nutzen für den Staat beitragen können. Die bei den Menschen auftretenden »Seelenkräfte« gelten ihm hierfür als entscheidende Kriterien. »Schwache Seelen«, die am häufigsten unter den Menschen anzutreffen seien, gelten, sofern sie nicht unter »totaler Dummheit« leiden, als besonders gut geeignet für handwerkliche Tätigkeiten. Die ebenfalls häufig vorkommenden »Mittelmäßigen«, als deren Charakteristika die Fähigkeit zur Verfolgung »kleiner Zwecke« sowie ein ausgeprägtes »Phlegma« bestimmt werden, werden zu Leitfiguren für die schwachen Seelen erklärt. Die tatsächlichen Führungsrollen im Staat sollen allerdings den wenigen Genies vorbehalten bleiben; sie bestimmen »die Ordnung überhaupt«. Diese typologische Trias bildet den Kern von Diez’ Konzept einer gesellschaftlichen Organisation, die ausschließlich an den natürlichen psychologischen Dispositionen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder orientiert ist und auf die Vervollkommnung des Menschen als Teil einer staatlichen Gemeinschaft abzielt.98 Die Hoffnung, dass mit der Verbesserung des Individuums der Nutzen für das Staatswesen einhergeht, der seinerseits auf das Wohl des einzelnen Menschen zurückwirkt, teilt Diez mit den meisten Gesellschaftstheoretikern der Frühen Neuzeit.

|| 94 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 63. 95 Ebd., S. 65. 96 Ebd., S. 66. 97 Ebd., S. 66–70. 98 Um eine Bewertung dieser Überlegungen, in deren Hintergrund die Kritik an Christian Wolffs Psychologia rationalis und ein Plädoyer für eine ausschließlich auf Empirie fußende Psychologie stehen, soll es hier nicht gehen. Es soll nur verständlich gemacht werden, was Diez in der Apologie zur Einteilung der Gesellschaft in ›Weise‹ und dem ›Pöbel‹ veranlasst hat und warum seiner Ansicht nach – wie sich noch zeigen wird – der Weise nicht das ganze Volk, sondern eine bestimmte, relativ klar umrissene Gruppe von Bürgern aufklären soll.

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Aus den umrissenen Überlegungen aus den Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen zieht Diez in der Apologie Konsequenzen: Der wahre Weise muss ein Genie sein und daher über die entsprechenden natürlichen Veranlagungen verfügen. Überhaupt ist die Rolle, die ein Mensch im Staat erfüllen kann oder soll, abhängig von seinen jeweiligen natürlichen Dispositionen. Nicht jeder kann »nach festen Grundsäzzen oder nach gebildeten Gefühlen handeln«.99 Dem Weisen – allerdings nur ihm – ist dies klar, weshalb er den »Pöbel«, der nach anderen »Triebfedern« handelt als Menschen höheren Standes, in seinen Irrtümern belässt, wenn diese ihn zu moralischem Handeln veranlassen. Damit wird zugleich deutlich, dass Diez im Hinblick auf das einfache Volk nicht für eine Tugend- oder Pflichtenethik plädiert, sondern ausschließlich auf moralkonformes Handeln abzielt, dessen moralischer Wert sich am Nutzen für die Gesellschaft bemisst. Ein bewusstes moralisches Handeln, ein ›guter Wille‹, ist im Hinblick auf den ›Pöbel‹ nicht von Bedeutung. Für den Weisen gilt diese tendenziell utilitaristische Handlungsethik, die den Mitgliedern des einfachen Volkes als solche nicht einmal bewusst ist, freilich nicht. Die Weisen haben – weil sie weise sind – andere Pflichten zu beachten als alle anderen Mitglieder der Gesellschaft. Zu diesen Pflichten gehört es, bestimmte Irrtümer mit absoluter Schonungslosigkeit zu bekämpfen. Der Weise ist verpflichtet, »Lehrsäzze, Irrthümer, die die Menschheit angreifen, die entweder die Grenzen des Wissens und der Verstandeskräfte gar zu enge ziehn oder sie [...] gar zu weit ausdähnen«, nicht zu schonen; er hat die »Pflicht [...], sich dagegen aufzulehnen« und »die Fakkel der Vernunft ganzen Nationen vorzutragen, unmoralische Gözzen von Altären zu stürzen, herrschende Sisteme [...] von ihrem ärgsten Unrath zu säubern und ihnen die Brandmale ihres Ursprungs, welcher immer Barbarei und Finsterniß war, wegzuwischen«.100 Weil der Weise aber auch erkennt, dass jedes System »nie ganz böse, nie ganz gut« ist, beschränkt er sich darauf, sie von ihren schlimmsten Makeln zu reinigen, statt sie vollständig umzustürzen. Die vorrangige Pflicht des Weisen besteht darin, dem vernünftigen Denken zum Sieg gegen die verbreitete Unvernunft zu verhelfen und damit die Moralität zu befördern. An dieser Haltung sind drei Aspekte bemerkenswert: (1.) Der Weise soll für die Freiheit der Menschheit in Bezug auf Wissen und Verstandeskräfte kämpfen, wovon sich Diez, wie schon etliche Philosophen der Frühaufklärung, eine moralische Verbesserung der Menschen erhofft. (2.) Die Entscheidung, welche Lehrsätze und Irrtümer schädlich und welche nützlich sind, obliegt allein dem Weisen, denn nur seine Weisheit qualifiziert ihn zu dieser Entscheidung. Er zielt keineswegs auf die Aufklärung des gesamten Volkes, denn er erkennt diese als ein Ding der Unmög-

|| 99 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 165. 100 Ebd., S. 165f.

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lichkeit.101 (3.) Auch der Weise soll nicht nach größtmöglicher Freiheit für die Menschen streben. Es gibt nach Diez’ Überzeugung durchaus auch zu weit ausgedehnte »Grenzen des Wissens und der Verstandeskräfte«,102 und es sei in solchen Fällen die Pflicht des Weisen, die Grenzen enger zu ziehen. Besonders der zuletzt genannte Aspekt irritiert, auch wenn die Kritik an einer unbegrenzten Denk- und Meinungsfreiheit, nämlich an einer Beliebigkeit des Denkens, die bis zur »Frechheit« ausarten könne, in der Philosophie der Aufklärung schon früher, z. B. von Johann Georg Walch (1693–1775), vorgebracht worden war.103 Erst wenn der Weise seiner Pflicht erfolgreich nachgekommen ist, d. h. wenn er die Lehren und Irrtümer, die zur unrechtmäßigen Einschränkung oder Überdehnung der Denk-, Rede- und Schreibfreiheit geführt haben, überwunden hat, ist es ihm möglich auch »zum Vorteil des großen Haufens« tätig zu werden.104 Die Emanzipation des Weisen von Zwängen, die dem Naturrecht widersprechen, d. h. sein individueller Kampf gegen bestimmte, zunächst nur von ihm erkannte Irrtümer und Lehrmeinungen, die sich als Konventionen etabliert haben, bildet damit den Auftakt zu einem mehrstufigen Prozess, dessen Ziele von Diez klar umrissen werden: Der Aberglaube soll ausgerottet, die »gar zu gewaltsame Lähmung des menschlichen Geistes« geheilt, die »sklavische Furcht« überwunden und »die Federkraft des Gefühls und Denkens in den Grad der Spannung gesezzt werden, den die Natur geordnet hat«. Dazu bedarf es der Einsicht in die Ordnung der Natur, deren »weise Bestimmung« nicht das »Geschäft eines alltäglichen Kopfes« sein kann. Sie ist ebenfalls Sache des Weisen, dem damit erneut eine Schlüsselrolle im Prozess der Aufklärung zukommt. Er soll, nachdem er den Kampf um sein Freiheitsrecht gewonnen hat, die von der Natur vorgegebene Ordnung erkennen und »die Linie bestimmen, innerhalb deren die Sphäre« der Erkenntnis und Glückseligkeit des »großen Haufens« laufen soll. Faktisch wird der Weise damit allerdings – zumindest im Hinblick auf den ›Pöbel‹ – zum Ideologen einer neuen Lehre; es fragt sich daher, was das einfache Volk dazu bringen sollte, sich von den bereits etablierten Meinungen abzuwenden. Aber da der Weise ohnehin nicht auf Volksaufklärung abzielt, sondern den ›Pöbel‹ nur von schädlichen Vorurteilen befreien will, wird dieses Problem von Diez nicht thematisiert. Gegenüber dem einfachen Volk darf der Weise offenbar als Ideologe auftreten, denn er zielt lediglich auf dessen moralkonformes Handeln.

|| 101 Die anthropologischen Gründe, aus denen Diez eine Volksaufklärung für unmöglich hält, werden später noch erläutert. Angemerkt sei aber schon hier, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass Diez’ Haltung ausschließlich oder überhaupt darauf zurückzuführen ist, dass er – wie Voigts suggeriert – »als preußischer Beamter [...] gebunden« gewesen ist (vgl. ebd., S. 485). Vor dem Hintergrund seiner anthropologischen Überlegungen erscheint seine Auffassung durchaus stimmig. 102 Ebd., S. 165. 103 Vgl. Zenker: Denkfreiheit (s. Anm. 16), S. 304. 104 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 166.

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5 Religion, Staat, Bürger Diez bestimmt das Verhältnis von Religion und Staat im Ausgang von einem Gesellschaftskonzept, das auf einem Gesellschaftsvertrag und bürgerlichen Gesetzen beruht. Prima facie scheint für Diez aus dieser Bestimmung ein laizistisches Gesellschaftskonzept zu folgen: Die Religion geht den Staat prinzipiell nichts an, denn sie ist keine »Staatssache«, sondern »ein blos moralisches Institut«.105 Religiöse Lehren sind keine bürgerlichen Gesetze und daher auch nicht justiziabel. Als ausschließlich moralische Lehre kann keine Religion – ganz gleich welche – einen Anspruch auf allgemeine Akzeptanz oder gar Gefolgschaft erheben. Im Gegenteil, sie steht »unter der Gerichtsbarkeit jedes denkenden Kopfs« und ist, auch in institutionalisierter Form, grundsätzlich verpflichtet, jedem einzelnen Menschen Rechenschaft über ihren »innern Werth« abzulegen. Jeder Mensch hat das Recht, eine Religion in dieser Hinsicht zu untersuchen, ohne befürchten zu müssen, dadurch in Konflikt mit den bürgerlichen Gesetzen zu geraten. Umgekehrt folgt aus den bürgerlichen Pflichten der Menschen keinerlei Pflicht, irgendeine bestimmte Religion als Überzeugung anzunehmen. Die bürgerlichen Gesetze beziehen sich ausschließlich auf »äuserliche Handlungen«, sie zielen nicht auf Überzeugungen, sondern auf »bürgerliche Ruhe«, die von »spekulativen Meinungen« – für Diez sind alle religiösen Lehren spekulative Meinungen – unabhängig sein soll. Deshalb hält Diez religiösen Pluralismus in einer bürgerlichen, gesetzlich reglementierten Gesellschaft für möglich. Als allein maßgeblich für friedliches Zusammenleben gilt ihm die Einhaltung der bürgerlichen Gesetze. Nur sie sollen die äußerliche Handlungsfreiheit im Sinne des Gemeinwohls einschränken dürfen. Weil nach Diez’ Überzeugung alle Religion (als moralische Institution) Sache der individuellen Meinung ist, plädiert er für das Recht aller Bürger, jede Religion selbständig zu prüfen. Eine solche Untersuchung kann sich entweder auf »das Wahre und Falsche«, was in den »Lehrbegriffen und Begebenheiten« einer Religion liegt, richten oder auf den »moralischen Einfluß«, den eine Religion auf die Gesellschaften zu haben vorgibt.106 Deshalb beruht das Urteil des Einzelnen entweder auf den »Bestandtheile[n] der Religion selbst«, nämlich dann, wenn er die Religionslehre durchschaut, oder aber auf den jeweiligen »Denkkräfte[n]«, über die der Einzelne verfügt. Was den ersten Punkt betrifft, macht Diez allen Religionen einen pauschalen Vorwurf: Man muss sie »anklagen, weil sie uns etwas liefern, worüber die Menschen ewig streiten müssen, ohne fixe Wahrheit zu finden«. Diez ist offenbar der Auffassung, dass alle Religionen die Menschen prinzipiell zum Streit motivieren, weil ihre Lehren immer Merkmale aufweisen, die ein endgültiges Urteil über ihre

|| 105 Ebd. 106 Ebd.

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Wahrheit oder Plausibilität unmöglich machen, ja sogar eine Vielzahl unterschiedlicher Urteile provozieren. Religionen verunsichern die Menschen, sie zwingen sie zu Vorurteilen, die dann mit den Vorurteilen anderer Menschen kollidieren können. Was den zweiten Punkt betrifft, nämlich die »Denkkräfte der Menschen«, schlägt Diez seinen Lesern vor, »mit unsrer Vernunft zufrieden« zu sein. Damit ist keineswegs gemeint, dass die Menschen mit Hilfe der Vernunft zu einem endgültigen Urteil über eine bestimmte Religion kommen könnten, sondern dass uns die menschliche Vernunft, die »Mutter des Dispüts«, die auf die Frage, »was seit Jahrtausenden ausgemacht sey«, ohnehin stets antworten werde: »Nichts!«107 Darin drückt sich erneut Diez’ erkenntnisrelativistische Haltung aus. Schon in der Abhandlung Der Stand der Natur (1775) hatte er die Auffassung vertreten, dass die menschliche Vernunft prinzipiell nicht zu endgültigen Erkenntnissen imstande sei und daher auch keine dauerhaft stabilen Lehrgebäude oder ›Systeme‹ errichtet werden könnten.108 Deshalb ist aus seiner Sicht kein Mensch dazu befugt, anderen Menschen eine spekulative Meinung als Wahrheit aufzuzwingen. Die Religion muss nach Diez’ Überzeugung exoterisch untersucht und dargestellt werden. Er widerspricht damit sowohl »gewisse[n] Philosophen«, die seiner Auffassung nach eigentlich gar keine Philosophen sind, weil sie »ihre Ruhe und ihr Ansehn beim Publikum« mehr lieben als die Wahrheit, und er widerspricht damit zugleich bestimmten Theologen, die eigentlich gar keine Theologen sind, weil sie mit kindischen Begriffen hantieren und nicht einmal selbst ihre Lehren verstehen.109 Als Grundzug der esoterischen Religionslehre betrachtet Diez die Überzeugung, dass man »dem Pöbel seinen dummen Glauben lassen« müsse, statt ihn durch »vernünftigere Gesinnungen« zu ersetzen, denn letzteres sei grausam. Nach Diez’ Urteil handelt es sich aber nicht nur um »dummen Glauben«, sondern um Aberglauben, der Gefühle bei den Menschen hervorruft, die der »wahren Menschheit ihren Adel« raubt und alle ihre »Festigkeit« auflöst. Dies sei die schlimmste Barbarei. Mit seiner Analyse glaubt Diez die Motivation der Theologen identifiziert zu haben, die sie zu ihrem feindseligen Verhalten gegenüber den Freidenkern veranlasst. Gegen jene Freidenker, welche »in der Stille sind«, d. h. ihre Ansichten nicht sprachlich oder schriftlich mitteilen, seien sie zwar »sehr gelinde«; aber sobald ein Freidenker »sich des angebohrnen Rechts bedient hat, zu sagen, was man denkt«, geraten sie in Zorn und machen ihn zum Ziel ihres Spottes.110 Indem sie das Recht auf Rede- und Schreibfreiheit bekämpfen und die Freidenker wegen ihrer Mei|| 107 Ebd., S. 166f. 108 Ebd., S. 144. In Der Stand der Natur hatte Diez in Bezug auf den »Wilde[n]«, d. h. den Menschen im Naturzustand, angemerkt: »Er darf nicht fragen: was ist durch die erleuchtete Vernunft, seit allen Jahrtausenden, ausgemacht worden?« Denn er werde »[u]ns antworten hören: Nichts.« 109 Ebd., S. 167. 110 Ebd.

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nungsäußerungen angreifen, werden sie »Tödter der menschlichen Vernunft«. Diez erkennt unter den Theologen unterschiedliche Vorgehensweisen. Neben jenen, die auf die Äußerungen von Freidenkern mit Spott und Verfolgung reagieren, gibt es auch solche, die sie provozieren, weil sie überzeugt sind, dass sich nichts gegen ihren Glauben vorbringen lasse. Diez hält dieses Verhalten für lächerlich und feige, weil dieselben Theologen den so Herausgeforderten durch Druckverbote die Möglichkeit entzögen, auf die Provokationen angemessen zu reagieren.

6 Rechte und Pflichten Diez geht von dem in der frühen Neuzeit gängigen staatstheoretischen Standpunkt aus, dass nicht nur der Bürger, sondern auch der Staat bestimmte Pflichten zu erfüllen hat. Dazu zählen die Sicherung des Lebens, der Nahrung, der Freiheit, der Ehre und der Sicherheit der Bürger. Die staatlichen Pflichten entspringen dem Zweck des Gesellschaftsvertrags. Was dem Zweck des Gemeinwesens zuwiderläuft, indem es die Erfüllung der gesellschaftlichen Pflichten behindert, verstößt aus Diez’ Sicht deshalb gegen das »Grundgesezz der Gesellschaft« und ist »unerlaubt und strafbar«.111 Dabei spielt es keine wesentliche Rolle, wer durch eine solche Straftat geschädigt wird, ob ein einzelner oder die ganze Gesellschaft, denn durch sie werden zumindest »mittelbar« stets alle Mitglieder »gemißhandelt«. Aus dem Zweck der Gesellschaft und dem Gesellschaftsvertrag ergeben sich Pflichten sowohl für die Mitglieder des Gemeinwesens im Einzelnen wie auch für die Gesellschaft im Ganzen. Alle Pflichten müssen allerdings die Bedingung erfüllen, dass sie überhaupt erfüllt werden können. Diez argumentiert, dass diese Bedingung nicht erfüllt sein könne, wenn es um Glauben, Meinungen und Religionen geht, weil diese – wie alle »Überzeugungen« – permanenten, menschlich nicht steuerbaren Wandlungen unterworfen sind. Weil Glauben, Meinungen und Religionen nichts sind, dem sich ein Mensch »verbindlich machen« kann,112 sind Gesetze, die auf eine juristische Regelung menschlicher Überzeugungen abzielen, sinnlos und bilden einen Verstoß gegen das Grundgesetz der Gesellschaft. Weil der wesentliche Aspekt des Gesellschaftsvertrags in der Übertragung individueller Rechte auf einen Souverän besteht, individuelle Überzeugungen aber unvermeidlichen Wandlungen unterworfen sind, kann das Recht eines Menschen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und unter unterschiedlichen Umständen verschiedene Überzeugungen zu haben, nicht auf den Souverän übertragen werden. Eine solche Rechtsübertragung kann deshalb auch nicht dem Willen eines »weise[n] Gott[es]« entsprechen. Es ist zwar

|| 111 Ebd., S. 170. 112 Ebd.

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das Recht der Obrigkeit, das, was sie als Wahrheit ansieht, zu verbreiten, aber dieses Recht ist zugleich eine »Befugniß jedes Bürgers«.113 Die entscheidende Prämisse in Diez’ Argumentation ist auch hier, dass es sich bei allem, was als Wahrheit betrachtet wird, faktisch um mehr oder weniger gut begründete Mutmaßungen handelt, die aufgrund ihres prekären epistemischen Status keinem Menschen aufgezwungen werden dürfen. Alle ›Wahrheiten‹ sind aus intersubjektiver Perspektive nur geglaubte Wahrheiten, und »Glaubensartikel vorzuschreiben und durch Heftigkeit, Drohungen oder Strafen geltend zu machen, ist ein Eingriff in die Rechte der Menschheit und jeder Gesellschaft«.114 Damit hat Diez, der in diesem Punkt ausdrücklich Machiavelli zustimmt, den entscheidenden Punkt benannt: Der Mensch hat das Recht – und zwar das ihm von der Natur verliehene und unübertragbare Recht – alles zu denken, zu sagen und zu schreiben, so lange er niemandem seine Meinungen aufzudrängen versucht. Das Recht auf freies Denken, Reden und Schreiben ist naturgegeben und unveräußerlich, es ist sogar »das beste Recht der Menschheit«.115 Diese Argumentation wendet Diez nun auf die Kirchen an. Weil jede Kirche als Vereinigung von Menschen mit einer übereinstimmenden Überzeugung innerhalb des Staates darstellt, ist sie wie der einzelne Bürger nicht berechtigt, Menschen die Überzeugung aufzuzwingen, die von ihren Mitgliedern geteilt wird. Mehr noch: Der Eintritt in eine Kirche wie auch der Austritt aus ihr muss allein auf einer freien Entscheidung des Einzelnen beruhen. Diese Entscheidung ist jedem Menschen jederzeit ohne Androhung von Repressalien zu gestatten. Die Mitgliedschaft in der Kirche ist ausschließlich abhängig von der Übereinstimmung seiner Überzeugung mit denen der anderen Kirchenmitglieder. Weil Überzeugungen nicht angeboren sind, kann der Mensch niemals ein natürliches Mitglied einer Kirche sein, weshalb eine ›erbliche‹ Mitgliedschaft abzulehnen ist.116 Das Freiheitsgebot, das hier von Diez akzentuiert wird, ist symmetrisch. Auch der »Abtrünnige«, der aus einer Kirche austritt, ist nicht dazu berechtigt, die Mitglieder einer Kirche durch Zwangsmittel von ihren Überzeugungen abzubringen, und zwar, wie Diez ausdrücklich betont, auch dann nicht, wenn er in der Lage ist, deren Lehre »scientifisch« zu bestreiten.117 Denn auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind Diez zufolge nichts anderes als Überzeugungen, also historisch prinzipiell kontingente Meinungen. Als solche dürfen sie niemandem als vermeintlich ewige Wahrheit aufgezwungen werden. Diese Symmetrie bringt Diez zu dem Schluss, dass die »Waffen der Kirche« dieselben sind wie die des Abtrünnigen, weshalb er Verfol-

|| 113 Ebd., S. 170f. 114 Ebd., S. 171. 115 Vgl. ebd., S. 191. 116 Vgl. ebd., S. 171. 117 Ebd.

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gungen von beiden Seiten als »strafwürdig und abscheulich« betrachtet. Für strafwürdig hält er sie, weil für beide Protagonisten die übergeordneten Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft gelten. Das friedliche Miteinander, das durch diese Gesetze geboten ist, darf nicht durch religiöse Konflikte beeinträchtigt werden. Da es sich bei den Kirchen um moralische Institutionen handelt, sind ihre Anführer in besonderem Maß – nämlich aus moralischen Gründen – dazu verpflichtet, die Mitglieder ihrer Gemeinde »zum Frieden und zur Duldung« zu ermahnen, statt »Kezzermacherey« zu betreiben und zu aggressiven Handlungen aufzurufen.118 Diez geht davon aus, dass jeder Mensch »glaubt, was er nach bester Überzeugung für wahr hält«, und alles andere als Irrtum verwirft.119 Im Hintergrund dieser Auffassung steht die Ansicht, dass es objektive Wahrheit nicht gibt, sondern nur individuelles, prinzipiell subjektives und kontingentes Fürwahrhalten. Insofern gilt jede Überzeugung als Folge eines Entschlusses, der seinerseits als subjektives Urteil, mithin als ein individueller innerlicher Akt, betrachtet wird. Diez ist der Auffassung, dass sich über die Meinungen anderer nicht gebieten lässt, weil sich Überzeugungen prinzipiell aller äußeren Befehlsgewalt entziehen. Sie bilden sich nicht aufgrund von Aufforderungen oder Geboten, sondern ausschließlich durch selbständige Überlegung, die meistens als Prüfung der Überzeugungen Anderer angestellt werden. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass niemand einen Menschen zum Glauben auffordern soll, sondern vielmehr zur Prüfung des Glaubens.120 Das Recht und die Freiheit zur Prüfung dürfen nicht durch angedrohte Repressalien und eine dadurch erzwungene Voreingenommenheit eingeschränkt werden. Diez betont die Übereinstimmung seiner Haltung mit der John Lockes, dessen Sendschreiben von der Toleranz er ausführlich zitiert. Locke hatte dafür plädiert, dass »Kirchenredner einer jeden Sekte« ihre Streitigkeiten mit der »Macht der Beweisgründe« ausfechten sollen, aber stets die »Personen [...] schonen« und weder selbst zu gewaltsamen Mitteln greifen oder die weltliche Obrigkeit zu Hilfe rufen mögen.121 Wer mit Eifer || 118 Ebd., S. 171f. 119 Ebd., S. 172. 120 Diez proklamiert diese Maxime, wie schon Justi im Jahr 1747 (Uhrsachen des Verfalls der Religion [s. Anm. 15], S. 75), ausdrücklich in Anlehnung an Ludwig Holberg: Moralische Gedanken. Aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt durch Elias Caspar Reichard. Leipzig 1744, II, 85 (S. 448); dass. u. d. Titel: Moralische Abhandlungen. In Zwey Theile getheilet und aus dem Dänischen Original ins Teutsche übersetzet. Kopenhagen, Leipzig 1744, S. 32. 121 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 172; Diez zitiert die seiner Ansicht nach schlecht übersetzte Ausgabe von Lockes Sendschreiben von der Toleranz, Oder von der Religions- und GewissensFreyheit. Aus dem Englischen ins Teutsche übersetzt. In: Die Rechtmäßigkeit, Nothwendigkeit und Nutzbarkeit. Der Toleranz und Gewissens-Freyheit, Klärlich und kräfftig aus unterschiedenen über diese Materie verfertigten Schrifften erwiesen, und zum gemeinen Besten auffs Neue zusammen gedruckt, Nebst einer Vorrede Von dem Eyfer in und über die Religion, und Anmerckungen über des gelehrten Hallensischen JCti und Professoris Herrn Böhmers, anno 1726 gehaltene Dissertation von der Toleranz. Hamburg, Leipzig 1728, S. 275–384, hier S. 308f.

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und Gewalt gegen Andersdenkende vorgehe, zeige damit, dass es ihm nicht um das Seelenheil des Anderen gehe.122

7 Die Schrift als Medium der Aufklärung Diez vertritt die Auffassung, dass die »Behauptung« des angeborenen Rechts auf Freiheit eine Pflicht sei und die Ausübung dieser Freiheit »alles Große, Wahre und Edle in der Welt befördert hat«. Allgemeine und uneingeschränkte Freiheit, d. h. eine Freiheit, die allen von jedem zuerkannt wird, hält er für vollkommen unschädlich. Die Möglichkeit des Schadens entsteht seiner Überzeugung nach erst durch die Einschränkung der Freiheit, die er deshalb als Tyrannei betrachtet. Die »Wahrheit auf eigne Kosten zu lehren« hingegen wird uneingeschränkt zu einem Verdienst erklärt,123 und als das einzige Mittel, dass dem »Denker« zur Lehre der Wahrheit bleibt, gilt Diez die Schrift.124 Deshalb will Diez deutlich machen, dass die Gefahr, die von den Schriften der »Denker« ausgeht, längst nicht so groß ist, wie von ihren Gegnern behauptet wird, und zwar aus folgenden Gründen: Die Schriften der Denker richten sich ausschließlich an einen kleinen Teil der Gesellschaft, nämlich an jenen »beßern Theil«, der »durch Stand, Berufsgeschäfte und Känntniße über den gemeinen Mann erhaben« ist.125 Für den »gemeinen Mann« sind diese Schriften harmlos, weil er sie gar nicht versteht. Sollten die Schriften bei einem Leser Zweifel hervorrufen, sei dies ebenfalls kein Problem, denn der »Zweifel an gewissen Sätzen« sei keine Sache der Moral, sondern eine Folge der Ungewissheit, die von jeher das »Loos« aller Menschen sei. Daran, dass die Frage nach der Wahrheit prinzipiell nicht beantwortbar ist, habe auch die »Aufklärung« nichts ändern können. Das Unglück besteht aus Diez’ Sicht nicht in der Ungewissheit und dem Zweifel, sondern darin, dass die Menschen irgendwann begonnen hätten, sich Gewissheiten einzubilden und ihnen ein »falsches Verdienst« beizulegen. Das gilt auch für religiöse Überzeugungen. Wenn alle Gewissheiten nur Einbildungen sind und Denk-, Rede-, und Pressefreiheit als Menschenrechte zugestanden werden müssen, aber die entsprechenden Schriften nur ein bestimmtes, nämlich hinreichend gebildetes Publikum ansprechen sollen, liegt der Gedanke nahe, dass derartige Schriften in der »sogenannte[n] Sprache der Gelehrten«, also lateinisch, verfasst werden sollten, wie es von den

|| 122 Auf die Einschränkungen, die Locke mit seiner Forderung nach Toleranz verbindet, vor allem gegenüber Atheisten und Katholiken, geht Diez allerdings nicht ein. 123 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 167. 124 Ebd., S. 168. 125 Ebd.; Dippel und Edelmann, die Diez zwar als Denker betrachtet, werden deshalb für ihre »pöbelhafte« Ausdrucksweise kritisiert.

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Gegnern der Freidenker auch oft gefordert wurde.126 Die Plausibilität dieser Forderung bestreitet Diez ausdrücklich: Die Gruppe der »Gelehrten« ist nicht identisch mit dem »feinern Theil des Publikums«. Ein Gelehrter hat sich entweder bereits selbst von den meisten Vorurteilen befreit oder lässt sich, auch wenn er einem bestimmten ›System‹ zuneigt, nicht in seinem freien Urteil beeinträchtigen – in diesen Fällen bedarf der Gelehrte gar keiner Belehrung. Im anderen Fall, wenn nämlich die Anhänglichkeit eines Gelehrten zu einem System schon so stark ist, dass seine »gesunde Vernunft« bereits im »Wust der Gelehrsamkeit« erstickt ist, gehört dieser nicht zum Adressatenkreis des Freidenkers.127 Es ist bezeichnend, dass Diez hier Hobbes, Cherbury, Toland und Spinoza als Idealtypen des Gelehrten anführt; sie hätten ausschließlich für sich selbst geschrieben. Zum Adressatenkreis des Freidenkers gehören derartige Gelehrte, aber auch der »Mann von gebildetem Geschmack, von feinern Känntnissen, der Regent, der Staatsmann, der vernünftige Offizier, der Kaufmann, der Privatmann etc.«,128 also der Mensch von mittlerer Seelenkraft. Er verlangt am stärksten nach Aufklärung und er bedarf am meisten der Aufklärung, denn er ist »der würkendste Theil im Staat«. Der Ausdruck ›Aufklärung‹ wird spätestens hier zur Bezeichnung dessen, was das freie Denken bewirken soll. Der Freidenker, der die »Fackel der Vernunft« trägt,129 soll erleuchten, aber nicht mit dem Blendlicht der Religion, sondern mit dem natürlichen Licht der Vernunft. Sein Ziel ist Aufklärung, aber nicht Aufklärung aller Menschen, sondern nur die Aufklärung derer, die für den Staat besonders wichtig sind. Es geht Diez nicht um Volksaufklärung, sondern um die Aufklärung einer bestimmten, relativ klar abgegrenzten gesellschaftlichen Gruppe, nämlich um »das Chor der blos guten Köpfe, unter welchen das Zweifeln vorzüglich zu Hause zu seyn scheint«, die aber »nicht zur Untersuchung, nicht zu den Mitteln gelaßen werden, wodurch ein endlicher fester Entschluß bey ihnen hervorgebracht werden kann«.130 Wer die »bloß guten Köpfe« sind, hatte Diez, wie bereits erwähnt, in seinen Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773) erläutert. Es sind die ›mittelmäßigen Menschen‹, also jene, die aufgrund ihrer Seelenkräfte weder zu den Genies noch zu den ›schwachen Seelen‹ zu zählen sind. Für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe entscheiden mehrere Faktoren: der Stand, die Erziehung und die Bildung. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der als solche betrachteten Gelehrten entscheidet hingegen nicht darüber. Das Lateinische kann, obgleich es als Gelehrtensprache gilt, nicht die Sprache der Aufklärung sein, denn diejenigen, die aufgeklärt werden sollen, beherrschen es größtenteils nicht. Die Kenntnis des Lateinischen gilt

|| 126 Ebd. 127 Ebd., S. 168f. 128 Ebd., S. 169. 129 Vgl. ebd., S. 166. 130 Ebd., S. 169.

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Diez ohnehin weder als Kennzeichen noch als Voraussetzung für Klugheit. Gleichwohl missbilligt er die zunehmende Vernachlässigung des Lateinischen, weil dadurch das Studium der antiken Schriften erschwert wird; die Kenntnis des Lateinischen hält er für wichtig, weil das Studium der antiken Schriften »nothwendig den Aberglauben tödten und unsre Denkungsart durchaus roboriren muß«. Hier zeigt sich erneut die große Wertschätzung und pädagogische Bedeutung, die Diez dem antiken Erbe, insbesondere der antiken Philosophie, entgegenbringt. Aber er macht deutlich, dass das Latein inzwischen nicht mehr geeignet sei, um »Genie, Witz und Scharfsinn« zu zeigen. Dies sei ausschließlich in der Muttersprache möglich, die nicht so rasch in Vergessenheit gerate. Im Übrigen vermutet Diez hinter den Forderungen nach der Verwendung des Lateinischen in freidenkerischen Schriften und der Behauptung, nur der Lateinkundige sei »wißbegierig und vernünftig«, explizit eine »Heimtücke« der Theologen, um »das Genie [zu] fesseln«. Er hält den Geistlichen entgegen, dass sie selbst die Nationalsprache in die Theologie eingeführt und damit die Entstehung zahlreicher Sekten bewirkt hätten.131 Im Zentrum von Diez’ Auffassungen, in denen naturrechtliche und erkenntnistheoretische Überlegungen verknüpft werden, finden sich zwei Grundgedanken: (1.) Die Denkfreiheit mitsamt den Freiheiten zur Äußerung der Gedanken, d. h. die Rede- und Schreibfreiheit, sind Menschenrechte. (2.) Es gibt keine absolute Wahrheit oder zumindest keine Möglichkeit, absolute Wahrheit zu erkennen, sondern nur »bündige Überzeugungen« zu bilden. Diese Grundgedanken provozieren allerdings die Frage, welcher Weg der »sicherste« ist, um zu »bündigen Überzeugungen« zu gelangen. Ist es das Gespräch, das durch die Redefreiheit ermöglicht wird, oder die Schrift, die durch die Schreibfreiheit ermöglicht wird? Das Gespräch hält Diez nicht für geeignet, diesen Zweck zu erfüllen, denn im Gespräch sei man nicht in der Lage, »eine Materie bis auf den Grund zu untersuchen«.132 Zu stark sei die Neigung verbreitet, in mündlichen Auseinandersetzung Recht haben zu wollen, statt nach Wahrheit zu streben. Diez ist der Überzeugung, dass Gespräche »blöde Köpfe bange« machen und Zweifel hervorbringen.133 Somit bleibt nur die Schrift als geeignetes Mittel zur Mitteilung freier Gedanken, als Medium einer Aufklärung, die sich an jene richtet, die ihrer bedürfen und die alle Voraussetzungen erfüllen, um aufgeklärt zu werden. Vordergründig geht es Diez nicht darum, konkrete Anweisungen für eine Aufklärungspraxis zu liefern, sondern um eine Analyse des bereits praktizierten Aufklärens. Er möchte nicht darlegen, wie der Weise aufklären soll, sondern darstellen, wie er faktisch aufklärt. Ziel dieser Beobachtung ist der Nachweis, dass die bereits praktizierte Aufklärung für die Gesellschaft unschädlich und vorteilhaft ist und

|| 131 Ebd., S. 169f. 132 Ebd., S. 172. 133 Ebd., S. 173.

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dass die Schrift im Vergleich zur Rede das geeignetere Medium der Aufklärung darstellt. Der »weise Mann« nutzt die freie Rede gegen herrschende Systeme nur unter seinesgleichen, unter unparteiischen Menschen und gegenüber denen, die seine Rede dulden.134 Im Gegensatz zu den leichtsinnigen Spöttern handelt er stets »nach Überlegung und Grundsäzzen«. Geeignete Gesprächspartner wird er selten in Kaffeehäusern oder anderen Sammelstätten des gemeinen Volkes suchen. Die freie Rede richtet sich nur an einen kleinen, ausgesuchten Adressatenkreis, sie hat aber immer den Nachteil, anfällig für Verdrehungen zu sein, und läuft ständig Gefahr, Missverständnisse hervorzurufen. Dagegen bleibt das Geschriebene »immer stehn« und bietet dem Autor in der argumentativen Auseinandersetzung die Möglichkeit, auf den Wortlaut dessen zu verweisen, was er geschrieben hat. Zudem sind die anvisierten Adressaten mit Schriften viel besser zu erreichen. Und nicht zuletzt lassen sich »viele Menschen [...] lieber schriftlich als mündlich sagen, daß sie irren«. Die Schrift hat als Medium des freien Denkens und insofern als Medium der Aufklärung entscheidende Vorteile gegenüber der freien Rede. Trotz der vielen Vorzüge, die er der schriftlichen Darlegung freier Gedanken zuerkennt, fordert Diez vom Weisen ein hohes Maß an Umsicht. Ihm obliegt es sicherzustellen, dass seine Schriften für das Gemeinwesen unschädlich sind. Hier wird Diez konkret und liefert deutliche Anweisungen für den Weisen (der nun schon gar nicht mehr vom Freidenker unterschieden wird). Der Freidenker hält sich in der mündlichen Äußerung seiner Gedanken zurück und beschränkt sich auf deren schriftliche Mitteilung. Dies ist notwendig, weil die Wahrheit, die er mitteilen möchte, bisweilen »beleidigende Blössen« an sich hat, die im Gespräch wie »im gemeinen Leben« besser mit einem »leichten Gewand« bedeckt werden müssen.135 Die Vernunft gebietet dem Freidenker, auf die Ausübung der Redefreiheit zu verzichten, wenn dadurch Konflikte vermieden werden können oder er seine Position in schriftlicher Form präziser darlegen kann.136 Er beschränkt sich dann auf die »schriftliche Untersuchung«, also auf den Gebrauch der Schreib- und Pressefreiheit. Da er mit seinen Schriften ohnehin fast ausschließlich den »geschiktern und einsichtsvollern Theil des Menschengeschlechts« erreicht, braucht er hier nicht die Rücksichten zu nehmen, die beim freien Reden zu beachten wären. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, auf welche Weise Diez begründet, dass der Freidenker mit seinen Schriften ausschließlich den geschickteren und einsichtsvolleren Teil der Gesellschaft erreicht. Seiner Auffassung nach folgt dies aus der historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaften. Die Fähigkeit zum Schreiben und Lesen gelten ihm als Propria des Menschen; sie sind ihm we-

|| 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd., S. 174.

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sentlich und können durch Unterricht erlernt werden. Allein das Sprechen unterscheidet Diez zufolge den Menschen vom Tier;137 die Sprache ermögliche überhaupt erst das menschliche Selbstbewusstsein und die bewusste Wahrnehmung.138 Aber während alle Menschen über die Fähigkeit zur Sprache verfügten, könnten nicht alle Menschen lesen und schreiben. Diese Fähigkeiten, die allein geeignet seien, »unsern Verstand zu erleuchten und unsre Empfindungen zu reinigen«,139 erhöben daher jene, die über sie verfügen, über den »Pöbel«. Faktisch habe aber das Bedürfnis zum Erlernen des Schreibens im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung nachgelassen, so dass es nun nur noch von »gebildetern Menschen« beherrscht werde.140 Dieser Bildungsvorteil habe eine Elite hervorgebracht, die den ungebildeten »Pöbel« beherrsche. Dessen beschränkte intellektuelle Fähigkeiten disqualifizieren ihn als möglichen Adressaten des Freidenkers; der »Pöbel« sei gar nicht imstande, seine Gedanken zu verstehen. Deshalb ziele der Freidenker darauf ab, »die feinere Menschengesellschaft mit seiner Denkungsart auszusöhnen und sie von schimpflichen Vorurtheilen zu reinigen«. Er bemühe sich ausschließlich um die Aufklärung der gebildeteren Elite. Die Aufklärung des ›Pöbels‹ ist für den Freidenker, wie Diez ihn definiert, unmöglich und insofern irrelevant. In der Aufklärung der gebildeteren Gesellschaftsschicht hingegen, die hauptsächlich in der Befreiung von ihren Vorurteilen besteht, muss der Freidenker konsequent sein, um nicht »strafwürdig« zu handeln. Er ist nicht nur dazu berechtigt, sondern sogar dazu verpflichtet, sein »natürliches Recht« zur Äußerung seiner »Denkungsarten« zu gebrauchen. Seine spezifischen Fähigkeiten verpflichten ihn dazu, die »wankenden Zweifler zu belehren und einer kommenden Welt die Bahn der Glückseligkeit brechen oder ebnen« zu helfen.141 Der »gebildete Geist« soll seine Kenntnisse und Einsichten »über alle mögliche[n] Gegenstände des menschlichen Wissens«, insbesondere über »Religion und Vernunft«, anderen mitteilen, um möglichst viele Menschen aus dem »großen Haufen« zu erheben und auf diese Weise klüger wie auch – was für Diez offensichtlich damit einhergeht – glücklicher zu machen. Kurz gesagt, der Freidenker hat die Pflicht, den »alten geistlichen Despotißmus« zu bekämpfen.142 Die Folgen, die sich aus der Nichtbeachtung seiner Pflicht ergeben würden, hält Diez für katastrophal: Die Meinungsbildung wäre dann vollständig den Theologen überlassen, die aus allen Menschen ›Pöbel‹ machen wollen, und es bestünde die Gefahr, dass die Religion erneut || 137 Ebd., S. 175. 138 Ausführlicher hat Diez diese Überlegungen in einer Rezension von 1774 erläutert: Diez: Rezension zu: Philosophie der Natur, aus dem Französischen. Zweiter und letzter Band (Frankfurt a. M., Leipzig 1774). In: Diez: Philosophische Abhandlungen (s. Anm. 5), S. 69–72. 139 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 175. 140 Ebd., S. 174. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 175.

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allein in die Hände der Theologen fällt. Sollte dies geschehen, seien die »alte Barbarey und Mönchsherrschaft wieder zu befürchten«.143 Es wäre das vorläufige Ende der Philosophie und des ›gesunden Menschenverstandes‹.144

8 Von der historischen Analyse zur Reform des Denkens Die Zeit des Spätmittelalters und insbesondere die Phase der Kirchenspaltung dient Diez als historisches Untersuchungsobjekt, um nach dem besten Weg der Aufklärung durch freies Denken zu suchen. Derartige historische Reflexionen waren in der Aufklärungsphilosophie seit ihren Anfängen im 17. Jahrhundert geläufig. In der Regel deutete man hier die Reformationsbewegung als Akt nicht nur der theologischen und religiösen, sondern auch der geistigen Emanzipation und die Reformatoren als Vorkämpfer der Freiheit. So wurde Luther in der frühen deutschen Aufklärungsbewegung, die in den lutherischen Territorien ihren Anfang nahm, bisweilen als Vorbereiter der Aufklärungsbewegung und als Vorkämpfer der Denkfreiheit gefeiert. Eine kritische Haltung gegenüber der Reformation und ihren Leitfiguren war in Deutschland während des 18. Jahrhunderts lange die Ausnahme, auch unter Philosophen. Diez hingegen weist bemerkenswerter Weise nicht auf Luther, sondern auf Erasmus als denjenigen hin, der als »ein friedlicher, stiller, ironischer Weise [...] die Schliche der Mönche ausspürte; der ohne Revolutionen, ohne Blutvergießen, die Rechte der Vernunft« behauptet habe, und zwar »durch den einzigen Weg, der sich für den Erforscher der Wahrheit geziemt, durch Schriften«. Nicht Luther, nicht Melanchthon, weder Zwingli noch Huß gilt Diez als Idealtypus des Weisen, sondern der katholische Erasmus. Denn im Gegensatz zu jenen habe dieser nie versucht, den »Pöbel zu reformiren und Stifter einer Sekte zu werden«,145 sondern lediglich darauf gezielt, die klügeren Menschen zu belehren. Diez sieht in Erasmus nicht den hochrangigen katholischen Geistlichen, der philosophiert, sondern vor allem den Freidenker im Deckmantel des Theologen. Mehr noch, Diez übt sogar ausdrücklich Kritik an Luther, Melanchthon, Zwingli und Huß, indem er ihnen vorwirft, die Spaltung der Kirche herbeigeführt zu haben. Im Gegensatz zur Frühaufklärung, in der Luther als Vorkämpfer der Denkfreiheit gefeiert worden war, wird der Reformator von Diez als ehrgeiziger und affektierter Mensch dargestellt. Diez scheint sogar der Auffassung zu sein, dass es besser gewesen wäre, wenn die Reformationsbewegung nie stattgefunden hätte. Jedenfalls gilt

|| 143 Ebd., S. 174. 144 Ebd., S. 175. 145 Ebd.

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ihm Luther nicht als Freidenker, sondern als Religionsstifter. Denn: Freidenker (wie Erasmus) beginnen – im Gegensatz zu Religionsstiftern (wie Luther) – keine gewaltsamen Revolutionen. Der Freidenker arbeitet »in aller Stille« und geduldig, der Religionsstifter predigt allerorts und will sein »Sistem« mit allen Mitteln durchsetzen.146 Der Freidenker hat es mit der Verbreitung seiner Lehren nicht eilig; er verlässt sich darauf, dass sich die Vernunft – wenn auch erst nach langer Zeit, vielleicht sogar erst lange nach seinem Tod – durchsetzen wird. Er ist nicht aggressiv, muss sich aber wehren, wenn »Neid und Verfolgung« ihn bedrohen.147 Deshalb, so glaubt Diez, ist der Nutzen, den der stille Freidenker Erasmus der Menschheit gebracht hat, größer als der Luthers und seiner »blutige[n] Reform«. Dem Freidenker ist alle Aggression fremd.148 Uneingeschränkte Denk-, Rede- und Schreibfreiheit zu besitzen, entspricht nach Diez’ Überzeugung der »alte[n] Form der natürlichen Einfalt« des Menschen.149 Nur wenn diese Freiheiten gegeben sind, kann auch richtig und wahr gedacht werden. Ein solches richtiges und wahres Denken hat nach Diez’ Überzeugung den Ruhm der Griechen und Römer begründet. Auch in England sei man schon früh frei im Denken und Schreiben gewesen, was zur Überlegenheit des englischen Volkes über alle anderen Nationen geführt habe. In Frankreich habe es immerhin Versuche gegeben, das Recht auf Denk- und Schreibfreiheit geltend zu machen, nämlich von Philosophen wie Charron, Montaigne, Voltaire, Diderot, Helvétius und neuerdings Rousseau, aber sie alle seien an den verbreiteten Vorurteilen und dem geistlichem Despotismus gescheitert. Die Situation in Deutschland bewertet Diez noch negativer: Hier hängt das Denken seit jeher »an der Kette« der Religion.150 Die Philosophie hat stets nur dazu gedient, die christlichen Dogmen zu beweisen, und sie ist deshalb so alt geblieben wie der Glaube selbst. Dies erklärt den »steifen Gang der Sprache, das Nachsprechen der Schule, die Behutsamkeit im Ausdruk«. Immer vermeidet man hier die Kritik an der Religion und dem vorherrschenden System. Die Deutschen sind nicht nur »Nachahmer«, sondern – was viel schlimmer ist – »Sklaven des Glaubens«. Das Verhältnis von Religion und Philosophie scheint aus Diez’ Sicht in Deutschland geradezu pervertiert zu sein. Denn Religion ist hier, wie er an späterer Stelle bemerkt, »weiter nichts, als eine philosophische Meinung«.151 Philosophische Meinungen aber folgen dem Urteil des Einzelnen, der deshalb allein für sie »haften muß«. Die Forderung nach Ehrfurcht vor der Meinung des Anderen hält Diez grundsätzlich für illegitim. Für ihn haben Religion und Tugend keine »Gemeinschaft«, obgleich dies immer || 146 Ebd., S. 184. 147 Ebd., S. 185. 148 Ebd., S. 184. 149 Ebd., S. 176. 150 Ebd., S. 177. 151 Ebd., S. 185.

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wieder heuchlerisch behauptet werde. Tugend ist nicht gebunden an Religion und entspringt ihr auch nicht. Zwar können auch Christen tugendhaft sein, und seine Tugendhaftigkeit wird durchaus vom Freidenker geehrt, aber so etwas wie ›christliche Tugenden‹ gibt es für Diez nicht.152 Tugend, Sitten und Laster sind vielmehr als »das Werk der bürgerlichen Gesezze« anzusehen, mit denen sie »stehn und fallen«,153 weshalb jeder Angriff auf die Gesetze zugleich als Angriff auf die Moralität der Menschen betrachtet werden muss. »Kahle Grundsäzze und Meinungen« können den »Sittenzustand« eines Volkes nicht ändern; die Heuchelei der freiheitsfeindlichen Theologen hingegen kann zum sittlichen Verfall führen, weil ihre Heuchelei zur Nachahmung anstiftet.154 Diez’ prima facie äußerst negativ anmutende Bewertung der deutschen Philosophiegeschichte deutet bereits an, dass er eine Reform der Philosophie für notwendig hält. Sie soll vor allem darin bestehen, dass sich die Philosophie von theologischen Zielsetzungen abwendet und aufhört, philosophisch unbegründete religiöse Rücksichten zu nehmen. Den wichtigsten Ansatz einer solchen Reform der Philosophie bildet das freie Denken, das er in der Apologie zu verteidigen sucht. Der Freidenker soll den Weg zur neuen Philosophie bahnen, indem er zuerst sich selbst von den Fesseln der Religion befreit, nämlich durch freies Denken und Philosophieren, um dann auch den dazu fähigen Teil der Gesellschaft aufzuklären. Im Grunde hat dieser Prozess, wie Diez später konstatiert, schon in der Antike begonnen. Zuerst habe das Christentum aus den Schriften der »Ungläubigen« – gemeint sind die vorchristlichen philosophischen Werke der Griechen und Römer – große Vorteile gezogen, weshalb man sie als »Wohlthäter des menschlichen Geschlechts« betrachten müsse.155 Über diese, die antike vor allem gegenüber der späteren Philosophie aufwertende Behauptung geht Diez dann aber noch weit hinaus: Man sage, was man will! Die Philosophie hat uns vom römischen Joch erlöst. Die Philosophie hat durch ihre Angriffe die Theologen genöthigt, grössern Fleiß auf die Berichtigung und Vertheidigung der Christologie zu wenden, sich inniger mit dem Geist der Religion bekannt zu machen und das Gute daraus abzuschneiden, indem sie alles übrige für unwesentlich erklärten. Die Philosophie endlich hat die Intoleranz, die zwar nicht eigentlich in der christlichen Religion gelehrt, aber doch durch verschiedne ihrer Principien befördert und genährt wird, zuerst bestritten und in manchen schreklichen Aeusserungen besiegt – ein Ruhm, der allein der Philosophie vorbehalten war und künftig vorbehalten seyn wird.156

Keine innerkirchliche Spaltung aufgrund divergierender theologischer Ansichten, sondern die Philosophie hat die Befreiung vom »römischen Joch«, also von Papst || 152 Vgl. ebd., S. 191. 153 Ebd., S. 185. 154 Ebd., S. 185f. 155 Ebd., S. 187; vgl. ebd., S. 201. 156 Ebd., S. 187f.

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und katholischer Kirche, herbeigeführt. Deshalb bestimmt Diez die Philosophie, die ihren Nutzen historisch längst erwiesen habe, als das wesentliche Geschäft des Freidenkers. Obwohl Diez die Leistungen der Reformatoren Calvin und vor allem Luther unter Verweis auf Erasmus stark relativiert, gesteht er ihnen zumindest zu, den »christlichen Aberglauben« ›temperiert‹ zu haben.157 Aber die Reformatoren waren Theologen, und als solche haben sie den Aberglauben nach Diez’ Urteil nicht konsequent bekämpft. Für diesen Kampf bedurfte und bedarf es der Philosophen. Nicht Theologen, sondern Philosophen reformieren im eigentlichen Sinne, denn im Feld der Religionen wird stets nur eine Meinung durch eine andere, ein Glauben bzw. Aberglauben durch einen anderen ersetzt. Die wahre Reformation ist nach Diez’ Urteil auch gar nicht von Theologen angestoßen worden, sondern von Philosophien wie Henry St. John, I. Viscount Bolingbroke (1678–1751), Pierre Bayle, Voltaire und anderen. Ihre philosophischen Leistungen, insbesondere ihre kritische Auseinandersetzung mit der Religion, bringen ihn dazu, sie »mit gröstem Recht Reformatoren« zu nennen. Als größter bisheriger Reformator gilt ihm Friedrich II., denn »der Philosoph von Sanssouci« habe den »Geist der Freiheit im Denken über Europa verbreitet«. Aber selbst er habe die »Witterung der Religion« noch nicht dem »Eispunkt« zugeführt, d. h. noch nicht »dem Unglauben und der Zweiflerey vollkommne Sicherheit und Ruhe« verschaffen können. Damit ist das wesentliche Ziel der von der Philosophie ausgehenden Reform fixiert: Dem Unglauben und dem Zweifel müssen ebenso freier Raum verschafft werden wie dem Glauben und der Überzeugung, und dieses Ziel kann nach Diez’ Ansicht nicht anders erreicht werden »als durch Schriften«. Dass man in Deutschland noch weit davon entfernt ist, dieses Ziel zu erreichen, hat nach Diezʼ Einschätzung vor allem zwei Gründe: (1.) Die Theologen und Gläubigen haben ihre Bemühungen verstärkt, die Religion der Vernunft aufzuzwingen und die Freidenker zu bekämpfen. (2.) Die »besten Köpfe und Zweifler« sind bislang schweigsam geblieben, teils infolge der Zensurbestimmungen, teils weil sie »irrigen und blendenden Modegrundsätzen« folgen.158 Beide Missstände müssen deshalb überwunden werden, und zwar vor allem durch eine grundlegende Veränderung der staatlichen Gesetze. Die als »medicinal Anstalt für den menschlichen Geist« auftretende Zensur soll vollständig abgeschafft werden, denn sie trifft nicht nur Einzelne, sondern ermattet den ganzen »Volksgeist«, befestigt die Vorurteile bei den schwächeren Menschen, schreckt kluge Köpfe ab und bestärkt die »Seelenfeinde«, nämlich die Gegner der Denkfreiheit. Zudem liegt sie oft in den Händen von Unkundigen. Zwar hat es in Deutschland keine »Tribunale der Inquisition« gegeben – »das

|| 157 Ebd., S. 188. 158 Ebd.

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Schändlichste, was jemals der menschliche Geist erfunden hat«159 –, aber es gibt auch keine Gesetze gegen die »hinterlistigen« Machenschaften, mit denen sich die ›Sekten‹ gegenseitig bekämpfen, womit Diez auf die religiöse und konfessionelle Zersplitterung in Deutschland anspielt. Auch müssen Gesetze gegen die »öffentlichen Anfälle der Intoleranz« erlassen werden. Der Staat wird damit zum politischen Akteur im Sinne des philosophischen Reformprogramms. Er soll die uneingeschränkte »Freiheit des Geistes«, »die Freundin aller Menschen«, juristisch verankern und praktisch durchsetzen. Insbesondere soll der Staat die »Freiheit der Presse« garantieren, weil sie das beste Mittel darstellt, Wahrheiten zu entdecken und ein Volk glücklich zu machen.160 Der Staat soll die Rahmenbedingungen schaffen, unter denen die Freidenker ihrer Pflicht nachkommen können, nämlich mit freidenkerischen Schriften die Gläubigen zu der Einsicht zu führen, »daß der Unglaube keine einzige Tugend ausschliess[t]« und dass das Recht auf freie Meinungsäußerung ihnen weder ihren Glauben noch irgendein Menschenrecht raubt.161 Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, dürfen die Freidenker ihre Federn niederlegen. Der Freidenker muss weiter schreiben, bis der »geistliche Stolz«, der »schnöde Egoismuß« und »alle Verunglimpfungen [...] ein Ende nehmen«.162 Er hat das Recht, dies zu tun, denn »sein Schreiben ist Nothwehre [...], und Nothwehre dauert so lange als Angriff«. Sein Kampf ist gerecht und zielt nicht auf Zerstörung des Gegners, sondern auf »Balance«.163 Ist diese Balance erreicht, werden die Priester »weiter nichts, als die Sittenlehre der Vernunft abhandeln, und deren Regeln dem Volk einschärfen«.164 Die Religion wird damit ebenfalls zum Instrument der moralischen Verbesserung des Volkes, und zwar unter Anleitung einer rationalen Moralphilosophie, die an die Stelle offenbarungstheologischer Spekulationen als Grundlage einer Moraltheologie tritt. Glaubenslehren werden die Priester nur noch außerhalb der Öffentlichkeit untersuchen und »jeden davon denken lassen, was er will«. Alle, die Gläubigen wie die Ungläubigen und selbstverständlich auch || 159 Ebd., S. 190. 160 Ebd., S. 188f. 161 Anhand eines Gleichnisses, das Helvétius formuliert hatte, verdeutlicht Diez, dass es – auch aus Sicht des wie auch immer religiös orientierten Gläubigen – nicht darauf ankommt, welchen Glauben man hat, sondern ausschließlich darauf, sich um ein tugendhaftes und vernünftiges Leben zu bemühen. Helvétius hatte die »dummen Mönche« darauf hingewiesen, dass es Gottes Wille sei, »daß Wahrheit der Lohn für sorgfältig angestellte Untersuchung« sei, und dass die »kräftigsten Gebete [...] fleißiges Nachdenken und Forschen« seien. Claude Adrien Helvétius: De LʼHomme, de ses facultés intellectuelles et de son éducation. Londres [d. i. The Hague] 1773; Diez zitiert aus der dt. Übersetzung u. d. T.: Werk vom Menschen, von dessen Geistes-Kräften, und von der Erziehung desselben. Aus dem Französischen. 2 Bde. Breslau 1774, hier Bd. 1, S. 339–341. Vgl. Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 189. 162 Ebd., S. 190. 163 Ebd., S. 190f. 164 Ebd., S. 191.

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die Freidenker, sollen einander Toleranz bezeugen und nicht nach Dominanz streben. Alle Menschen sollen sich allein darauf konzentrieren, tugendhaft zu sein und zu handeln, um »den Beyfall der Gottheit« zu erlangen, und die Mitmenschen nur danach beurteilen, ob sie sich durch »rechtschaffne und wohlwollende Gesinnungen gut und nüzzlich« machen. Dass das Ziel dieser Reform erreicht werden kann, scheint Diez allerdings zu bezweifeln. Denn: »Ewiger Krieg scheint in Meinungssachen die Losung der armen Sterblichen zu seyn.«165 Die Menschen als Individuen einer »Mittelgattung« von törichten und klugen Geschöpfen weigern sich wegen der Unsicherheit ihrer Erkenntnis fast immer, Wahrheiten anzuerkennen, auszusprechen und zu verteidigen,166 zumal die Wahrheit ohnehin gewohnt sei‚ sich »bitten zu lassen«.167 Es erscheint Diez deshalb fraglich, ob sie dereinst »den Sieg davon tragen werde«.168 Das Ziel, das die Reform verfolgt, bildet insofern ein staatsphilosophisches und moralphilosophisches Ideal, dem zugestrebt werden soll, auch wenn es nicht vollständig erreicht werden kann.

9 Vorwürfe und Entgegnungen Der weise Freidenker soll das freie Denken praktizieren und fördern, weil es, vor allem wenn es schriftlich mitgeteilt wird, für die Gesellschaft nützlich sein kann. Der potentielle Schaden, den Bücher anrichten könnten, ist nach Diez’ Überzeugung nicht übermäßig groß. Die meisten Bücher dienen nämlich als Korrektiv eines anderen Buchs.169 Der Nutzen dieser Korrektur besteht darin, dass sie Einzelmeinungen relativiert, hinterfragt und mögliche Gegenpositionen aufzeigt, kurz, die Korrektur verhindert, dass eine einzelne Meinung vorherrschend wird, denn nichts ist »verderblicher, als eine herrschende Richtung des menschlichen Geistes auf einzelne Säzze, auf einzelne Denkungsarten«. Gefährlich können Bücher nur dann werden, wenn ihr Korrektiv fehlt, und noch mehr, wenn sie im Duktus der »Unfehlbarkeit« verfasst worden sind und »ihren Ursprung von der Gottheit herleiten«. Denn solche Schriften unterdrücken den Zweifel, der dem Menschen nicht nur eigentümlich ist,

|| 165 Ebd., S. 189. 166 Ebd., S. 189f. 167 Ebd., S. 190. 168 Ebd.; hinzu kommt, dass aus seiner Sicht ohnehin unklar bleiben muss, wie ein endgültiger Sieg der Wahrheit aussehen könnte, denn es ist ja gerade seine Auffassung, dass die objektive Wahrheit – ob es sie nun gibt oder nicht – nicht bewusst von Menschen erkannt werden kann. Der Mensch bildet nach Diez’ Überzeugung stets nur Meinungen und Überzeugungen, die prinzipiell nicht den Anspruch erheben können, objektiv wahr zu sein. 169 Ebd., S. 177.

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sondern sogar die wichtigste Triebfeder zur menschlichen Verbesserung darstellt. Deshalb sollen Bücher, denen »Auktorität« zugesprochen wird,170 einer besonders strengen Prüfung unterzogen werden. »Überall muß Streit, Widerspruch, Empörung seyn und hier sieht man eigentlich ein bellum omnium contra omnes.« Diese auf Hobbes’ Charakterisierung des Naturzustandes anspielende Einsicht kennzeichnet den Weisen als solchen. Der »weise Mann« nennt das Wahrheit, »was zur Aufklärung seines Verstandes und zur Bildung seines Gefühls« beiträgt. Er hängt keiner Sekte oder Meinung an, aber er ist stets gerüstet, sich gegen Lehren aufzulehnen, die die Wahrheit einer bestimmten »Parthey« zuschreiben. Mit dieser Haltung steht der weise Freidenker den Gegnern der Denkfreiheit gegenüber, die vor allem im Feld der Religion immer wieder Gründe für die Einschränkung der Schreibfreiheit vorbringen. Diese Gründe, um deren Entkräftung sich Diez bemüht, sind folgende: (1.) Das gemeine Volk lebt in einem tradierten religiösen Glauben. Da ihm die intellektuellen Fähigkeiten fehlen, die Einwürfe der Freidenker gegen ihre Religion zu verstehen, wird es durch deren Schriften irre gemacht. Die Gesellschaft gerät auf diese Weise in Unordnung, die Freidenkerei artet früher oder später zur Zügellosigkeit aus. (2.) Weil der »gemeine Haufe« nicht über das »Licht der aufgeklärten Vernunft« verfügt, muss er autoritär »gelenkt« werden; andernfalls würde alle Moral verloren gehen.171 Die Schriften der Freidenker behindern diese Steuerung. (3.) Religion verbreitet Moral und wirkt vor allem dort, »wo die bürgerlichen Gesezze ihre Kraft verlieren«. Da sich die Schriften der Freidenker gegen die Religion richten, zerstören sie die Moral. (4.) Schon immer wurden von den Weisen die Mittel akzeptiert, durch die das »Volk im Zaum gehalten und Ordnung und Ruhe im Staat bewürkt« wurden. Die Freidenker lehnen diese Akzeptanz ab und gefährden damit die staatliche Ordnung und Ruhe. (5.) Die Freidenker als »Neuerungsfreunde« sind nur destruktiv, nicht konstruktiv; sie bieten keine bessere Alternative zu dem, was sie bekämpfen. Ihre Bücher sind deshalb schädlich. (6.) Wenn Vorurteile für heilig und unverzichtbar gehalten oder sogar von einer ganzen Nation geteilt werden, so verdienen sie »Ehrerbietung« und Schonung. Obwohl der Kampf gegen Vorurteile nicht zur Wahrheit führt,172 maßen sich die Freidenker an, alle Vorurteile schonungslos zu bekämpfen. Diez hält diese Gründe sämtlich für »Modegesinnungen«, die unter vielen »heutigen Philosophen und verständigen Theologen« verbreitet sind. Seiner Überzeugung nach haben sie einen »grossen Schein der Wahrheit«, sind aber in Wirklichkeit nur »Geschwäzz ohne Gründlichkeit«.173 Gerade jenen Männern, die nach reiflicher Überlegung gegen die Religion geschrieben haben, ist – so Diez – ein großer Teil

|| 170 Ebd., S. 178. 171 Ebd. 172 Ebd., S. 178f. 173 Ebd., S. 179.

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menschlicher Einsichten zu verdanken. Allzu große Vorsicht ist hier fehl am Platz, es braucht mehr als nur »Zukkerplätzchen« mit »Opiat«! Der Schaden, den ein Buch anrichten kann, ist schon deshalb gering, weil es seine Wirkung nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung entfalten kann. Die meisten Menschen können gar nicht lesen. Von denen, die lesen können, interessiert sich nur ein Drittel für ernsthafte Schriften, nur ein Sechstel liest Freidenkerschriften, nur circa jeder Vierundzwanzigste – hierbei handelt es sich offenbar um »die sogenannten guten Köpfe«,174 für die der Freidenker schreibt, – wird durch die Lektüre in seinen religiösen Überzeugungen erschüttert. Der mögliche Schaden eines Buches ist daher »nur eingebildet«. Der Vorwurf, Freidenker würden das Volk irre machen, indem sie Zweifel und Unruhe unter die Menschen bringen, ist nach Diez Auffassung auch deshalb unbegründet, weil derjenige, der eine »schwache Seele« hat, sich nicht lange mit ihren Schriften aufhält, sondern »desto unauflöslicher in den Schooß der Kirche« zurückfällt.175 Wer hingegen über eine »Festigkeit der Seele« verfügt, wird nicht an Zweifel und Ungewissheit leiden, sondern seine Überzeugungen prüfen, zu einer richtigen Einsicht gelangen und dadurch glücklicher werden. Zudem zielen Freidenkerschriften gar nicht darauf ab, die Religion auszurotten, ja nicht einmal darauf, den »gemeinen Haufen«, aufzuklären, sondern sie richten sich ausschließlich an die »vornehmen und mittlern Stände des Staates«.176 Die Freidenker kämpfen für »Indifferentismus« als Voraussetzung der »schönsten Tugend«, nämlich der »Toleranz«. Damit bestreitet Diez den Vorwurf des destruktiven Charakters freidenkerischer Schriften. Das freie Denken als Fundament der Toleranz bringt er sogar gegen die ›göttliche Religion‹, die er von der ›staatlichen Religion‹ unterscheidet, in Anschlag: Während die von Weisen verwaltete staatliche Religion,177 die als solche keiner Offenbarungsschriften und Wunder bedarf, lediglich die Teilnahme am Kultus fordert, dabei uneingeschränkte Denkfreiheit gewährt und Andersgläubige duldet, gibt sich die göttliche Religion für unfehlbar aus, fordert nicht nur »äußere«, sondern auch »innere Befolgung« und maßt sich unumschränkte Rechte an. Sie ist von Grund auf intolerant.178 Den Vorwurf der Intoleranz richtet Diez ausdrücklich auch an die christliche Religion: Obgleich im frühen Christentum eine tolerante Einstellung proklamiert worden war, sind die Christen intolerant geworden.179

|| 174 Ebd., S. 180. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 181. 177 Ob die griechischen und römischen Philosophen als Ideale die Staatsreligion klug duldender Weisen anzusehen seien, lässt Diez offen, aber in jedem Fall hält die griechisch-römische Religion für eine »Staatsreligion« im eigentlichen Sinne des Wortes, denn in ihr sei es ausschließlich um die Befolgung des Kultus gegangen, und selbst dabei sei der Staat großzügig gewesen; vgl. ebd., S. 182. 178 Ebd., S. 181. 179 Vgl. ebd., S. 184.

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Diez’ Äußerungen können zwar nicht als Plädoyer für die Abschaffung der Religionen im Ganzen, aber durchaus jener ›göttlichen Religionen‹, die auf dem Glauben an Offenbarungsschriften, Wunder und jenseitige Strafen basieren, gedeutet werden. Er beurteilt die Religion ganz nach ihrer Angepasstheit an die Zwecke des staatlichen Gemeinwesens, weshalb er die Pflicht zur Rücksicht auf eine Staatsreligion für größer erachtet als die Pflicht zur Rücksicht auf eine ›göttliche Religion‹. Sogar eine närrische Staatsreligion hält Diez für akzeptabel, wenn sie dem »Glük des Vaterlands« dient.180 Wenn diese Bedingung erfüllt ist, wäre alle philosophische Kritik schädlich.181 So lange eine Religion nicht gewaltsam gegen Andersgläubige vorgeht, bleibt ihre »Lächerlichkeit« ungefährlich und richtet keinen Schaden an. Nur wenn sie aggressive Züge aufweist, muss man ihre »Ungereimtheiten« angreifen und ihr so das »Schwerd« entreißen. Insofern verrichtet der Freidenker mit seinem Kampf gegen bestimmte, nämlich für das Gemeinwohl schädliche Religionen einen Dienst für den Staat.182 Denn dem Staat muss es, wie der Weise weiß, nicht um die Wahrheit einer Religion gehen, sondern lediglich um ihren politischen Nutzen.183 Der Vorwurf der Neuerung entstammt nach Diez’ Einschätzung der »Sprache der Dummköpfe«.184 Die Furcht des »gemeine[n] Menschen« vor Neuerungen einschließlich der Aufklärung hält er für etwas Natürliches. Umso wichtiger ist es aber aus seiner Sicht, dass »Geisteshelden« oder – wie es jetzt irritierend heißt – »Schwärmer« diese Furcht überwinden und dem gemeinen Haufen vorangehen. Die Geschichte zeige, dass ihnen der Pöbel folgen wird. Diez verweist exemplarisch auf den Frühaufklärer Christian Thomasius (1655–1728), der den tradierten Teufelsglauben bekämpft und die Abschaffung der Hexenverfolgung in Preußen initiiert hatte. Das Auftreten solcher Helden hält Diez allerdings für die Ausnahme. Das Gros der Menschheit hängt in der Regel am »Angewöhnten« und neigt deshalb zur Ablehnung alles Neuen. Der Weise hingegen klagt nicht über Neuerungen – er führt sie ein, wenn auch nicht selten unter großen Opfern. Sokrates, Christus, Arius, Luther, Hobbes und Spinoza dienen Diez dafür ebenso als Beispiele wie die ersten Christen. Letztere hätten gegenüber religiösen Traditionalisten bereits treffend darauf hingewiesen, dass das Kriterium des Alters oder der Neuheit einer Religion unmaßgeblich sei.185 Jede Religion sei einmal neu gewesen und jede neue Religion werde einmal alt

|| 180 Ebd., S. 182. 181 Sokrates und »die neuern chinesischen Weltweisen«, die dies getan hätten bzw. noch täten, werden deshalb scharf von Diez kritisiert, wenn auch nicht »verdammt«, denn letzteres sei wiederum eine Angelegenheit des Staates; vgl. ebd. 182 Ebd., S. 182f. 183 Ebd., S. 183. 184 Ebd. 185 Vgl. ebd., S. 183f. Diese mutmaßliche frühchristliche Haltung entnimmt Diez allerdings keinen antiken Quellen, sondern führt ein langes Zitat aus William Caves Primitive Christianity: or, the

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sein. Bei der Hinwendung zu einer Religion kommt es, wie auch bei der Abkehr von ihr, allein auf die jeweiligen Beweggründe an. An der Einführung von Neuerungen per se ist der Freidenker jedenfalls nicht interessiert. Ihm geht es um die Freiheit zum selbstbestimmten Glauben und Denken. Wenn er gezwungen ist, Altes zu überwinden, dann nicht weil es alt ist und er etwas Neues an seine Stelle setzen will, sondern weil es schädlich ist186 – und Diez hat ja bereits klar gemacht, dass er vor allem die ›göttlichen Religionen‹ für besonders schädlich hält. Gegen den Vorwurf, der Freidenker nehme den Menschen mit dem Glauben das, was sie glücklich mache, wendet Diez ein, dass der Freidenker lediglich die rationalen Gründe seines Unglaubens äußere. Es sei und bleibe aber Sache des Gläubigen, zu beurteilen, was er für Wahrheit hält. Er könne dem Freidenker seine Schreibfreiheit uneingeschränkt zugestehen, ohne davon irgendeinen Schaden für sein Glück befürchten zu müssen.187 Zudem richte sich der Freidenker nicht gegen den Glauben, sondern gegen das, was er als Aberglaube und Unglaube erkannt hat. Eine klare Grenze zwischen Glaube und Aberglaube kann Diez von seinem erkenntnisrelativistischen Standpunkt freilich nicht ziehen. Er weist lediglich darauf hin, dass auch der Aberglaube als bloße Meinung harmlos ist, aber ebenso wie der Glaube gefährlich werden kann, wenn seine Vertreter die bürgerliche Ruhe stören und die Menschen tyrannisieren. Dies habe schon Francis Bacon, aus dessen Sermones fideles Diez ausführlich zitiert, ganz richtig erkannt.188 Für Diez spielt die Unterscheidung von Glaube und Aberglaube aber letztlich keine Rolle; aus seiner Perspektive ist sie Sache des Einzelnen. Sie kann zwar mit rationalen Argumenten diskutiert werden, sie darf aber nie zur allein- und endgültigen Wahrheit erhoben und mit missionarischem Geist durch Zwang anderen aufgedrängt werden. Dem Einwand, man müsse die in einer Nation herrschenden Vorurteile schonen, begegnet Diez mit dem Hinweis darauf, dass »der Kluge« nur dann gegen Vorurteile das Wort erhebe, wenn deren Schaden größer als ihr Nutzen sei.189 Diez vertritt damit eine utilitaristische Vorurteilstheorie, die allerdings weder klärt, woran der Nutzen oder der Schaden von Vorurteilen eindeutig bemessen werden könnte, noch, um wessen Nutzen oder Schaden es hier geht. Aber aufgrund seiner vorigen Ausführungen ist anzunehmen, dass er auf die Vor- und Nachteile der Gesellschaft im Ganzen abzielt. Insofern erfolgt bei Diez die Verteidigung der Denkfreiheit auf

|| religion Of the Ancient Christians In the first Ages of the Gospel. In Three Parts (London 1673) an, dessen deutsche Übersetzung von Johann Christoph Frauendorff (Erstes Christenthum, oder Gottesdienst der alten Christen in den ersten zeiten des evangelii. Leipzig 1694, weitere Aufl.: 1723) er benutzt hat. 186 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 184. 187 Vgl. ebd., S. 185. 188 Ebd., S. 186. Vgl. Francis Bacon: Sermones fideles, sive interiora rerum. In: ders.: The Works. New Edition, Bd. 10, London 1826, Serm. XVII (S. 44–46, hier S. 44f.). 189 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 186.

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zwei Ebenen: einerseits auf der utilitaristischen Ebene, auf der es um den Nutzen für den Staat und damit auch für den einzelnen Bürger geht, und andererseits auf der Ebene des Naturrechts, auf der die Denk-, Rede- und Schreibfreiheit als natürliches Recht jedes einzelnen Menschen proklamiert wird.190 Dem Vorwurf der Kirche an die Freidenker, sie würden Unheil über die Menschen bringen, indem sie die Ruhe und Ordnung zerstörten, begegnet Diez mit dem Hinweis darauf, dass es vor allem die Religionen, Sekten und Priester selbst seien, die bewaffnet aufeinander losgehen, sich gleichgültig gegenüber den schädlichen Wirkungen »vor den Augen des grosen Haufens« über wesentliche Punkte ihrer Religion streiten und die Menschen ins größte Unheil stürzen.191 Unter Heiden hätte es nie »Religionszänkereien« gegeben.

10 Schluss Diez hat seine Apologie selbst rezensiert, ohne kenntlich zu machen, dass diese Schrift von ihm selbst stammt.192 Er hat sich in seiner Rezension selbst dafür kritisiert, mit seinen Gegnern zu sanft umgegangen zu sein. Darüber hinaus stellt die Rezension vor allem eine inhaltliche Zusammenfassung der Apologie dar. Eine breite Rezeption der Apologie hat nach ihrem Erscheinen nicht eingesetzt, sie fand meistens nur bibliographische Erwähnung. Dies gilt für die unmittelbare Zeit nach ihrem Erscheinen ebenso wie für die neuere Forschungsliteratur. 1782 erschien in der Allgemeinen deutschen Bibliothek eine Rezension der Apologie,193 die vermutlich von Johann August Eberhard (1739–1809)194 verfasst worden ist. Der Autor teilt zwar die meisten Ansichten Diez’, widerspricht aber auch ausdrücklich einigen Behauptungen. So ist er im Gegensatz zu Diez nicht der Ansicht, dass Religion und Tugend keine Gemeinschaft hätten. Ferner hält er den möglichen Schaden gedruckter Bücher durchaus für groß, da das Lesen neuer Schriften inzwischen mancherorts »sehr allgemein geworden« sei. Vor allem aber weist er auf die Schwierigkeit hin, die von Diez mit der Verpflichtung des Weisen zur Toleranz gegenüber unschädlichen und moralkonformen Vorurteilen und Irrtümern verknüpft worden

|| 190 Vgl. ebd., S. 186f. 191 Ebd., S. 187. 192 Diez: Rezension zu Diez: Apologie der Duldung u. Preßfreiheit. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten, Jg. 1781, Erstes Stück, S. 523–534 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 199–204). 193 F.: Rezension zu: Diez, Apologie der Duldung und Preßfreyheit. In: ebd., S. 348–350. 194 Vgl. [Gustav Constantin Parthey:] Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842 (ND Hildesheim 1973), S. 38.

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war. Es werde nämlich immer schwer sein, zu unterscheiden, welcher Irrtum unschädlich ist und »auf welchem Grunde die Moralität beruhe«, und er ergänzt: »Irrthum bleibt freylich immer Irrthum, dem man entgegen arbeiten muß.« Zwar plädiert der Rezensent dafür, diejenigen Schriften, »welche alle Religion untergraben« oder die Theologie einschließlich der Prädestinationslehre »verdächtig machen«, durch die positive, d. h. staatliche, Gesetzgebung zu verbieten, aber auch er hofft ausdrücklich, dass die »traurigen Fesseln, welche jene Geburt menschlicher Schwäche der Geistesfreyheit anlegt, bald in vielen Staaten Deutschlands zerbrechen« mögen. Eine uneingeschränkte Pressefreiheit lehnt er dennoch ab und schlägt die Einsetzung unparteiischer »Schaurichter« als Prüfer von Schriften vor, erkennt aber zugleich das Problem, die Neutralität solcher Richter zu garantieren. Darüber hinaus scheint es keine intensive Auseinandersetzung mit Diez’ Apologie gegeben zu haben. Eine nennenswerte Wirkung hat die Schrift als einzelne offenbar nicht gehabt. Das ist allerdings nicht verwunderlich. Freidenkerische Schriften, in denen sich philosophisch gebildete Bürger als Befürworter einer rationalen Prüfung religiöser Dogmen äußerten, gab es gerade im Preußen des 18. Jahrhunderts in relativ großer Zahl, aber ihre Bedeutung haben sie selten im Einzelnen erlangt, sondern zumeist erst durch die Wirkung, die ihre starke Verbreitung mit sich gebracht hat. Dennoch weist Diez’ Position eine hervorzuhebende Besonderheit auf. Sie besteht darin, dass er das Recht zur freien Prüfung religiöser Dogmen unter das Recht zur freien Prüfung aller, nämlich sowohl religiöser als auch nichtreligiöser Lehren subsummiert. Genau genommen geht seine Rechtfertigung der Religionskritik sogar von seiner Rechtfertigung der Philosophiekritik aus. Diez greift die (im weitesten Sinne) erkenntnistheoretischen Argumente, mit denen er das Recht und die Pflicht des Freidenkers zur Kritik aller dogmatischen Philosophie bewiesen zu haben glaubt, in der Apologie auf und ergänzt sie durch naturrechtliche, anthropologische, moralphilosophische und staatsphilosophische Argumente. Mit ihnen zielt er darauf ab, das Recht auf Denkfreiheit als Menschenrecht zu erweisen und zugleich die gegen die Freidenker vorgebrachten Anschuldigungen zu entkräften. Im Ganzen jedoch richtet sich sein Denken gegen alle Lehren, die den Anspruch erheben, endgültige Wahrheiten zu liefern.195 Deshalb ist es nicht nur ein Stilmittel, son-

|| 195 Die Grundsätze, die Diez in der Apologie formuliert hat, vor allem die Begründung des Rechts auf individuelle Denkfreiheit in religiösen Dingen, hat er übrigens wenig später in Spinozas Tractatus theologico-politicus wiedergefunden und sehr bedauert, dass er sich bei der Niederschrift der Apologie nicht an den Tractatus erinnert habe. Spinoza ist von Diez »unter die größten Männer, die je auf Erden gelebt haben«, gezählt worden. Nach Erscheinen der Apologie hat er dessen Biographie sowie eine Übersetzung der Vorrede Spinozas zum Tractatus veröffentlicht; vgl. Diez: Spinoza über Aberglauben und Denkfreyheit. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten vom Jahre 1783, 5. St., S. 564–578 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 321–329); Diez: Benedikt von Spinoza nach Leben und Lehren. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten vom

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dern sachlich konsequent, wenn Diez seine Abhandlung mit den Worten schließt: »Ich schäzze [...] jeden verdienstvollen Geist, der anders denkt, wie ich. Aber den Mann, für den ich zu frei geschrieben, hab ich immer bedauert, oft auch verachtet.«196

|| Jahre 1783, 8. St., S. 131–160, unter demselben Titel auch als Monographie erschienen Dessau, Leipzig 1783 (ND Diez: Frühe Schriften [s. Anm. 1], S. 347–363). 196 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 191.

Wolf Christoph Seifert

»… geradezu gegen das Christenthum«? Christian Wilhelm Dohm und Heinrich Friedrich Diez zu Judenemanzipation und Religionskritik Mit der Veröffentlichung seiner Schrift Über Juden1 im Jahr 1783 schaltete Heinrich Friedrich Diez sich in die Debatte um Gleichberechtigung der Juden ein, die bereits 1781 durch Christian Wilhelm Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden2 ausgelöst wurde. Dohm und Diez standen möglicherweise bereits vorher in Kontakt, nicht ausgeschlossen scheint es, dass sie sich schon im Umfeld der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek kennengelernt hatten, an deren Herausgabe Dohm seit 1775 beteiligt war und zu der Diez beitrug.3 Durch Dohms Vermittlung erhielt Diez – ein »junge[r] Mann von vielen Kenntnissen und großem Selbstgefühl«, der auf »subalterne[m] Posten«4 in Magdeburg als Kanzleidirektor arbeitete – ein Jahr nach seinem Eingreifen in die Emanzipationsdebatte eine Stelle als preußischer Chargé d’affaires an der Hohen Pforte, eine Tätigkeit, die seiner Expertise auf dem Gebiet von Recht, Geschichte, Philosophie und seinem Interesse am Orient entsprach.5 Der kurze Austausch der beiden Aufklärer – Diez’ Beitrag und Dohms kurze Antwort darauf im zweiten, 1783 veröffentlichten Teil seiner Emanzipationsschrift – ist insgesamt außerordentlich einmütig: Beide verfolgen mit ihren Schriften die Grundsätze eines humanistischen aufklärerischen Programmes, das die Gleichberechtigung der lange unterdrückten Minderheit fordert. Gleichwohl besteht, wie ich im Folgenden in einer genauen Gegenüberstellung beider Texte im Kontext der

|| 1 Heinrich Friedrich Diez: Über Juden. An Herrn Kriegsrath Dohm zu Berlin. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 3. St., S. 320–347, später separat Dessau, Leipzig 1783; Abdruck in: ders.: Frühe Schriften. Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 305–320. Im Folgenden zitiere ich nach der Neuausgabe. 2 Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin, Stettin 1781. Zweiter Teil: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Zweyter Theil. Berlin, Stettin 1783. Abdruck beider Teile in Christian Wilhelm Dohm: Kritische und kommentierte Studienausgabe. Hg. von Wolf Christoph Seifert. Göttingen 2015; im Folgenden wird nach der Neuausgabe zitiert. 3 Vgl. Arne Klawitter: Vom Allgemeinen zum Auserlesenen. Die Lemgoer Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur (1772–1781) als »gefährliche Nebenbuhlerin« der Berliner Allgemeinen Deutschen Bibliothek. In: Waseda-Blätter 21 (2014), S. 7–27, hier S. 8. 4 Wilhelm Gronau: Christian Wilhelm Dohm nach seinem Wollen und Handeln. Lemgo 1824, S. 107. 5 Vgl. ebd., S. 107–110. Einen konzisen biographischen Überblick über Diezʼ Leben liefert Bernd G. Ulbrich: »Der so wunderliche als treffliche Mann …«. Das Lebenswerk des Heinrich Friedrich von Diez. In: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 2002, S. 117–139; eine Übersicht über das frühe Werk Diezens liefert auch Manfred Voigts: Heinrich Friedrich Diez. Kanzleydirektor, Freygeist und Freund der Juden. In: Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 457–540.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-007

110 | Wolf Christoph Seifert polarisierten Debatte zeigen möchte, eine Reibungsfläche zwischen den rhetorischen Strategien der Aufklärer Diez und Dohm, mit denen sie jeweils die Rolle der positiven Religion(en) im Rahmen der Emanzipationsbestrebungen und Gleichberechtigungsforderungen thematisieren. Die Frage nach dem Umgang mit einer gegenüber dem aufgeklärten Staatswesen widerständigen positiven Religion, die besonders eng mit der Frage nach der Integrationsfähigkeit religiöser Minderheiten verknüpft ist, wird von Dohm und Diez jeweils in einer diplomatischen und einer tendenziell konfrontativen Variante entfaltet, wobei die Polarisierung der Debatte dazu führt, dass sich Dohms diplomatische Rhetorik im zweiten Teil seiner Schrift der konfrontativen Form annähert.6

1 Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Teil 1 Diez und Dohm sind von Gerda Heinrich als Repräsentanten eines spezifischen Typs des »feudalstaatlichen Beamten« im 18. Jahrhundert bezeichnet worden. Als Vertreter dieses Typs zeichnen [sie] sich durch hohe Sachkompetenz in juristischen und administrativen Angelegenheiten, durch Kenntnis des zeitgenössischen philosophischen Ideengutes und daraus erwachsende Fähigkeiten zu kritischer Reflexion gesamtgesellschaftlicher Prozesse aus. […] Geleitet von egalitären naturrechtlichen Prinzipien, die sie mit frühliberalen Auffassungen von der Rolle des Staates verknüpfen, realisieren sie politische und philosophisch-literarische Ambitionen in einer regen publizistischen Tätigkeit.7

Bis zur Veröffentlichung seiner Emanzipationsschrift im Jahre 1781 bezieht sich die rege publizistische Tätigkeit Dohms auf eine ganze Reihe von verschiedenen Gegenständen. Um nur einige zu nennen: Er gibt Reisebeschreibungen heraus,8 übersetzt

|| 6 Der Beitrag basiert auf Beobachtungen und vertieft Überlegungen, die ich bereits im Kommentar zur kritischen Studienausgabe der bürgerlichen Verbesserung angestellt habe. Vgl. Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kritische und kommentierte Studienausgabe. Kommentar. Hg. von Wolf Christoph Seifert. Göttingen 2015, insbesondere S. 192–205. 7 Gerda Heinrich: Preußische Beamte als Träger von Aufklärung: Dohm, Diez, Goßler und Schuckmann zur Judenfrage. In: Französische Kultur – Aufklärung in Preußen. Akten der internationalen Fachtagung vom 20./21. September 1996 in Potsdam. Berlin 2001, S. 101–109, hier S. 102. Vgl. zum Typus des »bürgerlichen Schriftstellers« auch Rudolf Vierhaus: Christian Wilhelm Dohm – Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufklärung. In: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Göttingen 1987, S. 143–156. 8 Engelbert Kaempfer: Geschichte und Beschreibung von Japan. Hg. von Christian Wilhelm Dohm. 2 Bde. Lemgo 1777/79.

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philosophische Abhandlungen,9 und plant eine (gleichwohl nie veröffentlichte) Abhandlung über das südliche Asien als Wiege der menschlichen Religion.10 Bereits 1774 veröffentlicht Dohm in den Lippischen Intelligenzblättern einen Aufsatz, der einen zentralen Argumentationsbaustein der großen Emanzipationsschrift von 1781/83 vorwegnimmt, indem er den Zusammenhang zwischen der erlittenen Unterdrückung und dem sittlichen habitus der Juden feststellt.11 Zusammen mit Heinrich Christian Boie gibt er eine bedeutende gelehrte Zeitschrift – das Deutsche Museum12 heraus – in der erklärten Absicht, die Deutschen »mit sich selbst bekannter und auf ihre eignen Nationalangelegenheiten aufmerksamer zu machen«13, um, wie er an Johann Wilhelm Ludwig Gleim schreibt »den public spirit unter uns zu wecken, politische und statistische data und Untersuchungen zu geben u. s. w.«.14 Als ein in diesem Sinne typischer, engagierter Aufklärer, dem aus seinen breit gefächerten Interessen und Kenntnissen die Fähigkeit zu ›kritischer Reflexion gesamtgesellschaftlicher Prozesse‹ erwächst, wird Dohm, kurz nachdem er in preußische Dienste tritt, von Moses Mendelssohn zur Mitarbeit an der Durchführung eines publizistischen Projektes eingeladen. Geht es dabei zunächst um die formgerechte Abfassung einer anlassbezogenen Denkschrift an den französischen Staatsrat im Auftrag der jüdischen Gemeinde im Elsass – aufgrund der so genannten affaire des fausses quittances fürchtete die im Elsass unter unklaren rechtlichen Rahmenbedingungen lebende Gemeinde judenfeindliche Ausschreitungen –, weitet sich dieses Projekt schnell zu einer größeren, umfassenderen Schrift aus: Der Denkschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, deren erster Teil 1781 erscheint,15 ist das in Kooperation zwischen Berlin und Straßburg erstellte Mémoire zwar noch als Anhang beigefügt, doch radikalisiert und universalisiert der Text nun die Forderung

|| 9 Vgl. Des Herrn Karl Bonnet psychologischer Versuch als eine Einleitung zu seinen philosophischen Schriften. Aus dem Französischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet von C. W. Dohm. Lemgo 1773. 10 Vgl. Gronau: Christian Wilhelm Dohm nach seinem Wollen und Handeln (s. Anm. 4), S. 34f. 11 Vgl. Christian Wilhelm Dohm: Probe einer kurzen Characteristick einiger der berühmtesten Völker Asiens. In: Lippische Intelligenzblätter 1774 (41. St., 8.10.1774, Sp. 640–656 u. 42. St., 15.10.1774, Sp. 665–670). Abdruck des relevanten Kapitels Der Hebräer in Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kommentar (s. Anm. 6), S. 281f. 12 Zur Geschichte des Deutschen Museums vgl. Walther Hofstaetter: Das Deutsche Museum (1776– 1788) und das Neue Deutsche Museum (1789–1791). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Zeitschriften im 18. Jahrhundert. Leipzig 1908. 13 Heinrich Christian Boie u. Christian Wilhelm Dohm: Vorerinnerung. In: Deutsches Museum 1777 (Bd. 1), S. 1–6, hier S. 4. 14 Gronau: Christian Wilhelm Dohm nach seinem Wollen und Handeln (s. Anm. 4), S. 39. 15 1782 erschien eine französische Übersetzung, 1783 eine überarbeitete Auflage des ersten Teiles der Schrift. 1783 erschien zudem ein zweiter Teil der Schrift, in dem Dohm auf andere Debattenbeiträge antwortete und seine Argumentation ausbaute.

112 | Wolf Christoph Seifert nach völliger rechtlicher Gleichstellung der Juden.16 Der Text erzeugt eine große publizistische Resonanz und führt zu einer in den aufgeklärten Journalen öffentlich geführten Debatte, deren Einfluss und Rezeption bis in den französischen Verfassungsentwurf reicht.17 In scharfer Opposition zum rechtlichen Konstrukt einer Duldung der religiösen Minderheit, die durch hohe finanzielle Auflagen erkauft werden muss, plädiert Dohms Schrift für eine vollständige bürgerliche Gleichberechtigung der Juden. Dohm widmet seine Schrift den »Regierern« der europäischen Staaten,18 doch war seinen Zeitgenossen klar, dass die Schrift – ohne es explizit zu machen – auf die preußische Judengesetzgebung und damit auf Dohms eigenen Dienstherrn Friedrich II. zielte.19 Dabei fordert die Argumentation mit der Aufhebung der rechtlichen Unterscheidung nach Religionsgruppen die Abschaffung eines seit dem Mittelalter etablierten exklusiven rechtlichen Status, der den Juden zwar religiöse Autonomierechte garantierte, sie aber zugleich zum Objekt staatlicher Ausbeutung machte.20 Nicht zuletzt mit Blick auf Friedrich II. und die anderen angesprochenen ›Regierer‹ und also mit Blick auf die wirtschaftliche Funktion der Juden plausibilisiert Dohm die radikale Gleichberechtigung in erster Linie über ein staatsutilitaristisches Kalkül. Zu Beginn des ersten Teiles seiner Schrift bemerkt er: Die Regierungen aller großen Staaten scheinen izt in dem Grundsatz übereinzustimmen, daß die immer fortschreitende Zunahme der Bevölkerung die wesentlichste Bedingung des größtmöglichsten allgemeinen Wohls sey. Die bürgerliche Gesellschaft, glaubt man, könne nicht sicherer erhalten und gegen auswärtige Angriffe vertheidigt, die Hervorbringung natürlicher || 16 Zur Rekonstruktion der Entstehung der Schrift vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kommentar (s. Anm. 6), S. 38–52. 17 Den Verlauf der Debatte rekonstruiert äußert gründlich und unter Berücksichtigung vieler ihrer Teilnehmer: Gerda Heinrich: »… man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten«. Die Debatte um »bürgerliche Verbesserung« der Juden 1781–1786. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Teil 2. Hg. von Ursula Goldenbaum. Berlin 2004, S. 813–895; vgl. auch Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kommentar (s. Anm. 6), S. 154–209. 18 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 8. 19 Dohm streitet explizit ab, eine spezifische Judengesetzgebung im Blick zu haben (ebd., S. 146), gesteht aber seinem Freund Friedrich Heinrich Jacobi, dass er das »Gemälde der Schinderey dieser Nation […] von unserm Original (aus unserem Juden-Reglement) copirt« habe (Dohm an Jacobi, 18. Dezember 1781. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Reihe 1. Bd. 2: Briefwechsel 1775–1781. Hg. von Peter Bachmeier u. a., Stuttgart 1985, S. 391). Der Text der preußischen Judenedikte findet sich bei Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen. Zweiter Band: Urkunden. Berlin 1812, S. 3–60. 20 Vgl. Albrecht Bruer: Preußen und Norddeutschland 1648–1781. In: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Hg. von Elke-Vera Kotowski, Julius H. Schoeps u. Hiltrud Wallenborn. Darmstadt 3 2013, Bd. 1, S. 47–66, hier S. 48–54. Zum mittelalterlichen Konstrukt der Kammerknechtschaft vgl. Dieter Willomeit: Die rechtliche Stellung der Juden im Mittelalter. In: ebd., Bd. 2, S. 299–308.

»… geradezu gegen das Christenthum«? | 113

Producte und die künstliche Verarbeitung derselben nicht wirksamer befördert, dem grossen Tausch zwischen den Nationen keine vortheilhaftere Wendung gegeben, überhaupt die Indüstrie und der allgemeine Wohlstand der Bürger nicht gewisser belebt werden, als wenn man es dahin bringen können, daß deren Anzahl sich unaufhörlich vermehre. […] Bey diesen so eifrigen Bestrebungen, die Bevölkerung zu vermehren, ist es sonderbar, daß man doch noch in den meisten Staaten von diesem allgemeinen Grundsatz bey einer gewissen Classe von Menschen eine Ausnahme macht. Fast in allen Theilen von Europa zielen die Gesetze und die ganze Verfassung des Staats dahin ab, so viel möglich zu verhindern, daß die Zahl jener unglücklichen asiatischen Flüchtlinge, der Juden, vermehrt werde.21

Dohm formuliert die Frage nach der rechtlichen Ungleichbehandlung der Juden als Frage staatsmännischer Rationalität und wirtschaftlicher Prosperität des Staates. Es ist demnach schlechterdings unvernünftig, die Juden mit restriktiven Gesetzen davon abzuhalten, ihre volle Wirtschaftskraft zu entfalten. Freilich besitzt dieses utilitaristische Argument in seiner Umkehrung durchaus problematisches Potential: Wie Dohm zugleich betont, wäre eine rechtliche Unterdrückung der Juden dann gerechtfertigt, wenn die Juden durch ihre Religion gehindert würden, produktiv an der Gesellschaft zu partizipieren und die mit dem Recht auf Partizipation verbundenen Pflichten zu erfüllen.22 Hier tritt nun das Verhältnis von Religion und Staat in das Blickfeld der Argumentation: Zwar übergeht Dohm die traditionellen antijudaistischen Stereotype weitgehend, allerdings geht auch er von einem spezifisch jüdischen, merkantil geprägten, zu »Wucher und Hintergehung im Handel«23 neigenden Habitus aus; auch die jüdische »Religionslehre« neige zu einem »ängstliche[n] Ceremonien- und Kleinigkeiten-Geist« – der sich für Dohm (wie für viele andere Aufklärer) im Talmud niederschlägt.24 Dohm führt nun den Nachweis, dass Juden grundsätzlich fähig und willens sind, mit gleichen Rechten und Pflichten an der bürgerlichen Gesellschaft zu partizipieren. Der Schlüssel zu diesem Nachweis besteht in einem Argument der sozialen Determination. Ausschlaggebend für die als problematisch identifizierten Prägungen ist demnach nicht die jüdische Religion, sondern die Feindschaft der Christen, die unterdrückende Gesetzgebung, die die Juden von alters her auf Handelsberufe einengt und so den merkantilen Habitus wie auch die problematischen religiösen Einstellungen allererst erzeugt und bedingt: Die Liebe des Gewinns muß bey den Juden viel lebhafter seyn, da dieser Gewinn das einzige Mittel ihrer Erhaltung ist; die kleinen Künste der Übervortheilung müssen bey ihnen bekannter seyn, da sie so lange geübt worden; Wucher und unbilliger Gewinn müssen von ihnen für erlaubter gehalten werden, da alle Zweige ihres Handels mit so starken Abgaben belegt worden, die von dem ordentlichen Vortheile nicht getragen werden können.[…] / Ist dieses Raisonne-

|| 21 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 9–11, Hvhg. im Orig. 22 Vgl. ebd., S. 14f. 23 Ebd., S. 24. 24 Ebd., S. 77.

114 | Wolf Christoph Seifert ment richtig, haben wir in der bisherigen Drückung und in der eingeschränkten Beschäftigung der Juden die wahre Quelle ihrer Verderbtheit gefunden; so haben wir auch zugleich das Mittel entdeckt, die Verderbtheit zu heilen und die Juden zu bessern Menschen und nützlichen Bürgern zu bilden.25

Die Verantwortung für die problematische sittliche Konstitution der Juden liegt damit bei den Christen und Dohm wird nicht müde, mit großer Emphase darauf hinzuweisen.26 Wo von den sittlichen Mängeln der Juden die Rede ist, wird stets auch die Verantwortung der Christen und der christlichen Regierungen betont. Dohm rekonstruiert die Geschichte des Umgangs mit den Juden als Geschichte ihrer Unterdrückung seit der Antike,27 und formuliert emphatische christliche Selbstkritik: Wie kann es befremden, daß die aus allen bürgerlichen Gesellschaften Verwiesene natürliche Feinde dieser Gesellschaften werden, und den einzig ihnen übrig gelassenen Weg ihrer Erhaltung, den des Verbrechens wählen? Denket euch selbst einmal, Ihr Weisen und Edlen, recht lebhaft in eine Lage hinein wo Euch Laster zur Nothwendigkeit gemacht wäre, und seht wie Eure Tugend wanken wird, – nehmt noch weg, was Erziehung und feineres Gefühl, in Euch gebildet haben, verlöscht die grosse Empfindung der Ehre, – und seht wie sie schwindet!28

Und, nur wenig später: Diese Regierungen waren christliche, und wir können also, wenn wir unpartheyisch seyn wollen, den Vorwurf nicht von uns ablehnen, daß wir zu den ungeselligen Gesinnungen beyder Partheyen das Meiste beigetragen haben. Wir waren immer die herrschenden, uns lag es daher ob, dem Juden menschliche Gefühle dadurch einzuflössen, daß wir ihm Beweise der unsrigen gäben; wir mußten, um ihn von seinen Vorurtheilen gegen uns zu heilen, die eignen zuerst ablegen. Wenn diese also noch itzt den Juden abhalten, ein guter Bürger, ein geselliger Mensch zu seyn, wenn er Abneigung und Haß gegen den Christen fühlt, wenn er sich durch die Gesetze der Redlichkeit gegen ihn nicht so gebunden glaubt; so ist dieß alles unser Werk. Seine Religion gebietet ihm diese Vergehungen nicht, aber die Vorurtheile, die wir ihm eingeflößt haben, und noch immer bey ihm unterhalten, wirken stärker als die Religion. Wir sind der Vergehungen schuldig, deren wir ihn anklagen; und die sittliche Verderbtheit, in welche diese unglückliche Nation itzt durch eine fehlerhafte Politick versunken ist, kann kein Grund seyn, die fernere Fortdauer der letztern zu rechtfertigen.29

|| 25 Ebd., S. 60. 26 Zum Modus der christlichen Selbstkritik vgl. auch Heinrich Detering: »der Wahrheit, wie er sie erkennt, getreu«. Aufgeklärte Toleranz und religiöse Differenz bei Christian Wilhelm Dohm. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 54 (2002), S. 326–351, hier S. 347. 27 Vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 27–48. 28 Ebd., S. 25. Dohm fügte diese emphatische Passage erst in der zweiten Auflage des ersten Teiles hinzu. 29 Ebd., S. 26f., Hvhg. im Orig.

»… geradezu gegen das Christenthum«? | 115

Im Hinblick auf das erwähnte Argumentationsziel erlaubt diese sozialdeterministische Profilierung des Argumentes die von Dohm vorausgesetzte Korruption des sittlichen Habitus der Juden als reversibel zu identifizieren und zum Objekt staatlichen Handelns zu machen. Dieses, so Dohms erste und wichtigste Forderung, müsse zunächst darin bestehen, den Juden »vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Unterthanen«30 einzuräumen. Hierzu gehört die völlige Öffnung des Zugangs zu den unterschiedlichen Erwerbszweigen und zu öffentlichen Ämtern31 – wobei Dohm insbesondere die Handwerksberufe, die nach seiner Auffassung ein der im Staat organisierten Gesellschaft günstiges Ethos ausprägen, unter Juden gefördert sehen möchte.32 Durch Verpflichtung der jüdischen Kinder zum Besuch eines staatlich beaufsichtigten Schulunterrichts soll zugleich der Einfluss der religiösen Erziehung durch die Vermittlung eines staatskonformen vernunftreligiösen Erziehungsprogrammes abgemildert werden33 – ein Gedanke den Dohm allerdings auch in Richtung des Christentums wendet, von dem er insbesondere eine Erziehung zu religiöser Toleranz erwartet.34 Im Ganzen zeigt das Dohm’sche Projekt einen Doppelcharakter, der bereits im Titel der Bürgerlichen Verbesserung der Juden angelegt ist: Die humanistische Verbesserung des rechtlichen Status der Juden zielt vor dem Hintergrund des utilitaristischen Kalküls auf die Verbesserung ihres sittlichen habitus, die zugleich durch vorläufige Maßnahmen des milden Zwanges und der staatlichen Lenkung unterstützt werden sollen. Voraussetzung dieser Betrachtungsweise ist eine Perspektive auf die positiven Religionen, die diese grundsätzlich den Zwecken und Bedürfnissen der im Staat organisierten Gesellschaft unterordnet. Allerdings – und dies ist im Hinblick auf meinen Untersuchungsgegenstand entscheidend – versucht Dohm im ersten Teil seiner Schrift noch, die partikularen, gleichermaßen exklusiven wie identitätsbildenden Ansprüche der monotheistischen Religionen mit dem universalen Anspruch der gesellschaftlichen Vernunft zusammenzudenken. Er gesteht zu, dass in einer staatlichen Gesellschaft »Trennungen«35 existieren, die durch spezifische Gruppenidentitäten verursacht werden und zu Abgrenzungsbestrebungen zwischen religiösen und anderen gesellschaftlichen Gruppen untereinander führen.36 Doch versteht Dohm die partikularen Identitäten zugleich als besonderes ethisches movens, das innerhalb der Gesellschaft auch »Wetteifer und die Thätig-

|| 30 Ebd., S. 60. 31 Die uneingeschränkte Öffnung der Ämter wird von Dohm erst in der zweiten Auflage des ersten Teiles seiner Schrift verlangt, vgl. ebd., S. 65. 32 Vgl. ebd., S. 61–65. 33 Vgl. ebd., S. 65f.; vgl. auch Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kommentar (s. Anm. 6), S. 78–80. 34 Vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 67. 35 Ebd., S. 20. 36 Vgl. ebd., S. 19f.

116 | Wolf Christoph Seifert keit«37 weckt. So bleiben die religiösen Partikularidentitäten im Hintergrund der Argumentation funktional auf das Gesellschaftsmodell bezogen und erhalten eigenständige Berechtigung. Notwendige Bedingung ist allerdings, dass die partikularen Identitäten durch eine bürgerliche Identität überholt werden, die die jeweiligen Individuen und gesellschaftlichen Fraktionen in die »grosse Harmonie des Staates«38 einbindet. Zweifellos bleiben die staatlichen und die gesellschaftlichen Ansprüche den davon grundsätzlich getrennten Ansprüchen der partikularen religiösen Identitäten vorgeordnet, bleibt die Argumentation auf die »von der Religion unabhängige Sittlichkeit«39 als Fluchtpunkt bezogen. Doch denkt Dohm das Verhältnis zwischen positiver Religion und Staat im ersten Teil seiner Schrift offenbar als ein grundsätzlich harmonisches bzw. leicht harmonisierbares. Dies gelingt ihm, indem er im Falle des Judentums die problematischen Anteile der religiösen Identität als Folgen der Unterdrückung qualifiziert. Die ›Trennung‹ der religiösen Gruppe von der Gesellschaft ist in jedem Fall durch die Gewährung von Rechten reversibel. Die Technik, mit der die partikulare Identität zukünftig mit der ›großen Harmonie des Staates‹ vermittelt werden soll, ist sodann – und dies wird von Dohm immer wieder betont – die nahezu uneingeschränkte Gewährung von Rechten. Folglich kann die Anpassung der gegenüber der Gesellschaft widerständigen Religionskultur nur als zwanglose Selbstentwicklung der letzteren gedacht werden, als autonome Anpassung an die Vernunft, die nur Resultat der Gleichberechtigung sein kann, keinesfalls aber deren Bedingung.40 Im Gegenteil: Gerade die standhafte Befolgung der persönlichen Überzeugungen, das Festhalten am Glauben repräsentiert für Dohm ethische Vortrefflichkeit: Treue Befolgung der Grundsätze, die man für wahr hält, bestimmt allein den moralischen Werth eines Menschen, und wer kann es sich versagen, den Juden hochzuachten, den keine Martern bewegen können, zu essen, was er von Gott selbst sich verboten glaubt, und den Nichtswürdigen zu verachten, der nur um niedrigen Vortheils willen von dem ehrwürdigen Glauben seiner Jugend, seinen Verwandten und seinem Volk sich losreißt, und den heiligen Glauben der Christen dadurch entweiht, daß er sich zu ihm bekennt, ohne innere Überzeugung seiner göttlichen Wahrheit zu fühlen.41

|| 37 Ebd., S. 20; vgl. zu dieser Passage auch die Ausführungen bei Ulrich Kronauer: »Antisemitische Wölfe im Schafspelz«? Überlegungen anläßlich der Kritik von Daniel Goldhagen an der deutschen Aufklärung. In: ders.: Gegenwelten der Aufklärung. Heidelberg 2003, S. 113–137, hier S. 115–120. 38 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 20. 39 Ebd., S. 21. 40 Vgl. hierzu auch Heinrich Detering: Christian Wilhelm von Dohm und die Idee der Toleranz. In: Lessing und die Toleranz. Sonderband zum Lessing Yearbook. Hg. von Peter Freimark u. a. Detroit, München 1986. 41 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 53 – unter Berücksichtigung der Änderungen in der zweiten Auflage des Textes.

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Dohms Verbesserungsprojekt kann also nicht – jedenfalls nicht nach Maßgabe der Ausführungen im ersten Teil der Schrift – auf die einfache Forderung nach Assimilation der Minderheit als Bedingung ihrer Gleichberechtigung hinauslaufen. Dies zeigt sich konkret an Dohms Behandlung der Gemeindeautonomie der jüdischen Gemeinden. Zwar befürwortet er eine staatliche Erziehung auf vernunftreligiösen Grundlagen zur Vermeidung »ungesellige[r]« Gesinnungen bzw. zur Förderung gesellschaftlichen Integration.42 Dass gleichwohl der soziale Raum der Gemeinde als eigenständiger, autonomer Sonderraum innerhalb des Staates beibehalten werden soll, ist für Dohm jedoch ganz offenbar kein Widerspruch zum Projekt der langfristigen Anpassung: Nicht nur spricht er sich für einen prinzipiellen, aber kontrollierten Erhalt des umstrittenen rabbinischen Bannrechtes aus, sondern er möchte auch bestimmte Rechtsfälle (vor allem Erbschafts- und Scheidungsangelegenheiten) nach religiösen Kriterien vor Gemeindegremien entschieden wissen und die religiöse Gerichtsbarkeit in den offiziellen Instanzenweg einbinden.43 Dem ersten Teil von Dohms Schrift gelingt es mit dieser Argumentation, den Gedanken religiöser Freiheit harmonisch in das utilitaristische framework seiner Schrift einzufügen: Zwar bejaht Dohm einen ›trennenden‹, partikularen und deshalb problematischen Charakter der jüdischen Religion, doch kann dieser durch Freiheitsgewährung und durch weitgehend zwanglose Selbstentwicklung der bestehenden partikularen religiösen Vorstellungen rückgängig gemacht werden, ist er doch vor allem auf die Unterdrückung durch das Christentum zurückzuführen, das im Text immer wieder emphatischer Kritik unterzogen wird. Die durch die Freiheitsgewährung hervorgerufenen »menschlichen Gefühle würden in seinem [d. h. des Juden] Herzen lauter reden, als die sophistische [!] Folgerungen seiner Rabbinen«, so Dohms Hoffnung.44 Indem Dohm jedoch die für die gesellschaftliche Harmonie problematischen Aspekte der jüdischen Religiosität (als solche gelten der Talmud und die von den Aufklärern als ›sophistisch‹ empfundene rabbinische Exegese, wie auch die darauf basierenden konkreten rituellen Vorschriften zur Sabbathruhe oder zur Reinheit von Speisen, die mit der Organisation der Wehrpflicht kollidieren oder Juden von ›geselligen‹ Vollzügen ausschließen45) fast vollständig als akzidentielle

|| 42 Vgl. ebd., S. 65. 43 Vgl. ebd., S. 67–69. Dohms Forderungen beziehen sich auf einen Erhalt der den jüdischen Gemeinden traditionell garantierten Autonomierechte. Bestimmte Rechtsangelegenheiten (d. h. Fragen aus dem Bereich des religiösen Kultus, aber auch Zivilsachen wie etwa Eheschließungen, Testamente und Scheidungen) konnten mit je unterschiedlichen, zum Teil auch umstrittenen Grenzziehungen von gemeindeinternen oder hoheitlichen Gremien nach halachischem Recht entschieden werden; vgl. für eine Einführung in die durchaus komplexe Rechtssituation der jüdischen Gemeinden Andreas Gotzmann: Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie in den deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 313–356. 44 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 21. 45 Vgl. ebd., S. 74–77 u. S. 217f.

118 | Wolf Christoph Seifert Eigenschaften der Religion und auf der anderen Seite das Anpassungspotential außerordentlich optimistisch bewertet,46 klammert er die problematische Frage nach den Einschränkungen und Grenzen seines Emanzipationsprojektes zunächst aus.47 Gerade hier jedoch setzten viele Kritiker an, die Dohms optimistische Einschätzung nicht teilten: Durfte – nach Maßgabe der utilitaristischen Staatsräson – die Freiheitsgewährung so weitreichend sein, wenn die Religion sich zukünftig als aufklärungsresistent erwies, wenn der Staat keinen Nutzen zu erwarten hatte?48 Die Spannung zwischen den religiösen und staatlichen Ansprüchen, die Dohm im ersten Teil seiner Schrift zu harmonisieren versuchte, wurde damit zu einem zentralen Problempunkt der von der Schrift ausgelösten Debatte. Heinrich Friedrich Diez’ 1783 erschienene Schrift Über Juden bearbeitete dieses Problem gleichwohl aus einer anderen Perspektive: Im Gegensatz zu Dohms zunächst behutsamen Vermittlungsversuchen zwischen positiver Religion und Staatswesen im ersten Teil fasste Diez die Emanzipationsforderung in die begrifflichen Linien radikaler freidenkerischer Religionskritik.

2 Heinrich Friedrich Diez: Über Juden Die offensiv religionskritische Haltung, mit der Diez 1783 in die Debatte um die Bürgerliche Verbesserung eingriff, dürfte Dohm nicht überrascht haben. Diez hatte ihm kurz zuvor seine Apologie der Duldung und Preßfreyheit49 für das Deutsche Museum angeboten. Die Publikation des Aufsatzes, der versuchte, »das Recht zu beweisen über Religionen zu denken, was man will, und ohne Gefahr zu sagen und zu schreiben, was man denkt«,50 und dabei insbesondere die religiöse Zensur kritisch in den Blick nahm, scheiterte ironischerweise gerade an diesem Anspruch: Dohm lehnte || 46 Vgl. ebd., S. 77. 47 Eissing hat diese Anlage sehr scharf als »antisemitischen Sprengsatz« bezeichnet, der in dem Dohm’schen Projekt angelegt sei. Dieser würde dann aktiviert, wenn sich die Juden weniger verbesserungsfähig oder -willig zeigten. Aufgrund des rein instrumentellen Verständnisses der Freiheitsgewährung müsste diese als Mittel der Verbesserung dann grundsätzlich in Frage stehen (vgl. Uwe J. Eissing: Christian Wilhelm von Dohm, die bürgerliche Verbesserung der Juden und die Vision einer ›judenfreien‹ Welt. In: LBI Bulletin 88 (1991), S. 27–58, hier S. 43). 48 Exemplarisch für eine Stimme unter vielen etwa die Rezension Johann David Michaelis’, die Dohm in den zweiten Teil seiner Schrift aufnimmt: Johann David Michaelis: [Rez. zu Dohm: Bürgerliche Verbesserung]. In: Johann David Michaelis Orientalische und Exegetische Bibliothek 20 (1782), S. 1–40; vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 137–154. 49 Heinrich Friedrich Diez: Apologie der Duldung und Preßfreyheit. [Magdeburg] 1781. Abdruck in: Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 161–191; im Folgenden zitiert nach der Neuausgabe. 50 Heinrich Friedrich Diez: Apologie der Duldung und Preßfreyheit. [Selbstanzeige]. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1781, 7. Stück, S. 523–534. Abdruck in Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1). S. 199–204, hier S. 199.

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ab, den Aufsatz in seine Zeitschrift aufzunehmen, »weil er geradezu gegen das Christenthum gieng«.51 Schon in dieser Episode wird eine Differenz zwischen Diez und Dohm im Umgang mit und der Formulierung von kritischen Aussagen zur Religion offenbar. Das von Diez in der Apologie ausgearbeitete Plädoyer für die Freidenkerei impliziert den radikal kritischen Blick auf die Religion als auf ein »blos moralisches Institut«.52 Ist einerseits das unbeschränkte Denken Teil der »natürlichen Bestimmung«53 des Menschen, so muss andererseits die freie Betätigung des eigenen Verstandes im Gegensatz zum gesellschaftlich akzeptierten Konsens54 als »Nothwehre gegen die öffentlichen und heimlichen Anfälle der Gläubigen und Priester«55 gelten. Öffentlich geäußerte Kritik an Religion ist das einzige Gegenmittel gegen die Übergriffe einer christlichen Religion, deren Vorstellungen – wie etwa die Erbsündenlehre – der »wahren Menschheit ihren Adel rauben«,56 oder die (wie Diez in einem anderen Text mit deutlicher antikatholischer Spitze festhält) zu einer grundsätzlich verschobenen Wirklichkeitswahrnehmung, einer grundlegenden Täuschung über die Realität führt.57 Natürlich kann die positive Religion, wenn sie so verstanden wird, nicht mehr als Stütze des Staatswesens aufgefasst werden und folgerichtig verneint Diez einen zwingenden Zusammenhang zwischen Religion und produktiver und nutzbringender Gesellschaftsordnung, hängt doch die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft von äußeren Handlungen, nicht von »spekulativen Meinungen« ab.58 Dabei hat Diez das Judentum schon in der Apologie als abweichende Religion im Blick: »Der Jude stört die Gesellschaft nicht, weil er das neue Testament für ungöttlich hält.«59 Insgesamt ist die Akzeptanz von Religion innerhalb des Staates in gewissen, engen Grenzen jedoch damit nicht ausgeschlossen: Wo der »Fond der Moralität beym großen Haufen«60 vermehrt würde, lassen sich auch die falschen Auffassungen der Religion wenigstens tolerieren. Denkbar ist für Diez ein harmonisches Verhältnis zwischen Staat und Religion allerdings nur dann, wenn der Staat eine Religion verordnet oder sie »mit seinem weltlichen Interesse genau verbunden hat«,61 || 51 Brief Dohm an Boie, 24. April 1781. In: [Briefe Dohms an Heinrich Christian Boie]. Biblioteka Jagiellońska Kraków, Samml. Autographa, ehem. preuß. Staatsbibliothek Berlin. Sign.: Nachl. Boie. 52 Diez: Apologie der Duldung und Preßfreyheit (s. Anm. 49), S. 166. 53 Ebd., S. 163. 54 Vgl. ebd., S. 163f. 55 Ebd., S. 190, Hvhg. im Orig. 56 Ebd., S. 167. 57 Heinrich Friedrich Diez: Über Heilige. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1782, 11. St., S. 460–466. Abdruck in: ders.: Frühe Schriften (s. Anm. 1). S. 239–242, hier S. 241. 58 Diez: Apologie der Duldung und Preßfreyheit (s. Anm. 49), S. 166. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 165. 61 Ebd., S. 182.

120 | Wolf Christoph Seifert wenn, verkürzt zusammengefasst, eine Religion rein funktional auf das Staatswesen bezogen und diesem untergeordnet bleibt. Religionen im von Diez kritisierten Sinne sind die auf Offenbarung basierenden ›göttlichen‹, die positiven Religionen, die Gläubige in vollem Umfang beanspruchen, und von ihm – wie von allen anderen – die feste Überzeugung von religiösen Wahrheiten verlangen. Als staats- und vernunftverträgliches Gegenmodell zu den positiven Religionen müsste eine solche gelten, die nicht auf innere Überzeugung, sondern auf Regelung der äußeren Handlungen im Sinne des Staates Anspruch erheben.62 Weil sie nicht auf Offenbarung basieren, sind sie tolerant gegenüber anderen Überzeugungen und Religionen. Für Diez ist der antike Polytheismus als eine solche grundlegend tolerante »Staatsreligion im eigentlichen Sinne des Wortes zu verstehen«.63 Nur eine solche Religion, die auf Handlungen, nicht auf Meinungen zielt, lässt sich auch vertragstheoretisch einpassen, da, wie Diez betont, dem Staat im Gesellschaftsvertrag das Recht auf eigene Meinung schlechterdings nicht abgetreten werden kann.64 Die kämpferische, radikale Emphase, mit der Diez in der Apologie seine freidenkerische Kritik gegen die vernunftwidrigen Übergriffe der Religion in Stellung bringt, verlängert sich schließlich auch in seine Schrift Über Juden, die zwei Jahre nach der Apologie (zunächst in den Berichten der Buchhandlung der Gelehrten, später dann separat)65 erscheint. Dohm nahm den Text, den Diez an ihn adressiert hatte, wohl erst zur Kenntnis, nachdem er den Hauptabschnitt des zweiten Teiles der Bürgerlichen Verbesserung bereits fertiggestellt hatte, wie er in einem kurzen Nachwort (auf das später einzugehen sein wird) festhielt.66 Möglich ist allerdings, dass bereits eine der anonymisierten persönlichen Zuschriften, die Dohm an den Anfang des zweiten Teils stellt, auf Diez zurückzuführen ist: Die Zuordnung basiert auf Indizien, namentlich den Abkürzungen für den Unterzeichner und den Ort (»D.« für Diez und »M.« für Magdeburg). Sie wird jedoch zusätzlich durch die inhaltliche Verwandtschaft zu den in der Apologie und in der Schrift Über Juden entwickelten Ideen Diezʼ abgestützt. Der Briefschreiber fordert freie Religionswahl für die zu verbessernden Juden, insistiert auf der Trennung von Staat und Religion und fordert von Dohm eine ausführliche Darstellung der sittlichen Korruption der Christen, um die Beschreibung der Juden in ein differenziertes Licht zu rücken.67

|| 62 Vgl. ebd., S. 181. 63 Vgl. ebd., S. 182; auch Dohm interpretiert die römische Antike als tolerantes Zeitalter, vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 27 u. S. 29. 64 Vgl. Diez: Apologie der Duldung und Preßfreyheit (s. Anm. 49), S. 170. 65 Vgl. Anm. 1. 66 Vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 271–276. 67 Vgl. ebd., S. 172f. Die Identifizierung des Briefes findet sich bei Heinrich Graetz: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bd. 11. Vom Beginn der Mendelssohn’schen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848). Leipzig 1870, S. 76f.

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Vermutlich hatte Diez also seinen kritischen Blick auf alle Formen der positiven Religion, vor allem aber auf die herrschende, das Christentum, schon früher in die Debatte um die Bürgerliche Verbesserung der Juden eingebracht; ausführlich werden seine Gedanken zu Dohms Text jedoch in seiner Schrift Über Juden entwickelt. Schon der Beginn des zweiten Absatzes der Schrift setzt den rhetorischen Maßstab für die weiteren Ausführungen zur Emanzipationsfrage: »Nie haben Menschen, besonders Christen, einstimmig, so ganz nach gleichem Plan gehandelt, als wenns drauf angekommen ist, Juden zu quälen.«68 Die anschließenden Ausführungen spannen pointiert und konzise ein düsteres Panorama der christlichen Unterdrückung und Verfolgung der Juden auf. Mit sympathetischem, aber gleichzeitig kritischem Gestus beobachtet Diez dabei das Verhältnis von Unterdrückern und Unterdrückten: So sehr die christliche Gewalt und die christlichen Bekehrungsabsichten gegenüber Juden als »Wahnsinn«69 bezeichnet werden müssen, so sehr wird die Religion notwendig zum ausschlaggebenden Identitätsfaktor und die Unterdrückung zu einem Bestandteil der religiösen Identität: »Ich bin aber überzeugt, daß der Jude das, was ihm vom Menschen noch übrig gelassen ward, blos durch seine Religion rettete.«70 So gefasst, kann Diez die Bedeutung positiver Religiosität zwar anteilnehmend verstehen, ihr aber nichts Positives mehr abgewinnen: Vielmehr übt er scharfe Kritik an einem Unterdrückungsmechanismus, der auf antijüdischen Traditionen des Christentums und einem Widerspiel beider positiven Religionen basiert, auf einer ruinösen Dynamik aus religiös gerechtfertigter Unterdrückung auf Seite der Christen und religiös interpretierter Unterdrückung auf Seite der Juden. »Ihr Gott schien ihnen [sc. den Juden] so allgegenwärtig, daß sie ihn sogar in ihren Feinden verehrten. Nachdem ihre Liebe für Widersacher erloschen war, knüpften sie sich noch durch Begriffe von Gott an ihre Mitgeschöpfe, die ihnen entsagt hatten«.71 Diese Wechselwirkung führt zu einer stärkeren Ausprägung der religiösen Identität bei den Juden, die doch im Sinne der Aufklärung eigentlich überwunden werden soll. Vehement hebt Diez die Schuld der Christen hervor: Was Wunder, wenn der Jude sich über seine Religion nicht erhob! Was Wunder wenn er verwilderte, oder, eigentlicher zu reden, verjüdete. / Bey Reformen der Juden wird also alles darauf ankommen, daß man nur aufhört, sie zu Verfechtern ihres Glaubens und Martyrern zu bilden.72

|| 68 Vgl. Diez: Über Juden (s. Anm. 1), S. 305. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 306; vgl. auch Heinrich: Preußische Beamte als Träger von Aufklärung (s. Anm. 7), S. 106f. 71 Diez: Über Juden (s. Anm. 1), S. 306. 72 Ebd., S. 308.

122 | Wolf Christoph Seifert Das aufklärerische Verbesserungsprojekt, so Diez – hierin sachlich mit Dohm übereinstimmend –, hätte den geschilderten Wirkzusammenhang durch rechtliche Gleichstellung der Juden zu durchbrechen. Das Ende der Unterdrückung und die Gewährung bürgerlicher Rechte und Freiheiten würde die Juden zugleich in die Lage setzen ihre Religionsauffassungen kritisch zu reinigen, sie »mit Denkungsart späterer Jahrhunderte auszusöhnen«.73 Im Zentrum der Aufklärungsbemühungen stehen für Diez die von Dohm gleichfalls kritisch betrachtete rabbinische Auslegungspraxis und der Talmud, »alte Irthümer«, die durch zunehmende Aufklärung durch »neue Wahrheiten«74 abgelöst werden sollen. Exemplarisch für das Gelingen eines solchen Projektes der religiösen Mäßigung, der Kontrolle und Überholung der positiven Religion durch Vernunft, die Vermittlung der Religion mit dem Staat ist bezeichnenderweise das Christentum, dessen gesellschaftliche Vorherrschaft Diez letztlich als bereits erledigt betrachtet: Dieses habe in der frühchristlichen Periode (in Analogie zu jenem auch für das Judentum festgehaltenen Mechanismus) seine Entwicklungsdynamik vor allem aus der römischen Unterdrückung erhalten, die schließlich von einer absoluten Machtfülle der Religion im Mittelalter abgelöst worden sei.75 Weil die Reformation die »Wissenschaften begünstigte«,76 beginnt mit ihr eine Periode der Aufklärung, doch bleiben alte religiöse Einschränkungen der Vernunft erhalten.77 Entscheidender für die fortschreitende Mäßigung der Religion sei jedoch eine zunehmende gesellschaftliche Modernisierung in Geographie, Wirtschaft, Technik, Regierungsformen, die die Herrschaftsansprüche der Religion »untergraben« habe, bis diese nicht mehr »den Herrn […] spielen« wolle, sondern nur noch »gute Gesellschafterin« sei.78 Liberalere Gesetzgebungen duldeten (wie Diez in einer insgesamt sehr optimistischen Zustandsbeschreibung festhält) »Freidenkerey und Unglauben« neben dem zur »Religion der Vernunft« ausgeläuterten Christentum; allenfalls »kraftlose Verzuckungen eines absterbenden Fanatißm« würden den harmonischen Ausgleich zwischen Religion und Gesellschaft noch stören.79 Das von Diez als ›Religion der Vernunft‹ anvisierte Ziel der Reform, das für die Christen weitgehend erreicht, für die Juden aber noch in Aussicht steht, ist damit deutlich als Überwindung der positiven Religiosität gefasst: Am Ende der für die Juden gewünschten Entwicklung steht die Kritik an der Autorität des Rabbinats, die kritische Historisierung und Anpassung der biblischen Gebote und Überlieferungen an die Vernunft, bis schließlich die Möglichkeit der Offenbarung selbst hinterfragt || 73 Ebd., S. 307. 74 Ebd., S. 308. 75 Vgl. ebd., S. 309. 76 Ebd., S. 311. 77 Vgl. ebd. 78 Ebd., S. 311f. 79 Alle Zitate ebd., S. 313.

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würde und die positive Religion durch das Bekenntnis zur »Religion der Natur oder endlich zur Sittenlehre der Vernunft« 80 ersetzt werden kann.

3 Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Teil 2 Am Ende seiner Schrift lobt Diez Dohms Bürgerliche Verbesserung als einen Bezugsund Vorläufertext ausdrücklich, setzt aber in einer abschließenden Bemerkung hinzu, dass er nun das Thema der Religionen als »des beschrienen Hindernisses aller Judenreformen«81 vertieft hätte, ein Thema, so vermutete Diez, das der ansonsten hochgeschätzte Dohm »mit gewisser Zurückhaltung behandelt« habe. Und in der Tat sind die Unterschiede zwischen Diezʼ scharfem Angriff auf jede Form der positiven Religiosität und Dohms behutsamen Vermittlungsversuchen im ersten Teil seiner Schrift offenkundig, vor allem, was die Rolle der positiven Religionen innerhalb des Staatswesens angeht. Gegenüber der von Dohm in seinem initialen Diskussionsvorschlag vorgelegten, tendenziell vermittelnden und rhetorisch vorsichtigen Darstellung wird die Religion nach Diezʼ Auffassung letztlich vollständig disqualifiziert; anders als bei Dohm, der Glauben mit Standhaftigkeit und ethischer Zuverlässigkeit in Verbindung bringt, ist die Religion, ist der Glaube nach Diezʼ Auffassung in erster Linie das Kennzeichen eines Zustandes der Erniedrigung und fehlender Rationalität, der nur durch die Betätigung des eigenen Verstandes (die freilich durch gesellschaftliche Gleichberechtigung erst ermöglicht werden muss) beseitigt werden kann. Der Horizont des Diez’schen Reformprojektes ist demnach die Auflösung der positiven Religionen mit ihren für die Gesellschaftsorganisation problematischen Inhalten. Die durch das Judentum gestiftete Identität ist für Diez in keiner Weise erhaltenswürdig, weil er an ihr letztlich nichts Positives entdecken kann.82 Die Argumentation beider Texte konvergiert in der (rhetorisch allerdings mit starken Unterschieden vorgebrachten) Kritik am Christentum als dem auslösenden Faktor für die am Judentum kritisierten Erscheinungen. Die sympathetische Anteilnahme am Schicksal der Juden erscheint bei Diez aufgrund seiner insgesamt kritischeren Haltung zur Religion jedoch gebrochener als bei Dohm, z. B. wenn er die jüdische Religion in einem Appell außerordentlich streng zur Selbstaufklärung auffordert, die er in Baruch de Spinoza personifiziert sieht:83 Bislang in »Dummheit und Knechtschaft« erstarrt, hätten die Juden

|| 80 Vgl. ebd., S. 315. 81 Vgl. ebd., S. 320. 82 Vgl. insgesamt zur Position Diez’ Heinrich: »..man sollte itzt […]« (s. Anm. 17), S. 878f. 83 Vgl. Diez: Über Juden (s. Anm. 1), S. 319.

124 | Wolf Christoph Seifert mit »blödsinniger Unbiegsamkeit« der »Menschlichkeit gleichsam getrozzt«84, hätten ihre Verfolgung mit »der Miene der Betroffenheit und des bösen Gewissens erduldet, mit einer Miene, die nur bey Verbrechern an rechter Stelle ist.«85 An diesen Stellen führt Diezʼ radikale Religionskritik auch zu einer fast unerbittlichen Rhetorik gegenüber den Verfolgten selbst.86 Dohm ging auf Diezʼ kritische Anmerkungen, bzw. besser: die religionskritische Radikalisierung seiner Emanzipationsforderung, die ihn wohl erst nach Abschluss der Arbeiten an der Fortsetzung seines Werkes erreichte, in den Nacherinnerungen dieses zweiten Teils ein. Höflich lobt er Diez und seine Schrift, die ihm auf »sehr schätzbare Art Beyfall gegeben habe«,87 um dann auf Diezʼ Vermutung einzugehen, er habe sich im ersten Teil seiner Schrift absichtlich zurückhaltend geäußert. Dohms Antwort darauf ist interessant, weil sie die pragmatische und strategische Ausrichtung seiner Argumentation hervorhebt. Freilich hätte er nicht alles gesagt, so Dohm, sondern nur das, was zu einem »bestimmten Zweck nützlich und wichtig«88 sei; andere Einschränkungen hätte er nicht beachten müssen. Interessanterweise lobt Dohm nun Diez’ Überlegungen zur Vernunftreligion, und rückt die eigenen, vergleichbaren Ausführungen als »freymütig« in deren Nähe – um doch sofort darauf bestehende Differenzen anzudeuten: »Aber schwer ist es hier den Mittelweg zu finden und nie von ihm auf die eine oder andere Seite abzugleiten, die Grundsätze auch der würdigsten und aufgeklärtesten Männer sind hierin nicht gleich.«89 Dohms Rede vom ›Mittelweg‹ zielt wohl etwas undeutlich und zurückhaltend auf den graduellen Unterschied in der Frage des Umgangs mit dem Problem der positiven Religion innerhalb des von beiden projektierten Emanzipationsprogramms. Es ist bereits erwähnt worden, dass die Frage nach den Notwendigkeiten und Möglichkeiten von Anpassungen der Religion an die Rationalitäten der Gesellschaft in Dohms Fall durchaus widersprüchlich beantwortet wird: Anpassungsleistungen sind im Sinne einer rationalen Staatsorganisation einerseits notwendig; andererseits jedoch ist gerade der unerschütterliche feste Glauben und die unerschütterliche Glaubenspraxis Kennzeichen von Tugend und moralischer Güte. Wie jedoch Diez insinuierte und Dohm in seinen Nacherinnerungen auch nicht konsequent abstritt, gab es allerdings auch pragmatische Gründe, die Dohm davon abgehalten haben dürften, die positiven Religionen insgesamt und damit auch das Christentum noch radikaler zu kritisieren, als er es in seiner Schrift tat. Tatsächlich || 84 Ebd., S. 317. 85 Alle Zitate ebd., S. 318. 86 »Diez sah also nicht nur […] das kritisierte Sozialverhalten der Juden als Folge der Unterdrückung an, sondern auch die jüdische Religion. Unterdrückung und jüdische Religion bedingten sich wechselseitig«; Voigts: Diez (s. Anm. 5), S. 523. 87 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 271. 88 Ebd., Hvhg. im Orig. 89 Ebd., S. 272.

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schätzte Dohm den Inhalt seiner Denkschrift vor ihrer Veröffentlichung als so brisant ein, dass er wenigstens kurz erwog, sie unter Pseudonym außer Landes zu veröffentlichen. Von dieser Idee nimmt er schließlich Abstand und legt seinen Traktat als theologischen einem Freund, dem Theologen Wilhelm Abraham Teller zur Zensur vor – als politische Schrift hätte der Text im Auswärtigen Departement, in dem Dohm selbst arbeitete, zensiert werden müssen und es steht zu vermuten, dass er diese Situation vermeiden wollte, nicht zuletzt weil seine Kritik implizit, aber für jeden verständlich auf das preußische Judenreglement zu beziehen war.90 Bereits der erste Rezensent der Schrift, Anton Friedrich Büsching, erkannte jedoch, dass es sich bei Dohms Projekt in erster Linie um eine politische Schrift handelte und versuchte, ihn vor dezidiert theologischer Kritik zu bewahren: »Den rüstigen Theologen, wollte ich unmasgeblich rathen, sich mit Bestreitung dieser Schrift nicht abzugeben, denn sie ist philosophisch-politisch.«91 Doch waren die theologischen Implikationen zu eng mit den ›philosophisch-politischen‹ Aspekten der Schrift verflochten, als dass sie nicht rechtgläubigen Angriffen anheimfallen sollten. In den angesehenen und einflussreichen Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen wurde die Bürgerliche Verbesserung in einer anonymen Rezension92 geradezu rabiat kritisiert. Der Rezensent wies Dohms Vorschläge zur Emanzipation der Juden nicht nur in Bausch und Bogen zurück, weil die »Gemühtsart der Nation durchaus verdorben«93 sei, sondern griff an einer prägnanten Stelle auch Dohms Bemerkungen zum Christentum auf: Für das Christentum gelte gerade nicht, was Dohm über den ›trennenden Charakter‹ der Religionen festgehalten habe. Den Juden könne durchaus der Verzicht auf die mosaischen Gesetze zugemutet werden, hätten doch christliche Lehrer im Einklang mit der Vernunft den wahren Gehalt dieser Gesetze freigelegt. Auch könne der Staat ohne weiteres die Angehörigkeit zu einer Religion zur Bedingung der gesellschaftlichen Partizipation machen.94 Der äußerst rüde Ton der Göttinger Rezension verletzte die Konventionen der aufklärerischen Debattenkultur immerhin so stark, dass der prominente Judentumsexperte Johann David Michaelis, der von den Zeitgenossen als Verfasser vermutet wurde, sich genötigt sah, sich in persönlichem Schreiben an Dohm von der Rezension zu distanzieren und selbst eine (gleichermaßen kritische, aber im Ton

|| 90 Vgl. hierzu genauer meine Ausführungen in Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kommentar (s. Anm. 6), S. 46–48. 91 Anton Friedrich Büsching: [3. Teil der Rez. zu Dohm: Bürgerliche Verbesserung, 1. Teil]. In: Anton Friedrich Büschings Wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten, Jg. 9 (1781), 42. Stück (15.10.1781), S. 331–335, hier S. 335. 92 [Michael Hißmann:] [Rez. zu Dohm: Bürgerliche Verbesserung, 1. Teil]. In: Zugabe zu den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1781, 39. St. (29.9.1781), S. 753–763 [ND in Michael Hißmann: Ausgewählte Schriften. Hg. von Udo Roth u. Gideon Stiening. Berlin 2013, S. 285–293]. 93 Ebd., S. 759. 94 Vgl. ebd., S. 755f.

126 | Wolf Christoph Seifert gemäßigtere) Rezension zu verfassen.95 Verletzender war es für Dohm persönlich, dass es sich bei dem anonymen Autor um einen engen Freund handelte, Michael Hißmann, der damit wohl aus karrierestrategischen Gründen einen Beweis seiner Rechtgläubigkeit erbringen wollte.96 Dohm richtete daraufhin einen persönlichen Brief an seinen Freund, in dem er Hißmann mit Johann Melchior Goeze, Lessings orthodoxem Gegner im Fragmentenstreit verglich und insbesondere den Angriff auf seine Religionsauffassung als beleidigend hervorhob: Sie können leicht denken, daß mir das Urtheil einer so berühmten und gelesenen Zeitung, wie die Gött. nicht gleichgültig sein könne; 100 lesen und urtheilen über Bücher nur aus Recensionen, und unter diesen sind immer viele, deren Urtheile für meine äussere Verhältnisse mir nicht gleichgültig sind. [….] [W]enn ganz deutlich insinuiert wird, daß ich antichristlich denke pp. so kann der Eindruck davon nicht vortheilhaft seyn […]. Warum machen Sie mich zum Ungläubigen, um ein desto grösserer Heiliger zu scheinen? […] Ich will […] nur dieses sagen, daß mich am meisten der unzusammenhängende Auszug, und die geflissentliche Auszeichnung der Stellen, die gegen die Religion gedeutet werden können, […] beleidigt habe.97

Obwohl Dohm Hißmann die Freundschaft nicht aufkündigte, hörte dieser nicht auf, das Verbesserungsprojekt scharf zu kritisieren. Auch Diez’ Über Juden sollte sich schließlich später die rechtgläubige Kritik des Göttinger Rezensenten zuziehen: Die ganze Schrift besteht aus Invectiven auf die Christen und ihren Glauben […]. […] Nur soviel dürfen wir sagen, daß nicht einmal der Mund des kaltblütigen Philosophen und Geschichtforschers, geschweige denn des Politikers, dergleichen Äusserungen aussprechen wird.98

Neben die auf den Umgang der beiden Emanzipatoren mit der Religion gerichteten Angriffe Hißmanns traten auch weitere, im Ton freundliche, aber nicht weniger kritische Anmerkungen anderer Aufklärer, die den Optimismus Dohms nicht teilten und die Verbesserungsfähigkeit des Judentums bestritten – auch die bereits erwähnte Rezension von Johann David Michaelis gehört zu ihnen: Für ihn widerspricht eine rechtliche Gleichberechtigung der Juden in hohem Maße den Interessen des Staates.99

|| 95 Vgl. den Brief Dohm an Michaelis, 21. Dezember 1781. In: Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kommentar (s. Anm. 6), S. 276–278 sowie ebd., S. 167f. Vgl. auch Johann David Michaelis: [Rez. zu Dohm: Bürgerliche Verbesserung. 1. Teil] (s. Anm. 48), S. 137–154. 96 Vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Kommentar (s. Anm. 6), S. 161. 97 Brief Dohm an Hißmann, 21. Dezember 1781. In: Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kommentar (s. Anm. 6), S. 273f., hier S. 273. 98 [Michael Hißmann:] [Sammelrez. zu Klingler: Unnütz- und Schädlichkeit, Diez: Über Juden, Hartmann: Untersuchung, d’Arco: Della influenza del Ghetto]. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1783. 165. Stück (11.10.1783), S. 1652–1661, hier S. 1658. 99 Vgl. Michaelis: [Rez. zu Dohm: Bürgerliche Verbesserung, 1. Teil] (s. Anm. 48).

»… geradezu gegen das Christenthum«? | 127

In dieser erhitzten öffentlichen Debatte galt es für Dohm offenbar auch, die durchaus brisante Argumentation des Textes zu verteidigen, ohne sich persönlich allzu weit zu exponieren. Auch hierauf ist die diplomatische Rhetorik Dohms zu beziehen, die Wahl des gegenüber Diez erwähnten ›Mittelweges‹ als Reaktion auch auf diese Umstände zurückzuführen. Im zweiten Teil der Schrift versuchte Dohm schließlich die unterschiedlichen Reaktionen zusammenzuführen und ausführlich auf die von den Gegnern vorgebrachten Argumente einzugehen. Die »Unpartheylichkeit« und argumentative Vorsicht wird in diesem Teil als Strukturprinzip fortgeführt: Bevor Dohm seine Position mit geschärften Argumenten erneuert, setzt er den gelehrten aufgeklärten Diskurs scheinbar neutral in Szene, indem er sowohl Rezensionen als auch Privatzuschriften sammelt. Zwar schließt er in seinem Vorwort Polemiken wie die Hißmanns explizit aus dem gelehrten Diskursgeschehen aus, doch nimmt er mit den Rezensionen Michaelisʼ und Johann Moritz Schwagers100 zwei in der Sache sehr kritische Beiträge in seine Publikation auf.101 Es ist darüber hinaus aufschlussreich zu sehen, wie sich im materialen Teil des Textes die emotional aufgeladenen Rhetorik der Anteilnahme am Schicksal der Juden, die im ersten Teil der Schrift zu beobachten ist, nun zu Gunsten einer von Religion eher distanzierten, staatsmännischen Perspektive abgeschwächt wird. Die grundlegend positive Bewertung der Offenbarungsreligionen und ihre funktionale Einordnung im Hinblick auf das Staatswesen werden tendenziell zurückgenommen. Damit nähert sich Dohms Emanzipationskonzept stärker der Diez’schen Position an. Ablesen lässt sich dies vor allem am zweiten Abschnitt des Hauptteils. Dohm antwortet auf den zentralen Einwand, dass Juden, aufgrund ihrer Religionsgesetzgebung, die »bestimmt ist, sie als eine für sich bestehende Nation, von allen übrigen Völkern zu trennen«,102 und aufgrund der messianischen Erwartung niemals als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft aufgenommen werden können. Er konzediert nun explizit: »Allerdings hat es seine Richtigkeit, daß die Juden, so wie sie jetzt sind, mit ihrem trennenden Gesetz, absondernden Gebräuchen und mancherley Vorurtheilen nicht vollkommen gute Bürger sein können«.103 Noch einmal rekapituliert Dohm sein Hauptargument, dass erst die Unterdrückung der Juden diesen Zustand herbeigeführt habe, und nur die vorgängige Gleichberechtigung die

|| 100 Johann Moritz Schwager: Auch meine Gedanken, bey Lesung einer merkwürdigen Schrift: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. In: Mindensche Beyträge zum Nutzen und Vergnügen 1782, 9. Woche, Sp. 65–72 u. 10. Woche, Sp. 73–80; Abdruck in Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 162–171. 101 Vgl. auch Heinrich: »man sollte itzt […]« (s. Anm. 7), S. 875. Heinrich hält fest, dass Dohm »breiten Konsens über die Zweckmäßigkeit seines Reformprojektes« zu befördern versuche, womit er eine andere Strategie als Mendelssohn mit dem stärker polarisierenden Jerusalem (s. u.) einschlage. 102 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 197. 103 Ebd., S. 198.

128 | Wolf Christoph Seifert vollzogene Entwicklung umkehren könne. Doch deutlicher ist nun die mit der Gleichberechtigung verknüpfte Erwartung auf systematische Änderungen der Religionslehren offengelegt: »Die Synagoge wird nach dem Staat sich bequemen müssen, oder sie kömmt in Gefahr von ihren Besuchern verlassen zu werden.«104 Die Trennung zwischen religiöser und staatlicher Identitätsbildung wird von Dohm nun rhetorisch viel konsequenter vollzogen als noch im ersten Teil. Dass die ›Verbesserung‹ in der Konsequenz zugleich die Aufgabe der religiösen Identität bedeutet, nimmt er dabei durchaus billigend in Kauf: »Was kümmert dies den Staat, der nichts weiter von ihnen verlangt, als daß sie gute Bürger werden, sie mögen es übrigens mit ihren Religionsmeynungen halten, wie sie wollen.«105 Als Ziele der Religionsveränderungen und damit als Voraussetzung der rechtlichen Integration der Juden benennt Dohm nun klar drei Optionen: Modifikation der dogmatischen Bestimmungen des Judentums, Übergang zur Vernunftreligion oder Konversion zum Christentum – wobei die Vernunftreligion die für Dohm attraktivste Option darzustellen scheint, ist sie doch auch Grundlage des Judentums, und also besteht der Übergang zu ihr nur im Ablegen dessen, was die positiven Religionen an ›Zusätzen‹ hinzugefügt haben.106 Schließlich ist es der vernunftreligiöse Deismus, den Dohm – auch hierin sich der von Diez vertretenen Position annähernd – als toleranteste Form der Religion lobt, seine Förderung ist demnach »kein geringer Fortschritt zu der Verbesserung und Aufklärung des menschlichen Geschlechts«.107 Pointiert lässt sich die Verschiebung der rhetorischen Strategie Dohms demnach wie folgt zusammenfassen: Nach den aufgeführten Stellen des zweiten Teiles der Emanzipationsschrift verschiebt sich die Rhetorik in Richtung einer energischeren Darstellung eines nun deutlicher als agonal gedachten Verhältnisses zwischen den Bereichen des Staates und der positiven Religion. Dohm verzichtet auf Harmonisierungsstrategien, betont nun stärker die Notwendigkeit aktiver Anpassung auf Seiten der Juden (»die Synagoge wird nach dem Staat sich bequemen müssen«) und stellt mit dem Deismus die Abkehr von den positiven Religionen, ihre kritische Reinigung als wünschenswertes langfristiges Entwicklungsziel der jüdischen Anpassung dar. So sehr Dohm auch im zweiten Teil daran festhält, dass die Rechtegewährung der Schlüssel zum Erfolg der Religionsentwicklung ist, so sehr er betont, dass diese Entwicklung eigenständig und nicht durch Zwang erfolgen muss, so sehr ist im zweiten Teil (gerade auch im Vergleich mit dem ersten Teil ) jedoch der Verzicht auf wesentliche identitätsstiftende Elemente der jüdischen Religion und Religiosität als langfristige Zielvorstellung der Aufklärung gedacht.

|| 104 Ebd.. 105 Ebd., S. 198f. 106 Vgl. ebd., S. 200f. 107 Ebd., S. 203.

»… geradezu gegen das Christenthum«? | 129

Wie bereits Diez führt Dohm das in seiner frühen Phase gleichermaßen von einem trennenden, politisch problematischen Charakter geprägte Christentum als herausragendes Beispiel dafür an, dass Religionen sich durchaus an ihre politische Umwelt anpassen können.108 Auch die christliche Religion wird nun schärfer kritisiert, wenn Dohm den christlichen Fanatismus mit extensiven Auszügen aus der patristischen Literatur illustriert. In Fußnoten zitiert er ausführlich die entlarvenden Vernichtungsphantasien Tertullians,109 die Zurückweisung der Partizipation am öffentlichen Leben und vor allem des Kriegsdienstes bei Origenes und Laktanz110 und geht auf die Rolle messianischer Erwartungen ein.111 Auch in der aggressiven Rhetorik Luthers gegen Zwingli findet Dohm Beispiele für aggressive Intoleranz.112 So erweist Dohm wie Diez mittels scharfer Kritik am Christentum die Verbesserungsfähigkeit des Judentums – das Emanzipationsprojekt wird nun offenbar auch hier stärker in eine allgemeine Kritik an den positiven Religionen eingebettet.

4 Nach der »Verbesserung« Die Frage nach der genauen Abstimmung zwischen dem Anspruch der Verbesserung und dem eigenen Recht der positiven Religion im Rahmen des Emanzipationsprojektes stellte sich für die Zeitgenossen im besonderen Maße im Bereich des Rechtes: Traditionell war den jüdischen Gemeinden eine gewisse (je unterschiedlich bemessene) Autonomie in diesen Fragen garantiert. Wie zuvor erwähnt, wurde der Erhalt wesentlicher Bestandteile der Autonomie auch in Dohms Forderungskatalog aufgegriffen, folgte für Dohm diese Autonomie der Gemeinden doch aus seiner Gleichberechtigungsforderung. Doch wie konnte die rechtlich garantierte Selbstorganisation der Gemeinde nach religiösen Grundsätzen mit dem Aufklärungsprojekt zusammen bestehen, wie der Erhalt positiver religiöser Identität mit der Rationalität von Staat und Gesellschaft weiter zusammengedacht und konkret vorgestellt werden? Die Ausführungen zur »Untersuchung der Feyertage, des Kirchenrechtes und der Autonomie der Juden«,113 die Dohm am Ende des zweiten Teiles seiner Schrift für einen dritten Teil in Aussicht stellte, hätten das Verhältnis von Staat und Religion noch weiter ausgelotet und damit auch genauere Auskunft zu Dohms Emanzipationskonzept und den Fragen bereitstellen können, die im vorliegenden Beitrag verfolgt wurden. Doch brach Dohm seine Arbeit am publizistischen Projekt Bürgerliche

|| 108 Ebd., S. 204–215. 109 Vgl. ebd., S. 206. 110 Vgl. ebd., S. 210f. 111 Vgl. ebd., S. 215f. 112 Vgl. ebd., S. 207. 113 Ebd., S. 270.

130 | Wolf Christoph Seifert Verbesserung der Juden mit dem Erscheinen des zweiten Teiles der Schrift ab. Der ohnehin vorsichtig agierende Dohm hatte (so berichtet es sein Biograph Gronau) im zweiten Teil seiner Schrift den rhetorischen ›Mittelweg‹ der Religionskritik doch so weit verlassen, dass der Theologe Johann Joachim Spalding befürchtete, es könnten Zweifel an der Rechtgläubigkeit Dohms aufkommen.114 Außerdem erwies sich die Allianz mit Moses Mendelssohn als konfliktträchtig, als dieser Mitstreiter seine Schrift Jerusalem veröffentlichte, in der er deutlich machte, dass die Aufgabe des jüdischen Religionsgesetzes gerade keine Option für Juden sein dürfe, sondern die halachischen Gesetze für das persönliche Leben weiterhin Gültigkeit behalten müssten und grundsätzlich unverzichtbar seien.115 Dohm weist dagegen in den Nacherinnerungen im zweiten Teil der Bürgerlichen Verbesserung auf das Beispiel der jüdischen Strömung der Karäer hin, das dem gesamten Emanzipationsprojekt scheinbar eine äußerst chancenreiche Perspektive bietet: Mit der alleinigen Anerkennung des Tanach sowie dem Verzicht auf den Talmud und die rabbinische Tradition scheint diese Religionsform eine Option der harmonischen Vermittlung von jüdischer Identität und Ansprüchen der Vernunft anschaulich zu machen. Damit, so Dohm, bieten die religiösen Ansichten der Karäer für Juden ein mögliches Etappenziel auf dem Weg zu der Erkenntnis, dass »von jenem [d. h. ihrem, dem jüdischen] religiösen Gesetz nichts mehr, als die auch in demselben bestätigte, in allen Zeitungen und Climaten immer gleich wohlthätige Religion und Sittenlehre der Vernunft noch brauchbar geblieben.«116 Das beharrliche Festhalten an der Gültigkeit der halachischen Bestimmungen, wie es sich in Mendelssohns Jerusalem zeigt, wird von Dohm nicht nur abgelehnt, er ist sich zudem vollkommen sicher, dass, sofern die Bedingung der Freiheitsgewährung erfüllt ist, der Verzicht auf die auch identitätsbildenden Gesetzesbestimmungen sich zwangsläufig ergeben muss.117 Mit diesen Ausführungen in Reaktion auf Mendelssohns Jerusalem offenbaren die Nacherinnerungen zum zweiten Teil nicht nur eine gravierende Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Partnern Mendelssohn und Dohm,118 sondern zeigen schließlich auch deutlich eine gedankliche Grenze für das aufklärerische Emanzipationsprojekt auf, das von den ›feudalstaatlichen Beamten‹ Diez und Dohm skizziert wird: Zwar bestehen ihre unbestreitbaren und großen Leistungen in der lauten Forderung nach Freiheit und Gleichberechtigung für die unterdrückte Min|| 114 Vgl. Gronau: Christian Wilhelm Dohm (s. Anm. 4), S. 87. 115 Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Berlin 1783. Vgl. zu dieser Schrift im Kontext der Debatte die Ausführungen bei Gerda Heinrich: Haskala und Emanzipation. Paradigmen der Debatte zwischen 1781 und 1812. In: Das achtzehnte Jahrhundert 23/1. S. 158– 161, sowie dies.: »man sollte itzt […]« (s. Anm. 17), S. 863–874. 116 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 275. 117 Ebd., S. 276. 118 Vgl. Heinrich: »man sollte itzt […]« (s. Anm. 17), S. 874f.

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derheit, die sie stets und nahezu uneingeschränkt als Ausgangspunkt und notwendige Bedingung aller weiteren Entwicklung sehen. Doch können sie aus ihrer schließlich allen positiven Religionen gegenüber skeptischen und kritischen Perspektive und vom Standpunkt religionsexterner Rationalität die rechtliche Verbesserung der Juden nicht ohne die Aufgabe zentraler Bestandteile religiöser Identität als deren langfristiges Resultat denken. Griff Diez nicht weiter direkt in die Emanzipationsdebatte ein, so verfolgte er doch den grundlegenden Gedankenstrang der ›Freidenkerey‹ und der Religionskritik in wenigstens drei kleineren Schriften weiter. Hatten für Dohm die Karäer die Vereinbarung von jüdischer Religion und Vernunft verkörpert, so hatte sich für Diez bereits in Über Juden mit Spinoza eine historische jüdische Figur gezeigt, die ihm als Personifikation des Freidenkertums, als scharfer Kritiker der positiven Religion und damit als Bezugspunkt für das eigene Verständnis von Aufklärung dienen konnte, das er bereits in der Apologie entfaltet hatte und auf dessen Grundlage er sich zu Dohms Emanzipationsprojekt geäußert hatte.119 Diez verfolgte diese Linie im Anschluss an seine Einlassung zur Emanzipationsdebatte in zwei Aufsätzen weiter, in denen er sich mit Spinoza auseinandersetzte – einer Übersetzung aus dem Tractatus theologico-politicus120 und einer biographischen Skizze, in dem er mit unverkennbarer Sympathie den Philosophen als großen Skeptiker lobt, der es unternommen habe »das ganze bisherige Gebäude menschlicher Erkenntniß niederzureissen, um aus seinen Trümmern ein neues hervorzuziehn.«121 Doch auch das Thema der jüdischen Akkulturation und des rechtlichen Umgangs mit religiösen Vorstellungen sollte Diez noch einmal aufgreifen: In einer interessanten juristischen Spezialstudie122 ging er der erbrechtlichen Frage nach, ob jüdische Kinder bei Religionsänderung testamentarisch von der Erbfolge ausgeschlossen werden können. Diez verneinte dies unter Bezugnahme auf den vernünftigen Charakter des Rechtes und rekurrierte dabei erneut auf einen Gedanken, der als eines der zentralen Axiome seiner eigenen religionskritischen Analysen und der Emanzipationsforderung seines Freundes Dohm zugleich auch einen zentralen Gedanken der bei beiden programmatisch entfalteten Aufklärung darstellt: Kein Mensch habe »Glauben und

|| 119 Vgl. Diez: Über Juden (s. Anm. 1), S. 322. 120 Heinrich Friedrich Diez: Spinoza über Aberglauben und Denkfreyheit. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 5. St., S. 564–578. Abdruck in Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 321–329. 121 Heinrich Friedrich Diez: Benedikt von Spinoza nach Leben und Lehren. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 8. St., S. 131–160. Abdruck in Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 347–363, hier S. 348. 122 Heinrich Friedrich Diez: Kann die von jüdischen Vätern verbotne Glaubensänderung ihrer Kinder den angedrohten Verlust des Erbtheils nach sich ziehn? In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 7. St., S. 23–51. Abdruck in: Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 1), S. 331– 345.

132 | Wolf Christoph Seifert Nichtglauben […] in seiner Gewalt«123 und weder Mensch noch Staat könnten auf die Kontrolle individueller Gewissen Anspruch erheben.124

|| 123 Ebd., S. 335. 124 Vgl. ebd., S. 336f.; vgl. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (s. Anm. 2), S. 19.

Arne Klawitter

Der Philosoph, Freigeist und Orientalist Heinrich Friedrich Diez im Spiegel bislang unbekannter früher Schriften Heinrich Friedrich Diez ist nicht nur für Goethe-Forscher und Orientalisten, sondern darüber hinaus auch für diejenigen von Interesse, die sich mit den Grundlagen und Einflüssen der materialistischen Philosophie auf die deutsche Aufklärung beschäftigen. Im Jahre 2010 legte Manfred Voigts mit dessen Frühen Schriften eine Neuedition der bis dahin bekannten wichtigsten Texte des Magdeburgischen Kanzleidirektors, Freidenkers und Fürsprechers der Juden1 aus dem Zeitraum zwischen 1772 und 1784 vor, wobei er neben den selbständig erschienenen Schriften, darunter Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt (1772), Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773), Versuch über dem Patriotißmus (1774) und Der Stand der Natur (1775), die in ihrer Zeit von Goethe in den Frankfurter gelehrten Anzeigen oder von so renommierten Göttinger Philosophen wie Christian Gottlob Heyne (1729–1812) und Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821) besprochen worden waren, auch weniger bedeutsame Beiträge aus den Berichten der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten (aus den Jahren 1781 bis 1784) der Forschung zugänglich machte.2 Neu aber ist darüber hinaus, dass Diez eine Zeit lang an der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur mitgearbeitet hat und für sie nicht nur Rezensionen, sondern auch zwei längere Abhandlungen verfasste. Bei dieser Zeitschrift handelt es sich um ein erklärtes Konkurrenzunternehmen des Lemgoer Verlegers Christian Friedrich Helwing (1725–1800) zu der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Allgemeinen deutschen Bibliothek. Sie erschien seit 1772 halbjährlich jeweils zur Oster- und zur Michaelismesse und brachte es bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1781 auf exakt 20 Bände, die alle den ungefähr gleichen Umfang von etwa 700 Seiten haben. Das Adjektiv ›auserlesen‹ bildet dabei ganz bewusst einen als programmatisch verstandenen Gegenbegriff zum alles umfassenden ›Allgemeinen‹ der Nicolaiʼschen Bibliothek: Qualität wird damit gegen Quantität gestellt.

|| 1 Diez stimmte vorbehaltlos den von Christian Wilhelm von Dohm in dessen Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (2 Teile. Berlin, Stettin 1781/83) vorgebrachten Vorschlägen zu und ging mit seiner Aufforderung, Juden uneingeschränkt zu öffentlichen Ämtern zuzulassen, noch weit darüber hinaus: »Unter gesitteten Völkern«, schreibt er, »sollte man nie dahin kommen, zu fragen, mit welchen Einschränkungen die Juden in bürgerliche Rechte und Freiheiten eingesetzt werden könnten« (Heinrich Friedrich Diez: Über Juden. An Herrn Kriegsrath Dohm in Berlin. Dessau, Leipzig 1783, S. 10). 2 Vgl. Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften. Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-008

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Bei meiner näheren Beschäftigung mit dieser Zeitschrift bin ich in erster Linie davon ausgegangen, dass es zunächst einmal, um sie genauer verorten zu können, vor allem darauf ankommen dürfte, die Namen der durchweg anonymen Verfasser ausfindig zu machen, die sich hinter den Siglen bzw. Ziffern verbergen, mit denen sie ihre Beiträge unterzeichnet hatten. Einige von ihnen, wie z. B. Jakob Mauvillon, Abraham Jacob Penzel, Justus Möser oder Michael Hißmann, waren bereits von ihren Zeitgenossen ›enttarnt‹ worden und sind u. a. in Johann Gottfried Meusels Gelehrtem Teutschland oder in der Bibliotheca Historica (12 Bde., Leipzig 1782–1804) namentlich aufgeführt.3 Andere Anonyma konnte ich im Zuge meiner eigenen Forschungen erstmals entschlüsseln und definitiv einem bestimmten Verfasser zuordnen. Dazu gehört auch die von Heinrich Friedrich Diez verwendete bzw. ihm zugewiesene Sigle. Diez gehörte zum Freundeskreis Jakob Mauvillons (1743–1794), eines philosophischen Freigeists, der, nachdem er zunächst am Pädagogium in Ilfeld tätig gewesen war, 1771 zum Professor für Militärwissenschaften und Kriegsbaukunst ans Collegium Carolinum nach Kassel berufen wurde. Größere Bedeutung erlangte er in der Folgezeit als Staatsrechtler und Ökonom sowie als enger Vertrauter von Mirabeau und als Vertreter des Physiokratismus.4 Mauvillon war Ende der 1760er Jahre zunächst mit einigen kleineren Texten in Erscheinung getreten, darunter dem Versuch einer Übersetzung der Briefe der Marquisin von Sevigne, mit historischen und critischen Erläuterungen von dem Hrn. Mauvillon dem Sohn (1765). Ein Jahr später legte er dann mit den Freundschaftlichen Erinnerungen an die Kochsche SchauspielerGesellschaft seine erste eigenständige Schrift vor, doch erst die 1771/72 zusammen mit Ludwig August Unzer vor allem gegen den Publikumsliebling Gellert verfasste Streitschrift Über den Werth einiger Deutschen Dichter, die Unzer in Anspielung auf Lessings sogenannte ›Literaturbriefe‹ auch als ›Dichterbriefe‹ bezeichnete, sorgte für wirkliches Aufsehen.5 1773 hatte Mauvillon zudem das Manuskript einer Schrift

|| 3 Vgl. dazu Arne Klawitter: Vom Allgemeinen zum Auserlesenen. Die Lemgoer Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur (1772–1781) als »gefährliche Nebenbuhlerin« der Berliner Allgemeinen Deutschen Bibliothek. In: Waseda Blätter 21 (2014), S. 7–27; ders.: Rezensionen über Rezensionen. Die Besprechungen von Goethes Theaterstücken in der Lemgoer »Auserlesenen Bibliothek« und im »Magazin der deutschen Kritik«. In: Goethe-Jahrbuch 132 (2015), S. 141–150 und zu Hißmann meinen Aufsatz Der sokratische Dämon als »Würgeengel der christlichen Religion?« Ein bislang nicht ausgewerteter Brief Jakob Mauvillons an Michael Hißmann zum »Genius des Sokrates«. In: Das achtzehnte Jahrhundert 41/1 (2017), S. 28–45, hier S. 37. 4 Zu seiner Biographie vgl. Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981. 5 [Jakob Mauvillon und Ludwig August Unzer:] Über den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. 2 Stücke. Frankfurt, Leipzig [d. i. Lemgo] 1771/72. Zur Bezeichnung ›Dichterbriefe‹ vgl. Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl. Braunschweigischen

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mit dem Titel Système sur la nature humaine fertig gestellt,6 doch musste der Verleger Schreuder in Amsterdam vor dem Beginn der Drucklegung Bankrott anmelden, in dessen Folge das Manuskript offenbar im Verlag verloren ging und seitdem verschollen ist.7 Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem Dichter Ludwig August Unzer (1748–1774) aus Wernigerode, Sohn des Leibarztes des Grafen Christian Ernst zu Stolberg und Neffe des damals weithin berühmten Arztes Johann August Unzer, der zunächst in Hamburg und später im dänisch regierten Altona praktizierte. Nach dem Studium der Rechte in Halle trat der junge Ludwig Unzer im Sommer 1771 eine Hofmeisterstelle in Zorge im Harz an und veröffentlichte seine Versuche in kleinen Gedichten (1772), die jedoch kaum Beachtung fanden, während die oben schon erwähnten, zusammen mit Mauvillon verfassten ›Dichterbriefe‹ bereits unmittelbar nach ihrem Erscheinen heftige Diskussionen auslösten und die beiden Kunstrichter schlagartig bekannt machten, obwohl die Schrift anonym veröffentlicht worden war. Unzer und Diez wiederum begegneten sich während ihres Jura-Studiums wohl im Sommer 1770,8 beide waren Mitglied des Hallenser Amicistenordens.9 Durch Unzer wurde Diez seinerseits mit Mauvillon bekannt, mit dem er dann auch in einen Briefwechsel trat. Als bei Unzer die Symptome der Schwindsucht immer deutlicher wurden und sich sein baldiges Ende abzuzeichnen begann, besuchte Diez seinen Freund noch einmal wenige Wochen vor dessen Tod, wahrscheinlich Mitte Dezember 1773.10 Bei dieser Gelegenheit übergab ihm Unzer seine gesamte Korrespondenz zur Aufbewahrung, einschließlich der von Mauvillon erhaltenen Briefe.11 Diez selbst hatte seine schriftstellerische Laufbahn relativ früh im Jahr 1772 mit einer kleinen Abhandlung über die Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt

|| Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Ges[ammelt] u. hg. von seinem Sohn F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [d. i. Braunschweig] 1801, S. 27f. 6 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 79. 7 Nach Hoffmann lautet der Titel Méditations sur la nature humaine; vgl. Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 4), S. 69. 8 Vgl. Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 134. 9 Der Amicistenorden, auf den Diez im Untertitel seiner ersten Veröffentlichung über die Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt. Von einem Unzertrennlichen in der A[micitia]. anspielt, war eine studentische Verbindung, die ihren Ursprung in dem um 1740 gegründeten Mosellanerorden hatte und in der sich neben Studenten auch junge Kaufleute und Offiziere des in Halle stationierten Anhalt-Bernburgischen Regiments im Geiste der Freundschaft und Sittlichkeit zusammenschlossen. Die Loge, der Diez und Unzer angehörten, trug den Namen ›Constantia‹; vgl. dazu Manfred Voigts: Heinrich Friedrich Diez. Kanzleydirektor, Freygeist und Freund der Juden. In: Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 2), S. 457–540, hier S. 462. 10 Am Ende des Briefes vom 19. Dezember 1773 heißt es: »Diese Nachschrift schrieb ich in Wernigerode, wo ich mit Unzern zum letztenmale zusammengekommen bin, denn einmal mußte es noch geschehen« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 5], S. 98). 11 Ebd., S. 105.

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begonnen, einem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer brisanter werdenden Thema. Ein Jahr später folgten die Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen, das erste Buch größeren Umfangs, in dem er, auf der Empirie aufbauend, die moralische Natur des Menschen zu ergründen versucht und die idealistischen Vorstellungen der deutschen Philosophen heftig kritisiert. »[D]er gepriesene Sieg über Leidenschaften«, heißt es dort, »ist eine Chimäre.«12 Diese Überlegungen finden ihre Fortsetzung in dem 1775 anonym veröffentlichten Traktat Der Stand der Natur, der nicht nur in Hinblick auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen weit pessimistischer ausfällt: »Die Wahrheiten dieser Welt sind nichts mehr als menschliche Ideen, deren jede mit jedem Kopf anders modificirt wird.«13 Vom Gedanken der Relativität der Wahrheit ausgehend, entwickelt Diez schließlich eine umfassende Vernunftkritik, die den Allgemeingültigkeitsanspruch der abendländischen Rationalität grundsätzlich in Frage stellt: Es möchte sich also nicht geziemen, daß wir uns rühmen, weltallgemeine und unabänderliche Regeln ergrübelt zu haben, da wir auf dieser großen Fläche nur ein sehr kleines Häuflein sind, dem es nicht allein übertragen seyn kann, im Namen der ganzen Menschheit ein Urtheil zu sprechen. Jenseit des Meers wohnen auch Menschen! Oder hätten sie keine Stimme, sollten sie nicht Richter seyn können, weil wir uns erleuchtet nennen? Wer hat denn, wenn ich fragen darf, diese Universalmonarchie des europäischen Verstandes gestiftet? kein kriegerischer Weltbezwinger! denn Ideen lassen sich vom Säbel nicht überwältigen; kein Himmelsbote! denn seine Urkunden wären nicht allen Völkern promulgirt worden. So werd ich also dem [!] Lehrer der hochbelobten universal Wahrheit in unserer Leidenschaft, in unserer Eigenliebe suchen müssen.14

Gerade diese radikale Kritik der »Universalmonarchie des europäischen Verstandes« macht den Unterschied zu den vorangegangenen Schriften deutlich, was den Herausgeber der neu edierten Frühen Schriften, Manfred Voigts, dazu veranlasste, für die Zeit zwischen 1773 und 1775 einen plötzlichen »Gesinnungswandel«15 bei Diez zu konstatieren, für den es keine eindeutige Erklärung gebe und der sich gedanklich vor allem in der unterschiedlichen Beurteilung der menschlichen Leidenschaften nachvollziehen lasse. Von Bedeutung ist für Voigts in diesem Kontext auch, dass Diez danach fünf Jahre lang nichts mehr veröffentlicht, was die Vermutung nahe legt, dass Diez sich »durch eigene Überlegungen und Studien« oder

|| 12 Heinrich Friedrich Diez: Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen. Halle 1773, S. 34; vgl. Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 2), S. 39 (Hvhg. im Original). 13 [Heinrich Friedrich Diez:] Der Stand der Natur. Lemgo 1775, S. 8. vgl. Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 2), S. 116. 14 Ebd., S. 38f., vgl. Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 2), S. 127 (Hervorhebungen werden kursiv wiedergegeben). 15 Voigts: Heinrich Friedrich Diez (s. Anm. 9), S. 480.

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»durch brieflichen oder direkten Kontakt mit Freunden«16 über gewisse Dinge Klarheit verschaffen wollte, bevor er publizistisch wieder an die Öffentlichkeit trat. Aufschluss über diese Zeit, insbesondere über die geistige Entwicklung, die Diez in den Jahren zwischen 1773 und 1775 genommen hat, gibt jedoch der Voigts entgangene Briefwechsel zwischen Diez und Mauvillon. Das erste Schreiben von Diez ist mit dem 30. Mai 1773 datiert. Wie Mauvillons Antwort ausfiel, wissen wir nicht, doch im zweiten Brief, den Diez im Oktober abschickte, legt dieser, offenbar von Mauvillon dazu aufgefordert, sehr ausführlich seine philosophischen, vom Materialismus geprägten Überzeugungen dar, aus denen ersichtlich wird, dass sich Diez mit einer Vielzahl von Fragen beschäftigte, so z. B. ob ein Nervensaft oder ob die Gehirnzellen für das Denken verantwortlich seien, ob sich das Denken aus der Bewegung sogenannter Seelenorgane erklären lasse, welcher Art der Einfluss der Sprache auf das Denken sei usw.17 Die Nähe zu Mauvillon kommt dann in den folgenden Sätzen sehr deutlich zum Ausdruck: Über den Menschen, über die wirkende Ursache seines Denkens, über das, wenn an ihm Moralität sein soll, und deren Ursprunge habe ich verschiedentlich nachgedacht; alte mit neuen Meinungen vorgenommen, und solche untersucht. Aber keine that mir Genüge. Endlich verfiel ich auf ein System, welches mir die Sache zu erklären schien. Meine Meinung ist natürlicherweise Materialismus, doch letzterer von ganz besonderer Art. Ich glaubte etwas neues erfunden zu haben, weil ich meine Theorie weder von einem Alten noch Neuern erdacht oder berührt fand. Ich gab Unzern einige allgemeine Nachricht davon. Und dieser meint, dass Sie schon auf das System, welches ich für das meinige hielt, verfallen wären, und solches in Ihrem Werke sistéme sur la nature humaine, und auch zum Theil in der Recension über Herders Abhandlung vom Ursprunge der Sprache vorgetragen hätten.18

Bei der im Brief erwähnten Rezension handelt es sich um eine nicht namentlich unterzeichnete Besprechung von Herders Preisschrift in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, die inzwischen zweifelsfrei Mauvillon zugewiesen werden kann.19 Dort verweist Mauvillon gleich zu Beginn auf ein »französische[s] Werk[]«, das ihm »vor nicht gar langer Zeit in der Handschrift ist communicirt worden, und [...] anjetzt unter der Presse seyn mus«.20 Ob er dabei auf seine eigene Schrift oder auf des Abbé Copineau Essai synthétique sur l’origine et la formation des langues (Paris 1774) anspielt, entzieht sich unserer Kenntnis. Interessant ist jedoch, dass Mauvillon zwar eine Übereinstimmung des größten Teils der von Herder entwickelten Gedanken mit dem französischen Manuskript erkennt, diese Schrift dann || 16 Ebd., S. 480. 17 Vgl. den dritten Brief in: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 82–99. 18 Ebd., S. 79. Mit dem angesprochenen Werk ist jene verlorene Schrift Mauvillons gemeint, die sein Biograph Hoffmann unter Méditations sur la nature humaine anführt und deren Manuskript offenbar bereits 1773 vorgelegen haben muss, vgl. Anm. 7. 19 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 3. Bd. (1773), S. 171–184. 20 Ebd., S. 171.

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aber seinerseits dazu nutzt, Herders Ausführungen zu kritisieren und das Sprachvermögen allein aus den physiologischen Grundlagen der Sprachorgane abzuleiten. Dem Bekenntnis zum materialistischen Denken schließt sich im Brief von Diez an Mauvillon eine Reihe konkreter Fragen an: Wie vielen Einfluss aufs Denken legen Sie der Sprache bei? Wie kommt es, dass der Mund ordentlich redet, und die Wörter zusammenhängend an einander reihet? Cooperiren hierbei Gehirnnerven in die Sprachorgane hinunter? Was giebt diesen eigentlich die Richtung? Wie und was denkt der Taub- und Stummgeborne, da er keine Wörter hat, nicht hören und sprechen kann? Wie denkt der Blinde, was ist bei ihm die Einbildung? Kann man von den Sprachorganen und dem Munde sagen, dass sie denken? Und von dem Gehöre, dass es hörend denkt? Wie wird der Schall, der Ton vom Gehöre aus in den Mund gebracht, damit wir die Töne nachahmen? Was ist da für eine Communication? Wie geschieht es, dass der Mund, wenn das Auge ein Object sieht, dessen Namen ausspricht, und weiter darüber raisonnirt? Was ist das Gefühl des Ichs, das Bewusstsein, und wie und woraus erklären Sie das?21

Mauvillon hat Diez wahrscheinlich zur Beantwortung seiner Fragen die Rezension über Herders Preisschrift zugeschickt (oder dieser kannte sie bereits), denn im nächsten Brief geht Diez auf die Argumentation und die Begrifflichkeit von Mauvillons Text ein,22 und auch ein Entwurf zu dem Aufsatz Über das Ich, der erst mehrere Jahre später im Deutschen Museum erschien, war Diez offensichtlich zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt.23 Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache inspirierte ihn umgehend zu eigenen Überlegungen zu diesem damals viel diskutierten Thema, die später in seine Besprechung von Rudolf Wilhelm Zobels Gedanken über die verschiedenen Meinungen der Gelehrten vom Ursprunge der Sprachen einfließen sollten. Da nun sowohl Jakob Mauvillon als auch Ludwig August Unzer unmittelbar als Rezensenten für die Auserlesene Bibliothek nachgewiesen sind und Mauvillon sogar zu ihren Mitbegründern gehörte, liegt aufgrund der persönlichen Beziehungen die Vermutung nahe, dass Diez seinerseits ebenfalls an der Zeitschrift beteiligt gewesen sein dürfte. Von den im Briefwechsel mit Mauvillon behandelten Themen her gesehen kommt für Diez in erster Linie die Nummer 14. in Betracht, eine Annahme, die ihrerseits durch ein biographisches Detail gestützt wird, denn Diez erwähnt in einem Brief, dass er vom Dezember 1774 bis zum April 1775 ernsthaft erkrankt gewe|| 21 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 80f. 22 Vgl. ebd., S. 86, wo Diez die »chorda tympani« aus Mauvillons Rezension zitiert (im Druck fälschlich als choria tympani wiedergegeben) und als »Verbindungsband der Gehörs- und Sprachorganen« beschreibt. Auch auf den von Mauvillon erwähnten Antonio Maria Valsalva (1666–1723) nimmt Diez Bezug (ebd., S. 95). 23 »Ihre Gedanken vom Gefühle des Ichs, haben mich am mehrsten frappirt, weil sie beinahe die meinigen zu sein scheinen.« (ebd., S. 88). Mauvillons Aufsatz »Über das Ich, in Briefen an Hrn. Prof. Tiedemann« erschien im Deutschen Museum 1778, 1. Bd., S. 155–161, S. 254–261 und 2. Bd., S. 395– 419.

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sen sei24 – zeitgleich mit dem anonymen Verfasser der Abhandlung Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie, die jener im sechsten Band der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek begonnen hatte und die deshalb unterbrochen werden musste.25 Betrachtet man die mit der Sigle 14. unterzeichneten Beiträge genauer, dann gibt es verschiedene Verweise und sogar wörtliche Übereinstimmungen mit Passagen bereits bekannter Texte von Diez. So bezieht er sich z. B. im Vorwort seines ins Deutsche übertragenen Auszugs aus den tuskulanischen Quästionen Ciceros (Tusculanae disputationes)26 auf Thomas Abbts Übersetzung von Sallusts Geschichte vom Katilinarischen und Jugurthinischen Kriege (1771), die er auch in seiner in der Auserlesenen Bibliothek veröffentlichten Besprechung von Johann Gottlieb Schummels Übersetzer-Bibliothek als eine gelungene Übersetzungsleistung lobt. Mehrfach äußert sich Diez außerdem dahingehend, dass ein Übersetzer darauf achten müsse, dass »so viel, als irgend möglich ist, kein Wort, kein Gedanke untergeschoben werd[e], die nicht im Original stehn, kein Begrif, wo Bild, kein Bild, wo Begrif des Scribenten ist, sonst ists nicht mehr sein Sin, sonst redet nicht der Meister, sondern der Kopist«.27 In den Erläuterungen zu seiner Übersetzungsprobe aus dem 10. Kapitel des Icon animorum von John Barclay28 kommt er auf dieses Diktum zurück und schreibt: Ich habe schon vor einigen Jahren anderswo die Bemerkung gemacht, daß man bei Übersezungen das Original wörtlich übertragen müsse; daß also, so weit es irgend möglich ist, kein Wort, kein Gedanke untergeschoben werden dürfe, die nicht im Original stehn, kein Begriff, wo Bild, kein Bild, wo Begriff des Skribenten ist, weil es sonst nicht der Sinn des Originals bleibe, sondern Sinn des Übersezers werde; daß es aber bei dem allen eine edle, gedrängte und sehr einfältige Wörtlichkeit gebe, welche Abbt bei seiner Übersezung des katilinarischen Kriegs gröstentheils erreicht hat.29

|| 24 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 138 (Brief vom 18. April 1775). 25 In einer Fußnote dazu bemerkte der Herausgeber der Zeitschrift: »Da der Hr. Verfasser der Abhandlung über den Zustand der Philosophie durch Krankheit abgehalten worden ist, die Fortsetzung zu liefern, so wird diese im folgenden Bande erfolgen« (Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 7. Bd. (1775), S. 681.) Doch auch im 8. und den folgenden Bänden findet sich keine Fortsetzung der Abhandlung. 26 Vgl. den Vorbericht zu Markus Tullius Cicero’s erstem Buch tuskulanischer Untersuchungen, von Verachtung des Todes. Übersezzt von Heinrich Friedrich Diez. Magdeburg, Leipzig 1780, unpag. [S. 4f.]. 27 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 7. Bd. (1775), S. 234–242, hier S. 239. 28 Erschienen im Deutschen Museum 1780, 2. Bd., S. 48–61. 29 Deutsches Museum (1780), 1. Bd., S. 447–455, hier S. 455.

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Diese intertextuellen Verweise stützen die These, dass nur Diez und kein anderer der Rezensent der Auserlesenen Bibliothek mit der Chiffre 14. sein kann.30 Damit ist es möglich, ihm nunmehr die Besprechungen von Werken Jean Delisle de Salesʼ und Voltaires, ferner von Carl Renatus Hausens Wochenschrift Über die Nationalvorurtheile und von Rudolf Wilhelm Zobels Gedanken über die verschiedenen Meinungen der Gelehrten vom Ursprunge der Sprachen zuzuweisen. Daneben lieferte er einige Kurzkommentare zu Werken von Johann Heinrich Els und dem Grafen Cattaneo, dem damaligen preußischen Geschäftsträger in Venedig. Über die besagten Rezensionen hinaus hat Diez – und das ist an dieser Stelle noch viel interessanter – zwei längere Abhandlungen für die Auserlesene Bibliothek, und zwar Von dem Zustande der Rechte in Deutschland und, wie oben schon erwähnt, Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie verfasst. Dort versucht er zu zeigen, wie die Psychologie zu einem »der vornehmsten Theile theoretischer Weltweisheit« geworden sei, die allen übrigen (wie der Logik und der Ethik) »Licht g[ebe]«.31 Ferner übt er Kritik an der Vorstellung vom geistigen Menschen und stellt Leibniz’ Philosophie als eine neue Art des Platonismus heraus. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der Sprache, die »nun zum Fond der Psychologie aufgenommen« worden sei, und deren Studium – er verweist insbesondere auf Condillac und Herder – zu einer »reifere[n] Beobachtung der Sinne«32 führe, solange man nicht bei Nominalien stehen bleibe oder aus dem Sprachstudium bloß eine philosophische Grammatik bilde. Stattdessen müsse man »die Natur der Wörter, die Art und Applikation des Gehörs, die Gewohnheiten des Sprachorganons«33 usw. untersuchen. Schließlich geht Diez auf die Positionen der für ihn wichtigsten Strömungen der gegenwärtigen deutschen Philosophie ein: Auf der einen Seite sieht er die Monadologisten, die eine denkende Kraft statuieren und die verschiedenen Äußerungen dieser Kraft auf äußere Objekte angewandt untersuchen, auf der anderen Seite die Materialisten, die fragen, wie aus körperlichen Bewegungen, aus dem Zusammenwirken der Fibern eine identische Empfindung entstehen könne, und er kommt zu dem Schluss, dass »es um unsre Begriffe leichter und fruchtbarer ward, je mehr wir das Monadenforschen hintansetzten, je materialistischer wir über das, was Sinn und Seele genant wird, zu denken anfiengen«.34 Dabei sind viele der in den Briefen an Mauvillon diskutierten Fragen und vorgebrachten Überlegungen in die Besprechungen und Abhandlungen eingeflossen. So bekennt Diez sich, wie wir gesehen haben, bezüglich der philosophischen Denkrich|| 30 Vgl. dazu ausführlicher Arne Klawitter: »Freigeisterei unter dem Schutzmantel der Anonymität. Ein Beitrag zur Biographie des preußischen Gesandten Heinrich Friedrich von Diez«. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 2017, S. 7–45. 31 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 6. Bd. (1774), S. 634. 32 Ebd., S. 645. 33 Ebd., S. 646. 34 Ebd., S. 649.

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tung ausdrücklich zum Materialismus und fügt hinzu: »Die Monaden erhalten so wenig Ihren als meinen Beifall, ich sage also gar nichts davon. Genug, in uns ist kein einfaches denkendes Wesen.«35 In dieser Hinsicht lassen sich die Briefe durchaus als persönliche Bekenntnisse lesen, vor allem aber bieten sie beiden Denkern den Raum für eine eingehende Bearbeitung philosophischer Untersuchungsgegenstände, für die Entfaltung ihrer Gedanken und für ein gegenseitiges Hinterfragen ihrer Standpunkte. Auch über beachtenswerte Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt erfolgt ein Austausch. Im Brief vom 5. Juni 1774 erkundigt sich Diez nach dem Verfasser einer, wie er sagt, »lehrreichen« Schrift mit dem Titel »Entwurf zu der ältesten Erd- und Menschengeschichte nebst einen Versuch über den Ursprung der Sprache zu finden« (Frankfurt und Leipzig 1773),36 die er Mauvillon gleichzeitig zur Lektüre empfiehlt und auf die er dann in seinem Buch Der Stand der Natur näher zu sprechen kommt.37 Darüber hinaus tauschten sich beide Briefpartner über ihre Publikationsvorhaben aus. Mauvillon kündigt eine »projectirte Untersuchung[] über den Homer« an, erwähnt eine uns unbekannte Apologie des Increduus38 und berichtet von seiner Übersetzung der Philosophischen und politischen Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beyden Indien aus dem Französischen des Abbé Raynal,39 während Diez sich über seine Unternehmungen folgendermaßen äußert: In einigen Jahren werde ich mich auch an ein politisches Werk machen, welches die Einrichtung eines Staats, und seine in allen Fächern nöthige Gesetze zum Vorwurf haben soll, erläutert durch die vorhandenen politischen Verfassungen auf der Erde. Es soll vorzüglich ein reelles Ideal sein, wonach Staaten gebildet werden können. Es fehlt der Idee weder an Eigenheit noch an Wichtigkeit. [...] Was ich einst für vollständige Werke, in Hoffnung auf die Nachwelt zu kommen, ausarbeiten werde, ist schon in meinen Ideen beschlossen. Nur Zeit, Freiheit und ruhiges Leben muss ich haben. Die Broschüren, die ich von Zeit zu Zeit ausgehen lassen will, sollen nur dazu dienen, mich mit den Publicum in einiger Connexion zu erhalten.40

Diese und andere Anspielungen lassen vermuten, dass insbesondere der Briefwechsel mit Mauvillon Diez zu jenem »Gesinnungswandel« veranlasst haben mag, den Manfred Voigts in den Jahren zwischen 1773 und 1775 erkennen zu können glaubt. Allerdings scheint sich Diez bereits zu diesem Zeitpunkt sehr im Klaren darüber gewesen zu sein, was er in Zukunft publizieren wollte, doch ist uns ein solches, hier

|| 35 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 83. 36 Ebd., S. 129. Beim Autor handelt es sich um den Arzt und Geologen Georg Christian Füchsel (1722–1773). 37 [Diez:] Der Stand der Natur (s. Anm. 13), S. 31, vgl. Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 2), S. 124. 38 Vgl. Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 81f. 39 Ebd., S. 95. 40 Ebd., S. 96f.

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avisiertes politisches Werk über die Einrichtung des Staates von seiner Hand nicht bekannt (und vermutlich auch niemals verfasst worden). Der Briefwechsel gibt aber dann unerwartet den Hinweis auf eine andere, der Forschung bislang unbekannte Publikation von Diez. Dem an Mauvillon gerichteten Brief vom 19. Dezember 1773 legt er nämlich drei seiner gerade erschienenen Schriften bei: zum einen die bekannten Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen, über die er sich an anderer Stelle noch selbstkritisch äußert, zum anderen den ebenfalls bekannten Versuch über dem Patriotißmus, und schließlich eine der Forschung bislang gänzlich unbekannte religionskritische Abhandlung,41 wobei er hinzufügt: »Der Verfasser der letztern trägt kein Bedenken, sich Ihnen als seinen Freund zu nennen, aber andern will und muss er unbekannt bleiben.«42 Obwohl diese gerade erwähnte Schrift anonym und ohne Druckort und Verlag im Jahr 1773 veröffentlicht wurde, war es dann doch mit Hilfe des Universalcatalogs der Meyerschen Buchhandlung43 möglich, sie als eine in deren Verlag erschienene Publikation nachzuweisen. Diese Gemeinsamkeit, die sie mit der Auserlesenen Bibliothek teilt, unterstreicht die enge Verbindung ihres Autors zum Verleger Christian Friedrich Helwing (1725–1800). Diese von mir neu aufgefundene Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion stammt noch aus der Zeit vor seinem Briefwechsel mit Mauvillon, und es ist ihm offenbar gelungen, sie später weitestgehend zu unterdrücken, denn ich konnte bei meinen Recherchen kein Exemplar der drei Druckbögen, d. h. also lediglich 48 Seiten umfassenden Schrift in einer deutschen Bibliothek auffinden. Doch ist es bekanntermaßen sehr schwer, etwas einmal Gedrucktes wirklich aus der Welt zu schaffen, und so ließ sich schließlich und endlich nicht nur ein Exemplar in der Universitätsbibliothek Bern nachweisen,44 sondern ihm folgten darüber hinaus zwei weitere, die sich in der Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg und im Van Pelt-Dietrich Library Center der Penn Libraries in Philadelphia befinden. Über den Inhalt dieser Abhandlung sei an dieser Stelle nur soviel gesagt, dass Diez hier nicht einfach nur den Verfall des

|| 41 Ebd., S. 93. 42 Ebd. 43 Zum Erscheinungsort vgl. den Universal-Catalogus der Bücher welche in der Meyerschen Buchhandlung zu Lemgo zu haben sind. 2 Tle, Lemgo 1783/85, 1. Theil A–M, S. 15; ebenso das Vollständige Verzeichnis der Bücher, welche um beygesezte Preise zu haben sind bey sel. Abraham Vandenhoecks Witwe, Universitätsbuchhändlerin zu Göttingen. Erster Theil. Göttingen 1785, S. 15. 44 Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion, Universitätsbibliothek Bern, Signatur: MUE Fg Ba 69: 2. Die Schrift ist mit fünf weiteren Drucken des 18. Jahrhunderts zusammengebunden, die aber, abgesehen von dem Umstand, dass ihr Vorbesitzer Philipp Emanuel von Fellenberg (1771–1844) war, inhaltlich nichts miteinander zu tun haben.

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Glaubens in den Blick nimmt, sondern angesichts der schwindenden Autorität der Kirche nach einer moralischen Haltung auch jenseits des Christentums sucht.45 Trotz ihrer heutigen Seltenheit blieb die an sich eher unscheinbare Schrift damals nicht ohne Resonanz und wurde sogar in einigen Zeitschriften der Zeit besprochen. Mauvillon, der die Abhandlung, wie wir wissen, direkt vom Autor erhielt, äußerte sich in der Auserlesenen Bibliothek eher zurückhaltend: Diese Blätter haben uns keinen großen Begrif von des Hrn. V. Orthodoxie beigebracht, aber, wenn er, wie wir muthmaßen, ein junger Mensch ist, keinen schlechten von seinem Kopf. Es sind richtige und nicht ganz gemeine Bemerkungen darin, welche versprechen, daß, wenn der V. noch fleißig studieret, und dann, was er sagen wil, besser durchdenken wird, um es in einer guten Ordnung deutlicher vorzutragen, er uns was gutes wird liefern können.46

Den Dingen mehr auf den Grund ging die Besprechung im ersten Band der von Rudolph Heinrich Zobel herausgegebenen Bibliothek der Philosophie und Litteratur. Zwar verspreche der Titel viel, so der Rezensent, der vermutlich Zobel selbst gewesen sein wird, doch habe der Verfasser seinerseits schnell erkannt, »daß der von ihm gewählte Titel mehr ankündige, als in gegenwärtiger Schrift geleistet worden sey«. Statt die Erwartungen des Publikums zu erfüllen, habe er seinen Lesern ein Blendwerk vorgesetzt, in dem man nur »[a]lte, oft gesagte Dinge, ohne Ordnung und genaue Bestimmung« wiederfinden könne.47 Gleichermaßen geringschätzig urteilt Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner Deutschen Chronik: »Der ausgehängte Schild ist prächtig! vergoldet und lieblich anzusehen. Aber in der Herberge, meine Herren, werden sie verzweifelt schlecht traktirt.«48 Woraus resultiert diese insgesamt negative Beurteilung? Diez hatte sich darauf beschränkt, lediglich eine Tendenz aufzuzeigen und die von ihm erkannten Ursachen des Verfalls der christlichen Religion klar und deutlich zu benennen, ohne sie jedoch zu bewerten oder moralische Grundsätze zu verteidigen, und er vertritt die Ansicht, dass dieser Niedergang unumkehrbar und nicht aufzuhalten sei. Statt mit noch strengeren Moralvorschriften auf die Verfallserscheinungen zu reagieren, müsse man eingestehen, dass in einer modernen Gesellschaft auch eine atheistische Haltung möglich sei und sich rechtfertigen lasse, womit Diez im Prinzip, auch wenn er es nicht direkt ausspricht, die religiöse und moralische Autorität des Christentums untergräbt. Dieser Vorwurf, ein Gegner des Christentums zu sein, sollte ihm, der sich viel später zum orthodoxen Protestantismus bekehren ließ, wenn man den Quellen

|| 45 Eine ausführliche Untersuchung dieser wieder aufgefundenen Schrift findet sich in Das Achtzehnte Jahrhundert 43/1 (2019), S. 11–27. 46 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 5. Bd. (1774), S. 555. 47 Bibliothek der Philosophie und Litteratur, 1. Bd. (1774), 1. Stück, S. 200–202. 48 Deutsche Chronik auf das Jahr 1774, 33. Stück, S. 264.

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Glauben schenken darf,49 noch länger anhaften. In der Besprechung der 1783 publizierten Lebensbeschreibung Spinozas bemerkt deren Rezensent in der Allgemeinen Bibliothek der neuesten theologischen Litteratur, dass der Verfasser sich vorher einmal »als einen offenbaren Gegner des Christenthums der Welt dargestellt« habe und dass er »auch in dieser Lebensbeschreibung von Spinoza, wo er es nicht an Sticheleyen auf unsere Religion, und an Bemühungen fehlen lässet, sie nicht blos verdächtig, sondern auch verächtlich zu machen«,50 weiterhin unbeirrt dasselbe tue. Die Reaktionen auf Diez’ Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion geben wie der Text selbst einen Einblick in die Verbreitung freigeistigen Denkens nach 1770 in Deutschland. Interessant an Diez’ frühen Schriften sind vor allem die moralphilosophischen und staatspolitischen Konsequenzen, die sich aus seiner religionskritischen Haltung ergeben. Trotz der nur wenigen, aber doch an prominenter Stelle erfolgten geringschätzigen Rezensionen, die wesentlich auf religiösen und daneben auch auf philosophischen Vorbehalten beruhen, bleibt Diez’ Philosophische Abhandlung ein durchaus beeindruckendes Dokument radikalaufklärerischer Zeitkritik.51 Das aber ist noch nicht alles, was uns der Briefwechsel mit Mauvillon an Hinweisen über verschollene Publikationen an die Hand gibt. Erwähnt werden in ihm darüber hinaus eine zwei Bogen umfassende Abhandlung Vermächtnisse für Zweifler von Ludwig August Unzer, von der im Herbst 1773, wiederum in Amsterdam, bereits einige Exemplare in den Druck gegangen waren, denen dann zu Neujahr 1774 noch weitere 200 folgen sollten, sowie eine von Unzer und Diez gemeinsam verfasste Schrift, deren Titel allerdings nicht genannt wird und die laut Diez zwar schon vor Unzers Tod »unter die Presse gekommen [sei], aber wegen Verzögerung des Verlegers erst in diesem Sommer [d. i. 1774] fertig w[erde]«.52 Während von der ersten Schrift ein Exemplar von mir aufgefunden werden konnte, fehlt von der zweiten bis heute jede Spur. Es ist durchaus möglich, dass Diez zu einem späteren Zeitpunkt – wenn denn das Buch wirklich erschienen sein sollte – selbst dafür gesorgt hat, dass die bereits gedruckten Exemplare ausnahmslos zurückgehalten oder vernichtet wurden. Über den Inhalt macht er Mauvillon gegenüber lediglich vage Andeutungen und fügt hinzu: »Es versteht sich zwar schon von selbst, ich bitte Sie indessen noch bei allem was Ihnen heilig ist, nennen Sie niemals meinen Namen als

|| 49 Johann Albrecht Freiherr von Reiswitz: Diez, Heinrich Friedrich von. In: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 713 und Wilhelm Gronau: Christian Wilhelm von Dohm nach seinem Wollen und Handeln. Ein biographischer Versuch. Lemgo 1824, S. 114. 50 Allgemeine Bibliothek der neuesten theologischen Litteratur, 2. Bd. (1784), S. 227. Die Rezension ist mit der Sigle N. unterzeichnet. 51 Zum Begriff vgl. Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung. Frankfurt a. M. 2014. 52 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 5), S. 119.

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den Verfasser, denn ich würde die äusserste Gefahr laufen, weil die Schrift gehemmt ist.«53 Vom Briefwechsel mit Mauvillon sind lediglich acht von Diez verfasste Schriftstücke erhalten, die sich über den Zeitraum von zwei Jahren verteilen. Er bricht aus uns unbekannten Gründen im April 1775 ab, obwohl Diez in seinem letzten Brief verspricht, »sobald als möglich weitläuftig«54 an Mauvillon zu schreiben. Dennoch gibt die Korrespondenz zumindest ansatzweise Aufschluss über einen Lebensabschnitt von Diez, über den wir bislang wenig Informationen besitzen und in den auch die Entstehung der wieder aufgefundenen philosophisch-religionskritischen Abhandlung fällt, aus der hervorgeht, dass Diez offenbar bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit dem Gedanken gespielt haben dürfte, eine höhere Beamtenlaufbahn anzustreben. Darauf deuten vor allem der Verweis auf Konstantinopel hin, aber auch der juristisch-staatspolitische Bezug am Ende der Schrift.55 Ein Jahr nach der hier vorgestellten Schrift über den Verfall der Religion veröffentlichte Diez seinen Versuch über dem Patriotißmus (1774), dem dann die Untersuchung Der Stand der Natur (1775) folgte. Im Vergleich zu den vorangegangenen Publikationen hat diese Schrift an Klarheit und Systematik gewonnen. Gemein hat sie mit der neu aufgefundenen Abhandlung, dass es beiden um eine Untersuchung des gegenwärtigen Zustands der Moral geht, bei der eigene Erfahrungen und Beobachtungen den Ausgangspunkt bilden. Es handelt sich in beiden Fällen weder um Mahn- noch um Moralschriften, sondern um eine kritische Reflexion der gegenwärtigen Verhältnisse. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Diez in seinen frühen Schriften nicht nur philosophisch bestens versiert ist; er stellt darüber hinaus immer wieder auch staatspolitische Bezüge her und zeigt sich dabei zugleich als profunder Kenner der deutschen Rechtsgeschichte.56 Bereits in jenen Anfängen, in denen Diez in Magdeburg innerhalb kurzer Zeit vom Referendar zum Kanzleidirektor aufstieg, reflektieren seine Texte ebenso ein Interesse am philosophischen Materialismus wie auch an sprach- und moralphilosophischen bzw. staatspolitischen Themen, wobei er mit seiner persönlichen Meinung keineswegs zurückhält und sich für eine freie Gesellschaft ohne religiöse Bevormundung und zensurpolitische Maßnahmen einsetzt. So unterstützte er, wie eingangs schon erwähnt, Christian Konrad Wilhelm Dohms in der Zeit höchst kont-

|| 53 Ebd., S. 119f. (Brief vom 5. Juni 1774). 54 Vgl. ebd., S. 138. 55 [Heinrich Friedrich Diez:] Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion. [Lemgo] 1773, S. 19 und S. 40f. 56 Vgl. Archiv Magdeburgischer Rechte. Hg. von Heinrich Friedrich Diez. 1. Bd. Magdeburg, Dessau 1781.

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roverses Plädoyer für die Bürgerrechte der Juden.57 Diese Parteinahme blieb nicht ohne Folgen, denn es war gerade die Empfehlung Dohms, die ihm kurz darauf zur Charge eines preußischen Gesandten in Konstantinopel verhalf.58 In voller Überzeugung von seiner Leistung für die preußische Außenpolitik schrieb er am 15. Mai 1790 an Dohm, dem er bis zum Lebensende eng verbunden blieb, dass er in Konstantinopel »gegen den Widerstand der ganzen Welt [...] den Frieden verhindert« und einen »Allianztract zu Stande gebracht« habe, wodurch er »Preußen und das Türkische Reich gerettet habe.« Allein das werde hinreichen, fügt er hinzu, »um meinen Namen in die Geschichte einzuschreiben«59 – was sich jedoch als ein Irrtum herausstellen sollte. Die diesem eigenmächtigen Vorgehen folgende vorzeitige Abberufung als preußischer Gesandter sollte zwar die politische Karriere von Diez schlagartig beenden, doch schuf der mehrjährige Aufenthalt in Konstantinopel die Voraussetzung dafür, dass er nach seiner Rückkehr mit den dort erworbenen Kenntnissen über die osmanische Literatur und Kultur zu einem in der Fachwelt zwar nicht unumstrittenen, aber dennoch heute immer noch namhaften Orientalisten werden konnte, den, um in den Bereich der Germanistik und Literaturwissenschaft zurückzukehren, Goethe in hohem Maße schätzte. Nachdem der an seinem West-östlichen Divan (1819) arbeitende Dichter am 23. Dezember 1816 ein Exemplar der Denkwürdigkeiten von Asien (2 Tle., 1811/15) von Diez erhalten hatte, antwortete er in seinem Dankesschreiben: »Die daraus gewonnene Belehrung ist uns unschätzbar und so konnt ich auch früher Ew. Hochwohlgeb. Arbeiten als Basis ansehen, worauf sich meine Kenntnisse des Orients gründeten, indem Genauigkeit und Sicherheit die köstlichen Eigenschaften Ihrer Werke sind.«60

|| 57 Vgl. [Rezension zu:] Über die bürgerliche Verbesserung der Juden von Christian Wilhelm Dohm. Erster Theil. Zweyte Ausgabe. Zweyter Theil. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, 59. Bd., 1. Stück, 1784, S. 19–43. 58 Vgl. dazu von Reiswitz: Diez, Heinrich Friedrich von (s. Anm. 49), S. 713. 59 Bislang unveröffentlichter Brief im Nachlass Christian Wilhelm von Dohm, Nr. 4, Korrespondenz mit Heinrich Friedrich von Diez, Bl. 77, Stadtarchiv Regensburg. Für die freundliche Auskunft danke ich dem dortigen Archivar, Herrn Günther Handel. 60 Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. IV, Bd. 26. Weimar 1902, S. 246.

Gideon Stiening

Die Anthropologie des Genies Anmerkungen zu Diezʼ Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773) Cʼest lʼœil dʼaigle des passions qui perce dans lʼabîme ténébreux de lʼavenir : lʼindifférence est née aveugle et stupide. Claude-Adrien Helvétius, De l’esprit, III.7

1 Zur Einführung: Diez als Autor des Sturm und Drang In seinem Essay Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen skizziert Heinrich Friedrich Diez eine allgemeine praktische Anthropologie, die zugleich die Möglichkeit implizieren soll, die ungewöhnlichen Befähigungen eines Genies zu erfassen. Diese Art ›besonderer Menschen‹ sollen sich nach Diez vor allem in moralischer Hinsicht dadurch auszeichnen, dass sie »ungemeine«, »ungewöhnliche« oder gar »bizarre« Entscheidungen treffen können »und dennoch der Natur der Dinge nicht« widersprechen. Wille und Handlung des Genies verbleiben folglich im Rahmen der Natur als Schöpfungsordnung bzw. als Inbegriff aller Erscheinungen, d.h. es bedient sich nicht der Referenz auf Wunder.1 Diezʼ Lehre von der praktischen Natur des Menschen, die ausdrücklich gegen die »Metaphysiker«, also gegen die Wolff-Schule, als eine rein empiristische Theorie verfasst sein sollte, musste mithin dergestalt konturiert werden, dass sie Ausnahmen vom Gewöhnlichen zuließ und zu erfassen erlaubte, ohne dabei auf Erklärungsmodelle zurückzugreifen, die den Gesetzen der Natur widersprachen. Diezʼ ambitionierte Beobachtungen erschienen im Jahre 1773 in Magdeburg und gehören damit einer Zeit an, die einen Typus von Intellektuellen hervorbrachte, der mit großer Energie und Leidenschaft nicht nur Neues schuf, sondern in diesem Schaffensdrang auch lustvoll provozierte.2 In diese mit Goethes Götz von Berlichingen populär werdende, der Sache nach schon früher entstehende Konjunktur des später so genannten Sturm und Drang sucht sich auch Diezʼ ›Anthropologie‹ mit || 1 Heinrich Friedrich Diez: Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773). In: ders.: Frühe Schriften. Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 65. 2 Siehe hierzu Matthias Luserke-Jaqui: Einleitung – Sturm und Drang. Genealogie einer literaturgeschichtlichen Periode. In: Handbuch Sturm und Drang. Hg. von dems. Berlin 2017, S. 1–8.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-009

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einigem Geschick einzuschreiben. So heißt es im Kapitel über »Die Leidenschaften« aufreizend lapidar: Und welchen Nuzzen hat man gestiftet, daß man seit undenklicher Zeit wider eine besondere Art der Wollust, ich meyne den ehelosen Beyschlaf gepredigt, daß man die Besiegung unkeuscher Triebe empfohlen hat? Welchen Schaden hat man im Gegentheil angerichtet, indem durch eine gewisse Heimlich- und Zurückhaltung der Alten die Jugend auf weit schädlichere Mißbräuche verfallen ist? Keine Erbsünde ist die Quelle dieser Verderbnisse, sondern aller Nachtheil entstehet in der Erziehung, aus dem Unterrichte und aus gewissen andern Umständen.3

Solcherart ›Exkulpation‹ des »ehelosen Beischlafs« mag für das 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit sein, für das Magdeburg der 1770er Jahre, selbst für das Europa dieser Zeit bedeuteten solche Sätze und die damit verbundenen Auffassungen einen veritablen Skandal. Ein Blick in eines der bedeutendsten Kompendien politischer Theorie, in Christian Wolffs Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, 1754 in erster Auflage und damit kaum 20 Jahre vor Diezʼ Anthropologie, erschienen, kann die Dimensionen der kritischen Haltung Diezens illustrieren. Bei Wolff heißt es nämlich zum »unehelichen Beyschlaf«: Da die Geburtsglieder von beydem Geschlechte das menschliche Geschlechte geschickt machen ihr Geschlechte fortzupflantzen, damit es nicht untergehe, und über dieses die Menschen wie die übrigen Thiere von Natur einen Trieb haben ihre Geburtsglieder dergestalt zu gebrauchen, wie Kinder zu erzeugen erfordert wird; so sind die Menschen überhaupt genommen ihr Geschlecht fortzupflanzen verbunden, und ein jeder von ihnen ist verbunden den Beyschlaf nicht anders als zur Erzeugung der Kinder zu begehren; folglich ist ein jeder Beyschlaf, der allein der Wollust wegen begehrt wird, und ein jeder Gebrauch der Geburtsglieder aus gleicher Absicht unerlaubt. Daher ist die Hurerey (fornicatio, seu scortatio), welches der Beyschlaf mit einer Hure ist, das ist, mit einer Weibsperson, welche sich mehreren gemein macht; der uneheliche Beyschlaf (stuprum), mit einer ledigen Weibsperson, die sich mehrern nicht gemein macht; die Sodomie (sodomia), der Beyschlaf eines Menschen mit einem Viehe; die Knabenschänderey (pæderastia) der Beyschlaf einer Mannsperson mit einer Mannsperson; die Onanssünde (masturpatio), da ein Mensch mit seinen eigenen Händen die Wollust mit sich selbst pflegt, durch das Gesetze der Natur verbothen; und also von Natur unerlaubt.4

Allein die Gleichstellung mit Sodomie und Päderastie macht die religiös, moralisch und rechtlich prekäre Stellung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs auch in der Hochaufklärung kenntlich.5 Diezʼ Ausführungen mussten also skandalös wirken.

|| 3 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 52. 4 Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worinnen alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigem Zusammenhange hergeleitet werden. Halle 1754, S. 627f. (§ 854). 5 Siehe hierzu die kulturgeschichtlichen Ausführungen bei Faramerz Dabhoiwala: Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution. Stuttgart 2014, S. 59ff.

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Zwar hebt der junge Autor die scheinbar moralische Indifferenz solchen »Beyschlafes« in der Folge auf, indem er zeigt, dass sexuelle Leidenschaften schon bei Kindern deshalb auftreten, weil sie einer falscher Erziehung ausgesetzt seien. Falsch bzw. unmoralich, d. h. hier ›böse‹ bleibt diese Wollust allemal. Sie ist nur den einzelnen jungen Frauen (weniger den Männern) nicht durch Erbsünde zuzuschreiben, sondern einer seit ›undenklicher Zeit‹ fehlerhaften Erziehung.6 Es gibt viele weitere, provozierende Passagen dieses eigentümlichen, offenkundig sorgsam verwilderten Textes, so wenn es anlässlich des physikotheologischen Gottesbeweises heißt: »Dies ist der beste Beweis; alle andere taugen nicht viel«,7 wobei deutlich genug gemacht wird, dass der beste Beweis keineswegs gut genug ist. Doch machen diese in ihrer stilistischen, rhetorischen und argumentationslogischen Außenseite erkennbaren Ungewöhnlichkeiten oder Provokationen des 22jährigen Autors nicht das eigentliche Skandalon des Textes aus; sie verstärken dieses lediglich. Die sprachliche Verfasstheit des Textes zeigt dem Leser vielmehr an, in welchen Kontext der Autor seine Schrift gestellt sehen möchte. Dieser Kontext ist allerdings nur unter erheblichen Problemen mit ›Freigeisterei‹ zu bezeichnen, und zwar weil für die hier ausgeführte praktische Anthropologie eine Gottesinstanz essentiell ist und bleibt: Es giebt einen GOtt, den Beherrscher der Welten, den Oberherrn aller lebenden Geschöpfe […] Es ist ein höheres Wesen, von ihm sind wir abhänglich: also sehen wir auf jener Seite Gesezze und auf dieser (unserer) Verbindlichkeiten.8

Zwar verweist die Betonung des einen Wesens auf einen subkutanen Sozianismus, aber auch diese frühe Aufklärungstheologie ist nicht als ›freigeistig‹ bzw. ›freidenkerisch‹ zu bezeichnen.9 Denn eine Referenz auf die Gottesinstanz als Verbindlichkeitsgarantie aller Normativität ist für jeden Freidenker ungewöhnlich,10 der – und || 6 Noch die Radikalaufklärer der Französischen Revolution versuchten vergeblich, die rechtliche Stellung der aus solch außerehelichem Verkehr hervorgegangenen illegitmes zu verbessern; vgl. hierzu u. a. Jonathan Israel: Die Französische Revolution. Ideen machen Politik. München 2017, S. 152f. 7 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 60, Anm. **. 8 Ebd., S. 38. 9 Siehe hierzu Sascha Salatowski: Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015. 10 An diesem materialen Kernstand der Bestimmung des Freidenkers bzw. des Libertins sollte – um den Begriff als historiographische Kategorie nicht vollends zu entleeren – festgehalten werden; die historistischen Versuche, den Begiff der Libertinage auf das formale Kriterium der Devianz zu reduzieren (vgl. hier Andreas Pietsch: Libertinage érudit, Dissimulation, Nikodemismus. Zur Erforschung gelehrter Devianz. In: Herbert Jaumann, Gideon Stiening (Hg.): Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 163–196), entziehen den Begriffen ihre Destinktionskraft und damit ihre historiographische Leistungsfähigkeit. In der ›Nacht

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das macht ihn in den Augen vieler Zeitgenossen so gefährlich – nach säkularen Modellen für normative Ordnungen suchte;11 eine säkulare Normativität postuliert die Argumentation dieses Textes aber keineswegs. Im Gegenteil wird die herausragende Stellung der Gottesinstanz für die Normativitätskonzeption dieser praktischen Anthropologie ausdrücklich und in Anbindung an die Tradition herausgestellt: Die Gesezze der moralischen Natur sind göttliche Gesezze. Eins ihrer Kennzeichen ist, daß wir die Mittel, selbigen Gehorsam zu leisten, in unserer Gewalt haben. Ein Beweis für die Weisheit und Billigkeit eines GOttes, daß er seinen Absichten die besten Mittel unterordnete, und uns nicht blosse Verbindlichkeiten auflegte, sondern uns dabey auch die Wege zeigte, jenen nachzukommen.12

Die unmittelbare Verbindung, die Identifizierung der natürlichen Gesetze, mithin des »reinen Naturrechts«, wie es Diez auch nennt,13 mit den Gesetzen Gottes gehört aber – bei allem Impetus des Innovativen, den Diez in diesem Text inszeniert – zur traditionellen Naturrechtslehre der Neuzeit.14 Schon Francisco Suárez nimmt diese Identifikation vor,15 ebenso Samuel von Pufendorf16 oder Christian Thomasius;17 und noch bei Christian Wolff heißt es: Da das Wesen und die Natur des Menschen und der Dinge von Gott ihren Ursprung haben, und man, bey deren Annehmung, sogleich das Gesetz der Natur und derselben Verbindlichkeit annehmen muß, so ist der Urheber des Gesetzes der Natur Gott selbst, der den Menschen verbin-

|| der Devianz‹ sind alle Katzen grau, der Freidenker oder Libertin hat sich aber von den normativen Zumutungen religiöser oder theologischer Ordnungen ›befreit‹. 11 Vgl. hierzu u. a. Jonathan Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Makung of Modernity 1650–1750. Oxford, New York 2001, S. 329ff. 12 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 73; Hvhg. von mir. 13 Ebd., S. 59. 14 Siehe hierzu u.a. Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 41962; Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1970; Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999; Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999; Sebastian Kaufmann: Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau. In: Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. 2 Bde. Berlin, New York 2008, Bd. 1, S. 229–292 15 Vgl. hierzu Francisco Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Liber II. / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch II. Hg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. 168 (II. 9. 2). 16 Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übersetzt von Klaus Luig. München 1994, S. 40 (I. 2. 6). 17 Christian Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völckerrechts. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 2003 [EA Halle 1709], S. 99 (I. 5. 33).

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det, seine Handlungen demselben gemäß einzurichten; und also ist die natürliche Verbindlichkeit auch eine göttliche; und das natürliche Gesetz ist auch ein göttliches.18

Doch nicht allein die Theorie der Verbindlichkeit natürlicher Gesetze, sondern auch die Erkenntnistheorie Diezens oder das Axiom eines appetitus societatis,19 den »der Ewige […] uns eingesenkt« habe,20 sind theonom verfasst, so dass das Prädikat des Freidenkers zumindest für diese frühe praktische Anthropologie auf Diez nicht anzuwenden ist.21 Der Kontext, aus dem heraus Diez 1773 denkt und in den zurück er schreibt, weil er an ihm partizipieren will, hat zwar Elemente der Freidenkerei an sich, setzt sich aber von diesem aufklärerischen Diskurs auch ausdrücklich kritisch ab.22 Dieser Kontext ist daher nicht in Paris, London oder Edinburgh situiert, sondern in Frankfurt und Straßburg, von woher nicht nur durch Johann Wolfgang Goethe, sondern vor allem durch Friedrich Heinrich Merck oder Johann Gottfried Herder Töne erklingen, die – im Sinne des Wortes – unerhört waren: laut, frech, selbstbewusst – aber eben keineswegs streng säkular.23 Der Sturm und Drang, jene intellektuelle Jugendbewegung zwischen 1770 und 1780,24 die sich – wie auch der frühe Diez – als soziopolitisch sensibel und kritisch verstand, und in diesem Sinne publizistisch in die Wirklichkeit eingreifen wollte, war offenbar schon in den frühen 1770er Jahren in Magdeburg und in Halle angekommen, denn Diezʼ Schrift ist in ihrer sprachlichen Form und ihrem philosophisch-theologischen Gehalt als Anthropologie ein beredtes Zeugnis dieser Tendenz. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang an einem seiner zentralen Gehalte, der aus einer praktischen, also den handelnden Menschen betrachtenden Anthropologie entwickelten Genietheorie.25 Weil aber diese Theorie des ungewöhnlichen Individuums aus einer allgemeinen Anthropologie abgeleitet

|| 18 Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (s. Anm. 4), S. 27 (§ 41). 19 Zu Geschichte und systematischer Bedeutung eines Geselligkeitstriebes für die politische Theorie der Neuzeit vgl. Gideon Stiening: Appetitus societatis seu libertas. Zu einem Dogma politischer Anthropologie zwischen Suárez, Grotius und Hobbes. In: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann u. Gideon Stiening. Berlin, Boston 2016, S. 389–436. 20 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 73. 21 Siehe hierzu u. a. Dietrich Schotte: Die Entmachtung Gottes durch den Leviathan. Thomas Hobbes über Religion. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. 22 Vgl. hierzu u. a. Ulrich Karthaus: Sturm und Drang. Epoche – Werke – Wirkung. München 2000, S. 35ff. 23 Vgl. hierzu u. a. Albrecht Beutel: Religionsgeschichte. In: Handbuch Sturm und Drang. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui. Berlin 2017, S. 45–50. 24 Vgl. hierzu auch Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 2010. 25 Zum ideen- und literargeschichtlichen Kontext der folgenden Ausführungen vgl. u. a. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 21988, Bd. 1, S. 69ff. sowie Georg Michael Schulz: Genieästhetik. In: Handbuch Sturm und Drang. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui. Berlin 2017, S. 61–64.

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wird, müssen zunächst die Konturen der diezschen Lehre vom Menschen nachgezeichnet werden.

2 Diezʼ Beobachtungen als praktische ›Anthropologie‹ Der sich schon in seinem Titel »Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen« an die Sprachkonventionen und Methoden des britischen Empirismus anlehnende Text26 ist in sechs Abschnitte gegliedert. Schon die essayistische Ordnung,27 die sich von der Paragraphenanordnungen wolffianischer Lehrbücher abgrenzt, weil in ihr kein dogmatisches, d. h. hier rational bewiesenes Wissen, sondern mehr tentative Beobachtungen, Erfahrungen und Überlegungen ausgeführt werden sollen, macht das Nachweisziel offenkundig; sie lautet nämlich: 1. Was es heisse, den Menschen betrachten (S. 28–33)28 2. Die moralische Natur des Menschen (S. 33–38) 3. Die Leidenschaften (S. 39–59) 4. Die denkenden Kräfte (S. 59–71) 5. Das sittliche Gefühl (S. 71–88) 6. Die Naturtriebe (S. 88f.) 7. Gedanken über diese Schrift (S. 89–92) Entfaltet wird mithin eine in der Zeit beliebte Anthropologie als Lehre von der Natur des Menschen, die in diesem Falle nicht auf den erkennenden, sondern auf den handelnden Menschen fokussiert ist. Anthropologien haben seit dem späten 17. Jahrhundert große Konjunktur,29 weil sie auf der Grundlage neuerer empirischer || 26 Vgl. hierzu u.a: David Hartley: Observation on Man, his frame and his duty and his Expectations. London 1749 (dt. 1772); zu einem Überblick über die deutsche Rezeption britischer Philosophie vgl. Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008. 27 Zu deren Bedeutung für die deutschsprachige Aufklärung nach 1750 vgl. u. a. Gideon Stiening: Von der empirischen zur fiktiven Genese. Anmerkungen zur Argumentationsmethode in Lessings Laokoon. In: Unordentliche Collectanea: Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Hg. von Jörg Robert u. Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2013, S. 113–128 sowie Nina Hahne: Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis im Zeitalter der Aufklärung. Berlin, Boston 2015. 28 Die angegebenen Seitenzahlen richten sich nach der Ausgabe Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1). 29 Zur frühneuzeitlichen Vorgeschichte dieser Aufklärungssanthropologien vgl. Gideon Stiening: Verweltlichung der Anthropologie im 17. Jahrhundert? Von Casmann und Magirus bis Descartes und Hobbes. In: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christ-

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Forschungen über den menschlichen Körper sowie über die verschiedenen menschlichen Kulturen Rückschlüsse zu ziehen versuchen auf die allgemeine Natur des Menschen.30 Ab der Mitte des Jahrhunderts setzt sich diese in England, Schottland und Frankreich entworfene und weiterentwickelte Konjunktur zur empirischen Anthropologie auch in den deutschsprachigen Wissenschaften allmählich durch.31 Dass dieses zunächst innertheoretische Programm im Rahmen einer aristokratischen Kultur auch Durchsetzungsschwierigkeiten haben konnte und musste, ist der neuesten Biographie Maria Theresias anschaulich zu entnehmen, weil hier präzise das aristokratische Verständnis einer Sonderanthropologie herausarbeitet wird, also einer Natur des Menschen, die eben nicht jeden Menschen gleich macht.32 Diez wird hieran in ganz eigenwilliger Weise anschließen. Philosophische Anthropologien des 17. und 18. Jahrhunderts betonen aber eben dies: Die durch Natur erwirkte allgemeine Gleichheit und Freiheit des Menschen.33 In der deutschsprachigen Philosophie kommt diese anthropologische Mode verspätet an, und zwar zaghaft in den 1750er,34 dann aber gehaltvoll und einflussreich in den 1770er Jahren, die im Anschluss an Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und || licher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Hg. von Lutz Danneberg, Sandra Pott, Jörg Schönert u. Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2002, S. 174–218. 30 Aaron Garrett: Human nature. In: The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Bd. 1. Hg. von Knud Haakonssen. Cambridge 2006, Bd. 1, S. 160–233. 31 Vgl. hierzu u.a. Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994; Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 6. Sonderheft 1994, S. 93–157; Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin, New York 1996; Jan Rachold: Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Eine Studie zur Philosophie der deutschen Aufklärung (Wolff, Abbt, Feder, Meiners, Weishaupt). Berlin, New York u.a. 1999; Wolfgang Proß: Nachwort: ›Natur‹ und ›Geschichte‹ in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. III.1. Darmstadt 2002, S. 833–1041; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003; Stefan Borcher: Die Erzeugung des ganzen Menschen. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin, Boston 2011; sowie Stefan Hermes, Sebastian Kaufmann (Hg): Der ganze Mensch – Die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800. Berlin, Boston 2014. 32 Siehe hierzu Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Therersia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie. München 42017, spez. S. 247ff. 33 Vgl. hierzu u. a. Matthias Löwe: Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Anthropologie im späten 18. Jahrhundert. Berlin, Boston 2012. 34 Siehe hierzu Carsten Zelle: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001 sowie Gideon Stiening: Zwischen System und Experiment. Johann Gottlob Krügers Versuch einer ExperimentalSeelenlehre. In: Quaestio. Yearbook of the History of Metaphysics 16 (2016), S. 119–146.

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Weltweise aus dem Jahre 1772 einen Boom an Anthropologien erlebt.35 Allerdings hatte es die Anthropologie als Grundlagenwissenschaft, aus der alle anderen Bereiche des wissenschaftlichen Wissens abgeleitet werden sollten,36 in der deutschsprachigen Universitäts- und Kulturlandschaft schwer in der Durchsetzung, weil sie schon in ihren britischen und französischen Ausprägungen empirische Wissenschaften waren, also auf Beobachtung, Erfahrung und/oder Experimenten basierten, und zwar in einer Weise, die – wie beispielsweise in Humes Treatise of human nature – mit Nachdruck klarstellte, dass es überhaupt kein anderes als empirisch generiertes, sicheres Wissen geben könne.37 Das Gros der empirischen Anthropologien stand mithin – zumindest im Selbstverständnis – fest auf dem Boden empiristischer Epistemologien und Methodologien in der Nachfolge Lockes. Solcher Empirismus hatte es aber in den durch Gottfried Wilhelm Leibnizʼ und Christian Wolffs Rationalismus seit den 1730er Jahren beherrschten universitären und außeruniversitären Wissenschaftslandschaften ausnehmend schwer.38 Empirisches Wissen galt – ganz zu Recht – als zufällig und damit nur bedingt als wissenschaftsfähig.39 Eine empirische Anthropologie konnte somit apriori nicht als Grundlagenwissenschaft dienen, die einzig von der Logik und Metaphysik bzw. einer allgemeinen praktischen Philosophie zu erbringen war. Diese epistemische Lage ändert sich allerdings ab den 1760er Jahren zugunsten einer produktiven Rezeption des englischen Empirismus und des französischen Sensualismus, und der 22-jährige Heinrich Friedrich Diez scheint an dieser philosophischen ›Reformation‹ teilhaben zu wollen. Ausdrücklich ruft er die Kontroverse zwischen rationalistischer Philosophie und empiristischer Anthropologie auf, wenn er nicht nur festhält, dass der ›ganze Mensch nur auf Beobachtung beruhe‹, sondern Freiheit bei der Betrachtung des Menschen als Freiheit vom Zwang rationalistischer Prämissen interpretiert:

|| 35 Vgl. hierzu Gideon Stiening: Platners Aufklärung. Das Theorem der angeborenen Ideen zwischen Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik. In: Aufklärung 19 (2007), S. 105–138. 36 Vgl. hierzu u. a. Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall (s. Anm. 31), S. 50ff. 37 Siehe hieru u. a. Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophischen Schemas. Paderborn 1996. 38 Dass er verhindert worden wäre, wie dies Kurt Röttgers in seinem berühmten Aufsatz behauptete (vgl. Kurt Röttgers: J. G. H. Feder – Beitrag zu einer Verhinderungsgeschichte eines deutschen Empirismus. In: Kant-Studien 75 [1984], S. 420–441), ist allerdings als unzutreffend zu bezeichnen; vgl. hierzu Gideon Stiening u. Udo Thiel: Einleitung: Johann Nikolaus Tetens und die Tradition des europäischen Empirismus. In: Johann Nikolaus Tetens (1736–1807). Philosophie in der Tradition des Europäischen Empirismus. Hg. von dens. Berlin, Boston 2014, S. 13–24. 39 Was im Übrigen nicht heißt, dass nicht auch Wolff Experimente betrieben hätte; vgl. hierzu u. a. Tanja van Hoorn u. Yvonne Wübben (Hg.): »Allerhand nützliche Versuche«. Empirische Wissenskultur in Halle und Göttingen (1720–1750). Hannover 2009.

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Ohne Zweifel würden wir hier [d. i. auf den Feldern der Anthropologie] eine bessere Anbauung vor uns sehen, wenn nicht jene Mode zu herrschen angefangen, die den Geist durch Zwang beschränkte, ich meyne, die gepriesene und vor kurzer Zeit angebetete Methode, welche man blindlings auf die Bearbeitung aller Wissenschaften und Kenntnisse übertragen wollte. Durch sie wurden Systeme aus lauter unumstößlichen Gründen (deren Anzahl in diesem Leben doch immer nur sehr geringe seyn kann) zusammengesezt, und diese waren Fesseln, die durch ihre blendende Kraft, ausser dem Gängelwagen freye Blicke zu werfen, verhinderten. Denn ein Geist, der frey denken und erfinden soll, muß von Sklaverey entbunden seyn: grober Zwang verdunkelt sein Licht und macht seine Schärfe stumpf. Nirgends aber ist Freyheit nötiger als in der höhern Betrachtung des Menschen.40

Diese Kritik am wolffschen Rationalismus und dessen oberstem Prinzip, dem principium rationis sufficientis,41 dokumentiert jene spezifische Mischung aus Empirismus und Sturm und Drang, die bestimmte intellektuelle Felder der 1770er Jahre in Philosophie, Theologie und den Künsten nachhaltig prägten.42 Denn man kann – wie dies Hume vorführte – die rationalistische Metaphysik als höhere Geistesverirrung bezeichnen und anempfehlen, deren Produkte zu verbrennen.43 Aber das nihil sine ratione, die durchgängig rationale Bestimmbarkeit des Seins als »Sklaverey des Geistes« zu bestimmen, bedarf weiterer als nur empiristischer Prämissen; diese Kritik bedarf zu ihrer Voraussetzung der Annahme, dass es ein Denken, ein Wissen oder gar ein Handeln geben könne, das allererst durch die Lösung von den Schranken einer rationalen, Wahrheitsgewissheit garantierenden Methode zu sich selber käme; es bedarf einer Epistemologie und Ethik der Grenzüberschreitung, die schon von Johann Georg Hamann als »Freiheit des Denkens«, d.h. die des Genies bezeichnet wurde.44 Diez stellt seinen Text also neben der Referenz auf den Sturm und Drang ausdrücklich auch in die seit Johann Georg Heinrich Feder, Christoph Meiners und Ernst Platner in der deutschsprachigen Philosophie beförderte Konzeption einer

|| 40 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 28. 41 Zu Geschichte und Bedeutung diese Prinzips für den Wolffianismus vgl. Gideon Stiening: »Ein jedes Ding muß seinen Grund haben«? Eberhards Version des Satzes vom zureichenden Grunde im Kontext der zeitgenössischen Kontroverse um das principium rationis sufficientis. In: Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Hg. von Hans-Joachim Kertscher u. Ernst Stöckmann. Berlin, Boston 2012, S. 7–42. 42 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: »Die Nerven deines Schönheitsgefühls.« Hißmann als materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Drang. In: Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hg. von Heiner F. Klemme, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich. Berlin 2013, S. 253–276. 43 Vgl. hierzu David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Kommentar von Lambert Wiesing. Frankfurt a. M. 2007, S. 205. 44 Vgl. Johann Georg Hamann: Wolken. Ein Nachspiel Sokratischer Denkwürdigkeiten. In: ders.: Sämtliche Werke. 6 Bde. Hg. von Joseph Nadler. Wien 1949–1957, hier Bd. 3, S. 83–109, hier S. 94.

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empiristischen Anthropologie.45 Allerdings impliziert dieser prätendierte Empirismus – wie schon bei Sulzer, Platner oder Feder – keineswegs, dass sich diese Autoren von allen rationalistischen Vorgaben oder Angeboten verabschiedet hätten.46 Zwar wird bei Diez der Satz des zureichenden Grundes, an dem Feder und Platner streng festhalten, in seinem Geltungsumfang begrenzt,47 um dem beobachtenden Geist hinreichende Freiheit zu gewähren. Gleichwohl werden gewichtige Begriffe des Rationalismus unausgewiesen aufgerufen und produktiv verwendet; so heißt es im Abschnitt »Über die moralische Natur des Menschen«: Die Natur eines Dinges ist der Inbegriff aller seiner innern Bestimmungen, die den Grund der in ihm vorfallenden Veränderungen enthalten.48

Diese Definition ist – wie viele andere Passagen – ein unausgewiesenes Zitat, und zwar aus einer Schrift seines Hallenser Lehrers für Philosophie, des in den 1750 und 1760er Jahren berühmten Wolffs-Schülers Georg Friedrich Meier.49 Der Hallenser Rationalist schreibt nämlich in seiner Metaphysik: [W]ir wollen also durch die Natur eines Dinges den Inbegriff aller derjenigen innerlichen Bestimmungen derselben verstehen, welche den Grund seiner würklichen Veränderungen, (oder den Grund der Würklichkeit seiner Accidenzen, und seiner Würkungen und Folgen), in sich enthalten.50

Diezʼ Definition der »Natur eines Dinges« ist erkennbar eine wortwörtliche Adaptation der meierschen Metaphysik, wobei auf einige Momente metaphysischer Termi-

|| 45 Siehe hierzu auch Gideon Stiening: »Ganzer Mensch« statt »reiner Vernunft«. Feders Zeitschriftenprojekt Philosophische Bibliothek und seine Rezension der Kritik der praktischen Vernunft. In: Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth u. Gideon Stiening. Berlin, Boston 2018, S. 209–234. 46 Siehe hierzu u.a. Marti Bondeli: Reinholds Auseinandersetzung mit Platners Bemerkungen zur Geschichte des Seelenbegriffs. In: Aufklärung 19 (2007), S. 327–342; Werner Euler: Die Idee des Schönen in Sulzers allgemeiner Theorie des Vergnügens. In: Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Hg. von Frank Grunert u. Gideon Stiening. Berlin 2011, S. 101–133. 47 In diesem Unterfangen der Begrenzung des Geltungsumfangs des principium rationis sufficientis steht Diez in der antirationalistischen Tradition seit Crusius, der allerdings den Satz vom zureichenden Grund einschränkte, um für den Glauben Platz zu machen; ab 1781 wird Kant versuchen, den Satz vom zureichenden Grund auf den Bereich möglicher Erfahrungen zu begrenzen, um jedem rationalistischen Dogmatismus Einhalt zu gebieten; für Diez geht es bei diesem Argument einzig darum, dem Genie jene Freiheit zu gewähren, die als Bedingung der Möglichkeit ungewöhnlicher Handlungen behauptet worden war. 48 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 36. 49 Zu Meier vgl. u. a. Frank Grunert u. Gideon Stiening (Hg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Berlin, Boston 2015. 50 Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Bde. Halle 1765, Bd. 2, S. 198f. (§ 396)

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nologie verzichtet wird. Doch der Sache nach ist Diezens Definition der Natur eines Dinges reinste Metaphysik meierscher Prägung, die eine ausnehmend eigenständige, gleichwohl rationalistische Variante einer Metaphysik als Grundlagenwissenschaft bietet.51 Diezʼ beißende Polemiken gegen die Metaphysik im Allgemeinen bzw. »die Metaphysiker«52 müssen vor dem Hintergrund dieses Befundes mit großer Vorsicht behandelt werden – auch für eine Interpretation seiner Anthropologie. Denn ein nur prätendierter Empirismus muss insbesondere im Hinblick auf den Anspruch normativer Ordnung im Rahmen einer Lehre von der praktischen Natur des Menschen auf verdeckte oder unreflektierte rationale Prämissen untersucht werden. Mit dieser eigentümlichen, zumeist unreflektierten Referenz auf konstitutive rationalistische Grundlagen steht Diez aber nicht allein; die meisten deutschsprachigen Anthropologen dieses Zeitraums zwischen 1760 und 1781 bewegen sich in einer empirio-rationalistischen Gemengelage,53 aus der sie zwar keinen rechten Ausgang finden, die aber eine enorme Produktivität freisetzt.54 Und dieser Befund gilt nicht nur – wie bei einem Blick auf Lessing, Wieland oder auch Georg Forster zu ersehen – für die Philosophie.55 Diez partizipiert folglich, neben seinem Versuch, an der entstehenden Bewegung des Sturm und Drang teilzuhaben, an eben jener komplexen, in sich widersprüchlichen Konjunktur des Anthropologischen; beide intellektuellen ›Bewegungen‹ weisen nicht zufällig eine Reihe von sachlichen Überschneidungen auf.56 Erkennbar ist der diezsche Partizipationsversuch schon allein am Aufrufen einer der zentralen Formeln dieser Theoriebewegung: »der ganze Mensch«, den auch der junge Magdeburger Anthropologe zum Gegenstand seiner Forschungen machen will.57 Nach seiner oben skizzierten allgemeinen Einführung in die Methoden und Ziele einer empirischen Anthropologie zeichnet Diez denn auch die Grundzüge einer

|| 51 Vgl. hierzu u.a. Giuseppe Motta: Meiers transzendentale Definition einer Ontologie der Zufälligkeit. In: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Hg. von Frank Grunert u. Gideon Stiening. Berlin, Boston 2015, S. 99–111. 52 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 33, Anm. *. 53 Falk Wunderlich nennt diese Konstellation in Bezug auf Platner zu Recht einen »spekulativen Empirismus« (Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 82). 54 Vgl. hierzu u.a. Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), S. 58–79; ders.: Physiologische Psychologie des Selbstbewusstseins zwischen Wolff und Kant. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2014), S. 963–983. 55 Siehe hierzu u.a. Gideon Stiening: »Meine Begriffe von der menschlichen Natur«. Wielands Epistemologie und Anthropologie in Was ist Wahrheit? und in der Geschichte des Agathon (1766/67). In: Wieland-Studien 7 (2012), S. 75–104. 56 Vgl. hierzu u.a. Gideon Stiening: Ästhetik- und Philosophiegeschichte. In: Handbuch Sturm und Drang. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui. Berlin 2017, S. 31–38. 57 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 29.

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Theorie der moralischen Natur des Menschen. Zu den Prämissen dieser Beschäftigung mit dem handelnden Menschen gehört die unaufhebbare Verbindung der zugleich getrennt bleibenden sinnlichen und geistigen Kräfte des homo agens: Die Seelenkräfte an sich und die Vermischung des Geistigen mit dem Sinnlichen sind der Gegenstand des Menschen. Vorurtheilslos müssen wir behaupten, daß in allen unsern Handlungen das Sinnliche und Intellektuelle jederzeit gepaaret sind, blos mit dem Unterschiede, daß hier Sinnlichkeit die Oberhand hat, dort aber der Geist am meisten arbeitet. Eben so gewiß ist es, daß nie etwas Moralisches gedacht werden kann, bey welchem gar kein Zusatz vom Sinnlichen wäre.58

Dieses Argument ist eine der entscheidenden Voraussetzung für diese Form praktischer Anthropologie, denn es ist ein Abgesang auf jede Form rein rationaler Moralität, also eines tugendhaften Verhaltens, das gerade in der Abkehr von der Sinnlichkeit bestünde. Denn ohne Sinnlichkeit, d.h. aber auch ohne Körperlichkeit überhaupt gibt es nach Diez keine Moral. Auch diese grundsätzliche Bindung der Seele an den Körper, die – wie für die gesamte Anthropologie – für Diez im Zusammenhang der Unsterblichkeitsüberzeugung zum Problem wird, weil die Seele nur dann Seele ist, wenn sie einen Körper hat, dieser im Tode jedoch vergeht, entspringt den Debatten der Zeit, innerhalb derer schon bei Leibniz, Wolff und Baumgarten die Seele als erkennende nicht ohne Körper gedacht werden können sollte. Allerdings begreift Diez unter dieser Formel vom commercium mentis et corporis eine bestimmte Variante: Geht es den Fundamentalanthropologien der 1770er Jahre vor allem um den aus Körper und Seele zusammengesetzten »ganzen Menschen«,59 so zielt Diezʼ Argumentation auf den aus Leidenschaften und Vernunft bestehenden Menschen. Es geht ihm nicht um die Frage, wie das menschliche Gehirn und der Verstand verbunden sind, sondern darum, wie Affekte und Vernunft das menschliche Handeln motivieren oder gar steuern. Da Leidenschaften aber als zumeist körperlich induzierte Willens- und Handlungsmotive galten, ist Diezens Frage als praktische Seite der anthropologischen Grundfrage nach dem commercium mentis et corporis zu beurteilen. Dabei zielt er vor allem darauf ab, das stoische bzw. rationalistische oder auch tugendempfindsame Joch einer Unterdrückung der Leidenschaften für ein moralisch integres Leben abzuwehren: Über dem Wesen der Leidenschaften haben sich alle Männer, die abstrahiren konnten und wollten, müde geschrieben und müde gedacht und noch täglich werden die köstlichen Lehren wiederholt. Mensch überwinde deine Leidenschaften; der Sieg über eine einzige derselben ist hö-

|| 58 Ebd., S. 35. 59 Vgl. hierzu insbesondere Werner Euler: Die Suche nach dem »Seelenorgan« – Kants philosophische Analyse einer anatomischen Entdeckung Soemmerrings. In: Kant-Studien 93 (2002), S. 453– 480; ders.: Commercium mentis et corporis? Ernst Platners medizinische Anthropologie in der Kritik von Marcus Herz und Immanuel Kant. In: Aufklärung 19 (2007), S. 21–68.

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her zu schäzzen als die Eroberung eines ganzen Königreichs. Dieser hochtrabende Lehrsaz sezt die speculativen Philosophen in tiefsinnige Demonstrationen, bey welchen das Fleisch keine Anfechtungen leidet; von ihm strozzen die Moralisten und die Schmarozzer der Andacht […]. Bey diesem Gegenstande wollen alle Menschen Lehrer werden. Allein es ist doch wunderbar, daß alle Grundsäzze, die auf die Besiegung der Leidenschaften gerichtet sind, nicht den geringsten Eindruk machen wollen […] der gepriesene Sieg über Leidenschaften ist eine Chimäre.60

Diese epikureische bzw. naturalistische Apologie der Leidenschaften, die statt auf eine als unmöglich behauptete Unterdrückung auf eine Kultivierung der Affekte setzt und dabei – bei aller theonomen Verbindlichkeitskonzeption – auf eine saftige Kirchenkritik (»Schmarozzer der Andacht«) nicht verzichtet, steht im Kontext materialistischer Ethiken des späten 18. Jahrhunderts,61 die u. a. in Claude-Adrien Helvétius einen ihrer europaweit bekanntesten Vertreter hatte.62 Auch für Helvétius ging es schon in De lʼesprit von 1759 darum, die ›Macht der menschlichen Leidenschaften‹ als entscheidenden Handlungsantrieb des Menschen und daher als wirksames Movens des zivilisatorischen Fortschritts zu erkennen. Schon Helvétiusʼ Argumentation zielte folglich darauf ab, alle Versuche einer Unterdrückung der menschlichen Affekte für ebenso vergeblich wie verwerflich zu beurteilen: Les passions sont, dans le moral, ce que, dans le physique, est le mouvement; il crée, anéantit, conserve, anime tout, et sans lui tout est mort: ce sont elles aussi qui vivifient le monde moral.63

Wenn folglich die Leidenschaften das belebende Prinzip in der moralischen Welt sind, derjenigen Welt mithin, die durch freie Handlungen vernünftiger Wesen konstituiert wird und ohne die folglich »alles tot« wäre, dann kann das normative Prinzip des menschlichen Wollens und Handelns nicht in der Unterdrückung der Affekte bestehen. Diez hält vor diesem Hintergrund »alle Grundsäzze, die auf die Besiegung der Leidenschaften gerichtet sind«,64 für grundlegend verfehlt, und zwar nicht allein, weil sie erkennbar wirkungslos sind, sondern weil alle Leidenschaften – weit enfernt davon, der moralischen Gesinnung des Menschen entgegen zu stehen – »in der sittlichen Natur ihren Grund« haben.65 Um diese gleichsam moralisch-praktische Substanz aller Leidenschaften in deren Befähigung der Motivation des Menschen zu

|| 60 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 39. 61 Vgl. hierzu u.a. Kurt Bayertz: Art. Ethik/Moral. In: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Stuttgart, Weimar 2015, S. 181–192, spez. S. 187. 62 Siehe hierzu u. a. Günter Menschling: Art. Claude-Adrien Helvétius. In: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts 2: Frankreich. 2 Bde. Hg. von Johannes Rohbeck u. Helmut Holzhey. Basel 2008, Bd. 1, S. 547–558. 63 Vgl. hierzu Claude-Adrien Helvétius: De lʼesprit. Texte édité, présenté et annoté par Jonas Steffen [Œuvres complètes. Tome 1]. Paris 2016, S. 238. 64 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 39. 65 Ebd., S. 40; Hvhg. von mir.

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ethischem Handeln zu begründen, zieht Diez eine klare Grenze zwischen schlechten Gewohnheiten (wie ›Saufen‹ und ›Rauchen‹) und substanziellen Affekten, welche letztere allererst zu den »ungesuchten heftigen Beweggründen zum Handeln und Leiden« erhoben werden.66 Wenn die Seele folglich nicht ohne Körper, die praktische Geistigkeit, also die Moralität nicht ohne Sinnlichkeit sein kann, dann – so der Umkehrschluss – sind die Leidenschaften nicht nur nicht durch Unterdrückung aus der moralischen Gesinnung zu verbannen, sondern sie sind – sie waren es immer schon und werden es immer sein – Teil bzw. gewichtiges Movens aller Moralität. Dabei besteht der entscheidende Unterschied zur britischen moral-senseKonzeption darin,67 dass Diez nicht ein Gefühl, sondern Affekte zum Movens moralischen Handelns erhebt, und diese auf egoistische Handlungsmotivationen eingrenzt. Er entwirft damit jenen moralischen Egoismus, der ihn erneut in die Nähe zu Helvétius bringt.68 Damit ist der Autor schon beinahe am eigentlichen Ziel seiner Argumentation: Nicht nur kann er vor diesem Hintergrund gut begründen, dass, warum und in welcher Weise es so etwas wie eine moralische Schönheit oder schöne Moralität gibt, weil sich moralische Gesinnung je schon an und in Sinnlichkeit realisiert. Vor allem kann er eine Affektenlehre entwerfen, die nicht durch deren Unterdrückung gekennzeichnet ist, sondern durch deren theoretische Analyse und praktische Kultivierung. Diese Ableitung klingt allerdings epikureischer als sie ist; geht es doch – wie die Genietheorie zeigen wird – nicht um Beherrschung der Affekte durch Kultivierung, sondern um ›legitime Enthemmung‹ als »Emanzipation der Leidenschaften«.69 Zunächst entwirft Diez zu diesem entscheidenden Zweck der Abhandlung eine Topologie der zentralen menschlichen Affekte, die seiner Ansicht nach wie folgt aufgebaut ist: 1. Eigennuzz 2. Wollust 3. Ehrgeiz70 Jedem halbwegs bewanderten Kenner der praktischen Anthropologie im 18. Jahrhundert musste auffallen, dass in diesem Katalog jede Form sozialer Affekte fehlt – || 66 Ebd., S. 41. 67 Siehe hierzu u. a. Dario Perinetti: The Nature of Virtue. In: James A. Harris: The Oxford Handbook of British Philosophy in the Eighteenth Century. Oxford 2013, S. 333–367. 68 Tatsächlich wird Helvétiusʼ Philosophie in den 1760er und 1770er Jahren in Deutschland intensiv und kontrovers rezipiert, vgl. hierzu Roland Krebs: Helvétius en Allemagne ou la Tentation du Matérialisme. Paris 2006; Krebs führt allerdings Diez nicht auf. 69 Siehe hierzu Luserke: Sturm und Drang (s. Anm. 24), S. 93. 70 Vgl. Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 41ff.

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sei es der familiäre Altruismus, das allgemeinmenschliche Mitleid oder die umfassende Liebe bzw. Sympathie. Wie Helvétius aber erkennt Diez ausschließlich solche Emotionen als Leidenschaften an, die auf die je eigene Person und deren Nutzen ausgerichtet sind. Auch für Diez wie für Helvétius kann es aussschließlich einen affektuösen Egoismus geben.71 Diez führt zugleich spezifische Differenzierungen ein, die verdeutlichen, dass er in den Standardwerken der anthropologischen Debatten des mittleren 18. Jahrhunderts, so den Texten Helvetiusʼ oder auch Feders, durchaus bewandert ist. Er definiert nämlich – wie schon angedeutet – die benannten Zentralleidenschaften wie folgt: Leidenschaften haben in der sittlichen Natur ihren Grund. [...] Leidenschaften sind die ungesuchten heftigen Beweggründe zum Handeln und Leiden. Sie dringen sich uns auf, wenn sie gleich dunkel sind.72

Von diesen affekuösen Beweggründen des menschlichen Handelns unterscheidet Diez präzise die Pflichten des Herzen, Freude und Mitleiden, sowie die Gewohnheiten, denen beiden er die eigentümliche Substanz der Leidenschaften abspricht. Entscheidend ist, dass alle drei zentralen Leidenschaften, als letztlich unverfügbare Motivationsgründe zu einem egoistischen Handeln nicht nur von ihren Verzerrungen deutlich unterschieden werden können, die sie zu Motiven für böses als unmoralisches Handeln machen, sondern auch quantifizierbar sind, womit endlich die Grundlagen für Diezens Theorie des Genies gelegt sind.

3 Theorie des Genies Diez macht nämlich von Beginn der Abhandlung klar, dass es ihm vor allem um die Legitimation der Handlungen von Genies zu tun ist, die ihrem Wesen nach nicht etwa durch Einhaltung oder Verteidigung normativer Ordnungen, sondern durch normative Devianz gekennzeichnet sind.73 Schon im Abschnitt über die moralische Natur des Menschen heißt es:

|| 71 Siehe hierzu auch Helevétius: De l’esprit (s. Anm. 63), S. 253ff. 72 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 40f. 73 Daher zeigt der Blick auf Diez und über diesen hinaus auf Helvétius, dass im Geniegedanken keineswegs nur möglich, sondern notwendig ein ethisches Problem enthalten ist, weil das besondere, normenaufhebende Individuum notwendig besondere Normen für sich in Anspruch nehmen muss und von anderen zugesprochen erhält, weil nur in diesem ›normativen Ausnahmezustand‹ auch seine ästhetische Produktivität wirken kann; insofern ist Schmidt: Geniegedanken (s. Anm. 25), I, S. 319ff. zu widersprechen, weil er diese ethische Debatte als gegenüber den ästhetischen Dimension der Genies lediglich kontingente Außenseite bestimmt.

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Die Geschichten lehren uns und die heutige Erfahrung bewährt ihre Nachricht, daß große Genies jederzeit mit unordentlichen Neigungen und rasenden Leidenschaften behaftet gewesen sind. Ungewöhnliche Geister sind Stüzzen des Menschlichen Wohls; sie gelangen dazu durch ihre ungemeine Unternehmungen, deren untergeordneter Mittel ihre Neigungen sind und die Leidenschaften sollten nicht zum Gehalt der moralischen Natur gehören, da ohne sie des Menschen Hand nichts schaffen könnte, welches Bewunderung und Erstaunen würkte?74

Mit diesem Argument wird allererst ersichtlich, warum Diez die menschlichen Leidenschaften moralisch nobilitieren musste, weil sie nämlich die entscheidenden Antriebe genialen Handelns ausmachen, gegenüber denen die »Verstandesleistungen« Instrumente der Mittelmäßigkeit bleiben.75 Darüber hinaus muss Diez diese von »ungesuchten heftigen Bewegründen zum Handeln« beherrschte besondere Menschennatur nobilitieren, weil nach seiner Ansicht – und auch hiermit steht er im mainstream der zahllosen Geniebestimmungen der 1770er Jahre von Feder und Platner über Gerard bis Abel76 – nur der ›besondere Mensch‹ die Menschheit in ihrer geschichtlichen Entwicklung voranbringen kann: Ausserordentliche Menschen, deren Seele übermäßig denkt, werden für Zeiten gebohren, wo einem grossen Teil der Welt eine andere Richtung gegeben werden soll. […] Diese sind die periodischen Menschen, von deren Leben und Tode neue Jahresrechnungen angefangen werden.77

Dieser Geniebegriff ist zum einen erneut eng an Helvétiusʼ Überlegungen zum génie angebunden, weil auch der französische Naturalist das Genie dadurch bestimmte, dass die Produkte seines Handelns in der Lage seien, „faire époque“;78 zum anderen ist wie ebenfalls bei Helvétius dieser Begriff nicht auf das künstlerische Genie beschränkt.79 Diez erwähnt neben Luther und Calvin auch Leibniz und Newton oder Alexander und Catilina.80 Dieser erweiterte, neben der Kunst auch auf Wissenschaft, Religion und Politik bezogenen Geniebegriff wird wenige Jahre später von Jacob Friedrich Abel in seiner Rede über das Genie ebenfalls vertreten und polularisiert werden, wenn er schreibt: Jeder findet Genie in den Schöpfungen der Ariost, der Raphael, der Newton oder in den Großtaten der Cäsar, der Gustav Adolf oder der Turenne, kurz, da, wo er ausnehmende Würkungen des Geistes wahrzunehmen glaubt.81

|| 74 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 37. 75 Ebd., S. 67f. 76 Vgl. hierzu erneut Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens (s. Anm. 25). 77 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 64. 78 Helvétius: De l’esprit (s. Anm. 63), S. 352. 79 Das übersieht Schulz: Genieästhetik (s. Anm. 25). 80 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 62–67. 81 Jacob Friedrich Abel: Rede, über die Entstehung und die Kennzeichen grosser Geister [Rede über das Genie]. Stuttgart 1776 [ND hg. von Walter Müller-Seidel. Marbach 1955], S. 16.

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Neben den Gemeinsamkeiten ist der zentrale Unterschied zwischen Abel und Diez unmittelbar zu erkennen: Sind es bei Diez vor allem die Leistungen der Leidenschaften, die das Genie formen,82 so bei Abel die des Geistes. Abel ist kein Stürmer und Dränger, sondern ein solider philosophischer Anthropologe, dessen einzige echte Leidenschaft eine seit 1783 ausgetragene Auseinandersetzung mit Kant ausmacht.83 Für die Unterschiede zwischen Abels und Diezens Genietheorie gibt es aber auch sachliche Gründe, die im Interesse des Magdeburger Stürmers und Drängers an einer bestimmten Ausrichtung des Begriffs liegen: Um diese von Abel und anderen Verständnissen der 1770er Jahre abweichende, endlich unmissverständlich dem Sturm und Drang zuzuordnende Dimension seines Geniebegriffs zu verdeutlichen, sei eine längere Passage aus dem vierten Abschnitt zitiert: Menschen, denen ein ausserordentliches Genie zum Theil geworden, sind fruchtbar an Gedancken ohne Ziel. Sie sehen da Wüsteneyen, wo andern fruchtbringende Felder erscheinen, Sie besiegen Vorurteile, auf deren Gewißheit die Väter starben, derentwegen die Zeitgenossen im heiligen Eifer Martyrer werden. Sie gehen an Unternehmungen, davon der blosse Gedanke keinem andern aufstieg, an deren Ausführungen jedermann verzweifelt. Sie sind in der Arbeit mutig. Jemehr Hindernisse sich ihnen entgegen türmen, desto mehr wächst ihr Eifer. Je schwerer ihnen ihr Entwurf gemacht wird, desto freudiger arbeiten sie nach dem Vollbringen. Oft machen sie Versuche über Unmöglichkeiten, welches bey jedem andern Thorheit heissen würde; da hingegen jene nie ohne den Reichthum neuer Entdekkungen zurückkehren. […] Alle Grössen, die das ausserordentliche Genie sowol als der gemeine Lehrer ohne Leidenschaft bewundern, sind von der Ausschweifung geboren worden.84

Die Abweichungen, die Devianzen des Genies betreffen nicht nur seine gedanklichen Leistungen, sondern auch die für es geltenden Normen des Handelns; das Genie bewegt sich schon für Diez ›Jenseits von Gut und Böse‹, zumindest desjenigen Gut und Böse, das der gemeine Lehrer oder jedermann ohne Leidenschaften in dieser Weise verstehen kann und an das er sich zu halten hat. »Ausserordentliche Menschen« leben in und nach einer anderen normativen Ordnung und müssen auch danach beurteilt und behandelt werden, um diejenige Leistung erbringen zu können, die für die Menschheit förderlich ist und die sie von ihnen zu Recht verlangen kann: Von einem Menschen, der die Regeln der Väter übertreten, der ausser der Ordnung gelebt, sich aber dabey abgewartet hat, versprechʼ ich der Welt mehr reele Dienste, als von einem Manne, der nach der strengsten Zucht seine Stunden vertheilt.85

|| 82 Auch dieses Argument findet sich schon bei Helvétius: De l’esprit (s. Anm. 63), S. 243ff. 83 Vgl. hierzu u. a. Lutz-Henning Pietsch: Topik der Kritik. Die Auseinandersetzung um die kantische Philosophie (1781–1788) und ihre Metaphern. Berlin, New York 2010, S. 123ff. 84 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 62. 85 Ebd., S. 45.

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Nahezu zwangsläufig kehrt in diesem Zusammenhang eine durch Lessing zur gleichen Zeit verabschiedete Christologie wieder, denn ein Genie ist nach Diez – wie oben zitiert – ein Mensch, von dessen »Leben und Tode neue Jahrrechnungen angefangen werden«, weil sie »einem grossen Theil der Welt eine neue Richtung« geben können.86 Dass Diez nur zwei Absätze weiter ausführt, dass »noch in unsern Tagen ein Monarch lebt«,87 auf den dieser Geniebegriff anzuwenden sei, zeigt die eigentümliche Doppelbewegung des Sturm und Drang,88 die sich in einer ReTheologisierung des in den kritischen Debatten schon säkularisierten Geniebegiffs durch Christologie und einer Säkularisierung dieser theologischen Kategorie in der Anwendung auf Friedrich II. dokumentiert.89 Die These von dem nur durch Sondermoral zu erfassenden praktischen Wesen der genialischen Seele ist allerdings keineswegs der Hybris eines ebenso unkritischen wie selbstverliebten 22-jährigen Jünglings geschuldet, sondern notwendige Konsequenz eines jeden anthropologisch begründeten Geniebegriffs. Wenn es nämlich zur Natur des Menschen gehört, besondere Individuen hervorzubringen, die mit den normalen Maßstäben der menschlichen Natur nicht zu erfassen sind, diese Sondernaturen aber das Glück der Menschheit ausmachen, dann muss es nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Besonderheit dieser Menschen geben; sie müssen als ›ungewöhnliche Individuen‹ nach anderen moralische Maßstäben beurteilt werden.90 Der Sache nach entwickelt Diez genau diese Vorstellung von anthropologischer Exklusivität im Kapitel Ueber die denkenden Kräfte: Jedes grosse Genie ist ein Original, weil es ungemein und ungewöhnlich denkt; seine eigene Spur verfolgt; (ob gleich darneben der betretnste Pfad ist) weil sein Schwung ausserordentlich, seine Unternehmungen bizzare und dennoch der Natur der Dinge nicht widersprechend sind und weil es an sich von untergeordneten Köpfen zum Nachbilden gewählt wird.91

|| 86 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 64. 87 Ebd., S. 65. 88 Vgl. hierzu auch Gideon Stiening: »Dramatischer Gott«. Zur ›poetischen Theologie‹ in Herders Shakespear. In: Wieland-Studien 8 (2013), S. 115–132. 89 Zu dieser Doppelbewegung als Signum der Neuzeit vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 21988. 90 Diese ethische Dimension des Geniebegriffs wird in der Forschung selten thematisiert (vgl. in Ansätzen Schmidt: Geniegedanke [s. Anm. 25], S. 319ff.), sollte aber als wesentliches Moment desselben erkannt und bestimmt werden, und zwar u. a., weil die konsequente Folgerung einer praktischen Sonderanthropologie nicht nur das ständische, sondern auch des geschlechtsspezifische Verständnis von Anthropologie reproduziert, die beide zu keiner allgemeinen und gleichen Natur des Menschen vordringen. Darüber hinaus sind die desaströsen Konsequenzen für jedes Verständnis von Ethik zu bedenken, weil solcherart ›Außergewöhnlichkeit‹ und ihre unterschiedlichen Begründungen die Geschichte der Moderne (bis zum heutigen Tag) beleiten. 91 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 65.

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Schon an diesen letzten Sätzen wird ersichtlich, dass Diezens Konzeption der außergewöhnlichen Menschen notwendig der Vorstellung von nach- bzw. untergeordneten Normalmenschen bedarf, die in zwei Stufen, nämlich als mittelmäßige und als schwache Existenzen ausdifferenziert werden. Damit reproduziert Diez im Rahmen einer praktischen Anthropologie, die als Wissenschaft von den Vermögen des Humanums auf eine allgemeine und gleiche Natur des Menschen abzielte, jene ständische Hierarchie, die sich als natürliche insofern verstand, als in der Ordnung der Schöpfung jene Differenzierungen in der und als Menschennatur wirklich und wirksam sei. Diese Bestimmung des Genies als eines außergewöhnlichen Menschen führt erkennbar in das moralische Dilemma einer anthropologisch begründeten, genialischen Sondermoral, die schon zeitgenössisch in der Kritik stand. Johann Wolfgang Goethe reflektiert schon 1774 in seinem Trauerspiel Clavigo kritisch auf die ethischen Konsequenzen einer praktischen Sonderanthropologie. Im berühmten Verführungsdialog zwischen Don Carlos und Clavigo heißt es nämlich in aller Deutlichkeit und bemerkenswerter Nähe zu Diez: Carlos […] Entschließe dich; so will ich sagen, du bist ein ganzer Kerl – Clavigo. Einen Funken, Carlos, deiner Stärke, deines Muts. Carlos. Er schläft in dir, und ich will blasen, bis er in Flammen schlägt. Sieh auf der andern Seite das Glück und die Größe, die dich erwarten. Ich will dir diese Aussichten nicht mit dichterischen bunten Farben vormalen; stelle sie dir selbst in der Lebhaftigkeit dar, wie sie in voller Klarheit vor deiner Seele standen, ehe der französische Strudelkopf dir die Sinne verwirrte. Aber auch da, Clavigo, sei ein ganzer Kerl, und mache deinen Weg stracks, ohne rechts und links zu sehen! Möge deine Seele sich erweitern und die Gewißheit des großen Gefühls über dich kommen, daß außerordentliche Menschen eben auch darin außerordentliche Menschen sind, weil ihre Pflichten von den Pflichten des gemeinen Menschen abgehen; daß der, dessen Werk es ist, ein großes Ganze zu übersehen, zu regieren, zu erhalten, sich keinen Vorwurf zu machen braucht, geringe Verhältnisse vernachlässiget, Kleinigkeiten dem Wohl des Ganzen aufgeopfert zu haben. Tut das der Schöpfer in seiner Natur, der König in seinem Staate – warum sollten wir's nicht tun, um ihnen ähnlich zu werden?92

Ganzer Kerl statt ganzer Mensch! Der »ganze Kerl« ist Schöpfer seiner Selbst; als solcher ist er Herrscher über sich selbst und eben dadurch auch Herrscher über alle anderen – nur das Genie ist, indem es sich vollendet beherrscht, unmittelbar auch Herrscher über andere. Diese besondere Stellung kann es nur einnehmen, wenn es sich von moralischen Wertvorstellungen und damit Rücksichtnahmen auf andere verabschiedet. Schon der »ganze Kerl« ist in seinem Selbstverständnis und in dem seiner Umgebung ›Jenseits von Gut und Böse‹. Allerdings wird das in Goethes Trauerspiel als zerstörerische Ideologie vorgestellt. Es ist diese Ideologie des ganzen

|| 92 Johann Wolfgang Goethe: Clavigo. Ein Trauerspiel. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Truns u. a. 14 Bde. Hamburg 1988, Bd. 4, S. 293f.

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Kerls als außergewöhnlichem Menschen, die im Clavigo für die menschlichen Opfer – Marie und Clavigo – tödlich endet.93 Doch was Goethe 1774 in seinem Trauerspiel kritisch analysiert, wird von Diez noch ein Jahr zuvor affirmativ entworfen, gefeiert und legitimiert. Damit steht der diezsche Text inmitten einer zentralen Kontroverse des Sturm und Drang über die Leistungen, Grenzen und Problemlagen genialer Existenz und muss in diesen Kontext loziert werden. Als unkritischer Apologet des Genies ist Diez in diesem Zusammenhang radikaler, damit aber auch rücksichtsloser als Goethe: Er [d. i. ein großer Mann, ein Genie] sieht stets um sich. Er bietet seine starke Hand an, wenn er glaubt, daß Hülfe nötig ist. Er wird Anführer; stellt sich kühn an die Spizze und macht Pläne zum Wohl derer, die ihm folgen. Er denkt im Namen derer, so sich ihm anvertrauen, und er denkt nach Wunsche. Er häuft Thaten mit Thaten. Er wird ein Urbild, daß zur Nachahmung empfohlen wird – Oft wird er Beherrscher, wenn er mutig die Verantwortung von der Führung ganzer Heerschaaren allein über sich nimmt. Er bearbeitet das Ganze in seinem Umfange; er ordnet es in allen seinen Teilen. Überall ist Zufriedenheit der Beherrschten; überall Vollkommenheit; überall der eingeprägte Eindruk von dem Geiste des Hauptarbeiters.94

An Diezens enthusiastischer Feier des Genies als politischem Führer ist unverstellter als bei Herder oder Goethe zu erkennen, dass dem Konzept des Genies je schon und vor allem politische Träume des Alleinherrschers als innerweltlichem Retter zugrunde lagen, die der modernen Politik seither immer wieder zum Alptraum wurden.

|| 93 Vgl. hierzu auch Gunter Reiß: Clavigo. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden Hg. von Bernd Witte u. a. Stuttgart, Weimar 2004, hier Bd. 2, S. 106–122; Reiß verkennt allerdings die kritische Analyse des Genies, die in diesem Stück geleistet wird, weil er in der »Konstellation Clavido–Carlos« lediglich »den inneren Konflikt einer bürgerlichen Existenz als sprachliches Drama« gestaltet sieht (ebd., S. 109). Carlosʼ politischer Sehnsucht nach Erlösung durch den außergewöhnlichen Menschen kann aber in dieser Perspektive keinerlei Beachtung geschenkt werden. 94 Diez: Beobachtungen (s. Anm. 1), S. 64.

| 3 Die besten Jahre: Diez als Diplomat in Istanbul

Martin Mulsow, Anne-Simone Rous

Heinrich Friedrich Diez in Konstantinopel Seine chiffrierten Briefe an Dohm und die Fallstricke der Diplomatie

1 Einführung Der Briefwechsel zwischen Heinrich Friedrich Diez und Christian Konrad Wilhelm Dohm, dem preußischen Kriegsrat und Aufklärer, befindet sich im Regensburger Stadtarchiv und erstreckt sich auf 168 Folioseiten über mehr als 30 Jahre von 1784 bis 1815, kurz vor Diezʼ Tod. Dohm war gleichaltrig mit Diez und über Lemgo, Göttingen und Kassel 1779 nach Berlin gekommen, als Bewunderer von Friedrich II.1 Zunächst wurde er Archivar, dann Geheimer Kriegsrat im preußischen Außenministerium und Sekretär bei der Geheimen Staatskanzlei. Bekannt ist Dohm heute vor allem durch seine Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, die 1781 und 1783 in zwei Teilen erschien.2 Dieser kontrovers aufgenommenen Schrift ist Diez 1783 mit seinem Aufsatz Über Juden beigesprungen, der noch freisinniger als Dohm selbst eine bürgerliche Anerkennung der Juden forderte.3 Diez war damals noch in Magdeburg, aber es hatte sich offenbar bereits ein Zirkel von gleichgesinnten Aufklärern gebildet, zu dem Dohm, Gleim, Nicolai, Funk, Leuchsenring und andere gehörten, mit denen Diez verkehrte.4 1783 war auch das Jahr, in dem Diez Spinoza

|| 1 Zu Dohm (1751–1820) vgl. Wilhelm Gronau: Christian Wilhelm von Dohm nach seinem Wollen und Handeln. Ein biographischer Versuch. Lemgo 1824; Franz Reuss: Christian Wilhelm Dohms Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« und deren Einwirkung auf die gebildeten Stände Deutschlands. Eine kultur- und literaturgeschichtliche Studie. Leipzig 1891; Ilsegret Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., Bern 1974. – Die Abschnitte 1–4 des vorliegenden Aufsatzes stammen von Martin Mulsow, die Abschnitte 5–8 von Anne-Simone Rous. 2 Christian Konrad Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Bde. Berlin, Stettin 1781/83; vgl. auch die Neuedition: Christian Konrad Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kritische und kommentierte Studienausgabe. Hg. von Christoph Seifert. 2 Bde. Göttingen 2015. Siehe dazu auch den Beitrag von Wolf Christoph Seifert in diesem Band. 3 Heinrich Friedrich Diez: Über Juden. An Herrn Kriegsrath Dohm zu Berlin. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 3. St., S. 320–347. Nachgedruckt in: Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften. Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 305–320. 4 Vgl. Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzoglich Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Hg. von seinem Sohn Friedrich Wilhelm Mauvillon. Braunschweig 1801; Gottfried Benedict Funk: Schriften. Berlin 1821; vgl.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-010

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für sich entdeckt hat. »Hätte Spinoza unter seinen Brüdern Nachfolger gehabt«, schreibt Diez in der Judenschrift, »ich will nicht sagen in seinem System, sondern in seiner Freyheit zu denken: so würde vermuthlich ihr weltliches Glück schon entschieden seyn, welches itzt noch ohne Anfang ist«.5 Spinoza war ihm geradezu das Modell eines emanzipierten Juden. Er übersetzt begeistert Spinozas Vorrede zum Tractatus theologico-politicus und sagt: Ich für meine Person freuete mich unendlich, hier viele Grundsäzze wiederzufinden, die ich in meiner Apologie der Duldung und Preßfreyheit [von 1781] vorgetragen habe. Ich bedauere nur, daß ich jener Schrift […] mich damals nicht erinnerte, als ich diese schrieb. Sie hätte die würdigste Beylage derselben seyn sollen.6

Diez publizierte die kleine Spinoza-Übersetzung in den Berichten der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten, und dort erzielte sie eine nachhaltige Wirkung, denn wohl noch im gleichen Jahr begann in Gotha Schack Hermann Ewald, den gesamten Tractatus erstmals zu übersetzen, nachdem er sich mit Johann Joachim Christoph Bode, seinem Freimaurer- und Illuminatenfreund, darüber ausgetauscht hatte. Kein geringerer als Wieland vermittelte den Text an die »Buchhandlung der Gelehrten«, just jenen – heute würde man sagen: alternativen – Verlag, in dem Diez es gewagt hatte, einen Auszug zu veröffentlichen. Noch immer war nicht klar, ob die Zensur diesen verfemten Text zulassen würde, doch Ewald war zuversichtlich. Weil allerdings die Buchhandlung der Gelehrten 1784 in finanzielle Schwierigkeiten geriet und das Risiko nicht tragen wollte, erschien der deutsche Tractatus erst 1787 und in einem anderen Verlag.7 Es ist schade, dass Diez nicht die Übersetzung gemacht hat: seine Verdeutschung ist besser als die Ewalds.

|| weiter die Briefe von Diez an Nicolai im Berliner Nachlass Nicolai; weitere Namen an Berliner Radikalen wären Leuchsenring, Ulrich, Crome, Paalzow, Riem, Knüppeln oder Schulz. Zu diesen radikalaufklärerischen Kreisen in Berlin und Umland vgl. Martin Mulsow: Deutscher Deismus der Spätaufklärung. In: Gestalten des Deismus in Europa. Hg. von Winfried Schröder. Wiesbaden 2013, S. 161–202; ders.: »Vom Verfasser des Hierokles«. Christian Ludwig Paalzow als Autor von Vollmers Verlag. In: Subversive Literatur. Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780–1806). Hg. von Dirk Sangmeister u. Martin Mulsow. Göttingen 2014, S. 277–295. 5 Diez: Über Juden (s. Anm. 3; wir zitieren den Nachdruck), S. 319. 6 Heinrich Friedrich Diez: Spinoza über Aberglauben und Denkfreyheit. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 5. St., S. 564–578; hier zitiert aus dem Nachdruck in Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 3), S. 322. 7 Benedikt von Spinoza über Heilige Schrift, Judentum, Recht der höchsten Gewalt in geistlichen Dingen, und Freiheit zu philosophieren. [Übersetzt von Schack Hermann Ewald.] Gera 1787. Vgl. dazu Martin Mulsow: Diskussionskultur im Illuminatenorden. Schack Hermann Ewald und die Gothaer Minervalkirche. In: Aufklärung 26 (2015), S. 153–203, hier bes. S. 173–181. Vgl. auch MariaBrigitta Schröder: Der Spinoza-Übersetzer Schack Hermann Ewald. In: Randfiguren: SpinozaInspirationen. Festgabe für Manfred Walther. Hg. von Felicitas Englisch, Manfred Lauermann u. Brigitta Schröder. Hannover-Laatzen 2005, S. 265–276.

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Diez, der großgewachsene Kraftmensch, der esprit fort, ist bekanntlich durch Dohm der Enge Magdeburgs entkommen und hat die Chance erhalten, in einer Audienz König Friedrich II. zu überzeugen, ihn als Chargé des Affaires nach Konstantinopel zu schicken. Sein Freidenkertum und sein Selbstbewusstsein machten ihn bei der Audienz so gelassen, dass er Friedrich beeindruckte.8 Dohm, der mit dem für die preußische Außenpolitik zuständigen Minister Ewald Friedrich von Hertzberg eng verbunden war, hatte der Begegnung vorgearbeitet. Für die folgenden Jahre bis 1790, die Diez in Konstantinopel verbracht hat, sind uns – zumindest für einen Teil des Zeitraums – die Korrespondenzen auf allen drei Ebenen erhalten: (1) die offiziellen Depeschen, die Diez – auf Französisch – an den König bzw. das Außenministerium schrieb;9 (2) die halboffiziellen Briefe, die Diez – ebenfalls auf Französisch – an den Minister Hertzberg geschrieben hat, um mit ihm die Spielräume zu erörtern, die er in seinen Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich gern gehabt hätte, die ihm aber der äußerst bremsende Friedrich nicht zugestehen wollte;10 und (3) schließlich die privaten Briefe an Dohm, in denen Diez noch sehr viel mehr als an Hertzberg seinen wirklichen Gedanken und Absichten Ausdruck verliehen hat.11 Im Folgenden kann nur ein allererster Anlauf gemacht werden, die interessanten Möglichkeiten, die sich aus dieser Dreifachüberlieferung ergeben, in Fragestellungen umzusetzen und ansatzweise auszuloten. Preuss schrieb 1837 seine Geschichte Preußens unter Friedrich dem Großen in Kenntnis des HertzbergBriefwechsels;12 bei Zinkeisen kam 1859 im sechsten Band seiner Geschichte des osmanischen Reiches in Europa noch die Kenntnis der offiziellen Depeschen hinzu;13 nun, mit dem Dohm-Briefwechsel, ließe sich noch Zinkeisen überbieten und eine neue Dimension dieser komplizierten Lage erschließen: zwischen einem Gesandten, der sich in Konstantinopel ganz den türkischen Sitten anverwandelt und zu größter Beliebtheit an der Pforte aufsteigt, und einer Regierung in Berlin, die auf keinen Fall will, dass die Kontakte zu den Türken zu eng werden, weil das die Beziehungen zu Russland belasten würde.14 || 8 Vgl. die Beilage zum 16. Mai dieses Jahres, betreffend die Audienz des H. Diez bei dem König. In: Tagebuch oder Geschichtskalender aus Friedrich’s des Großen Regentenleben. Hg. von Karl Heinrich Siegfried Rödenbeck. Berlin 1842, Bd. 3, S. 318–321. 9 StB Berlin, Diez C quart 122: Depechen aus Konstantinopel 1788–90. Vgl. auch Diez C quart 124: Geheimverhandlungen mit der Pforte 1786–1788. 10 StB Berlin, Diez C quart 123: Briefe an Herzberg 1786–1791. 11 Letztere befinden sich im Teilnachlass Christian Konrad Wilhelm von Dohm im Stadtarchiv Regensburg (DE-611-BF-17076). 12 Johann David Erdmann Preuss: Die Lebensgeschichte des grossen Königs Friedrich von Preußen. 2 Bde. Berlin 1837. 13 Johann Wilhelm Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa. 7 Bde. Hamburg 1840–1863; vgl. bes. Bd. 6, S. 594ff. 14 Zur politischen Lage zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich in den 1780er Jahren vgl. nicht zuletzt Dohms eigene Lebenserinnerungen, in denen er sich zu Diez äußert: Christian Konrad

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Doch über diese Möglichkeit der Differenzierung diplomatischer Verhältnisse hinaus besteht die Hoffnung, dass uns der Diez-Dohm-Briefwechsel Aufschlüsse über die intellektuelle Entwicklung von Diez gibt. Er ist dabei nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es sonst kaum Briefe und Dokumente gibt, da Diez alles vernichtet hat. Manfred Voigts hat die Vermutung geäußert, der Briefwechsel gerade der Jahre 1784–1790 könne Hinweise geben, wie und warum der Freidenker Diez sich zu einem Konservativen, sogar zu einem orthodoxen Protestanten verändert hat.15 Ob das allerdings schon in diesen türkischen Jahren der Fall war, scheint uns zweifelhaft. Immerhin sind manche der »schlimmsten« religionskritischen Konvolute wie Mss. Diez C quart. 28 oder 29 mit dem Traktat über die »drei Betrüger« erst Ende der 1790er Jahre von Diez erworben worden.16 Und warum sollte er noch heterodoxe Clandestina sammeln, wenn er sich innerlich längst davon befreit hätte?

2 Verschlüsselung Ein allererster Anlauf ist unsere Erkundung der Briefe an Dohm nicht nur deshalb, weil erst noch viele, viele Seiten von Diezʼ nicht immer gut lesbarer, kleiner Schrift zu entziffern sind, sondern auch, weil die Briefe von Diez an Dohm an entscheidenden Stellen immer wieder verschlüsselt auftreten. Diez hat einen Zahlencode be|| Wilhelm von Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit, oder Beiträge zur Geschichte von letzten Viertel des achtzehnten und vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. 4 Bde. Lemgo 1814–1819, Bd. 2, S. 42ff. 15 Manfred Voigts: Heinrich Friedrich Diez: Kanzleydirektor, Freygeist und Freund der Juden. In: Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 3), S. 457–540, hier S. 460. 16 Ursula Winter: Die europäischen Handschriften der Bibliothek Diez: Teil 3. Die Manuscripta Dieziana C. Wiesbaden 1994. Wenn Voigts (s. Anm. 15) den Satz aus Diezʼ Brief an Gottfried Benedikt Funk vom 27. Dezember 1785 (»denn ich weiß es leider selbst zu sehr, wie viel Mühe, wie viele Jahre und ach! so viel Unmuth und Verdruß es mir gekostet hat, um mich aus dem Schlamm herauszureißen, worin ich versenkt war, und mich empor zu arbeiten zur Ruhe des Lebens, der Ruhe, welche besteht und sich fühlt mitten unter Stürmen des Schicksals und unter Nachstellungen und Verläumbdungen böser Menschen«) ableiten will, der »Schlamm« sei die Phase der Freidenkerei gewesen, dann ist das eine Fehlinterpretation. Diez meint in diesem Kontext eindeutig die Jahre seiner Schulzeit, also all die tradtionell religiöse Erziehung, durch die er sich gerade durch seine Freidenkerei herausgearbeitet hat. Am 2. August 1786 schreibt Diez an Funk, dass obwohl »bey den Gegenständen, welche man für die wichtigsten hält, […] Ihre Meinungen gerade entgegengekehrt den meinigen« waren, dennoch beide sich als Menschen nahe seien. Funk war kein Freidenker, was nochmals bestätigt, dass Diez zu dieser Zeit noch ein esprit fort war. Vgl. Funk: Schriften (s. Anm. 4), Bd. 2, S. 259ff. Zum Inhalt einiger der Diez C quart-Bände vgl. Martin Mulsow: Freethinking in Early Eighteenth-Century Protestant Germany: Peter Friedrich Arpe and the ›Traité des trois Imposteurs‹. In: Heterodoxy, Spinozism and Free Thought in Eighteenth-Century Europe. Studies on the ›Traité des trois Imposteurs‹. Hg. von Silvia Berti, Françoise Charles-Daubert u. Richard H. Popkin. Dordrecht, London, Boston 1996, S. 193–239.

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nutzt, um brisante Passagen für Personen, die seine Briefe abgefangen und geöffnet haben, unlesbar zu machen. Die Praxis des Chiffrierens und Dechiffrierens war, wie man sich denken kann, eine mühsame Sache. »Wenn Sie nach Ihrem vorlezten Brief vom 28 October 1788 nichts von meiner Hand gesehen haben wie Sie mir schreiben«, heißt es einmal von Diez, »so sind zwei Briefe von mir verloren gegangen. Der erste war eine Antwort auf den irigen und war geschrieben am 15. Januar 1789. Er war lang und enthielt viel Ziffern. Zum Glück habe ich eine Abschrift davon behalten. Ich bin aber außerstande, sie von neuem in Ziffern zu setzen«. Entweder fehlte ihm die Zeit, oder die Geduld, oder beides. Ob man einen Sekretär mit dergleichen betrauen konnte, war ungewiss, und Diez verzichtete auf solche Hilfe, nicht zuletzt aus Misstrauen: Alles vom Großen bis zum Kleinen muß durch meine Hand gehen, und Sie wissen, was eines Menschen Hand ist. Sie haben mir bisweilen gesagt, daß ich mir einen Sekretär nehmen müsse. Allein hier finde ich keinen Menschen wie ich brauche, und aus Berlin habe ich keinen fordern mögen, weil seine Wahl nicht durch mich bestimmt werden kann. Ein bloßer Abschreiber, der oft nicht einmal würdiger Abschreiber ist, kann mir nichts helfen, und einen anderen zuzuziehen, würde mir mehr zur Last als zum Nutzen und zum Vergnügen gereichen, da das Schulmeistern meine Sache nicht ist.17

Wir werden auf unsere Versuche, den Code zu knacken, noch zu sprechen kommen. Doch zuvor wollen wir auf einen interessanten Umstand hinweisen: Nicht nur die Diez-Dohm-Briefe benutzen einen Zahlencode; auch die Diez-Briefe an Hertzberg tun das, und die offiziellen Berichte an den König tun es ohnehin. Denn auf allen Ebenen war es natürlich gängige und nachvollziehbare diplomatische Vorsicht, sich in der komplexen Situation des Konfliktes der Osmanen mit Russland nicht von Beobachtern in die Karten schauen zu lassen. Nun wäre es eine leichte Sache, wenn alle diese drei Zahlencodes dieselben wären. Denn wir besitzen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz heute noch den Nomenklator, den Schlüssel, der die offiziellen Depeschen aufschließt.18 Doch dem ist nicht so. Diez hat für die Briefe an Dohm einen eigenen Zahlencode verwendet, dessen Schlüssel wir nicht mehr haben. Was uns bleibt, ist zunächst einige Probebohrungen in das Material zu treiben. Wir wählen ein Beispiel aus der ersten Zeit in Konstantinopel, vom Dezember 1784, und dann ein zweites Beispiel aus der Spätzeit, 1788/89, als die Zurückberufung nach Berlin sich schon andeutete.

|| 17 Diez an Dohm, Stadtarchiv Regensburg (s. Anm. 11), 1. März 1790, S. 71. 18 GSTA PK Berlin, 1. HA Rep. 9 AV, L 8 b, Fasz. 5.

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3 Die frühe Zeit in Konstantinopel Diez wurde im März 1784, als 32-jähriger, zum Preußischen Gesandten in Konstantinopel. Das wurde möglich, weil man mit seinem Vorgänger unzufrieden gewesen war und ihn nach Berlin zurückkommandiert hatte. Dieser Vorgänger hieß Christian Friedrich von Gaffron und war knapp 20 Jahre älter als Diez. Die Münchener Zeitung vom April 1784 kolportierte das Gerücht, dass Gaffron, »anstatt nach Berlin zu gehen, sich nach Petersburg begeben habe, und daß der preußische Gesandte an letztrem Hofe, ohne Abschied zu nehmen, weggereiset sei«.19 Russland war in der Tat einer der entscheidenden Akteure in diesem Bündnisroulette, das man auch den Russisch-Österreichischen Türkenkrieg nennt. Katharina die Große hatte Aspirationen, das byzantinische Reich neu zu gründen und die Türken aus Konstantinopel zu vertreiben. Sie schloss ein geheimes Bündnis mit dem Österreicher Joseph II., und 1783 ließ sie durch Potemkin die Krim annektieren. Der osmanische Sultan Abdülhamid I. hatte dies, unter internationalem Druck, im Januar 1784 anzuerkennen. Seitdem schwelte die Gefahr eines offenen Krieges zwischen der Pforte und Russland sowie Österreich. Das ist die Situation, in der Diez nach Konstantinopel kommt. Die Preußen sind zwar Gegner Österreichs, haben aber Rücksicht auf Russland zu nehmen, mit dem sie es sich nicht verscherzen dürfen. Diez, kaum am Bosporus angekommen, muss erst einmal die Lage sondieren und sehen, was sein Vorgänger alles falsch gemacht hat. »Um also die einen und andern in Beziehung aus Personen und Affairen richtig zu schätzen, muß man selbst in ihrer Mitte stehen«, schreibt er Dohm, »um den Antrieb zu finden, welcher ihren Entschluss hervorbringt. Es ist mir sehr lieb, daß Sie an bis 1012.995. Theil nehmen werden«. Diese Chiffrierung muss uns noch rätselhaft bleiben. Diez fährt fort: »314 erfordert die Gegenwart eines Mannes von Kopf und Menschenkenntnis«. Mit 314 muss Gaffron gemeint sein, der Vorgänger.20 Denn es heißt weiter: Er ist der höchsten Verstellung fähig, welche man ohne tiefern Blick nicht durchschauen kann. Dazu kommt, daß er so unbeschreiblich kunstlich zu lügen weiß, daß er überraschen und Erdichtung als Wahrheit und Thatsache akkreditieren kann, wenn man nicht auf seiner Huth ist. Um ihn zu attrapieren [= in die Falle zu locken], muß man auf seine Wiedersprüche Achtung geben, welche er sich unterlaufen zu laßen doch dumm genug ist. 479.994.603. [evtl. der König und der Minister, also Hertzberg] waren schon geneigt, ihn für entschuldigt zu halten, weil er frech genug wär, auf eine Untersuchung zu provoziren (er wuste aber wohl, daß hier am Ort keine Kommission niedergelegt werden würde) und weil er verlogen genug war, in 164. [den Depeschen] von Dezember, Januar, Febr. und Marz ein Gewebe von Unwahrheiten zusammen zuspinnen, wodurch jene sich haben konfus machen lassen. Wären Sie aber aufmerksamer

|| 19 Münchner Zeitung, Freitag, 28. Mai 1784 (Nr. LXXXIV), S. 346. 20 Zu Christian Friedrich von Gaffron (1732–1807) vgl. Preuss: Lebensgeschichte (s. Anm. 12), Teil 2, S. 268f. Vgl. auch Gronau: Christian Wilhelm von Dohm (s. Anm. 1), S. 116f.

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gewesen, und hätten Sie sich erinnert, was ihnen vorher berichtet worden ist, würden sie die Lüge bald aufgegriffen haben.21

Tatsächlich ist Gaffron schon bald der Prozess gemacht worden, und er wurde nach seiner Rückkunft für ein Jahr in die Zitadelle Spandau gesteckt; letztlich auch, um Russland zu besänftigen, wo man ständig fürchtete, der preußische Gesandte könne die Türken zum Widerstand gegen die russische Expansion aufstacheln.22 Diez hat die Depeschen Gaffrons vor sich – wie dann auch Dohm – und ist entsetzt, welche Unwahrheiten, Widersprüche und Selbstgefälligkeiten darin stecken. »Sehen Sie«, schreibt er Dohm, in demselben Bericht sagt er, daß alle Minister seinen Abgang bedauern und erzählt auch zugleich, daß der Engänder ihn je eher je lieber hier wegzutreiben gesucht habe. So ists mit ihm, wenn er den Kopf zu voll hat […], so vergißt er sich. Bey dem allen aber ist in einem andern Sinne wahr, daß manche im Herzen seinen Abgang bedauern mögen. Wie sie ihn zu allem gebrauchen konnten (man nennt das bey uns dummer Junge mit Jemandem spielen) so konnten sie auch alles von ihm erfahren, was er wußte, und solche Leute sind denen sehr nothwendig, welche ihre Geschäfte im corps diplomatique gut treiben wollen.23

Diez nutzt seine abgeklärte Menschenkenntnis, um Gaffron zu überführen. Vor allem aber vergleicht er die geschönten und schlecht informierten Berichte seines Vorgängers mit der Realität: Ich sehe izt alle diese Verhältnisse in einem ganz andern Lichte, und zu Ihnen im Vertrauen gesagt, ich bin ganz überzeugt, daß 319.994.810 [Gaffrons Berichte?] sehr übel thun, 479 und 613 [wohl: den König in Berlin, oder: den König und den Minister] durch Kleinigkeiten und unerhebliche Novellen zu amüsieren, welche nur dazu dienen, die größten Pläne aus den Augen zu verlieren, uns immer zu vergeblichen Hofnngen zu erhalten und uns zu verhindern, eine Parthei zu ergreifen, welche unsere Würde und unserem Nutzen angemeßen ist. Und selbst die Novellen sind so ungegründet oder so unrichtig wahrgenommen, daß sie theils alle 8 Tage widerrufen werden müßten, theils dasjenige gar nicht involvieren, was man daraus folgern wollte.24

Diez ist durchaus dafür, Partei zu ergreifen und nicht immer nur untätig den Türken Freundschaft zu versichern, ohne substantiell für sie tätig zu werden. Die Sätze werden danach immer verschlüsselter – und uns unverständlicher –, weil es um konkrete Informationen über russische Minister oder englische Gesandte geht, um die Befindlichkeiten der Österreicher und mögliche politische Folgen.

|| 21 Diez an Dohm (s. Anm. 11), S. 11. 22 Vgl. Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit (s. Anm. 14), Bd. 2, S. 43. 23 Diez an Dohm (s. Anm. 11), S. 12. 24 Ebd.

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4 Nach dem Tod Friedrichs II. Machen wir eine zweite Probebohrung. Vier Jahre später sah manches anders aus. Friedrich der Große war im August 1786 gestorben, und sein ewiges Misstrauen gegenüber der Verlässlichkeit der Hohen Pforte war nicht länger das Hindernis, an dem jede Aktion zerschellte. Hertzberg hatte schon seit langem Diez in der Hoffnung gehalten, dass mit dem neuen König ein größerer Handlungsspielraum entstehen würde. Doch 1787 war Diez immer noch in seiner Zwickmühle. »Ich bin hier wahrhaftig in einer höchst peinlichen Lage«, schreibt er im Juni an Hertzberg. »Der Hof untersagt mir, mit den Türken zu politisieren, während diese nicht müde werden, mich dazu aufzufordern.«25 Die Russen hatten die Türken immer weiter provoziert – etwa als Katharina im Mai 1787 mit Pomp die annektierten Gebiete auf der Krim besuchte –, sodass der Konflikt im Sommer ein offener Krieg wurde. Diez war verdrießlich. Wie sich der Türken Krieg endigen werde, lässt sich noch nicht bestimmen. Wahrscheinlich schlecht, er wird sich aber immer anders endigen als viele glauben. Mein Mißvergnügen ist vorher zu sehen, [daß] ich bey unserm hiesigen Unterhandlungen am Ende nur Schimpf und Schande haben werde. Ich habe auch zweimal meinen Rappel gefordert, aber nicht erhalten. Ich wünschte daß Sie mir aufrichtig schreiben was in Berlin über mich gesagt wird. Seit einem Jahr habe ich hier den Obristen von Goetzen, der unnützerweise bestimmt war, einen Defensif Plan zu machen, wenn die Türken über die Donau zurückgetrieben seyn würden. Die wollen über ihren Krieg allein dirigiren. Des H. v. Goetzen Stärke ist auf den grossen Friedrich aufs niedrigste zu schimpfen.26

Am Ende wird Diez tatsächlich abberufen werden, weil er den Politikern in Berlin zu eigenmächtig agierte. Dennoch war er stolz auf sich. »Wenn es etwas giebt, was man Glück nennen kann«, schreibt er Dohm, »so kann ich sagen davon begünstigt worden zu seyn. Denn ich habe hier das unmögliche möglich gemacht. […] Gegen den Widerstand der ganzen Welt habe ich hier den Frieden verhindert, und unsern Allianztractat zustande gebracht, wodurch ich Preussen und das Türkische Reich gerettet habe. Das wird wohl hinreichen, um meinen Nahmen in die Geschichte einzuschreiben.«27 Die Lage hatte sich verkompliziert, Schweden war gegen Russland in den Krieg eingetreten, Frankreich unterstützte nun die Pforte, und Diez hatte sich nach Kräften bemüht, die Türken vor einer zu schnellen Kapitulation zu bewahren. Er hatte einen Allianzvertrag Preußens mit der Pforte ausgehandelt und unterschrieben, in dem er die etwas unklaren Instruktionen, die er aus Berlin erhalten hatte, zugunsten der Pforte auslegte. Das warf man ihm nun vor, denn immer

|| 25 Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 13), Bd. 6, S. 610. 26 Diez an Dohm (s. Anm. 11), S. 72f. 27 Ebd., S. 77.

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noch bestand die Gefahr, dass Preußen damit in den Krieg hineingezogen würde. Daher nun der »Rappel«, die Rückberufung. »Es ist nicht möglich, daß irgend eine Sache mehr gegen das Interesse des Königs und des Landes seyn könnte als mein Rappel«, protestierte Diez. »Aber wie es künftighin mit den Affairen des Königs hier werden wird«, schreibt er chiffriert, »das weiß Gott«.28 Und sein privates Leben in dieser Zeit? Bei aller Intensität der Kontakte mit den Türken, bei allem Sammeln von Handschriften und Kostbarkeiten fehlte ihm ein gleichgesinnter Ansprechpartner. »Es ist wirklich eine traurige Sache um unsern Briefwechsel«, schreibt er Dohm 1788. Erst erlauben uns die Geschäfte nicht, häufig zu schreiben, und dann kommt auch Schelmerey oder Nachlässigkeit hinzu, um uns den bösen Dienst zu leisten, die Briefe zu vernichten. Dies macht mir wahrlich desto größeren Kummer, da ich unsere Korrespondenz immer für meinen besten Trost in der Entfernung angesehen habe. Ich muß ihnen freymüthig sagen, liebster Freund, daß seit Jahr und Tag meine Geschäfte sich meinem theueresten Wunsche widersetzen, mich oft mit Ihnen zu unterhalten. Ich bin nur allein und habe wirklich viel zu thun in gegenwärtigen Zeitläuften.29

Es fällt Diez nicht leicht, mit Menschen zu korrespondieren, die ihn nicht verstehen. »Vor Jahr und Tag stand ich mit jemandem in Unterhandlung«, bekennt er Dohm gegenüber, »der sich mir angeboten hatte. Ich brach aber ab, weil ich aus seinen Briefen vermerkte, daß ich nicht mit ihm zusammenstimmen würde«.30 Man mag an Gottlieb Benedict Funk denken, den Rektor der Domschule in Magdeburg, der kam, als Diez gerade seine Schulzeit beendet hatte und zum Studium nach Halle ging, den Diez aber sehr verehrte. Doch in diesem Fall war es Diez gewesen, der, kaum war er in Konstantinopel, den Kontakt wieder auffrischte und der Funk schrieb, obwohl sie durchaus unterschiedlicher Meinung waren – Diez ein Freidenker, Funk ein christlicher Aufklärer. »Dies, sich verstanden zu haben«, hatte er Funk 1786 geschrieben, »ist es, was mir so oft ins Gedächtnis zurücktritt, um das Vergnügen von neuem zu beleben, das ich dabey sonst immer zu empfinden pflegte. Wir haben es aber noch weiter getrieben. Bey Gegenständen, welche man für die wichtigsten hält, waren Ihre Meinungen gerade entgegengesetzt den meinigen. […] Allein diese || 28 Ebd., S. 75f. Hier die gesamte Passage: »Es ist nicht möglich, daß irgend eine Sache mehr gegen das Interesse des Königs und des Landes seyn könnte als mein Rappel [also seine Rückberufung]. Ich für meine Person gehe mit Ruhm und Ehre bedeckt von hier ab. Ich würde schon abgegangen seyn, wenn die Türken mich nicht gleichsam als Geissel zurückhielten bis zur Ankunft der Ratification. Ich weiß nicht, wie es noch werden wird; der Sultan, das Serail, die Pforte und die ganze Nation bezeugen laut und öffentlich ihr Misvergnügen über meinen Rappel. Mein Nachfolger hat es täglich anzuhören, welches ihm freilich kein Vergnügen machen kann, und von ihm wohl nicht nach Berlin geschrieben werden wird. Ich sehe Die Türken in Thränen. So ist wohl noch kein Christ von ihnen beweint worden. Die Pforte will noch nicht aufhören mit mir zu tractiren.« 29 Ebd., S. 71. 30 Ebd.

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Verschiedenheit hat nie unsere Gespräche entzweyet […]«.31 Dennoch mag die Erinnerung an die Verbundenheit nicht ausgereicht haben, einen dauerhaften Briefwechsel zwischen Diez und Funk zu garantieren. Um so wichtiger war der Kontakt zu Dohm. »Ich fühle es, daß es ein Glück für mein Leben sein würde«, schreibt ihm Diez, »einen Menschen um mich zu haben, der mit mir in Gesinnungen und Berichten übereinstimmte. Allein ich habe auf dies Glück Verzicht gethan, nachdem ich es seit Jahren vergeblich gesucht habe«.32 Was immer wieder im Wege stand, war Diezens Dickköpfigkeit: Ich habe das Unglück daß ich einmal angenommene, d. h. einmal für wahr erkannte Meynungen nicht ändere, es sey denn, daß ich […] durch neue Gründe bewogen würde davon abzugehen. Ich nenne dies ein Unglück, weil ich finde, daß man diese Sinnesart oft für Hartnäckigkeit und Steifsinn ausgibt, welcher sich mit der Geschmeidigkeit nicht verträgt, die man vom Weltmanne fordert. Indeßen bin ich doch dahin gekommen meine Meynungen auf sich beruhen zu lassen, sobald man damit nicht einstimmt und der andren eher mit Nachsicht aufzunehmen, sobald man sie mit Eingenommenheit ankündigt. Im Grunde gibt es wenig Dinge, die es werth sind, daß man sich darum streite.33

Nun, da die Tage in Konstantinopel ihrem Ende entgegengehen, wird Diez trotz allem Hader mit der Rückberufung versöhnlich: [D]a ich mich immer als Wanderer betrachtet habe und noch andere Erdstriche zu durchlaufen wünsche, muß ich gestehen, daß 6 Jahre, welche ich hier gelebt habe, hinreichen um meine Wißbegiere und wenn ich es sagen darf, meine Ruhmliebe zu sättigen, denn ich gehe in dem Augenblick ab, nachdem ich große Geschäfte gemacht, woran das Schicksal mehrerer Völker gehangen, […] und als Gesandter und Negotiateur mein Meisterstück gemacht habe. Mögen nun andere auch etwas thun.34

5 Zur Problematik chiffrierter Korrespondenz Die Korrespondenz zwischen Diez und Dohm enthält zahlreiche chiffrierte Passagen, wodurch die Lektüre sowie die wissenschaftliche Analyse deutlich erschwert

|| 31 Diez an Funk (s. Anm. 16), S. 262f. 32 Diez an Dohm (s. Anm. 11), S. 71. 33 Ebd., S. 72. Diez fährt fort: »Was mich nur verdrießt, ist wenn diejenigen, die sich über Eigensinn beschweren, davon im Grunde weit mehr an den Tag legen als die anderen, welche sie darüber tadeln. Ich bewundere oft die gute Art, womit Friedrich entgegengesezte Meynungen zu behandeln gewußt hat. Seine Schriften enthalten davon eine Menge Beyspiele, davon eines immer belehrender ist als das andere. Indem ich hier der nachgelaßenen Werke des großen Mannes erwähne, kann ich Ihnen die Freude nicht genug ausdrücken, welche mir ihre Durchlesung gewährt hat. Welch ein Lehrer für alle Stände! Welch ein Mann und welch ein König!« 34 Diez an Dohm, 10. Mai 1790, ebd., S. 77.

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und sogar streckenweise unmöglich gemacht wird (Abb. 1). Deshalb soll an dieser Stelle zunächst die Geheimschrift charakterisiert und im Anschluss daran das Entschlüsselungsverfahren vorgestellt werden.

Abb. 1: Interlineare Auflösung, Diez an Dohm, Konstantinopel am 24. Dezember 1784, S. 13. © Stadtarchiv Regensburg

Das Beispiel dieses chiffrierten, erst jetzt in den Fokus geratenen Briefwechsels beweist einmal mehr, dass es in der Forschung bislang verbreitet ist, »chiffrierten Depeschen fein säuberlich aus dem Weg zu gehen« – ein Problem, das Aloys Meister schon 1902 erkannte.35 Die Forderung, das chiffrierte Material in den Archiven aufzuarbeiten, wurde bereits in den 1930er Jahren laut.36 Gerade in den letzten Jahren hat sich die Fachwissenschaft diesem Themenfeld verstärkt zugewandt, insbesondere die angloamerikanische Forschung.37 Für den deutschen Raum besteht Nach-

|| 35 Aloys Meister: Die Anfänge der modernen diplomatischen Geheimschrift. Paderborn 1902, S. III. 36 Franz Stix: Geheimschriftenkunde als Hilfswissenschaft. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte.,Erg.-Bd. 14 (1939), S. 453–459, hier S. 459. 37 Vgl. U.a. Katherine Ellison u. Susan Kim (Hg.): A Material History of Medieval and Early Modern Ciphers. Routledge 2018; Katherine Ellison: A culture history of early modern english cryptography manuals. Routledge 2017; Martin Mulsow u. Anne-Simone Rous (Hg.): Geheime Post. Kryptologie

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holbedarf, wenngleich für Sachsen im Rahmen einer Habilitationsarbeit eine ansehnliche Sammlung von Geheimschriften in Form einer Datenbank entstanden ist, die demnächst publiziert wird.38 Die chiffrierte Korrespondenz zwischen Diez und Dohm stellt in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar. Erstens beruht die Geheimschrift auf einem Nomenklator, also einer Entschlüsselungstabelle, die leider nicht überliefert ist. Bislang existiert keine Software zur Dechiffrierung von Nomenklatoren, und die Experten gestehen, Nomenklatoren seien »ein schwieriges Thema«.39 Zudem erwies sich die Diez-Dohm-Geheimschrift im Zuge der Entschlüsselung als teilweise gut gesichert. Zum besseren Verständnis der detaillierten Analyse seien einige relevante Hintergrundinformationen zum Aufbau von Nomenklatoren vorangestellt: Mit Nomenklatoren verschlüsselte Chiffren benutzen ein Ersetzungsverfahren, das Buchstaben, Silben oder Wörter durch Zahlen ersetzt. Seit dem 14. Jahrhundert wurde diese Technik immer weiter professionalisiert. Aus den anfänglich etwa 20 Zeichen wurden über die Jahrhunderte Nomenklatoren mit bis zu 30.000 Einträgen, weil eben nicht nur Buchstaben, sondern auch Silben und Wörter mit so genannten Codegruppen, also Zahlen, ersetzt wurden. Die häufigsten Buchstaben und Wörter erhielten mehrere Codegruppen, um dem Chiffrierer eine Wahl zu lassen und der Häufigkeitsanalyse der Codeknacker entgegenzuwirken. Wenn ein Begriff mehrere Codegruppen zugewiesen bekommt, werden diese »Homophone« genannt. Im Beispiel des gezeigten französischsprachigen Nomenklators gibt es Homophone beispielsweise bei »La Dieté« (Der Reichstag) oder »Vienna« (Wien) (Abb. 2). Weiterhin wurden Nonvaleurs eingestreut, die nichts bedeuten. Über die Jahrhunderte hinweg erfanden die Kryptologen noch weitere Elemente, um den Zugang zu erschweren.40 Für den Chiffrierer wurden die verschlüsselten Wörter in einer alphabetisch geordneten Tabelle erfasst. Der Dechiffrierer erhält eine ebenso große Tafel, bei der alle Inhalte nach der Zahlenreihung sortiert sind. Diese Tafeln werden Nomenklato|| und Steganographie der diplomatischen Korrespondenz europäischer Höfe während der Frühen Neuzeit. Berlin 2015. Neue Impulse bot die Tagung »HistoCrypt 2018«, 18. bis 20. Juni 2018, Universität Uppsala. URL: http://www.histocrypt.org/ [05.04.2018; ASR]. 38 Vgl. Anne-Simone Rous: Geheimdiplomatie in der Frühen Neuzeit. Spione – Chiffren – Interzepte. Habilitationsschrift, Universität Erfurt/Forschungszentrum Gotha 2016 (Druck in Vorbereitung). 39 Vgl. die Einschätzung des deutschen Kryptologie-Experten Klaus Schmeh: »Nomenklatoren sind leider ein schwieriges Thema. Gut gemachte Nomenklatoren sind generell sehr schwer zu knacken. Hinzu kommt, dass viel Know-how in diesem Bereich verloren gegangen ist. Meines Wissens gibt es momentan weltweit keinen Spezialisten für das Lösen von Nomenklator-Verschlüsselungen.« Klaus Schmeh: AW: Anfrage [E-Mail]. [[email protected]; 21.02.2017]. 40 In der kryptologischen Literatur findet man u. a. die Idee der Nullifizierer, die eine vorherige Chiffre für ungültig erklären. Wenn ein verschlüsselter Text erneut verschlüsselt wird, spricht man von Überschlüsselung. Bei einer solchen mussten z. B. bestimmte Zahlen erst mit einer vereinbarten Zahl addiert werden, um die gültige Codegruppe zu erhalten. Vgl. Rous: Geheimdiplomatie in der Frühen Neuzeit (s. Anm. 38), S. 240.

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ren genannt und waren zum Teil so umfangreich, dass sie auseinandergefaltet mehr als einen Quadratmeter maßen. Aus Platzgründen entwickelte man im 18. Jahrhundert dann Codebücher. Da die Niederschrift einer Chiffre äußert aufwändig war, fanden die Tafeln oft mehrfache Verwendung, manchmal noch Jahrzehnte später. Aus Zeitnot bzw. Ignoranz unterliefen den Sekretären bei der Erstellung Chiffrierfehler, das heißt: Sie nutzten die Chiffriermöglichkeiten oft nicht optimal aus und erleichterten dem Gegner so den Einbruch in die Geheimschrift.

Abb. 2: Offizieller Nomenklator der sächsischen Gesandtschaft in Wien 1721-28, Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, (SächsHStAD), 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 675/10, f. 10.

6 Die Vorgehensweise bei der Entschlüsselung Um die chiffrierten Briefe zwischen Diez und Dohm zu entschlüsseln, führte der erste Weg in die bereits erwähnte Chiffrendatenbank, in der eine Chiffre aus dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin verzeichnet ist (Abb. 3).41 Dieser offizielle Nomen-

|| 41 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (GStA PK), 1. HA, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, L 8 b, fasc. 5: Diez von Konstantinopel nach Berlin, 1784.

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klator enthält zwei französischsprachige Chiffren von Diez in diplomatischer Mission in Konstantinopel. Er ist in Form eines Codebuchs angelegt, für das teilweise ausgefüllte Vordrucke verwendet wurden.

Abb. 3: Nomenklator für offizielle Korrespondenz von Diez. GStA PK, 1. HA, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, L 8 b, fasc. 5: Diez von Konstantinopel nach Berlin, 1784, f. 1. © Geheimes Staatsarchiv – PK.

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Dass diese Chiffre tatsächlich benutzt wurde, zeigen die offiziellen Briefe von Diez aus Konstantinopel, die genau mit diesem Nomenklator entschlüsselbar sind. Die Nomenklator-Akte ist jedoch unvollständig, denn es fehlen von Chiffre A die Nummern 1 bis 2280 sowie die Chiffres chiffrant – also die Tafeln in alphabethischer Reihenfolge – beider Chiffren. Die zweite Chiffre enthält über 3.600 Codegruppen, davon allein über 100 Namen aus diplomatischem Kontext. Anhand der Indikatoren – also Namen, Wortwahl, Komplexität, Sprache, Vordruck – sind diese beiden Chiffren zweifelsfrei als offizielle Chiffren einzustufen, die nicht für den Privatgebrauch vorgesehen waren. Somit sind sie mit dem deutschsprachigen Diez-Dohm-Briefwechsel nicht kompatibel. Der Nomenklator zur Korrespondenz zwischen Diez und Dohm ist nach derzeitigem Wissensstand nicht überliefert. Die Analyse der Geheimschrift ergibt folgende Merkmale. Wir haben engbeschriebene Zeilen einer kleinen Handschrift. Gelegentlich sind Zahlenkolonnen ersichtlich, die teilweise interlinear aufgelöst sind. Der Klartext wurde leider oft unleserlich in die Zwischenräume geschrieben. Durch die Auszählung aller Seiten der Korrespondenz konnte eine Statistik über die Dichte der Chiffrierung erstellt werden (Abb. 4):

Abb. 4: Statistische Auswertung der Chiffrierung im Briefwechsel zwischen Diez und Dohm. Grafik: Anne-Simone Rous.

Die Chiffre wurde also am meisten auf den Seiten 30 bis 80 eingesetzt (was der Hauptphase von Diezʼ Aufenthalt in Konstantinopel entspricht). Gegen Ende der

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Korrespondenz fand die Geheimschrift gar keine Verwendung mehr. Die beiden Korrespondenten schrieben sich generell über sichere Kanäle. Erwähnt werden Venedig und Neapel.42 Die Chiffre enthält häufig dieselben Nummern, was auf wenige oder gar keine Homophone schließen lässt. Eine Mehrsprachigkeit ist angesichts des durchgängig deutschen Klartextes fast ausgeschlossen. Da es Lücken in der interlinearen Auflösung innerhalb einer Zeile gibt, ist klar ersichtlich, dass vereinzelte Nonvaleurs eingestreut wurden. Die interlineare Auflösung ist eine paläographische Herausforderung. Zudem sind zur besseren Absicherung oft Initialen oder Abkürzungen verwendet worden, die sich erst bei der inhaltlichen Analyse erschließen. Die verwendeten Codegruppen weisen auf einen großen Nomenklator hin, denn die niedrigste Zahl ist die 16, die höchste die 1878. Auffällig ist, dass viele Zahlen mit 1, 6 und 3 beginnen – später zeigte sich, dass dies auf die alphabetische Sortierung zurückgeht und mit den im Deutschen häufigsten Buchstaben zusammenhängt (E, L, N, R, S, T). Zweite Auffälligkeit ist, dass die Codegruppen oft ein-, zwei-, drei-, vier- und sogar fünfmal unterstrichen sind.

Abb. 5: Beispiel für Unterstreichungen. Diez an Dohm, Konstantinopel am 10. November 1784, S. 6– 7. © Stadtarchiv Regensburg

|| 42 Vgl. Diez an Dohm (s. Anm. 11), S. 68.

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Von der offiziellen Chiffre her ist bekannt, dass dadurch gekennzeichnet wird, wie viele Buchstaben bei dem Wort von hinten entfallen. Diese Regel ist in jener Chiffre allerdings nicht durchgängig so anwendbar. Ein Beispiel: »527« bedeutet ein »L«, und die Unterstreichung der Zahl kann unmöglich das Wegfallen des letzten Buchstabens bedeuten. An anderer Stelle ist eine Zahl sogar neunmal unterstrichen (Abb. 5). Es ist also ganz klar, dass die Abtrennung von Buchstaben mit den Unterstreichungen nicht gemeint sein kann. Da der Name Friedrichs II. neunmal unterstrichen ist, könnte es sich um eine Hervorhebung handeln, die dem Leser auf einen Blick die wichtigsten Stellen im Brief anzeigt. Eine andere These ist, dass sich je nach Unterstreichung die Bedeutung der Zahl änderte. Letzte Gewissheit darüber wird man erst haben können, wenn eine detaillierte Analyse der Chiffre erfolgt. In Anbetracht der Unterstreichungen ist die Rekonstruktion des Nomenklators sehr zeitaufwändig. Es wurden zwei Dateien parallel geführt: In der einen wurde der Text transkribiert, in der anderen eine Liste der Zahlen geführt. Die Transkription erfolgte so, dass Stellen, die interlinear aufgelöst waren, im Klartext niedergeschrieben wurden und die aufgelösten Zahlen als Fußnote erscheinen. Der komplexe Workflow bildet die einzelnen Schritte ab, die sich aus dem Vorgehen beinahe zwangsläufig ergeben (Abb. 6). Satz für Satz muss geklärt werden, ob der Satz chiffriert ist oder nicht, ob eine interlineare Auflösung vorliegt oder nicht und ob diese gut lesbar ist oder nicht. Im nächsten Schritt widmet man sich den Codegruppen und den Unterstreichungen. Letztere nehmen besonders viel Zeit in Anspruch, da die Strichzahl mit einem Farbcode dargestellt wurde (gelb: eine Unterstreichung, orange: zwei, rot: drei, hellbraun: vier, dunkelbraun: fünf, schwarz: sechs und mehr). Zum Schluss musste geklärt werden, ob diese Zahl bereits einmal verwendet wurde und vielleicht bereits entschlüsselt ist, oder ob sie neu aufgenommen werden musste. Gesicherte Dechiffrierung wurde grün markiert, unsichere Lesung mit einem roten Fragezeichen gekennzeichnet. Die beiden geführten Dateien sahen entsprechend bunt aus.

7 Das Ergebnis der Dechiffrierung Nach der geleisteten Transkription von 18 der 168 Seiten kann folgendes Ergebnis vorgelegt werden: Ein Muster, das die alphabetische Sortierung der Chiffre belegte, zeigte sich, als etwa zehn Seiten transkribiert waren. Überraschend, weil in der Literatur so noch nirgends festgehalten, war der Umstand, dass Worte mehr oder weniger sinnvoll gesplittet wurden, um sie zu chiffrieren. Ein Beispiel: Das Wort »Rolle« wurde zerteilt in die Bestandteile »Ro«, »l« und »le«. Und obwohl das Wort »schlagen« im Nomenklator existierte, hat man das Wort »geschlagen« nicht etwa

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Abb. 6: Arbeitsschritte der Entschlüsselung (Workflow). Grafik: Anne-Simone Rous.

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in zwei Bestandteile zerlegt, sondern in drei: »ge«, »schla« und »gen« (Abb. 7). Die Entschlüsselung durch den Gegner, sollte er einen chiffrierten Brief abfangen, war mit dieser Wortzersplitterung quasi unmöglich gemacht worden. Der Einsatz von Nonvaleurs war klug gewählt. So findet man diese Zahlen, die nichts bedeuten, teilweise mit besonders vielen Unterstreichungen und manchmal auch sehr dicht beieinander.

Abb. 7: Beispiele für Zerlegung von Worten bei der Chiffrierung. Diez an Dohm, Istanbul, 9. Juni 1788, S. 67–68.

Der rekonstruierte Nomenklator umfasst 265 Codegruppen. Das wären, wenn alle Zahlen bis 1878 vergeben worden wären, immerhin 14%. Aber in den Codebüchern sind selten alle Zahlen besetzt, sodass der Nomenklator vermutlich zu einem Drittel rekonstruiert werden konnte. 92 Codegruppen konnten als eindeutig dechiffriert markiert werden. Was inhaltlich verschlüsselt wurde, waren häufig Namen und Halbsätze mit persönlichen Meinungen oder Beschuldigungen, mithin Personalia. So chiffrierte Diez, dass die Departements sich gegenseitig kontrollierten, dass Bellegarde keine Instruktion habe und die Korrespondenz aussetzen musste, und wer mit dem Großgouverneur sprach.43 Daneben sind auch außenpolitische Geheimnisse chiffriert, etwa über Missverständnisse zwischen Russland und Österreich.44 Inhaltlich hielt

|| 43 Vgl. ebd., S. 13. 44 Ebd.

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der Einsatz der Chiffre einige Überraschungen bereit, denn bisweilen sind pikante Formulierungen nicht chiffriert worden. Mit seiner Vaterlandsliebe hielt Diez nicht hinterm Berg. Sein Preußenverständnis liest sich aus heutiger Sicht recht befremdlich, stimmt aber durchaus damit überein, was Diez 1774 über Patriotismus und Nationalcharaktere geschrieben hatte:45 Auch über Preußen sollen sie schreiben und Preußen zu ehren und der Nazion einen Namen zu versehen damit nicht blos ein großer König allein mit der Mühe beladen sey, seiner undankbaren unwürdigen Nazion einen Namen zu geben. Sie sollten schreiben, wie alles gute, was in Deutschland izt existirt, aus Preußen ausgegangen, sogegen, daß Preußen der Sitz der guten deutschen Sprache (denn von Sachsen muß nicht mehr gesprochen werden) sey, der Wohnplatz der Aufklärung und Künste und Wissenschaften predigen von allen Dächern nur Preußen, durch seinen König auf ganz Europa gewürkt.46

Diez schimpfte in der Korrespondenz andererseits über die politische Arbeit, unnütze Novellen47 und den König. Drei Zitate mögen seine Meinung über den gealterten Friedrich II. belegen: Ich kann keinen Plan machen, weil man immer in Berlin, in Potsdam keinen Plan hat.48 beyfall [ist] auch dem düstersten Bericht gewiß. er hat eine abscheuliche Antwort gegeben er erklärt alles für Bagatellen49 Man ist aber weit entfernt in Berlin wahre Klugheit zu kennen.50

Wiederholt störte ihn, dass es kein System gab und keinen politisch verlässlichen Plan. Hieraus lässt sich auf einen sehr gründlichen und strukturiert denkenden Mann schließen. Sein Ziel richtet sich darauf, schneller als andere informiert zu sein und ein System aufbauen zu können – womit er wohl ein sicheres Informationssystem meint, das ihm alle relevanten, authentischen Nachrichten pünktlich und vollständig exklusiv zuführte. In diesem Zusammenhang ganz besonders interessant erscheint uns der Hinweis auf die Praxis des Kuvertierens. Das Einlegen eines Briefes in einen Brief an einen Dritten sicherte den Informationstransport. Diez schreibt darüber am 24. Dezember 1784 ganz ungeniert: Ich habe daraus geurtheilt, daß er die Depeschen kuvertiert. Dies war mir nicht unwillkommen, weil ich wohl voraus sah, daß dieser Kreuzgang hier in Nehmung kommt. Ich sagte ihnen schon in Berlin dies und stellte Ihnen deshalb anheim, die Adresse Ihro Briefe auch durch 140.1044. zu versehen. Natürlicherweise fordert mir hierüber niemand Erklärungen ab und ich || 45 Diez: Frühe Schriften (s. Anm. 3), S. 105. 46 Diez an Dohm (s. Anm. 11), S. 2. 47 Ebd., S. 12. 48 Vgl. ebd., S. 10. 49 Ebd., S. 9. 50 Ebd., S. 6.

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finde keinen Brauch [?] sie von selbst zu geben. Ich lasse es also dabey, wie man mich nimmt und schreibe bey Gelegenheit 1044., wo ich es sachdienlich finde. [...] Sie können sich nun um so leichter davon dispensieren, wenn Sie Ihre Briefe bey den Depeschen kuvertieren laßen, weil ihre Briefe als dann nicht öffentlich erscheinen.51

Neben dem Kuvertieren erwähnt Diez den Brieftransport über sichere Umwege und mündliche Übermittlung.52 Dennoch gehen immer wieder Briefe verloren.53 Auch erwähnt Diez, dass es ihm nicht möglich war, einen geeigneten, vertrauensvollen Sekretär zu finden.54 An anderer Stelle lässt er sich unchiffriert über die Kriegsziele der Türken aus und hebt mit Unterstreichungen diese Stelle noch hervor: Die Türken wollen sich diesmal schlagen, welches sie im letzten Kriege nicht wollten, indem sie selbst angestülpt waren, und überhaupt nicht wussten, warum sie Krieg führten. Und wenn sich der Türke schlagen will, so ist er ein gefährlicher Feind, weil er zwischen Siegen und Sterben keine Mitte kennt. Man kennt diese Welle nicht in Europa. Man beurtheilt es nach ihrem letzten Kriege, woraus man doch nur auf sein Lande schließen sollte, denn hier ist mehr Meyndung und Gedanke als anderwärts beym gemeinen Mann.

Weiter unten bespricht er militärisch wichtige Details – ohne Chiffrierung: »Der Kospodar Pascha ist zu ? angekommen und schickt sich zum Angriff von der Seite an.«55 En passant erwähnt Diez noch eine eigenmächtige Standeserhöhung: »Was Sie in meinem Bericht nicht haben lesen können, betrifft das de vor meinem Namen. Es ist eine Sache, die hier was gilt.«56 Inhaltlich ist dieser Briefwechsel sehr vielschichtig und relevant. Kehren wir zurück zur Chiffre, um die offenen Punkte zu benennen. Nicht geklärt werden konnten drei Dinge: zum einen der Sinn der Unterstreichungen, zum anderen der häufig auftretende Fall, dass hinter einer Zahl »½« zu sehen ist (Abb. 5, rechte Seite). Zum Dritten fügen sich einmal direkt an eine Zahl zwei Buchstaben an – was »982in« bedeuten mag, bleibt ebenfalls vorerst im Dunkeln.

8 Ausblick Eine softwaregestützte Fortsetzung der Dechiffrierung wäre für den inhaltlich höchst aufschlussreichen Briefwechsel äußerst wünschenswert. Eine Anlaufstelle gäbe es: Für die möglichst internationale Entschlüsselung frühneuzeitlicher chif-

|| 51 Ebd., S. 13. 52 Vgl. ebd., S. 67f. 53 Vgl. ebd., S. 67. 54 Vgl. ebd., S. 71. 55 Ebd., S. 68. 56 Ebd., S. 8.

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frierter Quellen engagiert sich bereits seit Jahren ein europäisches Netzwerk von Historikern und Informatikern, das die oben genannte Tagung »HistoCrypt« veranstaltete. Von Uppsala bis Budapest, St. Petersburg bis Madrid bemüht man sich darum, Geld für ein europaweites Forschungsprogramm zu akquirieren. Ziel ist es, die verstreut liegenden verschlüsselten Quellen und ihre Nomenklatoren zu verknüpfen und eine Software zur Entschlüsselung zu entwickeln. Leider scheiterten bereits vier Anträge.57 Immerhin waren die Innovation und Relevanz des Projektes als exzellent eingestuft worden. Einzig das Risiko, dass die verschlüsselten Quellen vielleicht nicht so interessant sein könnten, führte zu Punktverlust. Das ist ein Aspekt, der nicht von der Hand gewiesen werden kann angesichts der bislang fehlenden Basisarbeit. Die Analyse der Diez-Dohm-Korrespondenz ist ein kleiner Beitrag dazu, dieses Desiderat anzugehen und zu zeigen, welchen wissenschaftlichen Ertrag Dechiffrierung bringen kann.

|| 57 Titel des geplanten Programms: »Unlocking Europe’s Encrypted Heritage«. 2014–17 beantragt bei der EU-Förderorganisation COST (European Cooperation in Science and Technology).

Christoph Rauch

»Die Türken als Menschen zu studiren« Die Briefe von Diez an Tychsen »Aber da die menschliche Wahrheit nur auf Wahrnehmung des Geschehenen und dessen, was würklich ist, beruht: so kann sie nur die Frucht der Erfahrung und Thatsachen seyn.« H. F. v. Diez1

1 Einleitung Wenige Monate nach seiner Rückkehr aus Konstantinopel erwarb Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) das Gut Friedrichshuld in Philippsthal bei Potsdam.2 Hier ließ sich der ehemalige Geschäftsträger und Gesandte an der Hohen Pforte im Mai 1791 nieder, um sich den orientalischen Studien und insbesondere der Auswertung seiner aus der Türkei mitgebrachten Artefakte und Bücher zu widmen. Zurückgezogen vom öffentlichen Leben der Hauptstadt begann er umgehend damit, sein Handschriftenverzeichnis anzulegen und seine Münzsammlung zu ordnen. Der Rechtsgelehrte Diez, der nach eigener Aussage vor seinem Aufenthalt im Osmanischen Reich noch keine Gelegenheit dazu hatte, sich den morgenländischen Sprachen und Studien zu widmen,3 erlernte in Konstantinopel die türkische Sprache und beschaffte || Für wertvolle Anregungen, Korrekturen und Hinweise danke ich Friederike Weis und Klaus Kreiser (beide Berlin) sowie Ernst Quester (Starnberg). 1 Heinrich Friedrich von Diez: Vorbericht. In: Buch des Kabus oder Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach. Ein Werk für alle Zeitalter. Berlin 1811, S. 1. 2 Das Gut Friedrichshuld, in welchem Diez bis zu seinem Umzug nach Colberg im Jahre 1798 lebte, befindet sich heute in Privatbesitz. Das unter Denkmalschutz stehende Herrenhaus wurde liebevoll restauriert und entspricht im Wesentlichen noch dem frühklassizistischen Erscheinungsbild, das es nach Umbauten zu Ende des 18. Jahrhunderts annahm. Vgl. Matthias Barth: Herrenhäuser und Landsitze in Brandenburg und Berlin. Von der Renaissance bis zum Jugendstil. 3. Aufl. Würzburg 2012, S. 140–143. 3 »Ehe ich nach der Türkey ging, hatte ich mich um Morgenländische Litteratur und Sprachen zu bekümmern weder die Gelegenheit noch Muße gehabt« (Heinrich Friedrich von Diez an Oluf Gerhard Tychsen, 25. Februar 1792, UB Rostock, Nachlass O. G. Tychsen, Mss. orient. 284(4), Bl. 101a). Dem entgegen steht allerdings eine wohl eher allgemein gehaltene Aussage von Diez in seiner Bewerbung um den Posten des Gesandten in Konstantinopel vom 17. Februar 1784, wonach er durch Sprachkenntnisse und weitere Studien für einen diplomatischen Dienst in der Türkei vor-

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sich dort auch westliche Literatur über die Region. Bereits damals plante er die Edition und Übersetzung von türkischen Texten, weshalb ihm viel daran gelegen sein musste, zum Erörtern von Fachfragen sein Korrespondenznetzwerk um Orientalisten zu erweitern. Zu den ersten Kontakten dieser Art gehörte Oluf Gerhard Tychsen (1734–1815).4 Der folgende Beitrag stellt zunächst die Briefe vor, die Diez in den Jahren 1791 bis 1793 an Tychsen schrieb, und geht anschließend auf einige der Inhalte näher ein: Was erfahren wir Neues über seinen Aufenthalt in Konstantinopel, wie ist seine Haltung zu den Türken und zum Islam? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, welche Interessen Diez beim Aufbau seiner Sammlung geleitet haben, die für die nachfolgenden Jahrzehnte die Grundlage seiner Arbeit bilden sollte. Um diese Fragen beantworten zu können, werden weitere zeitgenössische Quellen hinzugezogen, etwa das von ihm ab 1791 angelegte Handschriftenverzeichnis und die Briefe an seinen Freund Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751–1820). Allerdings können diese ergänzenden Dokumente im Rahmen des vorliegenden Beitrages nicht erschöpfend ausgewertet werden. Es soll im Folgenden deutlich werden, dass die Beschäftigung mit Gelehrten-Persönlichkeiten wie Diez, die nicht in den institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb eingebunden waren und erst während ihres Aufenthaltes im Orient mit ihren Sprach- und Kulturstudien begannen, einen wichtigen Beitrag leisten kann zum Verständnis des Orientbildes und der Situation der Orientalistik im Deutschland des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert.5 Es war eine Epoche, die in Europa wie auch in der islamischen Welt von einschneidenden politischen Veränderungen geprägt war. Diez’ Aufenthalt in Konstantinopel und seine Begegnung mit dem islamischen Orient wurde häufig als Beginn eines geistigen Umschwungs ausgemacht, als entscheidender Wendepunkt in der Entwicklung des jungen und provokanten Freidenkers hin zu einem konservativen und tiefreligiösen Menschen. Die Koinzidenz der Abreise in die Türkei mit dem Beginn der 25-jährigen Unterbrechung seiner bis dahin regen Publikationstätigkeit wie auch sein zurückgezogener Lebenswandel nach || bereitet sei, vgl. Johann Wilhelm Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa. Sechster Theil. Umschwung des inneren Lebens des osmanischen Reiches und der orientalischen Politik während der Revolutionszeit. Von dem Frieden zu Kutschuk-Kainardsche im Jahre 1774 bis zum Frieden mit Frankreich im Jahre 1802. Gotha 1859, S. 470. 4 Auch zu Samuel Günther Wahl (1760–1834), Professor in Halle, hatte er vermutlich bereits 1790 Briefkontakt aufgenommen, er lernte diesen während eines Berlinaufenthaltes kennen. Vgl. Brief von Diez an unbekannt vom 26. September 1811 (ULB Bonn, Nachlass Gildemeister, S 1699). Andere Orientalisten, mit denen er nachweislich in späterer Zeit in Briefkontakt stand, sind der Breslauer Maximilian Habicht (1775–1839) und der Tübinger Christian Friedrich von Schnurrer (1742–1822). 5 Zum Orientbild in der deutschen Literatur und Wissenschaft siehe insbesondere Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin, New-York 2005; zur Entwicklung der Orientalistik als akademischer Disziplin: Sabine Mangold: »Eine weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004.

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der Rückkehr aus dem Orient verstärkten diese Annahme. Ein Eintrag in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von 1834 bestimmt in gewisser Weise bis heute das Bild von Diez. Darin heißt es: »[D]enn nachdem er früher Enthusiast für Spinoza, dann für Muhammed und den Koran gewesen, ward er zuletzt Hyperorthodox und Zelot bis zur Verketzerung.«6 Inzwischen gibt es Ansätze, in der Entwicklung seiner denkerischen Standpunkte über die einzelnen äußerlich sehr verschiedenen Lebensphasen hinweg ein Kontinuum zu erkennen.7 Es konnten jedoch bisher kaum Quellen erschlossen werden, die unmittelbare Zeugnisse aus dem Zeitraum seines Aufenthaltes in Konstantinopel und in den Jahren danach darstellen. Die Frage, wie es in dem besagten Lebensabschnitt eigentlich um Diez’ Haltung zu Muhammed und dem Koran stand, konnte bisher nicht befriedigend beantwortet werden, da zwischen seiner Rückkehr aus Konstantinopel und der Wiederaufnahme seiner Publikationstätigkeit beinahe 20 Jahre liegen. Der Auswertung der persönlichen Korrespondenz von Diez aus der Zeit seines Aufenthaltes in Konstantinopel und den unmittelbar darauffolgenden Jahren kommt aus diesem Grund eine große Bedeutung zu, worauf bereits Manfred Voigts hinwies.8 Diezʼ Korrespondenz ist allerdings nur lückenhaft erhalten. An ihn gerichtete Briefe hat er in der Regel ebenso wie eigene handschriftliche Materialien vernichtet.9 Die Briefe an Tychsen, die hier näher betrachtet werden sollen, stellen nach den im Regensburger Stadtarchiv verwahrten Briefen an Christian Konrad Wilhelm von Dohm aus den Jahren 1784 bis 181510 die vom textlichen Umfang her größte private Korrespondenz dar, die erhalten ist.11

|| 6 Diez, (Heinrich Friedrich v.). In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Sect. 1. Theil 25. Leipzig 1834, S. 167f. 7 Siehe dazu den Beitrag von Lela Gibson in diesem Band. Ihre Dissertation (Changing States. Ottoman Sufism, Orientalism, and German Politics, 1770–1825. University of California 2015), in der sie die These vertritt, dass Diez in Konstantinopel durch die islamische Mystik geprägt wurde, ist zugänglich unter https://escholarship.org/uc/item/8gh91574. 8 Vgl. Manfred Voigts: Heinrich Friedrich Diez. Kanzleydirektor, Freygeist und Freund der Juden. In: Heinrich Friedrich Diez. Frühe Schriften. Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 460. 9 Vgl. sein Testament, teilweise abgedruckt in Curt Balcke: Heinrich Friedrich von Diez und sein Vermächtnis in der Preußischen Staatsbibliothek. In: Von Büchern und Bibliotheken. Hg. von Gustav Abb. Berlin 1928, S. 187–200, hier S. 193f. In einem Brief an Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) vom 12. Juli 1812 spricht Diez von der »Unannehmlichkeit des Briefdruckens«, der er gerne entgehen möchte (SBB–PK, Slg. Darmstaedter 2m 1811, Bl. 1b). Briefe von ihm an Jakob Eléazar Mauvillon und Abraham Jakob Penzel waren zu diesem Zeitpunkt bereits veröffentlicht. 10 Siehe dazu den Beitrag von Anne-Simone Rous und Martin Mulsow in diesem Band. 11 Eine Edition sämtlicher zugänglicher Briefe durch Arne Klawitter und Christoph Rauch ist in Vorbereitung.

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2 Der Briefwechsel mit Tychsen Elf Briefe schrieb Diez zwischen Juli 1791 und Juni 1793 an Tychsen, insgesamt 68 sehr eng beschriebene Quart-Seiten (Abb. 1).12 Zwölf Briefe erhielt Diez, was sich aus Vermerken Tychsens auf den erhaltenen Briefen rekonstruieren lässt, aber nur ein Entwurf des ersten Antwortschreibens vom 6. August 1791 ist erhalten. Oluf Gerhard Tychsen studierte in Halle Theologie und Orientalische Sprachen. Er wirkte anschließend zunächst am Waisenhaus in Halle und in der Judenmission für Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum. 1760 ließ er sich auf Einladung des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin, Friedrichs des Frommen, in Bützow als Hebräisch-Lehrer nieder, wo er 1763 zum Professor für Orientalische Sprachen berufen wurde. Mit der Rückführung der Bützower Universität nach Rostock im Jahre 1789 legte er sein Professorenamt nieder und konzentrierte sich auf die Leitung der dortigen Universitätsbibliothek.13 Er reiste nur wenig, hat es aber nicht zuletzt durch ein geschicktes Korrespondenznetzwerk geschafft, aus der mecklenburgischen Provinz heraus ein europaweit angesehener Gelehrter zu werden. Die Zahl seiner überwiegend ausländischen Korrespondenzpartner beläuft sich auf mehr als 200.14 Sein Wirken als Wissenschaftler, seine Bedeutung für die Entwicklung der arabischen Paläographie und der islamischen Numismatik sowie für die Geschichte des Judentums ist in den vergangenen Jahren Gegenstand mehrerer Tagungen und Publikationen geworden, begleitet von der vorbildlichen Erschließung und Digitalisierung seines Nachlasses an der Universitätsbibliothek Rostock.15 Tychsen pflegte Kontakte auch mit dem Ziel der Erweiterung seiner umfangreichen Privatbibliothek und Münzsammlung, weshalb ihm die Anbahnung des Briefwechsels durch Diez nur gelegen sein konnte. Als er Anfang August 1791 den ersten

|| 12 Briefwechsel alphabetisch (Borgia, Stefano bis Gregorio, Rosario). UB Rostock, Nachlass O. G. Tychsen, Mss. orient. 284(4), Bl. 74a–114. Das Konvolut ist digital zugänglich unter: http://purl.unirostock.de/rosdok/ppn838435041. Zum Briefwechsel von Tychsen vgl. Ramona French: Oluf Gerhard Tychsen – ein deutscher Orientalist des 18. Jahrhunderts. Eine Untersuchung seiner Korrespondenz als Beitrag zur Geschichte der Orientalistik. Rostock 1984. 13 Heinrich Klenz: Tychsen, Oluf Gerhard. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 39 (1895), S. 38–51. 14 Vgl. https://www.ub.uni-rostock.de/universitaetsbibliothek/kooperationen/projekte/tychsenprojekt/ (letzter Zugriff 2. Februar 2019). 15 DFG-Projekt Erschließung und Digitalisierung des Nachlasses von Oluf Gerhard Tychsen (1734– 1815) an der Universität Rostock; in diesem Zusammenhang fanden zwei Konferenzen statt: »Der Rostocker Gelehrte Oluf Gerhard Tychsen (1734–1815) und seine internationalen Netzwerke«, 25.–27. November 2015 sowie »Korrespondenzen und Nachlassmaterialien um 1800 – Erschließung, digitale Edition und wissenschaftliche Auswertung«, 22.–23. Mai 2017. Die kürzlich publizierten Ergebnisse der Konferenz von 2015 konnten hier leider nicht einfließen: Rafael Arnold u. a. (Hg.): Der Rostocker Gelehrte Oluf Gerhard Tychsen (1734–1815) und seine internationalen Netzwerke. Hannover 2019.

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Abb. 1: Brief von Diez an Tychsen vom 25. August 1792. © UB Rostock

Brief aus Philippsthal erhielt, war Diez ihm bereits durch seine Streitschrift Über Juden aus dem Jahre 1783 bekannt, mit der dieser Dohms Über die bürgerliche Ver-

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besserung der Juden (1781) flankiert hatte.16 Als Diez nun in diesem ersten Brief von seiner türkischen Münzsammlung berichtete und Auskunft zur Sammlung des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin erbat, konnte Tychsen nicht nur mit neuen numismatischen Funden rechnen, er hatte auch die Hoffnung, Informationen über die Situation der Juden im Osmanischen Reich zu erhalten: Sollten sich Ew. Hochwohlgeboren auch um den Zustand der Juden im Türkischen Reiche bekümmert haben; so würde eine Nachricht von Ihrer fließenden Feder ebenso fruchtbar und wilkommen, wie diejenige im 3ten Stück der Berichte der Buchhandlung der Gelehrten v. J. 1783 seyn. Als ich noch zu Bützow war, hatte ich öftere Besuche von Orientalischen Juden, und stand im Briefwechsel mit einem Levi Mortero zu Constantinopel und Moses Schor zu Jerusalem; hier aber, wo keine Juden sich zu meinem Verdruss aufhalten dürfen, lebe ich isolirt, und höre nichts weiter aus jenen Gegenden, als was ich von den neumodisch windigen Reisebeschreibern mit Aerger lese.17

Die Ebene des Austauschs ist von Beginn an sehr vertrauensvoll und Diez nahm die oben zitierte kurze Bemerkung zu den Reisebeschreibern dankbar auf, um im nächsten Brief weitschweifig seiner Verachtung und tiefen Abneigung gegen in der Regel unwissende und geltungssüchtige Reiseschriftsteller Ausdruck zu geben.

3 Numismatische Fragen Die Briefe enthalten einen intensiven Austausch zu Münzen, der hier nur umrissen werden kann.18 Diez wollte zunächst in Erfahrung bringen, ob in der orientalischen Münzsammlung der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin osmanische enthalten seien. Der ehrgeizige Sammler hoffte, die einzige bedeutende Sammlung dieser Art aufzubauen.19 Selbst unter den Türken sei niemand, schreibt er, »der eine ähnliche

|| 16 Zu Tychsens Reaktion auf Dohms Schrift zur Judenfrage vgl. Michael Busch: Oluf Gerhard Tychsen und das jüdische Emanzipationsedikt von 1813 in Mecklenburg. In: Jüdische kulturelle und religiöse Einflüsse auf die Stadt Rostock und ihre Universität. Hg. von Gisela Boeck u. Hans-Uwe Lammel. Norderstedt 2016, S. 4–24. Siehe auch den Beitrag von Wolf Christoph Seifert in diesem Band. 17 Tychsen an Diez (Briefentwurf), Rostock, 6. August 1791, UB Rostock, Mss. orient. 284(4), Bl. 76a. 18 Auf die umfangreichen und sehr detailreichen numismatischen Inhalte des Briefwechsels kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es ist zu hoffen, dass mit der geplanten Edition der Briefe neues Material zur Geschichte der islamischen Numismatik in Deutschland erschlossen werden kann – auch wenn diese nur einen kleinen Ausschnitt aus der umfassenden Korrespondenz darstellen, die Tychsen mit Fachkollegen aus zahlreichen Ländern zu numismatischen Themen geführt hat. 19 Diez hat seine umfangreiche Münzsammlung testamentarisch dem Königlichen Münzkabinett vermacht (vgl. Balcke: Vermächtnis [s. Anm. 9], S. 190). Sie ist in den Beständen des heutigen

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Sammlung besitze, ob ich gleich unter ihnen mehrere gekannt, welche den Wunsch gehabt, dergleichen zu erlangen.«20 Die türkischen Münzen von Domenico Sestini (1750–1832), der die Münzsammlung des englischen Gesandten in Konstantinopel Sir Robert Ainslie (1730–1812) beschrieb, kaufte er nur deshalb auf, »um sie als außer der meinigen existirend zu vernichten.«21 Tychsen bot an, die Diez’sche Sammlung durchzusehen. Er selbst hatte aufgrund seiner eigenen Forschungen großes Interesse daran, Namen und Werte der türkischen Münzen in Erfahrung zu bringen. Diez schickte ihm also zusammen mit dem folgenden Brief vom 1. Oktober 1791 ein Paket von 418 Münzen, die Tychsen bereits nach neun Tagen mitsamt Beschreibungen zurücksandte. In der folgenden Korrespondenz werden einzelne Münzen dem jeweils anderen als Geschenk angeboten und mitgesandt. Transkriptionen von Münzinschriften sind ein zentraler Diskussionsgegenstand. Die Anzahl der Münzprägestätten in der Türkei, Prägedaten, das Schlagrecht von Vasallen, die Verbreitung von Gedenkmünzen und Medaillen, Münzfälschungen und Münzen mit Abbildungen im Kontext des islamischen Bilderverbots werden ebenso ausführlich diskutiert wie die zeitliche Ansetzung der Anfänge des islamischen Münzwesens überhaupt. Diez’ Interesse bestand darin, Zeugnisse aller türkischen Münzstätten in der Reihenfolge ihrer Regenten zusammenzutragen. Er identifizierte 46 Orte, an denen Münzen geschlagen wurden, wohingegen in der Literatur von höchstens vier Orten die Rede sei.22 Es ist ein Dissens in numismatischen Fragen, das sei hier bereits vorweggenommen, der nach knapp zwei Jahren zur abrupten Beendigung des intensiv geführten Austauschs führt. Von Anfang an hat Diez einzelne Details aus Tychsens Schriften kritisch kommentiert und betont, wie vorsichtig man mit allgemeinen Schlussfolgerungen auf Basis der vorhandenen Fundstücke sein muss, denn es sei damit zu rechnen, dass neue Funde eine andere Sicht auf die Entwicklung des islamischen und jüdischen Münzwesens eröffnen würden. Im letzten Brief vom 10. April 1793 äußerte sich Diez zur öffentlich geführten Auseinandersetzung zwischen dem Spanier Francisco Pérez Bayer (1711–1794) und Tychsen in der Frage der Echtheit makkabäischer Münzen.23 Perez Bayer veröffentlichte zwei Bücher zu diesen in alt-

|| Münzkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz aufgegangen, eine Rekonstruktion der Provenienz Diez konnte bisher leider nicht unternommen werden. 20 Diez an Tychsen, 27. Juli 1791 (s. Anm. 12), Bl. 74a. 21 Diez an Tychsen, 20. August 1791 (s. Anm. 12), Bl. 79b. 22 Insbesondere mokiert er sich hier über den zu seiner Zeit in hohem Ansehen stehenden Universalgelehrten Dimitrie Cantemir (1673–1723), der als Sohn des moldauischen Fürsten und osmanischen Vasallen längere Zeit in Konstantinopel lebte und dessen posthum (1734/35) gedruckte zweibändige History of the growth and decay of the Othman Empire große Verbreitung fand. In der Bibliothek Diez findet sich die deutsche (1745) und die französische (1743) Übersetzung des Werkes. 23 Vgl. Anton Theodor Hartmann: Oluf Gerhard Tychsen oder Wanderungen durch die mannigfaltigsten Gebiete der biblisch-asiatischen Literatur. Ein Denkmal der Freundschaft und Dankbarkeit.

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hebräischer Schrift geprägten Münzen der Makkabäer (Hasmonäer), die ab 143 v. Chr. in Umlauf kamen.24 Tychsen vertrat die Auffassung, dass sämtliche hebräische Münzen aus der vorchristlichen Zeit gefälscht seien. Es war eine Debatte, die zahlreiche Gelehrte in Europa bewegte und bei der Tychsen schließlich (1794) seinen Irrtum eingestehen musste. Diez begründete ausführlich, warum die Position Perez Bayers nicht von der Hand zu weisen sei und weshalb er ebenfalls annehme, dass es zur Zeit der Makkabäer geprägte Münzen mit althebräischen Inschriften gegeben haben müsse. Es ist nicht bekannt, was in der Antwort stand, die Tychsen am 12. Juni 1793 an Diez schickte. Dies scheint jedenfalls der letzte Brief zwischen beiden gewesen zu sein.

4 Charakter des Briefwechsels Tychsen und Diez standen im Ruf, eigensinnige Charaktere zu sein. Über Tychsen schrieb Simone Assemani an Stefano Borgia (mit beiden stand dieser in Korrespondenz): »Er tut sich sehr schwer, seine Meinung zu ändern, und er möchte, dass ihm nie widersprochen werde. […] Er ist ein Mann mit vielseitigen Kenntnissen, sehr gelehrt und gebildet.«25 Auch Diez wurde von Zeitgenossen als hervorragender Kopf beschrieben, dem aber seine große Selbstüberzeugung, Eitelkeit und Streitlust im Wege standen.26 Diez’ Briefe an Tychsen sind ungewöhnlich umfangreich und persönlich. Ungewöhnlich vor dem Hintergrund, dass beide sich nie persönlich begegnet sind und Tychsen sich gerade mit deutschen Orientalisten nur wenig schrieb.27 Obwohl die Antwortbriefe nicht erhalten sind, kann an der Art, wie sich die Korrespondenz über die zwei Jahre entspann, angenommen werden, dass Tychsen auf die verschiedenen von Diez angesprochenen Themen ebenfalls ausführlich einging. Beide Gelehrte

|| Bremen 1820, Bd. 2, Abt. 3, S. 295–495. Siehe auch French: Oluf Gerhard Tychsen (s. Anm. 12), S. 36– 37. 24 De numis Hebraeo-Samaritanis. Monfort 1781 sowie Numorum hebraeo-Samaritanorum Vindiciae. Monfort 1790. 25 Zitiert nach Maria Stuiber: Rostock – Rom. Der gelehrte Briefwechsel zwischen Oluf Gerhard Tychsen und Stefano Borgia. In: Kommunikation in der frühen Neuzeit. Hg. von Klaus-Dieter Herbst u. Stefan Kratochwil. Frankfurt a. M. 2011, S. 89–103, hier S. 98. 26 Siehe etwa die Beschreibung von Diez’ Charakter durch Dohm bei Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 3), S. 470. Auch auf den Konflikt mit Hammer sei verwiesen. 27 Vgl. Hartmann: Oluf Gerhard Tychsen (s. Anm. 23), S. 267: »Auffallend mag Manchen die Erscheinung seyn, daß Tychsen gerade mit den deutschen Orientalisten, wenn man Adler und den geheimen Legationsrath von Diez ausnimmt, in einem schwachen Verkehr, der selten andere, als Höflichkeitsbriefe erzeugte, sich befand.«

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hatten selbstverständlich ein großes Interesse, vom jeweils anderen nützliche Informationen zu erhalten. Vielleicht spielte es für Tychsen eine Rolle, dass Diez, der sich in einem der ersten Briefe bescheiden als »Liebhaber des Wissens« beschreibt,28 außerhalb des akademischen Gelehrtennetzwerks stand und somit die Rollen klar verteilt waren. Sicher ist auch echte Sympathie im Spiel gewesen, zumindest kann vermutet werden, dass Tychsen sich mit Diez, für den seine diplomatische Mission ein unerwartetes Ende nahm, gewissermaßen identifizieren konnte.29 Diez nahm an Tychsens Lebenssituation Anteil, er erteilte ihm medizinische Ratschläge für dessen Augenleiden und berichtete von vergeblichen Bemühungen, sein eigenes Gichtleiden wirkungsvoll zu bekämpfen. Zu zahlreichen aktuellen Debatten und Skandalen aus der Welt der Wissenschaft tauschen sich beide aus, beispielsweise über Samuel Simon Witte (1738–1802), der in einem Buch behauptete, die ägyptischen Pyramiden seien durch eine Vulkaneruption entstanden. Auch der Skandal um die gefälschten Handschriften und Münzen von Giuseppe Vella bleibt nicht ausgelassen.30 Überhaupt ist die Situation und Perspektive der Orientalistik in Europa ein häufiges Gesprächsthema. Über das Schicksal Johann Jacob Reiskes,31 des Begründers der deutschen Arabistik, sinniert Diez ebenso wie über die Leistungen verschiedener anderer europäischer Orientalisten. Zu den wenigen, deren Werke er uneingeschränkt würdigt, gehört Franciscus a Mesgnien Meninski (1623–1698). Ausführlich stellt Diez die Vorzüge von Meninskis Wörterbuch orientalischer Sprachen (1680) und den Nachteilen der zweiten Auflage von 1780 dar, verbunden mit sprachtheoretischen Überlegungen.32 Auszüge aus den hier vorgestellten Briefen zu diesem The-

|| 28 Diez an Tychsen, 20. August 1791 (s. Anm. 12), Bl. 79a. Zum Konzept des »Orient-Liebhabers« und seiner Abgrenzung zur Orientalistik als akademischer Disziplin vgl. Mangold: »Eine weltbürgerliche Wissenschaft« (s. Anm. 5), S. 48–51 sowie Andrea Polaschegg: Doppelter Dilettantismus? Zur Spannung von Poetik und Philologie im deutschen Orientalismus um 1800 und ihrer trickreichen Auflösung im West-östlichen Divan. In: Dilettantismus um 1800. Hg. von Stefan Blechschmidt u. Andrea Hinz. Heidelberg 2007, S. 161–184, zu Diez insbesondere S. 146–148. 29 Für Tychsen war der zeitlich in etwa mit Diez’ Abberufung zusammenfallende Wechsel von Bützow nach Rostock nicht mit der erhofften Rektoren-Position verbunden, woraufhin er sich 1790 aus dem Konzil der Professoren dauerhaft zurückzog; siehe Klenz: Tychsen (s. Anm. 13), S. 45. 30 In dieser Affäre gab Tychsen eine ähnlich unrühmliche Figur ab wie im Fall der makkabäischen Münzen, da er zum Zeitpunkt des Briefwechsels mit Diez noch zu den entschiedensten Unterstützern des Italieners gehörte, ohne nähere Kenntnis der fraglichen Objekte zu haben. Erst 1795 wurde die Fälschung endgültig nachgewiesen. Vgl. Stuiber: Rostock – Rom (s. Anm. 25), S. 90 mit weiteren Literaturangaben. 31 Johann Jacob Reiske (1716–1774) gilt als der bedeutendste deutsche Arabist des 18. Jahrhunderts. Eine Anerkennung seiner Leistungen zu Lebzeiten blieb ihm allerdings versagt. 32 Sein Thesaurus Linguarum Orientalium (Wien 1680) war ein mehrsprachiges Wörterbuch der arabischen, persischen, türkischen und lateinischen Sprache und enthielt auch eine türkische Sprachlehre. Während der persische und arabische Teil im Wesentlichen auf frühere Lexika z. B. von Golius aufbaut, ist Meninskis Verdienst die Vermittlung des türkischen Wortschatzes. Diez war

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ma wurden bereits wenige Jahre nach Tychsens Tod veröffentlicht, allerdings ohne den Adressaten zu erwähnen.33 Eines der Projekte von Diez, das er Tychsen gegenüber mehrmals erwähnte, war ein Nachtrag zum Wörterbuch des Meninski.34 Diez drängte Tychsen auch zum Erlernen der türkischen Sprache und bot seine Unterstützung dabei an. Nach der allgemeinen Vorstellung des Briefwechsels sollen nun ausgewählte Aspekte eingehender betrachtet werden: Sein Leben in Konstantinopel, seine Sicht auf die Türkei und sein Verhältnis zum Islam sowie die Zusammensetzung seiner Handschriftensammlung.

5 Diez in Konstantinopel Um über seine persönliche Lebenssituation in Konstantinopel Näheres zu erfahren, wo Diez von 1784 bis 1790 als preußischer Gesandter wirkte, werden ergänzend einige Briefe einbezogen, die er von dort an seinen langjährigen Freund Christian Konrad Wilhelm von Dohm sandte. Diez trat mit seiner Reise nach Konstantinopel nicht nur in eine andere Kultur mit fremden Sitten und in ein ebenfalls für ihn neues gesellschaftliches Leben unter ausländischen Diplomaten ein, auch seine Lebensverhältnisse veränderten sich deutlich. Der ehemalige Magdeburger Beamte lebte nun in einem repräsentativen Gebäude auf der Hauptstraße in Pera, der heutigen İstiklal Caddesi, das von Zeitgenossen auch als »Brandenburgisches Palais« bezeichnet wurde, und hatte etwa 30 Bedienstete um sich.35 Zu seiner ersten Audienz beim Großwezir wurde er in seinem »Audienzkleide von Goldstoff mit reicher Gold-

|| allerdings der Meinung, dass die zweite Auflage von 1780 durch die Hinzufügung einer italienischen Übersetzung verwässert worden sei. 33 Briefliche Urtheile des verstorbenen Geh. Legationsraths von Diez über Meninski Lexicon Arabicum, Persicum, Turcicum edit. IIda cur. Bern. de Jenisch. Viennae 1780. 4 Voll. Fol. In: Leipziger Literatur-Zeitung 139 (7. Juni 1823), Sp. 1105–1111. 34 Diese mit vielen Anmerkungen, Korrekturen und Ergänzungen versehene Ausgabe des Meninski wurde von Diez in seinem Testament separat aufgeführt. Leider gehört sie zu den Kriegsverlusten der Berliner Staatsbibliothek. Zu Diez und Meninski siehe auch den Beitrag von Klaus Kreiser in diesem Band. 35 Sicherlich konnte sich das Anwesen des preußischen Gesandten nicht mit der Opulenz anderer Botschaften in Pera messen, zur Lebenssituation der europäischen Diplomaten in Pera vgl. Fariba Zarinebaf: Mediterranean Encounters. Trade and Pluralism in Early Modern Galata. Oakland, California 2018. Die Sommermonate verbrachte auch Diez in einem der Dörfer am Bosporus, wo sich die osmanische Oberschicht wie auch europäische Gesandte Sommerresidenzen mieteten. Diez an Dohm, Stadtarchiv Regensburg, 26. Januar 1785, S. 26. Zu den Sommeraufenthalten siehe auch Zarinebaf: Mediterranean Encounters, S. 265ff.

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broderie« in einer prachtvollen Eskorte durch die Stadt geleitet.36 Mit seiner Ernennung zum außerordentlichen Gesandten im Jahre 1786 wurden ihm noch höhere Ehren zuteil, darunter eine Leibwache, bestehend aus einer JanitscharenKompagnie.37 Seinen gewöhnlichen Tagesablauf beschreibt er in einem Schreiben an Dohm vom Januar 1785 folgendermaßen: Meine Lebensweise ist sich nicht gleich, wie sie es auch in meiner Lage nicht seyn kann. Gewöhnlicher Weise aber stehe ich um 8 Uhr auf, verzehre meinen Kaffee bey Lesung von Zeitungen u. dergl. Nachher laß ich mich frisiren und ziehe mich an, nehme Visiten an, welche kommen, oder lese historische Sachen welche ich theils leihe theils hier gekauft habe; oder wenn schönes Wetter ist, reite ich auch aus. Um 3 Uhr setze ich mich zu Tische, allein oder mit denen, welche ich zum Diner gebeten habe. Nach Tische verweile ich etwas im Speisezimmer und meistentheils kommt Frangopulo38 um 4 oder 5 von Konstantinopel zurük und tritt bey mir ab, bleibt eine Stunde bey mir, und gegen 6 Uhr gehe ich aus, gebe einige Visiten und besuche den Ball, das Konzert, die Assemblen, welches es just an dem u. dem Tage bey dem u. dem Minister giebt, und um 9 Uhr komme ich wieder in mein Haus zurük. Soupirt wird nicht. Wenn ich auswärts speise, so bleibt es doch im übrigen ziemlich dasselbe. Um 9 Uhr trink ich bey mir wieder Kaffee, lese oder beschäftige mich mit der türkischen Sprache, bis ich zu Bette gehe, um 2 Uhr.39

Gleich nach wenigen Monaten herrschte bei ihm eine große Aufregung, da es in seinem Haus einen vermeintlichen Fall von Pesterkrankung gab. Diez schreibt zwar in einem Brief aus Philippsthal an Tychsen, dass man nicht alles glauben solle, was von Pest, Feuersbrünsten und Rebellionen in Konstantinopel berichtet werde, dies entspringe in erster Linie dem Geltungsdrang der Informanten.40 Noch während seines Aufenthaltes gab er Dohm eine ganz andere Einschätzung über derartige Bedrohungen, denn von gefahrvollen Situationen blieb er selbst nicht verschont. Gegenüber seinem Freund drückte er verschiedentlich die Befürchtung aus, durch Pest sein Leben oder durch Feuer seinen Besitz zu verlieren. Er berichtete von einem Bediensteten, der in seinem Haus auf ebenso skurrile wie überraschende Art und Weise starb, nachdem er sich mit einem Hund in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Dieser Todesfall hatte zur Folge, dass alle Angestellten aus Angst vor der Pest || 36 Vgl. den Bericht dazu in den Berlinischen Nachrichten für Staats- und gelehrte Sachen (Vossische Zeitung) vom 9. November 1784, S. 1027f. 37 Vgl. den Bericht dazu in den Berlinischen Nachrichten für Staats- und gelehrte Sachen vom 15. März 1787. Über den Erfolg seiner Audienz beim Großwesir nach seiner Ernennung zum außerordentlichen Gesandten, auf die er lange hingewirkt hatte, siehe auch Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 3), S. 603f. 38 Jean Frangopulo (auch Frankopoulo) war Dolmetscher bei der preußischen Gesandtschaft in Konstantinopel. 39 Diez an Dohm, 26. Januar 1785 (s. Anm. 35), S. 25f. 40 Diez an Tychsen, 25. Dezember 1791 (s. Anm. 12), Bl. 91b–92a. Tatsächlich berichten die Berlinischen Nachrichten für Staats- und gelehrte Sachen 1784 und 1785 häufig von Unruhen, Pest und Feuer.

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sein Haus verließen und niemand außer einem Kammerdiener ihm half, den Raum zu öffnen. Nur gegen eine hohe Bezahlung konnte er einen armenischen Arzt überreden, nach dem Mann zu schauen, der bereits gestorben war. Er erzählte weiter, dass viele Erkrankte ihre Symptome geheim hielten aus Angst, für pestkrank erklärt und somit verstoßen zu werden. Wie Diez aber später herausbekam, starb sein Diener nicht an der Pest, sondern war von seiner Frau, einer Neapolitanerin, vergiftet worden.41 Auch über seine sozialen Beziehungen erfahren wir einiges aus den Briefen. Auf der Reise nach Konstantinopel und in den ersten Monaten seines Aufenthaltes begleitete ihn ein aus Leipzig stammender Bediensteter, mit dem er französische Konversation praktizieren wollte. Das Verhältnis zu diesem wurde bald so schlecht, dass Diez ihn in seinem Haus mied und ihm bei nächster Gelegenheit kündigte. Gegenüber Dohm beklagte er sich über das Fehlen von Freunden und Konversationspartnern. Sehr bald nahm er privaten Kontakt zu Türken auf. Schon nach wenigen Monaten erhielt er regelmäßig Besuch von einem Türken namens Sali Tsausch, mit dem er gemeinsam Likör und Schorbet trank.42 Tychsen bekannte er später: »Ich habe durchaus mit Türken gelebt, welche zu mir kamen, wenn ich nicht bey ihnen war, und so habe ich sehr vergnügte Tage in der Gesellschaft dieser sonderbaren Menschen hingebracht.«43 Das Erlernen der türkischen Sprache war Voraussetzung dafür, wie er im selben Brief betonte: Vor allen Dingen habe ich gleich damit angefangen, was nach meinen Begriffen die Grundlage von allem ist, die Sprache des Landes nämlich die Türkische Sprache zu lernen, um durch den unmittelbaren Umgang mit den Türken [...] und durch die Lesung ihrer Bücher dieses Volkes eigentliche Sitten, Grundsätze, Empfindungen, Gedanken, Kenntnisse und Tugenden und Laster kennen zu lernen. Mein Gegenstand und Zweck ging also dahin, die Türken als Menschen zu studiren, das heißt mich zu unterrichten, wie und auf welche Art diese Leute bey ihrer Erziehung und Regierung gut und böse, bey ihrem Unterricht, Künsten und Wissenschaften verständig und dumm, und wie sie eben bey ihrer ganzen Art zu seyn, zu denken und zu handeln, glüklich oder unglüklich sind.44

Menschliches Denken und Empfinden in seiner ganzen Breite bildeten demnach das Hauptinteresse von Diez. Die persönlichen Kontakte, die er aufbaute, lassen sich vermutlich nur sehr lückenhaft rekonstruieren. Eine enge Beziehung verband ihn mit Scheich Nuʿmān al-Üsküdarī aus dem Mevlevi-Konvent in Galata. Ihn besuchte er mehrmals wöchentlich. Diez schrieb, dass dieser sogar bereit wäre, ihm nach Europa zu folgen. Nuʿmān war für ihn in Konstantinopel »einer der vortrefflichsten

|| 41 Diez an Dohm, 26. Januar 1785 (s. Anm. 35), S. 19–21. Dieses Erlebnis schildert er Tychsen ebenfalls in gekürzter Form (s. Anm. 40). 42 Diez an Dohm, 10. Januar 1785 (s. Anm. 35), S. 17. 43 Diez an Tychsen, 20. August 1791, (s. Anm. 12), Bl. 83b. 44 Ebd., Bl. 82a.

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und tugendhaftesten Menschen, zu dem ich wahre Liebe trug wie er zu mir.«45 Einige Abschriften mit sufischen Texten in Diez’ Sammlung wurden von ihm in Auftrag gegeben und von einem jungen Mitglied des Konvents, ʿAbd al-Raḥman alÜsküdārī, kopiert. Da der Kolophon der Handschrift Ms. Diez A oct. 11 noch vom 8. April 1790 datiert, also nur wenige Wochen vor Diez’ Abreise, kann man vermuten, dass die darin enthaltenen mystischen Gedichte ein Abschiedsgeschenk des Freundes waren. Ein weiterer Novize des Galata-Klosters namens Ṭāhir Beğ begleitete Diez nach Preußen und lebte für einige Monate bei ihm, bevor er mit Nachdruck um die Erlaubnis zur Heimkehr bat.46 Aus seinen freundschaftlichen Verbindungen zu den Derwischen des Mevlevi-Ordens zu schließen, dass Diez ein besonderes Interesse am mystischen Islam habe, wie Gibson nahelegt, kann nicht eindeutig belegt werden.47 Aus den bisherigen Erörterungen kann man schlussfolgern, dass Diez jede sich ihm bietende Gelegenheit nutzte, um mit Türken in Kontakt zu treten. Aufgrund der räumlichen Nachbarschaft und der Offenheit der Mevlevis war der Konvent in Galata zu diesem Zweck für Europäer ein geeigneter Anlaufpunkt, zumal es ansonsten kaum möglich war, Muslime bei ihrer religiösen Praxis zu erleben.48 Obwohl Diez die Exotik der geistlichen Musik und des Tanzes der Derwische möglicherweise beeindruckte, konnte er jedoch mit den Inhalten der in den Sitzungen vorgebrachten Gedichte bzw. Lieder weniger anfangen, wie weiter unten dargestellt wird.

6 Diez’ Türkeibild Das Wissen über die Osmanen nahm im 18. Jahrhundert kontinuierlich zu. Zahlreiche europäische Reisende kamen nach Konstantinopel. Im Laufe dieses Jahrhunderts erschienen mehrere hundert Bücher über die Türkei. Carsten Niebuhr, dessen Reisebeschreibung 1774 erschien, hielt seine Beschreibung von Konstantinopel sehr knapp, unter anderem mit der Begründung, dass er vorhandene Berichte kaum ergänzen könne.49

|| 45 Diez an Tychsen, 10. April 1793 (s. Anm. 12), Bl. 112b. 46 Siehe den Beitrag von Henning Sievert in diesem Band. 47 Zu seinen Kontakten zu den Derwischen des Galata-Klosters (Mevlevihane) vgl. Gibson: Changing States (s. Anm. 7), S. 63–71. 48 Gibson weist selbst darauf hin, dass der Mevlevi-Konvent christlichen Europäern offenstand, währenddessen ihnen in der Regel die Teilnahme an muslimischer religiöser Praxis verwehrt wurde. Siehe Gibson: Changing States (s. Anm. 7), S. 63–64. 49 Carsten Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern. Kopenhagen 1774, Bd. 1, S. 22: »Man hat schon so viele Beschreibungen von Constantinopel […], daß ich, der ich mich nur eine kurze Zeit in dieser Stadt aufgehalten habe, davon nicht viel neues und wichtiges sagen kann.«

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Trotz oder aufgrund der guten Informationslage standen im ausgehenden 18. Jahrhundert Europäer den Türken überwiegend nicht wohlwollend gegenüber. Zwar stellte das Osmanische Reich für europäische Mächte nicht mehr eine so große militärische Bedrohung dar wie in früherer Zeit, was auch in den Jahrzehnten nach der vergeblichen Belagerung Wiens 1683 und der damit verbundenen Wende in den Kräfteverhältnissen zunächst eine Türkenmode an deutschen Höfen beförderte. Jedoch war es im ausgehenden 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum weit verbreitet, die Rückständigkeit der Herrschaftspraxis und die Zivilisation der Osmanen zu kritisieren.50 Eine Ausnahme bildete Preußen, das unter Friedrich II. eine gute Beziehung zu den Türken anstrebte. Dies wird beispielsweise in den Berichten zum Russisch-Türkischen Krieg in der Berliner Presse deutlich, die wesentlich gemäßigter und differenzierter ausfallen als die anderer deutscher Länder.51 Um eine differenzierte Betrachtung war auch Diez bemüht, der ja, im Gegensatz zu nur kurzzeitig an einem Ort verweilenden Reisenden, intensive und längere private Beziehungen zu Türken aufbaute. In offiziellen Depeschen an den preußischen Hof beschrieb er die politische Ordnung und Zukunft der Osmanen so kritisch wie viele seiner Zeitgenossen.52 Er trennte dies aber von seiner Bewertung der »menschlichen Seite« der Türken. In einem Brief an Dohm vom 25. Dezember 1787 wird diese zweigeteilte Einschätzung deutlich. Als Politiker sieht Diez mit Bedauern wie ein Volk mit alten Anlagen und Hilfsmitteln seinem Untergang entgegen geht, wie sein Kriegswesen, seine Finanzen, seine Verwaltung wie alles verlebt und unordentlich ist und nicht einen Schein von Hoffnung giebt, daß es sich empor arbeiten werde um den Europäern nachzukommen und ihnen auf gleiche Weise Furcht und Achtung einzuflößen; wie es alles verachtet, was ihm nützlich seyn könnte, blos weil es zu stolz ist, aus Christenhänden Verbesserungen anzunehmen; wie es von Europäischen Kenntnißen nichts wissen will, weil es zu ungelenkig und zu steif ist, sie mit seiner Religion in Uebereinstimmung zu bringen; wie es zu faul, zu träge ist, um seine eignen Erkänntnißquellen zu reinigen u. zu erweitern und durch sich selbst etwas zu werden, was es durch andre nicht werden will; kurz wie es von Reli-

|| 50 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 46–51. 51 Siehe dazu Joseph Croitoru: Die Deutschen und der Orient. Faszination, Verachtung und die Widersprüche der Aufklärung. München 2018, S. 196ff. 52 Die von Diez in Depeschen vom Herbst 1784 formulierte Kritik am osmanischen Staatswesen ging dem preußischen Regenten sogar zu weit, und er schrieb ihm zurück, dass Diez seiner Ansicht nach eine zu schlechte Meinung über die türkische Nation habe; vgl. Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 3), S. 494–497. Im Hinblick auf die Wirkung und auch inhaltliche Kritik, die seine ersten Berichte in Berlin zeitigten, schrieb Diez an seinen Freund Dohm: »Geben Sie mir nur so lange Frist, bis meine Bücher angekommen sind, welche wahrscheinlich izt in Livorno liegen. Ich muß erst alles lesen, was über die Türkey geschrieben ist, um desto besser und neuer ein Ganzes liefern zu können. Sie wissen ich mache es gern gut, was ich thue. Ich würde mich blamiren, wenn ich etwas schlechtes schikte« (Diez an Dohm, 24. Dezember 1784 [s. Anm. 35], S. 14).

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gion und Aberglauben zu sehr verblendet ist, um seyne alte Meynungen und Gebräuche gegen andre zu vertauschen, welche den Zeitläuften angemessener seyn möchten.

Betrachtet er aber die Menschen selbst, so findet er in der Türkei soviel auffallend Gutes, daß ich versucht bin zu glauben, daß das Böse von ihm überwogen werde, während daß ich in Europa als Mensch mehr Böses als Gutes wahrzunehmen glaubte. Denn dieser Mittelstand zwischen roher Unwissenheit und verfeinter Aufklärung, welcher nur gerade soviel Begriffe giebt als zur Ausdauerung dieses kurzen Lebens nützlich und nöthig sind, ohne die Uebel der Verfeinerung herbeizuführen; diese Gemüthsruhe, welche in Europa ein Fremdling und hier wo nicht überall doch gewiß bey zwey dritttheylen der Nazion einheimisch ist; dieser Geist der Gleichheit, welcher alle Mußlimans vom Kaiser bis zum Bettler beseelt und die Verschidenheit der Stände, dies giftige Ungeheuer der Verfeinerung, ganz ausgemerzt zu haben scheint; diese Ergebung in die Fügungen des Schiksals, diese Geduld im Unglük, diese Gleichgültigkeit gegen die Zukunft, diese Verachtung des Todes, ohne welche, Glükseeligkeit nur im Traum bleibt; dies Wenig thun und doch viel gewinnen, gerade der Gegensatz der überspannten Thätigkeit und des Nichtvorwärtskommens in Europa, diese Abwesenheit von großen Leidenschaften, welche die Kräfte der Menschen verzehren; dies kindliche Wohlgefallen an der Natur, das Widerspiel der Kunst und Künsteley, wobey man vieles schwazt und nichts empfindet; dies Leben nur zu genießen und dies Genießen nur zu leben, unbekümmert um die Bestimmung des Menschen, worüber der Europäer grübelt und stirbt ohne genossen und gelebt zu haben: alles dies bewegt mich zu gestehen daß das wahre leibliche Glük, welches doch zulezt das Ziel alles Daseyns und aller Wesen seyn soll, diesem Volke in großem Maaße zugefallen sey und daß es schon deshalb verdiene, verehrt zu werden.53

Diez’ pessimistische Einschätzung der europäischen Kultur steht einer idealisierenden Wahrnehmung der Türken entgegen, die er als in ihrem Wesen unverdorbene Menschen ansieht, die seit Jahrtausenden überlieferten moralischen Grundsätzen und Werten folgen. Die Unverdorbenheit der Orientalen wird beispielsweise auch in der Frage der Sexualität im Orient dargestellt, wozu er sich Tychsen gegenüber ausführlich äußert. Er stellt fest, »daß im Morgenland der Geschlechtstrieb noch ganz in den Grenzen eingeschlossen ist, welche die Natur ihm vorgezeichnet hat, das heißt, er ist nichts weiter als physisch und hat schlechterdings nichts Moralisches an sich.«54 In seine Darstellung des »unverdorbenen Orients« bezieht er auch die Gesetze mit ein. Er schreibt Tychsen von einer geplanten Publikation, welche die osmanische Verfassung in einem rechten Licht erscheinen lassen soll, denn diese hänge mit dem ganzen System der Sitten des Orients zusammen. In orientalischen Gesetzen sieht Diez einen größeren methodischen Zusammenhang, mehr Einheit, und die Gesetze sind weniger verwinkelt als in europäischen Gesetzgebungen. Für seine in Bezug auf Europa kulturpessimistische Grundhaltung finden sich zahlreiche weitere Beispiele in den Briefen an Tychsen, mit dem er sehr offen viele gesellschaftliche || 53 Diez an Dohm, 25. Dezember 1787 (s. Anm. 35), S. 53f. 54 Diez an Tychsen, 25. Februar 1792 (s. Anm. 12), Bl. 98b.

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und politische Fragen bespricht, u. a. auch die zeitgenössische Literatur. So schreibt er: »Übersetzungen der morgenländischen Schriftsteller kann man mit Erhöhung der Seele lesen, unsere Schriftsteller sind matt und kraftlos.«55 Schuld sind für ihn einerseits die gegenwärtigen Dichter, die man nicht mit einem Martin Opitz (1597– 1637) oder einem Andreas Gryphius (1616–1664) vergleichen könne, andererseits seien die orientalischen Sprachen auch kraftvoller. Die Unteilbarkeit von Kultur und Sprache wird auch an einer anderen Stelle deutlich, wo Diez an Tychsen schreibt, dass »ein morgenländischer Christ niemals im Stande sei, in die Denkungsart der Muhammedaner und den Geist ihrer Sprache einzudringen«.56 Sein äußerst positives Bild der Türkei bezieht also nicht die gesamte dort lebende Bevölkerung ein. Dies wird besonders deutlich in einem Brief an Tychsen: Wenn ich Ihnen die Menschen in der Türkey von Seiten der Rechtschaffenheit klassifizieren sollte: So würden die Türken als die bravsten und ehrlichsten Leute oben an stehen. Dann kommen unmittelbar die Juden. In der dritten Reihe stehen die Armenier, welche beyden vorhergehenden noch nahe kommen. Aber in der vierten Reihe erscheint der Grieche, welcher nichts als Bube ist. Und auf der fünften Stufe befindet sich unser Landsmann der Europäer, dessen Kultur und Aufklärung man nur so sehr rühmt, und welcher in der Türkey nichts als ein vollendeter Bösewicht ist, vermutlich weil die guten Türken für ihn keine Galgen und Räder haben.57

Seine drastische Einschätzung der verschiedenen Nationalitäten, mit denen er in Konstantinopel zu tun hatte, ist geprägt von starken Vorbehalten gegenüber den Griechen, von den Vertretern europäischer Nationen ganz zu schweigen. Sein Verhältnis zu den europäischen Gesandten war durchweg schwierig und von Misstrauen geprägt.58 Gleiches gilt auch für seine Dolmetscher, die Griechen Frangopoulo und später Pangali.59

|| 55 Diez an Tychsen, 2. Juni 1792 (s. Anm. 12), Bl. 105b. 56 Diez an Tychsen, 25. August 1792 (s. Anm. 12), Bl. 108b. 57 Diez an Tychsen, 20. August 1791 (s. Anm. 12), Bl. 83a–b. 58 Vgl. Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 3), S. 732 und Ali İhsan Baǧış: Britain and the struggle for the integrity of the Ottoman Empire. Sir Robert Ainslie’s embassy to Istanbul 1776–1794. Istanbul 1984, S. 53–81. 59 Besonders getroffen war er vom Verrat durch Pangali und den französischen Gesandten Graf Choiseul-Gouffier. Deren Übermittlung des preußischen Vertragsentwurfs für das Bündnisabkommen mit dem Osmanischen Reich und der geheimen Instruktionen dazu an die Pforte brachte ihn in eine äußerst unangenehme Lage gegenüber dem König. Vgl. Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 3), S. 733f.

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7 Diez und der Koran Im Jahre 1813 erschien Diez’ Übersetzung von Resmi Ahmed Efendis Wesentliche Betrachtungen oder Geschichte des Krieges zwischen den Osmanen und Russen in den Jahren 1768–1774. In der Einleitung des Werkes wird folgender Koranvers zitiert: »Wenn Gott nicht die Menschen die einen durch die andern gebändigt hätte: so würde die Erde verderbt worden seyn« (Sure 2:251).60 Dessen korrekte Übersetzung war bereits 20 Jahre zuvor Gegenstand der Diskussion in mehreren Briefen von Diez an Tychsen. Im Koran taucht dieser Vers im Zusammenhang mit der Schilderung des Kampfes von David gegen Goliath auf, er bezieht sich somit auf die Bändigung von Übeltätern und Tyrannen. Diez sah hier allgemein die Frage des Ausgleichs der Gewalten zwischen den Menschen berührt und wie Gott regulierend eingreift. Er bat Tychsen um eine genaue Übersetzung dieses Verses, denn er sah sich selbst aus Ermangelung eines guten arabischen Wörterbuches dazu nicht in der Lage. Tychsen bot eine Erklärung an, die dem Inhalt nach den heute gängigen Übersetzungen entspricht. Im folgenden Brief sprach Diez dieses Thema erneut an: Er habe Tychsens Ausführungen dazu verloren und in seiner Erinnerung passe die nicht mehr auffindbare Erklärung aber nicht in den Kontext. Deshalb schlug er selbst eine Bedeutung vor: Das muß heißen: was würde es gewesen sein, wenn Gott die Menschen (das Volk) verlassen und sich nicht auf der Erde in ihre Händel gemischt hätte! Denn der Verfasser [der Wesentlichen Betrachtungen, CR] spricht gegen diejenigen Osmanen, welche der Meynung sind, daß man mit den Ungläubigen stets Krieg führen müßte.61

Diez diskutiert verschiedene Übersetzungen, die seiner Meinung nach den Sinn nicht erfassen, und begründet dies aus seinem Verständnis der türkischen Schrift heraus, die er gerade übersetzt. Nach ausführlicher Erläuterung seiner Sicht der Dinge entschuldigt er sich bei seinem Briefpartner mit folgenden Worten: Da ich vom Arabischen nur Profession mache, insofern es mit dem Türkischen vermischt wird, so würde ich es nicht wagen, bei jener ganz arabischen Stelle eine Lanze gegen Arabisten zu brechen. Allein die Umstände haben mich diesmal dazu gezwungen, weshalb ich Ihre Verzeihung zu erhalten hoffe.62

|| 60 Heinrich Friedrich von Diez: Wesentliche Betrachtungen oder Geschichte des Krieges zwischen den Osmanen und Russen in den Jahren 1768–1774. Halle, Berlin 1813, S. 56f. Diez diskutiert diesen Koranvers auch im Buch des Kabus (vgl. Anm. 1), S. 507. Im Arabischen lautet der Vers: »Lau lā dafʿa Allāh an-nās baʿḍahum bi-baʿḍ li-fusidat al-arḍ«. 61 Diez an Tychsen, 2. Juni 1792 (s. Anm. 12), Bl. 106a. 62 Diez an Tychsen, 14. Januar 1793 (s. Anm. 12), Bl. 110b.

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In einem weiteren Brief teilte Diez Tychsen mit, dass er in einer anderen osmanischen Schrift zur Staatsverfassung erneut auf diesen Koranvers gestoßen sei, was ihn darin bestätigt habe, den Sinn richtig erfasst zu haben.63 Diese ganze Episode lässt uns an der Diskussionsfreudigkeit und dem selbstbewussten Charakter des Privatgelehrten Diez teilhaben, der ohne nennenswerte Arabischkenntnisse und ohne geeignete Wörterbücher seine Interpretation des Koranverses gegenüber dem Arabisten Tychsen verteidigt. Bemerkenswert ist dabei sein Zugang zum Korantext überhaupt. In der öffentlichen Meinung der gelehrten Welt überwog zu seiner Zeit noch die Sicht, dass es sich beim Koran um ein unverständliches Machwerk eines falschen Propheten handele. Die uneingeschränkte Anerkennung als Offenbarungsschrift einer eigenständigen Religion war zu dieser Zeit noch undenkbar. Allerdings regten sich im öffentlichen Diskurs bereits Stimmen, die dem Koran wenigstens literarische Qualitäten zusprachen.64 Diez’ Interesse am Koran beruhte jedoch weder auf einer Auseinandersetzung mit der islamischen Religion noch auf einem literarischen Interesse an diesem Text. Da sein Augenmerk der türkischen Gesellschaft und dem Staatswesen galt, interessierte ihn der Koran nur insofern, als er für die Rechtspraxis und das religiöse Selbstverständnis der Osmanen relevant war. Der Koran ist für Diez eine weitere Quelle, in der die Weisheit der Orientalen zu finden sei und die gelesen werden müsse, um die Türken verstehen zu können. Der Koran, betont Diez, böte zudem nur die Theorie, auf die Praxis komme es an.65 Diez führt gegenüber Tychsen das Beispiel der Mehrehe an, die nach dem

|| 63 Diez an Tychsen, 10. April 1793 (s. Anm. 12), Bl. 113a. 64 Die erste deutsche Koranübersetzung aus dem Arabischen von David Friedrich Megerlin (1699– 1778), Die türkische Bibel, oder des Korans allererste teutsche Uebersetzung aus der arabischen Urschrift selbst verfertiget (Frankfurt a. M. 1772) rief zahlreiche Kritiker auf den Plan, da sie in eindeutig islamfeindlicher Absicht verfasst worden war. Etwa zeitgleich erschien die Übersetzung von Friedrich Eberhard Boysen (1720–1800), Der Koran, oder das Gesetz für die Muselmänner, durch Muhammed den Sohn Abdall (Halle 1773), die eine Debatte um den poetischen Wert des Korans entfachte, an der sich u. a. Johann David Michaelis und Johann Bernhard Köhler beteiligten, und in deren Zusammenhang auch erste Versuche vom Koran inspirierter Dichtung durch Gleim einzuordnen sind. Vgl. Croitoru: Die Deutschen und der Orient (s. Anm. 51), S. 157–183. Vgl. dazu auch Alastair Hamilton: Lutheran Islamophiles in Eighteenth-century Germany. In: For the Sake of Learning. Essays in honor of Anthony Grafton. Hg. von Ann Blair u. Anja-Silvia Goeing. Leiden, Boston 2016, S. 327–343, hier S. 335–343. Auch Hammer übersetzt Koranverse und betont deren literarischen Wert, vgl. Jan Loop: Divine Poetry? Early Modern European Orientalists on the Beauty of the Koran. In: Church History and Religious Culture 89 (2009), S. 455–488. 65 »So wie der Koran das eigentliche Gesetzbuch der Ossmannen ist, so ist er auch die Quelle der Vorschriften gewesen, welche die Einrichtung des Staats von Zeit zu Zeit erfordert hat. Es ist also neben ihm ein zweites Triebrad entstanden, was man Verfassung nennen muss, und worin die sogenannten Kanuns, Gebräuche, Gewohnheiten und Maximen enthalten sind, die sich aus dem Kuran nicht ersehen lassen. Und dieser zweyte Theil der Gesetzgebung ist um so nöthiger zu wissen, weil es dem Koran wie manchen andern heiligen Büchern ergangen ist, dass durch Hilfe der Auslegungskunst die verschiedensten Meynungen darin sind gefunden, ausgehoben und praktisch ge-

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Koran gestattet sei, aber kaum praktiziert werde.66 Ebenso war er der Ansicht, dass man den Sinn des Korans ohne Kenntnis der Umgangssprache nicht übersetzen bzw. verstehen könne: Es ist ein Buch, was man schlechterdings nicht anders recht verstehen lernen kann, als durch die Nazionen selbst, welche sich dazu bekennen. Man hat auch eine persische Uebersetzung. So sollte man durch diese unstrittig vollkommenen und vollendeten Uebersetzungen auf den wahren Sinn des Originals dringen.67

Aus diesem Grund bemüht sich Diez, von Berlin aus eine türkische Version des Korans aus Konstantinopel zu erhalten, was ihm aber nicht gelingen sollte.68 Erst mit dem Ankauf der Handschriftensammlung des Schweden Hendric Benzelius im Jahre 1804 gelang es ihm, eine zweisprachige arabisch-türkische Koranausgabe neben einigen arabischen Exemplaren zu erwerben.69 Von den elf vollständigen und fragmentarischen Koran-Handschriften in seiner Sammlung war keine von ihm aus der Türkei mitgebracht worden. Diez’ unbefangenes Verhältnis gegenüber dem Koran, das apologetische und textkritische Aspekte weitgehend ignoriert, unterstreicht sein Interesse an orientalischen Sitten und der orientalischen Rechtspraxis. In seinem Handschriftenverzeichnis bemerkt Diez zur Textgeschichte des Korans: Man hat behauptet, daß Ebru Bekir [d. i. der Kalif Abū Bakr, CR] bey Gelegenheit als er den Koran in Ordnung gebracht, viele Zusätze gemacht habe. Ich weiß aber nicht, wie der Beweis davon zu finden seyn soll und in jedem Fall sehe ich nicht, daß der Koran beßer oder schlechter werde, wenn würklich Zusätze gemacht worden wären. Man hat auch gesagt, daß die besten Stellen im Koran nicht dem Muhammad angehören sondern aus arabischen Gedichten geflossen sind, welche älter gewesen als Muhammad. Andere haben wieder versichert, daß Muham|| macht worden. Kurz der Kuran gibt gleichsam nur die Theorie an: und man muss daher die Praktik kennen, um zu wissen, wie viel die Menschen nach der Theorie leben, um so mehr da es sehr gewöhnlich ist in dieser Welt, dass die Menschen Theorie bekennen, welche von ihren Handlungen verläugnet werden« (Diez an Tychsen, 25. Februar 1792, UB Rostock, Mss. orient. 284(4), Bl. 98a–b). 66 Diez schreibt, dass »von 1000 sich 999 mit einer Frau begnügen, wiewohl sie sich glücklich in der Idee schätzen, mehrere Weiber nehmen zu können, auf eben die Art, wie die Engländer sich einbilden Freyheit zu besitzen, weil dies Wort auf ihrem Papier steht« (Diez an Tychsen, 25. Februar 1792 [s. Anm. 12], Bl. 98b). 67 Diez an Tychsen, 14. Januar 1793 (s. Anm. 12), Bl. 111b. Vgl. auch Diez: Wesentliche Betrachtungen (s. Anm. 60), S. 57, Fußnote: »Man muß so viele weise Aussprüche, die im Kuran enthalten sind, von verständigen Muhammedanern erklären und anwenden gehört haben, um zu wissen, was in diesem Buche steckt, welches der Europäer nur wie ein sogenanntes Lesebuch in die Hand zu nehmen pflegt, um es ohne Nachdenken und zum Zeitvertreibe flüchtig durchzulaufen.« 68 Vgl. den Beitrag von Henning Sievert in diesem Band. 69 Henric Benzelius (1689–1758), Erzbischof von Uppsala, lebte 1714/15 in Konstantinopel. Zum Ankauf dieser Sammlung vgl. Christoph Rauch: The Oriental Manuscripts and Albums of Heinrich Friedrich von Diez and the Perception of Persian Painting in His Time. In: The Diez Albums. Contexts and Contents. Hg. von Julia Gonnella, Friederike Weis u. Christoph Rauch. Leiden, Boston 2017, S. 74–117, hier S. 82f.

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mad seine besten Gedanken aus dem alten und neuen Testament entlehnt habe. Das eine widerspricht dem andern und beydes läßt sich nicht beweisen und selbst der Kuran verliert nichts, wenn beydes wahr wäre.70

Die äußerst kritische Haltung seiner Jugend gegen das Christentum findet hier insofern einen Nachklang, als Diez während seines Aufenthaltes in Konstantinopel die islamische Religion bzw. Rechtsordnung als natürlichen Bestandteil der orientalischen Zivilisation erkennt, die sich noch in einer Art Naturzustand befände.71 Im Bereich der »praktischen Moral« und der »praktischen Philosophie« sah Diez explizit eine deutliche Überlegenheit der »Orientalen« gegenüber den Europäern.72 Seine zunehmend kritische Haltung der europäischen Zivilisation gegenüber fand ihren Niederschlag in einem idealisierten Orient, zu dem auch der Islam natürlicherweise gehört. Im Studium der orientalischen Literatur fand Diez ein Gegenkonzept zur vernunftorientierten Denkweise der Europäer: »[...] denn am Ende sind es nicht die Kenntnisse, welche den Menschen glüklich machen, sondern die Weisheit, und die Weisheit ist im Morgenlande zu Hause.«73 Während Orientalisten wie Johann David Michaelis in Göttingen den arabischen Koran in ihr Blickfeld nahmen, um damit das historische Umfeld des Alten Arabiens für die Bibelexegese zu erschließen,74 und andere dessen poetische Qualitäten entdeckten,75 erschien Diez’ Interesse an türkischen Koranübersetzungen als Grundlage für die Gesellschaftsordnung der Osmanen ungewöhnlich. Sein erfahrungsbezogener, ja kulturanthropologischer Zugang unterschied sich naturgemäß von dem eines akademisch geschulten Orientalisten. Dieser Kontrast wirkt umso schärfer, blickt man auf die weitere Entwicklung der deutschen Orientalistik, die gerade im Begriff war, sich im 19. Jahrhundert zu einer positivistischen Philologie auszuformen und

|| 70 Heinrich Friedrich von Diez: Verzeichniß der morgenländischen und abendländischen Handschriften in meiner Bibliothek, S. 39 (Exemplar in der Handschrift von Diez, SBB–PK, Handschriftenabteilung, Ms. Cat. A 478b). 71 An Tychsen schreibt er: »Dasjenige, was der Ossmanne als Mensch und selbst als Staatsbürger ist, ist älter als sein Reich, dessen Stifter vor 600 Jahren die Grundsätze der Moral und Politik, worauf er sein Reich stüzte, nicht von neuem schuf, sondern aus den verschiedenen Theilen des Orients aufsammelte. Also hängt die Ossmannsche Menschheit mit dem ganzen System der Sitten des Orients überhaupt zusammen und dieses System ist wieder nicht blos Folge der Gesetzgebung des Muhammeds, sondern ist wieder älter als Muhammed selbst, welcher die eigentlichen Räder, worauf sein Staat lief, nur so aufnahm, wie er sie zu seiner Zeit vorfand, welches sich schriftlich erweisen lässt« (Diez an Tychsen, 18. Januar 1792 [s. Anm. 12], Bl. 93b). 72 Diez an Tychsen, 2. Juni 1792 (s. Anm. 12), Bl. 105a. 73 Diez an Tychsen, 25. Februar 1792 (s. Anm. 12), Bl. 99a. 74 Vgl. Johann David Michaelis: Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer. Göttingen 1762. Diez kritisierte in späteren Jahren Michaelis und bezeichnete ihn als »unwissenden Theologen«, vgl. Gibson: Changing States (s. Anm. 7), S. 84. 75 Vgl. Anm. 63.

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durch das ganze 19. Jahrhundert hinweg eine deutliche Affinität zur Bibelforschung aufwies.76

8 Der Büchersammler Der Schriftverkehr zwischen Diez und Tychsen diente selbstverständlich auch der Informations- und Materialbeschaffung auf einem – nicht nur im Orient – unübersichtlichen Büchermarkt mit teils schwierigen Beschaffungswegen. Nachrichten über neu erschienene Literatur und Leseeindrücke wurden ebenso getauscht wie die Objekte selbst, als Leihgaben oder Geschenke. Im Nachlass Tychsens findet sich ein türkischer Miniatur-Kalender für die islamischen Jahre 1198 bis 1283 (entspricht 1784–1866) in Rollenform, den er eigenhändig nach einer Vorlage kopierte, die Diez ihm leihweise zur Verfügung stellte (Abb. 2).77 Ein früher Druck aus der MüteferrikaPresse in Konstantinopel wurde ihm hingegen als Geschenk überlassen, da Diez ihn zweifach besaß (›Geschichte Timurs‹, 1730).78 Eine Kopie der (nicht ganz vollständigen) Liste der Handschriften, die Diez aus Konstantinopel mitgebracht hatte, ist ebenfalls im Nachlass Tychsens erhalten. Schon viele Jahre zuvor hatte Tychsen dem damaligen türkischen Gesandten Ahmed Resmi (1694/95–1783) in Berlin geschrieben, ohne jemals eine Antwort erhalten zu haben.79 Tychsen hoffte, dass Diez ihm bei der Beschaffung historischer arabischer Werke über den kürzlich in Berlin eingetroffenen türkischen Gesandten ʿAzmi Efendi80 behilflich sein könnte, dem er bereits zuvor geschrieben hatte. Diez war in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr in Berlin mit der Betreuung der osmanischen Gesandtschaft betraut.81 Diez händigte dem ʿAzmi Efendi Schriften Tychsens und eine Liste der gewünschten Bücher aus. Aus der Korrespondenz mit

|| 76 Vgl. Sabine Mangold: Anmerkungen zur deutschen Orientalistik im frühen 19. Jahrhundert und ihrem Orientbild. In: Der Deutschen Morgenland. Hg. von Charis Goer u. Michael Hofmann. München 2008, S. 223–241. 77 Die Signatur ist Ms. Diez A duodez. 9a, die der Rostocker Abschrift Mss. orient. 214. Die Genauigkeit der Kopie ist beeindruckend. Tychsen war als talentierter Kupferstecher bekannt. 78 Vgl. Anton Theodor Hartmann: Catalogus Bibliothecae Olai Gerhardi Tychsen Celeberrimi nuper in Academia Rostochiensi Linguarr. Orientall. Professoris qua continentur Libri tam typis expressi, quam manuscript Numi Orientales et occidentales […]: Quorum Venditio fiet inde a Die IX. Aprilis Anni MDCCCXVII. Rostock 1817, S. 253. 79 Vgl. Oluf Gerhard Tychsen: Übersetzung eines Briefes an den Türkischen Abgesandten Achmed Efendi. In: Bützowische Nebenstunden. Verschiedenen zur morgenländischen Gelehrsamkeit gehörigen mehrentheils ungedruckten Sachen gewidmet. Erster Theil. Bützow 1766, S. 37–40. 80 Aḥmad ʿAzmī Efendī (?–1821). 81 Vgl. Gibson: Changing States (s. Anm. 7), S. 77f.

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Abb. 2: Türkischer Kalender für die Jahre 1784 bis 1866 (links das Diez’sche Exemplar, rechts die Kopie Tychsens jeweils im Ausschnitt). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK und UB Rostock

Diez wird deutlich, dass es mehrere Briefe an den Gesandten in Berlin gab, die zum Teil durch Diez übermittelt wurden.82 Der Gesandte entschuldigte sich in dem von Diez teilweise übersetzten Antwortschreiben dafür, dass er die gewünschten Bücher

|| 82 Ein Brief des Ahmad ʿAzmi Efendi an Tychsen wurde kürzlich publiziert: Boris Liebrenz: Golius and Tychsen and Their Quest for Manuscripts. Three Arabic Letters. In: Journal of Islamic Manuscripts 8 (2017), S. 218–239, hier S. 230–237. Siehe den Beitrag von Henning Sievert in diesem Band.

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zur arabischen Geschichte nicht bei sich führe, da er in Eile aus Konstantinopel habe aufbrechen müssen. Er bedankte sich für das arabische Buch, das Tychsen ihm zukommen ließ, und kündigte an, die gesuchten Werke nach seiner Rückkehr zu beschaffen, die allerdings etwa 500 bis 600 Piaster kosten würden. Diez bestätigte, dass der Gesandte keine Bücher bei sich habe: »Er verläßt sich auf seinen Kopf, welcher voll ist von arabischen und türkischen Versen und Sprüchen.«83 Diez hielt die Höhe des genannten Preises für nachvollziehbar, war aber sehr skeptisch, ob der ʿAzmi Efendi die gewünschten Bücher überhaupt besorgen könne. Wenn man nicht vor Ort die Dinge selbst in die Hand nehme, so Diez, gebe es bei den Türken kaum eine Chance, bei der Buchbeschaffung erfolgreich zu sein. Außerdem zweifelte er an, dass der Gesandte das Geld überhaupt aufbringen könne.84 Auf seine eigene Büchersammlung kommt Diez häufig zu sprechen und erwähnt ein umfassendes enzyklopädisches Werk über die Türkei, das er nach Auswertung aller seiner Quellen (unter Einbeziehung der Münzen) verfassen möchte. Er schildert ausführlich seine Motive, die ihn beim Aufbau der Sammlung geleitet hätten. Seine (nicht mehr erhaltenen) eigenen Beobachtungen bzw. Aufzeichnungen aus der Türkei sieht er als Grundlage seiner Forschungen an, die durch das Studium der Literatur ergänzt würden. Die Betonung einer erfahrungsbezogenen Herangehensweise an seinen ›Forschungsgegenstand‹ findet sich auch 20 Jahre später in den Einleitungen seiner Veröffentlichungen wie den Denkwürdigkeiten von Asien oder dem Buch des Kabus wieder. Dies ist in der Regel verbunden mit einer Abgrenzung von den Gelehrten, die ihr Wissen nur aus Büchern bezogen haben und die er verachtete. Im gerade zitierten Brief beschreibt er eine thematische Auswahl von Objekten aus seiner Sammlung, mit denen er sich im Rahmen seiner Agenda (»die Türken als Menschen zu studiren«) bereits näher beschäftigt hat. Dazu gehören »Gesetzbücher und Verordnungen, welche die bürgerliche und moralische Verfassung des Landes eingerichtet«, »Sprüchwörter als der wahre Kern des Volksverstandes«, »einige tausend Lieder, woraus sich die Natur und der Gang der türkischen Empfindungen und Leidenschaften am besten darstellen lässt«, »Seecharten [...] und eine ansehnliche Sammlung von Türkischen und Persischen Gemälden und Zeichnungen, deren Werth eben so schwer zu schätzen sein wird wegen der großen Seltenheit der Sache«.85 Dazu kommen politische, militärische, historische und moralische Schriften, die Münzsammlung sowie eine Sammlung von einigen hundert geschnittenen und mit Inschriften versehenen Steinen. Unter den mo-

|| 83 Diez an Tychsen, 20. August 1791 (s. Anm. 12), Bl. 82b. 84 »Allein die Sache ist, daß ihn das Schicksal getroffen hat, zweymal abgebrannt zu werden, wobey er nichts als einmal 15 und das andere Mal 25 Piaster, die er in der Tasche geführt, gerettet hat. Er hat sich also zweymal aus der gänzlichen Verarmung wieder herausreißen müssen« (Diez an Tychsen, 29. Oktober 1791 [s. Anm. 12], Bl. 88a). 85 Diez an Tychsen, 20. August 1791 (s. Anm. 12), Bl. 82a–b.

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ralischen Schriften erwähnt er das Kabus-Name, welches er als das nützlichste Buch ansieht, das er je gelesen habe.86 Während der überwiegende Teil der Handschriften einfacher Machart sind und zeigen, dass ihr Besitzer sich in erster Linie für deren Inhalte interessierte, befinden sich doch einige kostbare Preziosen darunter, die Diez’ Sammlerherz höherschlagen ließen. Mit der von ihm erwähnten Sammlung türkischer und persischer Gemälde und Zeichnungen sind die sogenannten Diez-Alben der Staatsbibliothek zu Berlin gemeint.87 Ihre Nennung in diesem Zusammenhang ist deshalb von Bedeutung, da es der erste und beinahe einzige Hinweis überhaupt darauf ist, dass ihr Besitzer diesem Konvolut mit überwiegend aus dem Iran des 14. und 15. Jahrhunderts stammenden Miniaturen, Zeichnungen und Skizzen eine Wertschätzung beimaß. Sie fanden in seinem Handschriftenverzeichnis keine Eintragung. Er hat die Materialien, teils gebunden, teils lose, vermutlich deshalb gekauft, weil er sie für ausgesprochen kostbar hielt. Dies gilt ebenso für den berühmten Seekarten-Atlas, das Kitāb al-Baḥrīye des Piri Reis (Abb. 3), den er höchstwahrscheinlich gemeinsam mit dem überwiegenden Teil der Alben aus dem Haremsbereich des Topkapı-Palastes erworben hat, wo diese zum Zeitvertreib angeschaut wurden. Er glaube, schreibt er an Tychsen, dass es die einzige Kartensammlung dieser Art sei, die im ganzen Osmanischen Reich vorhanden sei. Gegenüber Tychsen erwähnt er auch die besonderen Erwerbungsumstände, die ebenso in den Denkwürdigkeiten von Asien ausführlich dargestellt sind.88 Demnach habe er den Atlas zusammen mit illustrierten persischen Handschriften aus dem Topkapı-Palast durch die Hilfe eines PalastEunuchen, erhalten. Nachkommen des verstorbenen Sultans Abdülhamid I. mussten die inneren Haremsbereiche nach der Machtübernahme durch Selim III. im Jahr

|| 86 Zum Buch des Kabus vgl. auch Lela Gibson: Navigating the Qabusnamah’s Journey from Istanbul to Weimar: Ottoman-European Philosophical Exchange in the Age of Enlightenment. In: Osmanlı Araştırmaları / The Journal of Ottoman Studies XLVIII (2016), S. 321–336. 87 Die fünf Alben mit den Signaturen Diez A fol. 70–74 stellen in ihrer Vielfalt bedeutende Zeugnisse für die Entwicklung der islamischen Buchkunst dar. Vgl. The Diez Albums. Contexts and Contents (s. Anm. 69). 88 Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung. Aus Handschriften und eigenen Erfahrungen gesammelt. Erster Theil. Berlin 1811, S. 39. Vgl. auch Julian Raby: Contents & Contexts. Re-Viewing the Diez Albums. In: The Diez albums. Contexts and contents (s. Anm. 69), S. 15–51, hier S. 26–32.

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Abb. 3: Kitāb al-Baḥrīye des Piri Reis (Ms. Diez A fol. 57), Karte von Konstantinopel. © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

1789 verlassen und nutzten die Gelegenheit, etwas Geld dazu zu verdienen. Diez gibt an, als Preis für den Atlas 835 Piaster (entspricht ca. 500 Taler) gezahlt zu haben.89 Das ist der höchste Preis, den er jemals für eine orientalische Handschrift zahlte, überstieg den für persische Prachthandschriften aus seiner Sammlung um das Mehrfache und macht bereits ein Viertel der Summe aus, die er für türkische Handschriften insgesamt ausgab.90

|| 89 Diez an Tychsen, 1. Oktober 1791 (s. Anm. 12), Bl. 86a. Die Umrechnung der Währung erfolgt nach Beispielen bei Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 3), S. 761. 90 Er erwähnt, dass er geschätzte 2.000 Taler »für seine Handvoll Handschriften« investiert habe, die er von seinem Türkei-Aufenthalt mitbrachte; vgl. Diez an Tychsen (s. Anm. 89), Bl. 86a. Sein jährliches Gehalt, anfänglich etwas mehr als 5.000 Taler, wurde Ende 1786 von Friedrich Wilhelm III. auf 10.000 Taler erhöht. Von dieser Summe waren freilich zahlreiche Aufwendungen zu begleichen, etwa das Gehalt des Dolmetschers von 1.000 Talern. Zusätzliche Einkünfte ermöglichte z. B. das Ausstellen preußischer Pässe; vgl. Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa (s. Anm. 3), S. 468 und 600f. Zu den Preisen der persischen Miniaturhandschriften vgl. Rauch: Oriental Manuscripts and Albums (s. Anm. 69), S. 80 und S. 116.

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Den Umfang der aus der Türkei mitgebrachten Sammlung gibt er mit 300 Handschriften an, er nennt sie explizit eine türkische Sammlung.91 In seinem Handschriftenverzeichnis sind insgesamt 421 orientalische Handschriften von ihm selbst eingetragen worden.92 Die türkischen (etwa 250 Bände), arabischen (100) und persischen (50) Handschriften sind in den entsprechenden Katalogen erfasst worden.93 Zur Sammlung gehören auch kleinere Bestände in syrischer, osttürkischer, äthiopischer und koptischer Sprache, die Diez nicht aus Konstantinopel mitgebracht hatte. Dass der überwiegende Teil der Sammlung türkisch ist, ist in Anbetracht der Interessen und Sprachkenntnisse von Diez kaum überraschend. Bei anderen Sammlungen, die im 17. und 18. Jahrhundert in Konstantinopel von Europäern zusammengetragen wurden, überwog der arabischsprachige Anteil in der Regel deutlich. Auffallend ist, dass Diez in seiner oben zitierten Auflistung der für ihn von Interesse seienden Themen keine religiösen Werke nennt. Viele Werke der aufgeführten rechtlichen, moralischen oder auch literarischen Themen gehören zweifellos zur islamischen Literatur im weitesten Sinne. Ein explizites Interesse an islamischer Religion ist aber nicht erkennbar. Als regelmäßiger Besucher des DerwischKonvents in Galata sammelte er zahlreiche Hefte mit türkischen Gedichten, die dort zu Musik und Tanz gesungen wurden (diese bilden zumindest einen Teil der von ihm oben erwähnten Lieder). Diesen schmalen Heften im Längsformat mit den Signaturen Ms. Diez A oct. 149–158 (Abb. 4) maß er in seinem Handschriftenkatalog keinen besonderen inhaltlichen Wert bei: »Die Gedichte sind sämtlich mittelmäßig und verbreiten sich alle über die gewöhnliche Liebe« (zu Ms. Diez A oct. 149); »Es läßt sich von dieser Sammlung weiter nichts sagen, als daß sie eben so unbedeutend ist als die vorige. Die Verfasser der Lieder sind Aschick Omer, Ghewheri, Kul Oghlu und Kjatibi. Sie schwatzen von der Liebe, wie es Ihnen in den Mund kommt.« (zu Ms. Diez A oct. 154); »Die Lieder aber, die darin enthalten sind, sind nicht geistreicher als die andern, welche in den nächst vorhergehenden Sammlungen angetroffen werden« (zu Ms. Diez A oct. 155) usw. usf.94

|| 91 »Sie fragen, ob ich Arabische Handschriften mitgebracht? Mein Gegenstand war der Türkische Mensch, also ist auch alles, was ich gesammelt, Türkisch. Alle meine Handschriften sind türkisch, bis auf wenige Arabische und Persische Bücher, welche die Sprachen angehen« (Diez an Tychsen, 20. August 1791 [s. Anm. 12], Bl. 82a). 92 Abzüglich der Kriegsverluste und der ursprünglich zu den Handschriften gezählten orientalischen Drucke sowie zuzüglich der später in der Königlichen Bibliothek nachgetragenen Bände beträgt die Anzahl heute vorhandener orientalischer Handschriften der Sammlung Diez 410 Bände. 93 Wilhelm Pertsch: Verzeichniss der türkischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin 1889; Ders.: Verzeichniss der persischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin 1888; Wilhelm Ahlwardt: Verzeichniss der arabischen Handschriften. 10 Bde. Berlin 1887–1899. 94 Vgl. Diez: Verzeichniß (s. Anm. 70), S. 587 u. S. 592.

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Abb. 4: Konvolut von Gedichten bzw. »Derwisch-Tanzliedern« (Ms. Diez A oct. 149–158). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Er räumte aber ein, dass die Gedichte erst durch ihre Aufführung ihren Wert entfalten könnten: Liebe und Wein sind die einzigen Ausdrücke, welche den Stoff zu den Liederchen hergeben und auf dem Papiere den widerlichsten Einlaut besonders für bejahrte Leser haben würden,

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wenn man nicht bedächte, daß ihre Abwechselung erst durch die Gefährten des Gesangs und der Instrumente hervorgebracht werden soll. Es würde daher auch thöricht seyn, solche Lieder in andere Sprachen übertragen zu wollen, indem sie durch ihren Inhalt keinen Werth behaupten können. […] Kurz, die Sammlung kann nur für Musikliebhaber einen vorzüglichen Werth haben.95

Von einer religiösen Relevanz dieser Überlieferungen spricht Diez nicht. Fehlende arabische Sprachkenntnisse verhinderten zudem während seines Aufenthaltes eine Beschäftigung mit den traditionellen islamischen Wissensgebieten. Später interessierte er sich aber zunehmend für die arabische Sprache und Literatur, wohl auch um türkische Texte besser verstehen zu können. Die arabische Literatur in seiner Sammlung ist überwiegend in späteren Jahren hinzugekommen, etwa durch den Ankauf der bereits erwähnten Bibliothek des Hendric Benzelius im Jahre 1804 und verschiedene Einzelerwerbungen. Maximilian Habicht (1775–1839), Übersetzer und Herausgeber von Tausendundeiner Nacht, vermittelte Diez den Ankauf einer arabischen Handschrift mit dem ersten Teil dieser berühmten Erzählsammlung über seinen Freund aus gemeinsamen Pariser Studententagen, den Tunesier Mordechai Ibn an-Naǧǧār. Zwei weitere Oktav-Bändchen (Ms. Diez A oct. 184 und 185) kopierte Habicht sogar eigenhändig und übersandte sie Diez als Geschenk.96 An seinen Veröffentlichungen kann man sehen, dass Diez sich mit einer thematischen Vielfalt beschäftigt hat, die sich von moralischen und ethischen Werken über Volkserzählungen bis hin zur Tulpenzucht erstreckte. Die Resultate seiner unermüdlichen Übersetzungsarbeit finden sich in den zahlreichen Ausgaben, die er in den letzten Jahren seines Lebens auf eigene Kosten veröffentlichte, insbesondere in den Denkwürdigkeiten von Asien. So ist es ihm schließlich doch noch gelungen, einige der »Sachkenntnisse der Morgenländer auf unsern Boden zu verpflanzen.«97

9 Fazit In diesem Beitrag wurden erstmalig Quellen vorgestellt, die zeitlich im Umfeld von Diez’ Aufenthalt in Konstantinopel zu verorten sind. Diese erste Sichtung des umfangreichen Materials konnte hier neben biographischen Erkenntnissen vor allem

|| 95 Beschreibung von Ms. Diez A oct. 151, Diez: Verzeichniß (s. Anm. 70), S. 587. 96 Ebd., S. 601. Habicht war zu dieser Zeit noch ohne feste Anstellung und hoffte, dass der Legationsrat Diez beim preußischen Hofe ein Wort für ihn einlegen könne, um ihm eine Anstellung als Dolmetscher zu verschaffen. Deshalb übersandte er Diez nicht nur die beiden Handschriften, sondern auch Sämereien, die ihm Ibn an-Naǧǧār aus Tunis geschickt hatte und die für »des Königs Pflanzen-Garten« bestimmt waren. Vgl. Brief von Habicht an Diez, 6. Januar 1817, SBB-PK, Ms. Diez. C quart. 125, Bl. 15a-15b. 97 Diez an Tychsen, 2. Juni 1792 (s. Anm. 12), Bl. 105a.

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dazu beitragen, unseren Blick auf seine Persönlichkeit zu schärfen und seine Ansichten zu verschiedenen die Türkei und den Orient betreffenden Fragen deutlicher zu konturieren. Die im 18. Jahrhundert weit verbreitete Kritik am tyrannischen Herrschaftssystem des Osmanischen Reichs tritt bei Diez hinter einer Begeisterung für die türkische Kultur zurück, wie er sie kennenlernte. Anders als viele seiner orientalistischen Zeitgenossen, die im Alten Orient ein Goldenes Zeitalter sahen, das schon zu biblischen Zeiten ein Ende fand,98 erkennt Diez die Türken als Bewahrer des Vermächtnisses altorientalischer Weisheit an. Für seine sich in späteren Jahren entwickelnde tiefempfundene und alttestamentlich geprägte Frömmigkeit mag dieser Erkenntnisprozess prägend gewesen sein.99 Sein Verständnis vom Orient findet in gewisser Weise auch eine Entsprechung bei seinem Korrespondenzpartner Goethe, der in nachnapoleonischer Zeit begann, durch seine Beschäftigung mit der islamischen Literatur »Patriarchenluft zu kosten«.100 Es bleibt zu hoffen, dass durch diesen Beitrag zu weiterführender Arbeit mit den hier vorgestellten Quellenmaterialien angeregt wird. Eine vollständige Edition der Briefe ist bereits geplant, aber auch eine Edition des umfangreichen Handschriftenverzeichnisses, das eine unschätzbare Quelle für das Verständnis von Diez’ Orientbild darstellt und seine Vorgehensweise bei der Erschließung der Sammlung besser verstehen lässt, wäre von großem Erkenntniswert. So kann man den Orientliebhaber und -kenner Diez noch präziser in seinen geistesgeschichtlichen Kontext einordnen und einen Beitrag zum Verständnis des Ausdifferenzierungsprozesses der Orientalistik leisten, der auch in stärkerem Maße Gelehrte einbeziehen muss, die außerhalb der wissenschaftlichen Institutionen standen.

|| 98 Vgl. Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. Washington, D.C. 2009, S. 38–40. 99 Vgl. Gibson: Changing States (s. Anm. 7), S. 77 and S. 84f. 100 Johann Wolfgang Goethe: West-Östlicher Divan. Hg. von Hendrik Birus. Berlin 2010, Bd. 1, S. 12.

Henning Sievert

Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz Heinrich Friedrich von Diez hat osmanisch-türkische Korrespondenz hinterlassen, die in zwei Konvoluten zusammengebunden vorliegt und im Katalog treffend als »Sammlung türkischer Briefe« (Diez A quart. 125) und als »zweite Sammlung türkischer Briefe« (Diez A quart. 129) bezeichnet wird. Das Material kann an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden, verdiente jedoch eine eingehende Untersuchung. Im Folgenden sollen zunächst einige sprachliche Beobachtungen und anschließend Bemerkungen zu Korrespondenzpartnern und Themen geboten werden. Im Vordergrund steht dabei private Korrespondenz, unter Absehung von ebenfalls enthaltenen offiziellen Schreiben von Würdenträgern der Hohen Pforte.

1 Wie wurde Heinrich Friedrich von Diez auf Türkisch angeredet? Die türkischsprachigen Briefeschreiber hielten sich an die Formalitäten des hochentwickelten osmanischen Briefstils, dessen deutsche Wiedergabe nur annäherungsweise möglich ist. Die Briefanrede des Gesandten Aḥmed ʿAzmī Efendi bringt eine gewisse persönliche Nähe zum Ausdruck: An unseren hochgeschätzten Freund, den geneigten, wohlwollenden, achtenswerten Herrn von Diez: Nach Übermittlung von heilbringenden, wohlwollenden und Zuneigung vermittelnden Grüßen und der Frage nach eurem Wohlergehen erläutere ich in freundschaftlicher Weise […].1

Die Anrede zeigt bei Schreiben von osmanischen Diplomaten und Amtsträgern nur geringe Variationen, und auch die Anrede durch einen weniger offiziellen Korrespondenzpartner wie Diez’ früheren Lehrer, den Gelehrten Seyyid Meḥmed Emīn Efendi, stimmt im Wesentlichen überein:

|| 1 »Raġbetlü riʿāyetlü meveddetlü ḥurmetlü dost-ı aḥabbımız Her Fon Dits ḳıbaline selām-ı selāmet encām ve peyām-ı maḥabbet irtisām iblāġıyla ḥāl-ü ḫāṭırıñız suʾālinden ṣoñra dōstāne inhā ve ifhām olunur ki […]« (undatiert, Ms. Diez A quart. 125, Bl. 10). Die im Folgenden in Umschrift transkribierten Zitate orientieren sich am Schriftbild, bemühen sich aber nicht um eine Rekonstruktion des Lautstandes, sondern setzen moderne Vokalisierung ein, soweit die Graphik nichts anderes nahelegt.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-012

222 | Henning Sievert An den würdigen, freundlichen und geneigten Herrn Gesandten Monsieur Diez: Nach Übermittlung von heilbringendem und wohlwollendem Gruß und Gebet zu seinem Heil wird nach seinem Wohlergehen gefragt. Möge der Herr euch stets behüten, Amen. Wenn ihr nach uns fragt, [lautet die Antwort:] Lob sei Gott dem Erhabenen, denn bis zum Datum der Abfassung des Briefes sind wir gesund geblieben und lassen es weder tags noch nachts an Fürbitte für euch mangeln. Mein Freund, Sie wissen, ich lüge nicht, Gott der Erhabene weiß es.2

Was dem heutigen Leser als Wortgeklingel und Blumigkeit erscheint, charakterisiert die Beziehung des Schreibers zum Leser des Briefes. Unter anderem wird in beiden Beispielen der Religionsunterschied berücksichtigt, indem die meisten gewählten Attribute speziell für Nichtmuslime reserviert waren. Der Gelehrte Seyyid Meḥmed Emīn Efendi akzentuiert dies durch Einflechtung von Fürbitte und arabischen Formeln, die sowohl das Religiöse als auch das Gelehrte transportieren. Nach der reinen Anredeformel nimmt er die höfliche Frage nach dem gegenseitigen Befinden auf, um auf einer persönlicheren Ebene seine persönliche Zuneigung hervorzuheben und über die Formalitäten hinaus deutlich zu machen, dass er die Beteuerung der ganztägigen Fürbitte ernst meine. Diez selbst verwendete dieselben Anredeformeln. Er konnte solche Formeln osmanischen Briefstellern3 entnehmen, oder auch den an ihn gerichteten Schreiben, denn die wörtliche Nähe zu diesen fällt auf.4 Für eine Übernahme aus an ihn gesandten Briefen spricht, dass Diez auch den islamischen Gelehrten Seyyid Meḥmed Emīn Efendi mit für Nichtmuslime üblichen Attributen versieht.5 An anderer Stelle

|| 2 »Ḥaşmetlü raġbetlü maḥabbetlü elçi beğ Mösyö Dis̱ ḥużūrlarına selām-ı selāmet encām ve duʿāʾ-ı ḫayr iblāġıyla ḥāl-ü ḫāṭırları suʾāl olunur dāʾimā ḥıfẓ-ı Ḫudāda olasız āmīn eğer ṭarafımızdan suʾāl ederseñiz el-ḥamdu li-llāhī taʿālā vucūdumuz tārīḫ-i mektūba değin ṣiḥḥatde olub gece ve gündüz duʿāñızda ḳuṣūrumuz yoḳdur benim dostum sizler bilirsiñiz ben ḫilāf söylemem ʿalima llāhu taʿālā« (Schreiben vom 11. Februar 1796 / 2. Şaʿbān 1210, Ms. Diez A quart. 125, Bl. 16). 3 Mehrere geeignete Briefsteller des 18. Jahrhunderts finden sich in Diezens Sammlung: Ms. Diez A quart. 114 von 1714; Ms. Diez A quart. 45 von 1736; Ms. Diez A quart. 50 von 1781; Ms. Diez A fol. 63 von 1793. 4 Bspw. in seiner Antwort an Seyyid Meḥmed Emīn Efendi: »Riʿāyetlü raġbetlü ṣadāḳatlu ḫōca Muḥammed Emīn Efendi dostumuza ḳıbaline selām-ı selāmet encām ve peyām-ı maḥabbet irtisām iblāġıyla ḥāl-ü ḫāṭırıñız suʾālinden ṣoñra dōstāne inhā ve ifhām olunur ki […]« (Ms. Diez A quart. 125, Bl. 19). 5 Nämlich riʿāyetlü und raġbetlü (vgl. etwa Julius Theodor Zenker: Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch. Dictionnaire Turc-Arabe-Persan. 2 Bde. in 1 Bd., Hildesheim 1979 (Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1866), S. 465f s. v. riʿāyet und raġbet, sowie übereinstimmend James W. Redhouse: A Turkish and English Lexicon. Showing in English the significations of the Turkish terms. Kitāb-ı maʿānī-i lehce. Beirut 1996 (Nachdr. d. Ausg. Konstantinopel 21890.), S. 978 und S. 980). Diese Attribute verlieh er auch anderen muslimischen Empfängern (vgl. z.B. Anm. 4., hier Bl. 22). Reaktionen des Angesprochenen, dessen Titel seyyid ihn gar als Prophetennachfahren ausweist, sind nicht überliefert und dürften höflicherweise ausgeblieben sein.

Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz | 223

orientierte sich Diez jedoch stärker an hochoffiziellen Schreiben der Diplomatie und drängte solche Schönheitsfehler zurück.6 Diez bemühte sich also, den Anforderungen des gehobenen osmanischen Briefstils zu entsprechen, wie ihn die literarisch Gebildeten und vor allem die Bürokraten pflegten. So bestätigte er dem Gesandten ʿAzīz ʿAlī Efendi in einem Schreiben vom August 1797 in poetischer Form den Erhalt des vorangegangenen Briefes: »Ihr Brief kam wie eine Muschel aus dem Meer des Herzens, und Ihr Diener suchte und fand die darin eingeschlossenen Perlen.«7 Mit den Perlen dürften geistreiche Inhalte gemeint sein, deren sprachlich-metaphorische Schale Diez durch Entschlüsselung knackte (Abb. 1).

Abb. 1: Ausschnitt aus einem Schreiben an ʿAzīz Efendi, August 1797: »Mein lieber Freund, Ihr Brief kam wie eine Muschel aus dem Meer des Herzens, und Ihr Diener suchte und fand die darin eingeschlossenen Perlen. Durch Ihre Erklärungen jeder Vokabel und jeder Bedeutung mit Beispielen haben Sie mir sehr geholfen, sodass ich jedes Wort betrachten und verstehen konnte, woher es kommt und worauf es zielt. Auf diese Weise wurde ich Ihres Wissens teilhaftig« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 5). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 6 Im Entwurf zu einem Schreiben an den Gesandten ʿAzīz Efendi vom August 1797 lautet die Anrede: »An Seine Exzellenz, den erlauchten, hochgeehrten, geneigten Botschafter, unseren Freund ʿAzīz Efendi« (»Devletlü ʿizzetlü raġbetlü büyük elçi ʿAzīz Efendi dostumuz ḥażretlerine leri ḳıbaline«). Zwar ist raġbetlü auch hier enthalten, jedoch neben mehreren für hohe Würdenträger (Paschas) bestimmten Attributen. 7 »Ṭarafıñızdan vuṣūl bulunan mektūblarıñız ṣadef gibi göñül deryāsından çıḳub bendeñiz iḥāṭa olunan düreri cū edüb buldum« (Schreiben an ʿAzīz Efendi, August 1797, Ms. Diez A quart. 129, Bl. 5).

224 | Henning Sievert

2 Wie lernte Diez Türkisch? Die aktive Verwendung von literarischem Osmanisch stellte eine außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe dar, sodass Diez seine Unzulänglichkeiten nur zu bewusst waren und er sich präventiv für grammatikalische und stilistische Fehlgriffe entschuldigte: Da ich die türkische Syntax und Ausdrucksweise nicht gut kenne, verzeihen Sie mir bitte die vorkommenden Fehler, denn ein Fremdling wie ich beherrscht die Formulierkunst nur unzureichend.8

In einem Antwortschreiben geht der Gesandte ʿAzīz ʿAlī Efendi9 darauf ein und hebt ermutigend hervor, dass Diezens Brief höchst gelungen formuliert sei (»mektūb-ı ḳābilīyet-uslūb«). Außerdem habe noch kein Fremdsprachiger je das Türkische perfekt erlernt.10 Noch etwas weniger ermutigend fährt ʿAzīz ʿAlī fort: »Bis man in einer Sprache wie dieser Briefe schreiben kann, braucht es dreißig Jahre.«11 Daher sei es ganz erstaunlich und zeuge von angeborenem Talent, dass Diez sie trotz seines kurzen Aufenthaltes in Konstantinopel fast so gut wie die Einheimischen erlernt habe.12 Einige Hinweise darauf, wie Diez beim Erlernen des Türkischen vorging, finden sich in seiner Sammlung. Zum einen hatte er zwei Privatlehrer, nämlich den bereits erwähnten Seyyid Meḥmed Emīn Efendi sowie einen İbrāhīm Efendi, welcher 1786 für Diez eine Wortliste mit Kasusendungen und Suffigierungen anfertigte.13 Die Liste

|| 8 »Türkçe lisānıñ söz tertīb ve ʿibārātı eyüce bilmemek sebebiyle sehv-ı ḳalem ne ḳadar vāḳiʿ olduġısa ʿafv buyuruñ ve ʿöẕrim ḳabūl eyleñ zīrāki benim gibi bir ecnebī ol mertebeye erişmez ki bu fennde ḫiṭāba irtikāb eylemeye« (Schreiben an ʿAzīz Efendi, August 1797, Ms. Diez A quart. 129, Bl. 9) 9 Zur Person vgl. M. Orhan Okay: »Aziz Ali Efendi«. In: Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi I, S. 333f. 10 »Lisān-ı türkīye bir adamıñ pederden mevrūs̱ lisānı olmayub ṣoñradan kemāli üzere taḥṣīl ve bī farḳ olması şimdiye ḳadar menẓūr ve meşhūd olmamışdır« (Brief von ʿAzīz Efendi, 17. August 1797 [23. Ṣafar 1212], Ms. Diez A quart. 129, Bll. 6–7). 11 Vgl. ebd.: »Bu bir lisāndır ki otuz senede merāmını taḥrīr miḳdārı ancaḳ öğrenilebilür.« 12 Ebd.: »Bu cümle ile Āsitānede vaḳt-i ḳalīle tevḳīf ile bu derece taḥṣīliñiz Ḫudā ḥaḳḳıyçün taʿaccub olunur māddedir ve ancaḳ māderzādları olan istiʿdādıñ ḳuvvetidir.« 13 Ms. Diez A quart. 95: »Niederschrift der türkischen Flexion« (»hāẕā kitāb-ı ṣarf-ı türkī«). Da das Türkische eine agglutinierende Sprache ist, hat das hier als Flexion bzw. ṣarf bezeichnete Phänomen für den Lerner mehr Gewicht als in afroasiatischen oder indoeuropäischen Sprachen. Jedoch gibt es in der Bildung der Endungen so gut wie keine Unregelmäßigkeiten, sodass man sich fragen kann, welchen praktischen Nutzen die vollständige Auflistung in sämtlichen Personen für Dutzende Vokabeln gehabt haben mag.

Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz | 225

enthält Gegenstände des täglichen Lebens14 und häufige Verben,15 die in verschiedenen Variationen bis hin zu etwas ausgefallenen Modi und Tempora vollständig durchkonjugiert werden (Abb. 2).

Abb. 2: »Dies ist die Niederschrift der türkischen Flexion« (»hāẕā kitāb-ı ṣarf-ı türkī«) (Ms. Diez A quart. 95, Bl. 2b/3a). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Die Beziehung zu den Lehrern hatte eine persönlich verbindliche Seite, sodass sein Lehrer İbrāhīm Efendi sich hilfesuchend an Diez wandte, als er wegen nicht beglichener Schulden im Gefängnis saß. In einem nicht datierten Brief schrieb er:

|| 14 Dabei handelt es sich um Lebensmittel (Brot, Sahne, Salz, Zucker, Scherbet usw.), Obst (bspw. Apfel, Granatapfel, Feige, Weintraube), Geräte (wie Kerzenhalter, Kanne, Messer, Löffel, Handtuch, Flinte, Säbel), Kleidung (Gewand, Mantel, Überwurf, Schuhe), Haustiere (Pferd, Katze, Ziege, Büffel, Kamel, Esel, Ochse u. a.), Wildtiere (Löwe, Tiger, Hase, Fuchs, Bär, Gazelle, Nachtigall etc.), auch den Kanarienvogel (ḳanarya), Körperteile (Bein, Auge, Kopf, Arm), Bauliches (Haus, Villa, Zelt, Pavillon, Garten) sowie etliche Blumen, Gewürze und Heilpflanzen (Rose, Nelke, Kümmel, Pfeffer, Kokos, Safran usf.). 15 Wie in arabistischen Grammatiken üblich wurde zuerst die 3. Person Singular Präteritum als Grundform aufgeführt. Dies ist beim Türkischen nicht unbedingt zweckmäßig und wurde z. B. in Meninskis Grammatik von 1680 nicht so gehandhabt (nachgedruckt in Bd. IV der Stachowskischen Ausgabe des Wörterbuches von Meninski).

226 | Henning Sievert Mein Herr, man hat mich hier wegen sechzig Piastern Schulden im Aġa Ḳapusı eingekerkert. Sechzig Tage soll ich einsitzen und kann mich an niemanden außer ihnen wenden. Seien Sie gnädig und senden Sie sechzig Piaster.16

Hilfreich für den Spracherwerb waren auch mehrere Schriften, die Diez aus dem Nachlass des ragusäischen Dragomans Marc’Antonio Rosa erwarb. Rosa, der in Konstantinopel für Ragusa und für die Niederlande tätig gewesen war, hatte für seine Schriften keinen Verleger gefunden.17 Nach seinem Ableben bot der Erbe Diez die Manuskripte zum Kauf an, der dazu schreibt: »Ich habe das Werk […] ungebunden von einem Verwandten des Verfassers für 175 Piaster gekauft. Man hatte 1000 Piaster gefordert, weil man die Schriften für wichtiger hielt, als sie sind.«18 Marc’Antonio Rosas Grammatica Italiana Et Turca enthält neben der eigentlichen Grammatik auch türkisch-italienische Dialoge und einen Anhang über die Namen der Monate, der Winde, von Sternbildern und Musikinstrumenten.19 Dazu treten ein dreibändiges Wörterbuch namens L’Abbreviato Dictionario Di Quattro Lingue, Turca, Araba, e Persiana Col Suo Italiano,20 das nach Ansicht von Wilhelm Pertsch »nur ein Auszug aus [dem älteren Wörterbuch von] Meninski ist«21 und ein weiteres Wörterbuch in entgegengesetzter Sprachrichtung: Il Diffuso Dictionario Di Quattro Lingue; Cioe Italiana, Turchesca, Araba ed Persiana, das Pertsch etwas gnädiger beurteilte: »Das Wörterbuch scheint eine selbständige und nicht unbrauchbare Arbeit zu sein.«22 Weitere Stücke der Diez-Sammlung konnten ebenfalls nützlich zur Vertiefung der Kenntnisse sein, beispielsweise das versifizierte Wörterbuch Manẓūme-i keskin

|| 16 »Benim beğim bizleri bu ṭarafda altmış ġurūş borcumuz olmaḳ sebebi ile Aġa Ḳapusında ḥabs etdiler ve altmış gün maḥbūs olsam sizden gayrı kimse ḥālimi ifāde edemem kerem ʿināyet edüb altmış ġurūş irsāl edüb […]« (Ms. Diez A quart. 125, Bl. 5). Als Aġa Ḳapusı (Tor des Ağas) wurde der Sitz des Oberkommandierenden der Janitscharen bezeichnet (yeñiçeri aġası), wo es unter anderem einen Kerker gab. Zu den Geldwerten vgl. Anm. 52. 17 Diez zufolge war Rosa »am Ende darüber verrückt geworden, daß er keinen Verleger hat finden können, um seine Werke der Welt bekannt zu machen« (zit. nach Wilhelm Pertsch: Die Handschriften-Verzeichnisse der königlichen Bibliothek zu Berlin. Sechster Band. Verzeichniss der türkischen Handschriften. Berlin 1889, S. 111). 18 Zitiert nach ebd.; vgl. ebd., S. 112f. 19 Der vollständige Titel lautet Grammatica Italiana Et Turca Dedicattorio À Lor’Alte Potenze Potentissimi Sigri Stati Generali Di Sette Provincie Vnite Di Paesi Bassi &c. &c. &c. (Ms. Diez A fol. 31). Mehr dazu bei Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse (s. Anm. 17), S. 97f. (Nr. 57). 20 Ms. Diez A quart. 54–56 und 177–179 (s. Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse [s. Anm. 17], S. 110–112, Nr. 75–80). Die Bände Ms. Diez A quart. 177–179 sind nach Pertsch wiederum ein unvollendeter Auszug aus den ersten dreien. 21 Das Wörterbuch des Franciscus à Mesgnien Meninski erschien 1680–1687 in Wien unter dem Titel Thesaurus Linguarum Orientalium Turcicae-Arabicae-Persicae. Lexicon Turcico-ArabicoPersicum. 22 Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse (s. Anm. 17), S. 112.

Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz | 227

(A quart. 28), eine Abhandlung über verbreitete Fehler im Arabischen (at-Tanbīh ʿalā ġalaṭ al-ǧāhil wa-n-nabīh, A oct. 73) oder eine Sprichwortsammlung, deren Zusendung Diez allerdings nur versprochen wurde.23

3 Wie schreibt man seinen Namen? Schwierigkeiten bereitete den osmanischen Briefeschreibern – und auch Diez selbst – die Wiedergabe seines fremdartigen Namens. Bei der Umsetzung von Fremdwörtern in osmanisch-arabische Schrift ergeben sich Schwierigkeiten durch die Defektivschreibung von Vokalen und durch die erheblichen Unterschiede zwischen den beteiligten Sprachen.24 Dies zeigt sich deutlich an den vorkommenden Formen des Namens »Heinrich Friedrich von Diez«. Eine Möglichkeit besteht in der Schreibung nach Gehör, um die Lautung des deutschen Namens in türkischen Ohren anzudeuten, was die Schreibung Her Fon Dits (‫ )ھﺮ ﻓﻮن دﯾﺘﺲ‬leistet. Der erste Teil her gleicht einem bekannten Wort (persisch/türkisch »jeder«) und dürfte auf Anhieb erfolgreich artikuliert worden sein. Beim zweiten Teil, fon (‫)ﻓﻮن‬, sind die Konsonanten eindeutig und der Vokal zwar nicht, doch wären die Variationen beim Endergebnis vergleichsweise geringfügig. Die Vokalschreibung lässt auch beim dritten Teil mehr als eine Möglichkeit, doch erschiene die Umsetzung als i wohl naheliegend, vielleicht sogar als langes ī. Schwierigkeiten macht wieder die Konsonantenfolge z bzw. ts, die im Türkischen nur als Kombination vorkommt und oft als ‫ چ‬bzw. ç (dt. tsch) wiedergegeben wurde. Daher findet sich auch die Version Diç (‫)دﯾﭻ‬. Alternativ wurde das tz zu s reduziert, wie in Mösyö Dis̱ (‫)ﻣﻮﺳﯿﻮ دﯾﺚ‬, wobei für s etwas ungewöhnlich der arabische Buchstabe ‫ ث‬gewählt wurde, der im persisch-türkischen Kontext lautlich mit s zusammenfällt. Die Wiedergabe insbesondere französischer Vokale bei der Alternative Mösyö Dis̱ stellt nun andere Anforderungen an die osmanisch-arabische Schrift, wie die Version de Diç, dö Dic (‫ دو دﯾﺞ‬، ‫ )ده دﯾﭻ‬erahnen lässt. Schließlich kann die Zusammenschreibung neue Verfremdungseffekte erzeugen, etwa in Mösidiç (‫)ﻣﻮﺳﯿﺪﯾﭻ‬, was durch Lese-/Schreibfehler zu Mösiviç (‫ )ﻣﻮﺳﯿﻮﯾﭻ‬weiterentwickelt wurde. Zur Umgehung solcher Hindernisse konnte man sich ohne Verlust an Höflichkeit auf Diez zustehende Titel besinnen, etwa in einer türkisch-französischen

|| 23 Der Dragoman Giuliani kündigte an, er werde Diez ein türkisches Sprichwörterbuch schicken (»türkī ḍarb-ı mis̱āl kitābı bulub efendimize irsāl«, Ms. Diez A quart. 125, Bl. 4). In der Sammlung befinden sich Sprichwortsammlungen auf Arabisch, Persisch und Osmanisch-Türkisch, welche teils für Diez kopiert oder kompiliert wurden (Ms. Diez A oct. 113) sowie auf Tatarisch/Tschagataisch (Ms. Diez A quart. 31), die er in seinen Denkwürdigkeiten von Asien übersetzt veröffentlichte. 24 Nämlich auf unterschiedliche Weise Deutsch, Türkisch, Französisch, Arabisch und Persisch.

228 | Henning Sievert Hybridform: misö baron beğ (‫)ﻣﺴﻮ ﺑﺎرون ﺑﯿﻚ‬, wobei »Monsieur« recht sparsam transkribiert wurde, oder mit einem deutschen Titel: yeheymrat Fon Dits ( ‫ﯾﮭﯿﻤﺮات‬ ‫)ﻓﻮن دﺗﺲ‬, zugleich ein Beleg für die Aussprache des Wortes »Geheimrat« am preußischen Hof. Diez selbst unterzeichnete mit Fon Dits (‫ )ﻓﻮن دﺗﺲ‬und charakterisierte sich dabei oft auf Arabisch als »aufrichtiger Herzensfreund« (al-muḥibb al-muḫliṣ).

4 Briefwechsel mit dem Türkischlehrer In seinem angesprochenen Brief fährt Seyyid Meḥmed Emīn Efendi, der sich selbst als Diez’ früheren Lehrer bezeichnet,25 fort: Seit Sie von hier fortgingen, erwähne ich jeden Tag im Gespräch mit Freunden lobend Ihren Namen. Sie müssen wissen, dass mir dabei manchmal die Tränen kommen. Gott, gewaltig ist seine Glorie, gebe Ihnen und uns das Gute ohne Kummer, und ermögliche ein Wiedersehen. Mein lieber Freund, Gott sei Dank komme ich aus, aber wie bei Ihnen ist es hier nicht, [sondern] zur Zeit recht schwierig geworden. Vergessen Sie mich nicht gleich, beglücken Sie mich mit einem Brief, und Gott möge auch Sie beglücken.26

Den frommen Grundton behält Meḥmed Emīn bei und ergänzt ihn um ein emotionales bis sentimentales Element, um Diez wenigstens zu einer Antwort zu bewegen. Immerhin war dies nicht der erste Brief, den Meḥmed Emīn Efendi an Diez gerichtet hatte. Bereits 179227 hatte er seinem früheren Schüler geschrieben: Wenn Sie nach mir fragen, so zweifeln Sie nicht daran, dass ich Tag und Nacht für Sie bete. Aber von Ihnen kam schon so lange kein Brief an, und auch wir haben Ihnen nichts geschickt.

|| 25 Er unterzeichnet als »Ihr Herzensfreund, es-Seyyid Muḥammed Emīn Efendi, ihr Lehrer« (»elmuḥibb es-Seyyid Muḥammed Emīn Efendi ḫōcañız«). 26 »Siz bu ṭarafından gideli her gün dostlar ile görüşdükde sizin [sic] ismiñizi ben añub ve medḥ ederim ve baʿż-ı kerre gözlerimden yaş gelür öylece maʿlūmuñuz olsun Allāh-ı ʿaẓīmü ş-şān size ve bize kedersiz ḫayır eyleye görüşmek müyesser eyleye ve benim sevgili dostum çoḳ şükr olsun Allāha geçiniyoruz lākin sizler buradaki gibi değil bu vaḳtler pek ẓayyıḳ [sic] oldı hemān bizleri ḫāṭırdan çıḳarmayub mektūbuñuz ile mesrūr eyleyesiz Allāh da sizi mesrūr eylesün« (Ms. Diez A quart. 125, Bl. 16). Ebenso wie bei İbrāhīm Efendi kommen verschiedene Schreibfehler vor, in diesem Fall verkehrte Buchstaben, was das Vertrauen in seine Fähigkeiten als Sprachlehrer zwar nicht unbedingt stärkt, aber auch nicht an heutigen Maßstäben korrekten Schreibens gemessen werden sollte. Beide Fehler in diesem Zitat treten bei Homophonen auf (n/ñ und ẓ/ż); ähnlich gelagert ist die Pleneschreibung im arabischen Wort lākin, welche der Artikulation entspricht und ebenso bei arabophonen Autoren vorkommt. Im Allgemeinen bemüht sich İbrāhīm Efendi sehr um präzise Schreibung, indem er z. B. Punkte auf das kāf-ı türkī und andere Hilfszeichen setzt. Seine Handschrift macht durch Unregelmäßigkeit und uneinheitliche Gestalt einiger Buchstaben einen etwas ungeübten Eindruck. 27 Am 1. Receb 1206 (24. Februar 1792).

Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz | 229

Das lag aber nicht an uns, denn wir haben von Ihnen keine gute Nachricht erhalten. Mal hieß es, Sie seien im Feldlager, mal an diesem oder jenem Ort. Möge es Ihnen immer wohl ergehen.28

Die Zeitumstände erschwerten die Kontaktpflege über große Distanzen. Die Zustellung erfolgte vermutlich nicht direkt über einen preußischen Kurierdienst, sondern durch osmanische Reisende, da auf den erhaltenen Umschlägen der Adressat lediglich auf Osmanisch-Türkisch benannt wird (Abb. 3).29

Abb. 3: »Durch die Gnade des Erhabenen möge dieser Brief im Lande Preußen an unseren Freund, den würdigen, freundlichen und geneigten Monsieur Diez gelangen, vormals Gesandten in Istanbul« (Ms. Diez A quart. 125, Bl. 16b). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 28 »Eğer bizden suʾāl ederseñiz gece ve gündüz duʿāñızda olduġımıza şübhe etmeyesiz lākin sizden bu ḳadar zamān dır mektūb ẓuhūr etmedi ve bizler daḫı göndermedik ammā bizim değil zīrā sizi [sic] eyü ḫaber almadıḳ gāh orduda ve gāh filān yerde deyü söylediler hemān ẕevḳ ve ṣafā olasız« (Ms. Diez A quart. 125, Bl. 18). 29 »Bi-mennihi taʿālā bu mektūb memleket-i Prusyaˈda sābıḳan İstanbulˈda elçi beğ olan raġbetlü maḥabbetlü ḥaşmetlü dostumuz mösyö Dis̱ ḥużūrlarına vuṣūl bula.«

230 | Henning Sievert Diez antwortete, dass auch er es nicht an Fürbitte fehlen lasse und bittet um Entschuldigung, denn er habe einen angeblich bereits geschriebenen Brief nicht abgeschickt. Ihm sei nämlich zu Ohren gekommen, dass Meḥmed Emin in Bursa verstorben sei, was ihn zutiefst betrübt hätte.30 Von sich selbst sagt Diez: »Ich kehrte auf meinen Landsitz zurück und führte dort ein ruhiges Leben«,31 womit er geläufige Topoi der Zurückgezogenheit und Einsamkeit aufgreift (ḫalvet-neşīn, ʿuzlet ve ferāġat). Zwar würden seine Dienste derzeit nicht in Anspruch genommen, aber er sei bereit, für neue Missionen bis Persien oder China zu reisen.32

5 Briefwechsel mit Würdenträgern Diez korrespondierte mit osmanischen Würdenträgern, die er offenbar während seiner Mission in Konstantinopel kennengelernt hatte. Einer dieser Bekannten war Velīyüddīn Aġa, Haushofmeister (ketḫudā) des verstorbenen Großwesirs Ḥasan Paşa und Verwalter eines Landguts aus dessen Besitz (çiftlik emīni), der außerdem den Titel eines kaiserlichen Leibgardisten (silāḥşōr-ı ḥażret-i şehryārī) führte.33 Neben je einem höflichen Grußschreiben an und von »Velī Aġa« von 1792 und 179334 ist ein undatiertes Schreiben erhalten. Darin erinnert der Gutsverwalter den ehemaligen Gesandten daran, dass er diesen beim Besuch auf dem Landgut um ein Fernrohr gebeten hatte.35 Offenbar hatte Diez ihm daraufhin sein Fernrohr geliehen, das ein Bote am folgenden Tag einschließlich dieses Begleitschreibens zurückbringen soll-

|| 30 »Ey maḥabbetlü dostumuz be-her ḥāl saña size ḫayır duʿā etmekde taḳṣīr etmedik ammā mektūbumuz size irsāl etmedüği içün her vechile bizi maʿẕūr buyurmaları recā olunur zīrā beğ zāde dostumuz ḫōca Emīn Efendi Burusada vefāt oldı deyü feryād etmiş idi« (Ms. Diez A quart. 125, Bl. 19). Im Entwurf strich Diez saña (dir) und ersetzte es durch size (Ihnen). 31 Ebd.: »çiftliğimize varub kendü ḥālimde oturdum«. 32 Ebd: »ʿAcemistān veyāḫūd Çīn ve Māçīn ṭarafına [...] ḥāżır«. 33 Die Bezeichnung silāḥşor konnte sich verschiedene militärische Funktionen beziehen, war hier aber offensichtlich ein höfischer Ehrentitel. Im späten 18. Jahrhundert amtierten aufeinanderfolgend drei Großwesire namens Ḥasan Paşa, nämlich Meyyit Ḥasan Paşa (1789), Cezāyirli Ġāzī Ḥasan Paşa (1789–1790) und Çelebizāde Şerīf Ḥasan Paşa (1790–1791). Der letzte Namensträger davor, Seyyid Ḥasan Paşa, war 1743–1746 Großwesir gewesen. 34 Ms. Diez A quart. 125, Bll. 20–22. 35 »Bei Ihrem Besuch auf dem Gut sprachen wir darüber, ob es möglich sei, ein Fernrohr [zu erhalten]« (»bu [de]fʿa çiftliğe teşrīflerinde ve cenāb-ı dostumuz ile görüşüb bir ḳıṭʿa dūrbūn recā olunmuş idi«, Ms. Diez A quart. 125, Bl. 15). Beim Ausdruck dūrbūn handelt es sich um eine vulgarisierte Variante des Kompositums dūrbīn, »weit sehend«, was ein Fernrohr, eine Brille (Lorgnon) oder auch ein Teleskop bezeichnet. Aus dem Zusammenhang geht nicht hervor, um was es sich handeln könnte.

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te. Velī Aġa bittet Diez nun umständlich um die Zusendung eines anderen Fernrohrs.36 Ein anderer Würdenträger, mit dem Diez in Kontakt stand, war Meḥmed Efendi-i Giridī, der Vorbeter des Sultans (ḥünkār imāmı). Dieser fromme Höfling charakterisiert sich als Gefolgsmann (tābiʿ) bzw. Verwandten des Marineministers (aḳrabāʾ-ı ḳapudan-ı deryā).37 Als Freundschaftsgabe ließ Meḥmed Efendi dem preußischen Gesandten durch einen religiösen Gelehrten namens Munlā Aḥmed ein dekoratives Tuch (»bir maḳrame peşkīr«)38 überbringen. Aus dem Beinamen Giridī geht zudem hervor, dass der Imam wahrscheinlich von Kreta stammte, ebenso wie ʿAzīz ʿAlī Efendi. Offenbar hatte er sich zuvor mit Diez über Produkte dieser Insel ausgetauscht und auf dessen Bitte »weitere spezielle Kretawaren« (»sāʾir tuḥa̱f Girid metāʿı«) nach Konstantinopel bestellt. Diese, nämlich Fleisch und Wein, sollten nun bald eintreffen und an Diez weitergeschickt werden.39 Breiteren Raum nimmt der Briefwechsel mit dem osmanischen Gesandten Aḥmed ʿAzmī 1790/91 ein. Im November 1790 schickte die Hohe Pforte Aḥmed ʿAzmī Efendi († 1820/21) als außerordentlichen Gesandten nach Berlin, um preußische Unterstützung im Konflikt mit dem Zarenreich zu erlangen. Zwar hielt sich ʿAzmī fast ein Jahr lang in Berlin auf, bis der König ihm im Januar 1792 die finanzielle Unterstützung entzog und damit zur Abreise zu bewegen suchte,40 doch erreichte der Gesandte das Ziel seiner Mission nicht.41 Bei seiner Ankunft sprach Aḥmed ʿAzmī vielleicht schon ein wenig Deutsch, denn er hatte Berlin bereits in jungen Jahren 1763/64 mit der ersten osmanischen Gesandtschaft nach Preußen besucht, die sein Schwager Aḥmed Resmī Efendi († 1783) geleitet hatte.42 Auch ʿAzmīs Vater Muṣṭafā Efendi war als Kanzler des || 36 Ms. Diez A quart. 125, Bl. 15: »[…] sāʾir biri tekellüf olması lāzim değil gerçi cenāb-ı dostumuza s̱iḳlet olur lākin beynimizde teklīf olmadıġına bināʾen maṭlūb olundı bizim s̱iḳletimizi refʿ olunması recāmız olmaġla maʿẕūr ola«. Möglicherweise war Velī Aġa mit den Linsen nicht zufrieden (»lākin aynaları ziyāde iʿlā olub«). 37 Ms. Diez A quart. 125, Bl. 6, Schreiben von Dezember–Januar 1789/90. 38 Als peşkīr/pīşgīr wurde ein Handtuch, eine Serviette o. ä. bezeichnet, welches offensichtlich in Makramee-Knüpftechnik dekoriert war. 39 Ms. Diez A quart. 125, Bl. 6: »[…] bā ḫuṣūṣ taḥrīr olunan bāde daḫı bu es̱nāda gelür ve ṭarafıñıza irsāl olunur«. Während kein Zweifel an der Lesung des Wortes »Fleisch« (laḥm) besteht, das der Imam auch zu medizinischen bzw. diätetischen Zwecken (ʿilāc) nutzen wollte, kann das Wort ‫ ﺑﺎده‬als bāde (Wein) oder pāde (Herde) gelesen werden. 40 Otto Müller: Azmi Efendis Gesandtschaftsreise an den preussischen Hof. Ein Beitrag zur Geschichte der diplomatischen Beziehungen Preußens zur Hohen Pforte unter Friedrich Wilhelm II. Flensburg 1918, S. 24. Er reiste am 14. Januar 1792 ab. 41 ʿAzmīs offizieller Gesandtschaftsbericht (sefāretnāme) ist in mehreren Abschriften erhalten, wurde u. a. im berühmten Geschichtswerk des Aḥmed Cevdet (ersch. 1854–1883) und 1918 von Otto Müller in deutscher Übersetzung veröffentlicht. 42 Über den Diplomaten und Staatsmann Aḥmed Resmī vgl. Virginia Aksan: An Ottoman statesman in war and peace: Ahmed Resmi Efendi, 1700–1783. Leiden u. a. 1995.

232 | Henning Sievert Großwesirs (reʾīsülküttāb) in den 1730er und 1740er Jahren eine zentrale Figur in der osmanischen Außenpolitik gewesen.43 Die Weitergabe von Kenntnissen in praktischer Diplomatie als »training on the job« im Kontext von Verwandtschaft und Patronage war vor der Einrichtung von spezialisierten Schulungsinstitutionen und Laufbahnen im Osmanischen Reich ebenso üblich wie in anderen europäischen Ländern. Am 22. Januar 1791 empfing der Liaison-Offizier (mihmāndār) Major von Roeder den osmanischen Gesandten in Schlesien nahe Leobschütz, nachdem dieser die österreichisch-preußische Grenze überschritten hatte. Diez stieß kurz darauf im brandenburgischen Crossen44 hinzu, begleitete die Gesandtschaft nach Berlin und nahm an der Audienz beim König teil. In seinem offiziellen Bericht erwähnt Aḥmed ʿAzmī Diez nicht, die Korrespondenz der diezschen Sammlung zeigt jedoch, dass beide in Kontakt standen. Vor seiner Abreise aus Berlin schrieb ʿAzmī an Diez: An unseren hochgeschätzten Freund, den geneigten, wohlwollenden, achtenswerten Herrn von Diez: Nach Übermittlung von heilbringenden, wohlwollenden und Zuneigung vermittelnden Grüßen und der Frage nach eurem Wohlergehen erlaube ich mir folgendes zu erläutern: Das Ihnen von Herrn Tychsen, Professor (muʿallim) an der Medrese zu Rostock in Mecklenburg, zugegangene und an mich weitergeleitete Schreiben ist mit ihrem Briefe eingetroffen. Ich war hocherfreut, durch dessen Lektüre zu erfahren, dass Sie sich gesund und wohl befinden. Mögen Sie glückreich und hochgeachtet sein. Da nun feststeht, dass wir aus Berlin aufbrechen werden, hatte ich beabsichtigt, Ihnen einen Abschiedsbrief zu schreiben und die Beantwortung Ihres Anliegens darauf verschoben. Da aus Istanbul noch keine schriftliche Anordnung zur Heimreise eingetroffen ist, ich aber vom Anliegen des erwähnten Professors weiß und mich nach Ihrem Befinden erkundigen möchte, habe ich Ihnen dieses Freundschaftsschreiben aufgesetzt und zugesandt. Es soll meine Zuneigung zu Ihnen ausdrücken und um Nachsicht dafür bitten, dass es derzeit nicht möglich ist, alle vom genannten Dozenten gewünschten Bücher zu beschaffen und zu schicken, weil sie groß, schwer und mindestens 500-600 Piaster teuer sind. Seien Sie gewiss, dass diese mit Gottes Hilfe nach meiner Rückkehr nach Konstantinopel beschafft und dem genannten Professor nach Möglichkeit zugesandt werden. Bleiben Sie mir also gewogen, denn ich fühle mich dazu im Dienste unserer Freundschaft überaus verpflichtet. Ihr Aḥmed ʿAzmī.45

|| 43 Muṣṭafā Efendi († 1749) stammte aus der Nähe von Kastamonu in Nordanatolien und war als Schwiegersohn des Oberhühneraufsehers (ṭavuḳçıbaşı dāmādı) bekannt. Begünstigt durch solche Beziehungen zu höfischen Kreisen stieg er in der Zentralverwaltung auf und wurde selbst 1730 in diplomatischer Mission nach Wien entsandt. Als reʾīsülküttāb amtierte Muṣṭafā 1736–1741 und 1744– 1747; vgl. hierzu Resmî Ahmed Efendi: Halîfetü’r-Rüesa [=Aḥmed Resmī b. İbrāhīm, Sefīnetü rrüʾesāʾ]. Hg. von Mücteba İlgürel u. Receb Ahıskalı. Istanbul 1992, S. 66–70. 44 Heute Krosno Odrzańskie, ca. 50 km südöstlich von Frankfurt a. d. O. 45 »Raġbetlü riʿāyetlü meveddetlü ḥurmetlü dost-ı aḥabbımız Her Fon Dits ḳıbaline selām-ı selāmet encām ve peyām-ı maḥabbet irtisām iblāġıyla ḥāl-ü ḫāṭırıñız suʾālinden ṣoñra dōstāne inhā ve ifhām olunur ki bundan muḳaddemce gönderdiğiñiz meveddetnāmeñiz ile Meklenburġ’da vāḳiʿ Rosṭoḳ medresesi muʿallimi Ṭıḳsen ṭarafından cenābıñıza baʿde l-vurūd bize irsāl eylediğiñiz kitāb vāṣıl olub mektūbuñuz mefhūmundan ṣiḥḥat ve ʿāfīyetde olduġuñuz ḫaberine iṭṭilāʿımız ḥāṣıl

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Offenbar hatte Diez eine etwas zu umfangreiche Bücherbestellung des Rostocker Professors Tychsen46 an ʿAzmī weitergeleitet. Diese naheliegende Art der Literaturbeschaffung betrieb er auch selbst, etwa indem er sich einige Jahre danach beim folgenden Gesandten ʿAlī ʿAzīz Efendi nach türkischen Übersetzungen von Koran und Prophetenüberlieferung erkundigte: Ich bin von ehrfürchtigem Schauder und dem Verlangen erfüllt, den edlen Koran und die Prophetenüberlieferung von Anfang bis Ende zu lesen und gründlich zu studieren, aber da ich des Arabischen nicht mächtig bin, würde ich es überaus schätzen, wenn Eure Exzellenz mir ein schön und klar geschriebenes Exemplar einer türkischen Übersetzung der genannten Bücher beschaffen könnten, ganz gleich was es koste.47

Der Gesandte antwortete darauf, indem er gemäß dem Dogma der Unnachahmlichkeit des Korans nicht von einer Übersetzung, sondern von einer Auslegung (tefsīr) des Korans sprach und sofort den Korankommentar Tibyān von ʿAyntābī empfahl, welcher seinerzeit besonders verbreitet war:48 Es wurden türkische Koranauslegung und Kommentare zur Prophetenüberlieferung gewünscht. Es gibt einen Korankommentar auf Türkisch. Man nennt ihn Tibyān. Er ist sehr anerkannt und entspricht dem, was Sie wünschen. Er kann für einen Preis von 500 Piastern erworben werden. Die Prophetenüberlieferung ist allerdings unüberschaubar, und es gibt keine große Kompilation auf Türkisch. Jedoch gibt es türkische Kommentarwerke zu vierzig Überlieferungen unter dem Titel Ḥadīs̱-i erbaʿīn. Der Grund dafür ist, dass [der Prophet] sagte: ›Wer

|| olmaġla cihān-ı cihān maḥẓūẓ ve minnetdār olduḳ muḳmar ve muḥterem olasız bu ḫilālde Berlin’den ḥareket etmemiz ḫuṣūṣı muṣammem olmaḳdan nāşī size maḫṣūṣ vedāʿnāme taḥrīr ve mektūbuñuzuñ cevābını derūnuna derc ve tesṭīr etmek mulāḥaẓasıyla kāġıdıñızıñ cevābını teʾḫīr etmişidik el-ḥāletü hāzih Berlin’den ḥareketimize dāʾir İstanbul’dan gelecek mektūb henūz vārid olmamaġla mektūbuñuzuñ ve muʿallim-i mersūmuñ kitābı vārid oldıġını işʿār ve ḫāṭırıñızı istinbā ve istifsār siyāḳında işbu maḥabbet nāme taḥrīr ve irsāl olunmuşdur ṭarafıñıza maḥṣūṣ olan maḥabbetimiz derūnı olub bir vechile ḫalel ḳabūl eder maḳūleden oldıġı ve muʿallim-i mersūmuñ maṭlūbı olan kitāblar büyük ve aġır ve bahāları beş altıyüz ġurūşı mütecāviz olub cümlesiniñ tedārük ve irsāli imkānda olmamaġla bi-mennihi taʿālā selāmetle āsitāneye vuṣūlumuzda birisi tedārük ve mümkin olur ise muʿallim-i mersūma irsāle ihtimām olunacaġı maʿlūmuñuz olduḳda ṭarafımızı ḫāṭırdan çıḳarmayub beynimizde ḥāṣıl olan dostluġuñ teʾsīsi emrinde ḥüsn-i ihtimāmıñız maʿrūf ḳılınmaḳ aʿazz-ı mesʾūl-i muḥibbānemizdir ʿan cānib-i Aḥmed ʿAzmī« (Anfang 1792, Ms. Diez A quart. 125, Bl. 10). 46 Siehe auch den Beitrag von Christoph Rauch in diesem Band. 47 »[…] Ḳurʾān-ı şerīf ve sünnet-i resūl serāpā ḳırāʾat etmek ḫalecān ve istiḳṣāsı ile memlū ḳıldı ve lākin ʿarab dile ḳādir olmaduġımdan maḥāl bulmaduġımdan nāşī meẕkūr kitāblarıñ bir türkçe tercemesi varısa açıḳ ve ḥüsn-i ḫaṭṭ ile yazılan bir ṣūreti ne değerse değsün efendim ḥażretleri himmetiñizle bulmaġa raġbet-i tāmm ederim« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 8, Schreiben vom Oktober 1797). 48 Zum türkischen Korankommentar et-Tibyān fī tefsīri l-Ḳurʾān von Debbāġzāde ʿAyntābī Meḥmed Efendi († 1699) siehe Recep Arpa: Ayıntâbî Mehmed Efendi’nin Tibyân Tefsiri: Te’lîf Mi Tercüme Mi? In: İstanbul Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi 35 (2016), S. 55–96 u. S. 127f.

234 | Henning Sievert vierzig der Überlieferungen über mich auswendig lernt, wird im Paradiese wohnen.‹ Dementsprechend werde ich meine Leute brieflich beauftragen, einige Exemplare des Tibyān und der Ḥadīs̱-i erbaʿīn zu erwerben und zu schicken.49

Dieser Korankommentar ging über reine Worterklärungen deutlich hinaus und kam einer Übersetzung recht nah.50 Während der Kaufpreis zwar hoch,51 doch nicht unrealistisch war, bestand die praktische Schwierigkeit für Diez in der Beschaffung. Der Kauf durch Mittelsmänner entsprach daher dem üblichen Vorgehen von Orientalisten der Zeit. Diez korrespondierte auch mit zwei Derwischmeistern der MevlevīBruderschaft, nämlich Ṣādıḳ Dede und Mīr Nuʿmān von den Konventen in Üsküdar und Galata.52 In einem Schreiben vom 21. Juni 1791 (19. Şevvāl 1205) baten die beiden Scheiche Diez,53 einen gewissen Ṭāhir Beğ nach Istanbul zurückkehren zu lassen. Diesen jungen Mann hatte Diez offenbar in Konstantinopel in seinen Dienst gestellt und mit sich nach Brandenburg genommen, sodass Ṭāhir ihm gelegentlich Briefe des osmanischen Gesandten überbrachte, also am Austausch mit Aḥmed ʿAzmī beteiligt war. Nun wünschte Ṭāhir jedoch heimzukehren, was die Derwische brieflich unterstützten. Der Derwischmeister Mīr Nuʿmān bezeichnete Ṭāhir als seinen »spirituellen Sohn« (»veled-i maʿnevīm«), also als Schüler auf dem mystischen Pfad, doch eine mindestens ebenso starke Motivation bestand darin, dass Ṭāhirs Vater den Scheichen damit in den Ohren lag: »Bitte seien Sie so gut, meinen spiritu-

|| 49 »Türkçe tefsīr ve şerḥ-i ḥadīs̱ maṭlūb buyurılmış türkçe bir tefsīr vardır ki Tibyān derler ġāyet muʿteber ve siziñ istedüğiñiz gibidir beşyüz ġurūş ḳadar s̱emen ile alınur ammā ḥadīs̱-i nebī bīḥadd-dir ve türkçe müdevven yaʿnī büyük kitāb yoḳdur ammā ḥadīs̱-i erbaʿīn nāmıyla ḳırḳ ḥadīs̱ olmaḳ üzere türkçe tefsīrler vardır ve buña sebeb oldur ki benim ḥadīs̱lerimden her kim ḳırḳ ḥadīs̱ öğrenür ise ehl-i cennet olur deyü buyurmuşlardır bu ṣūretde gerek tefsīr-i Tibyān gerek ḥadīs̱-i erbaʿīnlerden bir ḳaç ʿaded iştirā ve irsālini adamlarımıza taḥrīr ederiz« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 8). 50 Vgl. Arpa, »Ayıntâbî«. 51 Wenn den 500 ġurūş gemäß offiziellem Kurs 60‘000 aḳçe entsprachen, hätte dies deutlich über dem Jahresverdienst eines Istanbuler Handwerkers gelegen (vgl. die Tabelle 4. 1. zur Lohnentwicklung auf der Website von Şevket Pamuk, https://ata.boun.edu.tr/sites/ata.boun.edu.tr/files /faculty/sevket.pamuk /database). 52 Diez’ Interesse am Gebiet des Sufismus ist auch in Form einiger seiner Bücher dokumentiert, bspw. der Sammlung mystische Schriften von Bandırmalızāde Seyyid Hāşim Muṣṭafā el-Üsküdārī elCelvetī (Ms. Diez A quart. 100). Diese belegt zugleich, dass das Interesse sich neben der Mevlevīye auch auf die Celvetīye erstreckte. 53 Der Brief ist auf der Außenseite adressiert »An Seine Exzellenz, Herrn v. Diez, derzeit in Berlin, früheren Gesandten in Istanbul« (»ḥālā Āsitāne-i Berlin’de sābıḳ İslāmbol elcisi ḥaşmetlü miknetlü d[ö] Dic Beğ ḥużūrlarına vuṣūl bula 8642«), wobei von anderer Hand lateinschriftlich »Monsieur de Diez« ergänzt wurde. Quasi als Absenderadresse trägt die Außenseite des Briefes die Stempelabdrücke der beiden Derwische. Die häufig auf Umschlägen zu sehende Zahlenfolge 8642 sollte auf zahlenmagischem Wege die sichere Zustellung des Briefes unterstützen.

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ellen Sohn Ṭāhir Beğ hierher zu schicken, ganz gleich auf welche Weise, denn hier belästigt uns sein Vater.«54 Ṭāhir Beğ selbst bat Diez in einem eigenen Schreiben von im Vergleich dazu reduzierter Höflichkeit um seine Entlassung: Wie ist Ihr Befinden? Mein Freund, Sie haben mich von Istanbul hierher gebracht. Nun ist ein Schreiben von Nuʿmān Beğ55 gekommen. Sie haben es gesehen, Sie haben es auf dem Landgut gelesen. Sie sagen zu mir, dass Sie sich nicht einmischen. Wir hatten verabredet, dass Sie mich nach Istanbul zurückschicken würden, wann immer ich wolle. Für Sie ziemt es sich also nicht, mir auf diese Weise zu antworten. Ich hätte in Berlin ahnen sollen, was niemand wusste, denn so viel taugt die Freundschaft nicht. Gleich, wieviel es kosten mag, Sie brauchen es auch nicht bezahlen, und ich sollte es besser aus eigener Tasche bezahlen.56

Nach Abfassen des Briefes erschien dieser Ṭāhir Beğ offenbar doch zu grob und vorwurfsvoll, und so ergänzte er kopfüber eine Randnotiz: »Bitte geben Sie mir Nachricht. Ich bin Ihnen wohlgesonnen. Bitte verzeihen Sie mir meine Grobheit. Mir ist trotz allem an Ihrem Wohlwollen gelegen.«57 Dieses Schreiben ist weit von der hohen Stilebene des intellektuellen Austausches mit den Gesandten wie auch von der formalisierten Höflichkeit der übrigen inoffiziellen Briefwechsel entfernt. Es zeichnet sich vielmehr durch sehr kurze Sätze und zum Teil stichwortartige Phrasen aus, was zur Direktheit von Ṭāhirs Vorgehen und Anliegen passt. Jedenfalls entsteht der Eindruck, dass Ṭāhir in ein patronageartiges Dienstverhältnis zu Diez eingetreten war, aus welchem er sich nicht selbst befreien konnte (abgesehen von den materiellen und praktischen Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens), sondern der Fürsprache von Diez ebenbürtigen Personen bedurfte. Leider ist über dieses transkulturelle Schicksal hier nicht mehr zu erfahren, aber vielleicht erlauben neue Quellenfunde eine genauere Untersuchung.

|| 54 »Ol-ṭarafda bizim semāḥatlü veled-i maʿnevīm Ṭāhir Beği bu ṭarafa ne-vechile olur ise irsāle saʿy-ü ġayret buyurasız zīrā bu ṭarafda pederi bizi taʿcīz edeyor« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 2). Das Epitheton semāḥatlü könnte darauf hindeuten, dass Ṭāhir ein angesehener Rechtsgelehrter war, während der Titel beğ auf vornehme Abkunft hindeuten mag. Allerdings wird er nicht als efendi bezeichnet und scheint noch relativ jung gewesen zu sein. 55 D. i. der o. g. Mīr Nuʿmān. 56 »Ḫāṭırıñız suʾāl olunur benim dostum bizi buraya İstanbuldan siz getürdiñiz şimdi mektūb Nuʿmān Beğden geldi gördiñiz çiftlikde oḳudıñız baña söylersiñiz ki ben ḳarışmam deyü bizim siziñle ḳavlımız ne vaḳit istersem beni İstanbula yollamaḳdır siz böyle cevāb söyleme yaḳışmaz Berlin de baña kimse bilmez maʿlūm ola zīrā bu ḳadar dostluḳ lāyiḳ değildir ne ḳadar aḳçe ḫarc olur ise siz vermezsiñiz daḫı başḳa evimden alıb vermek gerekdir« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 5). 57 »Baña bir ḫaber irsāl ėdesiz recā olunur sizden ḫōşnūdus [sic] ne ḳadar ḳabāḥat benim ise ʿafv ėdesiz ḳuṣūr iyilik isterim« (ebd.).

236 | Henning Sievert

6 Briefwechsel mit dem Gesandten ʿAzīz ʿAlī Efendi 1796–1798 Giridli ʿAzīz ʿAlī Efendi († 1798), Sohn des Schatzkanzlers (defterdār) der Provinz Kreta, Taḫmīsçi Meḥmed Efendi, wurde um 1750 in der Provinzhauptstadt Kandia (heute Iraklion) geboren. Er soll das ererbte Vermögen in Saus und Braus lebend verschwendet haben, bevor er nach Istanbul kam und in den Palastdienst und schließlich in die Zentralverwaltung eintrat. Als Protégé eines ebenfalls von Kreta stammenden Würdenträgers namens Yūsuf Aġa erlangte ʿAzīz ʿAlī das lukrative Amt eines Steuereinnehmers von Chios und war weiter in der Finanzverwaltung tätig, bis er 1796 als Gesandter an den preußischen Hof geschickt wurde, wo er bis zu seinem vorzeitigen Ableben 1798 blieb. Wie die vorigen osmanischen Gesandten entstammte ʿAzīz ʿAlī der hohen Beamtenschaft, welche im Osmanischen Reich die weit zurückreichende Tradition der Literarbürokraten fortführte, indem sie literarische Bildung (edeb) in arabischpersisch-türkischer Tradition über technisches Fachwissen stellte. Seine in diesem Zusammenhang ausschlaggebende Eloquenz und breite persönliche Bildung belegte ʿAzīz Efendi durch das Abfassen mehrerer Schriften. Die bekannteste davon waren die Mitte des 19. Jahrhunderts beliebten Muḫayyelāt (Phantasien), eine Sammlung von drei teils märchenhaften, teils mystisch-philosophischen Geschichten.58 Eine weitere Schrift namens Vāridāt-ı ilāhīye (Göttliche Eingebungen) enthält Erläuterungen zu mystischen Sinnsprüchen und Ausdrücken,59 und auch ʿAzīz ʿAlīs Gedichtsammlung (Dīvān) schließt thematisch hier an.60 Neben edeb gehörte Mystik zu ʿAzīz ʿAlīs besonderen Interessen, was in der gebildeten osmanischen Oberschicht des 18. Jahrhunderts weit verbreitet war. Als gebildeter Osmane beherrschte ʿAzīz ʿAlī Efendi neben dem Türkischen die klassischen Sprachen Arabisch und Persisch sowie, als gebürtiger Kreter, Griechisch und lernte offenbar in Preußen ein wenig Deutsch. Wenigstens einmal schrieb Diez einen Brief an ʿAzīz ʿAlī auf »Fränkisch« (frengī), also vielleicht Französisch.61 Die Korrespondenz zwischen ʿAzīz ʿAlī Efendi und Heinrich Friedrich von Diez enthält Fragen zu Semantik, Pragmatik und Rhetorik62 sowie einen Fragenkatalog

|| 58 Vgl. hierzu Andreas Tietze: ʿAzīz ʿAlī Efendi’s Muhayyelat. In: Oriens 1 (1948), S. 148–329; zwischen 1852 und 1873 wurde das Werk fünfmal gedruckt. 59 Sie wurde 1990 von Achmed Schmiede u. d. T. Intuitionen des Herzens ins Deutsche übertragen. 60 Zur Person mit weiteren Literaturverweisen vgl. M. Orhan Okay: Aziz Ali Efendi. In: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Araştırmaları Merkezi, Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi. 44 Bde., Istanbul 1988–2013, Bd. 2, S. 333f. 61 Das zugehörige Substantiv frenk (Franken) war im Türkischen, Persischen und Arabischen seit dem Mittelalter eine Sammelbezeichnung für die Bewohner des lateinischen Europa. 62 Ms. Diez A quart. 129, Bll. 22f.

Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz | 237

zu philosophischen Themen.63 Auf Diez’ Brief mit den ersten Fragen – über sieben Blatt alphabetisch aufgelistet – antwortet ʿAzīz Efendi höflich, dass er »gelungen formuliert« sei (»mektūb-ı ḳābilīyet-uslūb«) und ihm eine willkommene Zerstreuung erlaube: »Zwar bin ich in einer Stadt, aber noch einsamer als Sie, da ich die Landessprache und die Leute nicht kenne, und deshalb war mir die Beantwortung der Fragen ein willkommener Zeitvertreib.«64 Diez, der zu dieser Zeit zurückgezogen auf seinem Landsitz lebte, stellte zunächst Fragen zur Terminologie der Rhetorik65 und listete zahlreiche Wörter und Phrasen auf, um deren Erklärung er ʿAlī ʿAzīz bat. Dieser verfasste eine kleine Abhandlung über die Rhetorikterminologie66 und schrieb neben die Wörter und Phrasen unterschiedlich ausführliche Erläuterungen, wo ihm dies möglich war. In manchen Fällen konnte er Diez’ Angabe nämlich nicht interpretieren, weil sie fehlerhaft geschrieben oder falsch wiedergegeben war. In diesen Fällen notierte ʿAzīz ʿAlī: »Dies konnte ich nicht lesen«, »dies habe ich nicht verstanden«, »hier ist etwas falsch«, 67 oder – wenn die Bedeutung vom Zusammenhang abhängig war: »Bitte schreiben Sie mir den ganzen Abschnitt auf.«68 Bei verständlichen Angaben schrieb er dagegen eine Erklärung; z. B. auf die Frage »Was bedeutet ›jene Person‹?« antwortete er »Es bedeutet jener Mensch; Person (kes) bedeutet im Persischen ›jemand‹.«69 Bisweilen nutzte ʿAzīz ʿAlī dabei die Gelegenheit, seine Deutschkenntnisse einzubringen: »Was ist gökçe, zum Beispiel in ‫» – «?ﻛﻮﻛﭽﮫ رﺟﺎﯾﻰ‬Es bedeutet güzel, also ›hübsch‹.«70 Dabei fiel ihm die Ähnlichkeit von deutschen und persischen Zahlwörtern auf: »Auf Deutsch bedeutet 9 nayne, was wahrscheinlich aus dem Persischen übernommen wurde.«71 Diez’ Frage, in deren Zusammenhang ʿAzīz ʿAlī diese sprachgeschichtliche Hypothese formuliert, ist auf typische Weise fragmentarisch, und die Antwort zeigt, wie der Gesandte || 63 Eine Zusammenfassung der Themen gibt Ercüment Kuran: Osmanlı Daîmî Elçisi Ali Aziz Efendi’nin Alman Şarkiyatçısı Friedrich von Diez ile Berlin’de İlmî ve Felsefî Muhaberatı, 1797. In: Belleten XXVII/105 (1963), S. 45–53. 64 »Eğerçi bir şehirdeyüz ancaḳ lisān ḳavmı bilmediğimizden sizden ziyāde ḫalvetde olub imrār-ı vaḳte vesīlecū oldıġımız ḳarīne olunur māddedir« (Ms. Diez A quart. 129, Bll. 7ff.). 65 Er ließ sich die Unterschiede zwischen den Ausdrücken feṣāḥat und belāġat, zebān-āverlik und suḫan-gösterlik erklären. 66 Ms. Diez A quart. 129, Bl. 22. 67 In Formen wie: bunı daḫı oḳuyamadım/añlamdım/bilemedim oder bunda ḫaṭā var. 68 »Bunuñ daḫı ʿibāreti taḥrīr olunsa.« 69 »O kes ne demekdir – ol adam demekdir kes fārsīde kimesne maʿnasınadır« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 9b, unter dem Anfangsbuchstaben alif). Diese einfache Lösung könnte Diez entgangen sein, wenn er z. B. die Wortgrenze in o kes (‫ )اوﻛﺲ‬nicht erkannt haben sollte. 70 »Gökçe nedir mes̱elā ki gökçe recāyī – güzel yaʿnī hüpş dėmekdir« (Ms. Diez A quart. 129, unter dem Buchstaben kāf). 71 »[…] ġālibā nemçece ṭoḳuza nayne demek fārsīden aḫẕ olunmuşdur« (Ms. Diez A quart. 129, unter dem Buchstaben nūn). Die ursprünglich slawische Bezeichnung nemçe wurde primär auf Österreich bezogen, was zur hier in arabischer Schrift transkribierten Aussprache von »neun« (‫ )ﻧﺎﯾﻨﮫ‬zu passen scheint.

238 | Henning Sievert sich trotz unklarer Ausgangslage um eine Antwort bemüht. Diezʼ Frage lautet: »Neh bedeutet Stadt; aber aus welcher Sprache stammt dieses Wort?« Darauf antwortet ʿAzīz ʿAlī: »Mir ist nicht bekannt, dass neh Stadt bedeuten würde, aber mit i vokalisiert bedeutet es auf Persisch ›Leg!‹, im Imperativ [von nehādan], zum Beispiel: ›Leg dieses Ding dorthin‹, oder ›Leg es weg‹, das heißt: ›Las das Ding in deiner Hand los‹. Noh [mit u vokalisiert] sagt man zur Zahl neun, und beides ist Persisch.«72 Die zitierten Beispiele scheinen darauf hinzudeuten, dass Diez zuweilen von unsicheren Voraussetzungen ausging und der Kompositcharakter des osmanisch-türkischen Wortschatzes mit seinem umfangreichen arabischen und persischen Vokabular ihm Schwierigkeiten bereitete (Abb. 4).

Abb. 4: Buchstabe ṭāʾ: Unter der entsprechenden Überschrift (ḥurūf aṭ-ṭāʾ) stehen auf der rechten Seite zwei der Anfragen von Diez. Daneben folgt jeweils ʿAzīz ʿAlī Efendis Antwort. Auf die erste Frage (»Was bedeutet ṬDY?«) schreibt er: »Auch dies konnte ich nicht lesen. Bitte geben Sie den Kontext an. Schriebe man es mit dem Buchstaben ṣād, bedeutete es ‚das Heer besiegte den Feind‹.« Die zweite Vokabel (»Was ist ṭāḳiye?«) erklärt er: »Etwas aus Baumwolle, wie der Fes. Bekannt ist [die Schreibung] tākiye« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 12b). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 72 »NH (‫ )ﻧﮫ‬şehir demekdir ammā ne lisāndır o söz? – NH şehir maʿnāsına oldıġı bildiğim şey değildir ancaḳ neh kesr-i nūn ile fārsīde ḳoy yaʿnī şu şeyi şu maḥalle ḳoy deyü emrdir ve ḳoyıver yaʿnī elindeki şeyi bıraḳ demeğiñ maʿnālarına ve nuh ṭoḳuz ʿadedine derler ikisi daḫı fārsīdir« (ebd.).

Heinrich Friedrich von Diez und seine osmanische Korrespondenz | 239

Diez setzte die Korrespondenz später mit naturphilosophischen Fragen fort und wünschte ʿAzīz ʿAlīs Meinung etwa darüber zu hören, warum die Erde sich dreht, wie Geist und Materie zusammenhängen oder welche Beziehung zwischen Blitz und Elektrizität besteht. Die Antworten darauf scheinen nicht erhalten zu sein, da ʿAzīz ʿAlī sie angeblich auf Griechisch verfasste, übersetzen und veröffentlichen lassen wollte, aber dieser Plan wurde offenbar nicht realisiert.73 Diez wollte außerdem wissen, ob arabische Übersetzungen von Werken des Empedokles und des Pythagoras bekannt seien, warum Alexander der Große mit der im Koran genannten Figur Ḏū lQarnayn gleichgesetzt werde74 und was es mit einer bestimmten Münze in seiner Privatsammlung auf sich habe. Außerdem fragte Diez ʿAzīz ʿAlī, was dieser von der These hielt, dass alles Geschaffene zwei Geschlechter habe (zevc, cinsīyet) – einschließlich der antiken Elemente, indem z. B. Wasser und Luft männlich, Erde und Feuer dagegen weiblich seien.75 Aus Diez’ krankheitsbedingt einige Monate später erfolgter Antwort geht hervor, dass ʿAzīz ʿAlīs Abhandlung durch einen Dragoman aus dem Griechischen ins Französische übersetzt und an Diez geschickt wurde. Dieser war mit den Antworten aber offensichtlich nicht zufrieden: »In jener Abhandlung konnte ich keinerlei Antwort auf meine Fragen finden.«76 Diez riet von einer Veröffentlichung ab, da der Übersetzer keine geeigneten Fachkenntnisse besitze (»ehl-i dāniş olmayub«) und daher die Abhandlung nicht in verständlicher Form wiedergeben könne. ʿAzīz ʿAlīs Stellungnahmen scheinen Diez nicht ›anschlussfähig‹ erschienen zu sein, denn er fügt als weiteres Problem hinzu, dass sich die Philosophie in Westeuropa (»Frengistān«) mittlerweile weit von den antiken Schulen entfernt habe. Dies verbindet er mit der kritischen Bemerkung, sie habe sie zugleich von ihrer Vernunftorientierung entfernt: Die als Stoiker und Peripathetiker bekannten Schulen erschienen schon unter den Griechen und Römern77 und sind in Westeuropa so gut wie verschwunden. In jeder Nation gibt es unzäh-

|| 73 Ms. Diez A quart. 129, Bll. 5–7, vgl. dazu Kuran: Daîmî Elçi (s. Anm. 63), S. 48f. 74 Zu dieser populären Gleichsetzung vgl. François de Polignac : LʼHomme aux deux cornes. Une image dʼAlexandre du symbolisme grec à lʼapocalyptique musulmane. In: Mélanges de lʼécole française de Rome 96 (1984), S. 29–51 sowie William Montgomery Watt: „al-Iskandar“. In: The Encyclopaedia of Islam. Vol. IV: Iran-Kha. Hg. von Emeri J. van Donzel. Leiden, Boston 21987, S. 127. 75 Ms. Diez A quart. 129, Bll. 23–26. 76 »Benim suʾāllerime murād olduġı bir cevāb ol risālede bulamadım« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 8, Schreiben vom Oktober 1797). 77 Rūmī steht im allgemeinen für Oströmer/Byzantiner, doch mag Diez die alten Römer gemeint haben.

240 | Henning Sievert lige Schulen unterschiedlicher Art, und die meisten davon sind derart spekulativ, dass man sie mit rationaler Beweisführung kaum widerlegen kann.78

7 Schlussbemerkungen Viele in der Diez’schen Sammlung erhaltene Stücke erlauben es, Techniken des Türkischlernens im späten 18. Jahrhundert sowie Lernprozesse im Bereich von Stilistik und Epistolographie nachvollziehen. Diez studierte das Türkische bei muttersprachlichen Lehrern aus den Kreisen der islamischen Gelehrten, erwarb Materialien aus dem Besitz eines Dragomans sowie osmanische Hilfsmittel und Textsammlungen. Der Lernprozess ging ununterbrochen weiter, so dass Diez noch 1797 gerne die Gelegenheit wahrnahm, den osmanischen Gesandten als gebildeten Gewährsmann nach Wortbedeutungen zu fragen. Bereits eine oberflächliche Betrachtung der erhaltenen Briefe lässt immerhin einige Rückschlüsse über die Art der Beziehung zwischen den Korrespondenten zu. Darin finden sich sprachliche Spuren einer geteilten Lebenswelt, in der personale Beziehungen in Form von Stand, Status und Patronage eine zentrale Rolle spielten. Gemeinsame geistige Grundlagen etwa in der griechischen Philosophie waren auch am Ende des 18. Jahrhunderts gegeben, aber die Korrespondenten nahmen trotz vieler gemeinsamer Interessen im intellektuellen Bereich eine Auseinanderentwicklung wahr, indem die europäische Philosophie sich von diesen Grundlagen entfernt hatte, sodass Diez in seinem Wissensdurst enttäuscht wurde. Jedoch gab er sich große Mühe, den hohen Ansprüchen der osmanischen Stilistik gerecht zu werden, und Berührungspunkte in der Weltsicht erlaubten es ihm stellenweise, Empfundenes unmittelbar in osmanische Metaphorik zu gießen, wie seine Klage über das zurückgezogene Landleben zeigt. In Istanbul konnte er offenbar an standesgemäße Formen von Geselligkeit anschließen, die ihn nicht zuletzt durch Austausch von angemessenen Geschenken und schriftlichen Höflichkeiten mit Gelehrten und Palastkreisen verbanden. Seine eigene Leidenschaft für die Orientalistik fand bei den osmanischen Korrespondenzpartnern wohlwollende Anerkennung, indem sie seine Sprachkenntnisse lobten oder ihn und auch den Kollegen Tychsen bei der Bücherbeschaffung unterstützten.

|| 78 »Ehl-i usṭūvāne veyā revāḳī ve meşşāyūn [sic] dedikleri meẕhebler ancaḳ Yūnān ve Rūmī mābeyninde peydā olub Frengistānda ṣayılmaz oldı her milletiñ meẕhebleri ḥesābsız ve vaṣfı müteferriḳdir ve eks̱eri meẕheb-i aḥkām-ı vehmīyedir ki berāhīn-i ʿaḳlīye ile redd etmek ġāyet güç gelür« (Ms. Diez A quart. 129, Bl. 8, Schreiben vom Oktober 1797).

| 4 Der Orientkenner: Diezʼ späte Jahre

Klaus Kreiser

Eine langatmige und unergiebige Polemik? Die Fehde zwischen Heinrich Friedrich von Diez und Joseph von Hammer-Purgstall Nachdem Heinrich Friedrich von Diez im Frühjahr 1790 nach sechsjähriger Mission in Konstantinopel abberufen wurde,1 hatte er auf einem holländischen Kauffahrer mit Kurs nach Hamburg nicht nur seine Sammlung islamischer Manuskripte, von Buchmalereien, Land- und Seekarten sowie türkischen Münzen im Gepäck, sondern auch einen festgefügten Satz von Urteilen im Kopf. Persönliche Begegnungen und vielfältige Lektüre hatten einerseits zu einer hohen Wertschätzung der Osmanen geführt, für Diez waren die Morgenländer – er nennt sie gerne Österlinge2 – in jeder Hinsicht »sittlicher und ehrbarer als die Griechen«.3 Gleichzeitig verachtet er – mehr oder weniger pauschal – drei Gattungen von Menschen: beamtete Dolmetscher, Reisebeschreiber und Vertreter des diplomatischen Dienstes. Seine sich im Laufe seines Lebens noch verschärfende Kritik begründete er mit ungenügenden Sprachkenntnissen, vorab des Osmanischen, oft in Verbindung mit unzureichendem Wissen von Land und Leuten. Nach seiner Rückkehr aus Konstantinopel fasste er seine Erfahrungen in einem Brief vom 20. August 1791 an den Orientalisten Oluf Gerhard Tychsen (1734–1815)4 zusammen:

|| Für vielfältige Unterstützung danke ich Christoph Rauch. Zahlreiche Hinweise gaben Paul M. Babinski, Werner Fichtl, Claudia Römer und Baki Tezcan. Besonders anregend fand ich die zitierten Arbeiten von Caroline Finkel und Andrea Polaschegg. Walter Höflechner hat mich ausführlich über Chabert und seine komplexen Beziehungen zu Hammer unterrichtet. 1 Johann Wilhelm Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa. Umschwung des innern Lebens des osmanischen Reiches und der orientalischen Politik während der Revolutionszeit, von dem Frieden zu Kutschuk-Kainardsche im Jahre 1774 bis zum Frieden mit Frankreich im Jahre 1802. Hamburg 1859, Bd. 6, S. 753. 2 Für Hammer ein selbstgezimmertes Wort in [Heinrich Friedrich] von Diez: Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur. Nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften. Halle, Berlin 1815, S. 16/496. Der Text wird nach beiden, getrennt paginierten Drucken zitiert. S. 16 meint hier die selbstständig gezählte Ausgabe, S. 496 den Anhang zu Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern. 2 Bde. Berlin 1815. 3 Ebd., S. 61/541. 4 Die Edition der Briefe von Diez, aus deren Rohfassung die folgenden Zitate entnommen sind, ist in Vorbereitung: Heinrich Friedrich von Diez. Briefwechsel. Hg. von Arne Klawitter und Christoph Rauch. Berlin, Boston 2021.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-013

244 | Klaus Kreiser

Ich kenne nichts elenderes als diese Brut von Skriblern, welche, wenn sie sich einige Wochen oder Monate in dem Winkel irgend eines Landes aufgehalten, gleich über dessen Beschreibung herfallen und die Welt mit Irthümern anfüllen. Glauben Sie mir aber, daß es mit den älteren Beschreibern nicht viel besser steht. Man kann nur eine gute Meynung von ihnen haben, solange man nicht selbst an Ort und Stelle kommt und also nur in der Ferne sieht, was sie gesehen haben wollen. Die Hauptsache bleibt immer die Sprache des Landes zu wissen, von dem man reden will. Es ist ja nichts als Raserey, über ein Volk absprechen zu wollen, dessen Sprache man nicht wußte, dem man also nicht in Geist, Herz und Haus sehen konnte, wenn ich in diesen drey Worten alles dasjenige zusammendrängen kann, was ich meyne. Die Sprache ist gleichsam der Schlüssel zu den Geheimnissen jedes Volkes. Wer jene nicht weiß, kann von lezteren gar nicht urtheilen, wenn er nicht Gefahr laufen will, alles in ein europäisches Licht zu setzen, das heißt alle Länder nach seinem Vaterländchen zu richten und zu messen. Hinzu kommt, dass zweytens gleichsam ein eigner Geist dazu gehört, um Menschen zu untersuchen, die nicht wie wir sind.5

Nach diesem kosmopolitischen Credo kommt er erneut auf die notwendigen Sprachkenntnisse als Voraussetzung für alles Übrige zurück: Eine Unpartheilichkeit oder Entfernung von allen Nazional, Gesellschafts und persönlichen Vorurtheilen, verbunden mit einer Gabe der Beobachtung und Untersuchung die höchst selten ist, das sind die beyden Dinge welche nächst der Kenntniss der Landessprache den ersten Platz behaupten. Es würde mir schwer werden, einen Reisebeschreiber von Asien, Afrika und Amerika (denn Europa wird von Europäern wohl verstanden) zu nennen, der mir durchaus Genüge geleistet hätte. Man kann oft nicht begreyffen, wie es nur möglich gewesen in so große Irthümer zu fallen. Ich könnte dies mit tausend Beweisen belegen in Absicht der Türkey, welche ich gesehen und studirt habe.6

Er bietet im Folgenden Tychsen »alle guten Dienste« beim Erlernen des Türkischen an. Da er die Sprache an Ort und Stelle gelernt habe, könne er Aufschlüsse über den lebendigen Gebrauch geben, die Dollmetscher in Pera studiren die Sprache 30 Jahre lang und sobald sie vor Türken sprechen sollen, machen sie sich doch immer lächerlich, weil sie nie über die Idiotismen ihrer Muttersprache wegzukommen wissen, und wenns vollends ans Schreiben geht, so müssen sie alles, worüber sie keine Formulare haben, von Türkischen Gelehrten aufsetzen lassen.7

Mangelnde Sprachkenntnisse verhindern, dass die »Dollmetscher« nicht nur richtige, sondern auch schöne Übersetzungen machen. Nicht besser steht es um die Diplomaten bei der Pforte:

|| 5 Diez an Tychsen, 20. August 1791, UB Rostock, Nachlass O. G. Tychsen, Mss. orient. 284(4), Bl. 81a. 6 Ebd., Bl. 81b. 7 Diez an Tychsen, 25. Dezember 1791 (s. Anm. 5), Bl. 91b.

Eine langatmige und unergiebige Polemik? | 245

Die Gesandten, welche, wenn sie die Sprache nicht wissen, mit den Türken nicht umgehn können, können das Land, die Nation und ihre Regierung niemals kennen lernen und sehen daher immer und ewig das Oßmansche Reich wie die Kuh das neue Tor, an, sollten sie auch fünfzig Jahre im Lande gewesen seyn, wie der Neapolitanische Gesandte. Sie sind also ohne die Sprache gezwungen, nur das Echo ihrer dummen Dollmetscher zu seyn, und daher kommt es ganz natürlich, daß alle Europäische Höfe und die Welt durch solche Gesandten in der Irre geführt und übel berichtet werden. Ich könnte, wenn es sich hier paßte, eine Menge von schreklichen Beyspielen anführen, wo aus irrigen Berichten die fürchterlichsten Folgen entsprungen sind. Daher kommt es ferner, daß die Gesandten, weil sie sich einbilden in einem Feenlande zu seyn, ihren Dollmetschern auch in der Thorheit folgen, sich durch alle Kleinigkeiten geltend machen zu wollen.8

Der Wiener Hofdolmetscher und produktive Orientalist Joseph von HammerPurgstall (1774–1856) wurde für Diez aber erst etwa 20 Jahre später zur Verkörperung dieser drei angemaßten Orient-Kenner, unter denen er nur wenige Ausnahmen zuließ. Hammer, so beklagt sich Diez in seiner Streitschrift Unfug und Betrug, von der im Folgenden immer wieder die Rede sein wird, forderte darüber hinaus Vertreter dieser Gruppen »Bothschafter und Geschäftsträger, gelehrte Griechen und Dollmetscher, ja selbst Reisebeschreiber, welche die Sprache niemals lernen«, als Zeugen gegen ihn auf.9. Diez ließ wenige Ausnahmen, die gleichsam die Regel bestätigten, zu, wie den Lexikographen Meninski, den kaiserlichen Dragoman Wallenburg und dessen in preußischen Diensten stehenden Kollegen Pisani. Vor allem das Opus des zuerst genannten spielte eine große Rolle in der Auseinandersetzung mit Hammer. Franciszek a Mesgnien Meninski (1628–1698) war der Verfasser des dreibändigen Thesaurus Linguarum Orientalium Turcicae, Arabicae, Persicae.10 Eine posthume Neuauflage dieses monumentalen Hauptwerks der frühen Osmanistik, das in der DiezHammer-Kontroverse immer wieder herangezogen wird, erschien ein Jahrhundert später in einer Neubearbeitung unter dem Titel Lexicon Arabicum, Persicum, Turcicum in vier Bänden.11 In seinem Testament verfügte er, dass die zweite Auflage unter seine Handschriften in der königlichen Bibliothek eingeordnet werden soll. Ich habe nämlich zu diesem Werk zwischen den Linien, dem Rande und auf einzelnen eingelegte Blättern viele tausend Wörter, Bedeutungen und Redensarten nachgetragen, welche ich theils aus lebendiger Kenntniß der Sprache, theils aus vielen Handschriften geschöpft habe.

|| 8 Ebd. 9 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 10/490. 10 Franciscus a Mesgnien Meninski: Thesaurus Linguarum Orientalium Turcicae, Arabicae, Persicae. 4 Bde. Wien 1680. 11 Francisci à Mesgnien Meninski: Lexicon arabico-persico-turcicum adjecta ad singulas voces et phrases significatione Latina, ad usitatiores etiam italica. 4 Bde. Wien 1780.

246 | Klaus Kreiser

Diese Nachträge betreffen die arabische, persische, türkische und Noghai-tartarische Sprachen.12

Sein spätesten 1792 gefasstes Vorhaben, Supplemente zu Meninski in ein13 oder zwei Folianten14 herauszugeben, mit denen er Hammer förmlich drohte, konnte er nicht realisieren. Leider sind die Bände samt ihren Einlagen bis auf den beschädigten dritten am Ende des Zweiten Weltkriegs verloren gegangen15 (Abb. 1). In einem weiteren Brief, den er 1792 von seinem Landsitz Philippsthal an Tychsen richtete,16 bemühte er sich nach jahrzehntelanger Arbeit mit dem Lexicon um ein zusammenfassendes Urteil über Meninski:

|| 12 Curt Balcke: Heinrich Friedrich von Diez und sein Vermächtnis in der preussischen Staatsbibliothek. In: Von Büchern und Bibliotheken. Abschiedsgabe Ernst Kühnert. Hg. von Gustav Abb. Berlin 1928, S. 72–86, hier S. 78 hat irrtümlich 1786 als Erscheinungsjahr der 2. Auflage angegeben. Namentlich werden Mitglieder der Dragomans-Dynastien Pangali und Francopolu genannt. Vgl. auch für unseren Zeitraum Alexander H. de Groot: The Dragomans of the Embassies in Istanbul 1785– 1834. In: Eastward Bound. Dutch Ventures and Adventures in the Middle East. Hg. von Gert Jan van Gelder u. Ed de Moor. Amsterdam 1994, S. 130–158. De Groot erwähnt einen interessanten Marko Kolman (»served Diez as a dragoman and doctor«). Die neuere Forschungsliteratur zu den Dragomanen ist gründlich erfasst bei Frank Castiglione: ›Levantine‹ Dragomans in Nineteenth Century Istanbul: The Pisanis, the British, and Issues of Subjecthood. In: Osmanlı Araştırmaları / The Journal of Ottoman Studies 44 (2014), S. 169–195. Vgl. auch Sibylle Wentker: Diplomaten oder Gelehrte? Das Verhältnis der Absolventen der Orientalischen Akademie zum Osmanischen Reich zwischen Politik und Forschung. In: Orient & Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten. Hg. von Barbara Haider-Wilson u. Maximilian Graf. Wien 2016, S. 327–349. 13 »Meine Supplemente zum türkisch-arabisch-persischen Wörterbuche gehen ihren Gang fort, und ob ich gleich diese als Nebensache treibe, so werden sie doch bald zu einem Folianten anwachsen« (Diez an Tychsen, 14. Januar 1793 [s. Anm. 5], Bl. 110b). 14 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 2) S. 430/909: »Wenn er es erlebt, dass ich meine Supplemente zu Meninski in zwei Folianten herausgebe.« 15 In diesem ab Spalte 383 erhaltenen Band (Staatsbibliothek zu Berlin, Bibl. Diez fol. 62) gibt es eine Anzahl von Glossen von seiner Hand. Es handelt sich vor allem um Ergänzungen mit Ableitungssuffixen. Darunter finden sich zahlreiche denominale Bildungen mit ‫ ﻟﻰ‬/+li. Ein Beispiel ist Meninski Sp. 4676 ‫ ﻣﺸﺮﺏ‬meşreb, das Diez mit ‫ ﻣﺸﺮﺑﻠﻰ‬bzw. ‫ ﺍ ﻖ ﻣﺸﺮﺑﻠﻰ‬açıḳ meşrebli erweitert, mit meschrebli umschreibt und als offenherzig übersetzt. Bei Sp. 3867 ‫( ﻛﺘﺎﺏ‬kitâb Buch) steht ‫ﻛﺘﺎﺏ‬ Schriftsteller ‫ﺻﺎﺣﺐ‬. Berichtigungen und nachgetragene Bedeutungen (wie Sp. 3166 ‫ ﻛﺸﻒ‬Offenbarung, revelatio), neue Lemmata (wie ‫ﻳﻢ‬/yem ›Tierfutter‹) und Ortsnamen, sind selten. Ungewöhnlich lang ist der handschriftliche Eintrag auf Sp. 4704 zu ‫ ﺻﻠﺢ‬bzw. ıstilahât. Diez hat sich in den Tychsen-Briefen über den Unterschied von Grund-(lugât) und erweiterter Bedeutungen (u. a. von termini technici) im osmanischen Sprachgebrauch ausgelassen. 16 Sechs Jahre nach seinem Ableben kommentarlos abgedruckt im Intelligenz-Blatt der Leipziger Literatur-Zeitung Nr. 139 (7. Juni 1823), Sp. 1105–1112.

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Abb. 1: Handschriftlicher Eintrag von Diez zu maṣlaḥa in seinem Exemplar des Meninski, Thesaurus Linguarum Orientalium Turcicae, Arabicae, Persicae (Staatsbibliothek zu Berlin, Abteilung Historische Drucke, Bibl. Diez fol. 61, Sp. 4704). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

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Ich lasse den großen Verdiensten des alten Meninsky alle schuldige Gerechtigkeit wiederfahren. Es bleibt immer ein bewundernswürdiges Unternehmen, ein Werk von der Art auszuführen, wo ihm gar nicht vorgearbeitet war, denn wenngleich arabische Wörterbücher da waren so thut das nichts zur Sache, weil es doch darauf ankam, zu wissen, wie viel und wie wenig Arabisches in der türkischen Sprache gangbar sey, im Persischen und Türkischen hingegen war gar nichts da […] und es ist ganz gewiss, daß nach Meninsky kein Dolmetscher wieder kommenwird, der an die Unternehmung eines solchen Werkes nur im Traume denken dürfte. Der Hauptfehler von Meninsky lag eben darin, daß er als Dolmetscher eine einseitige Lektüre hatte wie man das selbst aus seiner Vorrede sehen kann; sie schränkte sich größtentheils nur auf die Geschichtsbücher der Regierung und auf Fermans der Pforte, auf Briefbücher und dergleichen Dinge ein.17

Über Jakob von Wallenburg (1763–1806), der sich etwa zehn Jahre in Istanbul aufgehalten hatte und an der Neuauflage des Meninski beteiligt war, schrieb Diez anerkennend: »Er wußte daher sehr wohl, was Noth thue, indem er sich Zutritt bey den Osmanen zu verschaffen suchte, um sich an der Quelle durch Umgang in der Sprache zu vervollkommnen«. Diez war, das sei damit vorausgeschickt, durchaus zu ausgewogenen Urteilen über orientalisierende Kollegen in der Lage. Die Verdikte des preußischen ExDiplomaten über Hammer-Purgstall zwischen 1809 und 1815 waren hingegen so maßlos, dass sie die europäische Öffentlichkeit über die Grenzen der Fachwelt hinaus beschäftigte. Ein Jahr nach dem Erscheinen der überdimensionalen Antikritik Unfug und Betrug bedauerte ein Rezensent am Rande einer durchaus freundlichen Besprechung einer Diez’schen Übersetzung in der Edinburgh Review, that the warfare between M. von Diez and M. von Hammer, hath been carried on quite ›à la Turque‹, and with a most uncivilized and unchristian virulence, which ill beseemeth gentlemen and scholars. This reproach falleth heaviest on M. von Diez who has attacked the moral character, as well as the literary reputation of his opponent, by accusing him of fraud, and forgery, and imposture: And these grievous charges having been investigated by M. Silvestre de Sacy,18 he hath declared them to be wholly unfounded. 19

|| 17 Diez an Tychsen, 25. Februar 1792 (s. Anm. 5), Bll. 99b–100a. 18 Sacy galt zwar als unbestrittene Autorität in Orientalibus, bei osmanischen Themen sprachlicher oder historischer Art hielt aber auch Sacy, wie man aus seiner Korrespondenz weiß, mit seinem gelehrten Kollegen Pierre Jean Marie Ruffin (geb. Saloniki 1742, gest. Istanbul 1820) Rücksprache. Vgl. Frédéric Hitzel: Art. Ruffin. In: Dictionnaire des orientalistes de langue française. Hg. von François Pouillon. Paris 2012, S. 902f.: »Il n’écrivait aucun ouvrage. Mais il prêta sons concours à d’éminents orientalistes, comme Daniel Kieffer, Silvestre de Sacy, Louis Langlès ou à des voyageurs comme Antoine Laurent Castellan, Antoine-Ignace Melling.« 19 Rezension von Heinrich Friedrich von Diez: Wesentliche Betrachtungen oder Geschichte des Krieges zwischen den Osmanen und Russen in den Jahren 1768 bis 1774. Halle, Berlin 1813. In: The Edinburgh Review, or Critical Journal 27 (Sept. 1816–Dec. 1816), S. 361–372, hier S. 361f.

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Eine Bewertung des Diez-Hammer-Konflikts kann nicht gelingen ohne einen Blick auf den Stand der türkischen Studien in den deutschsprachigen Ländern. Das von Diez an der Quelle im Umgang mit gelehrten Osmanen und ausgedehnter Lektüre erworbene Türkische wurde in den deutschsprachigen Ländern, wenn man von Österreich absieht, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts weit hinter dem Arabischen, Persischen, Indischen gewürdigt. Heinrich Julius Klaproth (1783–1835) schrieb 1801 in der Einleitung seines Asiatischen Magazins: Die Türkische Litteratur hat eigentlich nie unter uns Epoche gemacht, da sie aber in der Dichtkunst und Geschichte nicht unwichtige Werke aufzuweisen hat, wird der Herausgeber sich bemühen, Proben davon in diesen Blättern mitzutheilen.20

Und Friedrich Rückert (1788–1866) meinte noch in den 1820er Jahren, dass »diese schöne, leichte und nützliche Sprache es wohl verdiente nebenbey mit erlernt zu werden, während es für den türkischen Grenznachbar Österreich naheliegendere Gründe gebe«.21 Entsprechend spärlich war das Angebot an sprachlichen Hilfsmitteln. Kennzeichnend für die Epoche war, dass der Aufbruch der orientalistischen Fächer22 von Sammelwerken und Zeitschriften begleitet wurde, die sich an das allgemeine Publikum gebildeter Leser wandten. Auch die Literatur-Zeitungen, allen voran die in Göttingen, Jena bzw. Halle, Leipzig und Wien, räumten den orientalistischen Neuerscheinungen viel Platz ein und bemühten sich mehr oder weniger erfolgreich um fachkundige Rezensenten. Diez schreibt an einer Stelle, dass er von dem Herausgeber der Allgemeinen Literatur-Zeitung zur Mitarbeit eingeladen wurde, aber wegen verzögerter Zustellung (der Brief reiste zuerst zu einer Anzahl anderer Orte namens Philippsthal) die Angelegenheit nicht weiter verfolgt habe. Jedenfalls erscheint er nicht unter den Autoren dieses wichtigen Rezensionsorgans,23 auch nicht bevor die oben erwähnten maßlosen Verrisse seiner Werke durch Hammer und Chabert (ab 1840 Ritter von Ostland, 1766–1841) erschienen waren.24 || 20 Asiatisches Magazin. Weimar 1802, Bd. 1, S. 7. 21 Vgl. seine Empfehlung für das Erlernen des Türkischen in einer Rezension von P. Amédée Jauberts: Élémens de la grammaire turke à l'usage des élèves de l'École Royale et Spéciale des Langues Orientales Vivantes. Paris 1823. In: Allgemeine Literatur-Zeitung (März 1828), Sp. 567; Hervorhebung K.K. Außerdem Hartmut Bobzin: Friedrich Rückert (1788–1866) und die türkische Sprache und Literatur. In: Germano-Turcica. Zur Geschichte des Türkisch-Lernens in den deutschsprachigen Ländern. Hg. von Klaus Kreiser. Bamberg 1987, S. 69–78. 22 Norbert Nebes: Orientalistik im Aufbruch. Die Wissenschaft vom Vorderen Orient in Jena zur Goethezeit. In: Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen. Hg. von Jochen Golz. Frankfurt a. M. 1999, S. 66–96. 23 Karl Bulling: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im zweiten Jahrzehnt ihres Bestehens 1814–1823. Weimar 1963. 24 Victor Weiss von Starkenfels: Die kaiserlich köngliche orientalische Akademie zu Wien. Ihre Gründung, Fortbildung und gegenwärtige Einrichtung. Wien 1834, S. 56f.

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Seine Rolle in Wien ist vergleichbar mit der Ruffins in Paris: »Alle österreichischen Orientalisten der neueren Zeit sind aus seiner Schule hervorgegangen, und was daher die Literatur und der Staat ihren Kenntnissen verdankt, ist größtenteils die Frucht seiner Anstrengungen«.25 Bevor die Hammerʼschen Fundgruben des Orients26 in Wien herauskamen, hatten deutschsprachige Orientalisten somit keine eigenen Fach-Organe, in denen sie Quellentexte, Übersetzungen und gelehrte Artikel veröffentlichen konnten. Hammers erste Arbeiten wurden 1796 in Christoph Martin Wielands Neuem Teutschen Merkur gedruckt und fanden dank der weiten Verbreitung dieses Organs große, z. T. überschwängliche Resonanz. Allein Johann Gottfried Herder bat Wieland schon kurz nach Erscheinen in einem Brief, den jungen Autor von gereimten Übersetzungen abzubringen.27 Die ästhetische Qualität der unstrittig fehlerreichen Übersetzungen von Hammer wurde von den Zeitgenossen unterschiedlich eingeschätzt. Diez, wie konnte es anders sein, bemäkelte die Erstlingsschrift von Hammer noch nach Jahrzehnten in Unfug und Betrug.28 Heinrich Ewald, ein durchaus kritischer Beurteiler von Hammer als Arabist, das sei hier eingeschoben, sparte nicht mit Lob für seine Übersetzung von Gül ü Bülbül (Rose und Nachtigall).29 || 25 Siehe vorläufig Antoine Gautier: Thomas von Chabert-Ostland (1766–1841), orientaliste autrichien et sa famille. In: Le Bulletin [INALCO] (Octobre 1997), S. 67–90. Chaberts Briefe an Hammer liegen noch unausgewertet im Schlossarchiv Hainsfeld, das im Steiermärkischen Landesarchiv deponiert ist. Die Arbeitsgruppe um Walter Höflechner wird sie in absehbarer Zeit in Bearbeitung nehmen. 26 Allgemein zu dieser Zeitschrift Hannes G. Galter: Fundgruben des Orients. Die Anfänge der Orientalistik in Österreich. In: Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall. Hg. von dems. u. Siegfried Haas. Graz 2008, S. 87–102. 27 Johann Gottfried Herder: Von den letzten Dingen. Ein türkisches Gedicht. In: Der neue teutsche Merkur 7. Stück (Julius 1796), S. 225–238. 28 Diez kannte nur den im Merkur gedruckten deutschen Text und schrieb aber dennoch in Unfug und Betrug ohne jeden Anhaltspunkt von »sogenannten Übersetzungen von türkischen Gedichten [...], welche keine Zeile davon enthalten« (S. 14). Es ist ausgeschlossen, dass er die Vorlage, die sich bis heute im Archiv der Benediktinerabtei unserer Lieben Frau zu den Schotten befindet, eingesehen hat. Ich identifizierte sie nach Hammers Angaben als Teil einer Handschrift von Şâhidîs Wörterbuch (Hs. 510, Bll. 1b–5b). Im gedruckten Katalog von Albert Hübl (Catalogus codicum manuscriptorum qui in bibliotheca monasterii B.M.V. ad Scotos Vindobonae servantur. Vindobonae 1899, Nr. 743) wird der Text als Carmen Turcicum verzeichnet und mit einer zutreffenden Inhaltsangabe versehen (»Pater moriturus filium admonens de statu hominis post morten verba facit«). Ich danke an dieser Stelle erneut dem Stiftsarchivar Herrn Mag. Maximilian Alexander Trofaier, der mir eine Kopie des osmanischen Textes zugänglich gemacht hat. 29 Heinrich Ewald: Rezension von Gül und Bülbül. In: Göttingische Gelehrten Anzeigen 98 (1835), S. 969–975, hier S. 971: »Das andere Buch wird solchen, die großartige Dichtung suchen, ein sehr willkommenes Geschenk seyn«; ebd., S. 974: »Die Übertragung des türkischen Gedichts kann als Muster guter Übersetzung gelten, die Farbe des Ganzen passend, der Fluß der Rede leicht und lockend, die Reime des Originals meist kunstvoll wiedergegeben. Auch die deutschen Anmerkun-

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Der Jenaer Theologe Johann Christian Wilhelm Augusti (1771–1841) bemühte sich Anfang des neuen Jahrhunderts um einen Orientalischen Almanach, der nach einem Konflikt mit einem Buchhändler, der das Wort Almanach für geschäftsschädigend hielt, unter dem Titel Memorabilien des Orients (1802) erschien. Der Herausgeber berief sich auf die kurzlebigen Oriental Collections von William Ouseley und Julius Klaproths Asiatisches Magazin als geistesverwandte Unternehmen. Augusti, von dem auch zahlreiche Rezensionen in der Allgemeinen Literaturzeitung stammen, strebte eine »Verpflanzung der Blumen des Orients auf teutschem Boden« an, wobei nicht ganz klar ist, ob er mehr als eine Ausgabe seiner Memorabilien im Sinn hatte. Im ersten und einzigen Band finden sich auch Übersetzungen aus dem Türkischen, dessen Literatur »unter uns noch so wenig bekannt ist«.30 Thomas Chabert steuerte einen kleinen Auszug aus dem Hümâyûn-nâme bei.31 Eben dieses Hümâyûn-nâme, zu dem Diez eine Einleitung im Umfang von über 200 Seiten schreiben sollte,32 spielte im Konflikt mit Hammer eine wichtige Rolle. Chabert ist auch der Verfasser einer kurz zuvor erschienenen Übersetzung aus dem Osmanischen. Seine Auswahl aus den Anthologien des Laṭîfî und Âşıḳ Çelebi33 blieb bis zu Hammers vierbändiger Geschichte der osmanischen Dichtkunst (1836–1837) die wichtigste Gabe für die »Liebhaber exotischer Blumen« aus dem osmanischen Reich.34 Einleitend beklagte Chabert den geringen Bekanntheitsgrad der türkischen Literatur: Mehrere in den morgenländischen Sprachen bewanderte Schriftsteller haben in ihren Nachrichten über asiatische Dichtkunst das gelehrte Europa mit den Arabern und Persern bekannt gemacht, und sich begnügt, rühmlich, aber äusserst oberflächlich und flüchtig, der türkischen Dichterwerke zu erwähnen.35

Augustis Memorabilien enthielten als Beiträge zur persischen Literatur mehrere Oden des Hafiz in Hammers Verdeutschung. Die Forschung hat längst ermittelt, dass Goethe das Bändchen 1815 einmal aus der Weimarer Bibliothek entliehen hatte. Ich zitiere es hier, weil die Einführung mit »Vossischer Treue« in den Memorabilien

|| gen dazu sind bündig, nicht überladen und unnötig, obwohl man einige Anklänge der bekannten unrichtigen, weil gesetzlosen Sprachvergleichungen dieses Orientalisten übersehen muß.« 30 Johann Christian Wilhelm Augusti: Memorabilien des Orients. Jena 1802, S. VI u. IX. 31 Über Ehe und Weiber, ebd., S. 56–58. Zu weiteren Angriffen von Diez auf Galland und Chabert vgl. Heinrich Friedrich von Diez: Über Inhalt und Vortrag, Entstehung und Schicksale des königlichen Buchs. Berlin 1811, S. 102–104 u. S. 160. 32 Vgl. ebd., passim. 33 Latifi oder Biographische Nachrichten von vorzüglichen türkischen Dichtern, nebst einer Blumenlese aus ihren Werken. Aus dem Türkischen des Monla Abdul Latifi und des Aschik Hassan Tschelebi übersezt von Thomas Chabert. Zürich 1800. Vgl. die wohlmeinende Besprechung im Jahrbuch der neuesten Literatur 297 (30. Juli 1801), Sp. 98f. 34 Augusti: Memorabilien (s. Anm. 30), S. VI. 35 Latifi (s. Anm. 33), S. III.

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als das höchste denkbare Lob für eine Übersetzung gelten konnte,36 die in gebundener Rede verfasst ist, ohne inhaltliche Einbußen zu erleiden. Hammer und Diez haben dazu, wie noch gezeigt werden soll, von Anfang an unterschiedliche Auffassungen. Das osmanistische Werk von Diez, das sei schon hier festgehalten, ist gewichtig. Es kann sich zwar bei weitem nicht an Umfang mit dem von Hammer messen und es besteht auch mit Ausnahme der Arbeit über das Königliche Buch und der Antikritik Unfug und Betrug ›nur‹ aus Übersetzungen. Jedoch enthält seine Diezʼ auf Hammer und Chabert viele ernst zu nehmend Philologica, die ohne diese Polemik wohl nie erschienen wären. Kommen wir zum eigentlichen Anlass des Zerwürfnisses. Diez wurde wie zahlreiche andere Orientalisten im Jahr 1808 zur Mitarbeit an den von Graf Waclaw Seweryn Rzewusky (1784–1831) großzügig geförderten Fundgruben des Orients / Mines de l’Orient aufgefordert.37 Es ist wahrscheinlich, dass nicht Rzewusky, sondern Hammer allein im Namen der ›Herausgeber‹ oder des ›Herausgebers‹ mit Diez korrespondierte. Jedenfalls ging Diez, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr als Publizist zu Wort gemeldet, bisher auch keine Zeile zu orientalischen Themen veröffentlicht hatte, auf die Einladung ein. In dem 1809 erschienenen ersten Band des Wiener Journals wurden mithin seine beiden ersten (und zugleich letzten) orientalistischen Zeitschriften-Beiträge veröffentlicht. Ersterer erschien unter dem fehlerhaft wiedergegebenen Titel Ermahnung an Islambol, oder Strafgericht des türkischen Dichters über die Ausartung der Osmanen; aus dem Deutschen [!] übersetzt und durch Anmerkungen erläutert vom Geheimen Legationsrath und Prälaten Herrn von Diez.38 Der zweite Artikel hatte die Überschrift Was ist der Mensch? Aus dem Türkisch-Arabischen des Kjemal Pascha Sade übersetzt von Herrn Prälaten Heinrich Friedrich von Diez.39 Das Fehlen der Titel dieser beiden Beiträge im Inhaltsverzeichnis kann ein Anzeichen dafür sein, dass Hammer bei der Endredaktion der Zeitschrift bereits die Brücken zu Diez abgebrochen hatte. Was war geschehen? Hammer hatte die Diezʼschen Arbeiten unter der Abkürzung A. d. H.40 mit insgesamt sieben Fußnoten versehen, deren Ton herablassend, stellenweise beleidigend

|| 36 Johann Christian Wilhelm Augusti: Memorabilien des Orients. Jena 1802, S. IX. 37 Das Jahr ergibt sich aus den Angaben in Hammers Biographie. Dort auch zu der am 26. Januar 1808 veranstalteten Gründungsfeier der neuen Zeitschrift. 38 Fundgruben des Orients 1. Wien 1809, S. 249–274 statt »Ermahnung an Islambol, oder Strafgericht des türkischen Dichters Uweïssi über die Ausartung der Osmanen; aus dem Türkischen übersetzt«. 39 Ebd., S. 397–400. 40 Also wohl ›Anmerkungen der Herausgeber‹. In den Fundgruben werden ›die Herausgeber‹ (Hammer und Klaproth) namentlich nicht genannt. Etwas rätselhaft ist von ihren Wohnsitzen »in Constantinopel und Wien« (S. IV) die Rede. Rzewuski hatte seine Orientreise noch nicht angetreten

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war. In einem Fall kritisiert er die Wiedergabe der osmanischen Aussprache von mehdî (›Messias‹), in einem anderen die von ḳaḍı/kazi (›Richter‹).41 Diez kommt auch in späteren Werken immer wieder auf Transkriptionsfragen zurück; besonders klar wird sein Standpunkt am Anfang des Buchs des Kabus: »Dass übrigens die orientalischen Namen unter uns so sehr entstellt und bisweilen ganz unaussprechbar gemacht werden, kommt davon her, dass unsere Scribenten die Aussprache nicht an Ort und Stelle kennen gelernt [Hvhg. K.K.], sondern sich entweder nach theoretischen Regel der Grammatik wunderliche Töne gebildet oder gar engländische oder französische Aussprachen, die an sich schon zu den schlechtesten gehören, ins Deutsche verpflanzt haben, woraus nicht selten ganz monströse Laute entstanden sind«.42 Er beschäftigte sich darüber hinaus mit der graphischen Darstellung eines osmanischen Kasus-Suffix und den Wörtern ‫ﺭﻝ‬١‫ ﻏﺮ‬und ‫ﻋﺰﺯ‬١, die »weder den übersetzten noch einen anderen Sinn geben«. Eine weitere Anmerkung lautet: »١‫ ﺟﺰ‬Lohn Gottes nicht ‫ﺭ‬١‫ ﺟﺮ‬das hier keinen Sinn hat.« Im Beitrag zu KemâlPaşa, der aus einer Einführung in das Leben und Werk des Dichters und einer Deutung einer von ihm in acht Halbzeilen gegliederten Betrachtung über die Aporien des Verhältnis von Mensch zu Gott besteht, merkte Hammer an: Es ist kein Gedicht sondern zierliche und dennoch nicht wie gewöhnlich, durchaus gereimte Prose, welche vermuthlich durch des türkischen Abschreibers Schuld in einzelne Zeilen, so wie wir sie getreu nach dem Manuskript des Herrn Einsenders geben, zerstückelt worden.43

Diez forderte nun die namentlich nicht genannten Herausgeber auf, seine Widerlegung in der folgenden Nummer der Fundgruben zu veröffentlichen. Als dies abgelehnt wurde, druckte der zutiefst Gekränkte seine Übersetzung auf eigene Kosten: Dieses Gedicht ist in den Fundgruben des Orient, Stück III. S. 249–274, mit so vielen und entstellenden Druckfehlern abgedruckt, daß der Übersetzer zu seiner und des Dichters Ehre sich hat entschliessen müssen, eine correcte Ausgabe zu veranstalten. Für die Besitzer und Leser

|| (vgl. die Introduction zu Waclaw Seweryn Rzewuski: Impressions d’Orient et d’Arabie. Hg. Bernadette Lizet. Paris 2002). 41 Vgl. auch Claudia Roemer: Early Transcription methods at the K.-K. Akademie Orientalischer Sprachen in Vienna according to student’s exercise books (dighist.hypotheses.org): »Hammer vehemently criticises v. Diez’s attacks against the transcription used in Fundgruben, which he thought to be too bookish … Even if this debate has to be seen against the background of the deep antipathy and constant disputes between the two men, it sheds light on the fact that two hundred years ago, the transcription issue was subject to very different approaches and aims. v. Diez would have preferred a transcription based on the utterances of the people.« 42 Heinrich Friedrich von Diez: Buch des Kabus oder Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach. Ein Werk für alle Zeitalter aus dem Türkisch-Persisch-Arabischen übersetzt und durch Abhandlungen und Anmerkungen erläutert. Berlin 1811, S. 36f., Anm. 2. 43 Fundgruben des Orients 1 (s. Anm. 38), S. 398, Fußnote Hammers.

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der Fundgruben ist zu Ende das Verzeichnis der in letztern begangenen Druckfehler angehängt nebst der Widerlegung der sieben grundlosen Noten, welche die Herausgeber jener Zeitschrift gemacht haben.44

Die Widerlegung umfasst zehn Seiten und enthält bereits wichtige Bestandteile der in Unfug und Betrug immer wiederkehrenden Argumente. Diez beruft sich bei seinen Schreibungen bzw. Ausspracheformen nicht auf irgendeine ›Buchstaben-Theorie‹, sondern auf das, was er »von gelehrten Osmanen im vieljährigen Umgang gehört und gelernt habe« sowie auf die Umschrift, welche der »alte, verständige Meninski«45 in seinem Wörterbuch gebrauchte. Freilich: »Wehe jedem, der beym Lesen und Übersetzen der Morgenländer seine ganze Hülfe im Wörterbuche suchen muß!«46 Auch sei allenthalben mit fehlerhaften Schreibungen wie in den ›Briefen der Ungelehrten‹ zu rechnen (ġalaṭ). Unfug und Betrug erschien im Jahr 1815 und war ein mit nahezu 600 Seiten ungewöhnlich umfangreicher Text. Er wurde gedruckt als Anhang zum zweiten Band der Denkwürdigkeiten von Asien unter dem vollen Titel Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. von Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften. Diese Kampfschrift konnte aber auch als Separatdruck mit eigener Seitenzählung in den Buchhandlungen des Halleschen Waisenhauses um 20 Groschen erworben werden. Sie antwortete damit auf Beiträge, die Joseph von Hammer und sein ehemaliger Lehrer und Wiener Kollege Thomas Chabert zunächst anonym bzw. unter Pseudonym in der Allgemeinen Literatur-Zeitung47 (1811–1813) veröffentlicht und danach in der Wiener Literatur-Zeitung (1815) fortgeführt hatten. Am Schluss seiner Rezensionen vom Buch des Kabus sowie von Über Inhalt und Vortrag und Wesentliche Betrachtungen48 steht das einfache Σ, das von Katharina Mommsen zutreffend von griechisch σφῦρα für Hammer abgeleitet wurde,49 einmal kombiniert mit dem arabischen Konsonanten ‫( ﺵ‬š), aus der Lautung der Anfangsbuchstaben von Chabert. An

|| 44 Heinrich Friedrich von Diez: Widerlegung der sieben Noten, welche von den Herausgebern der Fundgruben des Orients, St. III, zur Uebersetzung des Gedichts von Uweïssi, S. 249–274 gemacht worden, nebst Verzeichniß der Druckfehler, wodurch die Übersetzung und der Original-Text des Gedichts entstellt sind. Berlin 1811. 45 Ebd., S. 34. 46 Ebd., S. 32. 47 Es handelt sich um die Neugründung nach dem Umzug der ersten Allgemeinen Literatur-Zeitung von Jena nach Halle. 48 Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung (May 1813), Sp. 619–624. 49 Katharina Mommsen: Goethe und Diez. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der DivanEpoche. 2. erg. Aufl. Bern 1995, S. 14. Vgl. Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung (May 1813), Sp. 616– 624 sowie ebd. (Julius 1813), Sp. 853–864.

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einer Stelle unterschreibt der Autor mit den hebräischen Lettern ‫רה‬,n einer a 50 anderen steht wohl für beide Autoren »Es-siddik wen Nachchal«, also zwei arabische Wörter in lateinischer Umschrift.51 Diese Rezensionen beziehen sich auf sämtliche zwischen 1811 bis 1815 gedruckten Werke von Diez, also auf Über Inhalt und Vortrag, Entstehung und Schicksal des Königlichen Buchs (1811), Ermahnung an Islambol (1811)52, Wesentliche Betrachtungen (1813),53 das Buch des Kabus (1815)54 und Der neuentdeckte oghuzische Cyklop (1815) sowie die ursprünglich für die Fundgruben bestimmten Arbeiten und die beiden Bände der Denkwürdigkeiten aus Asien (1811–1815). Hammer und Chabert hatten nur einen Artikel der Denkwürdigkeiten, nämlich das kurze Kapitel XIII: Stufen des menschlichen Alters mit ihren »Gallen-Ergiessungen«, so wörtlich Diez, verschont, wenn nicht übersehen.55 Andere Rezenten waren frei von Häme. Für Diez war die ausführliche Besprechung des Kabus durch Silvestre de Sacy (1758–1838) im Magasin Encyclopédique sicher tröstlich, auch wenn sie in der Hauptsache aus einer Inhaltsangabe und einem Vergleich mit einer persischen Handschrift bestand. Diez und seine Gegner werden aber nicht übersehen haben, dass der Pariser Großmeister mit dem Satz schloss, er habe sich mehr mit der Bekanntmachung des Originals beschäftigt als mit dem Werk von M. de Diez (»j’ai fait plutôt connoître l’original du Kabous-namâh, que le travail de M. de Diez«).56 Gleichwohl hält er fest: »Je terminerai en disant que la traduction de M. de Diez porte partout le caractère des idées et du style de l’original.« Auf durchaus freundliche, aber wenig sachkundige Anzeigen seiner Bücher, die u. a. in der Leipziger-Literatur-Zeitung57 und den Allgemeinen geographischen Ephemeriden58 erschienen, muss hier nicht eingegangen werden. || 50 Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 10, Bd. 1, Nr. 15, Sp. 62, letzter Teil der Rezension der Denkwürdigkeiten. 51 ṣiddīḳ ‫ ﺻﺪﻳﭯ‬bedeutet ›wahrheitsliebend‹, naḫḫâl ‫› ﻧﺨﺎﻝ‬Siebmacher‹ (gemeint ist vielleicht einer, der das Richtige vom Falschen sorgfältig trennt?). 52 Allgemeine Literatur-Zeitung 180/181 (4./5. Juli 1811). 53 Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung 39 (16. May 1815), S. 619. 54 Der »Vorbericht des Übersetzers« datiert »[i]m April 1802« (S. 257). Die Rezension erschien am Ende der Besprechung der Denkwürdigkeiten, vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung 16 (18. Januar 1812), Sp. 123–128. 55 Vgl. hierzu Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 145/625. 56 Magasin Encyclopédique 2 (1814), S. 412–445. 57 Der anonyme Rezensent der Leipziger Zeitschrift hat am ersten Band der Denkwürdigkeiten (April 1812, Sp. 695) allein auszusetzen, dass Diez glaube, es hätten sich Denkmäler »aus den Zeiten vor der Sündfluth« erhalten. Zu diesem biblischen Geschichtsverständnis finden sich auch anderswo hohnvolle Kommentare. Die Anzeigen von Über Inhalt und Vortrag und das Buch des Kabus sind uninteressant. Dagegen enthält die Leipziger Literatur-Zeitung 80 (April 1815), Sp. 633–639 eine aus zwei Rezensionen zusammengestellte Besprechung der Wesentlichen Betrachtungen, von denen die erste stellenweise arabischen Typendruck verwendet und auf einen gelehrten Autor, vielleicht Oluf Gerhard Tychsen, schließen lässt. Am Ende wird das Vorhaben von Diez, den Traktat des Kodscha

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Die Streitschrift erschien zwar in einer Epoche, in der sich die Scribenten wenig schonten und auch die Herausgeber und Redakteure der Rezensionszeitschriften59 nur selten mäßigend auf die Verfasser einwirkten, im Diez-Hammer-Konflikt ging es aber nicht, wie man vielleicht beim ersten Durchblättern annehmen mag, allein um kleinteiliges (in der Sprache der Epoche: mikrologisches) Philologen-Gezänk. Es war Diez auch darum zu tun, »Verunglimpfungen und Ehrenschändungen« Hammers zurückzuweisen. Verständige und rechtliche Leser, denen menschliches Wissen und Wahrheit und Tugend nicht gleichgültig sind, werden diese Schrift nicht ohne Nutzen gelesen haben. Ich werde ihnen alles so klar vor Augen legen, dass ihnen jede Sache oder jeder Gedanke, der zur Frage kommt, einleuchtend werde, selbst wenn sie von morgenländischen Sprachen kein Wort verstehen.60

An anderer Stelle heißt es: Um aber den Lesern, die von der Sprache wenig oder nichts wissen, es recht klar vor Augen zu legen, wie ganz vernunftlos und verrückt der Einfall des Unkundigsten aller Dollmetscher sey: so darf ich nur ein Paar Bemerkungen anderer Art machen.61

Wäre Diezens Antwort in einer Rezensionszeitschrift auf einige Spalten verteilt erschienen, hätte sie ihr Ziel nicht vollständig erreicht. Er wollte in aller Ausführlichkeit zeigen, dass Hammer und Chabert nicht nur häufig irrten, sondern dass keine einzige Stelle ihrer Kritik auch nur den Anschein von Berechtigung verdiente. Das erklärt den enormen Platzbedarf. Im Mittelpunkt seiner Angriffe stehen Hammers philologische Schwächen. Er habe weder auf der Orientalischen Akademie zu Wien noch vor Ort Gelegenheit gehabt, solide Kenntnisse zu erwerben. Häufig bemängelt er das Deutsch des Gegners, »lerne er doch den Conjunctiv zu gebrauchen, wo er hingehört«.62 Ganz zu schweigen von Hammers Griechisch- und Latein-Kenntnissen: »Der Mann will auch Latein zu schreiben verstehen, denn mit dem Onomasticon in der Hand schreibt er alle Sprachen, welche man will.«63 Insgesamt möchte Diez auch einem allgemeinen Publikum vermitteln, dass Hammer unfähig ist, nur eine Zeile, eine Seite aus seinen

|| Beg (so) mitzuteilen, begrüßt: »Wir sehen dieser gelehrten Arbeit mit grossem Verlangen entgegen, können aber den Wunsch nicht unterdrücken, dass es Hrn. v. D. doch gefallen möge, zur Erweckung und Belebung des in unserm deutschen Vaterlande noch zu wenig angebaueten Studium der türkischen Sprache uns dabey auch zugleich den türkischen Text mitzugeben.« 58 Leipziger Literatur-Zeitung 38 (Mai 1812), S. 78–85 (zum ersten Band der Denkwürdigkeiten). 59 Zum Rezensionswesen vgl. Stefan Matuschek (Hg.): Organisation der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena, 1785–1813. Heidelberg 2004. 60 Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 18/498. 61 Ebd., S. 404/883. 62 Ebd., S. 168/648. 63 Ebd., S. 370/850.

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osmanischen Quellen richtig zu verstehen. Seine Angriffe wollen darüber hinaus und nicht zuletzt den Widersacher nicht nur als Orientalisten treffen. Dabei lassen sich mehrere Formen und Inhalte von Angriffen unterscheiden, die das Ziel haben, den Menschen Hammer herabzuwürdigen. Der Gegner wird häufig infantilisiert, als Kind, gar Kindchen angesprochen, welches sich nur eingeschränkt artikulieren könne: »das Kind will sagen«.64 Einmal heißt es, »ein Mann, der den Jahren nach kein Kind mehr seyn sollte«.65 Seine Verspottung wird durch die Verwendung von Diminutiven wie »Männchen«,66 »Händchen«, »Äugelein« bewirkt. Diez gefällt sich in der Pose des Lehrers, der seinen Äußerungen zu einzelnen Themen oder ganzen Rezensionen als »Unterricht«, gelegentlich als »Dienst« einstuft.67 Zweitens wird er als Lügner dargestellt. Hammers Reisen seien erfunden. Anatolien habe er nie betreten, sein Besuch von Rhodos wird angezweifelt.68 Freilich hat sich Hammer in den Jahren 1800 und 1801 mehrfach auf und bei der Insel aufgehalten. Anders als Diez hat er im August 1804 auch einen kurzen Ausflug nach Anatolien unternommen, von dem sein allerdings erst 1818 gedruckter Reisebericht nach Bursa kündet.69 Deshalb ist die folgende Anschuldigung aus Unfug und Betrug nicht ganz nachvollziehbar: Wenn der Gegner meynt, dass die Sprache des Buchs des Oghuz die noch heute in Anatolien übliche, grobtürkische Sprache sey; so hat er das, bloss um etwas zu schwatzen, wieder ins Gelag hineingeschrieben, ohne zu wissen, was es bedeute. Er hat ja nicht in Anatolien gelebt, viel weniger von den Einwohnern die Sprache gelernt.70

In zahlreichen Fällen wird Hammer von Diez als Geisteskranker vorgeführt: »Alles dies ist wie aus dem Irrhause gesprochen, worauf man nicht antworten sollte. Es muss doch aber etwas gesagt werden, damit der Mann nicht gar anfange, bis zum binden zu rasen.«71 30 Seiten später heißt es: Nach solchen Zeugnissen muss man rasend seyn, wenn man dem Kaiser Selim Verse andichten will, die nicht bloss sinnlos, sondern auch gottlos seyn würden. Der Hofdollmetscher verdiente

|| 64 Ebd., S. 187/667. 65 Ebd., S. 426/906. 66 Ebd., S. 363/843. 67 Vgl. u. a. ebd., S. 151/631 u. S. 331/811. 68 Ebd., S. 59/539. 69 Umblick auf einer Reise von Constantinopel nach Brussa und dem Olympos und zurück über Nicaea und Nicomedien. Pesth 1818. 70 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 120/600. 71 Ebd., S. 426/906.

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unter Vormundschaft gesetzt zu werden, da er selbst des gemeinsten Verstandes zu ermangeln scheint, um sich vor solchen Ausschweifungen zu bewahren.72

Eine weitere Form von Beleidigung ist die seines Gegners als Krimineller. Das im Titel stehende Wort Betrug bezieht sich auf die von Hammer tatsächlich verschleierte doppelte Identität als Rezensent in zwei verschiedenen Literatur-Zeitungen. »Er stellt sich also dadurch in die Klasse der Leute, welche als gefährliche Menschen von allen Gerichten durch Steckbriefe verfolgt zu werden pflegen, weil sie sich zweyerley Namen geben.«73 Kurz zuvor hieß es: Indem ich den Hofdollmetscher endlich bei der Jenaer Zeitung verlasse, so habe ich ihn nun bey der Wiener Litteratur Zeitung wieder aufzusuchen, wo er Versteck spielt, ob es gleich für ihn kein unschuldiges Spiel ist. Ich bin aber auch versichert, dass er es noch zehnmal unternehmen würde, meine Schriften anonymisch zu verschreyen, wenn so viele andere Zeitungen ihm zu Dienste stehen wollten, in dem ihm nichts erwünschter ist, als sein Müthchen zu kühlen und dafür noch Silberlinge zu verdienen. Die Sache aber erscheint nunmehr von der moralischen Seite noch weit sträflicher als sie gewesen. Es ist an sich betrachtet schon schändlich genug, dass ein und derselbe Mann ein und dieselben Schriften in mehreren Zeitungen zu lästern beflissen ist. Was aber dieses Unternehmen vollends abscheulich macht, ist, dass er sich stellt, nicht derselbe Mann zu seyn, der die Jenaischen Recensionen gemacht habe. Z. B. bei der Schrift vom königlichen Buche, wovon soeben die Rede gewesen bey der Jenaer Zeitung vom Januar 1813 und welche er in der Wiener Litteratur Zeitung vom 6ten July 1813 zum zweyten Mal recensiert.74

Ohne Zusammenhang mit philologischen Fragen sind auch die mehr oder weniger deutlichen Anspielungen auf die politischen Loyalitäten Hammers, seinen unterentwickelten deutschen Patriotismus bzw. seine angebliche Gallomanie. Besonderes Gewicht haben die Anschuldigungen, Hammer habe sich von der biblischen Religion, die er »zu den orientalischen Vorurtheilen rechnet«, entfernt. Hingegen glaube dieser, »dass Muhammed würklich göttliche Eingebungen gehabt habe und wahrer Prophet gewesen [sei]«.75 »Bibelerklärungen« durch Diez halte Hammer für »langweilig«, weil Religion für ihn zu den abgetragenen Gemeinplätzen gehöre.76 Endlich stellt Diez Hammer auch als Gegner seiner Bemühungen, zwischen Osten und Westen zu vermitteln, hin: Da meine Schriften ausserdem mit darauf berechnet sind, den Orient mit dem Occident zum gemeinsamen Nutzen in Verbindung zu bringen: so findet er darin gewisse moralische Gesin-

|| 72 Ebd., S. 456/936. 73 Ebd., S. 353f./833f. 74 Ebd., S. 332/812. 75 Ebd., S. 507/987. 76 Ebd., S. 412/892.

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nungen, welche er verabscheuet; Anhänglichkeit an die wahre Religion und alte Wahrheit, welche ihm unerträglich sind.77

Unfug und Betrug enthält viel Unfreundliches, zahllose Schmähungen und manches Unrichtige. Neben philologischen Themen finden sich in dem Band aber auch weiter ausholende Absätze, in denen sehr grundsätzliche Fragen behandelt werden. Da das Thema der angemessenen Übersetzung zu den wichtigsten im Streit mit Hammer gehört, soll ihm hier noch etwas Raum gewidmet werden. Ein großer Teil der Polemik hat mit der angemessenen Wiedergabe arabischer, persischer und türkischer Wörter und ganzer Sentenzen wie Sprichwörtern zu tun. Die Verdeutschungen von Diez waren meist nur dort angreifbar, wo man sie überprüfen konnte, das heißt, wo er in Transkription oder arabischen Typendruck aus dem Original zitierte. Von grundsätzlicher Wichtigkeit war die Frage, ob der Übersetzer orientalischer Texte überhaupt das Recht habe, in sie verkürzend einzugreifen. Hier konnten die Gegensätze nicht größer sein. Diez hatte schon als junger Magdeburger Verwaltungsjurist lange vor seiner Metamorphose zum Orientalisten eine kleine Pflichtenlehre für den Übersetzer verfasst. Sie geht als Vorbericht zu seiner Verdeutschung des ersten Kapitels von Ciceros Tusculanae disputationes (1780) voraus. Mit einem bissigen Satz kam er zur Sache: »Man kann sich das Übersetzen erleichtern, wenn man den Wortsinn nicht so pünktlich verfolgt und überhaupt Stellen, die beim Auslegen Schwierigkeiten machen, in ähnlich scheinende Gedanken überträgt«.78 Die folgenden zehn Seiten dieser Einleitung verbinden die Kritik an fehlerhaften und tadelswerten sogenannten »Freyheiten« der Übersetzer mit der Forderung nach »völliger Integrität«. Die übersetzte »Version muß getreuestes Abbild des Originals sein«.79 In Unfug und Betrug kommt Diez auf diese Regeln zurück.80 Er beachte sie noch gegenwärtig bei der Übersetzung der Morgenländer. Am Beispiel des Königlichen Buchs, davon ist Diez überzeugt, lasse sich nicht allein zeigen, dass der schwierige Text übersetzbar ist, sondern auch in gutes Deutsch übertragen werden kann. Zwei Proben seiner dem Original wörtlich folgenden Prosa müssen genügen: Über die hohe Ankunft des Kaisers auf den Gefilden der Jagdplätze ward der höchste Himmel neidisch und über die herrliche Augensalbe des Staubes vom Hufe der königlichen Schaaren war das Auge der Paradiesesjungfern eifersüchtig; die Ohren wilder Thiere wurden mit Gerufe der Jagenden, mit Flötentönen der Pfeile, mit Klageschallen der Bogen und mit Schmerzen der Lanzen angefüllt.81

|| 77 Ebd., S. 14/494. 78 Markus Tullius Cicero’s erstes Buch tuskulanischer Untersuchungen, von der Verachtung des Todes. Übersezzt von Heinrich Friedrich Diez. Magdeburg, Leipzig 1780, S. 1. 79 Ebd., S. 4. 80 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 145/625. 81 Ebd., S. 181f./661f.

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In der Nähe dieses Ortes kenne ich [der Wesir] einen wunderbaren Berg, der so hoch ist wie der Geist des Großmüthigen und so erhaben und vortrefflich wie die Würde der Vollkommenen; durchs Gewand seines Grüns von oben bis unten erweckt er den Neid schwatzhafter Papageien und wegen der Wohlgerüche seiner Rosen und der Annehmlichkeit seiner Hyacinthen macht er die Locken der Paradiesjungfern eifersüchtig, die wohlriechenden Kräuter seines Rosengartens glänzen wie Sterne des Himmels und die Bäche seiner Quellen fliessen wie Ströhme des Paradieses.82

In einer Hinsicht erlaubt sich der Orientalist Diez eine andere Praxis als der frühere Cicero-Übersetzer. Hatte er sich in seinem deutschen Cicero Fußnoten verboten, enthält seine Probe aus dem Königlichen Buch so gut wie auf jeder Seite Erläuterungen. In der Diez-Hammer-Kontroverse lässt sich am Beispiel des Königlichen Buchs deutlich zeigen, dass sich bei der Frage nach einer angemessenen Übersetzung kaum Brücken zwischen den Gegnern schlagen lassen. Wenn nämlich Hammer feststellt: Ein Übersetzter, der zu einer mühevollen Nachbildung des orientalischen Stils nicht Lust und Liebe hat, thut weit besser daran wie Chabert die Wiederholungen und Synonymen auszulassen, und blos den Kern der Rede zu geben, als wie Hr. v. D. durch solche Übersetzung seine Türken und sich selbst in den Verdacht eines gänzlichen Mangels an Geschmack […] zu bringen,83

dann kontert Diez, denn alle Morgenländer sind deshalb für ihn [Hammer] geschmacklos. Jede Nation aber hat ihren Geschmack für sich. Sie äußert ihn in Gedanken, Gesinnungen, Bildern, Figuren und in andern Stücken. Eben darum muss der Übersetzer getreu seyn.84

Der Kern der Rede, von dem Hammer spricht, würde sich bei den beiden, fast willkürlich ausgewählten Passagen auf zwei Sätze reduzieren lassen: Der Kaiser brach zur Jagd auf. Weil nach vollzogener Jagd die Hitze schwer erträglich wurde, schlug ihm sein Minister einen kühlen, quellenreichen Berg zur Erholung vor. Hammer hatte die nach Diez ›erbärmliche‹ Galland‘sche Übersetzung aus dem Königlichen Buch für ebenso vortrefflich erklärt wie er die Diezʼsche für ›unrichtig‹, ›sinnlos‹, und ›verstümmelt‹ ausgab.85 Hammer reagierte auf Unfug und Betrug mit dem schmalen, 20-seitigen Pamphlet Fug und Wahrheit in der morgenländischen Literatur, nebst einigen wenigen Pro|| 82 Ebd., S. 185f./665f. 83 Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung 1 (Julius 1813), Sp. 864. 84 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 465/945. 85 Ebd., S. 258/738 zur Rezension in der Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung: »Der Gegner hat die erbärmliche Gallandsche Übersetzung des königlichen Buchs für eben so vortrefflich erklärt als er die meinige vor Herzensweh für unrichtig, für sinnlos, für verstümmelt ausgeben will.«

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ben von der feinen Gelehrsamkeit des Herr von Diez zu Berlin,86 über das er im Tagebuch schrieb: Ich antwortete ihm in einer kleinen, nur einen Bogen starken, in HORMAYRs Archiv aufgenommenen87, aber auch in hundert Exemplaren für die orientalischen Mitarbeiter der ‚Fundgruben des Orients‘ besonders abgedruckten Schrift, die um nichts höflicher als sein Angriff, ihn besonders als den neuen Scheinheiligen an den Pranger stellte, ihn, der, als ihn Friedrich II. als Gesandten nach Konstantinopel schickte, den König bat, ihn des Diensteides zu entheben, weil er nicht an Gott glaube. Diese Anekdote hatte mir Herr von Humboldt, der Gesandte anvertraut, den ich natürlich in meiner Schrift als die authentische Quelle nicht nennen konnte.88

In Fug und Wahrheit empört sich Hammer über die – opulent zitierten – »Ausdrücke der pöbelhaftesten Schimpfwuth« des Gegners. Das Abscheulichste aber sei, dass die Hälfte des Buches auf der lügenhaften Voraussetzung beruhe, dass er der Verfasser von literarischen Zurechtweisungen sei, an denen er nur einigen oder gar keinen Anteil gehabt habe. In einer tabellenartigen Übersicht zeigt er, dass genau 74 von 203 Absätzen, entsprechend 265 von 600 Seiten von Unfug und Betrug auf das Konto seines Freundes und Lehrers Chabert oder anderer ihm »unbekannter Recensenten« gehen. Er überlasse es Chabert, sowohl auf den philologischen Unsinn als auch auf die »gewöhnlichen Artigkeiten des Herrn v. Diez«, welche diese 300 Seiten enthalten, zu antworten. Mit den am Anfang der Kontroverse stehenden Eingriffen in Diezens Manuskript habe er nur das Recht eines jeden Herausgebers ausgeübt. Er wiederholt sein Urteil über zwei Hauptwerke des Gegners: Das Buch des Kabus und die Einleitung in das Königliche Buch (Hümâyûn-nâme). Ersteres sei »langweilig«, das andere »sein Hirngespinst von der Entstehung der sogenannten Fabeln Bidpais[,] unrichtig und seine literarische Kenntnis der Übersetzungen derselben unvollständig«.89 An diese Themen wird freilich ohne neue Argumente in nur wenigen Zeilen erinnert. Am Ende des Pamphlets hält er noch einmal kurz seine Meinung von der Lautung und Umschrift einiger Namen und Wörter fest.

|| 86 Joseph von Hammer: Fug und Wahrheit in der morgenländischen Literatur, nebst einigen wenigen Proben von der feinen Gelehrsamkeit des Herrn von Diez zu Berlin, in Sprachen und Wissenschaften. Wien 1816. 87 Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst, 35/36 (20./22. März 1816), S. 137–148. Sein Schreiben an die Dritte Classe der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin erschien ebenfalls in dieser Zeitschrift, vgl. Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 37/38 (1817), S. 145–148. 88 Hammer begegnete Wilhelm von Humboldt zum ersten Mal 1810 in Paris und stand auch während dessen Gesandtschaft in Wien (1810–1813) mit ihm in Verbindung. Vgl. das Maschinogramm von Hammers Tagebuch XXVII/7-105/7 (http://gams.uni-graz.at). 89 Ebd., S. 4.

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Tatsächlich hat sich Hammer mit den Diezʼschen Angriffen nicht sehr gründlich befasst. Sein heute in Leipzig liegendes Exemplar von Unfug und Betrug enthält zwar eine Anzahl von Unterstreichungen, Hervorhebungen am Rand und kurze Kommentare, z. T. mit einem kräftigen Rotstift; sie setzen sich aber, soweit ich sehe, an keiner Stelle mit den Angriffen von Diez auseinander. Charakteristisch für Hammers Desinteresse ist seine handschriftliche Anmerkung zu folgender Stelle: »Was die armen Morgenländer aus sich machen lassen müssen! Ich werde nicht aufhören, sie zu beklagen«: »Ich auch nicht, solang D. überlebt.«90 (Abb.2 )

Abb. 2: Randnotiz von Hammer in seinem persönlichen Exemplar von Unfug und Betrug in der morgenländischen Literatur (Universitätsbibliothek Leipzig, Signatur Orient.Lit. 893-c). © UB Leipzig

Hammer befasst sich erstaunlicherweise mit keiner der Diezʼschen Korrekturen an seinen Übersetzungen und oft abenteuerlichen Sprachvergleichen. Dessen »hals|| 90 Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 779 nach der Paginierung des Anhangs. – Paul M. Babinski hatte die Freundlichkeit, das 1857 mit der Bibliothek Hammers an die Leipziger Universitätsbibliothek gekommene Exemplar für mich einzusehen. Ich danke ihm an dieser Stelle erneut. Am 20. Februar 2018 teilte er mir folgende Einschätzung mit: »Das Exemplar von Hammer ist vor allem ein Dokument seiner unmittelbaren Reaktion auf Diez. Er unterstreicht Beleidigungen und macht am Seitenrand seinem Ärger oder seiner Skepsis Luft (Ausrufezeichen, Fragezeichen), »Esel!« (S. 916) usw.).« An einigen Stellen (wie S. 622, S. 702, S. 909) steht Chabert, häufig D. für Diez. Christoph Rauch hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass auch Heinrich Leberecht Fleischer eine Fülle teils gelehrter, teils amüsierter Glossen in sein Exemplar von Unfug und Betrug eingetragen hat (Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin, Orientabteilung, Bibl. Fleischer c. not. ms. 32).

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starrige Rechthaberey und pedantische Wortklauberey«91 ist ihm nur der »Aushängeschild des versteckten Neides, den er mir anheftet«.92 Das Umgekehrte, nämlich dass Diez seinerseits den längst auf dem Gipfel der Erfolgsleiter stehenden Hammer beneide, wird auf der folgenden Seite ausgesprochen. Aus diesen zusammengestellten Versicherungen des Herrn v. Diez weiß ich nun selbst nicht, ob ich aus Neid, aus Erzidiotismus, Verderbtheit die schlecht übersetzten Sprüche und Rhapsodien des Herrn v. Diez gemein und langweilig gefunden haben soll. In seinen Urtheilen über meine Werke scheint mir bloß der erste Grund, nähmlich blinder Neid vorgewaltet zu haben; wahrhaft blind.93

Noch ausführlicher geht Hammer auf die Animosität von Diez gegen das »Collectiv der österreichischen Orientalisten«, ja gegen Österreich insgesamt ein. Diez empfinde noch den alten Hass aus der Zeit Friedrich II., »wo doch durch das läuternde Feuer der großen Begebenheiten so manche eisige Scheidewand zwischen den Völkern einschmolz«.94 Er, Hammer, habe aber die Franzosen zur Zeit Napoleons keinesfalls hofiert. Tief getroffen zeigt er sich durch Behauptungen von Diez über ungenügende Kenntnisse in den klassischen Sprachen und seinen angeblich nur spärlichen Kontakt mit gebildeten Sprechern des Osmanischen. Im Gegensatz zu Diez, der nur »ein Paar Jahre zu Constantinopel« zugebracht habe,95 sei er »zweymal sieben Jahre lang im mündlichen und schriftlichen Verkehr mit türkischen Staatsmännern gestanden«.96 Diez behaupte auch wider besseres Wissen, Hammer habe keinen Umgang mit dem Chef der osmanischen Staatskanzlei, dem Re‘is Efendi gepflogen. Die Hammerʼsche Gegenschrift lässt auch das Thema Religion nicht aus. Der altersfromme Diez wird an die derbe Sentenz erinnert: »Junge Gottesläugner, alte Bigotten, wie junge H[uren] alte Bethschwestern.«97 Gegen Ende kommt Hammer auf das die germanistische und orientalistische Forschungsliteratur am stärksten beschäftigende Thema zurück, die Frage der angemessenen Übersetzung aus den Sprachen des islamischen Orients. In den Fundgruben habe er bereits eine Probeübersetzung aus dem Schachname veröffentlicht

|| 91 Das Wort erscheint zum ersten Mal im späten 18. Jahrhundert. Johann Karl August Musäus verwendet es gegen Menschen, denen die wortklauberey der alten Sprachen mehr wert sei als Menschenkunde (Physiognomische Reisen. 2. Aufl. Altenburg 1779, Bd. 1, S. 10). 92 Hammer: Fug und Wahrheit (s. Anm. 86), S. 10. 93 Ebd., S. 11. 94 Ebd., S. 5. 95 Ebd., S. 14. 96 Dieser Zeitraum kommt durch Hinzurechnung seiner kurzen Amtszeit im moldauischen Jassy zustande, wo er mit dem aus Paris durchreisenden Hâled Efendi (1760?–1822) eine Unterredung hatte. 97 Hammer: Fug und Wahrheit (s. Anm. 86), S. 10.

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»zur Vergleichung zwischen wörtlicher Übersetzung und freyer dichterischer Bearbeitung«: Nichts ist ihm [Diez] ein größeres Gräuel, als mein Versuch, in der deutschen Übersetzung des Korans die Reimfülle des Originals nachzuahmen und die in demselben Geiste gegebene Übersetzungsprobe der reichgereimten Prosa des Hümajunname.98

Der Orientalistenstreit hatte auf seinem Höhepunkt die europäische Öffentlichkeit erreicht. Hammer, seit 1814 Ehrenmitglied der Berliner Akademie, sandte am 25. März 1816 seine Gegenschrift nach Berlin und verlangte eine »Entscheidung« der verschiedenen grammatikalischen und literarischen Fragen, zu denen er Stellung bezogen hatte. Dazu hatte er 15 (von den oben genannten 203) strittige Sachverhalte aus der Schrift des Gegners zusammengestellt, von denen bereits mehrere in Fug und Wahrheit aufgeführt wurden. Sein sechster von diesen 15 Punkten wurde geradezu als Trumpf ausgespielt. Er soll hier beispielhaft nach Vergleich mit der Handschrift (Diez A oct. 62, Bl. 13b) erklärt werden. Diez hatte in den ersten Band seiner Denkwürdigkeiten von Asien ein Kapitel unter dem Titel »Landesgebräuche« aufgenommen, in dem er zwei Inventare von Nachlässen prominenter Großwesire ausnahmsweise auch im arabischen Typendruck und deutscher Übersetzung veröffentlichte.99 Hammer vermerkte: »Herr v. Diez übersetzt Uschtur maharlari für gezäumte Kamehle, während es Kamehlhalfter heißt und Schisch für Schwert, während es Bratspieß oder Speer (S. 25) heißt.«100 Beide Wörter lassen sich leicht erklären, man muss Hammers Korrekturen beipflichten. Das Inventar in der Diez’schen Handschrift handelt nicht von 1104 orientalischen Reittieren, sondern von kostbaren Zaumzeugen für Kamele und nicht von Schwertern, sondern von versilberten Speeren (wahrscheinlich für das Cirîd-Spiel). Das gilt auch für eine Anzahl weiterer von Hammer ausgewählter Punkte. Die Rezensionen in den Literaturzeitungen enthalten ihrerseits einige Dutzende, keinesfalls aber »viele hundert Proben« von Wörtern und Sätzen, bei denen sich Hammer geirrt hatte. Auch ohne den Richtspruch eines angesehen ausländischen Orientalisten, der Name von Silvestre de Sacy wurde von Hammer vorgeschlagen, hätten sich viele Streitpunkte leicht klären lassen. Hammer seinerseits hatte in seiner Antwort auf die Diez’sche Antikritik, wie nicht anders zu erwarten, Beispiele weggelassen, in denen sein Gegner eine größere Anzahl von z. T. grotesken Fehlern Hammers triumphierend bloßlegte.101

|| 98 Ebd., S. 13. 99 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 92–105 mit auf Grund unrichtiger Übersetzungen ebenso falschen Erläuterungen. 100 ١١٠۶ ‫ﻭﺍﺷﺘﺮ ﻣﻬﺎﺭﻟﺮﻱ‬ 101 Zuletzt hat sich Caroline Finkel in einem gewichtigen Artikel, der auch am Rande die DiezKontroverse berührt, mit »Hammer’s History of Carlessness« befasst; vgl. Caroline Finkel: Joseph

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Ein Jahr nach Hammers Pamphlet meldete sich auch Thomas Chabert, gleichfalls in Hormayrs Archiv, mit einem weniger als zwei Spalten einnehmenden Artikel, in dem er schreibt, »nach vieler Überwindung« die »Schmähschrift des Herrn v. Diez« gelesen zu haben. Er beeile sich, alles, was sein Freund, Herr von Hammer, in diesen Blättern erklärt habe öffentlich zu bestätigen und zu bekennen, dass er »einen großen Antheil an den Recensionen der v. Diezischen Schriften habe und daß folglich die niedrigen Verleumdungen und pöbelhaften Grobheiten des Herrn v. Diez den Professor der orientalischen Sprachen ebenso wie den Herrn Hofdolmetsch angehen.«102 Chabert behauptet ernsthaft, Hammer habe den Verfasser »gründlich und erschöpfend widerlegt« und ihn damit »der Mühe einer weiteren Verantwortung überhoben«. Er habe unter den von Diez angeführten vielen 100 Proben ihrer groben Unwissenheit nicht eine gefunden, welche seine Irrtümer gerechtfertigt: Ich bestätige daher dieselben hier wiederhohlt, so wie alles, was ich über Herrn v. Diez Unkunde in den orientalischen Sprachen sagte, eine Unkunde, deren sich ein zwanzigjähriger Zögling unserer orientalischen Akademie schämen würde. Um allen dieses zu beweisen, berufe ich mich auf das Urtheil aller Orientalisten, welche ich ersuche, sich hiervon durch Vergleichung des Originaltextes, den ich bey allen Recensionen getreu angeführt habe, zu überzeugen.103

Chabert spielt gleichsam den Ball an die orientalistische Fachwelt, ohne auf die Angriffe im Einzelnen zu reagieren, wenn man seinen Hinweis auf die vollständig missglückte Wiedergabe eines persischen Distichons durch Diez aus dem zweiten Band der Denkwürdigkeiten am Ende seines Artikel ausnimmt. Freilich hatte auch Chabert keine hohe Meinung von Hammers Übersetzungen, was er wohl für sich behielt.104 Chaberts Schützenhilfe für Hammer erschien nach der Behandlung der Angelegenheit in einer Sitzung der Berliner Akademie, in der Hammers Ersuchen abgelehnt wurde. Katharina Mommsen hat den Vorgang nach den Akten ausführlich dargestellt.105 Mommsen hat Hammers Zurechtweisungen nicht an erster Stelle mit tatsächlichen oder vermeintlichen sprachlichen Fehlern von Diez zusammengebracht. Als Germanistin wendet sie sich dem Komplex literarischer Übersetzung zu und kontrastiert,

|| von Hammer-Purgstall’s English Translation of the First Book of Evliya Çelebi’s Seyhatnâme Book of Travels. In: Journal of the Royal Asiatic Society, Series 3, 25.1 (2015), S. 41–55. 102 Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst, Jg. 7 (1816), S. 435f. 103 Ebd., S. 435. 104 Sibylle Wentker: Diplomaten oder Gelehrte? Das Verhältnis der Absolventen der Orientalischen Akademie zum Osmanischen Reich zwischen Politik und Forschung. In: Orient & Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten. Hg. von Barbara Haider-Wilson u. Maximilian Graf. Wien 2016, S. 327–349, hier S. 341. 105 Mommsen: Goethe und Diez (s. Anm. 49), S. 11–14.

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ohne zu werten, Hammers »Eleganz und Glätte« mit der »körnig-kräftigen Prosa« von Diez.106 Mommsen betont vor allem die Urteile, die Diez über einige prominente Übersetzer der französischen Schule fällte.107 In der Einleitung zu seiner Ermahnung an Islambol hatte der Berliner Privatgelehrte die (Teil-)Übersetzung des Textes des Uveysî von Denis Dominique Cardonne (1720–1783) scharf kritisiert.108 Die Strophen des französischen Autors seien derart »verhunzt«, dass man nur hier und da einzelne Wörter des Originals durchschimmern sehe. Cardonne, der sich seit Jahrzehnten nicht mehr unter den Lebenden befand, »würde« nach Diez »freylich antworten, was von [Antoine] Galland (1646– 1715) und andern in ähnlichen Fällen schon gesagt worden, daß sich das Original im Französischen weder würde ausdrücken noch lesen lassen«.109 Das zielt wohl auf Gallands Einleitung (Avertissment) zu Les Milles et une nuit (Paris 1704): On a pris soin de conserver leurs caractères, de ne pas s’éloigner de leurs expressions et de leurs sentiments; et l’on ne s’est écarté du Texte, que quand la bienséance n’a pas permis de s’y attacher. Le Traducteur se flatte que les personnes qui entendent l’Arabe, et qui voudront prendre la peine de confronter l’original avec la copie, conviendront qu’il a fait voir les Arabes aux François, avec toute la circonspection que demandait la délicatesse de nôtre Langue et de notre tems.110

|| 106 Ebd., S. 23. 107 Ebd., S. 9: »Vermutlich um den ›Liebhaber‹ wegen dieser Übergriffe in die Schranken zu weisen, bekrittelte nun Hammer als Orientalist Diez’ Fundgruben-Beiträge.« Zu den französischen Orientalisten François Pouillon (Hg.): Dictionnaire des orientalistes de langue française. Paris 2012 und die Übersicht auf die europäische Übersetzungsliteratur aus dem Osmanischen von Edith Gülçin-Ambros: Les recherches sur la littérature ottomane dans le monde occidental. In: Osmanlı’ın izinde. Prof. Dr. Mehmet İpşirli Armağanı. Hg. von Feridun Emecen. Istanbul 2013, Bd. 1, S. 119–140. 108 Ermahnung an Islambol, oder Strafgericht des türkischen Dichters Uweïssi über die Ausartung der Osmanen. Aus dem Türkischen übersetzt. Berlin 1809. Cardonne, ein Lehrer Silvestre de Sacys, bezeichnete sich als ›Secrétaire-Interprête du Roi pour les Langues Orientales à la Marine & à la Bibliothèque de S. M. & Professeur en Langue Arabe au Collège Royale‹. Dieses Lehramt wurde 1773 in eine Professur für Persisch und Türkisch umgewandelt. Seine Übersetzungen erschienen unter dem Titel Mélanges de Littérature Orientale. Traduits de différents Manuscrits Turcs, Arabes & Persans de la Bibliothèque du Roi (Paris 1770, Mome [!] 2, hier S. 267– 270 die Satyre de Veisi-Éfendi contre les Mœurs de son siècle. Vgl. dazu jetzt Baki Tezcan: From Veysî (d. 1628) to Üveysî (fl. ca. 1630). Ottoman Advice Literature and Its Discontents. In: Reforming Early Modern Monarchies. The Castilian Arbitristas in Comparative European Perspectives. Hg. von Sina Rauschenbach u. Christian Windler. Wolfenbüttel 2016, S. 141–155, hier S. 145, Anm. 15: »Hammer-Purgstall, however, disregards Diez’ careful statement and ascribes the work to Veysî, most probably because the latter’s first name was indeed Üveys. […] Cardonne provides a French translation of the first fourteen couplets, which he presents as the whole piece …« 109 Ermahnung an Islambol (s. Anm. 108), S. 3. 110 Les Mille & une nuit. Tome 1. Contes arabes traduits en françois par M. Galland. Paris 1704, S. 5f. des unpaginierten Avertissment. Hervorhebung K.K.

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Auf diese von Galland geforderte Rücksichtname des Übersetzers auf die Regeln des guten Tons geht Diez nicht ein.111 Haben wir es mit einem Nationen und Zeiten übergreifenden, von Diez verletzten esprit de corps der hochrangigen Dolmetscher zu tun, sensiblen Persönlichkeiten, die sich nicht immer mit dem nüchternen Tagesgeschäft – Übersetzen von gleichartigen Urkunden und Aktenstücken – abfanden, sondern sich, ohne nach dem Urteil von Diez dafür gerüstet zu sein, auf die Verpflanzung orientalischer Literatur in den europäischen Blumengarten verlegten? Man darf bei aller berechtigter Kritik nicht vergessen, dass hier nicht nur Eifersüchteleien und unterschiedliche Anforderungen an literarische Übersetzungen im Spiel waren. Wenige Monate nach der Gründungsfeier für die Fundgruben hatte das französische Heer Wien bombardiert und besetzt (13. Mai 1809). Als Kriegsbeute wurden zahlreiche orientalische Handschriften nach Paris gebracht. Schon Ende 1809 reiste Hammer »als Wiener Orientalist« und Herausgeber der Fundgruben in die französische Hauptstadt, wo er sich erfolgreich um die Restituierung der ca. 200 Manuskripte bemühte. Bei seinem Aufenthalt lernte er Langlès, de Chezy, Rhasis, Quatremère und andere Orientalisten persönlich kennen.112 Die Diez‘schen Attacken auf einen verstorbenen französischen Gelehrten konnten seiner Sache in Paris nicht förderlich sein. Diez erhob in Unfug und Betrug, das zeitgleich mit dem Ende der Napoleonischen Kriege erschien, sogar den Vorwurf, Hammer schlage sich grundsätzlich auf die Seite ›der‹ Franzosen: »Franzosen liegen nicht im Kreise seines Neides. Nur für Deutsche schmilzt ihm das Fleisch vom Leibe«.113 An einer anderer Stelle schreibt er: Dies beweist, dass er seine sieben Noten nicht sobald geschrieben, als er sich damit bey seinen pariser Freunden (vermutlich Zöglingen der wiener Schule) als den Rächer des Hofdollmetschers Cardonne gegen mich geltend gemacht hat. Darum hat man ihn auch in der Jenaer Litteratur-Zeitung darüber klagen hören, dass die Franzosen [Barthélemy] Herbelot [1625–1695]114 und Galland von mir so hart gemeistert wurden. Es war noch die Zeit, wo er hoffte, mir einen tödlichen Streich zu versetzen.115

|| 111 Im Larousse wird délicatesse u. a. umschrieben mit: »Surveillance prudente que l’on exerce sur ses paroles, ses actions […] discrétion […] prudence.« Ernst-Peter Wieckenberg befasst sich an mehreren Stellen mit Gallands Milles et une nuit-Übersetzung, welche die Grundlage der Voß’schen Verdeutschung (Bremen 1781–1785) bildet. So habe sich Galland vor allem bei erotischen Stellen »überall um Mäßigung bemüht« (S. 73f.). Im Übrigen geht Wieckenberg vor allem der Frage nach, warum die deutschen Zeitgenossen mit Ausnahme Wielands diesen in Frankreich so erfolgreichen Text nicht würdigten; vgl. Ernst-Peter Wieckenberg: Johann Heinrich Voß und »Tausend und eine Nacht«. Würzburg 2002. 112 Wertvoller Hinweis von Walter Höflechner (Graz). 113 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 2), S. 166/646. 114 Ebd., S. 12f./492f. u. ö. 115 Ebd., S. 12/492.

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In Unfug und Betrug bezeichnet sich Diez als »Liebhaber«, als »ein Mann, der nicht zur Innung gehört«.116 Liebhaber zu sein, bedeutet für ihn außerhalb einer Innung zu stehen. Wenn er betont, »ich bin nicht von der Innung«,117 will er hervorheben, dass er nicht mit den hauptamtlichen Dolmetschern zusammengebracht werden wolle. Über Andreas Müller (1630–1694), der einen der ersten osmanischen Texte in arabischen Lettern druckte, schrieb er mit besonderer Hochachtung: »Er gehörte zu keiner Innung, sondern blieb Liebhaber bis an sein Ende, bloss von eigenem Eifern geleitet ohne Aufmunterung und Belohnung« 118 Joseph von Hammer-Purgstall verkörperte, wie zu Anfang gesagt, für Diez als Hofdolmetscher, Übersetzer und Orientreisender gleichsam alle drei Erscheinungsformen des anmaßenden Experten avant la lettre. Mit hauptamtlichen akademischen, an Universitäten lehrenden Orientalisten hat sich Diez hingegen nie angelegt, zumal sich so gut wie keiner unter ihnen mit osmanischen Sprach- und Literaturstudien befasste. Die Kontrahenten stimmen nur in einem Punkt überein: Sie werfen sich gegenseitig eine ganz unzureichende Kenntnis des Osmanisch-Türkischen vor. Diez brachte es an einer Stelle auf den Punkt: »Wo ich Tag sehe, findet er Nacht und so umgekehrt, bloss um durch Widerspruch den Schein zu haben, mitzusprechen.«119 Die Gegner hatten in der Tat mit Ausnahme bestimmter Karriereetappen und ihrer Liebe zur türkischen Literatur nur wenig gemeinsam.120 Sie unterschieden sich nach Herkunft, Alter, Konfession, Bildungsweg, Beruf und sozialem Umgang. Diez stand bei seiner Abberufung aus Konstantinopel im 39. Lebensjahr, der sechzehnjährige Hammer studierte damals noch an der Orientalischen Akademie. Der ältere Mann befand sich am Ende seiner Laufbahn im Staatsdienst, der Jüngling aus der Steiermark war ein erst aufsteigender Stern. Als Diez starb, hatte Hammer »die Spitze seiner dienstlichen Karriere« erreicht.121 Ab 1790 vollzog sich Diezʼ Veränderung vom Freigeist zum strengen Lutheraner. Der getaufte Katholik Hammer war in den Augen von Diez ein dem Islam zugeneigter, aber im Grunde areligiöser Mensch.

|| 116 Ebd., S. 6/486. 117 Ebd., S. 496/976. 118 Ebd., S. 24/504; Müller publizierte 1665 in Cölln [Berlin] einen türkischen Auszug von ʿAzîz-i Nasafîs persischem Werk Maḳsâd-ı aḳṣâ unter dem Titel Excerpta manuscripti cuiusdam turcici, quod de cognitione dei & hominis ipsius. Zu Müller vgl. Lothar Noack: Der Berliner Propst, Orientalist und Sinologe Andreas Müller (1630–1694). Ein bio-bibliographischer Versuch. In: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 1995, Heft 157–158, S. 1–39 (online). 119 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm 3), S. 27/507. 120 Daniel J. Roxburgh spricht von »overlapping interests and activities«; vgl. Daniel J. Roxburgh: Memorabilia of Asia: Diez’s Albums Revisited. In: The Diez Albums. Contexts and Contents. Hg. von Julia Gonnella, Friederike Weis u. Christoph Rauch. Leiden 2017, S. 52–73. 121 Sibylle Wentker: Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall. Ein Leben zwischen Orient und Okzident. In: Joseph von Hammer-Purgstall. Grenzgänger zwischen Orient und Okzident. Hg. von Hannes D. Galter u. Siegfried Haas. Graz 2008, S. 3–12, hier S. 7.

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Die intensive Beschäftigung mit dem Osmanisch-Türkischen hat die zwei Männer nicht zu einer freundschaftlichen Symbiose motiviert, sondern im Laufe der Jahre bis zum Tode von Diez den Graben zwischen beiden vertieft. Anders als im Arabischen, über das in der Person von Silvestre de Sacy eine anerkannte Autorität wachte, und das auch in den deutschsprachigen Ländern eifrig betrieben wurde, fehlte für das Türkische eine akademische Berufungsinstanz. In einem Nachruf der Jenaer Allgemeinen-Literaturzeitung, die zu seinen Lebzeiten ihre Spalten für eine Anzahl unfreundlicher Rezensionen seiner Wiener Gegner geöffnet hatte, wurde Diez ob seiner Sprachkenntnisse und »schätzbaren Beyträge zur Kenntnis vieler orientalischer Länder« zwar gebührend gewürdigt, freilich fügte der anonyme Verfasser hinzu: Zu bedauern ist jedoch, daß, als er in den letzten Jahren mit andern Gelehrten im Streit verwickelt wurde, er diesen mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit betrieb, welche das Lesen auch der wichtigsten Sachen unangenehm macht. Vorzüglich ist dieses der Fall mit dem zweyten Band der eben genannten Denkwürdigkeiten von Asien, mit welchem er mit dem Hn. v. Hammer zu Wien in einem Ton streitet, den Gelehrte, auch wenn sie das größte Recht zu haben glauben, sich nie erlauben sollten.122

Für Jakob Fallmerayer war Hammer, ausnahmsweise (fast) ohne Ironie (»unstreitig«) der »größte lebende Orientalist, nicht etwa nur in Deutschland, sondern per orbem terrarum«.123 Ohne einen von Hammers Gegner beim Namen zu nennen, schrieb er dennoch in seiner über sechs Nummern der Bayrischen GelehrtenAnzeigen fortgeführten Rezension von Hammers Gemäldesaal: Er zieht es aber vor, die Nebenbuhler mehr durch die Masse seiner Produkte als durch Sorgfalt und innere Vollendung zu überwinden; d. h. Hr. v. Hammer hat in seinem nicht intermittirienden Bücherschreibungsfieber keine Zeit, Tiefe und Reichthum seiner Gelehrsamkeit überaus vollständig und nüchtern zu benützen.124

Wenn schon ein so wohlwollender Leser wie Fallmerayer in Hammers Produktion etwas Agonisches erkannte (nämlich das Überwinden von Nebenbuhlern), versteht sich, dass unbarmherzige Kritiker wie Wilhelm Ahlwardt sich einig waren, dass das

|| 122 Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 125 (May 1817), Sp. 165–168, hier Sp. 168. 123 Gelehrte Anzeigen. Hg. von Mitgliedern der k. bayer. Akademie der Wissenschaften 195 (1. Oktober 1839), Sp. 530. 124 Ebd., Sp. 565. Zu Fallmerayer als Orientalist vgl. Klaus Kreiser: Fallmerayer. Orientalist oder Experte avant la lettre? In: Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861). Der Gelehrte und seine Aktualität im 21. Jahrhundert. Konferenz der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Kommission für Interdisziplinäre Südosteuropaforschung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (München, 6. Juni 2011). Hg. von Claudia Märtl u. Peter Schreiner. München 2013, S. 105–119.

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»rastlose Streben« der Wiener Koryphäe »nicht in die Tiefe, sondern in die Breite ging«.125 Mit einem einzigen Satz ging Eduard Abramowitsch von Adelburg (1804–1856), Absolvent der Orientalischen Akademie und ehemaliger »Erster Dollmetsch in Konstantinopel«, auf die Vorarbeit von Diez ein. Das ist verwunderlich, weil er sich gründlich mit dem Hümayûn-nâme, das er »Kaiserbuch« nennt, befasst hat und seine Arbeiten als Lehrwerke verstand, die eine so vollständige wie wohllautende Übersetzung vermitteln sollten.126 Im Grunde stand er dem Diez’schen Verfahren viel näher als der pflichtgemäß gelobten »gereimten Prosa und Verseinflechtung im Deutschen« durch Hammer-Purgstall. Kurz nach Adelburgs Arbeiten trat mit Constantin Schlottmann, der von 1851 bis 1855 als Prediger der preußischen Gesandtschaft in Konstantinopel lebte, ein Verteidiger von Diez auf. Schlottmann hatte sich während seines Türkei-Aufenthalts, der etwa so lange währte wie der von Diez, gute Kenntnisse der osmanischen Literatursprache angeeignet. In einem Artikel, den er auch als selbstständiges Pamphlet drucken ließ, polemisierte er gegen den im Vorjahr verstorbenen Wiener Orientalisten. Es hätte Hammer sicher besonders geschmerzt, wenn er erlebt hätte, dass nun ein Gegner auftrat, der von Diez eine hohe Meinung hatte. In Schlottmans Arbeit127 werden den Angriffen Hammers auf Diez mehrere Seiten gewidmet. Er schlug sich vollständig auf die Seite von Hammers Gegner, auch wenn er nicht übersah, dass dieser den »würdigen Diez« manchmal »im Einzelnen« auch bei »einem Versehen ertappt«. Alles in allem ist Diez in den Augen Schlottmanns Hammer an »Sprachkenntnis und Sorgfalt« überlegen. In einem Fall applaudiert er, als Diez einen Hammer’schen Einfall »verdientermaßen derb und gründlich ab[ge]fertigt« hatte. Unfug und Betrug sei »recht eigentlich eine litterarische Nothwehr«, seine »Polemik im Ganzen und Großen sachlich wohl begründet«.128

|| 125 Der Autor bezieht sich (man beachte den Untertitel) an keiner Stelle auf Hammers Übersetzungen aus dem Osmanischen und Persischen. Er erwähnt auch die Diez’sche Großkritik an keiner Stelle. Am Beispiel eines wenig umfangreichen arabischen Textes kommt er zu dem Schluss, dass bei Hammer »jede Zeile, jedes Wort, verkehrt« sei (Wilhelm Ahlwardt: Chalef Elahmar's Qasside. Berichtigter arabischer Text, Übersetzung und Commentar, mit Benutzung vieler handschriftlicher Quellen. Nebst Würdigung Josef von Hammer's als Arabisten. Greifswald 1859, S. 448). 126 »Herr von Diez in Berlin bearbeitete es zum Theile unter dem Titel des ›königlichen Buches‹« (Eduard von Adelburg: Auswahl türkischer Erzählungen aus dem »Humajun-namé oder Kaiserbuch« ‫ﻫﻤﺎﻳﻮﻥ ﻧﺎﻣﻪ‬von Salih sade Ali Efendi. Mit Urtext, Aussprache, deutscher Worterklärung und vollständiger Übersetzung. Ein Handbuch für angehende deutsche Orientalisten. Erstes Heft [mehr nicht erschienen]. Wien 1855, S. VII). Unter dem Titel »Die Macht der Freundschaft« hatte Adelburg schon 1854 eine Teil-Übersetzung aus dem Hümâyûn-nâme herausgebracht (Wien 1854), die keinen Hinweis auf Diez enthält. 127 Constantin Schlottmann: Joseph von Hammer-Purgstall. Zürich 1857. Als Sonderdruck aus Monatsschrift des wissenschaftlichen Vereins in Zürich 2 (1857), S. 153–225. 128 Ebd., S. 60.

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Vertreter der akademischen Orientalistik des 20. Jahrhunderts haben sich zu dem Streit mit knappen, in der Sache fast inhaltsarmen Kommentaren geäußert. Zwei Stimmen sollen genügen. Der an philologischen Fragen wenig interessierte historisch arbeitende Osmanist Franz Babinger (1881–1967)129 schrieb: Was den Federkrieg zwischen Diez und von Hammer betrifft, so versuchte ihn der Verfasser der Denkwürdigkeiten in einer fast 600 Seiten starken Abhandlung: ›Unfug und Betrug in der morgenländischen Literatur usw.‹ – (Berlin 1815) auszutragen, während der Wiener Gelehrte in den von ihm herausgegebenen ›Fundgruben des Orients ― (Mines de l'Orient)‹ tapfer seine Rechte zu wahren und zu verteidigen suchte. Schließlich trug niemand endgültigen Sieg davon, denn beide Teile mußten sich bei ruhiger Überlegung sagen, daß hüben und drüben gefehlt ward.130

Diese Darstellung ist etwas irreführend, weil Hammer und Chabert nach 1809 Rezensionszeitschriften, nicht die Fundgruben als Bühne für ihre Angriffe auf Diez benutzten. Auch kann Babingers Einschätzung, dass die Partie in einer Art Remis endete, nicht beigepflichtet werden. Und schließlich: Zu einer »ruhigen Überlegung« waren die Kontrahenten zu keinem Zeitpunkt in der Lage. Hammers Tagebücher und Korrespondenzen enthalten ausreichende Beweisstücke, dass sein Hass auf Diez bis zur Nachricht von seinem Tod lebendig blieb.131 Die auch in der deutschen Literaturgeschichte bewanderte Turkologin Barbara Flemming verurteilte in einem Vortrag über Goethe und Diez die »überhebliche Diktion« des jungen Babinger, der Diez »das gelehrte Rüstzeug« absprach, »um die Orientalistik als Fachwissenschaft zu fördern« und betonte, »wie weit Diez auf der Höhe der Zeit war«.132 In der neueren germanistischen Forschungsliteratur wurde das Thema von Andrea Polaschegg aufgegriffen. Sie sieht den Streit des »ostentativen Liebhabers« Diez mit Hammer vor dem Hintergrund eines Orientalismus, der sich um 1800 in drei »Dilettantismusoptionen« auffächerte.133 Auf Diez, der aber in diesem Zusam-

|| 129 Er soll solche ins Detail gehende Erörterungen als ›Korinthenkackerei‹ bezeichnet haben (mündliche Mitteilung). Zu Babinger zuletzt Christoph K. Neumann: A Liminal Orientalism: Turkish Studies by Franz Babinger. In: European Journal of Turkish Studies 24 (2017) (online). 130 Franz Babinger: Ein orientalistischer Berater Goethes. Heinrich Friedrich von Diez. In: GoetheJahrbuch 34 (1913), S. 84–100, hier S. 68. 131 Als Hammer die Nachricht vom Tode seines erbitterten Gegners erreichte, wurde er zum Ausruf verleitet; »Ein Feind weniger, ein Freund mehr!« (https://gams.uni-graz.at/archive/objects/ context:hp/methods/sdef:Context/get?mode=band1). 132 Barbara Flemming: Goethe und Diez im Jahr 1790. In: Turkologie für das 21. Jahrhundert. Herausforderung zwischen Tradition und Moderne. Hg. von Hendrik Fenz u. Petra Kappert. Wiesbaden 2006, S. 129–147. 133 Andrea Polaschegg: Doppelter Dilettantismus? Zur Spannung von Poetik und Philologie im deutschen Orientalismus um 1800 und ihrer trickreichen Auflösung im West-östlichen Divan. In: Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Hg. von Stefan Blechschmidt u. Andrea Heinz. Heidelberg 2007, S. 143–166.

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menhang nicht genannt wird, träfe die zweite der drei Optionen Polascheggs zu, denn seine Übersetzungen traten mit dem Anspruch auf »den morgenländischen Ausgangstext nicht – wie im 18.Jahrhundert üblich – zu germanisieren, sondern dessen sprachlichen und poetischen Eigensinn auch im Deutschen hörbar zu machen.«134 Wie Mommsen und andere sieht sie im Zentrum des Streits die Frage nach der jeweiligen Zugehörigkeit zur Gruppe der orientkundlichen Spezialisten oder der Dilettanten. In einen größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang wird die Kontroverse von der Historikerin Sabine Mangold gestellt. Sie sieht beide Personen noch als außerhalb der traditionellen Fachwissenschaft stehen, die erst mit der »Philologisierung der orientalischen Studien« nach etwa 1835 einsetze. Für Mangold antizipiert der Hammer-Diez-Konflikt den späteren so genannten Samachschari-Streit,135 in dem Hammer als (angemaßtes) »Oberhaupt des europäischen Orientalismus« von Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) angriffen wurde. Vor allem aber zieht sie eine andere, oder besser gesagt, zusätzliche Konfliktlinie als Katharina Mommsen, die Goethe folgend in dem Streit den Angriff eines Fachgelehrten (Hammer) auf den Dilettanten (Diez) erkennen will. Für Sabine Mangold waren, mit guten Argumenten, die Kontrahenten Diez und Hammer gleichsam im selben Boot. Hammer, der sich ja auch als ›Orientalist‹ bezeichnete, vermied den Titel Gelehrter, worauf Sabine Mangold nachdrücklich hinwies. Bernd W. Ulbrich fasste in einem Beitrag Mommsens Ergebnisse zutreffend zusammen: »Im Kern ging es beiden Seiten um die Frage, nach welchen Prinzipien man östliche Literatur übersetzen müsse, um sie einerseits möglichst originalgetreu, aber dem westlichen Leser möglichst verständlich darzubieten.«136 Sie waren beide ›Dilettanten‹ im eigentlichen und besten Sinne des Wortes: zwei Männer, die sich nach längeren dienstlichen Aufenthalt im Orient als ›Liebhaber‹ ohne formale universitäre Ausbildung und ohne universitäres Lehramt dem Studium der orientalischen Sprachen widmeten. Bei aller Gegensätzlichkeit muss man am Ende zugeben, dass die Feinde ein gerütteltes Maß an Gemeinsamkeiten verband. Der Streit mag abgesunken sein in die Sedimentation der Wissenschaftsgeschichte – spätere Übersetzer osmanischer Poesie und Prosa können aber daraus manche Anregung entnehmen.

|| 134 Ebd., S. 153. – Sinngemäss gilt ›germaniseren‹ auch für die von Diez so heftig angegriffenen französischen Übersetzer. 135 Sabine Mangold: Eine weltbürgerliche Wissenschaft. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 79–82. 136 Bernd W. Ulbrich: »Der so wunderliche als treffliche Mann …« Das Lebenswerk des Heinrich Friedrich von Diez. In: Mitteilungen des Vereins zur Anhaltinischen Landeskunde 11 (2002), S. 117– 139, hier S. 135.

Jaqueline Jüling

Von Sittenlehre und Tugend, Einsicht und Erfahrung Das Orientbild Heinrich Friedrich von Diezʼ und dessen Einfluss auf August Tholuck Wenn jeder lehren und Niemand mehr lernen will: so kann man nichts anders erwarten, als dass die Begriffe umgekehrt werden.1

Im 20. Jahrhundert entwickelten sich infolge der Dekolonisierungsbestrebungen einzelner Länder die Postkolonialen Studien. Nicht erst mit Edward Said, doch spätestens nach seiner Schrift wurde deutlich, dass die kolonialisierten Länder in Asien, Afrika und Südamerika nicht nur geographisch besetzt und politisch wie kulturell umstrukturiert worden waren, sondern auch in Europa parallel eine Konstruktion davon erstellt wurde, was als ›orientalisch‹ zu gelten habe, wie die Menschen im Orient auszusehen, zu denken und zu handeln haben. Diese Fremdzuschreibungen, welche sich in erotische und exotische bunte Gewänder kleideten, wurden kaum mit der Realität abgeglichen. Wo dies dennoch geschah, wurden entweder die realen Begebenheiten ignoriert oder aber versucht, diese den westlichen Vorstellungen und deren Vorherrschaft anzupassen. Es entstand ein Spannungsfeld zwischen der Vorstellung, wie sich der Orient vom Okzident zu unterscheiden habe, und dem Verlangen, den Orient dem Okzident anzupassen. Die Überlegenheitsvorstellungen des Westens wurden dabei nicht nur in der Kolonialisierung deutlich, sondern auch in der Abwertung der Kolonialisierten.2 Die europäischen Veröffentlichungen über den Orient in der Zeit der großen Kolonialisierungen machen deutlich, dass Abendland und Morgenland als zwei Gegensätze verstanden wurden. Obwohl das Morgenland als reizvoll, faszinierend und gänzlich anders beschrieben worden war, illustrierten die Europäer gleichzeitig

|| 1 Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Althertümern, Religion und Regierungsverfassung. 2 Bde. Berlin 1811–1815, hier Bd. 1, S. XXIV. 2 Siehe dazu u. a.: Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a. M. 2009, S. 14 u. S. 53; Iman Attia: Die westliche Kultur und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld 2009, S. 39–41, S. 49 u. S. 73; Ziauddin Sardar: Der fremde Orient. Geschichte eines Vorurteils. Berlin 2002, S. 7, S. 31 u. S. 48f. Es ist zu betonen, dass parallel zur Konstruktion eines Orients auch die Konstruktion eines Okzidents erfolgte. Die koloniale Auseinandersetzung mit ›dem Anderen‹ diente damit auch der Identitätsbildung Europas.

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einen rückständigen, geistig kaum entwickelten und wissenschaftsfernen Ort, der sowohl religiös als auch szientifisch des Abendlandes bedürfe, um ähnliche Entwicklungen durchmachen zu können.3 Europa ernannte sich selber zum Lehrer und entmündigte den Orient. Neben dem kolonialen Orientalismus kann man einige weitere Strömungen ausfindig machen.4 Für viele deutsche Beschäftigungen mit dem Morgenland im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert waren romantische Vorstellungen über den Orient kennzeichnend. Gegen die Rationalisierung und Säkularisierung aller Lebensbereiche blickten die Romantiker nicht nur in eine vermeintlich bessere Vergangenheit, sondern auch in einen ›besseren‹ und ›unberührteren‹ Orient.5 Eine Instrumentalisierung des Orients, eine Nutzbarmachung, um die eigenen Interessen und Gedanken zu stützen und der europäischen Welt vorzustellen, darf auch in Bezug auf den romantischen Orientalismus nicht verschwiegen werden. So war besonders der historische Orient für die Romantiker von Interesse und wurde dem modernen Okzident als Vorbild gegenübergestellt. Die völlige Andersartigkeit, die Rückständigkeit sowie die kulturelle Dependenz verloren sich bisweilen in dieser Art der Betrachtung – nun war es der (historische) Orient, der lehren sollte; sein Anderssein und die vermeintliche Rückständigkeit wurden zu Aspekten, die dem Okzident fehlten oder in seinem Streben nach Fortschritt verloren gegangen waren. Heinrich Friedrich von Diez kann als ein paradigmatischer deutscher Orientalist angesehen werden, der im Orient eine Lernfolie für den Okzident sah. Anders als jene romantischen Orientalisten, die den Blick nur auf den vergangenen Orient warfen und dessen moderne Variante verurteilten, versuchte er ein differentes Gesamtbild zu erstellen, um dem Europäer das Morgenland näher zu bringen, damit der »Orient mit seinen Bewohnern unter allen Gestalten gesehen werden [kann] wie er ist«.6 Auch wenn Diez nicht erkannte oder kritisch hinterfragte, ob es überhaupt möglich sei, ein solches Gesamtbild zu erstellen, ob es überhaupt einen einheitlichen || 3 Siehe dazu auch Reinhard Schulze: Orientalistik und Orientalismus. In: Der Islam in der Gegenwart. Hg. von Werner Ende u. Udo Steinbach. München 41996, S. 707–717, hier S. 707. 4 Die Historikerin Suzanne L. Marchand unterscheidet innerhalb des deutschen Orientalismus zwischen dem romantischen, dem theologisch-christlichen sowie dem antiklassischen, kolonialen oder auch unitaristischen Orientalismus; vgl. hierzu Suzanne L. Marchand: German Orientalism and the Decline of the West. In: Proceedings of the American Philosophical Society 145.4 (2001), S. 465– 473, hier S. 469 u. S. 471. 5 Mit der konkreten Formulierung »in den Orient zurückwandern« (Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. Stuttgart 1819, S. 345) und den zahlreichen Fluchtmotiven kann man Goethes West-östlichen Divan als eine romantische Schrift betrachten, die einen poetischen Orient vorstellt. Goethes Orient ist ein Kunstgebilde, der in dieser Form nicht bzw. nur in der Vorstellungswelt der Europäer existierte. Er machte dieses Morgenland zu einem Symbol für einen reinen und rechten Ort, der dem modernen, fortschrittlichen Abendland entgegengesetzt wurde. 6 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 133.

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Orient gab, findet sich in seinen Schriften der Versuch einer anderen Art der Darstellung, welche im Folgenden näher untersucht werden soll.

1 Von Orientalisten und Orient-Liebhabern Diez definierte einen Orientalisten als einen öffentlichen Lehrer, »welcher die biblische Litteratur mit der Kenntniss der hebräischen und arabischen Sprache vereinigt, um beyde auf hohen Schulen zu lehren«.7 Diezʼ Definition macht zweierlei deutlich: Zum einen waren die Orientstudien für ihn eng mit der Theologie verbunden; zum anderen musste jemand, der sich als Orientalist bezeichnete, an einer Universität lehren. Obwohl sich Diez so selber ledig als Orient-Liebhaber verstand, »der ohne äusseren Beruf ganz dem inneren Verlangen nach Erkenntnis«8 lebte, genoss er noch zu Lebzeiten eine große Bekanntheit und seine Schriften galten als beliebte Literatur der Orientmode.9 Diez nimmt daher – wenn auch ungewollt – die Rolle einer Symbolfigur für die Umbruchsituation der deutschen Orientalistik im 19. Jahrhundert ein, als sich diese von der Theologie zu lösen beginnt und zu einer eigenständigen akademischen Disziplin wird, und zwar der (Früh-)Orientalistik mit der Sprachwissenschaft als Grundlage. Die folgende Studie beschäftigt sich mit Diezʼ Orientdarstellung und dessen Einfluss auf einen seiner Schüler, den Orientalisten und Theologen Friedrich August Gotttreu Tholuck. Um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Darstellungen des diezschen und tholuckschen Morgenlandes verdeutlichen zu können, werden zuerst Ziel und Zweck sowie die Methodik innerhalb der Orientstudien von Diez veranschaulicht, um dann seine Darstellung der Verbindung zwischen Orient und Okzident sowie seinen Blick auf den Orient zu präsentieren. Im Anschluss daran erfolgt eine vergleichende Betrachtung der beiden Orient-›Liebhaber‹ sowie des bleibenden Einflusses Diezʼ auf Tholuck.

|| 7 Heinrich Friedrich von Diez: Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften. Halle, Berlin 1815, S. 154. 8 Ebd. 9 Sabine Mangold: Eine »weltbürgerliche Wissenschaft« – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 50f. u. S. 120.

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2 Zielsetzung und Zweck der diezschen Orientstudien Diez ging von der Prämisse aus, dass die Bibel den Menschen zum Glauben gegeben worden sei, um diesen »zeitlich und ewig glücklich«10 zu machen. Die Heilige Schrift war für ihn demnach von elementarer anthropologischer Bedeutung; die Inhalte bestünden auf der einen Seite in historischen Berichten, auf der anderen Seite jedoch auch in zeitlosen Botschaften, die dem Menschen diesseitig und jenseitig zu Glück und Heil verhelfen könnten. Dieses Verständnis der Heiligen Schrift macht bereits deutlich, dass Diez von einer christlichen Position aus in den Orient blickte. Sein Standpunkt ließ ihn jedoch keineswegs die religiösen Traditionen Asiens verwerfen, sondern ermutigte ihn vielmehr, nach einem tieferen Verständnis des Christentums zu suchen. So erklärte er, dass man in den Orient schauen müsse, um die Wahrheit der Offenbarung verstehen zu können, denn obgleich unsere Religion keiner neuen Beweise bedarf, als derer sie genug in sich selber hat: so sind wir es ihr doch schuldig, soweit unsere Mittel und Kenntnisse reichen, in Asien als in ihrer ersten Niederlassung die historischen Denkmäler aufzusuchen, welche zu ihrer Bestätigung dienen und eben so viele neue Gründe für unsere Überzeugung seyn werden.11

Diezʼ Betrachtung des Orients verfolgte demnach den Zweck, nicht nur das Alte und Neue Testament besser zu verstehen, sondern auch neue Beweise für die unbedingte, d. h. zeitlose Wahrheit seiner eigenen Religion zu finden. Dabei vertrat er die Überzeugung, dass a) das Christentum eigentlich keiner weiteren Beweise bedürfe, b) jedoch im Ursprungsland des Christentums neue Bestätigungen für dessen Wahrheitsgehalt zu finden wären, und c) dass diese Punkte zu einer Revitalisierung des Christentums in Europa führen könnten. Ein gewichtiger Hintergrund dieser Zielsetzung bestand in der von Diez konstatierten fortschreitenden Säkularisierung des nachaufklärerischen Europas im 19. Jahrhundert. Für Diez zählte dazu die Bibel-Kritik, die ein Jahrhundert zuvor begonnen hatte und die zentrale Aspekte des christlichen Dogmas, wie die Auferstehungshoffnung sowie die Wahrheit der biblischen Erzählungen, durch Historisierung infrage stellte.12

|| 10 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 32. 11 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. VIII. 12 Erst 1835 fand diese Forschung ihre Zuspitzung durch David Friedrich Strauss und dessen Werk Das Leben Jesu, in dem er das Christentum bzw. Teile von diesem als erdichteten Mythos vorstellte;

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Diez wendete sich jedoch nicht nur gegen die Säkularisierung und den Vernunftglauben,13 sondern auch gegen nicht näher benannte falsche, christliche Vorstellungen. Asien könnte in diesem Zusammenhang als Folie für die Berichtigung jener Vorstellungen dienen, da der Orient seit »vielen Jahrtausenden noch so viele Zeichen seiner ältesten Zeiten behalten hat«.14 Für Diez waren diese erhaltenen Zeichen kein Zufall, sondern Ausdruck des göttlichen Willens, um als Beweise für die Offenbarung zu fungieren: »Sicherlich sind jene Denkmäler nicht ohne Ursache von Gott Jahrtausende lang vor Untergang und Verdunklung bewahrt worden!«15 Diez sah jedoch den Zweck seiner Orientstudien nicht nur in einer Korrektur und Wiederbelebung des Christentums in Europa, sondern er meinte in den morgenländischen Sprichwörtern Inhalte und Erfahrungswerte gefunden zu haben, die für das Alltags-Leben nützlich und für die europäische Einsicht nötig wären.16 Darüber hinaus erklärte er, dass man in ihnen den »Kern der Erfahrungen des Lebens und der ganzen Lebensweisheit«17 finden könne. Die Analyse der orientalischen Religionen sowie der Sprichwörter diente ihm demnach als Weisheitsgewinn für den Europäer. So urteile Diez, dass es verfehlt sei, sich mit dem Orient zum »eitlen Spielwerk und nutzlosen Zeitvertreib«18 zu beschäftigen und damit den Gegenstand herabzusetzen. Vielmehr müsste die Betrachtung des Morgenlandes immer dem Ziel folgen, »zu den grossen Zwecken«19 zu gelangen. Die bisher angeführten Gründe der diezschen Orientstudien hinterlassen den Eindruck, als habe er den Orient lediglich für seine Zwecke instrumentalisieren wollen. Es ging Diez jedoch auch um eine Korrektur der damaligen Darstellungen des Morgenlandes. Bereits seine Bezeichnung als Orient-Liebhaber macht deutlich, dass er ein intellektuelles Verhältnis zu Asien entwickelt hatte, das von identifikatorischen Gefühlen zumindest begleitet war. Diez sah sich durch seine langjährige Tätigkeit als geheimer Legationsrat in Konstantinopel, seine Reisen durch die Länder des Orients und seinen Austausch mit den Menschen vor Ort dazu berufen, in || siehe dazu David Friedrich Strauss: Das Leben Jesu. Kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen 1835, S. 173–180 und Bd. 2. Tübingen 1836, S. 740. 13 Diezʼ Abwendung von Vernunft und Rationalität als höchsten Werten wird in seinem Werk Unfug und Betrug besonders deutlich, und zwar zum einen, wenn er dem Frühorientalisten HammerPurgstall vorwirft, er habe sich seine Vernunft zu seinem Gott gemacht (vgl. Diez: Unfug und Betrug [s. Anm. 7], S. 74); zum anderen, wenn er betont, dass Vernunft niemals ein universelles Gut sein könne, da es viele verschiedene Ansichten von deren Charakter gäbe. »Ist es denn also nicht lächerlich, dass jeder seine einzelne Vernunft zur Regel und Richtschnur für alle Millionen einzelner Vernunften machen will« (ebd., S. 31.). 14 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. V. 15 Ebd., S. VIII. 16 Vgl. ebd., S. X. 17 Ebd. 18 Ebd., S. XIX. 19 Ebd.

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Europa als »Sprecher der Morgenländer«20 zu fungieren, weil er den »Schlüssel zu ihrem Geist und Herz«21 gefunden hätte. So schrieb er, dass er darauf abgezielt habe, den Orient mit dem Okzident zum »gemeinsamen Nutzen in Verbindung«22 zu bringen. Dies müsste über die Gemeinsamkeiten und nicht nur über die Unterschiede vollzogen werden, die zwischen Abendland und Morgenland bestünden.23 Leider führte Diez nicht explizit aus, welchen Nutzen er in seiner Arbeit für den Orient zu sehen meinte. Jedoch erscheint es so, als würde er in seiner Person als ›Stellvertretung‹ für die Morgenländer und in seiner Korrektur der europäischen Darstellungen des Orients diesen Nutzen gesehen haben. So könnte man aus seinen Übersetzungen nicht nur lernen, wie man die Orientalen richtig, nämlich respektvoll, zu behandeln habe,24 sondern es könne auch als Vorbild für die deutschsprachigen Schriften zum Orient dienen, die nach Diezʼ Meinung dem Europäer dabei helfen müssten, die Morgenländer ganz und gar kennenlernen zu können.25

3 Diezʼ Methodik Diezʼ Methode besteht zunächst in einem gewissenhaften Übersetzen der morgenländischen Literatur. Dabei wendete er sich explizit gegen das Lernen der Sprachen aus Wörterbüchern oder von christlichen Lehrern an europäischen Universitäten.26 Der direkte Kontakt mit den Menschen des Orients, das Kennenlernen ihrer Art zu sprechen, zu denken und zu leben stellte für Diez den Anfang jeder richtigen und gründlichen Beschäftigung mit dem Morgenland dar. So urteilte er, dass die Orientreisenden, welche weder die Sprache des Landes zu sprechen versuchten, noch sich Zeit dafür genommen hätten Kontakte mit Moslems zu knüpfen, auch keine Sprachkenntnisse erwerben konnten.27 Diese Ansicht führt direkt zu einer Einteilung in drei verschiedene Quellenarten über den Orient. Morgenländische Autoren bezeichnete Diez als die »Autoren der ersten Klas28 se«. In deren Werken fänden sich die verschiedensten Gattungen und Themen, die sich nicht nur mit dem Orient beschäftigen, sondern auch aus dieser Kultur ent-

|| 20 Ebd., S. XVII. 21 Ebd. 22 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 14. 23 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 332. 24 Vgl. Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 320. 25 Ebd., S. 508. 26 Siehe dazu u. a. Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. IV; ebd., S. 5; Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 565. 27 Vgl. Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. XII. 28 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 508.

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stammten.29 Reiseberichte zählen zur zweiten Klasse und werden in der Regel lediglich aus finanziellen Gründen oder zum Amüsement der Europäer geschrieben.30 »Alle Reisebeschreibungen aber, wenige ausgenommen, sind mehr auf Belustigung und Unterhaltung der Leser, als auf wissenschaftlichen Nutzen angelegt und können daher zu obgedachten Zwecken keine grossen Dienste leisten.«31 Für Diez waren die Reisebeschreibungen demnach nicht von wissenschaftlicher Bedeutung und scheinen als Quellen für seine Zielsetzung nicht geeignet gewesen zu sein. Aufgrund der Vorstellung, dass der gesamte Orientdiskurs denselben Zwecken und Zielen folgen sollte, wie Diez sie anführte, verwarf er die Reisebeschreibungen für jeden Orientalisten und Orient-Liebhaber gleichermaßen und disqualifizierte nicht nur solcherart Orientliteratur als unwissenschaftlich, sondern auch jene ›Kollegen‹, die sie für ihre Forschungen verwendeten. Die dritte Klasse von ›Orientalisten‹ meinte schließlich jene, die sich mit den beiden zuvor genannten Arten beschäftigten und diese analysierten. Da sie nur einzelne Aspekte betrachteten und nicht versuchten, ein Gesamtbild zu erschaffen, wäre auch diese Klasse nach Diez zu vernachlässigen.32 Diez betonte mehrfach, dass Reisebeschreibungen, wie auch Besuche im Orient, die zu Arbeiten über diesen führen, nicht aus einem europäischen Blickwinkel durchgeführt werden sollten.33 Vielmehr müsste man neben einem richtigen Beobachtungsgeist »auch die Vorurtheile europäischer Eigenliebe abgelegt haben, welches beydes eine eben so seltene als schwere Sache ist«.34 Diez ging demnach bei seiner Methodik für die Orientstudien von mehreren Voraussetzungen aus, die vor allem die geistige Einstellung des Betrachters fokussieren. Kenntnis der Länder, Menschen und Sprachen waren für ihn wichtige Bestandteile, um sich mit dem Orient als Forschungsgrund überhaupt beschäftigen zu können. Vorurteile mussten hingegen abgebaut, europäische Eigenliebe ebenso wie europäische Normen und Vorstellungen über die Welt abgelegt werden. Diese Aspekte, die nach Diez augenscheinlich bei nur wenigen Orientalisten und OrientLiebhabern zu finden waren – er schloss sich von diesem Urteil selber aus –, sind durchaus identisch mit gewichtigen Kritikpunkten der modernen postkolonialen Theorien. Diez wies demnach bereits im frühen 19. Jahrhundert auf Unzulänglichkeiten und Ungenauigkeiten der Orientforschung hin, die zumeist durch den europäischen Blick auf das Morgenland den ›realen‹ Orient entstellten. Indes sah Diez nicht, dass die Vorstellung eines einheitlichen Orients ebenfalls einer europäischen Perspektive entsprungen war und insofern ein ›westliches Konstrukt‹ darstellte. || 29 Vgl. ebd. 30 Ebd., S. 508f. 31 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. XII. 32 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 509. 33 Vgl. ebd., S. 509. 34 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. XIII.

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Wollen wir überhaupt die Österlinge als Menschen näher kennen lernen, um unsere Menschenkenntniss zu erweitern: so müssen wir in ihren Ländern und Sprachen mit ihnen umgegangen seyn oder ihre Schriften gelesen haben.35

In diesem Zitat scheint Diez seiner zuvor verteidigten Voraussetzung zu widersprechen, dass man das Morgenland besuchen müsse, um die Orientalen wirklich kennenlernen zu können. Es wird gleichwohl deutlich, dass Diez der Quellenarbeit eine zentrale Bedeutung für jede Orientbeschäftigung zuschreibt. Indem er das richtige Lesen und Verstehen der morgenländischen Literatur als Voraussetzung verstand, grenzte er den Satz allerdings wieder ein. »Ich habe es daher immer für unmöglich gehalten, irgend eine morgenländische Schrift bloss mit Hülfe des gedruckten Wörterbuchs getreulich zu übersetzen.«36 Dem Beginn jeder Übersetzungsarbeit müsste demnach ein Besuch in dem entsprechenden Land bzw. den entsprechenden Ländern vorausgehen. Wer nur die Primärquellen benutzt, kann demnach niemals gänzlich verstehen, was in dem Text geschrieben steht. Um dies zu verdeutlichen, wählte Diez ein anschauliches Beispiel, indem er davon berichtete, wie er polnisch lernen wollte. Diez hatte sich zu diesem Zweck an einen Soldaten gewandt, der ihm für dieses Unterfangen als Lehrer empfohlen worden war. Er beschrieb, dass dieser ihm viel beigebracht, er jedoch hinzufügt habe, dass Wörter mehrere Bedeutungen hätten, die je nach Gattung des Textes variieren würden. So ergab eine poetische Quelle, die er dem Unteroffizier vorgelegt hatte, plötzlich keinen Sinn mehr, da dieser nur die Worte »gewählt hatte, welche in Sachen des gemeinen Lebens und Kriegsdienstes üblich«37 waren. Dieses Erlebnis hätte ihm verdeutlicht, dass man eine Sprache erst ganz kennengelernt haben müsse, um die verschiedenen Wörter und ihre unterschiedlichen Einsatzgebiete bei der Übersetzung berücksichtigen zu können.38 Diezʼ Anforderung an Orientalisten besteht folglich darin, dass eine angemessene Übersetzung nach mehr als einem Wörterbuch verlange. »Nur Fähigkeit, Sachkenntniss und Erfahrung können uns zur Fertigkeit und Vollkommenheit im Sprechen und Denken verhelfen.«39 Wie ist vor diesem Hintergrund seine Aussage zu verstehen, dass man die morgenländischen Schriften der Orientalen lesen müsse, um die Menschen dahinter verstehen zu können? Der Satz kann so verstanden werden, dass Diez selber ein Verfechter davon gewesen ist, dass man als Herausgeber und Übersetzer der orientalischen Schriften nicht nur die Übersetzung des Textes, sondern auch das Original zusammen mit vielfältigen Erläuterungen verlegen sollte. Jeder Herausgeber eines ›orientalischen‹

|| 35 Ebd., S. IX. 36 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 199. 37 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 20. 38 Vgl. ebd., S. 20f. 39 Ebd., S. 19.

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Werkes müsste demnach »lebendige Kenntnisse des Landes«40 haben. Ein Kennenlernen des Orients und seiner Menschen könne demnach zwar über das Lesen der Quellen stattfinden, erfolgreich könne dies aber nur sein, wenn sie durch einen Sachkundigen erläutert würden. Diez zog daraus das Fazit, dass der europäische Blick auf den Orient durch fehlerhafte Übersetzungen häufig verstelle und auf diese Weise ein verfälschtes Bild zustande käme. Darüber hinaus betonte er, dass die fehlerhaften Übersetzungen die asiatischen Verfasser entehren und den Leser betrügen würden.41 Dies verdeutlichte er an einem Beispiel, bei welchem der Übersetzer42 Raubkatzen in der Luft Geflügel jagen ließ, was dazu geführt habe, dass über die »unschuldigen und geistvollen Morgenländer«43 gelacht worden sei. Diez betonte auch in diesem Zusammenhang, dass es nicht möglich sei, die morgenländischen Sprachen direkt in das Deutsche zu übertragen. »Er [d. i. Hammer-Purgstall] kann aus dem allen noch die Lehre abnehmen, dass zum Übersetzen der Morgenländer mehr erfordert wird als gedruckte Wörterbücher, so wie zum Tanzen mehr gehört als ein Paar Schuh, es gehören auch Füsse dazu.«44 Zwar sollten wortgetreue, detaillierte und ungekürzte Übersetzungen der Leserschaft vorgelegt werden, jedoch nicht gedankenlos und ohne langjährige Sprachkenntnisse, da ansonsten die von Diez angestrebten Ziele nicht erreicht werden konnten. Es scheint, als wollte Diez die gesamte Orientforschung seiner Zeit kritisch hinterfragen und das europäische Bild vom Orient als grundlegend verfälscht darstellen. So betonte er an anderer Stelle, dass auch der so genannte ›orientalische Schwulst‹ eine europäische Erfindung wäre.45 Übersetzungen, die auf seiner Methodik und seinen Prämissen basierten, wollte Diez schließlich nutzen, um verschiedenste Quellen miteinander vergleichen zu können. Der Inhalt der Bibel könnte dabei mit Werten und Vorstellungen des Islam verglichen werden, orientalisches Gedankengut neben griechisches gestellt werden. Diez erhoffte sich hierbei augenscheinlich, dass Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen ebenso wie Verbindungen und Abhängigkeiten sichtbar gemacht würden. Zudem müsste man, damit der »Orient mit seinen Bewohnern unter allen Gestalten gesehen werden [kann] wie er ist«,46 die Verfasser aller Textgattungen vergleichen. Diesem Unterfan-

|| 40 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. IV. Siehe dazu auch ebd., S. IV, S. XX u. S. 57 sowie Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. III.; Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 320. 41 Ebd., S. 5, S. 15, S. 18 u. S. 154. An anderer Stelle benutzt Diez noch deutlichere Worte; durch fehlerhafte Übersetzungen wären die Morgenländer »verstümmelt, entstellt und entehrt« worden (ebd., S. 145). 42 Diez bezieht sich auf eine Übersetzung Hammer-Purgstalls, unterstellt solche Fehler aber nicht nur ihm, sondern der Allgemeinheit an Orientalisten und Orient-Liebhabern. 43 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 267; siehe auch ebd., S. 299. 44 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 593. 45 Vgl. Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 5f. 46 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 133.

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gen wollte er sich in seinen Bänden der Denkwürdigkeiten Asiens widmen. Augenscheinlich ging Diez davon aus, dass diese Methode dazu führen würde, ein komplexes Bild des Orients zu entwerfen. Durch diese Methode reihen sich – obwohl Diez die Religion in den Fokus stellte – in seinen zwei Bänden47 poetische und religiöse Texte an politische, geographische und wissenschaftliche Abhandlungen. Diezʼ Vorstellung lag die zeitgenössisch noch recht junge Entdeckung der Sprachfamilien zugrunde. Um orientalische Texte übersetzen zu können, reichte demnach nicht nur das Wissen über eine morgenländische Sprache, sondern es mussten die Ähnlichkeiten, Einflüsse und die Verwandtschaften der verschiedenen Worte aus den verwandten Sprachen bekannt sein, damit ein Text übertragen und verstanden werden konnte.48 Die ›diezsche Methode‹ war damit interdisziplinär, wenngleich sie auf der Sprachwissenschaft fußte und diese zum wichtigsten Bestandteil seiner Orientstudien machte. Indem Diez betonte, dass er mit seinen Bänden »die Nationen selbst reden lassen«49 wollte, da man an »deren eigene[n] Worte[n] […] keinen Zweifel«50 haben sollte und seine Übersetzungen mit Erläuterungen versah, befand er sich gleichwohl in einem Dilemma.

4 Orient und Okzident Der Orient wurde von Diez als ›Wiege der Menschheit‹ im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen vorgestellt, wodurch eine Verbindung zwischen Orient und Okzident über gemeinsame Wurzeln imaginiert wurde. Diese Familienlinie konstituierte Diez vor allem über das Judentum, wobei er den Islam als einen weiteren Familienzweig anerkannte. Die drei abrahamitischen Religionen wurden auf diese Weise zueinander in Beziehung gesetzt. Ihre Korrelation beschränkt sich nicht nur auf die Vergangenheit, die als Ausgangspunkt den Bund mit dem biblischen Gott stiftet. Vielmehr beschrieb er eine enge überzeitliche Verwobenheit und Verflechtung des Orients mit dem Okzident. So erklärte er, dass die Araber bereits zwei Mal großen Einfluss auf Europa genommen hätten: Die erste Einflussnahme, die Diez aufführte, nimmt die Werke des Aristoteles, Ptolemäus und Euklid (von Megara) in den Blick. Diez beschrieb, dass diese erst durch die arabischen Übersetzungen, die selbst wiederum ins Hebräische

|| 47 An einer Stelle klingt es so, als wären ursprünglich mehr als zwei Bände geplant gewesen (siehe dazu Diez: Denkwürdigkeiten [s. Anm. 1], Bd. 1, S. XX). Hier betonte Diez, dass alle folgenden Bände demselben Plan folgen würden, nämlich u. a. das Sprachstudium zu erleichtern. 48 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 108. 49 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 95. 50 Ebd.

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übertragen worden seien, in Europa bekannt wurden. Die zweite Einflussnahme wäre durch arabische Ärzte geschehen, die vom 12. bis zum 17. Jahrhundert mit ihrem ›asiatischen Heilwissen‹ den Europäern geholfen hätten. Asien habe dabei über einen langen Zeitraum eine Faszination auf Europa ausgeübt – hier verwies er auf Berichte über den Orient seit dem siebten Jahrhundert nach Christus.51 Es wird also deutlich, dass Diez davon ausging, dass ein reger, wechselseitiger Austausch zwischen Orient und Okzident permanent bestanden habe. Dem Orient wurde durch diese Schilderung zugeschrieben, neben medizinischen Kenntnissen auch philosophische Weisheit nach Europa transportiert zu haben. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, als habe lange Zeit eine Abhängigkeit des Okzidents vom Orient bestanden, wobei diese entweder verloren gegangen oder schlichtweg nicht mehr sichtbar sei. Letztes beinhaltet den Gedanken, dass als europäisch geltende Werte, Gedanken und auch Bräuche ihren Ursprung in Asien haben könnten, jedoch inzwischen als abendländisch vereinnahmt worden seien. Auch die Vorstellung von Sprachfamilien, mehr noch einer tiefen Verwandtschaft des menschlichen Geistes findet sich bei Diez. Er führte dafür eine gewisse Ähnlichkeit zwischen arabischen und deutschen Sprichwörtern an und sah darin den Beweis, dass »der menschliche Geist in allen Sprachen der Welt im Ganzen immer denselben Gang«52 gehen würde. Diez zeichnete damit das Bild einer Menschheitsfamilie, die sich im Inneren ähnlicher sieht, als es nach Außen erscheint, die die gleichen Wege geht und den gleichen Spuren folgt, sich dieser Einheit jedoch durch die Fokussierung auf die Unterschiede und die Hervorhebung der eigenen Identität nicht bewusst ist. Offen bleibt jedoch, ob diesem Gedanken bei Diez ein evolutionäres Verständnis der Menschheitsgeschichte zugrunde lag, nach dem einige Menschen als weiterentwickelt verstanden und dargestellt werden könnten als andere. Innerhalb von Diezʼ Asienschriften entsteht jedoch der Eindruck, als seien die Westerlinge53 eher fortgeschrittene als fortschrittlichere Menschen. Pointierte Perspektiven auf Unterschiede zwischen Orient und Okzident, wie die Betonung von Erotik und Sinnesfreuden, die in morgenländischen Erzählungen wie »Tausendundeine Nacht« ihre Vollendung fänden, kritisierte Diez scharf, indem er betonte, dass die menschlichen Begierden überall gleich wären und sich lediglich in andere Gewänder kleideten.54 Mehr noch asserierte Diez, dass die orientalischen Literaten mit Symbolik und Wortspielen arbeiteten, bei denen nur »unreine Herzen […] auf unreine Gedanken verfallen«55 könnten. || 51 Vgl. ebd., S. X–XII. 52 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 40f. 53 Diez benutzte zeitweise die Bezeichnungen ›Österling‹ und ›Westerling‹, um Asiaten und Europäer zu benennen (siehe dazu u. a.: Diez: Denkwürdigkeiten [s. Anm. 1], Bd. 2, S. 6; Diez: Unfug und Betrug [s. Anm. 7], S. 144 u. S. 465). 54 Vgl. ebd., S. 136. siehe dazu auch Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 95. 55 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 137.

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Durch diese Anmerkung unterstellte Diez den europäischen Orientalisten und Orient-Liebhabern, dass sie Erotik in den Vordergrund gestellt und dort, wo sie diese nicht vorgefunden hätten, hineininterpretiert hätten. Seine bereits erwähnte Kritik an der ungenauen Übersetzungsarbeit findet hier abermals einen Bezugspunkt und macht damit deutlich, dass für Diez die Unterschiede zwischen Orient und Okzident, die in der damaligen Orientliteratur gezeichnet wurden,56 in der Regel auf die Wünsche und Vorurteile der Übersetzer zurückzuführen seien. Obwohl Orient und Okzident nach Diez zwar ›verwandt‹ wären – sei es über die Religion, philosophische Gedanken oder die Geschichte –, unterscheiden sie sich in einigen Aspekten grundlegend. So beschrieb er, dass der Orient in den Künsten, Wissenschaften, Sitten und Gebräuchen, in den verschiedenen Einrichtungen und Verfassungen eine eigene, von der europäischen zu unterscheidende Form aufwiese.57 Diese Unterschiede sah Diez zum Beispiel in den Ansprüchen, die Europäer und Asiaten an Literatur stellten. So hätten gelehrte Europäer viel Wert auf Genauigkeit, Kritik und korrekte Literaturangaben gelegt, während es ›den Orientalen‹ um die Betonung des Inhalts gegangen sei.58 Nur aufgrund des unterschiedlichen Umgangs mit den Quellen wäre die morgenländische Literatur für die Europäer »eine Art Wildnis ohne Weg und Steg«.59 Diez machte durch diese Erläuterung deutlich, dass es schon durch die Verschiedenheit im Schreiben und Wiedergeben von Erzählungen, in der Aufbewahrung und Darstellung von Texten zu Verständnisproblemen zwischen Okzident und Orient kommen könnte. Auch hier bestand Diezʼ Ansatz darin, eine reflektierte, die Problematik in der unterschiedlichen Quellenarbeit berücksichtigende Haltung einzunehmen. Diez pointierte daher, dass der Schlüssel zum Verständnis anderer Völker in einem ›Willen zum Verstehen‹ läge.60 Dabei ist bedeutend, dass Diez augenscheinlich nicht nur Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Orient und Okzident zu sehen meinte, sondern auch zwischen allen Nationen der Welt. Zwar verallgemeinerte er Asien sowie Europa zu einheitlichen Konstrukten, welche einander gegenübergestellt werden könnten, erkannte schließlich aber, dass auch innerhalb dieser ›Räume‹ Unterschiede bestünden. Diese Unterschiede bezeichnete er als ›Besonderheiten‹. Weiter beschrieb Diez, dass es neben diesen oder auch innerhalb dieser Besonderheiten Vorzüge

|| 56 Als typische Gegensätze können Charakteristika für den Okzident angeführt werden, die diesen als stark, wissenschaftlich, weise und aufgeklärt und den Orient als schwach, unwissenschaftlich, dafür aber emotional und verträumt sowie als Ort der körperlichen Gelüste darstellen; siehe dazu u. a. Said: Orientalismus (s. Anm. 2), S. 53. 57 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. IX. 58 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 144 u. S. 221. 59 Ebd., S. 221. 60 Vgl. ebd., S. 547.

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gebe, die sie über andere Nationen hinausgehoben hätten – im Orient sah er diesen Vorzug in der Kunst.61 Damit geht einher, dass jedes Volk, jede Kultur, jedes Land Wissen hervorbringt, von dem andere Kulturen lernen und profitieren können: »Ich bin überhaupt der Meynung, dass man jedes Volk mit seinen Gesinnungen und Kenntnissen nehmen müsse, wie es ist, und ich gestehe, noch von keinem unbelehrt zurückgekommen zu sein.«62 Der Wunsch nach Erkenntnisgewinn, den Diez in der Beschäftigung mit anderen Nationen und speziell dem Orient zu finden suchte, zieht sich durch seine Schriften. Das gilt aber auch für die Kritik an seinen Landsleuten, die sich nicht diesem Ziel verschrieben hätten und die mit der Vorstellung, dass Europa das zivilisatorische Idealbild darstellte, nach dem sich alles zu richten hätte, nach Asien reisten oder auch nur blickten. »So pflegt der Europäer im Orient alles falsch zu beurtheilen, weil er nur sich selbst und seine Landesbräuche zum Maasstabe mitbringt.«63 Solcherart Fehlurteile fand Diez in vielen Teilen des Orientalismus, die den Orient mit einem Mangel an Kultur, Humanität und Liberalität zeichneten und führte solche Vorurteile auf die Begegnung des Abendländers mit der morgenländischen, nicht seinen Vorstellungen über den Orient oder seiner eigenen Lebenswelt übereinstimmenden Sitten und Gebräuchen zurück.64 Diez beschrieb hier das Spannungsfeld zwischen Imagination und Realität sowie die Reaktion des Westens, wenn beides nicht zusammenzupassen schien. Die realen Länder und Menschen, welche zum Konstrukt ›Orient‹ benutzt worden waren, würden in ihrer Eigenständigkeit durch Europa rigoros verleugnet. Diez erkannte bereits einen der Vorwürfe des postkolonialen Diskurses – die Konstruktion und Beurteilung des Fremden oder auch des Anderen nach europäisch-christlichen Maßstäben. Doch kann man auch Diez selbst nicht gänzlich von dem Vorwurf eines kolonialen Blickes freisprechen. Als Beispiel kann eine Passage aus seinem Werk Unfug und Betrug angeführt werden, in der er eine Dichtung über Sultan Selim I. erläutert. Der Poet habe nämlich erklärt, dass sein Gemüt wie eine reine Tafel – frei von Leidenschaften aller Art – gewesen sei, damit Raum für die Liebe Gottes gelassen werden könne.65 Diez ließ die Übersetzung nicht unkommentiert, sondern führte an: »Der Christ weiss freylich, dass diese Versicherung auf die Werkgerechtigkeit hinauslaufe, welche nach unserer Religion unzulässig und unmöglich ist.« An dieser Stelle sprach kein wertfreier Mensch, der das Fremde nicht nach europäisch-christlichen Maßstäben beurteilten, sondern es wird deutlich, dass Diez sehr wohl mit einem

|| 61 Vgl. ebd. 62 Ebd. 63 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 93. 64 Vgl. ebd., S. 92f. 65 Vgl. Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 459.

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wertenden Blick auf den Orient schaute. Diez verstrickte sich demnach selbst in die Fallstricke seiner Methodik. Der Maßstab ist an dieser Stelle eindeutig ein christlicher, der den Protestantismus als höchste Wahrheit voraussetzt. Widersprachen morgenländische Aussagen den protestantischen Lehren, handelte es sich für Diez um Irrtümer. Zwar wendete er ein, dass diese Korrektur nicht in sein Werk gehörte, da es ihm darauf angekommen sei, die Morgenländer in allen Gesinnungen und Grundsätzen getreu darzustellen,66 dennoch betonte er, dass es falsche Glaubenssätze wären. Die Sicht auf die von Diez hergestellte Beziehung zwischen Orient und Okzident verändert sich durch diese Einschätzung grundlegend. Es ist der Protestantismus, welcher die höchste Autorität innehat. Der Okzident als dessen ›Geburtsort‹ wird damit über den Orient erhoben, mit dem sich Letzterer immer messen müsse. Nun kann man diese Äußerung auch vor dem Horizont der unterschiedlichen Güter und Vorzüge der verschiedenen Nationen betrachten. Der Protestantismus würde so als eine Besonderheit, vornehmlich des nordischen Europas stehen und als solche eine Lehrfunktion erhalten, die gleichermaßen zu Erkenntnis führen könnte, wie die Künste des Orients. Durch diesen Verweis wird Diezʼ Deutung des überlegen erscheinenden Okzidents abgemildert, doch bleibt der Eindruck bestehen, als sei das protestantische Christentum die Spitze aller ›Besonderheiten‹.

5 Diezʼ Blick auf den Orient Wie zuvor dargestellt, dachte Diez aus einer christlichen Perspektive heraus, die den Protestantismus ins Zentrum seiner Weltanschauung stellte. Das gesamte Bibelwissen war für ihn historisch genaues Wissen, das sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament vorzufinden sei. Sprach er von der ›Alten Welt‹, dann meinte er damit die Erde vor der Sintflut, während die ›Neue Welt‹ die gesamte Zeitspanne nach dieser umfasste.67 Sein Blick auf den Orient wurde von diesem Fokus getragen – in ihm sah Diez das Stammland der Menschheit, den Ursprung aller Dinge begründet.68 Der Orient wurde damit zu einem biblischen Raum, der direkt mit den Schöpfungsberichten im Alten Testament, der Beziehung Gottes zu und seinem Bund mit seiner Schöpfung in Verbindung gesetzt wurde. Nach Diez hatte Jesus die alten Vorstellungen zwar vervollkommnet, doch ging er davon aus, dass das Alte Testament damit nicht ersetzt worden sei.69 Diez wandte sich damit von einer gängigen christlichen Vorstellung ab, die die Meinung vertrat, || 66 Vgl. ebd. 67 Siehe dazu Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 260f. 68 Ebd., S. IV. 69 Vgl. ebd., S. Vf.

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dass das Judentum im Christentum aufgehen müsse, da es – ebenso wie die hebräischen Schriften – nach dem Erscheinen Jesu überflüssig geworden sei.70 Diez machte dabei zweierlei deutlich: Für ihn war das Entscheidende am Christentum, dass es den Exklusivanspruch auf einen Bund Gottes mit einem ausgewählten Volk zu einer Erlösungsbotschaft für alle Menschen auf der Welt erweitert hätte.71 Das Wissen, welches das Christentum enthält und für sich beansprucht, die verschiedenen Theologien und Dogmen durften jedoch weder unhinterfragt belassen noch gänzlich verworfen werden. Vielmehr sollte Asien als Folie für die Berichtigung christlicher sowie säkularer Vorstellungen genutzt werden, da sich dort die ›ursprünglichen‹ Kenntnisse von Gott und Religion, von Welt und Sittenlehre finden lassen können.72 Diez ging demnach davon aus, dass das Christentum seine kulturellen Wurzeln im Orient hatte und diese nicht verleugnen dürfe, sondern sich vielmehr diesen als Korrekturwerkzeug zuwenden müsse. Das reine Bibelstudium reichte Diez dafür augenscheinlich nicht aus, da er auch in diesem Zusammenhang dem Gedanken folgte, dass die Länder und Menschen des Orients, ihre Sitten und Lebensformen persönlich kennengelernt werden müssten. Diez ging jedoch noch einen Schritt weiter, indem er zum einen davon ausging, dass durch den biblischen Noah Wissen aus der und über die alte Welt in die neue getragen worden sei.73 Zum anderen meinte er, dass Bauwerke wie die Pyramiden, welche er den Nachkommen des Geschlechtes von Kain anrechnete, noch aus der ältesten Zeit direkt nach der Sintflut stammten.74 Das Wissen über die alte Welt und über die Anfänge der neuen Welt sah Diez damit ebenfalls im Orient verursacht. Man kann daraus schließen, dass Asien für ihn einen Hort des Wissens über die Wurzeln der bekannten Welt, der Schöpfung und schließlich des Christentums darstellte. So resümierte Diez, dass die Menschen in Asien nicht nur die Geschichten von längst vergangenen Zeiten über die Jahrhunderte und Jahrtausende aufbewahrten, »sondern […] auch so wenig ihre Sitten, Gebräuche und Denkarten verändert [haben], dass man noch immer dieselben Leute vor sich zu sehen glaubt, von denen Moses und die Propheten geredet haben, gleichsam als ob [diese] nach Gottes Fügung zum Wahrzeichen für die Bewohner anderer Weltheile fortdauern« sollen.75 Dieser Satz verdeutlicht, dass er von Gottes direktem Wirken in der Existenz der – für den Europäer fremd erscheinenden – Menschen und Kulturen ausging. Mehr noch beschrieb er, dass es der Wille Gottes sei, dass sich die Welt diese Sitten, Denkarten und Gebräuche anschaue, als ließen sich göttliche Zeichen und Hinweise || 70 Siehe dazu auch Heinrich Friedrich Diez: Über Juden. An Herrn Kriegsrat Dohm in Berlin. Breslau, Leipzig 1783. 71 Vgl. Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. V. 72 Ebd., S. IVf. 73 Vgl. ebd., S. 207. 74 Vgl. ebd., S. VI. 75 Ebd.

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auf die rechten Lebens- und Glaubensformen im Orient finden. Impliziert ist in dieser Beschreibung zudem eine Abwendung von Bemühungen, alles Andersartige den europäischen Maßstäben und Grundwerten anpassen zu wollen. Indem die Existenz des Orients, wie Diez ihn vorzufinden meinte, als gottgewollt vorgestellt wurde, durfte er nicht durch Menschenhand verändert und ihm eine neue Gestalt aufgezwungen werden. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Diez kritisch anmerkte, dass das orientalische Desinteresse an den verschiedenen Ländern Europas dazu führen könnte, dass sich eine »gänzliche Sinnesänderung über unsere vermeynte Wichtigkeit«76 vollzieht. Die Betonung einer vermeintlichen Bedeutsamkeit Europas macht deutlich, dass Diez zwar ›seinen‹ Orient beobachtete, um den Protestantismus zu legitimieren und zu stärken, den asiatischen Raum jedoch keine geringere Bedeutung als dem Okzident zusprach. Ganz im Gegenteil erklärte er, dass der Orient jener Ort sei, »wo zu allen Zeiten die sinnreichsten Völker gewohnt haben«.77 Diez ging damit über den Aspekt der Religion hinaus und sah im Orient einen Schatz an Lehrsätzen, die einem Interessierten »Sittenlehre und Tugend, Einsicht und Erfahrung«78 näherbringen konnten. Diezʼ Orient enthielt demnach nicht nur eine ›lebendige Erinnerung‹ an die ältesten Zeiten der Menschheitsgeschichte, eine Korrekturmöglichkeit und Lernfolie für den Okzident, sondern wurde auch als ein ›geistiger Raum‹ vorgestellt, dem Religiosität genauso wie die Wissenschaften bekannt waren. Der ehemalige preußische Gesandte entfernte sich damit von europäischen Konstruktionen eines rückständigen Orients und entwarf die Skizze eines beständigen, frommen, aber auch weisen Ortes. Der Islam gehörte für Diez dabei substanziell zum Orient, wobei er die Verbindungen zu Judentum und Christentum nicht leugnete, sondern sie gar mehrfach betonte.79 Neben den biblischen Gegenden verortete er China, Chatai, Moghul und Dschakatai in den Orient,80 während er Griechenland – im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen – nicht dazu zählte.81 Auch jene Osmanen, die Teile Europas

|| 76 Ebd., S. VII. 77 Ebd., S. IX. 78 Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 156. 79 Siehe dazu Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. IXf. u. S. XXII; Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 27. 80 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 386. Leider wird nicht deutlich, was Diez genau unter ›Chatai‹ verstand. So kann er mit dem Begriff auf den Kaukasus und die (bekannten) Rituale am Fluss Chati verwiesen haben, aber auch abermals auf China, denn zeitgenössische und ältere Literatur verwendeten diesen Terminus auch synonym für China. ›Dschakatai‹ bezog sich vermutlich auf das Reich des Mongolen Tschagatai, welches in Zentralasien anzusiedeln war. 81 Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 71.

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bewohnten, blieben für Diez Asiaten.82 Das macht deutlich, dass der Berliner Orintalist den Orient zwar geographisch in Asien verortete, das Charakteristikum ›orientalisch‹ jedoch an anderen Aspekten festmachte – nämlich an einer bestimmten Art zu leben und zu denken. Typisch orientalisch wären neben Gottesfurcht, guten Sitten und Lebensregeln,83 die im Orient auch »als Kern aller wahren Wissenschaft betrachtet«84 worden seien, eine spezifische Moralität. So betonte Diez, dass eine philosophische Ethik zwar in der griechischen Philosophie zu finden wäre, diese jedoch eigentlich aus Asien stammte.85 Demzufolge wurde nach Diez die griechische Philosophie durch orientalisches, vornehmlich jüdisches Gedankengut beeinflusst. Er zog damit zwar eine Parallele zwischen dem Orient und Griechenland, zählte letzteres jedoch nicht zum Morgenland. Den diezschen Orient zeichneten damit bedeutende und einflussreiche philosophische und theologische Lehren aus. Dieses spezielle Morgenland war poetisch und malerisch und vor allem waren alle Lebensbereiche von einer weitreichenden Religiosität durchzogen.86 Dabei schien Diez dem Wissen, welches in Asien gefunden werden konnte, eine überzeitliche Bedeutung zuzusprechen. Zudem sah Diez in diesem Wissen augenscheinlich das Potenzial, die christliche Frömmigkeit auch im Okzident wiederzubeleben und damit dem rationalistischen Zeitgeist Europas etwas Gewichtiges entgegensetzen zu können.

6 Diez und sein Schüler Tholuck Auf den Namen August Tholuck stößt man in der Regel immer dann, wenn man sich mit der Geschichte der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle oder dem Briefwechsel zwischen Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth beschäftigt. In Halle war Tholuck an der Theologischen Fakultät als Professor für Kirchengeschichte, Bibelexegese, Dogmatik und christliche Sittenlehre tätig und wurde später zu deren Dekan ernannt. Als Vertreter der Erweckungsbewegung gehörte Tholuck anfangs zu einer Minderheit im rationalistisch geprägten theologischen Institut. Seine Beliebtheit bei den Studenten und sein Interesse daran, Themen der Gnade und Versöhnung in den Mittelpunkt der Theologie zu stellen, ließen seinen Einfluss innerhalb der Universi-

|| 82 Ebd., S. XXIIIf. 83 Ebd., S. 5. 84 Ebd. 85 Vgl. Diez: Unfug und Betrug (s. Anm. 7), S. 62. Diez schrieb an anderer Stelle sogar, dass die Morgenländer »zu allen Zeiten sittlicher und ehrbarer [...] als die alten Griechen« (ebd., S. 61) gewesen seien. 86 Siehe dazu auch ebd., S. 191 u. S. 348.

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tät wachsen, machten ihm aber auch Feinde.87 Vor allem seine Tätigkeit als Seelsorger und sein Charisma als Prediger sorgten dafür, dass noch ein Jahrhundert später bei Karl Barth Tholucks Name und dessen Satz »Wie steht es um dein Herz«88 nicht in Vergessenheit geraten waren. Dass Tholuck als neopietistischer Theologe, als Kämpfer gegen den Rationalismus innerhalb der Theologie und ›Studentenvater von Halle‹ in die Geschichte eingehen sollte, ahnte der junge August sicherlich noch nicht, als er Anfang 1817 an die Tür von Heinrich Friedrich von Diez klopfte. Wenn Tholuck später von diesem Moment erzählte, soll er ihn als den ›providentiellen Wendepunkt‹ seines Lebens bezeichnet haben.89 Erst 1816 hatte Tholuck sich in Breslau zum Philologie-Studium immatrikuliert und dieses noch im selben Jahr abgeschlossen. Seine Leidenschaft für die Sprachen der Welt und die orientalischen insbesondere begleiteten ihn durch seine gesamte Jugend.90 Die überlieferten Tagebuchaufzeichnungen des jungen Tholuck zeugen davon, dass er bereits mit 16 Jahren mehr als ein Dutzend Sprachen beherrschte. Darunter fanden sich neben den biblischen Sprachen auch das Arabische und Bengalische sowie einige moderne Fremdsprachen.91 Um die erworbenen Sprachkenntnisse – vor allem sein Arabisch – zu verbessern, entschloss er sich für das Studiem der Philologie an der Universität in Breslau. Obwohl es eine gängige Praxis darstellte, Orientstudien im Rahmen der Theologie zu betreiben, entschied sich Tholuck gegen diesen Weg. Der evangelische Theologe Gunther Wenz erklärt, dass dies daran gelegen habe, dass Tholuck keine religiöse Beziehung zum Christentum, sondern vielmehr eine »spätromantische Liebe zur weltflüchtigen Mystik des Morgenlandes«92 entwickelt habe. Betrachtet man jedoch die entsprechenden Zeitabschnitte

|| 87 Siehe dazu auch Jan Brademann: Tholuck als Professor. In: Tholuck, der lebendige und fromme Christ. Zum 200. Geburtstag von Friedrich August Gotttreu Tholuck (1799–1877). Hg. von Michael Lehmann. Halle 1999, S. 29–32; Janet Künzel: Tholuck als Prediger und Studentenseelsorger. In: ebd., S. 43f. 88 Eberhard Busch: »Wie steht es mit deinem Herzen?« Über das Verhältnis Karl Barths zu August Tholuck. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 27 (2001), S. 200–214. 89 Leopold Witte: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholucks. 1799–1826. Bd. 1. Bielefeld, Leipzig 1884. 90 Michael Fiedler: Kindheit und Jugend. In: Tholuck, der lebendige und fromme Christ. Zum 200. Geburtstag von Friedrich August Gotttreu Tholuck (1799–1877). Hg. von Michael Lehmann. Halle 1999, S. 11. 91 Peter Maser: Orientalische Mystik und evangelische Erweckungsbewegung. Eine biographische Studie zu Briefen von und an F. A. G. Tholuck. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 33 (1981), S. 221–249, hier S. 222f. 92 Gunther Wenz: »Gehe Du in Dich, mein Guido«. August Tholuck als Theologe der Erweckungsbewegung. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 27 (2001), S. 68–80, hier S. 72.

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in der Tholuck-Biographie von Leopold Witte, dann wird deutlich, dass bereits vor der Bekanntschaft mit Diez ein zumindest marginales Interesse am Christentum vorhanden gewesen war: So fanden sich im tholuckschen Nachlass Aufzeichnungen, die von einer inoffiziellen Teilnahme an theologischen Vorlesungen zu berichten wissen. Tholuck besuchte demnach neben einer Einführung in das Alte und Neue Testament auch eine Einleitung in die Dogmatik.93 Den ersten indirekten Kontakt mit Diez hatte Tholuck durch eines der Werke von Diez, welches er im Zusammenhang mit seinen privaten Orientstudien gelesen hatte. Dabei soll Tholuck nicht nur von Diezʼ Art zu schreiben und dem vermittelten Wissen über den Orient begeistert gewesen sein, sondern vor allem über die Art und Weise, wie Diez von Religion zu sprechen wusste. Witte hielt in seiner Biographie fest, dass diese Diez-Lektüre Tholuck dazu verleitet habe, die Bibel wieder zu lesen und mit jenen Dozenten, die er zuvor wegen ihres theologischen Schwerpunkts belächelt hatte, ins Gespräch zu kommen.94 Zudem veranlasste ihn diese positive Lektüreerfahrung dazu, auch weitere diezsche Werke zu lesen. Nach dem Studium befand sich Tholuck, der als Sohn eines Goldschmiedes und eines von zehn Kindern über wenig finanzielle Mittel verfügte, vor der Frage, wohin ihn sein beruflicher Weg führen solle. Als ihm schließlich ein Kaufmann vorschlug, ihn mit nach Berlin zu nehmen, keimte in Tholuck die Hoffnung, Diez möge ihn aus seinem ›Ägypten‹ befreien.95 Seinen Tagebucheintragungen zufolge wandte Tholuck sich an Gott, um von diesem eine Entscheidungshilfe zu erhalten: Da erwachte ein Trieb zum Gebete; ich betete eine Stunde hintereinander, der himmlische Vater möchte mir doch Gewißheit geben, ob mir Diez alles werden würde, das ich brauchte. Es schien mir endlich, als sagte Gott: Amen. Ich war mir gewiß, Diez würde mich bei sich behalten.96

Tholuck sollte Recht behalten: Nach seiner Ankunft in Berlin sprach er bei dem zu diesem Zeitpunkt bereits schwer kranken Diez vor und wurde als dessen Assistent aufgenommen.97 In der Folgezeit arbeitete Tholuck zusammen mit Diez an verschiedenen Projekten, vor allem aber an der türkischen Übersetzung der Bibel, die un-

|| 93 Witte: Tholuck (s. Anm. 89) Bd. 1, S. 51. 94 Ebd., S. 53f. 95 Vgl. ebd., S. 58. 96 Tagebucheintrag von August Tholuck, zitiert nach ebd., S. 58. 97 Siehe dazu näheres bei ebd., S. 58–60; Hans Rosenberg: Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7/1 (1929), S. 560–586, hier S. 567; Maren Klingler u. Ina Pufahl: Studium und Erweckung. In: Tholuck, der lebendige und fromme Christ. Zum 200. Geburtstag von Friedrich August Gotttreu Tholuck (1799–1877). Hg. von Michael Lehmann. Halle 1999, S. 21–23, hier S. 21.

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vollendet bleiben sollte. Diez förderte Tholucks Sprachstudien und ermutigte ihn zu einem Theologiestudium; zudem brachte er ihn mit vielen namenhaften Personen in Kontakt – so mit dem Baron Hans Ernst von Kottwitz – und führte ihn damit zur Erweckungsbewegung Berlins.98 Ein Brief Tholucks vom März 1817 beweist, dass ihn mit Diez mehr als eine Schüler-Lehrer-Beziehung verband. In diesem Schreiben bezeichnet Tholuck Diez nicht nur als »den würdigsten Jünger Jesu Christi«, sondern auch als seinen »frommen Zweitvater«.99 Diez wurde zu Tholucks Mentor, seinem geistigen Vater, der ihm in Kürze vieles näherbrachte, durch dessen Beitrag er aber vor allem, nach damaligem Verständnis, zum Christen erweckt worden war. Am 7. April 1817, an einem Ostermontag, verstarb Diez im Beisein von Tholuck, der die darauffolgenden Nächte die Leichenwache für ihn gehalten haben soll.100 Obwohl die Zusammenarbeit und das Zusammenleben der Zwei nicht lange währten, war Tholuck zu »diesem Manne […] in die denkbar nächste Beziehung« 101 getreten. Diezʼ Einfluss auf Tholuck sollte jedoch weit über seinen Tod hinaus anhalten und sich in dessen späteren Schriften und seinem folgenden Wirken widerspiegeln.

7 Diezʼ Einfluss auf Tholuck Der Aufenthalt bei Diez weitete Tholucks Horizont und eröffneten ihm eine neue Welt. Vor allem aber war es der tiefe Respekt vor dem Heiligen, die rückhaltlose Beugung vor der einfachen Bibelwahrheit und der feste, schlichte Christusglaube, was dem jungen Kritiker und blasierten Orientschwärmer an Diez am mächtigsten imponierte.102

Diese Worte des Tholuck-Biographen Witte machen deutlich, dass nicht nur die Orientstudien des jungen Tholucks durch Diez beeinflusst worden waren, sondern vor allem sein Verständnis vom und sein Verhältnis zum Christentum. In Diez fand er nämlich einen Lehrer, der ihm dabei half, einen weltanschaulichen Grund zu finden, auf dem er zu stehen vermochte. Dieser Boden sollte der christliche Glaube werden, der sich bei Tholuck durch eine pietistische Frömmigkeit auszeichnete. Diese Ausprägung wird vor allem in Tholucks prominentester theologischer Schrift Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner manifest, in welcher er sich nicht nur zur Erweckungsbewegung bekannte, sondern auch Aspekte wie die geistige Erfah-

|| 98 Klingler u. Pufahl: Studium (s. Anm. 97), S. 21f.; Witte: Tholuck (s. Anm. 89), Bd. 1, S. 60 u. S. 62. 99 Ebd., S. 61. 100 Ebd., S. 75. 101 Ebd., S. 57. 102 Ebd., S. 60.

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rung von Religion betonte und sich gegen Säkularisierung sowie Rationalisierung der Theologie aussprach. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass Diezʼ kritischer Blick auf die rationalistischen Bemühungen innerhalb der Theologie auf den jungen Tholuck übergegangen waren. Doch nicht nur sein Blick auf das Christentum wurde maßgeblich von Diez beeinflusst; auch seine Orientstudien haben eine deutliche Einfärbung durch die Bekanntschaft und Zusammenarbeit erhalten. Tholucks Orientschriften sind allesamt auf die ersten zehn Jahre nach Diezʼ Tod zu datieren und basieren zu großen Teilen, wenn auch nicht ausschließlich, auf Schriften aus dessen Bibliothek. Seine Arbeit Sufismus sive Theosophia Persarum pantheistica wurde zwar unterschiedlich beurteilt, verhalf ihm aber dazu, eine Doktorwürde zu erlangen.103 Die zweite schriftliche Auseinandersetzung mit dem Orient wurde 1825 in dem Werk Blüthensammlung aus der morgenländischen Mystik nebst einer Einleitung über Mystik überhaupt und Morgenländische insbesondere der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ein Jahr später folgte seine Speculative Trinitätslehre des späteren Orients. Die letztgenannten Schriften und Tholucks Orientbild im Besonderen stellen kaum erforschte Wissensbereiche dar. Tholuck befasste sich in erster Linie mit dem Islam, wenn er in den Orient blickte. Dabei ruhte sein Fokus vor allem auf dem Sufismus, durch den er ein mystisches und geistiges Bild des Islams präsentierte. Obwohl Tholuck darauf verwies, dass auch andere Regionen Asiens zu den orientalischen Ländern zu zählen wären, analysierte er hauptsächlich islamische Gedichte und die muslimische Geistesgeschichte.104 In seinen Arbeiten stehen sich dabei Christentum und Islam einerseits sowie ein säkularisiertes Europa und ein religiöser Osten andererseits gegenüber: Das Morgenland ist Gefühl und Bild, das Abendland Gedanke; das Morgenland ein in magnetisches Hellsehen versunkener Prophet, das Abendland ein kundereicher, Himmel und Erde durchgreifender Cicerone.105

|| 103 Hans-Martin Barth: Du, Gott, bist nur dir bekannt! Islamische Mystik im Urteil des evangelischen Erweckungstheologen August Tholuck. In: »Geglaubt habe ich, deshalb habe ich geredet«. Festschrift für Andreas Bsteh. Hg. von Adel Theodor Khoury u. Gottfried Vanoni. Altenberge 1998, S. 40–62, hier S. 45f. Die näheren, dubiosen Vorgänge zu Tholucks erlangter Doktorwürde wurden von Peter Maser analysiert und zeigen auf, dass der junge Theologe und Orientalist den Titel vor allem durch seine guten Beziehungen erhalten hat (siehe dazu u. a. Maser: Mystik [s. Anm. 91], S. 231, S. 238 u. S. 243f.). So urteilte u. a. Schleiermacher, zu dem Tholuck in keinem freundschaftlichen Verhältnis gestanden hatte, dass er in der Dissertation Tholucks keinerlei theologische Qualifikation erkennen könne (vgl. Barth: Gott [s. Anm. 103], S. 45f.). 104 Vgl. August Tholuck: Blüthensammlung aus der morgenländischen Mystik nebst einer Einleitung über Mystik überhaupt und Morgenländische insbesondere. Berlin 1825, S. 28; namentlich genannt werden China, Indien und die als islamisch charakterisierten Länder Arabien, Persien und die Türkei. 105 Ebd., S. 38.

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An dieser Stelle setzte Tholuck sich teilweise von Diezʼ Vorstellung ab – während er zwar ebenfalls eine spezifische Religiosität sowie die Kunst der Bildhaftigkeit für den Orient als Charakteristika getonte, erklärte er das Abendland zum Gedanken und Cicerone. Diez hatte eben diese Prämisse, dass die Europäer kundige Führer der Welt wären, mit Nachdruck kritisiert. Indem Tholuck den Abendländer zum Cicerone erklärte, wurde ihm eine leitende Position innerhalb der Welt zugesprochen. Der Okzident wurde über den Orient erhoben, da dieser eben nicht als Handelnder oder zum eigenständigen Handeln befähigt vorgestellt wurde. Bei Diez erscheint dieses Bedeutungsgefälle lediglich zwischen dem Protestantismus und dem religiösen Orient wirksam gewesen zu sein, nicht jedoch zwischen der Gesamtheit von Ost und West. Mehr noch: Indem Diez das Morgenland zum Lehrer des Abendlandes erhoben hatte, hatte er dem ersteren eine kulturelle Führungsrolle zugesprochen. Betrachtet man Tholucks Vorstellung jedoch genauer, wird deutlich, dass sein Grundgedanke ein ganz ähnlicher war. So schrieb er an anderer Stelle, dass die Sprache der Abglanz des Gedankens, der Gedanke wiederum ein mangelhafter Ausdruck der Empfindung wäre.106 Steht das Abendland für den Gedanken, wäre es nach dieser Ableitung Tholucks unweigerlich ein Abglanz des Morgenlandes, nämlich als Ort des Gefühls. Das Verhältnis zwischen Orient und Okzident ist bei Tholuck daher »wie auf einer Waage zu betrachten, welche je nach Gewichtung der einzelnen Elemente, entweder einen Gleichklang zwischen Ost und West erzeugt oder aber eines der beiden über das andere erhebt«.107 Die Fähigkeit, wissenschaftlich zu denken, zu analysieren und religiöse Schlussfolgerungen zu ziehen, sah Tholuck jedoch dem Abendländer vorbehalten.108 Diese ›europäische Eigenliebe‹ war es, die Diez mehrfach in seinen Schriften kritisiert hatte. Auch wenn er sich selber als Sprachrohr der Morgenländer präsentiert hatte, schrieb er immer wieder, dass die Erläuterungen nur zu bewerkstelligen wären, weil er von den Orientalen die Sprache gelernt und sich mit ihnen auseinandergesetzt hätte. Diez band das Verständnis der fremden Kulturen an deren Erkenntnis, während Tholuck es an den vermeintlichen Genius des Europäers festmachte. In diesem Zusammenhang blieb Tholuck der Vorstellung einer Dominanzkultur109 und damit dem Gedanken von Über- und Unterlegenheit der verschiedenen Religionen und Völker treu. Im Gegensatz zu vielen späteren, von der Theologie abgelösten Orientstudien ist es bei ihm vor allem die Religion, die als dem Orient überlegen dargestellt wurde und erst in einem zweiten Schritt die Kultur. Der Protestantismus stand für Tholuck – ebenso wie für Diez – an der Spitze seiner Wer-

|| 106 Ebd., S. 95. 107 Vgl. hierzu Jaqueline Jüling: Figurationen des Orients. Eine Analyse von August Tholucks Orientbild und seiner Beziehung zur deutschen Orientalistik im 19. Jahrhundert. Bremen 2018, S. 47. 108 Tholuck: Blüthensammlung (s. Anm. 104), S. 42 u. S. 48. 109 Siehe dazu: Attia: Orientalistik (s. Anm. 2), S. 47.

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tehierarchie. Wenn Tholuck demnach vom Christentum sprach, mit dem sich augenscheinlich alles zu messen hatte, dann ging er von einem ›erweckten Protestantismus‹ aus.

8 Resümee Heinrich Friedrich von Diez kann als ein streitbarer Kulturwissenschaftler und Gesellschaftskritiker des 19. Jahrhunderts angesehen werden, der in seinen Orientstudien versuchte, den frommen Menschen sichtbar zu machen, den er im Orient kennengelernt hatte. Mit seinem Glauben an eine Menschheitsfamilie, seinem Anliegen, respektvoll mit den Morgenländern umzugehen, sie als gleichwertige Menschen vorzustellen und seiner Kritik an den Überlegenheitsdarstellungen des Okzidents und den Abwertungen des Orients gelang es ihm, eine eigenständige und zukunftsweisende Position auszubilden. Indem er den Protestantismus als höchstes Gut betrachtete und in der Religiosität des Morgenlandes ein Mittel sah, um das Christentum wiederzubeleben, brach er jedoch nicht gänzlich aus dem kolonialen Denkschema seiner Zeit aus. Bedeutend ist dabei, dass er eine Omnipotenz Europas immer wieder infrage stellte und lediglich das Christentum auf eine höhere Stufe zu setzen beabsichtigte. Dies tat er in einer Weise, die den anderen Religionen keinesfalls ihre Bedeutung absprach. War für ihn durch Jesus Christus das Judentum im Christentum zwar vollendet geworden, so bedeutete diese keineswegs die Irrelevanz und Obsoleszenz der jüdischen Religion. Vielmehr sah Diez in allen existierenden Kulturen und Religionen den Willen Gottes am Werke und wandte sich damit von der kulturellen Überlegenheitsvorstellung Europas ab. Sein Schüler Friedrich August Gotttreu Tholuck nahm viele dieser Gedanken und Haltungen in seine Studien auf. Die Vorstellung eines Orients als einer religiösen Kultur, die als Vorbild und Hilfe für den Okzident dienen konnte, durchzieht seine Abhandlungen. Beiden frühen Orientalisten ist gemeinsam, dass sie sich den Orient nutzbar zu machen suchten, um das okzidentale Christentum zu reformieren, wobei dies bei Tholuck deutlich mehr Gewicht erhielt als bei seinem Mentor.

Semih Tezcan

Gedanken und Bemerkungen zu zwei türkischen Handschriften Dresd. Ea 86 Kitāb-ı Dedem Ḳorḳud und Ms. Diez A quart. 31 Kitābı Oġuznāme-i Türkī ve Tatarca Żarb-ı Mes̠ el In meinem Beitrag möchte ich die These zu verifizieren versuchen, dass manche osmanischen Handschriften in den Bibliotheken Europas jünger sind, als man angenommen hat, und dass unter ihnen Kopien sein könnten, die ausdrücklich auf Bestellung von in der osmanischen Hauptstadt lebenden europäischen Orientalisten angefertigt wurden. Gewiss befinden sich auch in den Bibliotheken der Türkei und anderer Länder Handschriften, die in Wirklichkeit nicht so alt sind, wie sie ausgewiesen werden. Viele Abschriften von Werken, die im 14. und 15. Jahrhundert verfasst wurden, tragen nicht das Datum der Abschrift, sondern nennen nur den Zeitpunkt der Abfassung des ursprünglichen Werks, obwohl sie eindeutig spätere Kopien sind. Es gibt auch viele Handschriften, bei denen ein altes Abschriftdatum mitkopiert wurde. Und es gibt selbstverständlich auch eine Fülle von Handschriften, die überhaupt nicht datiert sind. In vorliegendem Zusammenhang möchte ich nur meine Gedanken und Vermutungen zu zwei türkischen Handschriften äußern, aus denen Heinrich Friedrich von Diez Teile ins Deutsche übersetzt hat: Dresden SLUB Ea 86 Kitāb-ı Dedem Ḳorḳud und Berlin SBB-PK Ms. Diez A quart. 31 Kitāb-ı Oġuznāme-i Türkī ve Tatarca Żarb-ı Mes̠ el.1 Diese Handschriften, die in mancher Hinsicht von den meisten bekannten Handschriften des osmanischen Schrifttums abweichen, enthalten Texte, die für die turkologische Folkloreforschung sehr wichtig sind. Sie wurden zum ersten Mal am Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt gemacht, und zwar durch die Diezʼschen Teil-

|| Nach dem für alle völlig überraschenden und tragischen Ableben von Prof. Dr. Semih Tezcan am 14. September 2017, nur wenige Tage nach dem Berliner Diez-Symposium, haben Frau Prof. Dr. Ingeborg Baldauf (Berlin), Prof. Dr. Klaus Kreiser (Berlin) und Prof. Dr. Peter Zieme (Neuruppin) das Vortragsskript sorgfältig für den Druck vorbereitet und Referenzen ergänzt. Die Herausgeber danken ihnen herzlich und ebenso Dr. Nuran Tezcan für die Bereitstellung des Vortragsskriptes ihres Mannes. 1 Die beiden Handschriften sind digitalisiert und über folgenden link zugänglich: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/10013/3/ (Kitāb-ı Dedem Ḳorḳud, Mscr.Dresd.Ea.86) und http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000F06600000000 (Kitāb-ı Oġuznāme-i Türkī, Ms. Diez A quart. 31).

https://doi.org/10.1515/9783110647662-015

298 | Semih Tezcan übersetzungen. Wir wissen, dass Goethe und viele Gelehrte jener Zeit diese Übersetzungen gelesen haben. Das erste von diesen literarisch-folkloristischen Werken ist das berühmte Dede Korkut Kitabı / Das Buch von Dede Korkut. Von ihm gibt es heute unzählige Ausgaben; es ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt – zuletzt ins Portugiesische und Japanische –, hunderte Monographien und Schriften sowie tausende Zeitungsartikel u. ä. sind dazu erschienen, so dass man es durchaus als weltberühmt bezeichnen kann. Der eigentliche Titel des Werkes ist allerdings nicht Dede Korkut Kitabı, sondern Dedem Korkut Kitabı, also »Das Buch meines Großvaters Korkut«. Ein ungewöhnlicher Titel, der dem Werk möglicherweise erst spät hinzugefügt wurde. Dede Korkut bzw. Korkut Ata ist der Name des legendären Sängers, der diese Geschichten zum ersten Mal erzählt haben soll. Das Dede Korkut-Buch ist ein literarisch-folklorisches Werk aus zwölf Erzählungen bzw. Episoden, eine Anreihung von Geschichten, die anhand unterschiedlicher Themen vom oġuzischen Volk erzählen. Die einzelnen Geschichten werden als boy, ›Geschichte‹ bzw. als oġuznāme (wörtl. ›OġuzenErzählung‹) bezeichnet. Das Werk in seiner Gesamtheit ist denn auch als Dede Korkut Oġuznāmeleri, »Die Oġuzen-Erzählungen des Dede Korkut« bekannt. Als Grundlage diente vermutlich ein im 12. Jahrhundert in Choresmien, also südlich des Aralsees entstandenes Epos, das durch Wanderung der türkischen Stämme nach Anatolien gebracht und dort, stark verändert, erst im 15. Jahrhundert in der uns bekannten Form verschriftet wurde. Die zahlreichen Teile des Dede Korkut Kitabı (im Folgenden: DKK), die in Verse gefasst sind, sind möglicherweise vom alten Epos überkommen. Unbekannt ist, ob es schon in Choresmien eine andere, frühere Verschriftung gegeben hat. Das DKK ist hinsichtlich Erzählstruktur und Stilistik ein höchst originelles Werk, das im Rahmen der Erforschung der osmanischen Prosaliteratur besondere Beachtung verdient. Vom Dresdener Codex existieren sieben, vom zweiten bekannten Manuskript, das im Vatikan aufbewahrt ist, drei Faksimile-Ausgaben. Die Texte dieser Handschriften wurden von verschiedenen Philologen und Nicht-Philologen mehrere Male ediert und auch mehrere Male ins heutige Türkisch übertragen. Der zweite Text, aus dem Diez ins Deutsche übersetzt hat, ist eine türkische Sprichwortsammlung, die sich heute im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin befindet (Ms. Diez A quart. 31). Die Handschrift ist von Wilhelm Pertsch kurz beschrieben worden.2 Auf einem außen aufgeklebten Zettel steht: Kitāb-ı Oġuznāme-i Türkī ve Tatarca żarb-ı mes̠eldür.

|| 2 Wilhelm Pertsch: Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Sechster Band. Verzeichniss der Türkischen Handschriften. Berlin 1889, S. 65–68.

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Über diese Sammelhandschrift handelt Diez ausführlich in seinen Denkwürdigkeiten von Asien.3 Dort werden auch die ersten 400 Sprüche (bis Bl. 9b, Z. 8 der Handschrift) auf »Tatarisch« und Deutsch mitgeteilt. Einige der Sprüche der vorliegenden Handschrift finden sich in dem Oġuznāme, das in der Berliner Handschrift Ms. Diez A fol. 61 enthalten ist.4 Auf die Sprichwörtersammlung folgen in der Sammelhandschrift unterschiedliche kürzere Texte, die Pertsch kurz beschreibt; allem voran enthält das Kompendium eine kulturhistorisch interessante »Zusammenstellung von Gerichten mittlerer Güte, wie sie sich zum Reisevorrath für Veziere eignen«5 und eine »Beschreibung und Kostenberechnung bezüglich der Festlichkeiten, die bei der Beschneidung der Prinzen Bāyazīd und Ǵahāngīr im Jahre 946 (beg. 19. Mai 1539)« stattfanden.6 Pertsch kommentiert eine Eigentümlichkeit der Schrift, nämlich, dass der initiale Buchstabe yā’ immer statt mit den üblichen zwei Punkten mit einem kurzen Strich und darunter gesetztem Punkt geschrieben worden sei.7 Eine Eigentümlichkeit der Handschrift, die Pertsch nicht thematisiert, betrifft den Gebrauch von Kustoden. Bekanntlich stehen Kustoden normalerweise am Ende der Verso-Seiten nach der letzten Zeile (weshalb sie auf Türkisch pāyende oder ayaḳ, ›Fuß‹ genannt werden). In dieser Handschrift sind meistens Kustoden der üblichen Art am Seitenende angefügt, das Ende der letzten Zeile – ein Wort oder eine kurze Wortgruppe – ist außerdem jedoch auch noch am Anfang der ersten Zeile der folgenden Recto-Seite wiederholt. Zum Thema Kopist(en) äußert Pertsch sich nicht, er charakterisiert die Handschrift nur lapidar als »ziemlich neu«.8 Die Bezeichnung Oġuznāme des Codex Ms. Diez A quart. 31 bezieht sich meines Erachtens nur auf den ersten Teil der Handschrift, also auf die Sprüchesammlung, und sie hat hier eine andere Bedeutung als bei den Dede Korkut-Geschichten, nämlich in etwa »Sprichwörter des legendären Oġuzenvolks«, also der Vorfahren der vorderasiatischen Türken. Bibliotheken in Istanbul, St. Petersburg und Paris besitzen ähnliche Sammlungen von Sprichwörtern und Sprüchen. Um die Berliner Sprichwörtersammlung von den anderen deutlich zu unterscheiden, nenne ich sie Berlin Oġuznamesi, »das Berliner Oġuznāme«. Das Berliner Oġuznāme ist die reichs-

|| 3 Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften. 2 Bde. Berlin 1811–1815, Bd. 1, S. 157–205 u. Bd. 2, S. 288–331. 4 Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse (s. Anm. 2), S. 227f. Pertsch erläutert diese Handschrift S. 228 als »eine von Diez gefertigte Abschrift des Dresdener Codex [Kitāb-ı Dedem Ḳorḳud]«; vgl. dazu auch Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 3), Bd. II, S. 400. Die Handschrift ist digitalisiert zugänglich unter http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001AF0500000000. 5 Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse (s. Anm. 2), S. 64. 6 Ebd.; diesen Text habe ich in Faksimile und Transkription veröffentlicht und kommentiert, vgl. Semih Tezcan: Bir Ziyafet Defteri. Türk Dilleri Araştırmaları Dizisi. Istanbul 1998. 7 Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse (s. Anm. 2), S. 67f. 8 Ebd.

300 | Semih Tezcan te unter den alten osmanischen Sprichwörtersammlungen und gleichzeitig die einzige, die eine Einleitung aus dem Munde von Dede Korkut enthält. Darin wird über die Verdorbenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse geklagt und es werden Vorzeichen der Apokalypse (aḥvāl-i ḳıyāmet) dargestellt. Diez hat von den 80 Seiten des Texts (41 Folio) die ersten 17 Seiten (1b.1 bis 9b.8) ins Deutsche übersetzt. Irrtümlicherweise hielt er die Sätze der Einleitung auch für Sprüche und nummerierte sie mit durch. Insgesamt hat Diez 400 Sätze und Sprichwörter übersetzt. In einigen Gedichten des West-östlichen Divans9 sind Spuren dieser Übersetzungen zu finden, d. h. einige der Sprüche dienten Goethe als Inspirationsquelle. Neben manchen überzeugenden Übersetzungen gibt es auch viele fehlerhafte. Um nicht ungerecht zu sein, muss ich betonen, dass sich Diez einer großen Herausforderung stellte. Die Sprüche enthalten viele archaische Wörter. Die Orthographie ist nicht klassisch-osmanisch. Und der Text ist stellenweise durch Abschreibfehler so verdorben, dass ihn niemand ohne weiteres richtig verstehen könnte. Erst nach mehrjähriger und intensiver Beschäftigung glaube ich die meisten Probleme gelöst zu haben. Es gibt einen weiteren Sachverhalt, den es zu betonen gilt: Diez hat das Ethnonym Oġuz, welches in der Einleitung einige Male vorkommt, für einen Personennamen gehalten, nämlich für den Namen des legendären Oġuz Ḫān. Ihm war Ebū’l Ġāzī Bahādır Ḫāns Bericht über die Abstammung der Türken bekannt, in dem diese Persönlichkeit vorkommt. Bis zum 12. Jahrhundert war Oġuz ein Ethnonym, das ein türksprachiges Volk bezeichnete, welches aus 24 bzw. 22 nomadischen Stämmen bestand. Die größten Teile dieses Volkes wanderten im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts aus Zentralasien in den Vorderen Orient ab. Nach dieser Abwanderung wurde Oġuz nur für die Vorfahren der Südwest-Türken verwendet. Mit der Zeit hat man diese Vorfahren in ein legendäres »Goldenes Zeitalter« verschoben. Und Oġuznāme? Wörtlich übersetzt bedeutet es ›Oġuzen-Buch‹. Allerdings werden, wie bereits oben angeklungen ist, durchaus unterschiedliche Werke als Oġuznāme bezeichnet. Zwei dieser Texte habe ich bereits erwähnt: erstens die einzelnen Geschichten über die oġuzischen Helden im Dede Korkut-Buch und zweitens eine Sammlung von Sprichwörtern der Vorfahren. Von den vier weiteren bekannten Typen Oġuznāme möchte ich hier nur das verschollene Heldenepos über das legendäre Oġuz-Volk erwähnen. Möglicherweise war dieses Epos schon in West-Turkestan entstanden. Es wurde durch mündliche Überlieferung nach Anatolien mitgebracht. Dort hat man durch Verwendung von Versatzstücken daraus ein anderes Oġuzen-Epos geschaffen, dessen Verse wir in

|| 9 Vgl. die Register zu Anke Bosse: Meine Schatzkammer füllt sich täglich. Die Nachlaßstücke zu Goethes West-östlichem Divan. Dokumentation – Kommentar. 2 Bde. Göttingen 1999 sowie die neue, völlig revidierte Ausgabe des Divan in Johann Wolfgang von Goethe: West-Östlicher Divan. 2 Bde. Hg. von Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 2010.

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den so genannten soylama des Buchs von Dede Korkut und in einem Oġuznāme, das im Topkapı Sarayı erhalten geblieben ist, wiederfinden. Im Hinblick auf die Sprache der Dede Korkut-Geschichten und des Berliner Oġuznāme lässt sich Folgendes festhalten. Auf der Titelseite der Dresdener Handschrift des Dede Korkut-Buchs ist in einem arabisch-persischen Eintrag angegeben, dass dieses Werk »in der Sprache der Oġuzen« verfasst sei: Kitāb-ı Dedem Ḳorḳud ʻalā lisān-ı ṭā’ifę-i Oġuzān. Auf einem Zettel, der auf den Einband der OġuznāmeSammelhandschrift aufgeklebt ist, steht geschrieben: Kitāb-ı Oġuznāme Türkī ve Tatarca żarb-ı mes̠eldür. Diese Formulierung kann man deuten als »Das Buch Oġuznāme. Türkische und tatarische Sprüche« oder aber als »Das Buch Oġuznāme, [so nennt man] auf Türkisch und Tatarisch [eine] Sprichwörter[-Sammlung].« »Tatarisch« könnte hier für Mongolisch, Osttürkisch, Krimtatarisch oder Kasantatarisch stehen. Diez sagt auch ›Tschaġataisch‹, und diese Angabe wurde von den Bibliothekaren und einigen Forschern ernst genommen. Ich bin der Meinung, dass die Bezeichnung der Sprache von Dede Korkut als lisān-ı ṭā’ifę-i Oġuzān ein netter Einfall des Verfassers oder des Buchhändlers sein muss, die Bezeichnung also scherzhaft zu verstehen ist. Die Turkologen haben sich erst im 20. Jahrhundert mit der Rekonstruktion des Oġuzischen beschäftigt, und das nicht etwa auf Basis des Dede Korkut-Texts. In Wirklichkeit ist die Sprache der beiden Werke nichts anderes als altanatolisches Türkisch, genauer gesagt »spätes alt-anatolisches Türkisch«, also nicht die Sprache des 14. Jahrhunderts, sondern die Sprache der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Man nannte diese Sprache früher Alt-Osmanisch bzw. Alt-AnatolischTürkisch. In letzter Zeit hat man auch »Alt-Türkei-Türkisch« (tü. Eski Türkiye Türkçesi) vorgeschlagen. Ich bin der Ansicht, dass die von mir gebrauchte Namensgebung »Alt-Anatolisch- und Balkan-Türkisch« (Eski Anadolu ve Balkan Türkçesi) am angemessensten ist. Außerdem weist der Text des Dede Korkut-Buchs eine Reihe »Azerbaidschanismen« auf, d. h. der Verfasser (oder aber ein späterer Redakteur) versuchte den azerbaidschan-türkischen Dialekt nachzuahmen, weil die Ereignisse der Geschichten sich auf dem Territorium von Ost-Anatolien, Georgien und Azerbaidschan abspielen. Diese Dialekt-Nachahmung des Verfassers ist aber nicht immer ganz treffend. Ohne an dieser Stelle Einzelheiten zu erörtern, möchte ich betonen, dass das Dede Korkut-Buch aus sprachhistorischer Sicht nicht in der »Sprache der Oġuzen« (ʻalā lisān-ı ṭā’ifę-i Oġuzān) verfasst ist und auch nicht auf Azerbaidschan-Türkisch. Azerbaidschanische Autoren bemühen sich nachzuweisen, dass die Sprache des Buchs von Dede Korkut Alt-Azerbaidschanisch sei; dafür gibt es aber keine wissenschaftlichen Beweise. Das Dede Korkut-Buch befindet sich zumindest seit dem späten 18. Jahrhundert in der Dresdener Bibliothek; es ist nämlich schon im 1793 erschienenen Manu-

302 | Semih Tezcan scriptorum CXXXV Orientalium Bibliothecae Electoris Dresdensis Catalogus des Johann Jacob Reiske verzeichnet.10 Ich hatte einmal die Gelegenheit, das Original der Dresdener Handschrift in Händen zu halten. Während eines Berlin-Aufenthalts im Herbst 1979 arrangierte Peter Zieme einen Termin für uns in der Dresdener Bibliothek. Etwa zwei Stunden lang konnte ich die Handschrift im Lesesaal der Bibliothek untersuchen. Bis dahin war nur das verkleinerte und retouchierte Schwarz-Weiß-Faksimile verfügbar, das Muharrem Ergin 1958 in seiner Edition angefügt hat.11 Kein Dede-Korkut-Forscher des 20. Jahrhunderts hatte die Handschrift danach noch zu Gesicht bekommen. Als ich die Originalhandschrift 1979 in der Dresdener Bibliothek einsah, staunte ich nicht wenig: Während ich ein durch viele Hände gegangenes, abgenutztes Manuskript in schlechtem Zustand erwartete, traf das für die mir vorgelegte Handschrift in keiner Weise zu. Auf den ersten 20 bis 30 Seiten waren Fingerspuren und kleine Flecken zu sehen. Die darauf folgenden Seiten waren jedoch gleichsam unberührt und so gut erhalten, dass man meinen konnte, das Manuskript sei nie von Anfang bis Ende gelesen oder gar mehrfach durchgeblättert worden. Es gab keinen Wurmfraß, keine Verwischungen, keine Wasserflecken, keine Abnutzungsspuren. Auf der Titelseite und den Schmutzblättern gibt es zwar späte Eintragungen – vielleicht sind diese aber absichtlich angebracht, um die Handschrift älter wirken zu lassen? Damals maß ich der Sache keine besondere Bedeutung bei, ich arbeitete in jenen Jahren vor allem über das Alt-Uiġurische und hatte noch nicht begonnen, mich näher mit Dede Korkut und Alt-Osmanischen Studien zu befassen. Später habe ich mich jahrzehntelang neben anderen Arbeiten immer auch mit dem Dede KorkutBuch und anderen Oġuznāme-Texten beschäftigt und konnte unter anderem zahlreiche Kopistenfehler ausmachen. Gemeinsam mit Hendrik Boeschoten haben wir die Texte der Dresdener und der Vatikan-Handschrift des DKK, die sich stark voneinander unterscheiden, im selben Band, aber in voneinander unabhängiger Edition herausgebracht.12 Die zahlreichen Emendationen, die wir dabei vornehmen konnten, habe ich in einer gesonderten Publikation im einzelnen mıt Belegen erläutert.13 Ein Großteil dieser Vorschläge ist von der Fachwelt akzeptiert worden. Heute kann ich fast mit Sicherheit sagen, dass beide Handschriften späte Kopien sind. Eine Edition des Berliner Oġuznāme, die ich seit Jahren vorbereite, ist weit vorangekommen. Die Publikation soll die Transskription des Texts von ca. 4.500 Sprichwörtern und Sprüchen mit Kommentaren und Indices umfassen.

|| 10 Gedruckt in Memorabilien. Eine philosophisch-theologische Zeitschrift, der Geschichte und Philosophie der Religionen, dem Bibelstudium und der morgenländischen Litteratur gewidmet von Heinrich Eberhardt Gottlob Paulus 1793/94, S. 1–20; das DKK figuriert als Nr. 86. 11 Muharrem Ergin: Dede Korkut Kitabı I. Ankara 1958. 12 Semih Tezcan u. Hendrik Boeschoten: Dede Korkut Oğuznameleri. Istanbul 2001, 52018. 13 Semih Tezcan: Dede Korkut Oğuznameleri Üzerine Notlar. Yapı Kredi Yayınları 2001, 22018.

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Im Folgenden möchte ich das, was wir sicher wissen, und meine Vermutungen zusammenstellen: 1. Zwischen 1784 und 1790, als Diez als preußischer Gesandter in Istanbul tätig war, sammelte er nebenbei interessante Handschriften. Dabei suchte er zielbewusst immer wieder auch nach volkskundlichen Texten: »In der That Sprüchwörter sind die rechten national Zeugnisse, die weniger trügen als Zeugnisse einzelner Menschen«,14 schreibt er. 2. Einmal brachte ihm ein Buchhändler (ṣaḥḥāf, auch ›Kommissionär‹) eine solche Sprichwörtersammlung. Die Handschrift war, wie Pertsch später vermerkte, »ziemlich neu«. Sie war wahrscheinlich die Kopie eines Originals, das aus dem 15. Jahrhundert stammen könnte. Ich halte es für durchaus möglich, dass die Handschrift in der Absicht angefertigt wurde, sie Diez anzubieten; vielleicht war sie sogar bestellt. 3. Dieses Werk ist unser Berliner Oġuznāme. Ich nehme an, dass Diez das mehrere tausend Sprichwörter umfassende Manuskript erwarb, ohne zu zögern. 4. Er konnte jedoch nicht verstehen, warum diese Spruchsammlung Oġuznāme heißt. Ein solcher Ausdruck ist in den Lexika, die er zur Verfügung haben konnte, nicht zu finden. 5. Diez schreibt, dass er in Istanbul und auch in europäischen Bibliotheken nach weiteren Oġuznāme gesucht, aber nichts Ähnliches gefunden habe.15 Auch in dem Oġuznāme des Topkapı Sarayı, das Diez und Pertsch unbekannt war, gibt es einen Sprichwörterteil. 6. Später fand Diez in dem unter dem Titel Histoire genéalogique des Tatars schon 1726 ins Französische übersetzten Werk Şecere-i Türk des Ebūlġāzī Bahādır Ḫān den Personennamen Oġuz, also den Namen des legendären Oġuz Ḫān, des Urahns aller oġuzischen Stämme.16 Diez war davon überzeugt, Oġuz Ḫān sei eine historische Person. Zum einen nahm er an, dass die Sprichwörter im Oġuznāme auf eben jene Person zurückgingen; zum anderen vermutete er, manche Sprüche seien nach der Annahme des islamischen Glaubens leicht verändert und einige erst später hinzugefügt worden. Diesen Gedanken wiederholt er einige Male in der Einführung zum »Buch der Reden«.17 7. Im Jahre 1793 erscheint zu den orientalischen Beständen der Dresdener Kurfürstenbibliothek in der Zeitschrift Memorabilien der Katalog des Leipziger Arabisten Johann Jacob Reiske. Darin wird die Dede Korkut-Handschrift erwähnt, wel|| 14 Histoire genéalogique [sic] des Tatars: traduite du manuscrit tartare d’Abulgasi-Bayadur-Chan et enrichie d'un grand nombre de remarques ... par D***. Leyden 1726, S. 162. 15 Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse (s. Anm. 2), S. 66 merkt an, dass unter dem Titel Oġuznāme noch mindestens zwei weitere Werke verfügbar waren, die mit der vorliegenden Handschrift allerdings nichts zu tun haben. 16 Die Erzählung über »Ogus-Chan« findet sich in: Histoire genéalogique (s. Anm. 14), S. 33f. 17 Vgl. hierzu Diez: Denkwürdigkeiten (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 167f.

304 | Semih Tezcan che in der Sprache des Volkes Oġuz geschrieben sein soll. Das machte Diez neugierig, er wollte diese Handschrift unbedingt sehen, kopieren und besitzen. Diez schreibt zwar, dass er durch die Publikation von Reiske auf DKK aufmerksam geworden war, aber er teilt nicht mit, wann er die Dresdener Handschrift gesehen hat. Thomas Haffner vermutet, dass die Dresdener Handschrift zwischen dem 26. Januar und 22. April 1814 kopiert worden ist, als Oberbibliothekar Georg Wilhelm Sigismund Beigel sie an Diez verliehen hatte.18 Wer die Handschrift abgeschrieben hat, ist nicht ganz sicher. Diez schreibt nur, dass sein Manuskript der Dresdener Handschrift sehr ähnlich sei, gibt aber nicht zu, dass er die Dresdener Handschrift kopiert hatte oder kopieren ließ; Pertsch ist allerdings sicher, dass die Berliner Kopie von Diezens eigener Hand stammt.19 Aus der Einführung zu Diezʼ Übersetzung der Depegöz-, also Kyklopen-Geschichte verstehen wir außerdem deutlich, dass Diez nicht nur dieses eine oġuznāme aus dem DKK, sondern alle zwölf Geschichten und das Vorwort gelesen haben muss. Allerdings hatte Diez auch nach der Lektüre des Buchs von Dede Korkut große Schwierigkeiten mit der Bezeichnung oġuznāme. Er schlug vor, den Begriff durch »Zuschrift oder durch Zueignung an die Oghusier« zu übersetzen. In seinen Überlegungen sprach er mehrere Male von Oġuz Ḫān, obwohl dieser weder im DKK noch in den Sprichwörtersammlungen vorkommt. Sowohl im Buch der Reden (also Diezʼ Arbeit zum Berliner Oġuznāme, den ersten 400 Sprichwörtern) als auch in Depe Göz oder der oghusische Cyklop, das Diezens Interesse wegen der Ähnlichkeit mit der homerschen Erzählung geweckt haben dürfte, gibt es viele falsche Schlussfolgerungen, falsche Auffassungen, falsche Übersetzungen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Diez mit diesen Arbeiten auch Großartiges und Bewundernswertes geleistet hat, nicht zuletzt deshalb, weil die Texte erst über seine Abschrift und seine weiteren Arbeiten – und das 100 Jahre später – weithin bekannt geworden sind. Dass Diezʼ Türkischkenntnisse nicht hervorragend waren, geht aus seinen Übersetzungen hervor. Dennoch verdient Respekt, dass er sich an dermaßen korrumpierte Texte wagte und sie ins Deutsche übersetzte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts lernten europäische und russische Orientalisten auf Grund der Diezʼschen Veröffentlichung das Buch von Dede Korkut kennen. Theodor Nöldeke, Wilhelm Barthold und andere begannen sich für das Werk zu interessieren, einige reisten nach Berlin und sahen die Diezʼsche Abschrift ein. 100 Jahre nach der Diezʼschen Veröffentlichung wurde das Buch von Dede Korkut in der Türkei bekannt. Diezʼ Verschleierung der Herkunft des Berliner DKK-

|| 18 Freundliche Mitteilung durch Dr. Thomas Haffner (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abt. Handschriften, Alte Drucke und Landeskunde; aus seinem Vorwort zu Dädäm Qorqud yollarında. [Baku] 2015). 19 Pertsch: Handschriften-Verzeichnisse (s. Anm. 2), S. 228.

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Manuskripts richtete hier beträchtlichen Schaden an. In der Annahme, dass die Berliner Handschrift das Original-Werk sei, wurden Photographien dieser Handschrift beschafft und der Erforschung somit ein Text zugrunde gelegt, dem Diez bei der Abschrift zu den ohnehin schon im Dresdener Original zahllosen Übertragungsfehlern noch weitere Fehler hinzugefügt hatte. Nach der Veröffentlichung von 1916 in der Türkei20 wurde das Buch von Dede Korkut in Azerbaidschan und anderen turkophonen Sowjetrepubliken bekannt. Es wurde bekannt, dass auch in Turkmenistan und Kasachstan Traditionen von »Korkut Ata« erzählt und gesammelt wurden. Gegenwärtig ist in der ganzen so genannten »türkischen Welt« (Türk Dünyası) von Dede Korkut die Rede, wobei es zu maßlosen Übertreibungen kommt: Einige Autoren geben für den Text ein Alter von 2.000, andere gar eines von 5.000 Jahren an. Unter den turkophonen Völkern ist einerseits geradezu ein Wettlauf um die Aneignung des Dede Korkut entstanden, während andere Positionen, die den Mythos des Panturkismus pflegen, im Buch des Dede Korkut ein Gemeinschaftswerk der »Türkischen Welt« sehen wollen. Viele verschließen die Augen vor der Tatsache, dass das Buch gar kein Epos (destān) ist. Die Realität ist: Als Diez im Jahr 1815 die Depegöz-Episode aus dem Buch des Dede Korkut ins Deutsche übersetzte, war das Buch des Dede Korkut ein in der »Türkischen Welt« vollständig in Vergessenheit geratenes Werk. Abschließend möchte ich einige Bemerkungen zu meiner These anfügen, dass Diez das eine oder andere Manuskript möglicherweise geradezu »bestellt« und dadurch, wie auch durch seine DKK-Abschrift, stark in den Überlieferungsprozess eingegriffen hat. Er hätte sich damit durchaus im Rahmen dessen bewegt, was Orientalisten insgesamt zur Überlieferung prominenter Werke beigetragen haben. Ich verweise hier nur auf einen weiteren Fall: Joseph von Hammer-Purgstall und das Seyāḥatnāme (›Reisebeschreibung‹) des Evliyā Çelebī. Hammer entdeckte im Jahre 1804 in Istanbul »durch einen glücklichen Zufall den vierten und letzten Theil einer großen türkischen Reisebeschreibung, betitelt: Tarichi sejjah Ewlia Efendi d.i. die Reisebeschreibung Ewlia Efendi’s« und kaufte sie für 100 Piaster an. Hammer dachte, dass dieses Werk – also ein Ta’rīḫ-i Seyyāḥ –, welches in keiner Quelle genannt war, aus vier Bänden bestünde; von diesen wollte er die ersten drei ebenfalls beschaffen. So lange er in Istanbul war, gelang ihm dies nicht, aber nach seiner Rückkehr nach Wien gab er eine Bestellung auf. Hammers Bekannte in Istanbul forschten jahrelang nach dem Werk, mussten aber feststellen, dass es nur in der Bibliothek des Topkapı Sarayı existierte (und somit unerreichbar blieb), in zugänglichen Büchereien dagegen nirgends verfügbar war. Nach zehn Jahren intensiver Bemühungen gelang es ihm schließlich, dennoch eine Abschrift

|| 20 Kitāb-ı Dede Ḳorḳut ʻalā lisān-ı ṭā’ife-i Oġuzān. İstinsāḥ ve notları ʻilāve eden Rifʻat Kilisli Muʻallim [Bilge]. Istanbul 1332 (1916).

306 | Semih Tezcan davon angefertigt zu bekommen, die als Wiener Exemplar künftigen Studien zugrunde gelegt wurde.21

|| 21 Hier ein Auszug aus Hammers Schrift Merkwürdiger Fund einer Türkischen Reisebeschreibung (1814), mit der er der Fachwelt seinen »Fund« präsentiert und berichtet, wie er sich letztlich die ersten drei Bände verschafft hatte: »Das große Interesse des Inhalts spornte von neuem den Eifer zur Aufspürung der mangelden drey ersten Theile, und binnen zwey Jahren, die der Referent noch in Constantinopel zubrache, konnten sowohl er als seine Freunde, namentlich der um das orientalische Dolmetschwesen so verdiente französische Bothschaftsrath Hr. Ruffin und der durch Milady Craven’s und seine eigenen Reisen bekannte Türke Ishakbeg weiter nichts entdecken, als dass dies kostbare Werk zwar ganz existiere, jedoch äusserst selten und nur um sehr theuern Preis gefunden werde; und dass es in keiner der öffentlichen Bibliotheken Constantinopels sich befinde, außer in der unzugänglichen des Serai. Die späterhin auf wiederhohltes Bitten des Referenten durch seine Freunde namentlich durch den Herrn Legationssekretär Freiherr von Ottenfels, fortgesetzten Nachforschungen blieben ebenfalls alle fruchtlos, bis es endlich jetzt nach zehnjährigem Bemühen seinem Freunde, dem vormals als osmanischen Minister in Berlin angestellten Hrn. Johann Aegyropulo gelang das ganze Werk in seiner sehr schönen wohlerhaltenen Abschrift aufzutreiben, und für die Bibliothek des Hrn. Grafen von Rzewusky anzukaufen. Dieses im Oriente so äußerst seltene, in Europa einzige Manuscript befindet sich dermalen in Wien, in den Händen des Schreibers dieser Zeilen. [...] Joseph v. Hammer (k. k. Hofdolmetscher u. Rath)«. Joseph von Hammer-Purgstall: Merkwürdiger Fund einer Türkischen Reisebeschreibung. In: Intelligenzblatt zur Wiener Allgemeinen Literaturzeitung, Nr. 2 (2. Jänner 1814), S. 9–10; vgl. hierzu auch Nuran Tezcan: Evliya Çelebi Seyahatnamesi'nin Hammer-Purgstall tarafından bilim dünyasına tanıtılması hakkında. In: Osmanlı Araştırmaları 34 (2009), S. 203–230; Caroline Finkel: Joseph von Hammer-Purgstall's English Translation of the First Book of Evliya Çelebi's Seyahatnâme Book of Travel. In: Journal of the Royal Asiatic Society Series 3, 25, 1 (2015), S. 41–55.

| 5 Der Sammler Diez

Katrin Böhme

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« Die Bibliothek Diez, ihre Kataloge und ihre Systematik

1 Einführung Die ›Bibliothek Diez‹ ist Teil der Sondersammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Sie gehört zu den so genannten Gelehrtenbibliotheken, deren Sammlungszusammenhang auf Sammler bzw. Eigentümer zurückgeht, und die als geschlossene Sammlung von der Staatsbibliothek bzw. ihren Vorgängerinstitutionen übernommen oder erworben worden waren. Gelehrtenbibliotheken und deren Bücher sind als spezifische Sammlungen von historischen Objekten erst seit Kurzem in den engeren Fokus der Forschung gerückt.1 Dabei wurde für die Erschließung von Bibliotheken besonders die Bedeutung der Persönlichkeit des Buchsammlers und dessen Sammlungsstrategien betont.2 Der Katalog einer Büchersammlung und die Anordnung der Bücher sind somit eine wichtige Quelle zur Erforschung von Wissensordnungen. Die Kataloge von Diez’ Bibliothek spiegeln die persönlichen Interessen und Ordnungsprinzipien ihres Sammlers in hervorragender Weise. Die gegenwärtige Anordnung der Bücher erlaubt hingegen Aussagen über Veränderungen, die von Seiten der Königlichen Bibliothek vorgenommen worden sind. Heinrich Friedrich von Diez3 (1751–1817) bestimmte in seinem Testament, dass seine »Büchersammlung, die Handschriften und morgenländischen Gemälde« an die damalige Königliche Bibliothek übergeben werden sollten.4 Er verfügte zudem

|| 1 Wie zum Beispiel die beiden ersten Bände der im Wallstein Verlag Göttingen erscheinenden Reihe »Kulturen des Sammelns«: 1. Biographien des Buches. Hg. von Ulrike Gleixner, Constanze Baum, Jörn Münker u. Hole Rößler. (2017) sowie 2. Autorschaft und Bibliothek: Sammlungsstrategien und Schreibverfahren. Hg. von Stefan Höppner, Caroline Jessen, Jörn Münkner u. Ulrike Trenkmann. (2018). 2 Siehe Stefan Höppner: Bücher sammeln und schreiben. Eine Einleitung. In: Autorschaft und Bibliothek (s. Anm. 1), S. 14–22. 3 Für bessere Lesbarkeit verzichte ich in meinen Ausführungen auf die Nennung des Adelstitels. 4 Acta betr. die Vermächtnisse an die Königl. Bibliothek 1781–1833, Sgn.: III, F1, Bd.1 1781–1833. Der in dieser Akte vorhandene Auszug aus dem Testament ist vollständig abgedruckt in Curt Balcke: Heinrich Friedrich von Diez und sein Vermächtnis in der Preußischen Staatsbibliothek. In: Von Büchern und Bibliotheken. Festschrift für Ernst Kuhnert. Hg. von Gustav Abb. Berlin 1928, S. 187– 200.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-016

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eine separate Aufstellung als geschlossene Sammlung in der von ihm festgelegten Ordnung. Andere Gelehrtenbibliotheken wurden hingegen in den Gesamtbestand eingearbeitet, wie zum Beispiel die Bibliothek des Weltreisenden und Naturforschers Reinhold Forster 1799 oder des Anatomen und Physiologen Karl Asmund Rudolphi 1833, so dass gegenwärtig diese Provenienzen nur in Ausnahmefällen festzustellen sind. Da Diez selbst auf besondere Eigentumsvermerke wie personalisierte Einbände, ein Ex Libris oder einen Namenszug im Buch verzichtet hatte, gewährleistete er mit seiner Verfügung die Überlieferung der Provenienz. Lediglich die Beschriftung des oberen Schnittes mit Kurztiteln kann als besonderes Charakteristikum hervorgehoben werden. Diez bewahrte seine Bücher, wie zu seiner Zeit im arabischen Raum üblich, liegend auf, so dass die Beschriftung das Auffinden erleichterte (Abb. 1).

Abb. 1: Beschriftete Schnitte (aus dem Bereich »Biblia«). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Von Seiten der Königlichen Bibliothek wurde Friedrich Wilken (1777–1840) berufen, die Verhandlungen mit dem Testamentsvollstrecker zu führen und die Bearbeitung

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 311

der Sammlung zu betreuen. Ich werde darauf in einem späteren Abschnitt zurückkommen.5 Die Aufteilung der Bibliotheksbestände nach Materialart und/oder Region und die Entstehung von gesonderten Abteilungen in der damaligen Königlichen Bibliothek brachte eine Aufteilung der Sammlung mit sich. So befinden sich die 437 abendländischen Handschriften inzwischen in der Handschriftenabteilung6; die 410 orientalischen Handschriften und »morgenländischen Gemälde« (die sogenannten Diez-Alben) sind Teil der Sammlungen der Orientabteilung geworden.7 Druckwerke aus dem 15. Jahrhundert sind im 20. Jahrhundert an die Inkunabelsammlung übergeben worden und erhielten dort eine zusätzliche Inkunabelsignatur.8 Bände mit zahlreichen Annotationen oder durchschossene und ergänzte Exemplare befinden sich in der Sammlung »Libri impressi cum notis manusscriptis« der Handschriftenabteilung.9 Bei allen Teilbeständen blieben der ursprüngliche Sammlungszusammenhang und damit die Provenienz Diez auch in der Aufstellung erhalten. Nachdem die ›Bibliothek Diez‹ von 2009 bis 2012 in der Abteilung Historische Drucke einer vollständigen Revision unterzogen worden ist, können wir nun genaue Angaben über Umfang und Inhalt dieser Gelehrtenbibliothek machen.10 Im Verlauf dieser umfassenden Arbeiten wurden rund 2.000 bis dahin nicht erfasste Drucke katalogisiert sowie knapp 400 Titel als so genannter Kriegsverlust im Katalog vermerkt. Gegenwärtig umfasst die ›Bibliothek Diez‹ bei ca. 600 lfm rund 15.500 Bände

|| 5 Eine detaillierte Schilderung zur Persönlichkeit von Diez und zur Geschichte seiner Bibliothek ist nachzulesen u. a. bei Ursula Winter: Die Bibliothek Diez in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 53 (1974), S. 10–29, Barbara Flemming: Goethe und Diez im Jahre 1790. In: Turkologie für das 21. Jahrhundert. Herausforderungen zwischen Tradition und Moderne. Hg. von Hendrik Fenz u. Petra Kappert. Wiesbaden 2006, S. 129–147, sowie Balcke, Diez und sein Vermächtnis (s. Anm. 4). Vgl. außerdem Ines Kolbe: Die Sammlung Diez in der Staatsbibliothek zu Berlin. Eine Analyse ihrer Aufstellung, Katalogisierung und Sichtbarkeit. Masterarbeit Humboldt-Universität zu Berlin, Phil. Fak. I, Institut fü Bibliotheks- und Informationswissenschaft 2013 (mit einem ausführlichen Anhang zu den überlieferten Katalogen). 6 Siehe dazu den Beitrag von Ursula Winter in diesem Band. 7 Christoph Rauch: The Oriental Manuscripts and Albums of Heinrich Friedrich von Diez and the Perception of Persian Painting in His Time. In: The Diez Albums. Contexts and Contents. Hg. von Julia Gonnella, Friederike Weis u. Christoph Rauch. Leiden, Boston 2017, S. 74–117. 8 Welche Bände dazu zählen, kann über die Signaturenkonkordanz des Inkunabelreferats ermittelt werden: http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/handschriften/inkunabeln-wiegendrucke/bestandsuebersicht/ (25. Juni 2018). 9 Dies betrifft rund 230 Bände. Siehe hierzu Ursula Winter: Die europäischen Handschriften der Bibliothek Diez: Teil 2. Die Libri impressi cum notis manuscriptis der Bibliotheca Dieziana. Leipzig 1986. Die Einzelsignaturen können über die Signaturenübersicht ermittelt werden: http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/handschriften/abendlaendischehandschriften/signaturenuebersicht/ (25. Juni 2018). 10 Die Bezeichnung ›Bibliothek Diez‹ meint in den folgenden Ausführungen ausschließlich die Sammlung von Druckwerken, die unter der Signatur »Bibl. Diez …« im Katalog der SBB zu finden sind.

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mit rund 24.800 Drucken. Davon entfallen rund 330 auf Zeitschriften- und Reihentitel.11 Die monographischen und mehrbändigen Werke umfassen den Erscheinungszeitraum vom 15. bis 19. Jh. Auf das 15. Jh. entfallen ca. 100 Titel; das 16. Jh. ca. 1.900; das 17. Jh. ca. 5.100; das 18. Jh. ca. 16.300 und auf das 19. Jh. ca. 1.400 Titel. In der ›Bibliothek Diez‹ gibt es zahlreiche Sammelbände, wobei der Anteil im Quartformat bei weitem der Größte ist; rund 3.200 Quartbände enthalten knapp 10.000 Titel (im Unterschied dazu: ca. 11.000 Oktavbände mit etwas mehr als 13.200 Titeln sowie rund 1.200 Foliobände mit ca. 1.600 Titeln). Den Interessen von Diez gemäß, überwiegt Literatur zum Orient, zu den griechischen und römischen Klassikern, zur Geschichte sowie Sprachen und Literaturen. Auch darauf werde ich später zurückkommen.

2 Diez’ Sammlungen Zunächst soll hier Diez kurz als Sammler und Besitzer eines Naturalien- und Kunstkabinetts betrachtet werden. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass es neben der Bibliothek und den Handschriften zudem eine Münzsammlung gab, welche Diez in seinem Testament bedachte. Es handelte sich demnach um eine »Sammlung morgenländischer Münzen und Amulette«, welche an den Direktor der königlichen Antiken-, Münz- und Kunstkammer, Jean Henry (1761–1831) übergeben werden sollte.12 Die Bestände des königlichen Münzkabinetts flossen in die Sammlungen des Münzkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz ein. Über die Provenienz Diez lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider noch nichts sagen, da eine um 1817 erworbene Münzsammlung zum soge-

|| 11 Eine Erklärung für die Differenz zwischen 15.500 und 17.000 liegt m. E. in der Unterscheidung der Anzahl der Bände von denen der Werke, vor allem hinsichtlich der zahlreichen Sammelbände in Diezʼ Bibliothek. Im Testament spricht Diez selbst davon, dass seine Bibliothek »im siebzehnten Tausend stehe«. Das heißt, es dürften sich um 16.001–16.999 Stücke gehandelt haben. Balcke ermittelt anhand der vergebenen Diez-Signaturen eine Gesamtzahl von ebenfalls rund 15.500 Bänden, setzt aber die angebundenen Werke dazu und kommt so auf die von Diez angegebene Zahl von rund 17.000; bei ihm sind es damit Werke. Vgl. Balcke: Diez und sein Vermächtnis (s. Anm. 4), S. 191 u. S. 197; Wilken gibt im November 1818 folgende Formulierung: »Die gedruckten Bücher der Diezischen Bibliothek, ohngefähr 17600 Bücher in der Zahl.« (Acta III F1, Bd. 1, S. 95). Eine wahrscheinlich aus dem Jahr 1823 stammende Übersicht spricht von der Anzahl der Bände: folio: 1181, quart: 3.219, octav 10.957, Summe: 15.357. Eine Notiz verweist auf die »große Menge an Werken […] die zuverlässig auch an zweitausend und drüber betragen« und welche nicht berücksichtigt worden seien. (Acta III, F1, Bd. 1 1781–1833, S. 131). Diese Zahl bestätigt wiederum die hier ermittelten rund 15.500 Bände. 12 Acta betr. die Vermächtnisse an die Königl. Bibliothek 1781–1833 (s. Anm. 4), S. 25 u. S. 35.

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nannten »Alten Bestand« gehört, ein Erwerbungsbuch aber erst ab den 1830er Jahren geführt worden ist und die Provenienzerschließung noch am Anfang steht.13 Dagegen sind wir über die Kunst-, Instrumenten- und Naturaliensammlung von Diez sehr gut unterrichtet (Abb. 2).

Abb. 2: Titelblatt des Auktionskataloges aus dem Jahr 1818 (eingebunden in Ms. Cat. A 464/30). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 13 Nach mündlicher Auskunft aus dem Münzkabinett SMB PK vom Juni 2017.

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Wie aus einem gedruckten Auktionskatalog hervorgeht, sollte die Sammlung gut ein Jahr nach seinem Tod, im Juni 1818, versteigert werden.14 Es handelte sich um rund 900 Gegenstände verschiedenster Art, wie zum Beispiel mathematische und optische Instrumente, Sonnenuhren, Instrumente zur Körperpflege, Mineralien und Fossilien, Vasen, Büsten, Messer, Tabakdosen, Brieftaschen, Wachsportraits, Elfenbeinfiguren, Miniaturen, Kupferstiche, Öl- und Glasgemälde. Diez sammelte offenbar nicht nur Bücher und Handschriften, sondern trug zahlreiche Objekte aus Naturgeschichte und Medizin, Kunsthandwerk, bildender Kunst und Instrumentenbau zusammen. Über deren Herkunft gibt dieser Auktionskatalog zwar keine Auskunft. Es darf aber angenommen werden, dass seine Sammeltätigkeit bereits während seiner Zeit als Diplomat begann und somit zahlreiche Sammelobjekte aus dem Orient stammen dürften. Die Zusammensetzung der Sammlung weist ihn als typischen Gelehrten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus, als der Besitz einer eigenen Sammlung an Kunst- und Naturgegenständen sowie deren Zustand als Ausweis von Gelehrsamkeit, Rechtschaffenheit und Wohlstand diente.

3 Die Kataloge zur Bibliothek Diez Gleichwohl bildet die Sammlung der gedruckten Bücher ihrem Umfang nach den größten und auch wichtigsten Teil. Dies kommt vor allem im Testament zum Ausdruck, wo Diez die Bibliothek an den Anfang seiner Verfügung stellt. Im Testament heißt es im 1. Paragraphen: Sie [die Bibliothek] soll unterm Namen der Bibliothek von Diez zu ewigen Zeiten für sich ohne Vermischung mit der Königlichen Bibliothek, in derselben Ordnung erhalten werden, worin ich sie gebracht habe, nämlich nach den fünf großen Zeit-Perioden der menschlichen Erkenntniß der Morgenländer in drei Klassen, dann der Griechen, der Römer, des Mittelalters und der Neuern nebst dem Anhang, welcher die Bücherkunde, Biographien und Litterär-Geschichte betrifft, wie ich diesen Plan meiner Bibliothek in der Vorrede zum Katalog erklärt habe, der in 12 Folio Bänden, Kladde und einer Abschrift von zwei Quartbänden in meinem Schreibschrank anzutreffen ist, eines dritten Bandes nicht zu gedenken, der ein allgemeiner Realkatalog sein soll.15

Mit der Bibliothek gelangten auch die Kataloge in die Königliche Bibliothek, die gegenwärtig in der Handschriftenabteilung der SBB aufbewahrt werden. Hier sind vor allem die im Testament erwähnten drei Kataloge zu den gedruckten Büchern || 14 Verzeichniß der von dem Königl. Geheimen Legationsrathe und Prälaten Herrn von Diez und andern hinterlassenen Kunst- und Naturmerkwürdigkeiten verschiedener Art, [...] welche den 8ten Juni und folg. T. d. J. Vormittags um 11 Uhr am Dönhofsplatze Nr. 36. durch den Königl. Auctionskommissarius Bratring gegen gleich baare Bezahlung in kling. Preuß. Cour. meistbietend versteigert werden sollen. Berlin, 1818. 15 Zitiert nach Balcke: Diez und sein Vermächtnis (s. Anm. 4), S. 191.

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 315

von Interesse. Darüber hinaus wurden von Diez bzw. zu seinen Lebzeiten noch weitere Kataloge angefertigt, so zu den Dissertationen, der Sammlung Homerica und den Handschriften. Die folgende Übersicht stellt diese Kataloge zusammen: Signatur Ms. Cat. A 361–372

Alphabetischer Haupt- und Arbeitskatalog, 12 Bände

Ms. Cat. A 464/30

Reinschrift des Hauptkatalogs, 2 Bände

Ms. Cat. A 389

Realkatalog

Ms. Cat. A 373–379

Katalog der Dissertationen, 7 Bände

Ms. Cat. A 390

Verzeichnis der Homerica

Ms. Cat. A 478b

Katalog der Handschriften

Nach der Übernahme durch die Königliche Bibliothek sind durch Wilken weitere Kataloge angefertigt worden. Wilken war gerade erst 1817 zum Oberbibliothekar nach Berlin berufen worden. Eine seiner dringendsten Aufgaben bestand in der Erarbeitung eines ersten Gesamtkataloges für die Buchbestände der Königlichen Bibliothek, den so genannten Wilkenschen Inventarien.16 Die Übernahme der ›Bibliothek Diez‹ gehörte zu seinen ersten Arbeiten. Ein rein alphabetischer Katalog besteht aus 8 Foliobänden und lässt die Systematik von Diez unberücksichtigt. Er entstand in den Jahren nach 1818 und diente als Grundlage für die Übertragung der Titel aus Diezʼ Bibliothek in den Gesamtkatalog. Außerdem sind zwei separate Verzeichnisse überliefert, die in einem Band zusammengebunden worden sind. Das eine führt die im ›Katalog Diez‹ zwar aufgeführten, aber tatsächlich fehlenden Bücher auf. Das andere wiederum verzeichnet die vorhandenen, jedoch nicht im ›Katalog Diez‹ zu findenden Titel. Außerdem gibt es ein später von dem Bibliothekar Gottlieb Friedländer (1805–1878) erarbeitetes Verzeichnis der Portraits, welche ebenfalls in die Königliche Bibliothek gelangt sind.

|| 16 Heinrich Roloff: Aufstellung und Katalogisierung der Bestände. In: Deutsche Staatsbibliothek. 1661–1961. Hg. von Horst Kunze. Leipzig 1961, Bd. 1, S. 131–174, hier S. 144ff.; ausführlicher zu Wilken und seiner Bedeutung für die Königliche Bibliothek Eugen Paunel: Die Staatsbibliothek zu Berlin. Ihre Geschichte und Organisation während der ersten zwei Jahrhunderte seit ihrer Eröffnung 1661–1871. Berlin 1965, S. 160–217.

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Signatur Ms. Cat. A 380–387

Alphabetischer Katalog der Bibliothek Diez

Ms. Cat. A 388

Verzeichnisse der fehlenden bzw. zusätzlich vorhandenen Bücher

Ms. Cat. A 391

Verzeichnis der Portraits

Bei den im Testament als »12 Folio Bände, Kladde« bezeichneten Katalog handelt es sich um den zwölfbändigen Hauptkatalog, den Diez als Arbeitskatalog verwendete (Abb. 3). In dem Bandkatalog ist jedes zweite Blatt auf recto und verso mit Zetteln locker beklebt. Auf diesen Zetteln sind von Schreiberhand einzelne Titel vermerkt, was sehr wahrscheinlich vorab als gemeinschaftliche Arbeit von Diez und seinem Gehilfen erledigt worden ist. Auf jedem dieser Zettel hat Diez ein Ordnungswort vermerkt.

Abb. 3: Stichworte des Arbeitskatalogs (»Biblia«) (Ms. Cat. A 361 unpag.). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 317

Neben diesen Katalogeinträgen finden sich von Diezʼ Hand zahlreiche nachträgliche Eintragungen zu erworbener Literatur und Notizen zu den Büchern. Jeder Katalogabschnitt wird mit einer Einleitung begonnen, wobei Orts- und Zeitangaben von »Philipsthal 1797« bis »Colberg 1803« reichen. Hervorzuheben sind hier vor allem die Ordnungswörter, die von Diez an die Titeldaten gesetzt worden sind. Sie bestimmen als Lemmata die Abfolge der Bücher in diesem Katalog und fungieren damit als Sachstelle. Für weitere Forschungen zu Diez und seiner Büchersammlung dürften diese Katalogbände eine vielversprechende Quelle sein. Aufgrund der »literarischen Anmerkungen« von Diez gehen sie weit über den Charakter eines Bücherkataloges hinaus, sondern sind vielmehr ein Notiz-, Skizzen- und Exzerptbuch im eigentlichen Sinne, das über einen mehrjährigen Zeitraum geschrieben und ergänzt worden ist. Bei der im Testament erwähnten Abschrift handelt es sich um die Reinschrift des Arbeitskataloges, die in zwei vollständig in braunes Leder gebundenen und mit goldener Titelprägung ausgestatteten Quartbänden vorliegt (Abb. 4).

Abb. 4: Abschrift des Katalogs (»Biblia«) (Ms. Cat. A 464/30, S. 15). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

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Die Gestaltung der Seiten folgt hier einem einheitlichen Muster. Die Eintragungen innerhalb der sachlichen Großgruppen sind alphabetisch, wobei der ordnende Anfangsbuchstabe in roter Tinte hervorgehoben ist. Auf dem jeweils äußeren Rand sind oben die Großgruppen bezeichnet, so dass auf jeder Katalogseite klar ist, an welcher Stelle der Systematik sich der Leser befindet. Die vom Schreiber eingefügten Lücken zwischen den Eintragungen ermöglichten auch hier ergänzende Notizen von Diezʼ Hand. Außerdem sehen wir zahlreiche Bearbeitungsspuren von Wilken, die mit Bleistift eingetragen worden sind. Die bereits im Arbeitskatalog vorhandenen Vorreden sind hier mit der gleichen Datierung übernommen worden. Der als dritter Band im Testament erwähnte Realkatalog ist in gleicher Weise eingebunden und goldgeprägt wie die Katalogreinschrift. Diez bezeichnet ihn handschriftlich als »Realverzeichnis«, laut Krünitz also einem »Verzeichniß oder Register, welches den wesentlichen Sachinhalt angibt«17 (Abb. 5).

Abb. 5: Index (»Biblia«) (Ms. Cat. A 389, unpag.). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 17 Zum Stichwort »Realindex« vgl. D. Johann Georg Krünitzʼs ökonomisch-technologische Encyklopädie. / Zuerst fortgesetzt von Friedrich Jakob Floerken, nunmehr von Heinrich Gustav Flörke. Hundert und ein und zwanzigster Theil: welcher die Artikel Ratzenfänger bis Reichswerth enthält. Berlin 1812.

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 319

Tatsächlich handelt es sich um einen Index der einzelnen Großgruppen, wobei diese in der Einteilung erhalten bleiben. Die Lemmata stehen in alphabetischer Reihenfolge, wobei man verschiedene Hierarchiestufen unterscheiden kann. Die Angabe der Kurztitel nach dem letzten ordnenden Begriff, also auf der untersten Hierarchiestufe, wird durch das Erscheinungsjahr und die Formatangabe ergänzt. Es gibt nun keine direkte Verbindung zwischen dem Realverzeichnis und der Reinschrift des Hauptkataloges. Nur an der Art der Einbindung kann festgestellt werden, dass Diez diese beiden Teile seines Bücherkataloges als eine Einheit betrachtete. Das »Realverzeichnis« dient also, wie der Name schon nahe legt, dem sachlichen Zugang zu den Titeln nach alphabetisch geordneten Stichworten. Die Bücher selbst konnten jedoch nur mit den notwendigen Vorkenntnissen der Diezʼschen Systematik im Hauptkatalog aufgefunden werden. Nichtsdestotrotz gewährt dieses Realverzeichnis einen detaillierten Einblick in die Bibliothek und ihre Sammlungsschwerpunkte.

4 Die Anordnung der Bücher bei Diez In der Vorrede zum ersten Band seines Kataloges erklärt Diez seine Bibliothek, indem er quasi durch den Raum geht und die Abfolge der Bücher wiedergibt. »Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht«, schreibt Diez, und begründet damit die auf persönlichen Interessen und Vorlieben beruhende Anordnung der Bücher. Er setzt sich hier auch mit den verschiedenen Möglichkeiten einer Bibliothekssystematik auseinander. Zum einen verwirft er den Gedanken, dem Katalog eine rein alphabetische Abfolge zu geben. Ein Auffinden der Bücher am Regal, wo die Bände der gleichen Ordnung folgen würden, wäre ungleich erschwert. Auch hält er eine Anordnung, die sich an den Wissenschaftsdisziplinen orientiert, für »töricht«. Man könne, so Diez, anhand des Titels nur schwer auf den Inhalt schließen. Auch würden in den Büchern die Disziplingrenzen vielfach überschritten, so dass das Buch »nicht an mehreren Orten zugleich aufgestellt« werden kann. Für ihn stünde überhaupt die Lektüre der Bücher im Vordergrund, »als sie in pomphaften Verzeichnissen bloß nach ihren Titeln erscheinen zu lassen«.18 Für Diez sind die Wissenschaftsdisziplinen wie Theologie, Geschichte, Politik, Philosophie, Sprachkunde usw. sowieso nur Teile einer großen Gesamtheit. Er nennt diese die »Wissenschaft von Gott«: Außerdem muß ich gestehen, daß ich nur eine einzige Wissenschaft kenne und treibe, die Wissenschaft von Gott und die Kenntnis des Menschen, der Welt und der Dinge, die in ihr sind, wozu Theologie, Geschichte, Politik, Philosophie, Sprachkunde und wie sonst die sogenannten

|| 18 Vgl. die Vorreden in der Reinschrift des Hauptkatalogs (Ms. Cat. A 464/30 Bd. 1 u. 2), T. 1, S. 3*–4*.

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Wissenschaften heißen mögen, in meinen Augen nur die einzelnen Artikel sind, die zu jener großen Wissenschaft gehören: Für diese nur allein sammle ich, was nach meinen Vorstellungen damit in Verbindung steht und aus dem Catalogus selbst kann man ohngefähr ersehen, in welchem Sinne die Sammlung der Bücher angelegt worden, ohne daß ich mich hier darüber weiter erkläre, da es, wie gesagt, für jeden andern eine ganz gleichgültige Sache ist. Es ist genug zu sagen, daß kein einziges Buch ohne Zweck und Absicht darin anzutreffen ist.19

Aufgrund dieser teleologisch geprägten Wissenschaftsauffassung wählt er nun einen dritten Weg für seine Bibliothekssystematik, der für seine »einzige Wissenschaft der natürliche ist«.20 Er folgt in seiner Systematik den »Hauptzeitaltern des menschlichen Wissens«21 und ordnet die Bücher im Sinne einer universellen, jedoch stark eurozentristisch geprägten Auffassung von Geschichte. In der Abfolge der Kulturen sieht er eine stetige Weitergabe von Wissen, die er als »Filiation der Kenntnisse«22 bezeichnet. Ihre Wurzeln lägen freilich im Orient, den er quasi als den Ursprungsort des menschlichen Wissens und der Kultur betrachtet. Entsprechend heißt es in seiner Beschreibung: 1. Wenn man nemlich in meine Bibliothek eintritt, so hat man acht Rücken auf gleicher Linie im Gesicht, wo sich die Werke aufgestellt finden, die sich auf die Morgenländer beziehen. […] 2. Da die Kenntnis aus dem Morgenlande zu den Griechen übergegangen: so sieht man die Werke der letzteren dem Orient gegenüber stehn, dessen Licht sie aufgefangen.23

So stehen die »Morgenländer« am Anfang seiner Bibliotheksordnung, wie auch am Beginn des Bibliotheksraumes. Ihnen gegenüber befinden sich die »Griechen«, gefolgt von den »Römern« und dem »Mittelalter«. Darauf schließen sich die so genannten »Neuern« an, worin alle Autoren der Neuzeit eingeschlossen sind, die er in humanistischer Bildungstradition als die Wiederhersteller der Wissenschaften und die Kommentatoren der Griechen und Römer ansieht. Als 6. Abschnitt seines Bibliotheksraumes nennt Diez hier die Handschriften, für die ein separater Katalog angefertigt worden ist.24 Am Schluss des Raumes und der Anordnung befindet sich als 7. Teil die Literatur zur Bücherkunde und Bibliographie. Auf die Unterscheidung dieser Literaturgattungen von denen, »die sich mit Sachkenntnissen beschäftigen«, legt er offenbar großen Wert:

|| 19 Ebd., S. 4*. 20 Ebd., S. 5*. 21 Ebd. 22 Ebd., T. 5, S. 362b. 23 Ebd,, T. 1, S. 5*. 24 Verzeichnis der morgenländischen und abendländischen Handschriften in meiner Bibliothek, Sgn.: Ms. Cat. A 478b.

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 321

Ich muß indessen hinzusetzen, daß ich von der Bücherkunde und Gelehrtengeschichte die Geschichte der Wissenschaften und menschlichen Meinungen sehr weit absondere; denn die letztere Geschichte ist eigentlich die Geschichte des menschlichen Geistes, oder mit andern Worten, es ist die Sachkenntnis selbst, es ist der innere Gegenstand und das Wesen der Bücher selbst, während daß ich Bücherkunde und Gelehrtengeschichte nur als Nominalkenntnis oder Nomenklatur ansehe, die […] zur Gelehrsamkeit gehört, aber nicht die Gelehrsamkeit ausmacht, so daß ich auch die Bücher, welche davon handeln, nur als das Anhängsel oder als den Hinterteil der Bibliothek betrachte, ohne welchen der Vorderteil der Bibliothek, ich meine die Wissenschaft der Sachen oder Sachkenntnis wohl bestehen könnte, während daß Nomenklatur ohne Sachkenntnis ein sehr armseliges Ding bleibt.25

Aufgrund der besseren Lesbarkeit offenbart die Katalogreinschrift aber noch mehr: Diez fügt an verschiedenen Stellen eigene sachlich zusammengehörige Gruppen ein, die eine untergeordnete Systematik aufmachen, ohne die darüber liegende alphabetische Ordnung zu stören. Hier folgt zwar das Stichwort dem Alphabet. Die Titel weisen jedoch ihrerseits eine ganz eigene Abfolge auf. Die in der Katalogabschrift sichtbaren sind die so genannten Homerica, Editionis Ovidii, Tacitussiana, die Ana, Chronologica und Proverbia. Darüber hinaus gibt es laut Diez noch weitere Sammlungen, die zwar nicht im Katalog als solche erscheinen, jedoch im Regal zusammenstehen. Als Begründung für die Zusammenführung der Quellen mit der Sekundärliteratur an diesen Stellen wird in erster Linie die erleichterte Benutzung der Bücher am Regal und die bessere Übersicht im Katalog über die vorhandene Literatur genannt. Tab. 1: Gegenüberstellung der Einzelbände von Diez’ Arbeitskatalog und der Katalogabschrift mit thematischen Schwerpunkten.

Arbeitskatalog (Signatur)

Katalogabschrift

Ms. Cat. A 361 Bd. I

Morgenländer Bd. 1, T. 1 eigene Autoren

S. 1*–

Morgenländer eigene Autoren

Ms. Cat. A 362 Bd. II

Morgenländer europäische Reisebeschreiber

Bd. 1, T. 2

S. 91–

Morgenländer Europäische Reisebeschreiber

Ms. Cat. A 363 Bd. III

Morgenländer europäische Schriftsteller

Bd. 1, T. 3

S. 149–

Morgenländer Europäische Schriftsteller

Ms. Cat. A 364 Bd. IV

Griechen

Bd. 1, T. 4

S. 253– S. 289–322

Griechen Homer

|| 25 Vorreden (s. Anm. 18), T. 12, S. 1119.

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Arbeitskatalog (Signatur) Ms. Cat. A 365 Bd. V

Katalogabschrift Römer

Bd. 1, T. 5

S. 361– S. 399–413 S. 427–434

Römer Editionis Ovidii Tacitussiana

Ms. Cat. A 366 Bd. VI

Mittelalter

Bd. 1, T. 6

S. 441–

Mittelalter

Ms. Cat. A 367 Bd. VII

Neuern A–C

Bd. 2, T. 7

S. 515– S. 533–547

S. 635–640

Neuern A-C Bücher oder Sammlungen in Ana Chronologica

Ms. Cat. A 368 Bd. VIII

Neuern D–H

Bd. 2, T. 8

S. 659– S. 690–700

Neuern D–H Epistolographii

Ms. Cat. A 369 Bd. IX

Neuern I–O

Bd. 2, T. 9

S. 793–

Neuern I–O

Ms. Cat. A 370 Bd. X

Neuern P–S

Bd. 2, T. 10

S. 911– S. 948–960

Neuern P–S Proverbia

Ms. Cat. A 371 Bd. XI

Neuern T–Z

Bd. 2, T. 11

S. 1051–

Neuern T–Z

Ms. Cat. A 372 Bd. XII

Bücherkunde

Bd. 2, T. 12

S. 1117–

Bücherkunde

In den Vorreden zu den Einzelbänden geht Diez jeweils auf die Besonderheiten ein und erläutert zum Teil ausführlich seine Beweggründe für die gewählte Einteilung. Den Begriff »Orient« weitet er über die geographischen Grenzen aus, indem er nicht nur ganz Asien mit China und Japan, sondern auch Afrika mit Ägypten einschließt.26 Außerdem zählt er die Teile Europas dazu, die zum türkisch-osmanischen Reich gehören. Ausschlaggebend sei der »orientalische Geist«, der sich grundlegend vom abendländischen unterscheide. Er zeichne sich durch eine weitaus größere Beständigkeit der Kultur und Lebensweise, der Wissenschaften, Künste und Philosophie aus. Über Generationen hinweg seien die Menschen im Orient in ihrem Denken und Handeln sowie in Wissenschaft und Künsten ihren Traditionen treu und in ihren Auffassungen konstant geblieben. Der Orient ist für Diez »eine Menschheit, die seit Jahrtausenden sich im Äußeren wie im Innern immer gleich geblieben, so daß ihr Neuestes nichts anderes ist als ihr Ältestes«.27 Auf der Grundlage dieser Annahme zählt er unter anderem Lexika und Grammatiken, welche von europäischen Autoren verfasst worden sind, zum ersten Abschnitt seiner Bibliotheksordnung »Morgenländer, eigene Autoren«, weil »allein die Materie beider Werke dem Volke angehört«.28 Die Funktion des Autors sieht er lediglich im Zusammentragen bzw. Abschreiben beispielsweise von Sprichwörtern oder

|| 26 Ebd., T. 2, S. 92b–92e. 27 Ebd., S. 92c. 28 Ebd., S. 8*.

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 323

Anekdoten, oder in der Übersetzung oder Bündelung des lokalen Wissens bzw. der Überlieferungen. Die umfangreiche Gruppe der Reisebeschreibungen aus dem Orient bilden den zweiten Teil des Kataloges. Für Diez sind auch hier die europäischen Autoren hauptsächlich Berichterstatter der lokalen Verhältnisse. Die Beschreibungen des Orients seien »nicht aus ihrem neuen Kopfe« erzählt, sondern die Wiedergabe dessen, was der Autor »im alten Orient gesehen, gehört und erfahren habe«.29 Einschränkend gibt Diez zu, dass natürlich der europäische Reisende den Orient mit den Augen des »Okzidentalismus« betrachte und daher die Inhalte oder Begriffe unvollständig sein könnten. Es sei aber nicht die Funktion seines Kataloges, auf die Fehler der einzelnen Werke oder Autoren einzugehen.30 Bücher europäischer Autoren, welche ganz oder teilweise den Orient zum Inhalt haben, fasste Diez in der dritten Gruppe der »Morgenländer« zusammen. Diese Werke basieren auf dem Studium der Quellen und Originalliteratur und müssten deshalb zur morgenländischen Literatur gerechnet werden. Die Qualität der Ausführungen sei dafür unerheblich, vielmehr seien »solche schlechten Werke nicht ohne Nutzen, weil [derjenige, der den Orient kennt,] sich an den Fehlern derselben spiegeln und verbessern kann«.31 Die eigentliche »zweite Klasse« seiner Bibliothek sei die Literatur der Griechen, welche »ihren Unterricht aus dem Morgenlande« empfangen haben.32 Die Literatur der Römer folgt auf die der Griechen, »weil letztere zu Lehrern der ersten angenommen« worden sind.33 Er sieht in den Römern die Nachahmer der Griechen, wenngleich auch hier direkte historisch nachweisbare Verbindungen zum Orient bestünden, vor allem mit den Etruskern, deren Ursprünge in Asien lägen. Der Abschnitt zum Mittelalter umfasst den Zeitraum vom 6. bis zum 15. Jahrhundert mit der »sogenannten Wiederherstellung der Wissenschaften« und bringt wieder die Quellen selbst als auch die Sekundärliteratur zusammen.34 Dies wird abermals mit inhaltlichen Überschneidungen und einer besseren Übersicht begründet. Außerdem ordnet er die Literatur zum mittel- und nordeuropäischen Altertum beim Mittelalter ein. Seine Begründung zielt in erster Linie auf die Integration vorchristlicher Traditionen in die christliche Religion und Kultur. Diez nimmt diesen Katalogteil zum Anlass, grundlegende Kritik an der zeitgenössischen historischen Wahrnehmung des Mittelalters und vor allem seiner vorherrschenden Sprache zu üben. »Nachdem der Eigendünkel einmal diese Zeit die Periode der Barbarei und Unwissenheit genannt hatte«, so Diez, seien auch die mittelalterlichen Schriften in || 29 Ebd., S. 92c. 30 Ebd., S. 92e. 31 Ebd., T. 3, S. 150c. 32 Ebd., T. 4, S. 254b. 33 Ebd., T. 5, S. 362b. 34 Ebd., T. 6, S. 443.

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Vergessenheit geraten.35 Dabei komme der lateinischen Sprache als wichtigem »Hilfsmittel« für das Studium der Quellen eine besondere Bedeutung zu. Für Diez ist »das Latein des Mittelalters eine außerordentlich reiche Sprache«. Die Unterscheidung von klassischem Latein des Altertums, für ihn die tote Sprache der klassischen Autoren, und dem Latein des Mittelalters habe jedoch die Unkenntnis über diese Epoche noch verstärkt. Das mittelalterliche Latein erkennt er als eine lebendige Sprache, die über einen langen Zeitraum nicht nur von Gelehrten gesprochen und geschrieben, sondern auch als Umgangssprache angewendet worden ist, und aus der letztlich europäische Sprachen wie Italienisch, Französisch, Spanisch oder Portugiesisch hervorgegangen sind. Er schließt diese Überlegungen mit einer Gegenwartskritik ab, die wiederum auf die Kurzlebigkeit und die fehlenden Traditionen in den europäischen Kulturen zielt: Die Kinder von heute wissen nicht mehr die Sprache von gestern. Und was das Schlimmste ist, so werden die Veränderungen, wovon mit jedem Tage die lebendigen Sprachen umgestaltet werden, nicht der tadelhaften Leichtsinnigkeit und Veränderlichkeit des menschlichen Herzens zugeschrieben, sondern werden sogar dem menschlichen Verstande als Vervollkommnungen angerechnet, denn diese dumme Meinung hat sich nicht so bald der Köpfe bemächtigt, als sie ihnen zugleich die Verachtung des Alten einflößt, welche so leicht ist, weil man das Alte dabei nicht zu lernen braucht.36

Mit dem Abschnitt zum Mittelalter endet der erste Band der Katalogreinschrift. Der zweite Band enthält hauptsächlich den Katalogabschnitt mit Literatur der so genannten »Neuern« und ist der umfangreichste Teil der Bibliothek. Er beinhaltet alle Werke vom 15. Jahrhundert, also vom Beginn der europäischen Renaissance, bis zu Diezʼ Lebzeiten. Diez stellt diesem Abschnitt ein Motto voran, welches auf den antiken Mythos der Danaiden Bezug nimmt und in dem wiederum eine leise Kritik an gegenwärtigen abendländischen Lehr- und Lerninhalten, am Sprach- und Geschichtsunterricht und an der Wertschätzung gegenüber früheren Autoren zum Ausdruck kommt: »Haurit aquam cribro, qui discere vult sine libro« – »Der schöpft Wasser mit einem Sieb, welcher ohne Buch lernen will.«37 Die alphabetische Reihenfolge nach Autor oder Titelstichwort gliedert den Katalogteil der »Neuern« in fünf Abschnitte. Sie ist, wie schon in den anderen Teilen, durch einzelne Sammlungen unterbrochen, die sich wiederum mit ihren Lemmata in das Alphabet einreihen. Dazu gehören die sogenannten Ana, die Chronologica, die Epistolographii und die Proverbia. Diez fasst hier spezielle Literaturgattungen in einer untergeordneten Systematik zusammen. So sind Sammlungen von Aussprü|| 35 Ebd., S. 444. 36 Ebd., S. 445. 37 Übersetzung aus: Thesaurus proverbiorum medii aevi = Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Begr. von Samuel Singer. Berlin 1996, Bd. 2, S. 137.

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chen, Gedanken oder Texten eines einzelnen Autors als so genannte ›Ana‹ zusammengestellt, wie zum Beispiel von Leibniz die Leibniziana. Auch an dieser Stelle betont Diez den Unterschied zwischen älteren Herausgebern und Schriften dieser Art und den jüngeren Titeln, welche neben einem »schlechten Nachahmungsgeist« die noch »elendere Habsucht [haben] Schriften zusammensudeln lassen, worin oft kein vernünftiger Gedanke, viel weniger Erfahrungen anzutreffen sind«.38 Umfang und Charakter dieser auch von Diez so bezeichneten Sammlungen erlaubten ihm nun, sie im Katalog quasi als Sammlungsschwerpunkt auszuweisen. Darüber hinaus gibt es noch weitere Gruppen, welche Diez im Regal zusammenlegt. Diese seien aber unter der »Collectiv-Idee, worunter [er] sie im Kopfe zusammenfasse« nicht im Katalog zu finden. Er zählt sie auf: Kommentatoren der Klassiker; französische Memoiren, Schriften zu Gesundheit und Leben, allgemeine Grammatik, deutsche Sprache, Abhandlungen zu Gedächtnis und Mnemonik, Meteorologie, Münzsachen, Schriften zur Selbsterkenntnis, Weltklugheit und Menschenkenntnis, Curiosa.39 Auch hier ist es wieder die »Bequemlichkeit«, die Titel, welche inhaltlich zusammengehören, nebeneinander im Regal zu haben. Diez schafft auf diese Weise Sachgruppen, die sowohl seiner Interessenlage entsprechen als auch (ihm) die Benutzung der Bibliothek erleichtern. Wenngleich sich im Abschnitt der »Neuern« die meisten dieser Sachgruppen nicht im Katalog finden lassen, so dürfen wir meines Erachtens davon ausgehen, dass Diez in diesem Teil seiner Büchersammlung eine vornehmlich sachliche Ordnung wählte.

5 Die gegenwärtige Ordnung der ›Bibliothek Diez‹ Wir können uns nun ein ungefähres Bild davon machen, wie Diez selbst seine Bibliothek geordnet hat und welche Schwerpunkte er setzte. Laut testamentarischer Verfügung sollte diese Ordnung stets beibehalten werden. Friedrich Wilken als Bevollmächtigter der Königlichen Bibliothek legte dieses Vermächtnis auf eigene Weise aus. Ein Schreiben vom November 1818 gibt Aufschluss darüber, welche Änderungen vorgenommen worden sind, nachdem die ›Bibliothek Diez‹ in die Königliche Bibliothek gelangt war.40 Die heute noch gebräuchlichen, auf dem hinteren inneren Buchdeckel eingeklebten Diez-Signaturen, also Bibl. Diez. oct, qu., und fol., durch eine Nummer ergänzt, sind von Wilken eingeführt worden (Abb. 6).

|| 38 Vorreden (s. Anm. 18), T. 7, S. 519. 39 Ebd. 40 Acta (s. Anm. 4), S. 95.

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Abb. 6: Entwürfe für Signaturenschilder (Acta II F, Bd. 1, Bl. 95v). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Er konnte hier allerdings auf einen solchen Vorschlag von Diez aus seinem Testament zurückgreifen.41 Diez selbst hatte ja, abgesehen von der rudimentären Beschriftung des oberen Schnittes, auf jegliche Kennzeichnung der Bücher verzichtet. Die innerhalb der drei Formate fortlaufende Nummerierung der Bände sollte nun in erster Linie dazu dienen, die einmal festgesetzte Systematik zu fixieren. Diese Systematik war aber nicht nur die von Diez bestimmte. Nach Wilkens Auffassung bräuchten nur diese Abschnitte beibehalten werden, welche der Katalog explizit ausweist. Das sind die sechs Hauptabschnitte Morgenländer, Griechen, Römer, Mittelalter, Neuern und Bibliographie. Hinzu kommt die Einteilung der Literatur der Morgenländer, welche Wilken folgendermaßen beschreibt: 1.) Texte morgenländischer Schriftsteller, die Bibel in den Grundsprachen und Übersetzungen einbegriffen, Grammatiken und Wörterbücher und einzelne […] begünstigte Erklärer der biblischen Schriften. 2.) Reisebeschreibungen des Morgenlandes, Rußland inbegriffen. 3.) Neuere Schriftsteller über das Morgenland, welche mit und ohne Kenntniß der Länder, Sachen und Sprachen geschrieben haben.42

Innerhalb dieser drei Abteilungen hat Wilken jedoch eine Überarbeitung vorgenommen und nach Sprachen und Regionen geordnet. Er begründet dies seinerseits mit der erleichterten Übersicht über die Fächer und dem besseren Auffinden der Bücher. Dabei sind nicht alle Strukturen verworfen worden. Der Katalog von Diez weist beispielsweise unter dem Stichwort »Biblia« zahlreiche Ausgaben aus. Beeindruckend ist auch die Verzeichnung der Bibelausgaben im Realkatalog. Offenbar bilden die Bibel und ihre Übersetzungen sowie Kommentare und Konkordanzen einen Schwerpunkt in Diez’ Bibliothek, auch wenn dieser nicht im Katalog explizit ausgewiesen ist. Wilken hat nun die Bibelausgaben an den Anfang des ersten Teilabschnittes und damit der ›Bibliothek Diez‹ überhaupt gesetzt, da alle drei Formate damit beginnen (Abb. 7).

|| 41 Ebd., S. 28. 42 Ebd., S. 95.

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Abb. 7: Die ersten Bände der Bibliothek Diez (»Biblia«). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Für die anderen fünf Hauptabschnitte bestünde »völlige Freiheit« hinsichtlich einer Systematik der Bücher innerhalb der Großgruppen. Von dieser Freiheit macht Wilken Gebrauch. In den Abschnitten mit Literatur der Griechen, der Römer und des Mittelalters ordnet er lediglich die Ausgaben und Übersetzungen. Die große Abteilung mit neuzeitlicher Literatur erfährt jedoch eine grundlegende Überarbeitung, die Wilken als »wissenschaftliche Anordnung« betrachtet. So folgt auf die Römer ein Abschnitt mit Sekundärliteratur zum griechischen und römischen Altertum sowie zur allgemeinen Geschichte. Im Anschluss an den Abschnitt zum Mittelalter ordnet er die Werke nach dem klassischen Fächerkanon (Geschichte, Theologie, Jurisprudenz, Philosophie, Medizin und Naturkunde, vermischte Werken sowie Sprachen und Literaturen). Diezʼ Fach der Bücherkunde bzw. Bibliographie teilt Wilken in Allgemeines, Spezielles und Biographien. Die in diesem Katalogteil von Diez ausgewiesenen so genannten Sammlungen behält Wilken bei und stellt sie vor der Bibliographie ein. In vorausschauender Weise hat Wilken seine Zuordnung der Titel ins Buch eingetragen. Und so sind wir heute in der Lage, diese Ordnung detailliert nachzuvollziehen (Abb. 8).

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Abb. 8: Vermerk von Wilken (in »Biblia« = »Or I«). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Die Vermerke auf dem hinteren inneren Buchdeckel erlauben eine signaturengenaue Zuordnung. Jedoch ist das nur möglich, sofern der originale Einband erhalten ist. Bei neueingebundenen Exemplaren, nach einer Einbandreparatur oder bei neumontierten Vorsatzpapieren sind diese Vermerke zumeist nicht erhalten, da ihr Wert für die Einordnung in die Systematik der Diezʼschen Bibliothek nicht erkannt worden ist. Daher ist die Abgrenzung der Fachgebiete anhand der Signaturen in der Gegenwart stellenweise ungenau; auf eine Zuordnung von Einzeltiteln habe ich verzichtet. Für die Systematik als solche ist das aber unerheblich. Grundsätzlich muss bemerkt werden, dass die sehr detaillierte Einteilung durch Wilken im Oktavformat in den beiden anderen Formatgruppen nachlässt. Zum Teil wählte er eine andere Abfolge der Sachgruppen, zum Teil ist die Abgrenzung der Sachgruppen unscharf.

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Tab. 2: Überblick über die Einteilung der großen Gruppen bei Diez und die Zuordnung durch Wilken.

Bandzählung DiezKatalog

Bezeichnung im Katalog (durch Diez)

Bezeichnung im Buch (durch Wilken)

Bibl. Diez. oct.

Bibl. Diez. qu. Bibl. Diez. fol.

1

Morgenländer I, eigene Autoren

OR I

1–530

1–344

1–134

2

Morgenländer II, OR II europäische Reisebeschreiber

531–992

345–461

135–172

3

Morgenländer III, OR III europäische Schriftsteller

993–1640e

461a–727

173–252

4

Griechen

Gr. (gesamt)

1641–2347

728–968

253–408

Gr. Homerica

1641–1927

728–862

253–264

Gr. Poet.

1928–1992

Gr. Hist.

1993–2043

Gr. Phil.

2044–2257

969–1195

409–533

1196–1374e

534–596

… 5

Römer

Ro (gesamt)

2348–3046

Ro Ovid

2532–2744a

Ro Tacitus

2745–2824

Ro Cicero

2903–2951

Ro Plinius

2952–2971

Obs. 3047–3440e (=Observationes, Sekundärliteratur)

6

Mittelalter

Dipl. (=Diplomatik, Urkundenlehre)

3481–3675

1375–1475

H.U. (=Historia Universalis)

3676–3970

1604–1662a

M.A. Hist.

3971–4099

1476–1603e

Hist. Gall.

4100–4537c Lücken in der Zählung vh.

597–726

330 | Katrin Böhme

Bandzählung DiezKatalog

7

Bezeichnung im Katalog (durch Diez)

Neuern

Bezeichnung im Buch (durch Wilken)

Bibl. Diez. oct.

Bibl. Diez. qu. Bibl. Diez. fol.

Hist. Germ.

4559–4915

1663–1689

Hist. (Einteilung nach Ländern /Regionen, z.B. Ungarn, Niederlande, Belgien, Italien, England u. a. m.

4916–5195

1690–1754

Hist. misc.

5196–5297

1755–1779p

Theol.

5298–6022e

1780–1919a

Phil.

6023–6731

1920–1980

932–964

Jur./Polit.

6732–7093b

Polit. 1981– 2015

965–979

Gesamt: 727–910 Hist. (Gall., Hisp., Pol., Germ., H.U., Angl) 773–834 UniversalLexikon 835–898

911–931

Jur. 2016– 2047a Phys.

7094a–7404e

2048–2143

987–1008

Med.

7405–7625d

2144–2191

980–986

Misc., Geogr.

7626–8265

2192–2378

1009–1041

[Dissertationen und Sammelbände]

2380–2617

Ling. (verschied. Sprachen, beginnend mit Germ.)

8266–9157

2618–2687i

Ling./Litt. misc.

9159–9523

2688–2769

Historia Universalis

2770–2800

1043a–1056

1057–1076

Chronologica

9524–9570

Numismatik

9571–9574a

2801–2845

Epist.

9575–9705b

2846–2868a

Proverb.

9706–9800

2868b–2868z 1077

1078–1083

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 331

Bandzählung DiezKatalog

12

Bezeichnung im Katalog (durch Diez)

Bücherkunde

Bezeichnung im Buch (durch Wilken)

Bibl. Diez. oct.

Ana

9801–9907a

Bibl. Diez. qu. Bibl. Diez. fol.

Lit. misc.

9908–9954

Lit. univ.

9955–10294

2869–3036

Lit. spec.

10295–10509

3037–3219

1143–117943

Lit. spec. biogr.

10510–10862a

Ende 4°

Ende 2°

Lit. misc.

10863–10957 Ende 8°

Summe der Signaturen

1084–1142

15357

Im Quartformat gibt es außerdem eine umfangreiche Stelle mit Dissertationen und Sammelbänden, die in Oktav und Folio nicht erscheint. Es handelt sich hier um die Dissertationensammlung von Diez, zu der auch ein eigener Katalog angefertigt worden ist.44 Die Titel aus den Fachgebieten Observationes, Diplomatik und Historia Universalis zwischen der Literatur zu den Römern und dem Mittelalter waren bei Diez bei den neuzeitlichen Autoren (»Neuern«) eingestellt. Diese Abschnitte gehen auf Wilken zurück, der sie als Sekundärliteratur zu Altertum und allgemeiner Geschichte zusammenfasst.45 Durch die Vermerke von Wilken werden zudem die kleinen Sammlungen von Diez sichtbar, jedoch habe ich auch hier auf eine Titel- bzw. signaturengenaue Bestandsaufnahme verzichtet. Neben den in der Tabelle genannten gibt es an verschiedenen Stellen noch weitere, kleinere Schwerpunkte, bei denen es sich um die von Diez in den Vorreden genannten Gruppen wie zum Beispiel Mnemonik, Meteorologie, Numismatik oder Curiosa handelt.46 Die quantitative Analyse zeigt die Fächerverteilung in der Bibliothek Diez auf der Grundlage der Zuordnungen von Wilken (Abb. 9). Da die Einteilung der Großgruppen (Morgenländer, Griechen, Römer, Mittelalter, Bibliographie) auf den Katalog von Diez zurückzuführen ist, können hier die ursprünglichen Anteile dieser

|| 43 Die Signaturen Bibl. Diez fol. 1180 u. 1181 sind vergeben, aber die Bände zählen gegenwärtig zu den Kriegsverlusten. Vgl. Balcke: Vermächtnis (s. Anm. 4), S. 197. 44 Katalog der Dissertationen in folio, Sign.: Ms. Cat. A 373–379. 45 Acta (s. Anm. 4), S. 95. 46 Vorreden (s. Anm. 18), T. 7, S. 519.

332 | Katrin Böhme

Sachgruppen ermittelt werden. Alle anderen Fächer gehen auf die Neuordnung der neuzeitlichen Literatur durch Wilken zurück.

Abb. 9: Anteile der Fachgruppen auf der Grundlage von Wilkens Zuordnung. © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Wilkens Urteil über die Bibliothek und den Katalog ist kein positives, wenn er im Gegensatz zu Diezʼ »Bequemlichkeit« von ihrer Ungenauigkeit und »sehr unbequemen Einrichtung« spricht.47 Erst durch seine Arbeiten seien die Werke nach Autoren und Ausgaben sortiert und die Titel zu den einzelnen Fachgruppen zusammengeführt worden. Die Bibliothek habe dadurch eine wissenschaftliche Anordnung erhalten. Dies steht nun ganz im Gegensatz zu der Abfolge der Literatur in der Diezʼschen Systematik, welche seine ganz persönliche Sicht auf die Geschichte, Kultur und Wissensgeschichte und das Nebeneinander von abend- und morgenländischen Besonderheiten spiegelt. Dabei spielten für Diez nicht nur inhaltliche Faktoren eine Rolle, sondern es scheint immer wieder die so genannte Bequemlichkeit durch. Diez möchte die Bücher zum selben Thema sowohl im Regal als auch im || 47 Acta (s. Anm. 4), S. 95.

»Ich hatte dabei wesentlich meine Bequemlichkeit zur Absicht« | 333

Katalog beieinander sehen, um die Übersicht und die Benutzung zu erleichtern. »Jeder macht in seinem Hause, was er will. Und hier kommt es mir darauf an, den Gesichtspunkt zu stellen, welchen ich bei der Sache gehabt habe«, so seine lakonische Rechtfertigung für die Besonderheiten in seiner Bibliothek.48 So dürfen wir gegenwärtig davon ausgehen, dass in der Bibliothek Diez zwar eine ursprüngliche Anordnung der Bücher vorliegt. Ursprünglich aber nicht allein im Sinne von Diez. Die Anordnung der Großgruppen und der explizit im Katalog ausgewiesenen Sammlungen innerhalb der Bibliothek Diez sind zwar dem Testament gemäß beibehalten worden. Die darunter liegende Systematik und die sachliche Zuordnung von Einzeltiteln ist jedoch auf die Überarbeitung von Wilken zurückzuführen.

|| 48 Vorreden (s. Anm. 18), T. 4, S. 354d.

Ursula Winter

Heinrich Friedrich von Diez und seine Sammlung abendländischer Handschriften Zu den wertvollsten Sondersammlungen der Berliner Staatsbibliothek gehört die Bibliotheca Dieziana. Sie gelangte 1817 in die damalige Königliche Bibliothek und ist bis heute, von einigen Verlusten abgesehen, noch immer als Ganzes beisammen. Der Sammler und Besitzer, Heinrich Friedrich (von) Diez,1 wurde am 2. September 1751 in Bernburg (Anhalt) geboren und ging nach Absolvierung des Gymnasiums2 1769 nach Halle an der Saale, um Jura zu studieren. Schon in seinen Universitätsjahren publizierte er einige kleinere Schriften philosophischen und juristischen Inhalts. Er trat dann als Referendar bei der Königl. Preuß. Regierung in Magdeburg ein und brachte es dort bis zum Kanzleidirektor. In dieser Zeit wandte er sich mit besonderem Interesse dem Erlernen fremder Sprachen zu. Diez, der Zeit seines Lebens nicht an Minderwertigkeitskomplexen litt, fühlte sich auf die Dauer in seiner untergeordneten Stellung nicht wohl. Seine Wünsche zielten auf den Orient, dem seine große Liebe galt. Durch seine Bekanntschaft mit Christian Konrad Wilhelm Dohm, der im preußischen Außenministerium tätig war, erfuhr er 1784 von der freigewordenen Stelle des preußischen Geschäftsträgers in Konstantinopel und bewarb sich um diesen Posten. Die Audienz bei König Friedrich II., die nach einigen Schwierigkeiten zustande kam, hatte ein positives Ergebnis. Diez beschreibt ihren Verlauf anschaulich in einem Brief an den Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt.3 So wurde er Chargé dʼaffaires Preußens bei der Hohen Pforte. Während seines Aufenthaltes in der Türkei lernte er türkisch, arabisch und persisch und war so in der Lage, ohne Dolmetscher || Die Ausführungen beruhen zum Teil auf dem 1974 in Heft 53 (S. 10–29) der Marginalien erschienenen Aufsatz der Autorin »Die Bibliothek Diez in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin«. 1 Zur Biografie siehe Franz Babinger: Ein orientalischer Berater Goethes: Heinrich Friedrich von Diez. In: Goethe-Jahrbuch 34 (1913), S. 83–100; Curt Balcke: Heinrich Friedrich von Diez und sein Vermächtnis in der Preußischen Staatsbibliothek. In: Gustav Abb (Hg.): Von Büchern und Bibliotheken. Dem Ersten Direktor des Preussischen Staatsbibliothek geheimen Regierungsrat Dr. phil. Ernst Kuhnert als Abschiedsgabe dargebracht von seinen Freunden und Mitarbeitern. Berlin 1928, S. 187–200; Bernd G. Ulbrich: »Der so wunderliche als treffliche Mann ...« Das Lebenswerk des Heinrich Friedrich von Diez. In: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 11 (2002), S. 117–139. Ein kurzer biografischer Abriss auch in Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften (1772– 1784). Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 457–461. 2 Nach Balcke: Diez und sein Vermächtnis (s. Anm. 1) besuchte Diez das Gymnasium in Bernburg, doch haben die Untersuchungen von Ulbrich: »Der so wunderliche als treffliche Mann ...« (s. Anm. 1) ergeben, dass die Familie schon bald nach Diezʼ Geburt die Stadt verlassen musste und sich in Magdeburg niederließ. 3 Abgedruckt bei Babinger: Ein orientalischer Berater Goethes (s. Anm. 1), S. 87–89.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-017

336 | Ursula Winter

verhandeln zu können, was in damaliger Zeit sehr selten und zweifellos außerordentlich nützlich war. Allerdings machte es die Politik Preußens gegenüber der Türkei ihrem Geschäftsträger nicht leicht. Nachdem Friedrich II. 1786 gestorben war, erhob sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II. Diez in den Adelsstand und übertrug ihm zwar die Stellung eines Bevollmächtigten Ministers und Außerordentlichen Gesandten, entließ ihn aber 1790 nach allerlei Misshelligkeiten. Erst nach langem, für Diez recht demütigendem Hin und Her erhielt er eine angemessene Pension und als ›Beruhigungspflaster‹ den Titel eines Geheimen Legationsrates. Das alles traf den selbstbewussten Mann tief, behauptete er doch in einem Brief, einer der türkischen Würdenträger sei aus Gram über seine Abberufung gestorben.4 Zurück in Deutschland, vergrub er sich zunächst grollend in die Einsamkeit seines kleinen Gutes Philippsthal (bei Saarmund). Das Gutshaus mit dem Namen »Friedrichshuld« gibt es noch heute, es steht mitsamt dem zugehörigen Park unter Denkmalschutz.5 Seit der Wende befindet sich das Anwesen in Privatbesitz und ist liebevoll restauriert worden. 1798 übersiedelte er nach Kolberg (heute Kolobrzeg/Polen), wo er am Dom eine Pfründe erkauft hatte, mit der der Titel eines Prälaten verbunden war, wie er sich in der Folge auch gern anreden ließ. Kurz vor der Belagerung durch die napoleonischen Truppen 1807 verließ er die Stadt und zog nach Berlin. Hier erwarb er auf der Halbinsel Stralau im Südosten der Stadt eine Villa mit großem, sich bis an die Spree erstreckendem Park und richtete sich nach seinem Geschmack, d. h. ganz orientalisch, ein. Wilhelm Körte, der Schwiegersohn Friedrich August Wolfs, nennt ihn schlichtweg »vertürkt«.6 Er war unverheiratet und hatte sich zu einem eigenbrötlerischen, als streitsüchtig verschrieenen Sonderling entwickelt, der außer seinem Diener keinen Menschen im Hause dulden wollte. Eine Ausnahme machte er allerdings mit dem bekannten Theologen Friedrich August Gotttreu Tholuck, der als junger Mann Anfang 1817 bei ihm um Aufnahme in sein Haus nachsuchte und ihn später sogar als seinen »Zweitvater« bezeichnete. Da er nach Diezʼ Tode noch eine Zeitlang Wohnrecht in der Villa genoss und oft in einem orientalischen Gewande, das Diez ihm geschenkt hatte, im Park spazierte, kam das Gerücht auf, der alte Diez spuke.7 Trotz aller Eigenheiten war Diez aber sehr gastfreundlich und sah an seiner Tafel fast täglich Gäste, unter denen sich manche Zelebrität des gelehrten Berlins befand (Alexander von Humboldt, Friedrich August Wolf). Ganz und gar war Diez allerdings doch nicht in Ungnade gefallen. Wegen seiner Kenntnis orientalischer Sprachen wurde er vom preußischen Hof gelegentlich noch als Dolmetscher bei besonderen Anlässen zugezogen. In den wenigen Papie|| 4 Vgl. ebd., S. 92. 5 Beschreibung mit Abbildung in Matthias Barth: Herrenhäuser und Landsitze in Brandenburg und Berlin. Von der Renaissance bis zum Jugendstil. Würzburg 2008, S. 140–143. 6 Wilhelm Körte: Leben und Studien Friedrich August Wolfʼs. Bd. 1. Essen 1833, S. 354. 7 Leopold Witte: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s. Bd. 1. Bielefeld, Leipzig 1884, S. 54–77.

Heinrich Friedrich von Diez und seine Sammlung abendländischer Handschriften | 337

ren, die uns erhalten sind, äußert er sich recht drastisch über diese Veranstaltungen.8 Seit 1791 hatte Diez Muße in Hülle und Fülle und widmete sich wieder mit Feuereifer wissenschaftlichen Arbeiten. Dabei handelte es sich durchweg um Schriften zur orientalischen Volkskunde und Literatur, die er, wie fast alle seine Werke, auf eigene Kosten drucken ließ. Auf den Streit mit dem Wiener Orientalisten HammerPurgstall soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.9 Auch über den Briefwechsel mit Goethe und dessen Wertschätzung seines »orientalischen Beraters« gibt es eine umfangreiche Literatur. Leider sind die Briefe Goethes an Diez verloren, doch besitzen wir in Ms. Diez. C quart. 125 eine Reihe von Briefen (21) des in Leipzig und Weimar tätigen Philologen Ferdinand Gotthelf Hand aus den Jahren 1810 bis 1816, in denen mehrfach auf Goethes Diez-Lektüre Bezug genommen wird.10 Ab 1814 war Diez mit der Herausgabe der türkischen Bibel befasst, die ihm durch die Preußische Hauptbibelgesellschaft übertragen worden war. Leider hat er das Werk nicht mehr beenden können. Er starb am 8. April 1817 und wurde auf dem alten Domfriedhof begraben, den es längst nicht mehr gibt. Grab und Grabstein waren bis etwa 1930 noch erhalten, jetzt besitzen wir nur noch Fotos davon.11 Während seines Aufenthaltes in der Türkei hatte Diez eine große Menge orientalischer Handschriften und Drucke erworben und war in der Folgezeit eifrig darauf bedacht, seine Bücherschätze auf allen Gebieten, nicht nur der Orientalistik, zu vermehren. Über seine Erwerbungsgrundsätze äußert er sich in dem Vorwort zum handschriftlich erhaltenen systematischen Katalog seiner Bibliothek.12 In der Benutzung seiner Bücher und Handschriften war er äußerst entgegenkommend. Er handelte hier als echter Bibliophile nach dem pirckheimerschen Motto »Sibi et amicis«, indem er sie auf Ansuchen zur Verfügung stellte und sogar Handschriften nach auswärts verschickte, wie unter den Handschriften erhaltene Papiere zeigen.13 Diese umfangreiche Bibliothek – sie umfasste rund 17.000 Bände Druckschriften und über 850 Bände Handschriften – vermachte Diez testamentarisch der Königlichen Bibliothek Berlin14 mit der Auflage, sie stets in der überkommenen Weise beisammen zu

|| 8 Ms. Diez. C quart. 123, Bl. 186r-195r. 9 Siehe hierzu den Beitrag von Klaus Kreiser in diesem Band. 10 Die Stellen sind abgedruckt bei Katharina Mommsen: Goethe und Diez. Berlin 1961 (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur u. Kunst 1961, Nr 4); 2., erg. Aufl. Bern u. a. 1995. (Germanic Studies in America 67). 11 Curt Balcke: Neues über Goethes »orientalischen Berater« Heinrich Friedrich von Diez. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 9 (1930), S. 74–77. Fotos des Grabes auch in der Porträtsammlung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Pol. m, Nr. 2 u. 4). 12 Ms. Cat. A 361, Bl. 1r/v. 13 Ms. Diez. C quart. 125. 14 Das Testament ist auszugsweise abgedruckt bei Balcke: Diez und seine Vermächtnis (s. Anm. 1), S. 191–194.

338 | Ursula Winter

lassen und sie gesondert aufzustellen. Damit wurde einerseits für die Bewahrung ihres individuellen Charakters gesorgt und andererseits erhielt sie mit der Aufnahme in eine öffentliche Bibliothek und die Vernetzung mit deren Beständen eine neue, größere Dimension. Diezʼ Barvermögen fiel an die Almosenkasse des Berliner Doms, seine Münzsammlung an das Königliche Münzkabinett. Auch hatte er verfügt, dass alle seine persönlichen Papiere und vor allem alle noch ungedruckten Manuskripte seiner Hand verbrannt werden sollten, sodass wir heute leider keinen ›Nachlass Diez‹ besitzen, der allein wegen des Briefwechsels mit vielen Gelehrten seiner Zeit große Bedeutung hätte. Erhalten sind lediglich einige persönliche Papiere, die Diez selbst noch den Handschriften zugeordnet hatte.15 Die Bibliothek ist zwar noch heute, wie vom Testator angeordnet, separat aufgestellt, allerdings der bibliothekarischen Praxis folgend mit einigen Abstrichen. So sind die Inkunabeln der Inkunabelsammlung, die orientalischen Handschriften der Orientabteilung und die abendländischen Manuskripte der Handschriftenabteilung zugeordnet worden, wobei letztere auch die mit handschriftlichen Anmerkungen versehenen Druckschriften, die so genannten Libri impressi cum notis manuscriptis, verwaltet. Aber alle bilden eigene Guppen mit der Signatur ›Diez‹. Die Bibliothek umfasst nahezu alle Wissensgebiete. Als die umfangreiche Sammlung des niederländischen Philologen Laurens van Santen, der sich vor allem mit den römischen Dichtern Ovid, Catull, Tibull und Properz beschäftigt hatte, im Jahre 1800 in Leiden versteigert wurde,16 erwarb Diez daraus zahlreiche Bände und den gesamten Handschriftenteil. Unter den Drucken befinden sich wertvolle Erstausgaben und Ausgaben bedeutender niederländischer Philologen. Zumeist stammen diese Bände aus den Handapparaten der Herausgeber und sind mit handschriftlichen Kollationen, Anmerkungen und Ergänzungen versehen. Besonders hervorzuheben sind hier die Ovid-Kollationen von Nikolaus Heinsius, die in drei durchschossene Exemplare der Ovid-Ausgabe seines Vaters Daniel (Leiden 1629), eingetragen sind.17 Der Fortgang der Arbeit ist vom ersten bis zum dritten Exemplar eindrucksvoll zu verfolgen. Zur Bibliotheca Dieziana gehören auch 75 Bände Inkunabeln mit insgesamt 95 Titeln. Ein großer Teil davon stammt aus der Bibliotheca Santeniana, enthält also vorwiegend die Werke von Ovid, Catull, Tibull und Properz. Die Einbände der Druckschriften sind meist schlicht, einige lassen sich berühmten Sammlern des 18. Jahrhunderts, wie La Vallière oder Askew, zuordnen, doch gibt es hier noch viel zu tun. Als Kuriosum möchte ich aber eine Inkunabel erwähnen (B.D. quart. 1013, Griechische Grammatik, Venedig 1497), die einen so genannten Kurfürstenrücken

|| 15 Mss. Diez. C fol. 82–84; quart. 24, 122–125. 16 Bibliotheca Santeniana sive Catalogus librorum [...] quibus [...] usus est [...] Laurentius van Santen. Lugduni Batavorum 1800. 17 B.D. cum notis manuscriptis quart. 1068–1076.

Heinrich Friedrich von Diez und seine Sammlung abendländischer Handschriften | 339

besitzt, d. h. sie befand sich ursprünglich in der Kurfürstlichen, später Königlichen Bibliothek in Berlin. Der Große Kurfürst hatte nämlich, um seiner Bibliothek ein einheitliches Aussehen zu geben, alle gedruckten Bücher mit einem neuen Rücken (ein ganzer Einband wäre zu teuer geworden) versehen lassen, der seine verschlungenen Initialen zeigt. Die Bibliothek hat sich auf zahlreichen Auktionen ihrer Dubletten entledigt; schon der erste Handschriftenkatalog von 1668 verzeichnet gesondert aufgestellte Dubletten, über deren Veräußerung in den Bibliotheksakten immer wieder berichtet wird.18 Bei einer solchen Auktion hat Diez den Band wahrscheinlich erworben. Mit seiner Bibliothek ist er dann wieder an seinen Ursprungsort zurückgekehrt. Die Einbände der abendländischen Handschriften sind im Rahmen der beschreibenden Katalogisierung allerdings ausführlich gewürdigt worden. Für die Handschriften hatte Diez eigenhändig einen Katalog angelegt,19 in dem er zu jedem Codex ausführliche Hinweise auf Parallelhandschriften, Literatur und gelegentlich auch auf die Erwerbung gibt. Über die Herstellung des Kataloges äußert er sich in einem Brief an Christian Konrad Wilhelm Dohm vom 8. Oktober 1803: Nachher habe ich ein räsonnierendes und ein kritisches Verzeichniß über meine 300 morgenländischen Handschriften und ein bloßes Nominal-Verzeichniß über meine 300 abendländischen Handschriften verfertigt und daraus ist wieder ein Foliant erwachsen, welcher mir mehr Mühe gemacht hat als alles was ich jemals gemacht habe. Beide Werke aber sind so beschaffen, daß sie noch viele Nachträge zulaßen, die mit der Zeit erfolgen sollen [...]. Ich bin aber vorjetzt der Arbeit müde.20

Diese Nachträge und Zusätze haben freilich das Verzeichnis etwas unübersichtlich werden lassen. Eine Reihe von Registern, die Diez ebenfalls selbst angelegt hat, erschließt den Katalog. Bis in die 1980er Jahre besaß die Staatsbibliothek daneben für die abendländischen Diez-Handschriften lediglich höchst unzulängliche handschriftliche Inventare,21 die aber seither durch einen gedruckten beschreibenden Katalog ersetzt worden sind.22 Die Katalogisierung gar nicht oder unzureichend erschlossener Handschriften bringt oft wichtige, überraschende, ja gelegentlich auch bedeutende Funde mit sich, sowohl textgeschichtlich als auch buch- und bibliothekshistorisch. Wie sehr das auch auf die Diez-Handschriften zutrifft, werden wir sehen.

|| 18 Siehe z. B. Max Perlbach: Die Berliner Doubletten von 1697 in der Universitäts-Bibliothek zu Halle. In: Beiträge zur Bücherkunde und Philologie. August Wilmanns zum 25. März 1903 gewidmet. Leipzig 1903, S. 15–42. 19 Ms. Cat. A 478 b, S. 626–[682]. 20 Stadtarchiv Regensburg, Nachl. Dohm, Diez an Dohm, S. 108f. 21 Jetzt Ms. Cat. A 534. 22 Ursula Winter: Die europäischen Handschriften der Bibliothek Diez in der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin. Teil 1. u. 2. Leipzig 1986; Teil 3. Wiesbaden 1994 (Die HandschriftenVerzeichnisse der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin. N.F. Bd 1,1–3).

340 | Ursula Winter

Die orientalischen Handschriften stehen in Diezʼ Katalog natürlich an erster Stelle und haben deshalb ein A in ihrer Signatur. Ein Manuskript ist allerdings »abgewandert«, ein fragmentarisches griechisches Neues Testament aus dem 15. Jahrhundert (Ms. Diez. A duod. 10), das in der Handschriftenabteilung bei den abendländischen Handschriften aufgestellt ist (eine weitere griechische Handschrift, ein Heirmologion aus dem 12. Jahrhundert, befindet sich unter den Santeniani). Ein anderes A-Manuskript wurde lange Zeit in der Kartenabteilung verwahrt, nämlich der so genannte ›Seeräuber-Atlas‹ (Ms. Diez. A fol. 57). Das ist ein von dem türkischen Offizier Piri Reis gezeichneter Portolan-Atlas aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts, der die Küsten und Hafenstädte vor allem des Mittelmeerraumes zeigt. Diez selbst beschreibt ihn ausführlich in seinen »Denkwürdigkeiten von Asien«,23 vor allem auch seine Erwerbung. Als nämlich Sultan Selim III. 1789 den Thron bestieg, musste der Harem seines Vorgängers in das »Altenteil« ziehen. Die Damen hatten die ursprünglich losen Karten als Bilderbuch benutzt, und als sie nun wegen des Umzuges alles mögliche, darunter auch den Atlas, zu Geld machten, erfuhr Diez davon, sicherte sich das wertvolle Manuskript und ließ es in der jetzigen Form binden. Der bekannte Autor Erich von Däniken hat dem Atlas gewissermaßen zu Weltruhm verholfen, indem er ihn in seinen Erinnerungen an die Zukunft24 außerirdischen Kartographen zuschrieb. Die abendländischen Manuskripte sind in zwei Gruppen eingeteilt, die durch die Buchstaben B und C gekennzeichnet werden. Die Gruppe B enthält die Handschriften der Sammlung van Santen. Es handelt sich um 193 Codices, vorwiegend mit Texten von Ovid, Catull, Tibull und Properz. Die mittelalterlichen Handschriften, 54 an der Zahl, enthalten abgesehen von den eben genannten Autoren noch Vergil, Cicero, Sallust, Cornelius Nepos u.a. Reich ist der Anteil der mittellateinischen Dichtungen, denen von der Forschung viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Abgesehen von so bekannten Titeln wie Ganymed und Helena, Pamphilus de amore und Asinarius finden sich auch seltenere Stücke, so z. B. in einer Handschrift des 13. Jahrhunderts der versifizierte Auszug aus der Disciplina clericalis des Petrus Alfunsi (einer moralisierenden Exempelsammlung) unter dem Titel De Arabicis eventibus.25 Damit wird auf die orientalischen und jüdischen Quellen des Autors Bezug genommen, dessen Werk im 12. Jahrhundert am Beginn der Vermittlung orientalischer Erzählungsliteratur in das Abendland steht. In einer der Handschriften (Ms. Diez. B Sant. 41) ist ein wohl in Humanistenkreisen entstandener fingierter Brief des Odysseus an Penelope enthalten – als Antwort

|| 23 Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung. 2 Bde. Berlin 1811–1815, hier Bd. 1, S. 31ff. 24 Erich von Däniken: Erinnerungen an die Zukunft. Düsseldorf, Wien 1969, S. 35f. 25 Ms. Diez. B Sant. 28, Bll. 1r–19v.

Heinrich Friedrich von Diez und seine Sammlung abendländischer Handschriften | 341

auf den Brief der Penelope an Odysseus in Ovids Heroiden –, der in fast 500 Hexametern eine Kurzfassung der Odyssee darstellt. Das bis in die jüngste Zeit unbeachtet gebliebene Opusculum hat inzwischen aufgrund der Bekanntmachung in dem beschreibenden Katalog eine eingehende Würdigung in einer eigenen Publikation erfahren.26 Das wertvollste Stück dieser Gruppe ist Ms. Diez. B Sant. 66, ein Sammelband aus dem 8. Jahrhundert, mit Grammatikerschriften und interessanten Dichtungen aus dem Bereich der so genannten Hofpoesie am Hofe Karls des Großen (Abb. 1). Nicht zuletzt aber ist der Codex für die mittelalterliche Bibliotheksgeschichte von Bedeutung, da er einen der ältesten überlieferten Bibliothekskataloge enthält. Die Zuordnung ist umstritten, in der Regel wird er der Hofbibliothek Karls des Großen zugeschrieben. Die Handschrift gehört selbstverständlich zu unseren Zimelien. Sie ist in der österreichischen Reihe Codices selecti als Faksimile mit einem ausführlichen Kommentar von Bernhard Bischoff erschienen27 und auch als Digitalisat verfügbar.28

Abb. 1: Grammatiker-Handschrift, 8. Jahrhundert (Ms. Diez. B Sant. 66, S. 277f.). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 26 »Odyssea. Responsio Ulixis ad Penelopen.« Die humanistische »Odyssea decurtata« der Berliner Handschrift Diez. B Sant. 41. Eingeleitet, hg., übers. u. kommentiert von Christina Meckelnborg u. Bernd Schneider. Leipzig 2002. 27 Bernhard Bischoff: Grammatici Latini et Catalogus librorum. Graz 1973 (Codices selecti, Bd. 42). 28 http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB 000075E500000000.

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Eines der bemerkenswertesten Manuskripte ist das so genannte Florilegium Gallicum (Ms. Diez. B Sant. 60), eine umfangreiche Sentenzen-Sammlung aus lateinischen und mittellateinischen profanen und christlichen Autoren. Der Codex aus dem 14. Jahrhundert enthält auch Auszüge aus verschollenen oder nur teilweise erhaltenen Texten und ist daher für die Überlieferungsgeschichte von nicht zu unterschätzender Bedeutung.29 Allerdings besteht die Gruppe Diez. B Sant. zum überwiegenden Teil aus neueren Handschriften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die jüngeren Manuskripte enthalten im wesentlichen Materialien niederländischer Philologen, wie z.B. Pieter Burmann oder Nikolaus Heinsius, zu antiken Autoren. Aber auch Manuskripte des 16. Jahrhunderts sind darunter, z. T. enthalten sie Abschriften mittelalterlicher Codices, z. T. aber auch zeitgenössische Texte, wie das lateinische Schmähgedicht auf die Jesuiten unter dem Titel Jesuito-Graphia in Ms. Diez. B Sant. 169, das weit verbreitet gewesen sein muss, da bereits 1611 eine deutsche Teilübersetzung im Druck erschienen ist.30 Den größten Teil der als Libri impressi cum notis manuscriptis aus der Bibliothek Diez gesondert zusammengestellten annotierten Bände machen die aus der Santeniana stammenden Titel, insgesamt rund 160, aus. In den philologischen Kollektaneen der santenschen Handschriften wird vielfach Bezug genommen auf die in den Ausgaben enthaltenen Kollationen. Oft sind auch Handschriften, die sich unter den Santeniani befinden, in den Ausgaben kollationiert. Die bedeutenden OvidKollationen von Nikolaus Heinsius erwähnte ich bereits. Liegt der Wert der Santeniani vorwiegend in ihrer philologischen Bedeutung, so zeichnen sich die Dieziani C durch eine ganze Anzahl mittelalterlicher Codices aus, von denen nicht wenige prachtvolle Illuminierung oder Fleuronné-Schmuck zeigen. Diese Gruppe, von Diez als Manuscripta varia bezeichnet, enthält 244 Handschriften verschiedenster Provenienz. Diez kaufte vielfach auf Auktionen. So erwarb er aus der zum Teil auf etwas dubiosen Wegen zusammengetragenen Collectio WestphaloRhenana des Münsteraner Theologen und Historikers Nikolaus Kindlinger, die 1803 versteigert wurde, einige wertvolle mittelalterliche Manuskripte, darunter auch das älteste Stück der Gruppe C, ein Evangeliar aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Ms. Diez. C fol. 58). Aber auch aus Privathand bezog Diez manches Stück. Zum Beispiel erwarb er von dem Berliner Astronomen und Mathematiker Johann Bernoulli eine Anzahl neuzeitlicher Handschriften naturwissenschaftlichen und kulturhistorischen In|| 29 Siehe dazu bei Ursula Winter: Bona priscorum proverbia philosophorum. Ein Beitrag zur Florilegienliteratur. In: Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen. Hg. von Franz Paschke u. a. Berlin 1981, S. 609–624. 30 Bll. 12v–13v. Der Druck erschien anonym, ohne Ort und Jahr, unter dem Titel »Jesuitographia. Das ist: Kurtze Beschreibung der Jesuiter Sect. Auß dem Lateinischen verteutscht« (VD 17/ 12.000338S).

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halts. Allerdings mokierte er sich in seinem Katalog über Bernoulli, der ihn bei einer der Handschriften, einem fünfbändigen Natur-, Kunst- und Wunder-Lexikon,31 »armselig genug gedrängt« habe, »die meisten Kupfer herauszunehmen, um sie absonderlich zu verkaufen, denn er trieb Handel mit allem, was nur gedruckt oder geschrieben hieß«. Die vorher eingeklebt gewesenen Kupferstiche fehlen auch tatsächlich. Auch in der Gruppe C sind mittelalterliche Codices, darunter auch im Gegensatz zu den Santeniani einige deutschsprachige, und neuere Manuskripte gemischt. Eines der bedeutendsten Objekte ist zweifellos die so genannte Kamper Bibel (Ms. Diez. C fol. 63.64), die zu genannten Zimelien gehört. Die mit zahlreichen Zierseiten und Initialminiaturen versehene Bibel wurde 1312 von Rutger von Berka in dem niederrheinischen Zisterzienserkloster Kamp geschrieben. Von den ursprünglich wohl vier oder fünf Bänden sind allerdings nur unsere beiden Bände erhalten. Eine ebenfalls kunsthistorisch bemerkenswerte Handschrift ist Ms. Diez. C quart. 85, ein Psalterium aus dem 13. Jahrhundert, das der sogen. thüringischsächsischen Malerschule zugeordnet werden kann und bis zum Erscheinen des beschreibenden Kataloges ganz unbekannt geblieben war. Im Rahmen der großen Ausstellung Aufbruch in die Gotik 2009 in Magdeburg ist der Codex in seinem kunsthistorischen Kontext ausführlich gewürdigt worden.32 Obwohl nicht den Dieziani C zugeordnet, ist auch das Blatt aus dem berühmten Codex discissus der Evangelienharmonie Otfrieds von Weißenburg aus dem 10. Jahrhundert erwähnenswert. Diez hatte es 1812 zur Bestimmung und wissenschaftlichen Untersuchung an den renommierten Germanisten Friedrich August von der Hagen nach Breslau geschickt und nie zurückbekommen. 1851 gelangte es als Geschenk von der Hagens an die Königliche Bibliothek nach Berlin zurück, wo man es jedoch – wohl aus Unkenntnis – nicht der Sammlung Diez zuordnete, sondern mit weiteren Einzelblättern dieses Codex, dessen erhaltene Blätter über die ganze Welt verstreut sind, zu dem heutigen Ms. Germ. quart. 504 vereinte.33 Die fragmentarische Handschrift einer altniederfränkischen Psalmenübersetzung (Ms. Diez. C quart. 90), dem so genannten Wachtendonckschen Psalterium, um 900 zu datieren, ist zwar eine Kopie des 17. Jahrhunderts, hat aber für die Germanistik große Bedeutung, da die Vorlage verschollen ist. Interessant ist hier, dass das Manuskript eigentlich zu den Santeniani gehört. Es befand sich ursprünglich in einem Sammelband mit verschiedenen Texten des 18. Jahrhunderts, der heute die || 31 Mss. Diez. C quart. 34-38; der Verfasser ist Philipp Christian Reichard (1702–nach 1770). 32 Kulturhistorisches Museum Magdeburg (Hg.): Aufbruch in die Gotik. 2 Bde. Darmstadt 2009; zu dieser Handschrift Beate Braun-Niehr in Bd. 1, S. 184–187 (mit Abb.). 33 Zu dem Brief an von der Hagen und dessen Antwort siehe Ursula Winter: Das Diez’sche Bruchstück einer Kopie des Wachtendonckschen Psalteriums (Ms. Diez. C quart. 90). Neue Funde zu seiner Geschichte und Edition. In: Dies. (Hg.): Handschriften, Sammlungen, Autographen. Forschungsergebnisse aus der Handschriftenabteilung. Berlin 1990, S. 106–108.

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Signatur Ms. Diez. B Sant. 97 trägt. Daraus hat Diez dieses »Poema Gothicum«, wie er es nennt, entfernt, da ihm der germanistische Text nicht zu den übrigen griechischen und lateinischen Texten zu passen schien. Merkwürdigerweise hat er es dann den Manuscripta varia zugeordnet.34 Demselben Band entnahm er überdies noch ein »Dictionarium Persicum« (jetzt Ms. Diez. A quart. 130). Erwähnenswert sind auch zwei italienische Renaissancehandschriften (Ms. Diez. C fol. 4 und quart. 49), die nach Wappen und Imprese des Zierrahmens auf der ersten Seite aus dem Besitz der Familie Visconti stammen (Abb. 2). Doch haben jüngere Forschungen ergeben, dass beide Codices zu einer Gruppe von RenaissanceHandschriften gehören, deren Provenienzen fingiert wurden. Zierseiten und Einbände sind Zutaten des 18. Jahrhunderts. Nach einem der angeblichen Vorbesitzer sind sie als Sagredo-Handschriften bekannt geworden.35 Ms. Diez. C fol. 4 gewinnt zusätzliches Interesse dadurch, dass es durchgängig palimpsestiert ist, d. h. das Pergament war schon einmal beschrieben. Der ursprüngliche Text wurde, weil überflüssig, abradiert und die Blätter schließlich quer zum alten Schriftspiegel neu beschrieben. Der ›Urtext‹ ist noch auf fast allen Blättern an freien Stellen mehr oder weniger deutlich zu erkennen. Es handelt sich dabei um das Geschäftsbuch eines italienischen Bankiers oder Kaufmannes vom Ende des 13. Jahrhunderts, ist also wirtschaftshistorisch durchaus von Interesse. Die neueren Handschriften enthalten Texte zu den unterschiedlichsten Wissensgebieten, darunter viele Kataloge von Privatbibliotheken und thematischen Sammlungen, dazu zahlreiche Chroniken, biographisches Material, viel Naturwissenschaftliches. Auch hier verleugnet Diez sein Interesse für östliche Breiten nicht. Abgesehen von einem zum Teil autographen Band mit Handschriften, Briefen und Drucken zum Handel Preußens mit der Levante (Ms. Diez. C fol. 83) sowie einigen Berichten von Reisen in das Heilige Land ist auch das Manuskript einer Reise nach China erwähnenswert, die der schwedische Ingenieur Lorenz Lange 1715 bis 1718 im Auftrage Peters des Großen unternahm (Ms. Diez. C fol. 20). Eine Edition nach dieser Handschrift ist 1986 erschienen.36 Einige Brandenburgica sind ebenfalls vorhanden, von denen ein umfangreicher Band zum Wirken des kurbrandenburgischen Hofpredigers Georg Coelestin (1523– 1579) vor allem wegen des darin enthaltenen reformationsgeschichtlichen Materials Beachtung verdient (Ms. Diez. C fol. 61).

|| 34 Ebd., S. 100–112. 35 Helmut Boese: Über die 1747 in Venedig verkauften »Sagredo«-Handschriften. In: Quellen u. Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 66 (1986), S. 269–308; Ursula Winter: Eine rescribierte Nicolaus Treveth-Handschrift in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. In: Studien zum Buch- und Bibliothekswesen 6 (1988), S. 29–33, mit Abbildungen. 36 Lorenz Lange: Reise nach China. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Conrad Grau. Berlin 1986.

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Abb. 2: Beginn des Kommentars zu den Declamationes des Seneca von Nicolaus Treveth, mit gefälschtem Zierrahmen, 14. und frühes 18. Jahrhundert (Ms. Diez. C fol. 4, Bl. 1r). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

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Auch einige interessante Stammbücher befinden sich unter den neueren Handschriften, eines davon überliefert uns eines der sehr seltenen Autographe des Komponisten Michael Praetorius (1571–1621) mit der Vertonung des Spruches »Mea spes Christus Jesus« und der Jahreszahl 1619 als Kryptogramm (Abb. 3).37 Auch Friedrich von Logau (1639), Martin Opitz (1639) und Andreas Gryphius (1643) sind vertreten.38

Abb. 3: Stammbucheintrag von Michael Praetorius, 1619 (Ms. Diez. C oct. 8, Bll. 158v–159r). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Ein eher kurioses Stück ist das von dem Pfarrer Johann Gottfried Ohnefalsch Richter über viele Jahre hinweg geschriebene Diarium Rampizense (Ms. Diez. C fol. 32). Richter war 1734 bis 1765 Pfarrer in Rampitz (ehemaliger Kreis Guben, heute Rapice/Polen) und hat in diesem umfangreichen Band Exzerpte, Gedichte, Betrachtungen aller Art, viel Naturwissenschaftliches und Zeitgeschichtliches, wie etwa zu den Schlesischen Kriegen, zusammengetragen, und zwar weitgehend eigene Auslassungen, vielfach in Versen, denn Pfarrer Richter hielt sich für einen großen Dichter vor dem Herrn und hat fast alles, was ihm begegnete oder ihn bewegte, in Versen || 37 Ms. Diez. C oct. 8, Bll. 158v–159r. 38 Ms. Diez. C oct. 9, Bl. 107r; oct. 5, Bl. 140r; oct. 5, Bl. 183r.

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besungen. Die Gedichte über Fische sind in seiner Ichthyotheologia 1754 in Leipzig sogar gedruckt worden.39 Er hat übrigens auch eine Orotheologia, eine Dendrotheologia und eine Petinotheologia begonnen.40 Nicht zu vergessen sind die wenigen erhaltenen Dieziana, die sich unter den CHandschriften befinden, darunter chiffrierte dienstliche Schreiben des preußischen Ministers Hertzberg an Diez in Konstantinopel mit dem von Diez darübergeschriebenen Klartext (Abb. 4) sowie der autographe Entwurf des nie publizierten 2. Teils zu Diezʼ 1781 in Magdeburg veröffentlichtem Archiv Magdeburgischer Rechte.41

Abb. 4: Chiffriertes Schreiben des preußischen Ministers E. v. Hertzberg an Diez, mit interlinearem Klartext von Diez (Ms. Diez. C quart. 123, Bl. 118r). © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 39 Johann Gottfried Ohnefalsch Richter: Ichthyotheologie, oder Vernunft und schriftmäßiger Versuch, die Menschen aus Betrachtung der Fische zur Verwunderung, Ehrfurcht und Liebe ihres großen und weisen Schöpfers zu führen. Leipzig 1754. 40 Johann Gottfried Ohnefalsch Richter: Theologie der Berge, der Bäume, des Geflügels. Letztere wohl nach der Petinotheologie von Johann Heinrich Zorn. 2 Bde. Schwabach 1743. 41 Ms. Diez. C quart. 24; die übrigen Dieziana siehe Anm. 15.

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Aus alledem sehen wir, wie weitgefächert die Diez’schen Sammlungen sind. Und wenn Diez im Vorwort zu seinem Katalog ein wenig prahlerisch schreibt, man würde in seiner Bibliothek viele seltene Werke finden, ja sie würde davon überfließen, so trifft das auf die Handschriften – und das gilt auch für die Orientalia – unbedingt zu. Sie vermitteln uns das Bild eines vielseitig interessierten Mannes, der trotz des stets von ihm proponierten Vorranges der Theologie, womit er in zunehmendem Alter ganz im Gegensatz zu den freigeistigen, aufklärerischen Ansichten seiner frühen Jahre stand, doch liberal genug war, auch anderen Wissensbereichen Raum zu geben. Er hatte sich, wie wir der Vossischen Zeitung vom 15. April 181742 entnehmen können, einen Nachruf verbeten. Die Arbeit mit und an seinen Sammlungen dürfte wohl auch heute, 200 Jahre später, der schönste Nachruf sein.

|| 42 Abgedruckt bei Balcke: Neues über Goethes »orientalischen Berater« (s. Anm. 11), S. 74–76.

Elisabeth Fraser

Heinrich Friedrich von Diez and Costumes turcs An Ottoman Costume Album in Prussia In 1858 the British Museum purchased an album of Ottoman costume paintings that reportedly had at one time belonged to Heinrich Friedrich von Diez. Costumes turcs contains 264 colorful images, in two bound volumes, representing dress in the Ottoman Empire. According to an English inscription on an opening page of the album, it was acquired by Diez during his diplomatic residence in Istanbul. An unusually elaborate album and an intriguing object in its own right, though it has received scant attention from scholars, Costumes turcs exemplifies the kind of accidental cross-cultural collaboration typical of costume albums: traveling from Istanbul to Berlin and then London, it was elaborated by successive owners, who added to its material state and reinterpreted and redefined it. One reason for the British Museum’s interest in the album was its prestigious provenance. The inscription, signed by Sir Frederic Madden, the nineteenth-century Keeper of Manuscripts, indicates as much: »These drawings have been stated to have been executed by order of the Sultan for General Diez, Prussian Ambassador at Constantinople, at the time of Frederick II.«1 Madden’s note connects the volumes to an important collector and ambassador, Diez, and through him, to a celebrated Prussian king and an Ottoman sultan. Subsequent catalogue entries for the twovolume manuscript all take Diez’s ownership as a matter of fact. Like many European ambassadors to the Ottoman Empire, Diez actively collected manuscripts during his time in the Ottoman capital. Diez was nonetheless unusual among diplomats both for his pro-Ottoman inclinations and devotion to Ottoman culture, as well as for the avidity and seriousness of his collecting activity. In Istanbul and later in Berlin, Diez amassed a large collection of Oriental manuscripts, 410 of which are now in the Staatsbibliothek, along with over 430 Occidental manuscripts and a large library of about 17.000 print books.2 He also purchased prints, paintings, coins, and maps, among other things, though little remains of this part of his collection. Among the objects in his collection, Diez seems to have distinguished

|| 1 The notation is signed »F.M.« At first sight, these initials confusingly appear to be »J.M.«, but a look at Frederic Madden’s papers in the archives of the British Library confirm without doubt that this is his monogram. 2 See Christoph Rauch: The Oriental Manuscripts and Albums of Heinrich Friedrich von Diez and the Perception of Persian Painting in His Time. In: The Diez Albums. Contexts and Contents. Ed. By Julia Gonnella, Christoph Rauch a. Friederike Weis. Leiden, Boston 2017, pp. 74–106.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-018

350 | Elisabeth Fraser between textual and visual material, and may have given greater priority to the former, though his collection contained some highly prized Persian art which he acquired during his diplomatic residency. This and other pieces in his collection suggest that he had an appreciation for beautiful objects. But was it in fact Diez who brought the paintings forming Costumes turcs from Istanbul to the Prussian capital and was the album ever part of his collection? On the face of it, there seems good reason to question Diez’s connection to the British Museum album. Diez carefully recorded the contents of his manuscripts collection in a handwritten catalogue. No mention is made of Costumes turcs in this catalogue. When he died in 1817, Diez famously willed his large library of books and manuscripts to the Royal Library (now Staatsbibliothek) in Berlin, but the costume album never entered the Royal Library as far as anyone can see and it is not listed in the sales catalogue of Diez’s art and other objects not intended for the library.3 The costume album’s binding does not appear to resemble Diez’s apparently utilitarian bindings and there are no other marks that associate the book with Diez. Nonetheless, material evidence supplied by the album itself suggests that there may well have been a link between Costumes turcs and Diez and the Prussian diplomatic milieu.

1 Costume albums and Istanbul Ottoman costume albums, collections of costume images depicting the diverse peoples of the Ottoman Empire, were produced in Istanbul from the sixteenth through nineteenth centuries, defining ethnicity, religion, occupation, and gender in the Ottoman Empire through dress.4 One of the earliest known examples is an album

|| 3 See Rauch: The Oriental Manuscripts (s. note 2), p. 78. 4 There is a small but growing body of literature on Ottoman costume albums; good places to begin include Nurhan Atasoy: The Birth of Costume Books and the Fenerci Mehmed Album. In: Ottoman Costume Book. Fenerci Mehmed. Ed. by Ilhami Turan. Istanbul 1986; Leslie Meral Schick: Ottoman Costume Albums in a Cross-Cultural Context. In: Art turc / Turkish Art: 10th International Congress of Turkish Art. Ed. by François Déroche. Geneva 1999, pp. 625–628; Bronwen Wilson: Foggie diverse di vestire de Turchi: Turkish Costume Illustration and Cultural Translation. In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 37 (2007), pp. 97–139 and Serpil Bağcı et al.: Ottoman Albums and SingleFolio Paintings. In: Ottoman Painting. Ed. by Serpil Bağcı et al. Ankara 2010. See also Elisabeth Fraser: The Color of the Orient: On Ottoman Costume Albums, European Print Culture, and CrossCultural Exchange. In: Visual Typologies from the Early Modern to the Contemporary. Local Practices and Global Contexts. Ed. by Tara Zanardi a. Lynda Klich. New York 2018, pp. 45–59.

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now in the Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.5 Some 200 costume albums from the sixteenth to nineteenth centuries are known today. Most of the scholarship on these albums has concentrated on the earliest examples from the sixteenth and seventeenth centuries, and on their relationship to European print costume books. Very little has been written about eighteenth- and nineteenth-century albums, but it is during this time that the relationship between albums and books became more complex, as many more Ottoman albums arrived in Europe. Costumes turcs belongs to this later period when diplomacy and trade flourished between European nations and the Ottoman Empire, moving objects of all kinds across time and space. Sharing borders with more neighbors than any other early modern polity and having a geographically advantageous location along the Mediterranean, the Ottoman Empire offered access to goods and markets as well as linking Atlantic worlds and Asia, and was therefore an essential diplomatic post for most European nations. This diplomatic and mercantile exchange, which shaped the material culture of early modern Europe, also set costume albums in motion, spawning their cross-cultural histories. Costumes turcs began its existence in an Istanbul workshop as costume figures painted on separate sheets.6 As with most costume albums, the artist who painted the images of Costumes turcs is not known, but they are finely rendered paintings, done with care and attention to aesthetic conventions. Some have speculated that costume images were painted by so-called bazaar artists, a class of artist thought to be distinct from court painters. These bazaar artists purportedly produced costume images in an open market catering to foreign travelers in particular.7 However, connections between costume albums imported to Europe and those found in the imperial library of Topkapı Palace contradict this notion.8 Certainly court artists have painted costume images for albums.9 In general, the distinction between artists of

|| 5 Estimates of the date vary but place this album in the 1560s and 1570s. Robyn Dora Radway believes the painter was Hungarian; see her summary of her MA thesis at http://ottomanhungary. blogspot.com/ 2011/06/representing-christians-of-ottoman.html. 6 On painting workshops and their location, see Alan W. Fisher a. Carol Garrett Fisher: A Note on the Location of the Royal Ottoman Ateliers. In: Muqarnas 3 (1985), pp. 118–120. 7 Metin And: 17. Yüzyıl Türk Çarşı Ressamları. In: Tarih ve Toplum 3, no. 16 (April 1985), pp. 40–45. For a critical discussion of the concept of »bazaar painters« see Natalie Rothman: Visualizing a Space of Encounter. Intimacy, Alterity, and Trans-Imperial Perspective in an Ottoman-Venetian Miniature Album. In: Osmanlı Araştırmaları / Journal of Ottoman Studies (Dec 2012), pp. 43–45. 8 Schick: Ottoman Costume Albums in a Cross-Cultural Context (s. note 4), p. 627, n. 11. 9 See, for instance, the examples of Musavvir Hüseyin and Abdullah Buhari discussed in, respectively, Hans Georg Majer: Gold, Silber und Farbe: Musavvir Hüseyin, ein Meister der osmanischen Miniaturmalerei des späten 17. Jahrhunderts. In: Studies in Ottoman Social and Economic Life / Studien zu Wirtschaft und Gesellschaft im osmanischen Reich. Ed. by Raoul Motika. Heidelberg 1999, pp. 9–42 and Serpil Bağcı: The Ottomans in Diez’s Collection. In: The Diez Albums. Contexts and Contents. Ed. By Julia Gonnella, Christoph Rauch a. Friederike Weis. Leiden 2017, pp. 627–629.

352 | Elisabeth Fraser the court and the market appears to be overdrawn, creating an artificial, arbitrary boundary where in fact a continuum existed.10 In the tradition of Ottoman painting, the images of Costumes turcs are rendered in brightly colored opaque watercolor with ample touches of gold and silver on thick, watercolor quality paper. The figure of the enthroned sultan (ill. 1), most likely Abdülhamid I, frontally posed in hieratic manner, appears isolated, dominating the empty page. Fineness and precision are abundantly on display in this meticulous, detail-oriented handling of paint: in the speckled paint of the ornamental pieces (belt, dagger handle, braiding and buttons on the caftan), the minute brushwork of the soft brown fur lining, and the jeweled pattern decorating the throne. The numbers of poses used throughout the folios are limited and repeated (ills. 2 and 3), turning the viewer’s attention away from figure to costume and its surface patterns. Paint is applied in separate, monochromatic layers: expanses of clothing are broadly brushed in; on top of this, rather than being integrated, modeled, and blended into it, are painted details of pattern and lines of shading. (This can be seen particularly in the sleeves of the figures at elbow creases.) The overall effect is sometimes very fine. In some cases, an exquisite black outline defines the edge of a garment, as in the Tazegi efendi (or schoolmaster) (ill. 4), whose brilliant orange caftan has a thin black border at hem and neck. Particular care was given to the many images of women’s costume: the depiction of a woman from Kayseri (ill. 5) is a good example of this devotion to texture, pattern, and ornament, set against vivid color most strikingly.

2 Diez in Istanbul When the costume folios left the artist’s workshop, possibly through the intermediary of a bookseller or other patron, they came into the possession of a collector in Istanbul, most likely a member of the Prussian diplomatic corps, and perhaps ambassador Diez. Diez, appointed envoy to Istanbul by Friedrich the Great, lived in the imperial capital from 1784 to 1790, arriving during the reign of Abdülhamid I and leaving shortly after the accession of his nephew, Selim III. Diez’s diplomatic

|| 10 Several scholars emphasize the closeness between city and palace artists: see for instance Fisher and Fisher: Note on the Location (s. note 6) and Tülün Değirmenci: An Illustrated ›Mecmua‹. The Commoner's Voice and the Iconography of the Court in Seventeenth-Century Ottoman Painting. In: Ars Orientalis 41 (2011), pp. 186–218, Bağcı: Ottomans in Diez’s Collection (s. note 9) explores connections between court and so-called bazaar artists. Tuba Akar discusses some of the uncertainties about »bazaar painters« in: Architecture in the Paintings of Turkish Bazaar Painters. In: 14th International Congress of Turkish Art. Proceedings. Ed. by Frédéric Hitzel. Paris 2013, pp. 45–53.

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Ill. 1: Sultan Enthroned [Grand-Seigneur sur le trône avec un orf sur la tête et en habit de cérémonie], 1780s. Opaque watercolor, gold, silver, ink and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (1), fol. 5r. © Trustees of the British Museum

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Ill. 2: Zülüflü baltacı (Palace Guard) [Zulufli Baltagi, fendeur de bois de Sérail], 1780s. Opaque watercolor, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (1), fol. 37r. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

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Ill. 3: Şâtır (Footman) [Satir du Grand Visir, en habit de cérémonie], 1780s. Opaque watercolor, gold, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (1), fol. 52r. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

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Ill. 4: Tazegi effendi (Schoolmaster) [Tazigi effendi], 1780s. Opaque watercolor, silver, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (1), fol. 29r. © Trustees of the British Museum

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Ill. 5: Woman of Kayseri [Femme de Kaisarie en Asie], 1780s. Opaque watercolor, gold, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (2), fol. 41r. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

358 | Elisabeth Fraser mission was part of a movement of German-speaking nations toward closer diplomatic relations with the Ottoman Empire.11 The late eighteenth-century Ottoman capital was a meeting place of European diplomats, who had a well established presence there dating back to the sixteenth century (even earlier for some), living and working in the European quarter of Pera (Beyoğlu). According to Philip Mansel, no other capital received so many embassies.12 Indeed, it is sometimes said that one of the reasons the Ottomans established permanent embassies abroad only beginning in the late eighteenth century is because the sultan could gather all the information he needed right in his capital city. Larger than all European cities except London, Istanbul was also the center of European exchange, where transimperial networks and rivalries were forged and played out. Virginia Aksan has called Istanbul of this time »the last ‘European’ capital where members of all states met on more or less the same terms«.13 Though we cannot know definitively that Diez acquired the paintings of Costumes turcs in Istanbul, Diez was certainly an eager collector during his time there. Among other things, he acquired a remarkable set of Persian paintings and loose folios of other images and calligraphy, comprising five albums all now in the Berlin Staatsbibliothek.14 In one of these albums appear several Ottoman paintings, mostly costume images, one of which is directly related to those in Costumes turcs, as Serpil

|| 11 Diez arrived in Istanbul on 16 July 1784 and left on 23 May 1790. See Lela Gibson: Navigating the Qabusnamah's Journey from Istanbul to Weimar. Ottoman-European Philosophical Exchange in the Age of Enlightenment. In: Osmanlı Araştırmaları / The Journal of Ottoman Studies 48 (2016), pp. 321–336. On Prussian-Ottoman diplomatic relations see Kemal Beydilli: 1790 Osmanlı-Prusya ittifâkı. meydana gelişi, tahlili, tatbiki. Istanbul 1981; Idem: Büyük Friedrich ve Osmanlılar: XVIII. Yüzyılda Osmanlı-Prusya Münâsebetleri. Istanbul 1985; Irena Fliter: From Delegates to Diplomats. The Ottoman Diplomatic Office in Prussia (1763–1808). Ph.D. dissertation, Tel Aviv University 2016; Virginia H. Aksan: An Ottoman Statesman in War and Peace. Ahmed Resmi Efendi, 1700–1783. Leiden 1995 and, in the context of another costume album, see Abdullah Güllüoğlu: The First Ottoman Delegation to Prussia in 1763–1764 and its Depiction in a Costume Album from Berlin. In: Fashioning the Self in Transcultural Settings. The Uses and Significance of Dress in Self-Narratives. Ed. by Claudia Ulbrich a. Richard Wittmann. Würzburg 2015, pp. 223–238. 12 See Philip Mansel: Ambassadors and Artists. In: Constantinople. City of the World’s Desire, 1453–1924. Ed. by Philip Mansel. New York 1995, pp. 189–219. 13 Virginia Aksan: Ottoman Wars, 1700–1870. An Empire Besieged. London 2007, p. 228; see also Stanford Shaw: Between Old and New. The Ottoman Empire under Sultan Selim III, 1789–1807. Cambridge 1971, pp. 193–195 and pp. 248–249. 14 See Diez A fols. 70–74. A conference and exhibition and an entire volume of collected essays have been devoted to these important albums: see Gonnella, Rauch, a. Weis (eds.): The Diez Albums (s. note 2); see also David J. Roxburgh: Heinrich Friedrich von Diez and His Eponymous Albums: Mss. Diez A. Fols. 70–74. In: Muqarnas 12 (1995), pp. 112–123.

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Bağcı has recently demonstrated (ills. 6 and 7).15 Diez showed a strong engagement with Ottoman culture, which he maintained until his death.16

Ill. 6: Man from Bursa, late 18th century (?). Opaque watercolor and ink on paper. From Diez-Album, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Diez A fol. 73, p. 19, no. 2. © Staatsbibliothek zu Berlin – PK

|| 15 Bağcı: Ottomans in Diez’s Collection (s. note 9), pp. 616–619. 16 See David J. Roxburgh: Memorabilia of Asia. Diez’s Albums Revisited. In: The Diez Albums. Contexts and Contents. Ed. By Julia Gonnella, Christoph Rauch a. Friederike Weis. Leiden, Boston 2017, pp. 52–73.

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Ill. 7: Soldier from Bursa [Soldat asiatique de Brusa], 1780s. Opaque watercolor, silver, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (1), fol. 133r.

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The album’s inception can plausibly be dated to the period of Diez’s residence from 1784 to 1790. As Barbara Schmitz noted, costume paintings continued to be produced after Ottoman book painting was no longer much practiced.17 Aspects of the images in Costumes turcs confirm that they are latecomers in this tradition. For one, the paper used has not been burnished, as it would have been in earlier painting practice, but was instead left unprepared and untreated.18 The construction of the images also suggests a later eighteenth-century creation: though the images have a relative flatness, the painter has worked to create three-dimensionality, adding illusionistic elements to suggest the roundness of an arm in a sleeve, of legs and bodies, even though these elements are themselves flat. This is particularly apparent if we compare a folio from Costumes turcs with a painting from the seventeenth century, for instance one from the Hans Sloane album in the British Museum (ill. 8). In the example of the enthroned sultan (ill. 1), bits of schematic shading have been added, as for instance around the plinth, and on the sides of the throne and behind the figure, to suggest a light source coming from the left, with shadows cast to the right of things. The figures in Costumes turcs are also much larger than those in seventeenth-century costume images. All of the costume figures in Costume turcs are painted on imported English paper made in the late eighteenth century. With their extensive administration and their culture of manuscripts, the Ottomans were famous for their heavy consumption of paper and though they produced some paper themselves, most of it was imported.19 Paper from West Asia and Italy (especially Venice and Genoa) dominated the early-modern Ottoman paper trade. (For that matter Italian paper was used throughout Europe in the same period.) By the seventeenth century most of the

|| 17 Barbara Schmitz: Islamic Manuscripts in the New York Public Library. New York 1992, p. 233. In the late eighteenth and nineteenth centuries, costume albums and religious literature were illustrated; for the most part, other manuscripts were not illuminated in this traditional manner. 18 The Ottomans adopted the use of a harder sized paper from Persian artisanal practice, according to Jonathan Bloom: Paper before Print. The History and Impact of Paper in the Islamic World. New Haven 2001, p. 206. Helen Loveday explains that even European paper made for Middle Eastern export was sized and burnished, but European sizing was of gelatine, not starch. Citing Evliya Celebi’s description of Istanbul paper merchants passing their time »smoothing and glazing« Persian and Venetian paper, Loveday says that such import paper was nonetheless often re-burnished; see Helen Loveday: Islamic paper. A Study of the Ancient Craft. London 2001, p. 26. 19 On the Ottomans’ heavy consumption of paper, see Vsevolod Nikolaev: Watermarks of the Ottoman Empire. Sofia 1954. Nikolaev believes that more Ottoman paper was made than is usually acknowledged, however. On Ottoman paper production see Nil Pektaş: The Beginnings of Printing in the Ottoman Capital. Book Production and Circulation in Early Modern Constantinople. In: Studies in Ottoman Science / Osmanlı Bilimi Araştırmaları 16, no. 2 (July 2015), pp. 3–32; Osman Ersoy: XVIII. ve XIX. yüzyıllarda Türkiye'de kâğıt. Ankara 1963 and Mehmed Ali Kâğıtçi: A Brief History of Papermaking in Turkey. In: The Paper Maker 34.2 (1965), pp. 41–51.

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Ill. 8: Military Judge of Rumelia [Rumeli kadılasker], ca. 1620. Opaque watercolor and ink on paper. From Habits of the Grand Signor’s Court, British Museum, London, ms. 1928 0323 0.46, fol. 9v. © Trustees of the British Museum

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paper used by the Ottomans came from France and Italy; in the eighteenth century, Dutch and eventually English papers developed qualitatively and became export products in Europe and the Ottoman Empire.20 The watermarks in the paper used by the Ottoman painter belong to one master papermaker, Clement Taylor of England, as evidenced by a single watermark.21 English paper was little produced before the late seventeenth century, and only from the 1780s was it of sufficient quality to compete with other European papers in the export market.22 In light of information about Taylor’s mill and the nature of English watermarks, it can be established that the paper used for the costume folios was probably produced between 1772 and 1794. Taylor’s mill is known to have existed by 1772, when records show that he insured it; by 1797 the mill was bankrupt. Furthermore, Taylor’s watermarks have been found in papers used mostly in the 1780s and 1790s. Since the presence of dates in English watermarks was generalized beginning

|| 20 D. C. Coleman: The British Paper Industry, 1495–1860. A Study in Industrial Growth. Oxford 1958, pp. 104–105. On Dutch paper, see William Algernon Churchill: Watermarks in Paper in Holland, England, France, Etc., in the XVII and XVIII Centuries and Their Interconnection. Amsterdam 1935, pp. 7–8. Ottoman paper importing is still insufficiently studied, particularly for the later period, though much information can be gleaned in Bloom: Paper before Print (s. note 18), pp. 205–206 a. p. 212; Nikolaev: Watermarks of the Ottoman Empire (s. note 19); Asparouh Velkov: Les filigranes dans les documents ottomans. Divers types d'image. Sofia 2005; Asparouh Velkov: Quelques matériaux de chancellerie, qui étaient en usage dans l'Empire Ottoman du XVIIième jusqu'au XVIIIième siècles. In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 82 (1992), pp. 421–438; and Yasemin Gencer: Ibrahim Müteferrika and the Age of the Printed Manuscript. In: The Islamic Manuscript Tradition¡ Ten Centuries of Book Arts in Indiana University Collections. Ed. by Christiane Gruber. Bloomington 2009, pp. 155–193. On the Levant paper trade, see Terence Walz: The Paper Trade in Egypt and the Sudan in the Eighteenth and Nineteenth Centuries and Its Re-Export to the Bilād asSūdān. In: The Trans-Saharan Book Trade. Manuscript Culture, Arabic Literacy, and Intellectual History in Muslim Africa. Ed. by Graziano Kratli a. Ghislaine Lydon. Leiden, Boston 2011 and also Franz Babinger: Papierhandel und Paperbereitung in der Levante. In: Wochenblatt für Papierfabrikation 52 (1931), pp. 1215–1217. The most important general print sources on European watermarks and papermaking of the seventeenth and eighteenth centuries are Churchill; Raymond Gaudriault a. Thérèse Gaudriault: Filigranes et autres caractéristiques des papiers fabriqués en France aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1995 and Edward Heawood: Watermarks, Mainly of the 17th and 18th Centuries. Hilversum 1950. 21 There are actually two watermarks, nearly identical, but varying slightly by size and orientation in relation to chain lines. The watermark is a Strasburg Lily with »GR« underneath and a countermark, »C Taylor«. On Clement Taylor, see Coleman: The British Paper Industry (s. note 20), pp. 105 n. 1 a. pp. 156–157; Alfred Shorter: Paper Mills and Paper Makers in England, 1495–1800. Hilversum 1957, p. 191 a. pp. 359–362; and Mary Pollard: A Dictionary of Members of the Dublin Book Trade, 1550–1800. Based on the Records of the Guild of St Luke the Evangelist, Dublin. London 2000, pp. 560–561. 22 English paper was deemed of equal quality to Dutch for writing in the 1770s, and to French for impressions (printing, engraving) in the 1780s: see Gaudriault a. Gaudriault: Filigranes (s. note 20), p. 59.

364 | Elisabeth Fraser in 1794, and none of the watermarks in Costumes turcs include dates, the paper was probably made before that year.23 The uniformity of the paper used for the paintings of what was to become Costumes turcs – paper from a single mill, apparently from the same batch – also suggests that the paintings were executed as a group, perhaps under commission, using paper bought at one time. Examples of costume albums composed of different papers from different mills and countries do exist. These albums, then, are compilations of costume images either from different workshops or different productions within a workshop, perhaps obtained from an intermediary.24 That Costumes turcs could well have resulted from a commission confounds assumptions about the nature and status of costume images and their makers. That a »bazaar artist« may have worked under commission brings him closer to the practices of courtly art production. The possibility that Costumes turcs was a commission should not be ruled out and there seems to be no reason to assume that the imperial court could not have sponsored the commission. The collecting of Ottoman costume images was closely connected to diplomatic practice, as witnessed by the many albums now in various European libraries and museums made of images acquired by diplomats during their tenure in Istanbul. These paintings were transported to Austria, England, France, Germany, Hungary, the Netherlands, Poland, Russia, Sweden, Venice, and elsewhere, where they were mounted in albums. (It is possible that some of these sets of paintings arrived as bound codices in Europe and were subsequently rebound in European bindings.) A particularly well known example is the seventeenth-century costume album owned by Swedish envoy Claes Rålamb; Dutch ambassador Cornelis Calkoen commissioned a series of paintings of costume in oil on wood panel.25 Some albums possibly served as diplomatic gifts carried by Ottoman envoys to Europe, as was perhaps the case with a particularly fine costume album now in Paris (Bibliothèque nationale de France, Od6), whose images were painted by Musavvir Hüseyin in the late seventeenth century.26 That it was common practice for diplomats staying in the imperial || 23 See Pollard: Dictionary (s. note 21), pp. 560–561; Shorter: Paper Mills (s. note 21), p. 191 a. pp. 359–362; Heawood: Watermarks (s. note 20), p. 27. 24 Examples include the Stratford Canning album in the Victoria and Albert Museum, London, and two nineteenth-century albums in the Lipperheidische Kostümbibliothek, Berlin. 25 To view the Rålamb album, see http://goran.baarnhielm.net/draktbok/eng/u_omslag.htm. Karin Adahl (ed.): The Sultanʼs Procession. The Swedish Embassy to Sultan Mehmed IV in 1657– 1658 and the Rålamb Paintings. Istanbul 2007 and Eveline Sint Nicolaas, Duncan Bull a. Günsel Renda: The Ambassador, the Sultan and the Artist: An Audience in Istanbul. Amsterdam, Zwolle 2003. On a related album, see William Kynan-Wilson: ›Painted by the Turcks themselves‹. Reading Peter Mundy’s Ottoman Costume Album in Context. In: The Mercantile Effect. Art and Exchange in the Islamicate World during the 17th and 18th Centuries. Ed. by Sussan Babaie a. Melanie Gibson. London 2017, pp. 38–50. 26 Majer: Gold, Silber und Farbe (s. note 9).

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city to collect costume albums reinforces the idea that Diez came into possession of Costumes turcs before he left Istanbul. The close visual relationship between Costumes turcs and several other costume albums of the late eighteenth century secures its date, as do datable elements of the costume depicted. Costumes turcs shares with other eighteenth-century albums many of the same images, and a strikingly similar paint handling.27 The costume figures in the albums of this period are painted with bold colors forming volumetric shapes, unlike the linear emphasis of seventeenth-century images; these rounded forms are then overlaid with fine surface patterns, many applied in a pasty speckling so different from the glossy surface smoothness of earlier costume paintings. Of these eighteenth-century volumes, two compendia have a particularly close material connection to the British Museum album and both issue from the European diplomatic milieu of Pera: an album in Bourg-en-Bresse, France, Recueil de costumes et vêtements de l'Empire ottoman au 18e siècle, and another in the Bibliothèque de l’Opéra in Paris, also called Costumes turcs. All three are folio-sized albums with pages cut to roughly the same size. Most of the images in the Recueil de costumes and the Opéra Costumes turcs are closely related to those in the British Museum Costumes turcs. It is not simply that the three albums contain many of the same figure types; this is true of many Ottoman costume albums from all periods, which display a surprisingly tenacious repetition over centuries. In this case, the figures also very clearly share poses, gestures, colors, costume details, surface patterns, and texture, sometimes with slight variations: for instance, a figure that turns left not right, an overcloak that is green not brown, or a prop that has been put into an empty hand. The close appearance of the figures in the three albums leaves no doubt that they are related. While the paintings in each album are visually distinct and in each case clearly form a cohesive set of images, the obvious overlap between the albums is nonetheless striking. Remarkably all three albums share the same watermark. Of the several albums in European collections from the late eighteenth century, only these three have paper made by Clement Taylor, as evidenced by the Strasburg Lily watermark (a crowned fleur-de-lys in a shield with »GR« underneath) and the countermark »C Taylor« (Clement Taylor).28 Measurements of these watermarks and their orienta-

|| 27 These albums include ones in Bourg-en-Bresse and Warsaw, and two in Paris. 28 In each album there are at least two versions of this mark and there may be more: the variations in arrangement among chain lines and size indicate these subtle differences. An example of the crowned shield with fleur-de-lys/GR watermark and C Taylor countermark (although without the initial »C«) can be found in Heawood: Watermarks (s. note 20), plate 264, number 1856, dated 1787. Another example is reproduced in Klaus Tuchelt (ed.): Türkische Gewänder und osmanische Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert. Facsimile-Ausgabe des Codex Les Portraits des differens habillemens qui sont en usage à Constantinople et dans toute la Turquie aus dem Besitz des Deutschen Archäologischen Institutes in Istanbul. Graz 1966, pp. 1–2. It is possible that this costume book in

366 | Elisabeth Fraser tion to the chain lines in the paper clearly indicate that the paper used by the Istanbul artist for these costume images was exactly the same, from the very same batches of paper manufactured by Clement Taylor’s mill in Kent, England.29 This rather amazing information draws the three albums very close together indeed; it seems ever more likely that they were produced by the same workshop around the same time. With this kind of codicological analysis, which has so far not been widely or systematically undertaken by those studying costume manuscripts, we might begin to develop notions of workshop practices and even possibly workshop genealogies. For the purposes of this essay, this information is specifically germane to the question of ownership of Costumes turcs: any knowledge we have about the provenance of one of these albums can inform those of the other two. Little is known about the Opéra Costumes turcs: one bound volume when it arrived at the library, according to the library’s Registre d’acquisition, it was acquired in October 1879 and the costume folios were subsequently dismantled from their binding. The album is reportedly from the collection of the French ambassador to the Ottoman Empire, the Comte de Choiseul-Gouffier, who lived in Istanbul in nearly the same years as Diez, from 1784 to 1791. The connection to Choiseul-Gouffier derives from a manuscript title page, preserved with the costume folios, and therefore presumably part of the codex before dismantling: »Costumes Turcs. Dessinés à Constantinople pendant l’Ambassade de Mr. Le Comte de Choiseul Gouffier. 1787.« Nothing else is known about this album’s provenance, but the Bourg-en-Bresse volume has a much more certain history and can shed light on the histories of both the Opéra and British Museum albums. The Bourg-en-Bresse Recueil belonged to Joseph Gabriel Monnier, whom the French government sent in an official capacity as a military advisor to Istanbul, where he lived from 1784 to 1788 (with a short return to Paris); the revolutionary government sent him again in 1793. Monnier’s son Frédéric willed the two volumes of costume images, along with his father’s travel journals about Istanbul, to the Bibliothèque de la Ville de Bourg, as witnessed by a handwritten statement at the front of the journal (Ms. 63). Part of the diplomatic world of Pera, Monnier frequently writes in his travel journal of encounters with diplomats and social events and

|| the German Archaeological Institute, originally in the possession of a Kappus von Pichelstein, is also related to the other three albums: it has the same or similar watermark – though without measurements it cannot be determined whether it is the same paper and mold – and similar figure types. The manner of painting is very different from the other three, however. 29 On paper molds, watermarks, and chain lines, see Philip Gaskell: Paper. In: Idem: A New Introduction to Bibliography. The Classic Manual of Bibliography Oxford 1972, pp. 62–66. Both watermarks and molds wore quickly and had short lives; additionally, every paper mold is different. On using watermarks as evidence for dates and potential pitfalls, see Kitty Nicholson: Making Watermarks Meaningful. Significant Details in Recording and Identifying Watermarks. In: The Book and Paper Annual 1 (1982) [http://cool.conservation-us.org/coolaic/sg/bpg/annual/v01/bp01-18.html].

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celebrations in Pera and Büyükdere, the summer residence of many ambassadors. On July 11, 1786, Monnier briefly describes the costume paintings in an entry in his travel journal: »J’ai mis en ordre et classé en 9 cayers [sic] mes costumes orientaux formant une collection de 152 dessins à une piastre l’un.« (He goes on to list the nine groupings he has made of the figures and mentions two men who endowed them with identifying inscriptions.) Monnier’s statement provides definitive evidence that the costume images were painted by July 1786 and that Monnier most likely bought them around that time. Given the close visual similarities between the costume paintings in the three albums in London, Paris, and Bourg-en-Bresse, and their shared material make-up (paper), it seems reasonable to conclude that all three sets of paintings were produced around the same time. Since Monnier had acquired his paintings by 1786, and the album linked to Choiseul bears the date of 1787, in all probability Diez’s costume images were also painted in the mid 1780s. That the other two albums also have connections to diplomatic figures who lived in Istanbul in roughly the same years as Diez considerably strengthens the likelihood that Diez acquired Costumes turcs during his tenure as ambassador in Istanbul.

3 Costumes turcs in Berlin The costume paintings were next transported from Istanbul to Europe, possibly in 1790 among ambassador Diez’s possessions. Arriving in the Prussian capital, they were fundamentally recast and their nature altered through the specialized ministrations of artisans of the book. The costume paintings were transformed into a codex, ceasing their ephemeral existence as separate folios and becoming a unified object. What had been a stack of individual sheets became then two bound volumes of a single work with a title: Costumes turcs. Additional sheets were added to the costume folios: a title page, tables of contents for each section and subsection of the album, and blank sheets between the paintings, fixing the sequence of images. In this new incarnation, the images were endowed with the apparatus of a book, and with that, the status and longevity that it confers. We can connect the album to Berlin in the period after Diez’s departure from Istanbul in 1790 in several ways. Though we do not know the bookbinder who worked on Costume turcs, nor his city of residence, aspects of the decoration and mode of binding can be identified as German, possibly of the late eighteenth or early nineteenth century.30 Furthermore, the papers added to the album by the binder for title, || 30 I am grateful for the generous advice of several experts on European bookbinding in analyzing this binding. Philippa Marks, curator of bookbindings at the British Library pointed out that the decorative frame on the cover is not centered, something she has seen in German bookbinding, not

368 | Elisabeth Fraser contents, and blank pages separating paintings are European and were made during the late eighteenth century. Two European papermakers are represented: one Dutch, Honig & Zoonen, and the other, more unusually, German, Johann Gottlieb Ebart, whose mill in Spechthausen (Eberswalde) was itself a product of Prussian court patronage. It was brought into existence by Friedrich the Great, anxious to promote the manufacture of competitive paper in Prussia and specifically to create papier d’Hollande.31 The Dutch papermaker, Jacob Honig and Sons, was active from 1774 and continued operation into the nineteenth century under successive heirs; German papermaker Ebart began operating his mill only in 1787 and died in 1805.32 The paper used to create the codex was then probably produced no later than 1805. Even given the lag time between production and use, which historians of eighteenth-century paper give as between two to fifteen years, depending on context, it is quite likely that Costumes turcs came into existence as a codex in Berlin, if not in the 1790s, then in the early nineteenth century at latest.33 This time period lends tempt-

|| British; she also pointed out that there is something curious about the volume number and the details of the urn; Nicholas Pickwoad, professor at the University of the Arts London, also mentioned the ornate volume number as definitively not English and identified the kind of binding method visible in the endbands (»stuck on, with a secondary sewing«) which he believes offers little doubt that the binding was produced in the German-speaking world. Dr. Jan Storm van Leeuwen, emeritus Keeper of the Binding Collection at the Dutch Royal Library in The Hague, and currently of the Rare Books School, offered very specific information about the decoration of the binding, which could be late 18th or early 19th century, and English or German, but definitely not French, Belgian, or Dutch. Unfortunately, neither research into Asher & Co. sales catalogues nor consultation of the archives of the British Museum has revealed any further information about the binding or the album’s provenance. 31 Friedrich von Hößle: Die Königliche Papiermanufaktur Spechthausen, spätere Feinpapierfabrik Gebr. Ebart. In: Der Papierfabrikant 39/40 (1933), pp. 510–516. See also Klaus B. Bartels: Papierherstellung in Deutschland von der Gründung der ersten Papierfabriken in Berlin und Brandenburg bis heute. Berlin 2011. 32 On the various branches of the successful Honig family of papermakers, see Henk Voorn: De Papiermolens in de Provincie Noord-Holland. Harlem 1960, pp. 557–559 a. p. 554. The watermarks in the British Museum album appear to come from Jacob Jans Honig, founder of the company of Jacob Honig & Zoonen in or after 1774, not the earlier mill company of Jan Honig & Zoon at Zaandyk, to whom Churchill gives active dates of 1737 to 1787. This appears to be confirmed by the large number of watermarks similar to those in Costumes turcs dating from 1777, the 1780s, and the 1790s identified for me by Andrea Lothe of the Papierhistorische Sammlung in the Buch- und Schriftmuseum at the German National Library, Leipzig. The most complete discussion of Ebart with the most extensive reproduction of watermarks is Karin Friese: Papierfabriken im Finowtal. Die Geschichte der Papiermühlen und Papierfabriken vom 16. bis zum 20. Jahrhunder; mit einem Katalog ihrer Wasserzeichen. Eberswalde 2000. 33 According to paper historians, the typical interval between date of paper production and its use was two to three years (Gaudriault says five), though extending to as many as twelve, particularly in times of financial crisis. See Gaudriault a. Gaudriault: Filigranes (s. note 20), p. 28; Heawood: Watermarks (s. note 20) p. 31. Philip Gaskell writes that »printers regularly bought paper from particu-

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ing credence to the idea that the object was part of Diez’s collection. If he had brought the paintings from Istanbul, he might well have had them bound shortly after his return in 1790. If Diez did own Costumes turcs, how do we account for some of its apparent deviations from Diez’s usual collecting habits: its bibliophile appearance, for instance, and its fine binding? If Diez did not himself bring the paintings from Istanbul, he may have purchased Costumes turcs already bound. Given the material evidence, though, the connection to Berlin in the late eighteenth century seems fairly certain. Because of the German binding and paper from the Brandenburg region of Berlin, we can exclude the idea that Diez bought the bound volumes on the international book market or from other collectors abroad – though it is possible (but unlikely) that he bought the paintings in Europe unbound. Maybe he received them as a gift, bound or unbound, for instance from Ottoman ambassadors who visited Berlin. Of course, it is also possible that the album was bound by someone else after Diez’s death, as appears to have been the case with other manscripts from his bequest.34 Whoever owned the album from this time, it ended up in the shop of antiquarian bookseller A. Asher & Co. at number 20, Unter den Linden by 1858. Assuming the album had been in Diez’s collection, where was it from the year of Diez’s death in 1817 to 1858? The only possible traces of another owner are the red collection stamps »5« and »6« on the flyleaves of the two volumes (ill. 9). That a Berlin bookseller was in possession of Costumes turcs in 1858 suggests that the album stayed in the city or its orbit before this time.

Ill. 9: Flyleaf, No. 5 red stamp. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

|| lar wholesalers«, and that »they rarely used paper that was more than about two years old«. Gaskell: Paper (s. note 29), pp. 57–77. According to Nikolaev, the Ottomans used paper much more quickly than others; he has found a maximum of nine years’ interval between production and use, though he is referring to chancellery documents, not manuscripts. 34 Rauch: The Oriental Manuscripts (s. note 2), p. 91.

370 | Elisabeth Fraser We do not definitively know that Diez owned Costumes turcs, but Asher & Co., a reputable and scholarly bookseller, felt enough certainty about this provenance to present it that way to a longstanding and faithful client, the British Museum, with whom Adolphus Asher had close ties through his friendship with its famous nineteenth-century director Anthony Panizzi. In business since 1830, A. Asher & Co. imported English books to sell in Germany and elsewhere and sold current and antiquarian books to museums and collectors all over Europe.35 Both bookseller and publisher, Asher, apparently an ardent anglophile, had a privileged relationship with the British Museum and especially with Panizzi, whose expansive vision of the British Museum Asher supported. Asher is the link between Berlin and London and the means by which Costumes turcs left Germany for England. In 1858 A. Asher & Co. (now run by Albert Cohn after the death of Asher in 1853) sold Costumes turcs to the British Museum for twenty pounds and the album continued its journey to London.36

4 An Exceptional Album Whether or not Diez owned it, Costumes turcs is an exceptional album: lengthier and more elaborate than most albums and finer in its presentation. The binder and other artisans who created the bound album from costume paintings were unusually meticulous in their attention to its appearance. Before binding, the folios were cut to a uniform size with clean edges and were decorated with classicizing frames of gray wash, suggestive of stone. The images were further embellished with a French caption, surrounded by a smaller frame below the image, identifying the figure depicted in transliterated Ottoman, followed by a French equivalent. The use of French, the language of European courts and elite society, rather than a local language, adds another layer of aestheticization and signals cosmopolitanism. By contrast, the pages of the Monnier album in Bourg-en-Bresse are less composed and are more typical in this way of many Ottoman costume albums in European collections. Simple, unevenly drawn green lines frame the costume figures; below the frames to the right appear the titles of the painted figure in Ottoman, written by an official French translator (jeune de langues) and a certain »Mustapha, Galiondgi turc«, according to Monnier. On the verso pages preceding the painting folios French equivalents of the Ottoman descriptions are provided. Though the inked lettering was written with care, there seems to have been little concern to create a neat presentational copy: as in a draft version that has not been deleted, || 35 This information on A. Asher & Co. comes from David Paisey: Adolphus Asher (1800–1853). Berlin Bookseller, Anglophile, and Friend to Panizzi. In: British Library Journal (1997), pp. 131–153. 36 See Madden Records: Drafts of reports to trustees (1858). In: Archives of the British Museum Manuscripts Department, 62037.

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pencilled-in titles appear above the more finely written, inked ones, which have pencil lines underneath them. Likewise, the image numbers above the paintings were written in pencil first and then ink above, and traces of the former are left clearly visible on the page. On many of the painting folios a penciled transliteration of the Ottoman description of the figure depicted is scribbled at the bottom of the page. (Indeed, scribbled notations are common in most costume albums; the calligraphic regularity of the inscriptions in Costumes turcs contrasts with these casual scrawls.) There are no blank pages separating painted pages to preserve them. French captions for images appear on the backs of painting folios. In short, the Monnier album is less formal and ostentatious, less an object of display than Costumes turcs. After decoration, the folios of the British Museum Costumes turcs were bound in fine leather finished with gilded decoration. The covers are simply decorated, in classicizing understatement, with a gold roll, a border frame of a geometric design interlaced with a floral strand (ill. 10). Delicate sprigs of flowers and pomegranates appear at the corners.

Ill. 10: Cover binding, Germany, late 18th century (?), detail. Leather with gold tooling and decorative roll. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

More elaborate ornamentation is concentrated on the flat spine (ill. 11), covered with the same repeated geometric design in greater profusion, along with a little urn with a figure sitting on top, and extra red and green leather labels to set off the title and

372 | Elisabeth Fraser volume number, which is surrounded by a classicizing roll and wreath.37 The foreedges of the covers are also decorated with a floral pattern and the interior of the covers were given marbled end-leaves.

Ill. 11: Spine binding, Germany, late 18th century (?), detail. Leather with gold tooling and labels. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

|| 37 Giles Barber describes this understated classical style of late eighteenth-century bindings in Giles Barber: The James de Rothschild Bequest at Waddeson Manor. Printed Books and Bookbinding. 2 vols. Aylesbury 2013.

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The edges of the bound pages were gilded by another tradesman, adding another feature unusual for costume albums.38 (To wit, the page edges in the Monnier album are red, not gold.) The binding of Costumes turcs, though certainly not extravagant, makes a striking impression and affects how we approach the codex as a whole. The fine binding indicates that it was a valued object. Furthermore, tissue paper and blank pages were inserted between image pages to prevent color from bleeding onto the backs of other pages.39 The images of Costumes turcs have a pristine beauty in part because they have been carefully preserved – and therefore prized – from their early creation. With 264 paintings (136 in volume one, 128 in volume two), Costumes turcs is an unusually large Ottoman costume album, many albums having only 60-some costume figures. Several related albums from the late eighteenth century are considerably shorter: Recueil de costumes turcs (BnF Od 23) has only 69 costume images and the Monnier album, though lengthier than most, has but 152 images, a little over half the number in the Diez Costumes turcs. The paintings of the Bibliothèque de l’Opéra album are especially fine, but they form a small ensemble of only twentyfour images.40 In its inclusiveness, Costumes turcs covers far more subjects of the Ottoman Empire, with something like an encyclopedic impulse. To give an example, whereas most albums might include one, two, or three folios depicting members of the Janissary corps (the elite imperial guard), Costumes turcs contains at least thirty-six different figures from the Janissary hierarchy. The women’s section is similarly robust: forty-seven finely rendered images appear here, whereas only twenty figure in the Bourg-en-Bresse work. Volume two includes many images of peoples in and on the edge of the Ottoman Empire Albanian (ill. 12), Armenian, Greek (ill. 13), Jew, Moldavian, Tatar (ill. 14), even Indian (rare in these albums), in many variations and in varying situations, of high and low social conditions, and in diverse geographies (Rumelia, Anatolia, Crimea, Syria, Egypt, the Cycladic Islands), featuring brides, soldiers, merchants, tradesmen, and clerics.

|| 38 See Philppa J. M. Marks: The British Library Guide to Bookbinding. History and Techniques. Toronto 1998; on binders and doreurs, see Antony Griffiths: The Print before Photography. An Introduction to European Printmaking, 1550–1820. London 2016. 39 The current tissue paper may be of recent vintage, of course, but if so it would have replaced something there before, as only in a few cases have images bled onto blank pages. 40 The closest in length is an album in the Warsaw University Library, Habillemens et costumes turcs (probably from 1779–1780), containing 254 costume paintings.

374 | Elisabeth Fraser

Ill. 12: Albanian Woman [Albanienne], 1780s. Opaque watercolor, gold, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (2), fol. 42r. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

Heinrich Friedrich von Diez and Costumes turcs | 375

Ill. 13: Greek Man [Grec], 1780s. Opaque watercolor, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (2), fol. 93r. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

376 | Elisabeth Fraser

Ill. 14: Tatar Khan in Ceremonial Dress [Tartarchan, en habit de cérémonie quand il va à la Porte], 1780s. Opaque watercolor, gold, silver, ink, and wash on paper. From Costumes turcs, British Museum, London, ms. 1974 0617 012 (2), fol. 109r. © Trustees of the British Museum/E. Fraser

Heinrich Friedrich von Diez and Costumes turcs | 377

5 Organization, Classification, and Sequence In becoming an album, costume figures are chosen for inclusion (some on hand at the time of binding may be omitted), ordered and arranged in a meaningful sequence, according to whatever organizational principle the owner or binder prefers. Up to that point, the serial nature of costume imagery, the depiction of costume in figural types, and the highly conventionalized quality of these drawings make their sequence open-ended; unlike narrative images, there is no inherent, predetermined order, and any sequence can be selected. Bound costume albums vary in contents and sequence. The organization of the images in Costumes turcs is more elaborate than most. No other album I am aware of includes a formal table of contents – though a few include numbered lists of the images – let alone thirty-three different tables for sections and subsections as does Costume turcs. The album emphasizes classification as an organizing principle: women appear only in sections devoted to women – unlike in many albums where they make intermittent and sometimes quite arbitrary seeming appearance – eunuchs form their own separate subgroup, as do dervishes, clerics, and other figures. Costume turcs follows a strict court-centered, hierarchical principle, beginning with the sultan, court officials, and servants followed by military and religious figures; volume two, clearly the domain of subordinated »others«, contains women, ethnic minorities, and an assortment of popular professions. The sultan and officers and servants of the palace appear at the beginning of the album, the center of the official Ottoman world, followed immediately by other officials of government, law, and religion, with the military constituting the most extensive sections of all (folios 77–135 in volume one). By contrast, in the Monnier album, servant girls appear among the first images (although after the sultan and the Haseki Sultana), before the imperial prince and long before the Grand Vizier. The public, masculine worlds of political and military hierarchies are thematically subordinated to the life of the private apartments of the imperial palace, where the sultan, his family, and personal servants dominate and where leisure, not power, is the emphasis. Eight costume images depict women each playing a different musical instrument, followed by a female servant of the bath and another bearing sherbet. Only after an extensive section of women do the palace attendants appear, headed by the Chief Black Eunuch, and then the many personal servants to the sultan, the paintings eventually moving on to the palace guard and those who work in the outer most areas of the palace. Finally, the Grand Vizier is depicted on folio 53 and the world of Ottoman politics begins. Though the concept of the court as the center of Ottoman society, with the sultan as its locus, is maintained in this album, it is a cultural and social entity, not a function of (masculine) power, as it is so palpably in Costumes turcs.

378 | Elisabeth Fraser Costumes turcs furthermore lacks the whimsical and haphazard aspect of many other costume albums, which often bear the traces of accretions from various stops in their journeys. Differing sheet sizes and qualities of paper, bindings clearly made at a temporal distance from the paintings, notations in different languages appearing on the folios in different hands and different media are all ways in which some albums display heterogeneity and temporal accumulation. Greater effort was expended in making Costumes turcs a cohesive object.41 Costume albums are often said to be guidebooks to Ottoman society or souvenirs of European travelers’ residence in the imperial city.42 Yet concern with power structures and the systematic rendering of the hierarchies of court and society in Costumes turcs suggest a more official function. Of course objects have multiple meanings for their owners and Costumes turcs may well have served to recall a stay in Istanbul and even supply information about Ottoman subjects, though it is hard to imagine that a basic guidebook to Ottoman society was needed for someone who had lived among the Ottomans for an extended time. But this album is also apparently an honorific object in its own right. Whether or not Diez owned these volumes, it is certain that they are particularly elegant and formal, made with a bibliophile’s attention to detail and suggestive of an official purpose. The dating of the paper, combined with the German origin of the binding and the use of paper for the binding from a mill near Berlin, places the book with some certainty in Berlin in the late eighteenth and early nineteenth centuries. The elaborate and even official demeanor of the album, along with the association of costume albums with diplomatic travelers, reinforces a link with Diez or at least the diplomatic and royal milieu of Berlin. Costumes turcs fulfilled the diplomatic function of so many Ottoman costume albums: portable objects, they promoted cross-cultural contact that resonated beyond and radiated out from its main point of reference: Ottoman society.

|| 41 The homogeneity and regularity of Costumes turcs can be contrasted with heterogeneous Mughal compilations. See Yaël Rice: The Global Aspirations of the Mughal Album. In: Rembrandt and the Inspiration of India. Ed. by Stephanie Schrader. Los Angeles 2018, pp. 61–77. 42 Schick: Ottoman Costume Albums in a Cross-Cultural Context (s. note 4), p. 627.

| 6 Prominente Wirkung: Diez und Goethe

Hendrik Birus

Goethes Hochschätzung des ›Liebhabers‹ und ›Polemikers‹ Diez Nicht nur als Kabus hast du mich belehrt Als Oguz auch mir Weisheit zugekehrt Als Chadsche nur giebst du mir zu bedeuten Wie Chadsche darf des Timurs Macht begleiten.1

1 Gemeinsamer Orientbezug Heinrich Friedrich von Diez – wenn dieser Name im Bewusstsein der gebildeten Öffentlichkeit überhaupt eine Rolle spielte, so einzig durch seine achtungsvolle Erwähnung in Goethes West-östlichem Divan sowie allenfalls noch bei bibliographisch Interessierten durch den nicht weniger als 573-seitigen Anhang zum 2. Band seiner selbst schon voluminösen Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung aus Handschriften und eigenen Erfahrungen gesammelt von Heinrich Friedrich von Diez;2 dieser Anhang trägt den einprägsamen Titel Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften und steht in einem quantitativen Missverhältnis auch zu Hammers 29-seitiger Erwiderung Fug und Wahrheit in der morgenländischen Literatur, nebst einigen wenigen Proben von der feinen Gelehrsamkeit des Herrn von Diez zu Berlin in Sprachen und Wissenschaften.3 Beide Namen – Diez und Hammer (später: Hammer-Purgstall) – spielen im Schlussteil der Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans eine wichtige Rolle, in dem Goethe als Nähere Hülfsmittel seiner eigenen Beschäftigung mit dem Orient »einige Männer« vorstellt, »durch deren Augen wir jene weit entfernten, höchst fremdartigen Gegenstände zu betrachten, seit vielen Jahren beschäftigt gewesen« (S. 248): zunächst Marco Polo und Johannes von Montevilla (Sir John Mandeville), sehr ausführlich Pietro della Valle, ferner Adam Olea-

|| 1 Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. Neue völlig revidierte Ausgabe. 2 Bde. Hg. von Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 2010, Teilbd. 2, S. 609 (FA I 3², 609). Im Folgenden zitiert mit Seitenangabe im Text. 2 Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften. 2 Bde. Berlin 1811–1815. 3 Joseph von Hammer-Pugstall: Fug und Wahrheit in der morgenländischen Literatur, nebst einigen wenigen Proben von der feinen Gelehrsamkeit des Herrn von Diez zu Berlin in Sprachen und Wissenschaften. Wien 1816.

https://doi.org/10.1515/9783110647662-019

382 | Hendrik Birus rius, Jean Baptiste Tavernier, Jean Chardin und einige ungenannt bleibende »Neuere und neuste Reisende«; dann unter dem Titel Lehrer; Abgeschiedene, Mitlebende: William Jones, Johann Gottfried Eichhorn und der soeben verstorbene Georg Wilhelm Lorsbach; und schließlich stehen vor der Trias Übersetzungen, Endlicher Abschluß! und Revision die beiden Von Diez und Von Hammer überschriebenen Kapitel. Dass Hammer-Purgstall hier eine Schlüsselrolle spielt, leuchtet von selbst ein. Denn seine Ḥāfiẓ-Übersetzung4 war die entscheidende Anregung für den Westöstlichen Divan, wozu Goethe nun dankbar bekennt: Längst war ich auf Hafis und dessen Gedichte aufmerksam, aber was mir auch Literatur, Reisebeschreibung, Zeitblatt und sonst zu Gesicht brachte, gab mir keinen Begriff, keine Anschauung von dem Werth, von dem Verdienste dieses außerordentlichen Mannes. Endlich aber, als mir, im Frühling 1813 [recte: 1814], die vollständige Übersetzung aller seiner Werke zukam, ergriff ich mit besonderer Vorliebe sein inneres Wesen und suchte mich durch eigene Production mit ihm in Verhältniß zu setzen. Diese freundliche Beschäftigung half mir über bedenkliche Zeiten hinweg, und ließ mich zuletzt die Früchte des errungenen Friedens aufs angenehmste genießen. (S. 278)

Ferner war ihm der »schwunghafte Betrieb der Fundgruben«5 von »Vortheil« – allerdings mit der Einschränkung, daß mich diese wichtige Sammlung noch schneller gefördert hätte, wenn die Herausgeber, die freylich nur für vollendete Kenner eintragen und arbeiten, auch auf Laien und Liebhaber ihr Augenmerk gerichtet und, wo nicht allen, doch mehreren Aufsätzen eine kurze Einleitung, über die Umstände vergangner Zeit, Persönlichkeiten, Localitäten, vorgesetzt hätten; da denn freylich manches mühsame und zerstreuende Nachsuchen dem Lernbegierigen wäre erspart worden. (S. 278f.)

Eben dies kritisiert auch Diez in seiner Streitschrift Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur an Hammer: er habe »in den Fundgruben 700 Aussprüche Muhammeds […] nach seiner Art geradebrecht, ohne eine einzige Erläuterung beyzufügen, so daß sich jeder bey Ermangelung des Originals gefragt hat, was will der Mann doch damit sagen? Wir dürfen aber erwarten, daß er künftig auch auf Noten studiren werde.«6 »Doch alles was damals zu wünschen blieb«, fährt Goethe fort, »ist uns jetzt in reichlichem Maße geworden, durch das unschätzbare Werk, das uns Geschichte

|| 4 Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer. 2 Bde. Stuttgart, Tübingen 1812/1813 [recte: Frühjahr 1814]. 5 Nämlich der Foliobände: Fundgruben des Orients, bearbeitet durch eine Gesellschaft von Liebhabern auf Veranstaltung des Herrn Grafen Wenceslaus von Rzewuski. Bd. 1–6. Wien 1809–1818). 6 Heinrich Friedrich von Diez: Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften. Halle, Berlin 1815, S. 562.

Goethes Hochschätzung des ›Liebhabers‹ und ›Polemikers‹ Diez | 383

persischer Dichtkunst überliefert« (S. 279), nämlich Hammers Geschichte der schönen Redekünste Persiens, mit einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen Dichtern,7 die für den Prosa-Teil des West-östlichen Divans eine ähnlich wichtige Rolle spielte wie seine Ḥāfiẓ-Übersetzung für den Gedicht-Teil. In beiderlei Hinsicht konnte Diez damit nicht konkurrieren. Dennoch beginnt das vorausgehende, ihm gewidmete Kapitel mit dem Bekenntnis: Einen bedeutenden Einfluß auf mein Studium, den ich dankbar erkenne, hatte der Prälat von Diez. Zur Zeit da ich mich um orientalische Literatur näher bekümmerte, war mir das Buch des Kabus zu Handen gekommen, und schien mir so bedeutend, daß ich ihm viele Zeit widmete und mehrere Freunde zu dessen Betrachtung aufforderte. Durch einen Reisenden bot ich jenem schätzbaren Manne, dem ich so viel Belehrung schuldig geworden, einen verbindlichen Gruß. Er sendete mir dagegen freundlich das kleine Büchlein über die Tulpen [Wage der Blumen oder Anweisung zum Tulpen- und Narcissenbau in der Türkei von Scheich Muhammed Lalézary, Halle, Berlin 1815 (Sonderdruck aus Bd. 2 von Diezʼ Denkwürdigkeiten von Asien)]. Nun ließ ich, auf seidenartiges Papier, einen kleinen Raum mit prächtiger goldner Blumen-Einfassung verzieren, worin ich nachfolgendes Gedicht schrieb: Wie man mit Vorsicht auf der Erde wandelt, Es sey bergauf, es sey hinab vom Thron, Und wie man Menschen, wie man Pferde handelt: Das alles lehrt der König seinen Sohn. Wir wissens nun, durch Dich der uns beschenkte; Jetzt fügest du der Tulpe Flor daran, Und wenn mich nicht der goldne Rahm beschränkte Wo endete was Du für uns gethan. Und so entspann sich eine briefliche Unterhaltung, die der würdige Mann, bis an sein Ende, mit fast unleserlicher Hand, unter Leiden und Schmerzen getreulich fortsetzte. (S. 271f.)

Welchen Stellenwert ein solches orientalisierend geschmücktes, »W[eimar] d. 21 Apr[il] 1815« datiertes Gedichtblatt (468f.) für Goethe besaß, mag man daran ermessen, dass es dazu nur eine einzige Parallele gibt: sein zwei Monate zuvor, am 12. Februar 1815, verfasstes Gedicht Reicher Blumen goldne Rancken … (S. 539f.), das ostensibel An Geheimerath von Willemer, den Gatten seiner ›Suleika‹, und implizit auch an diese adressiert war. In seinem Brief vom 20. Mai 1815 bezeichnet Goethe jenes an Diez gerichtete Gedicht als »ein geringes Zeugniß meiner Dankbarkeit für so viele und schätzbare Belehrungen« und schließt mit der mehr als bloß höflichen Wendung:

|| 7 Joseph von Hammer-Pugstall: Geschichte der schönen Redekünste Persiens, mit einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen Dichtern. Wien 1818.

384 | Hendrik Birus Wobey ich mir zunächst die Erlaubniß ausbitte, in einem Reiche, worin ich nur als Fremdling wandle, indessen Sie es unumschränkt beherrschen, manchmal Ihren Schutz und Ihre Gunst anrufen zu dürfen. Ew. Hochwohlgeb. gehorsamster Diener J. W. v. Goethe.8

Dass solche ›Anrufungen‹ nicht ohne Echo blieben, bezeugt das Diez-Kapitel des West-östlichen Divans, in dem Goethe dankbar bekennt: Da ich nun mit Sitten und Geschichte des Orients bisher nur im Allgemeinen, mit Sprache so gut wie gar nicht bekannt gewesen, war eine solche Freundlichkeit mir von der größten Bedeutung. Denn weil es mir, bey einem vorgezeichneten, methodischen Verfahren, um augenblickliche Aufklärung zu thun war, welche in Büchern zu finden Kraft und Zeit verzehrenden Aufwand erfordert hätte, so wendete ich mich in bedenklichen Fällen an ihn, und erhielt auf meine Frage jederzeit genügende und fördernde Antwort. (S. 272)

Dafür mögen drei Beispiele genügen. Das eine benennt Goethe hier selbst, wenn er fortfährt: Da ich seine strenge und eigene Gemüthsart kannte, so hütete ich mich ihn von gewisser Seite zu berühren; doch war er gefällig genug, ganz gegen seine Denkweise, als ich den Charakter des Nußreddin Chodscha, des lustigen Reise- und Zeltgefährten des Welteroberers Timur, zu kennen wünschte, mir einige jener Anecdoten zu übersetzen. (S. 272f.)

Nachdem sich Diez am 11. Oktober 1816 dafür entschuldigt, dass er wegen seiner schwindenden Gesundheit »die Antwort auf Ihre Frage wegen der Einfälle des Nußreddin Chodscha so lange schuldig geblieben« sei,9 bemerkt er zur Sache: Nußreddin Chodscha war nur ein ziemlich gemeiner Spaßmacher und Zotenreißer. Die Erzählungen, die man von ihm hat, sind daher noch jetzt nur der Gegenstand der Unterhaltung gemeiner Leute in den langen Winterabenden. Er lebte im vierzehnten Jahrhundert als Lehrer (Chodscha) auf einem Dorfe in Klein Asien um die Zeit als Timur oder Timur lenk (der lahme Timur / woraus man in Europa Tamerlan gemacht) in Asien auf Eroberungen ausging. Timur fand Vergnügen an den Schwänken und Einfällen des Mannes und führte ihn auch eine Zeitlang als Gesellschafter mit sich herum. Man hat mehrere kleine Sammlungen seiner Einfälle. Mir ist aber niemals bekannt geworden, daß man in Europa etwas davon übersetzt habe. Ich habe daher einige der züchtigsten und besten Erzählungen in der Beylage wörtlich übersetzt, damit Ew. Hochwohlgeboren daraus den Geist des Mannes näher kennen lernen mögen.10

Von diesen fünf Anekdoten hat Goethe die folgende in das Kapitel Künftiger Divan übernommen, wo es zum Buch des Timur heißt:

|| 8 WA IV 25, S. 339f. 9 AA III, S. 224–230. 10 Ebd., S. 224f.

Goethes Hochschätzung des ›Liebhabers‹ und ›Polemikers‹ Diez | 385

Sollte eigentlich erst gegründet werden, und vielleicht müßten ein paar Jahre hingehen, damit uns die allzunah liegende Deutung [nämlich auf Napoleon] ein erhöhtes Anschaun ungeheurer Weltereignisse nicht mehr verkümmerte. Erheitert könnte diese Tragödie werden, wenn man des fürchterlichen Weltverwüsters launigen Zug- und Zeltgefährten Nussreddin Chodscha von Zeit zu Zeit auftreten zu lassen sich entschlösse. Gute Stunden, freyer Sinn werden hiezu die beste Förderniß verleihen. Ein Musterstück der Geschichtchen die uns herüber gekommen, fügen wir bey.

Was folgt, ist die vierte, stilistisch nur minimal veränderte »Beylage«11 zu Diezens Brief: Timur war ein häßlicher Mann; er hatte ein blindes Auge und einen lahmen Fuß. Indem nun eines Tags Chodscha um ihn war, kratzte sich Timur den Kopf, denn die Zeit des Barbierens war gekommen, und befahl der Barbier solle gerufen werden. Nachdem der Kopf geschoren war, gab der Barbier, wie gewöhnlich, Timur den Spiegel in die Hand. Timur sah sich im Spiegel und fand sein Ansehn gar zu häßlich. Darüber fing er an zu weinen, auch der Chodscha hub an zu weinen, und so weinten sie ein paar Stunden. Hierauf trösteten einige Gesellschafter den Timur und unterhielten ihn mit sonderbaren Erzählungen, um ihn alles vergessen zu machen. Timur hörte auf zu weinen, der Chodscha aber hörte nicht auf sondern fing erst recht an stärker zu weinen. Endlich sprach Timur zum Chodscha: höre! ich habe in den Spiegel geschaut und habe mich sehr häßlich gesehen, darüber betrübte ich mich, weil ich nicht allein Kaiser bin, sondern auch viel Vermögen und Sclavinnen habe, daneben aber so häßlich bin, darum habe ich geweint. Und warum weinst du noch ohne Aufhören? Der Chodscha antwortete: wenn du nur einmal in den Spiegel gesehen und bei Beschauung deines Gesichts es gar nicht hast aushalten können dich anzusehen, sondern darüber geweint hast, was sollen wir denn thun, die wir Nacht und Tag dein Gesicht anzusehen haben? Wenn wir nicht weinen, wer soll denn weinen! Deßhalb habe ich geweint. – Timur kam vor Lachen außer sich. (S. 222f.)

Mag es angesichts dieser amüsanten Anekdote rätselhaft erscheinen, inwiefern Diez die Erzählungen von Nußreddin Chodscha12 »ganz gegen seine Denkweise« mitgeteilt habe und warum Diez eigens betont, er habe nur »einige der züchtigsten und besten Erzählungen in der Beylage wörtlich übersetzt«, so mag dies an der von Goethe nicht zitierten dritten Beilage zweifelsfrei deutlich werden, die so geht: Eines Tages verlor der Chodscha seinen Esel, suchte und suchte und konnte ihn nicht finden. In der Meynung also, zum Dorf hinauszugehen und ihn im Felde zu suchen, sucht er ihn auch daselbst, ohne ihn zu finden. Wider seinen Willen war er nun müde geworden und stieg auf einen großen Ahornbaum, theils um von der Höhe des Baumes sich nach dem Esel umzuschauen, ob er irgendwo zu sehen sey, theils auch um sich im Schatten ein wenig auszuruhen. Während daß er aber den Baum erstiegen hatte und darauf saß, sah er, daß ein Mensch ein Weib holte und sie unter den Baum führte, und wie er sich nicht bloß allein sondern auch im Schatten befand: so nahm er das Weib unter sich und verrichtete die Sache. Indem nun der Chodscha zu sich selbst sprach, ich will doch sehen, worauf das hinauslaufen wird: so sagte das Weib zu dem Menschen: hast du an meiner Umarmung auch Vergnügen gehabt. Er antwortete: || 11 AA III, S. 229f. 12 Ebd., S. 226–230.

386 | Hendrik Birus ich habe mich so sehr vergnügt, daß ich durch ein Nähnadel Öhr Indien gesehen habe. Als der Chodscha dies hörte, rief er von oben herunter: höre, lieber Mann, kannst du auch meinen Esel auf der Seite von Indien sehen, denn der hat sich verloren? Der Kerl bemerkte nun, daß auf dem Baume jemand sitze und nahm vor Scham die Flucht.13

Eine weitere Anfrage bereits in Goethes erstem Brief bezog sich auf Lāmīʽīs türkische Bearbeitung14 des angeblich Ḫosrou Anōšervān gewidmeten mittelpersischen Liebesepos Vāmiq u ʽAdrā, das der Emir von Chorasan, ʽAbdullāh der Ṭāhiride, mit der Begründung hatte vernichten lassen: »der Koran und die Tradition genüge den guten Muslimen, doch dies von Magiern geschriebene Buch sei für sie verflucht und schädlich«.15 Nachdem ihn Lorsbach bereits am 20. Mai 1815 mit der Nachricht enttäuschen musste: »Den türkischen Roman Vamek w Adra kenne ich dem Namen nach nur aus Herbelot. Vielleicht steht in Catifi’s [recte: Latifi’s] Biographie türkischer Dichter, die Chabert übersetzt hat, etwas davon«,16 wendete sich Goethe nun am 12. Juli 1815 an Diez: Sodann wünschte einige Kenntniß von dem türkischen Roman Vamek und Ada zu erhalten, besonders auch zu erfahren, worin etwa das Charakteristische ihrer Personen und Schicksale besteht, wodurch sie sich vor andern Liebenden auszeichnen. Herbelot hat sich gar zu kurz gefaßt.17

Worauf Diez passen musste: Ich bedaure, daß ich Ihnen vom türkischen Roman, Wamek und Adra keine Nachricht geben kann. Ich besitze ihn nicht und habe auch nie davon sprechen gehört außer dem Wenigen was Herbelot schreibt. Ich darf aber die Hoffnung nicht aufgeben, Ihrem Wunsche in der Zukunft zu genügen, indem in diesen Tagen von Seiten unseres Hofes ein Gesandter nach Konstantinopel in der Person des Herrn Senft von Pilsach ernannt worden, welchen ich bitten werde, jenen Roman in Konstantinopel bey seiner Ankunft aufsuchen zu lassen und mir mit Gelegenheit zu übermachen.18

Selbst aus diesen Fehlanzeigen aber zog Goethe Gewinn, indem er im Kapitel Künftiger Divan schreibt:

|| 13 AA III, S. 228f. 14 Vgl. Jan Rypka, unter Mitarbeit von Otakar Klíma, Věra Kubíčková, Jiří Bečka, Jiří Cejpek u. Ivan Hrbek: Iranische Literaturgeschichte [Dějiny perské a tádžické literatury. Prag 1956]. Hg. von Heinrich F. J. Junker. Leipzig 1959, S. 173. 15 Ebd., S. 52. 16 AA III, S. 284f. 17 WA IV 25, S. 340; vgl. Barthélémy d’Herbelot: Bibliothèque Orientale, ou Dictionaire Universel Contenant Généralement Tout ce qui regarde la connoissance des Peuples de lʼOrient. Paris 1697, S. 907, s.v. »VAMEK v Ad´ra«. 18 12. Juli 1815; AA III, S. 216.

Goethes Hochschätzung des ›Liebhabers‹ und ›Polemikers‹ Diez | 387

Buch der Liebe würde sehr anschwellen, wenn sechs Liebespaare in ihren Freuden und Leiden entschiedener aufträten und noch andere neben ihnen aus der düsteren Vergangenheit mehr oder weniger klar hervorgingen. Wamik und Asra z. B. von denen sich außer den Namen keine weitere Nachricht findet, könnten folgendermaßen eingeführt werden: Ja! Liebe ist ein groß Verdienst! Wer findet schöneren Gewinnst? – Du wirst nicht mächtig, wirst nicht reich; Jedoch den größten Helden gleich. Man wird, so gut wie vom Propheten, Von Wamik und von Asra reden. – Nicht reden wird man, wird sie nennen: Die Namen müssen alle kennen. Was sie gethan, was sie geübt Das weiß kein Mensch! Daß sie geliebt Das wissen wir. Genug gesagt! Wenn man nach Wamik und Asra fragt.19

Eine dritte Anfrage richtete Goethe an Diez im selben Brief vom 23. Oktober 1816, in dem er darum gebeten hatte, »daß Ew. Hochwohlgeb. mir das Eigenthümliche des orientalischen Spaßmachers in einigen Geschichten darlegen wollen«: Von Petersburg hab ich in diesen Tagen ein Blatt Handschrift des persischen Gesandten Mirza Eboul Hassan Chan erhalten. Die Übersetzung folgt hiebey. Hätt ich nicht durch das Buch des Kabus und durch manche Stellen der Werke Ew. Hochwohlgeb. einen Begriff von den orientalischen Canzleyverwandten, so würden mir diese Wendungen und sonderbaren Andeutungen wohl schwerlich ihrem wahren Sinne nach klar geworden seyn. Nun scheint mir aber diese Poesie und Prosa gar wohl diplomatisch und einem Gesandten der aus so fernen Landen kommt wohl angemessen. Möchte ich doch gelegentlich Ew. Hochwohlgeb. Gedanken darüber vernehmen, und zugleich erfahren daß Ihr Befinden die Arbeit [nämlich seine Bibelübersetzung ins Türkische] nicht unterbricht, die Ew. Hochwohlgeb. zu einem so ausgebreiteten frommen Zweck unternehmen.20

Worauf Diez am 13. November (also ein knappes halbes Jahr vor seinem Tode) umgehend mit einem mehrseitigen Gutachten21 antwortet: Ew. Hochwohlgeboren danke ich aufs verbindlichste für die gütige Mitteilung der Übersetzung vom Aufsatze des persischen Gesandten zu Petersburg. Die Übersetzung selbst mag wohl nicht überall die richtigste seyn. Allein so rhapsodisch die Gedanken des Verfassers zusammen gewürfelt zu seyn scheinen so glaube ich doch den Zusammenhang derselben in zwey Punkten zusammentreffen zu sehen, welche der schlaue Mann den Russen hat zum Vorwurf machen wollen ohne es ihnen gerade ins Gesicht zu sagen. Der erste ist, daß in Rußland die persischen Kaufleute nicht mit

|| 19 Ebd., S. 218. 20 WA IV 27, S. 206f. 21 AA III, S. 230–236.

388 | Hendrik Birus derselben Nachsicht und Großmuth behandelt werden als die Russischen in Persien. Der neue Zolltarif des russischen Hofes hat wahrscheinlich dazu Gelegenheit gegeben, der wie alle ähnliche Einrichtungen in europäischen Ländern mit namenlosen Chikanen und Weitläuftigkeiten verbunden zu seyn pflegt, die den Handel der Ausländer drücken und erschweren und worin sich insbesondere die Morgenländer nicht finden können. Hierzu kommt, daß die Zollbeamten im Russischen große Gewalt haben, wie es bey der Weitläuftigkeit des Reichs nicht anders seyn kann […]. Die morgenländischen Regierungen ihrer Seits sehen alle Dinge, so auch Abgaben Sachen im Großen und gehen nicht ins quälende und erbärmliche Detail, was bey uns hunderttausende von Officianten und Schreibern beschäftigt, deren jeder einen Zettel über Pfennige und Groschen auszustellen hat […]. Diese einfache Art des Handels lag ohne Zweifel dem persischen Gesandten im Vergleich mit dem fiskalischen und kleinlichen Verfahren, was die russischen Zollgesetze mit sich bringen. […] Der zweyte Punkt, woran sich die Gedanken des Persers gereihet haben, ist der Satz, daß man Fremde wohl behandeln müsse. Der Mann hat freilich zunächst auf sich selbst gesehen. Wenn man ihm gleich scheinbar Höflichkeiten durch Einladungen zu Mahlzeiten und dergleichen Dinge genug erwiesen haben wird: so hat doch dabey die Absicht zum Grunde gelegen, ihn als ein seltsames Thier aus sogenannten barbarischen Ländern zur Schau auszustellen. Dies ist die gewöhnliche Vorstellung, welche sich der eingebildete Europäer von Menschen jener Gegenden macht, und er kann dabey nicht unterlassen, den Morgenländern bemerklich zu machen seine Überlegenheit in der Kriegskunst und Künsten und Wissenschaften; der Morgenländer fühlt diese Impertinenzen in den bloßen Mienen geschweige denn Worten. Er sagt aber nichts aus Bescheidenheit, um so weniger da er über diese Dinge ganz verschieden denkt. Dies hat denn auch der Perser in Rußland erfahren; ich sage nichts von der Pracht, welche man bey solchen Gelegenheiten auskramt, um in diesem Stück nicht bloß mit den Morgenländern zu wetteifern, sondern um ihn auch zu demüthigen.

Als rühmliche Ausnahme berichtet Diez dann von der Audienz Friedrichs des Großen für den osmanischen Gesandten: [S]o kam der König, der seine Größe in sich selbst hatte, am Tage der Audienz in Stiefeln und Sporen und in der gewöhnlichen alten Alltags Uniform von Potsdam nach Berlin geritten und empfing in diesem mit Staub bedeckten Anzuge den Gesandten Harun Achmed auf dem Schlosse. Der letztere schien auch von diesem Anzug eines weltberühmten Mannes mehr geblendet worden zu seyn als von allen Firlefanzereien, welche die Minister ihm hatten zur Schau stellen wollen; denn nach Endigung der Audienz fiel der Gesandte dem großen Könige in die Arme, um ihm die Schulter zu küssen, eine ungewöhnliche Huldigung, welche die Minister und alle Anwesenden für bäurische Grobheit erklärten, während deß Friedrich der einzige war, der diese Handlung aus dem rechten Gesichtspunkte zu betrachten wußte.

Woran sich eine Erzählung ähnlicher Taktlosigkeiten gegenüber orientalischen Gesandten anschließt, deren Zeuge Diez selbst gewesen war. So berichtet er von einer Lustbarkeit für den Gesandten der Pforte Asmi Achmed im Jahr 1791, der mit dem Spiel einer Glasharmonika endete, »wobey alle Zuhörer vor Zärtlichkeit der Töne zu schmelzen schienen«: Asmi Achmed, der neben mir saß, sprach zu mir: diese Töne kann ich auch hervorbringen wenn ich einer Katze den Schwanz kneife. Flugs war wieder die Frage der entzückten Europäer, was er gesagt habe. Ich antwortete: der Mann findet das Spiel der Harmonica bewundernswerth. Ich

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mußte mich gar wohl hüten, die Wahrheit zu sagen, um den Mann nicht steinigen zu lassen. Eben solche Demüthigungen hat der Perser in Petersburg erfahren.

Als Goethe eine deutsche Prosaübersetzung der ihm von Maria Paulownas Hofdame Constance von Fritsch übermittelten französischen Übersetzung jenes Botschafterschreibens22 unter der Überschrift Neuere, Neueste in den Prosa-Teil des Westöstlichen Divans aufnahm, hat er von Diez’ ausführlichen Erläuterungen keinen Gebrauch gemacht. Doch dürfte dessen Weise, den Zusammenhang der ›rhapsodisch zusammengewürfelten Gedanken des Verfassers‹ zu rekonstruieren, nicht ohne Wirkung auf Johann Gottfried Ludwig Kosegartens Übersetzung und Kommentierungsvorschläge23 zweier Botschaftsgedichte gewesen sein, die Hammer bereits in den Fundgruben des Orients übersetzt hatte.24 Durch deren Neu-Präsentation im Divan-Kapitel Endlicher Abschluß! tief gekränkt,25 schrieb er am 16. September 1819 an Carl August Böttiger: der soeben erschienene West-östliche Divan habe ihn »doch sehr unbefriedigt gelassen und durch die Aufnahme einer andern Übersetzung der persischen Bothschaftsbriefe sogar ein wenig beleidigt«.26 So war Goethe schließlich doch noch, ungeachtet seiner Zurückhaltung, ins Minenfeld der Hammer-DiezKontroverse geraten. Der Austausch mit Diez sollte zu Goethes Zufriedenheit nicht einseitig bleiben, indem Diez bereits seinem ersten Brief das Postscriptum angehängt hatte: Haben Sie doch die Geneigtheit, mir gelegentlich zu sagen, wie man es anfangen soll oder an wen man sich wenden müßte, um den Catalog zu erhalten, welchen die Gothaer Bibliothek vor ein Paar Jahren von ihren arabischen Handschriften hat drucken lassen. Die Buchhändler haben es nicht bewirken können, sagend, daß die Schrift nicht in den Buchhandel gekommen sey.27

Als Goethe ihm nach vier Monaten Ortsabwesenheit – seinem Divan-Sommer und -Herbst in den Rhein- und Main-Gegenden – vermelden kann, dass ihm vor einigen Tagen von dem Gothaer Hofrat und Oberbibliothekar Jacobs ein Exemplar des Katalogs zugesagt worden sei und es nun mit der fahrenden Post abgehen werde, fügt er hinzu: »Wie erfreut es mich, daß ich für so viele Belehrung und Aufklärung hiedurch etwas Freundliches erzeigen kann.«28 Worauf Diez am 28. November postwendend antwortet:

|| 22 Ebd., S. 239–242. 23 Vgl. AA III, S. 277–280. 24 Vgl. ebd., S. 138f. 25 AA III, S. 283–292. 26 Goethe-Jahrbuch 1 (1880), S. 342. 27 AA III, S. 217. 28 WA IV 26, S. 152.

390 | Hendrik Birus Ew. Hochwohlgeboren haben mir einen neuen Beweis von Ihrer willfährigen Güte gegeben, indem Sie Ihr höch[st] schätzbares Schreiben vom 15ten d. M. zum Vorläufer des Katalogs der morgenländischen Sammlungen zu Gotha gemacht haben, der ein Paar Tage nachher mir behändigt worden ist. Ich nehme ihn an mit dem wärmsten Gefühl der Erkenntlichkeit. In literarischen Sachen darf man Geschenke nicht verschmähen, selbst auf Kosten dessen, der sich ihrer beraubt. Durch die Umstände, welche H. Hofrath Jacobs anführt, bin ich überzeugt worden, daß ich ohne Ihre unvergeßliche Hülfe nimmermehr zum Besitz des Katalogs gelangt seyn würde, der mir seit seiner Erscheinung so viel vergebliche Nachfragen verursacht hat; denn das ist die schlimme Seite der Liebhaber-Sammler, daß man sich nicht zufrieden geben kann, bis man des gewünschten Gegenstandes mächtig geworden. Welch ein günstiges Verhängniß, daß ich endlich bey Ihnen Hülfe suchen durfte!29

In jenem brieflichen »Vorläufer des Katalogs der morgenländischen Sammlung zu Gotha« hatte Goethe bekannt: Das weite Feld des orientalischen Studiums giebt mir sehr frohe Ansichten, leider fehlt mir die Kenntniß der Sprachen, an welche seit meiner Jugend kaum mehr denken können. Wie höchst schätzbar daher jene Vermittlung sey, die wir Ew. Hochwohlgeb. verdanken, darf ich nicht erst betheuern. Das Studium Ihrer Einleitungen in das Buch Kabus, sodann des Werkes selbst, vergegenwärtigt uns Sinn und Geist jener merkwürdigen Völker.30

Dass dies kein bloßes privates Lippenbekenntnis war, zeigt die ganz ungewöhnlich umfangreiche Behandlung des von Kai-Kāʼus verfassten Qābs-nāmeh, eigentlich Naṣiḥat-nāmeh (›Das Buch der Ratschläge‹) – eines Fürstenspiegels, über den es in Rypkas Iranischer Literaturgeschichte heißt: [D]as Buch stellt ein Gemisch von aristokratisch-feudaler Ethik und oberflächlicher musulmanischer Frömmigkeit, von Praktizismus und Schlauheit und darüber hinaus einige der eigentümlichen Position des Autors entspringende Widersprüche vor; obwohl der Nachkomme einer legendären iranischen Familie und Angehöriger der kurz vorher abgetanen Dynastie von Tabaristan, liebedienert er, wohl aus Furcht vor noch ärgerer Degradation, den durchaus nicht hochgeborenen türkischen Gasnawiden. Obwohl noch immer wenigstens ein feudaler Kleingrundbesitzer, sieht er nichts Herabwürdigendes mehr darin, wenn sein Sohn den Beruf eines Markthändlers ergreift, denn Kai-Kā’ūs weiß allzugut, wie und was das wirkliche Leben ist.

Goethe bemerkt zu diesem Verhalten: »Wäre in unsern Tagen den hohen Emigrirten, die sich oft mit musterhafter Ergebung von ihrer Hände Arbeit nährten, ein solches Buch zu Handen gekommen, wie tröstlich wäre es ihnen gewesen« (S. 275). Doch weiter mit Rypka: Es ist ein getreuer Widerschein der sozialen Verhältnisse der Zeit, ein Bild, wie es keine heimische Chronik bietet, ein ›Sammelbuch der islamischen Kultur vormongolischer Zeit‹, ein Be-

|| 29 AA III, S. 218. 30 WA IV 26, S. 152f.

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weis, daß die Kunst des Erzählens, durch die sich die Meister der sasanidischen [d. i. der vorislamischen mittelpersischen] Prosa auszeichneten, im 5./11. Jh. nicht erloschen war – kurz, ein in jeder Beziehung überaus wertvolles Denkmal.31

Dagegen lautet Goethes Resümee: Wie man nun aus einem Buche solchen Inhalts sich ohne Frage eine ausgebreitete Kenntniß der orientalischen Zustände versprechen kann, so wird man nicht zweiflen, daß man darin Analogien genug finden werde sich in seiner europäischen Lage zu belehren und zu beurtheilen. (S. 277)

Doch Goethe lässt es im Kapitel Von Diez nicht mit einer ausführlichen Vorstellung dieses Buchs bewenden, sondern macht für seine 1811 erschienene Übersetzung Reklame, indem er – »damit […] das Vaterland wisse, welcher Schatz ihm hier zubereitet liegt« (S. 275) – stilistisch verknappt Diezens »Register der Kapitel«32 vollständig wiedergibt, die Buchhandlung Nicolai in Berlin nennt, wo das Buch noch zu erwerben ist, und die »schätzbaren Tagesblätter, wie das Morgenblatt und der Gesellschafter« auffordert, »die so erbaulichen als erfreulichen Anecdoten und Geschichten, nicht weniger die großen unvergleichlichen Maximen, die dieses Werk enthält, vorläufig allgemein bekannt zu machen«, ja er fügt dem das Postscriptum an: »Diejenige Buchhandlung die vorgemeldetes Werk in Verlag oder Commission übernommen wird ersucht solches anzuzeigen. Ein billiger Preis wird die wünschenswerthe Verbreitung erleichtern« (S. 276f.). Damit hat Goethe zwei Jahre nach Diezens Tod mehr als eine formelle Dankesschuld abgetragen.

2 Sympathie für den Sammler und Liebhaber Doch dieser gemeinsame Orient-Bezug und ihre wechselseitige Unterstützung mit Informationen über Orientalia sind keine hinreichende Erklärung für Goethes ungemeine Schätzung des Privatgelehrten Diez. Dazu war ihr Charakter wie ihr Lebensgang allzu verschieden. Gewiss hätte es Goethes Sympathie für Diez verstärkt, wenn er gewusst hätte, dass dieser in seiner Jugend eine Schrift über Benedikt von Spinoza nach Leben und Lehren publiziert hat, in der er Spinoza nicht allein gegen alle Vorwürfe verteidigt, sondern ihn zudem abschließend mit Ossian, einem ausgesprochenen Lieblingsdichter des jungen Goethe, vergleicht:

|| 31 Rypka: Iranische Literaturgeschichte (s. Anm. 14), S. 233. 32 Buch des Kabus oder Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach. Ein Werk für alle Zeitalter aus dem Türkisch-Persisch-Arabischen übersetzt und durch Abhandlungen und Anmerkungen erläutert von Heinrich F. von Diez. Berlin 1811, S. 282–284.

392 | Hendrik Birus Es giebt […] sogar ein historisches Denkmal, welches den Satz bestärkt, daß Idee vom menschlichen Geist früher existirt haben müsse, als Idee der Gottheit, ein Denkmal, welches mehr Hochachtung verdient, als viele verwerfliche Legenden; ich meyne die Gedichte des alten zeltischen Barden Oßians. In Werken dieses vollkommnen Dichters finden wir nicht eine Spur von Gottheit und Religion.33

Wonach er Proben aus seinen Gesängen gibt und mit den Worten schließt, daß Oßians Gedichte noch in einen Zeitpunkt fallen, der früher ist, als die ihm vielleicht bald folgende kritische Epoche, wo Druiden dem Volke eine Gottheit schenkten, und wo man Oßians, Connals, Oskars, Fingals und Carrils vergebens suchte, grosse, edle Menschen, die von Gott nichts wußten.34

Dagegen schreibt Diez im Alter, am 7. Juni 1811, an seinen Freund Gottfried Benedict Funk: [D]as werden Sie doch wohl nicht erwartet haben, mich in der gröbsten Orthodoxie und im blindesten Glauben, wie man es schimpfweise zu nennen pflegt, wieder zu erkennen […]. […] In jedem Fall werde ich mich bemühen, etwas wieder gut zu machen, das ich ehemals als unwissender Jüngling verdorben, obgleich das jetzige Zeitalter es weder erwartet, noch aus der Verblendung und Unwissenheit, worin es versunken ist, geweckt zu werden wünscht; denn, der Weltleute nicht zu gedenken, ist es ein Jammer zu sehen, daß so gar alle Prediger jetzt Freydenker geworden und unterm Schleyer christlicher Benennungen nur das gröbste Heidenthum oder selbstgemachte Religionen lehren und vortragen; unter Tausenden findet sich kaum Einer der rechtgläubig sey und die Bibel kenne und bekenne. Doch die Zeiten mußten so kommen. Propheten und Apostel haben es ja vorhergesagt. Aber es bleibt für jeden Altgläubigen ein großes Unglück, in solchen Zeiten zu leben, weil er die schrecklichen Folgen davon in dieser Welt mittragen muß, denn in der Ewigkeit wird freylich jeder an seine Stelle gesetzt und in die Wohnung eingeführt werden, die ihm nach seinem Glauben und seinen Werken bereitet ist etc.35

Doch, wie Katharina Mommsen betont, hat diese »bewußt zur Schau getragene Orthodoxie« des alten Diez Goethes »in ihrer Spontaneität ungewöhnlichen Sympathieregungen […] kaum beeinträchtigt«.36 Fragt man also nach einem anderen Motiv für Goethes öffentlich bekundete Sympathie für Diez, so mag dessen bereits zitierte Selbstcharakteristik als »Liebha-

|| 33 Heinrich Friedrich Diez: Benedikt von Spinoza nach Leben und Lehren (1783). In: Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften (1772–1784). Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010, S. 347–363, hier S. 362. 34 Ebd., S. 363. 35 Gottfried Benedict Funk: Schriften. Nebst einem Anhange über sein Leben und Wirken. Herausgegeben von seinen Zöglingen und Freunden. Theil 2. Berlin 1821, S. 266–268. 36 Katharina Mommsen: Goethe und Diez. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der DivanEpoche. 2., erg. Aufl. Bern u. a. 1995 (= Reprint der 1. Aufl. Berlin 1961), S. 161 – eine noch immer unüberholte Untersuchung, der auch der vorliegende Beitrag in vielem verpflichtet ist.

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ber-Sammler«37 einen Fingerzeig bieten. Denn wie Diez unermüdlich Handschriften und Bücher sammelte und einer der »bedeutendsten Bibliophilen des 18. Jahrhunderts« war,38 so war auch Goethe ein leidenschaftlicher Sammler: von Gesteinen und Fossilien über Majoliken, Gemmen und Münzen bis zu Handzeichnungen und Autographen – eine Neigung, die er novellistisch in der Schrift Der Sammler und die Seinigen gestaltet hat,39 unter deren Titel er in der Handschrift notierte: »Glück des Sammlers. Lehre dazu.«40 Doch der andere Teil des Kompositums »Liebhaber-Sammler« weist noch weiter ins Zentrum: »Liebhaber«. Schreibt doch Diez in der »Vorrede« zu den Denkwürdigkeiten von Asien (Bd. 1, S. XVI) über sich selbst: »Ich habe mich […] nie anders als blossen Liebhaber ansehen dürfen, der nur aus Verlangen nach Erkenntniss seine eigene Wissbegierde zu befriedigen gesucht.« Und er rühmt Goethe als »Liebhaber alles Wissens«, der über seine Abhandlung Der neuentdeckte oghuzische Cyklop verglichen mit dem Homerischen41 »unpartheyischer sprechen [könne] als die eigentlichen Philologen«.42 Dass die Rollen des ›Kenners‹ und ›Liebhabers‹ einander keineswegs ausschließen müssen, zeigt eine Passage in Goethes Rezension von Johann Friedrich Reichardts Vertrauten Briefen aus Paris (1804), mit der Bemerkung über den Verfasser, der Goethes Claudine von Villa Bella (1789) und Erwin und Elmire (1790) vertont hatte: »Gegen Musik und Oper verhält sich der Reisende als denkender Künstler, gegen das Theater überhaupt als einsichtsvoller Kenner, und übrigens gegen Künste und Wissenschaften als teilnehmender Liebhaber.«43 Dass gleichwohl eine Spannung zwischen beiden Rollen bestehen mag, räumt Goethe ein, wenn er in der Einleitung zum Prosa-Teil des West-östlichen Divans den Wunsch äußert: Es »möge nun Verzeihung dem Büchlein gewährt seyn! Kenner vergeben mit Einsicht, Liebhaber, weniger gestört durch solche Mängel, nehmen das Dargebotne unbefangen auf«.44 Ja, dass diese Spannung bis zum offenen Gegensatz gehen kann, zeigt im Kapitel Von Hammer sein bereits eingangs zitierter Wunsch, dass »die Herausgeber [der Fundgruben des Orients], die freylich nur für vollendete Kenner eintragen und arbeiten, auch auf Laien und Liebhaber ihr Augenmerk gerichtet« hätten.45 Goethe hat seine Parteinahme für den Liebhaber gegen

|| 37 AA III, S. 218. 38 Mommsen: Goethe und Diez (s. Anm. 36), S. 4. 39 Propyläen II 2 (1799); FA I 18, S. 676–733. 40 Ebd., S. 1286. 41 Vgl. hierzu meinen Kommentar zu Goethes Gedichtentwurf Da liegt ein Ey es ist kein Ey nein … in: FA I 32, S. 1779–1784. 42 28. November 1815; AA III, S. 220. 43 FA I 18, S. 927 44 FA I 32, S. 139. 45 FA I 32,S. 278f.

394 | Hendrik Birus den professionellen Experten in einem Zahmen Xenion46 prägnant zusammengefasst: »Was willst du dass von deiner Gesinnung Man dir nach ins Ewige sende?« Er gehörte zu keiner Innung, Blieb Liebhaber bis ans Ende.

Was Diez angeht, so hat er zwar gelegentlich beide Rollen friedlich-schiedlich behandelt, wenn er am Schluss der »Vorrede« zu den Denkwürdigkeiten von Asien (Bd. 1, S. XXV) von der Aufgabe spricht, »Exemplare aller in Europa vorkommenden [orientalischen] Handschriften übersehn zu können, als welches Kennern und Liebhabern nicht gleichgültig seyn darf«. Doch zumeist sieht er beide in einem unüberbrückbaren Gegensatz, etwa wenn er Goethes Klage über seine mangelnde Kenntnis orientalischer Sprachen entschieden widerspricht: Sie sind übrigens glücklich genug, des Studiums morgenländischer Sprachen nicht zu Ihrem Ruhme bedurft zu haben. Es mag sich mancher in die Fragen des Orients nur deshalb geflüchtet zu haben, weil er gefunden daß ihm von Ihnen zu viel Weges diesseits abgeschnitten und vorweg genommen worden. Wie aber die menschliche Vernunft an sich auf Erden nur einartig ist, so verschieden und mannigfaltig auch die Formen sind, worin sie sich nach Klimaten und Sprachen entwickelt und ausbildet: so muß man von dieser Idee so durchdrungen seyn wie Ew. Hochwohlgeboren, um sich mit Leichtigkeit in den Orient hineinzudenken, sobald Thatsachen dazu gegeben werden. Dies ist es, was so vielen von der Innung versagt worden, ich meyne Kenner, welche nicht als Liebhaber sondern als Professionsverwandte die morgenländischen Sprachen treiben und vor den Worten den Geist des Orients nicht sehen können. Sie werden darüber viele unerwartete Beweise im Anhange des zweyten Bandes der Denkwürdigkeiten zu lesen haben, wo ich das Geheimniß der Innung aufzudecken gezwungen gewesen, weil man an mir als Liebhaber eine gute Beute zu finden glaubte.47

Im folgenden Brief schreibt er dann mit Bezug auf diesen »Anhang« Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften: So langweilig Ihnen aber auch der weitläufige Anhang vorkommen mag: so habe ich doch auf Ihre Geduld gerechnet, daß Sie ihn nicht ungelesen lassen werden, um über den Unfug mit zu richten, der von ein Paar Innungsverwandten trauriger Gestalt, besonders von einem ganz verblendeten Idioten [d.i. Hammer] gegen mich verübt worden. Ich weiß zu verachten was dumm, kindisch und ungelehrt ist. Da aber zugleich schaamlose Bosheit und Verläumdung über mich hergefallen sind; so mußte ich endlich wider meinen Willen die Keule ergreifen, um darunter

|| 46 Über Kunst und Alterthum II 3 (1820); FA I 20, S. 507. 47 28. November 1815; AA III, S. 220f.

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zu schlagen und die Unwissenheit aufzudecken, die wirklich unglaublich groß ist. Bedauern Sie mich, daß ich meine Zeit mit solchen Elendigkeiten habe verlieren müssen.48

Darauf antwortete Goethe einen Monat später: Ew. Hochwohlgeb. haben durch Ihr treffliches Werk mir und meinen Freunden die Winterabende sehr verkürzt. Wir lasen es von Anfang bis zu Ende durch und sind jetzt daran, es theilweise zu wiederholen. Die daraus gewonnene Belehrung ist uns unschätzbar und so konnt ich auch früher Ew. Hochwohlgeb. Arbeiten als die Basis ansehen, worauf sich meine Kenntnisse des Orients gründeten, indem Genauigkeit und Sicherheit die köstlichen Eigenschaften Ihrer Werke sind. Vom Einzelnen darf ich dießmal nicht reden, jedoch mit wenig Worten mein Bedauern ausdrücken, hier abermals ein Beyspiel gesehen zu haben, wie die Gildemeister, anstatt der guten Sache förderlich zu seyn, das Verdienst zu hindern und zu verdrängen suchen. Doch will es zu unserer Zeit nicht recht mehr gelingen, indem das Echte und Tüchtige doch zuletzt seinen Platz behauptet.49

Das Wort »Gildemeister« – laut Grimms Deutschem Wörterbuch der »vorsteher« einer »städtischen berufsvereinigung […] des mittelalters« oder einer »geistliche[n] brüderschaft«, mit der Erläuterung: »die verstockten zunftverhältnisse des 18. jh. führen zu dem abfälligen sinn ›enge, beschränkte, am alten über gebühr festhaltenden gruppe von menschen‹«, »so oft mit vorliebe von gelehrten, deren tätigkeit als zu handwerksmäszig gescholten werden soll«50 – Goethes Wort »Gildemeister« also zeigt die besondere Resonanz von Diezens Benennung seiner Gegner als »Professionsverwandte« oder »Innungsverwandte«. Hatte doch Goethe wenige Jahre zuvor in der Konfession des Verfassers am Schluss seiner Farbenlehre »die Beschränktheit der wissenschaftlichen Gilden […], diesen Handwerkssinn, der wohl etwas erhalten und fortpflanzen, aber nichts fördern kann« gegeißelt.51 Später kritisiert er in dem Aufsatz Meteore des literarischen Himmels das »wissenschaftliche Gildewesen, welches, wie ein Handwerk das sich von der Kunst entfernt, immer schlechter wird, je mehr man das eigentümliche Schauen und das unmittelbare Denken vernachlässigt«.52 Dies hatte Goethe sowohl im Hinblick auf seine zoologischen Arbeiten wie auf die Farbenlehre erfahren müssen: So übt schon seit zwanzig Jahren die physiko-mathematische Gilde gegen meine Farbenlehre ihr Verbotsrecht aus; sie verschreien solche in Kollegien und wo nicht sonst; davon wissen mir

|| 48 23. Dezember 1815; ebd., S. 222. 49 1. Februar 1816; WA IV 26, S. 246. 50 Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 7: Gewöhnlich – Gleve. Bearb. von Hermann Wunderlich und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches Hans Neumann, Theodor Kochs, Bernhard Beckmann u. a. München 1984 (= Reprint von Bd. 4, 1. Abt., T. 4, Leipzig 1949), Sp. 7499f., s. v. ›Gildemeister‹, u. Sp. 7485–7495, s. v. ›1Gilde‹, bes. Sp. 7487–7492. 51 FA I 23/1, S. 982. 52 Zur Naturwissenschaft überhaupt I 2 (1820); MA 12, S. 445–450, hier S. 449.

396 | Hendrik Birus jetzo Männer über dreißig Jahre genugsam zu erzählen und jene haben nicht Unrecht. Der Besitz in dem sie sich stark fühlen wird durch meine Farbenlehre bedroht, welche in diesem Sinne revolutionär genannt werden kann, wogegen jene Aristokratie sich zu wehren alle Ursache hat.53

So schrieb er voller Enttäuschung in der abschließenden Konfession des Verfassers der Farbenlehre: Unter den Gelehrten, die mir von ihrer Seite Beistand leisteten, zähle ich Anatomen, Chemiker, Literatoren, Philosophen, wie Loder, Sömmering, Göttling, Wolf, Forster, Schelling; hingegen keinen Physiker. Mit Lichtenberg korrespondierte ich eine Zeit lang und sendete ihm ein paar auf Gestellen bewegliche Schirme, woran die sämtlichen subjektiven Erscheinungen auf eine bequeme Weise dargestellt werden konnten, ingleichen einige Aufsätze, freilich noch roh und ungeschlacht genug. Ein Zeit lang antwortete er mir; als ich aber zuletzt dringender ward und das ekelhafte Newtonische Weiß mit Gewalt verfolgte, brach er ab über diese Dinge zu schreiben und zu antworten; ja er hatte nicht einmal die Freundlichkeit, ungeachtet eines so guten Verhältnisses, meiner Beiträge in der letzten Ausgabe seines Erxlebens [Anfangsgründe der Naturlehre] zu erwähnen. So war ich denn wieder auf meinen eigenen Weg gewiesen.54

Dass er Diez in ähnlicher Weise ausgegrenzt sah, zeigt Goethes Brief vom 24. Dezember 1819 an den Grafen Reinhard, der übrigens auch mit Hammer in engem Briefkontakt stand: Kennen Sie das Buch Kabus, von Diez übersetzt? wo nicht, so kann ich ein Exemplar überschicken; es ist ein wahrer Schatz, von dem ich nicht Gutes genug gesagt habe. Der so wunderliche als treffliche Mann hatte sich mit den Beherrschern des Tages überworfen, die seine Arbeiten kunstreich tückisch außer Credit zu setzen wußten.55

Bei der Neupräsentation seiner bahnbrechenden Schrift Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen in der obern Kinnlade zuzuschreiben (Jena 1786) in den Heften Zur Morphologie I 2 (1817) kehrt sogar das ominöse Wort »Gildemeister« aus dem Briefwechsel mit Diez wieder, wenn Goethe vom Misserfolg dieser Schrift bei den etablierten Forschern spricht: Nun zeugt es freilich von einer besondern Unbekanntschaft mit der Welt, von einem jugendlichen Selbstsinn, wenn ein laienhafter Schüler den Gildemeistern zu widersprechen wagt, ja was noch töriger ist, sie zu überzeugen gedenkt. Fortgesetzte vieljährige Versuche haben mich eines Andern belehrt, mich belehrt: daß immerfort wiederholte Phrasen sich zuletzt zur Überzeugung verknöchern und die Organe des Anschauens völlig verstumpfen. Indessen ist es heilsam daß man dergleichen nicht allzu zeitig erfährt, weil sonst jugendlicher Frei- und Wahrheitssinn durch Mißmut gelähmt würde. Sonderbar schien es daß nicht nur die Meister auf

|| 53 Ferneres über Mathematik und Mathematiker; FA I 25, S. 87–91, hier S. 90. 54 FA I 23/1, S. 980. 55 WA IV 32, S. 125.

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dieser Redensart beharrten, sondern auch gleichzeitige Mitarbeiter sich zu diesem Credo bequemten.56

Kein Wunder, dass sich Goethe mit Diez zutiefst solidarisch wusste, als sich Hammer für dessen Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur nicht nur mit der Gegenschrift Fug und Wahrheit in der morgenländischen Literatur revanchierte, sondern diese überdies mit einem neunseitigen Schreiben an die dritte Classe der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin beschloss, in der er diese als ihr »correspondirende[s] Mitglied« darum ersuchte, in diesem Streit zu entscheiden und Diez zu rügen – worauf die »historisch-philologische Classe« der Berliner Akademie eine öffentliche Antwort formulierte, in der es heißt: daß es nicht in dem Beruf einer Akademie der Wissenschaften liegt, in Streitigkeiten zwischen einzelnen Gelehrten sich zu mengen; oder sogar als Schiedsrichterin aufzutreten, so lange nicht ihr eigenes oder der Wissenschaft Wohl dabey gefährdet erscheint; und daß es keinem Privatmann, wenn auch er, oder sein Gegner, oder beide einem solchen Vereine näher oder entfernter angehören, zukommt, diesen zu einer solchen Entscheidung, am wenigsten öffentlich, aufzufodern.57

3 Streitlust Goethe hat in diesem Streit nie öffentlich Stellung bezogen, eröffnete er doch seine Ältere Einleitung zur Farbenlehre58 mit den Worten: Der Verfasser eines Entwurfes der Farbenlehre wurde oft gefragt: warum er seinen Gegnern nicht antworte, welche mit so großer Heftigkeit seinen Bemühungen alles Verdienst absprechen, seine Darstellung als mangelhaft, seine Vorstellungsart als unzulässig, seine Behauptungen als unhaltbar, seine Gründe als unüberzeugend ausschreien. Hierauf ward einzelnen Freunden erwiedert: daß er von jeher zu aller Kontrovers wenig Zutrauen gehabt, deshalb er auch seine frühern Arbeiten nie bevorwortet, weil hinter einer Vorrede gewöhnlich eine Mißhelligkeit mit dem Leser versteckt sei. Auch hat er allen öffentlichen und heimlichen Angriffen auf sein Tun und Bemühen, nichts entgegengestellt, als eine fortwährende Tätigkeit, die er sich nur durch Vermeidung alles Streites, welcher sowohl den Autor als das Publikum von der Hauptsache gewöhnlich ablenkt, zu erhalten entschlossen blieb; ich habe, sprach er, niemals Gegner gehabt, Widersacher viele. (S. 556)

In ähnlichem Sinne hatte er schon ein gutes Jahrzehnt zuvor Hermann Voß d. J. von einer öffentlichen Kontroverse über dessen Rezension von Friedrich Asts Sophokles abgeraten:

|| 56 MA 12, S. 174. 57 Zit. Mommsen: Goethe und Diez (s. Anm. 36), S. 11f. 58 Zur Naturwissenschaft I 4 (1822); MA 12, S. 556–562, hier S. 556.

398 | Hendrik Birus »Ich muß es Ihnen nur gerade heraussagen, Sie sind ein Hitzkopf. Wollen Sie denn mit Gewalt eine Feindschaft fortsetzen, die Ihnen über kurz und lang den Sophokles verleiden wird? […] Einen Stoß sollen Sie ihm wieder versetzen, aber nicht durch Leidenschaft, sondern durch Ruhe. Glauben Sie mir«, fuhr er fort, »er wird sich mehr ärgern, wenn Sie sich durch Ruhe eine Superiorität über ihn beilegen, als wenn Sie mit gleicher Leidenschaftlichkeit erwidern. Dieses erwartet er, jenes wird ihn stutzig machen. Dazu«, sagte er endlich, »sind wir Alten ja da, daß wir die Jugend vor Unbesonnenheiten warnen; als wir jung waren, machten wir es selbst nicht besser, aber es hat uns Verdrießlichkeiten zugezogen in zahlloser Menge.«59

Goethe hat diese Haltung in einem Dialoggedicht prägnant zusammengefasst: »Warum bekämpfst du nicht den Kotzebue, Der scharfe Pfeile, dir zu schaden, richtet?« Ich sehe schadenfroh im Stillen zu, Wie dieser Feind sich selbst vernichtet.60

Wie er ja auch Diezens Übersetzung von Versen aus Kātib-i Rūms Spiegel der Länder61 in ein Gedicht des Hikmet-Nameh – Buch der Sprüche umgeformt hat: Laß dich nur in keiner Zeit Zum Widerspruch verleiten, Weise fallen in Unwissenheit Wenn sie mit Unwissenden streiten. (S. 64)

Gewiss hätte er Diez gern zu einer solchen Beherrschung seiner Empörung geraten. Ja, philologische Indizien sprechen dafür, dass er sich mit dem folgenden DivanGedicht auf die Hammer-Diez-Kontroverse bezieht: WANDERERS GEMÜTHSRUHE Über’s Niederträchtige Niemand sich beklage; Denn es ist das Mächtige, Was man dir auch sage. In dem Schlechten waltet es Sich zu Hochgewinne, Und mit Rechtem schaltet es Ganz in seinem Sinne. Wandrer! – Gegen solche Noth Wolltest du dich sträuben?

|| 59 Biedermann/Herwig I, S. 979, Nr. 2020. 60 FA I 2, S. 763. 61 Diez: Denkwürdigkeiten von Asien (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 236.

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Wirbelwind und trocknen Koth Laß sie drehn und stäuben.62

Gleichwohl war auch Goethe – und gerade er! – einem Streit im rechten Moment keineswegs abgeneigt. Das bezeugt – wie der ganze Polemische Teil seiner Farbenlehre – das nachgelassene Zahme Xenion: »So sei doch höflich!« – Höflich mit dem Pack? Mit Seide näht man keinen groben Sack.63

So konnte Schiller auf Goethes Zustimmung rechnen, wenn er ihm drei Jahre nach den oft skandalös polemischen Xenien schrieb: Da man einmal nicht viel hoffen kann zu bauen und zu pflanzen, so ist es doch etwas, wenn man auch nur überschwemmen und niederreißen kann. Das einzige Verhältnis gegen das Publikum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg, und ich bin sehr dafür, daß auch der Dilettantism mit allen Waffen angegriffen wird. […] den Deutschen muß man die Wahrheit so derb sagen als möglich.64

Bezeichnenderweise stammten wiederum sechs Jahre später die anti-romantischen Ausfälle gegen die »neukatholische Sentimentalität« und gegen »das klosterbrudrisierende, sternbaldisierende Unwesen, von welchem der bildenden Kunst mehr Gefahr bevorsteht, als von allen Wirklichkeit fodernden Calibanen«65 in Heinrich Meyers Aufsatz Über Polygnots Gemälde (1805) nicht etwa von dessen Verfasser, sondern von Goethe selbst, der dazu an Meyer schrieb: Es ist Zeit, daß man sich erklärt, wie man über diese Narrenspossen denkt, denn bey einem Frieden mit solchen Leuten kommt doch nichts heraus, sie greifen nur desto unverschämter um sich. […] Sobald ich nur einigermaßen Zeit und Humor finde, so will ich das neu-katholische Künstlerwesen ein für allemal darstellen; man kann es immer indessen noch reif werden lassen und abwarten, ob sich nicht Altheidnischgesinnte hie und da hören lassen.66

Ganz in diesem Sinne schrieb Goethe dann, gerade in den Jahren des Hammer-DiezStreits, anlässlich der Publikation des von ihm inspirierten anti-nazarenischen Manifests Neu-deutsche religios-patriotische Kunst in Über Kunst und Alterthum in den Rhein und Mayn Gegenden I 2 (1817) an seinen ›Ur-Freund‹ Knebel:

|| 62 FA I 3², S. 58; vgl. hierzu Mommsen: Goethe und Diez (s. Anm. 36), S. 67–77. 63 FA I 2, S. 725. 64 25. Juni 1799; MA 8.1, S. 711f. 65 FA I 18, S. 920. 66 22. Juli 1805; WA IV 19, S. 26f.

400 | Hendrik Birus Mein zweytes Rhein- und Maynheft wird ehstens aufwarten und wird als eine Bombe in den Kreis der Nazarenischen Künstler hinein plumpen. Es ist gerade jetzt die rechte Zeit ein zwanzigjähriges Unwesen anzugreifen, mit Kraft anzufallen, und in seinen Wurzeln zu erschüttern. Die paar Tage, die mir noch gegönnt sind, will ich benutzen, um auszusprechen, was ich für wahr und recht halte, und wär’ es auch nur, um, wie ein dissentirender Minister, meine Protestation zu den Acten zu geben.67

Und er erklärte gegenüber Meyer triumphierend: Unsere Bombe hätte nicht zu gelegenerer Zeit und nicht sicherer treffen können. Die Nazarener sind, merk ich, schon in Bewegung wie Ameisen denen man im Haufen stört, das rührt und rafft sich um das alte löbliche Gebäude wieder herzustellen. Wir wollen ihnen keine Zeit lassen. Ich habe einige verwünschte Einfälle, von denen ich mir viel Wirkung verspreche.68

Doch statt den Streit mit den Romantikern weiter zu befeuern, verfolgte Goethe künftig eine doppelte positive Strategie: einerseits fragmentarische, verschollene, ja womöglich fiktive Werke der Antike zu rekonstruieren und als vorbildhaft vor Augen zu stellen, andererseits Hauptvorbilder der Romantiker als ›Klassiker‹ zu interpretieren. Und entsprechend dieser irenischen Tendenz eröffnet er im Heft II 2 von Über Kunst und Alterthum den Aufsatz Klassiker und Romantiker in Italien, sich heftig bekämpfend mit dem Ausruf: Romantico! den Italienern ein seltsames Wort, in Neapel und dem glücklichen Campanien noch unbekannt, in Rom unter deutschen Künstlern allenfalls üblich, macht in der Lombardie, besonders in Mayland, seit einiger Zeit großes Aufsehen.69

Und als ob er nicht erst drei Jahre zuvor mit der Neu-deutschen religios-patriotischen Kunst in Deutschland der Streit zwischen Klassikern und Romantikern (ohne bereits diese Etiketten zu gebrauchen!) angefacht hätte, erklärt Goethe hier ungerührt: […] da wir über die ersten Schwankungen des Gegensatzes längst hinaus sind und beyde Theile sich schon zu verständigen anfangen; so können wir mit Beruhigung zusehen, wenn das Feuer, das wir entzündet, nun über den Alpen zu lodern anfängt.70

Wie er es einige Jahre später als Entstehungsbedingung der Weltliteratur bezeichnen wird, dass »die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalten, durch Ansicht und Urtheil der übrigen ausgeglichen werden«,71 so betont er hier:

|| 67 17. März 1817; WA IV 28, S. 23f. 68 4. Juli 1817; ebd., S. 170. 69 FA I 20, S. 417. 70 Ebd. 71 An Boisserée, 12. Oktober 1827; WA IV 43, S. 106.

Goethes Hochschätzung des ›Liebhabers‹ und ›Polemikers‹ Diez | 401

Wir thun deßhalb sehr wohl, wenn wir auf diese Ereignisse in Italien Acht haben, weil wir, wie in einem Spiegel, unser vergangenes und gegenwärtiges Treiben leichter erkennen, als wenn wir uns nach wie vor innerhalb unseres eigenen Zirkels beurtheilen.72

Hat man diese Goetheʼsche Ambivalenz gegenüber Nutzen und Nachteil der Polemik im Blick, dann wird man leicht verstehen, wie er im Divan-Kapitel Von Diez mit geradezu mephistophelischem Behagen schreiben konnte: Daß ich an des Freundes übrigen Schriften, den Denkwürdigkeiten des Orients u. s. w. Theil genommen und Nutzen daraus gezogen, davon möge gegenwärtiges Heft Beweise führen; bedenklicher ist es zu bekennen daß auch seine, nicht gerade immer zu billigende, Streitsucht mir vielen Nutzen geschafft. Erinnert man sich aber seiner Universitäts-Jahre, wo man gewiß zum Fechtboden eilte, wenn ein paar Meister oder Senioren Kraft und Gewandtheit gegen einander versuchten, so wird niemand in Abrede seyn, daß man bey solcher Gelegenheit Stärken und Schwächen gewahr wurde, die einem Schüler vielleicht für immer verborgen geblieben wären. (S. 273)

|| 72 FA I 20, S. 420.

| 7 Anhang

Zeittafel 2. September 1751

Diez wird als Sohn des Textilkaufmanns Christian Friedrich Diez und Maria Elisabeth Zollikofer in Bernburg (Saale) geboren

1751/52

Übersiedlung der Familie nach Magdeburg, wo Diez seine Kindheit und Jugend verbringt; Besuch des Gymnasiums

21. April 1769

Diez immatrikuliert sich an der Universität Halle für ein Studium der Rechtswissenschaften

ab 1770

Diez wird Mitglied der Loge Amicitia Constantia, für die er auch publizistisch wirbt; Freundschaft mit dem Freigeist, Literaten und Kunstkritiker Ludwig August Unzer (1748–1774), der Diez nachhaltig beeinflusst

1772

Diez kehrt nach erfolgreichem Studium nach Magdeburg zurück und tritt dort in den preußischen Verwaltungsdienst ein; eine Reihe von teils schon in Halle angefertigten Schriften philosophischen Inhalts erscheint in Magdeburg

ab 1773

Briefwechsel mit Unzer und Jakob Mauvillon über meist philosophische Gegenstände (publiziert erst 1801 von Mauvillons Sohn); Diez erweist sich als radikaler Skeptiker und bekennt sich zum Materialismus

1773–1775

erscheinen in schneller Folge Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion (1773), Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen. Erste Sammlung (1773), Der Stand der Natur (1775)

13. Januar 1774

Tod des Freundes Unzer in Ilsenburg; Diez hatte Unzer zuvor mehrfach besucht

ab Mitte 1774

Diez durchlebt eine gesundheitliche Krise

406 | Zeittafel

1775

Diez wird zum Kanzleidirektor ernannt und übernimmt damit einen leitenden Posten in der herzoglichen Regierung

1775–1780

Diez enthält sich weiterer Publikationen, lernt aber neben seiner beruflichen Tätigkeit eine Reihe von Sprachen (Polnisch, Ungarisch, Russisch) und bleibt in vertrautem Briefkontakt mit Dohm, Gleim und Mauvillon

1780

Diez nimmt seine Publikationstätigkeit wieder auf, zunächst mit Aufsätzen in Boies Deutschem Museum, ab 1781 auch mit Hilfe eigenständiger Veröffentlichungen; er schreibt über philosophische und soziopolitische Gegenstände

1784

vorläufig letzte Publikation mit dem Titel Über Luftschiffkunst; durch Protektion seines Freundes Dohm erhält Diez eine Audienz bei Friedrich II. und wird als Nachfolger Christian Friedrich von Gaffrons zum preußischen Geschäftsträger in Konstantinopel ernannt

Sommer 1784

Übersiedelung nach Konstantinopel

bis 1790

Diez arbeitet mit diplomatischem Geschick als Vermittler zwischen der Hohen Pforte in Konstantinopel und der preußischen Regierung in Berlin; er profitiert von seinen zunehmenden Kenntnissen der türkischen Sprache; enger, teils verschlüsselter Briefkontakt zu Dohm; Diez kommt durch den Handel von Pässen und Handelsbriefen zu beachtlichem Vermögen und erwirbt damit eine Fülle von Manuskripten und Büchern

1787–1792

Österreichisch-russischer Krieg gegen das Osmanische Reich; Diez versucht (letztlich vergeblich), die preußische Regierung auf die Seite der Türken zu ziehen

1790

Diez wird von seinem Posten als preußischer Chargé dʼAffaires an der Hohen Pforte wegen eigenmächtiger Entscheidungen abberufen und nach Berlin zurückbeordert

Zeittafel | 407

ab 1791

Diez erhält eine großzügige Rente und zieht sich auf ein Landgut in Philippsthal bei Potsdam zurück; Beginn der Ordnung seiner umfangreichen Sammlungen an orientalischen Münzen, Büchern und Manuskripten

1798–1807

Diez lebt als Prälat im preußischen Kolberg und genießt die dortigen Pfründe des Domstifts

ab 1807

die Eroberung Kolbergs durch die französische Armee zwingt Diez zur Rückkehr nach Berlin, hier führt er in seiner Villa am Ufer der Spree in Stralau seine orientalischen Studien und die Ordnung seiner umfangreichen Sammlungen an orientalischen Münzen, Büchern und Manuskripten fort

1809

erste Publikationen seit 1784 zu meistenteils orientalistischen Themen

1811

erscheint Diezens Übersetzung Buch des Kabus oder Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach: Ein Werk für alle Zeitalter als erste monographische Publikation seit 1783

1811–1815

weithin wahrgenommene Publikation der zweibändigen Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften

ab 1814

Arbeit an einer osmanisch-türkischen Bibeledition im Auftrag der British Bible Society, London

1814

Ehrenmitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Wissenschaften

ab 1815

Kontakt zu Goethe, den er für dessen West-östlichen Divan berät

1816

auswärtiges Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften

7. April 1817

Diez stirbt in Berlin

Siglenverzeichnis AA

Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. (AA Band, Seitenzahl)

Locke: Essay

John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Edited with an Introduction, Critical Apparatus and Glossary by Peter H. Nidditch. Oxford 1979

FA

Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. (Frankfurter Ausgabe). Hg. von Hendrik Birus, Dieter Borchmeyer, Martin Ehrenzeller, Karl Eibl u. a. Frankfurt a. M. 1989ff. (FA Band, Seitenzahl)

G

Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. 7 Bde. Hg. von Carl I. Gerhardt. Berlin 1875ff. [ND Hildesheim 1961] (G Band, Seitenzahl)

HW

Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hg. von Wolfgang Pross. Darmstadt 1984–2002 (HW Band, Seitenzahl)

Hume: Treatise

David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton a. Mary J. Norton. Oxford 2000

LW

Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970ff. (LW Band, Seitenzahl)

MGS

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläums-ausgabe. Hg. von Alexander Altmann, Michael Brocke, Eva J. Engel u. Daniel Krochmalnik. Stuttgart-Bad Cann-stat 1972ff. (MGS Band, Seitenzahl)

SSW

Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke. Lateinisch-deutsch. Hg. von Wolfgang Bartuschat u. a. Hamburg 1982ff. (SSW Band, Seitenzahl)

TAW

Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders u. Frank Grunert. Nachdruck der Originalausgaben. Hildesheim, Zürich, New York 1993ff. (TAW Band, Seitenzahl)

WA

Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 146 Bde. in 4 Abt. Weimar 1887–1919 (WA Abteilung, Band, Seitenzahl)

WOA

Christoph Martin Wieland: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe (Oßmannstedter Ausgabe). Hg. von Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff. (WOA Band, Seitenzahl)

410 | Siglenverzeichnis

WGW

Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean Ecole u. a. Nachdruck der Originalausgaben. Hildesheim, Zürich, New York 1965ff. (WGW Abteilung, Band. Seitenzahl)

WP

Werkprofile. Philosophie und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Frank Grunert u. Gideon Stiening unter Mitarbeit von Udo Roth. Berlin 2009–2014, Berlin, Boston 2014ff. (WP Band)

Bibliographie Monographien/Übersetzungen aus orientalischen Sprachen [anonym:] Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt. von einem Unzertrennlichen in der A… Halle 1772. [anonym:] Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion. [Lemgo] 1773. Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen. Erste Sammlung. Halle 1773. Versuch über dem Patriotißmus. Frankfurt a. M., Leipzig 1774. Der Stand der Natur. Lemgo 1775. Apologie der Duldung und Preßfreyheit. [Magdeburg] 1781 (neue Ausgabe [s. l.] 1798). Archiv Magdeburgscher Rechte. Erster Band. Magdeburg 1781 (Wohlfeilere Ausgabe Magdeburg 1800). Über deutsche Sprech- und Schreibart. Dessau 1783 (Neue Auflage Magdeburg 1787). Buch des Kabus oder Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach: Ein Werk für alle Zeitalter. Berlin 1811 (übersetzt und erläutert nach der Handschrift Ms. Diez A fol. 2 unter Einbeziehung von Ms. Diez A quart. 60 und Ms. Diez A oct. 60). Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung. Aus Handschriften und eigenen Erfahrungen gesammelt. Erster Theil. Berlin 1811. Ermahnung an Islambol, oder Strafgedicht des türkischen Dichters Uweïssi über die Ausartung der Osmanen. Berlin 1811 (überarbeitete und erweiterte Fassung des Abdrucks in den Fundgruben des Orients Band 1 [1809]). Über Inhalt und Vortrag, Entstehung und Schicksale des Königlichen Buchs, eines Werks von der Regierungskunst. Als Ankündigung einer Übersetzung. Nebst Probe aus dem TürkischPersisch-Arabischen des Waassi Aly Dschelebi. Berlin 1811 (Übersetzungsprobe nach der Handschrift Ms. Diez A quart. 12). Widerlegung der sieben Noten, welche von den H. H. Herausgebern der Fundgruben des Orients, Stück III zur Übersetzung des Gedichts von Uweissi, S. 24–274 gemacht worden, nebst Verzeichniß der Druckfehler wodurch die Übersetzung und der Original-Text des Gedichts entstellt sind. Berlin 1811. Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung. Aus Handschriften und eigenen Erfahrungen gesammelt. Zweyter Theil. Berlin, Halle 1815. Der neuentdeckte oghuzische Cyklop verglichen mit dem Homerischen. Berlin, Halle 1815. Ebenfalls gedruckt in Denkwürdigkeiten von Asien. Zweyter Theil, S. 399–457. Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur. Nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften. Halle und Berlin 1815. Ebenfalls gedruckt als Anhang zu Denkwürdigkeiten von Asien. Zweyter Theil, S. 481– 1056. Vom Tulpen- und Narcissen-Bau in der Türkey aus dem Türkischen des Scheïch Muhammed Lalézari. Halle und Berlin 1815 (übersetzt nach den Handschriften Ms. Diez A oct. 111 und Ms. Diez A quart. 52). Ebenfalls gedruckt unter dem Titel Mīzān al-azhār – Wage der Blumen. In: Denkwürdigkeiten von Asien. Zweyter Theil, S. 1–38.

412 | Bibliographie

Wesentliche Betrachtungen oder Geschichte des Krieges zwischen den Osmanen und Russen in den Jahren 1768 bis 1774 von Resmi Achmed Efendi. Berlin, Halle 1813 (kommentierte Übersetzung nach der Handschrift Ms. Diez A quart. 30). Auszüge aus dem Buch des Kabus. In: Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. Mit den Auszügen aus dem Buch des Kabus. Hg. von Karl Simrock. Heilbronn 1875, S. 151–263. Buch des Kabus. Übers. von Heinrich Friedrich von Diez. Hg. von Turgut Vogt. Zürich 1999 (um eine Einleitung des Herausgebers ergänzter fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1811). Buch des Kabus: Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach. Ein Werk für alle Zeitalter. Aus dem Türkisch-Persisch-Arabischen übersetzt und durch Abhandlungen und Anmerkungen erläutert von Heinrich Friedrich von Diez. Rognes 2002 (um Einleitung und Kommentare gekürzte Neuausgabe des Buches mit einem Vorwort von Wolfgang Westermann). Frühe Schriften (1772–1784). Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010. »Kitabi-Dädä Qorqud« vä Henrix Fridrix fon Dits. 25 Bände, Baku 2015 (Neuausgabe von Der neuentdeckte oghuzische Cyklop verglichen mit dem Homerischen und Übersetzung in 24 Sprachen). Philosophische Abhandlungen, Rezensionen und unveröffentlichte Briefe (1773–1784). Hg. und komm. von Arne Klawitter. Würzburg 2018.

Beiträge in Zeitschriften [anonym:] Von dem Zustande der Rechte in Deutschland. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 5. Bd., Lemgo 1774, S. 638–662. [anonym:] Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 6. Bd., Lemgo 1774, S. 629–660. Über Frauenzimmer. Ein Fragment. In: Deutsches Museum 4 (1780), S. 348–351. Johan Barklai. In: Deutsches Museum 5 (1780), S. 447–455. Johan Barklai. Schluß. Übersezung des zehnten Kapitels. In: Deutsches Museum 7 (1780), S. 48–61. Miszellen für Denker. In: Deutsches Museum 8 (1780), S. 136–143. Miszellen für Denker. Fortsezung. In: Deutsches Museum 9 (1780), S. 269–282. [Briefe über] Magdeburg. In: Bemerkungen eines Reisenden durch die königlichen preußischen Staaten in Briefen (1779–1781), Dritter Theil, Altenburg 1781, S. 5–111. Abhandlung über Reformationen und Oktavius Pisani. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1782, 9. Stück, S. 225–252. Über Ehen und Geschlechtsverbindungen. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1782, 10. Stück, S. 331–364. Über Heilige. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1782, 11. Stück, S. 460– 466. Über Schwelgung und Mäßigkeit. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1782, 11. Stück, S. 466–472. Nachgedanken. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1782, 12. Stück, S. 604– 610. Sprachbemerkungen. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 1. Stück, S. 64–82. Nachgedanken. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 1. Stück, S. 82–97. Fragment aus dem Tagebuch eines Unglücklichen im Gefängniß. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 2. Stück, S. 245–257. Über Juden. An Herrn Kriegsrath Dohm zu Berlin. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 3. Stück, S. 320–347. Dass. als Monographie: Dessau und Leipzig 1783.

Bibliographie | 413

Zustand der Fabriken und Manufakturen in Magdeburg. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 4. Stück, S. 493–498. Gemälde von Europa aus dem Französischen des Abts Raynal übersezzt von C.W.v.R.. Ankündigung. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 5. Stück, S. 579–588 [S. 582– 588 Auszüge aus der Übersetzung]. Dass. in gekürzter Form ohne Proben ebd. 1783, 10. Stück, S. 283–285. Kann die von jüdischen Vätern verbotne Glaubensänderung ihrer Kinder den angedrohten Verlust des Erbtheils nach sich ziehn? In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 7. Stück, S. 23–51. Dass. als Monographie. Dessau, Leipzig 1783 sowie Magdeburg 1787. Anekdoten. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 8. Stück, S. 100–114. Benedikt von Spinoza nach Leben und Lehren. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 8. Stück, S. 131–160. Dass. als Monographie Dessau, Leipzig 1783. Über Sokrates. In: Berlinische Monatsschrift (1783–1811) 1783, S. 281–285. Über Kindermord. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1784, 3. Stück, S. 268– 298. Über Luftschiffkunst. Ehre, wem Ehre gebührt. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1784, 4. Stück, S. 368–390. Was ist der Mensch? Aus dem Türkisch-Arabischen des Kjemal Pascha Sade übersetzt. In: Fundgruben des Orients 1 (1809), S. 397–399 (Übersetzung eines Textes aus der Sammelhandschrift Ms. Diez A oct. 62). In unwesentlich veränderter Form nachgedruckt in Denkwürdigkeiten von Asien. Erster Theil, S. 308–314. Ermahnungen an Islambol, oder Strafgedicht des türkischen Dichters über die Ausartung der Osmanen. In: Fundgruben des Orients 1 (1809), S. 249–274 (Übersetzung nach der Handschrift Ms. Diez A oct. 134).

Übersetzungen aus europäischen Sprachen Markus Tullius Cicero’s erstes Buch tuskulanischer Untersuchungen, von Verachtung des Todes. Magdeburg, Leipzig 1780. Spinoza über Aberglauben und Denkfreyheit. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 5. Stück, S. 564–578 (Übersetzung der Vorrede des Tractatus theologicopoliticus, mit Vorrede). Handel und Schiffarth der Alten. Übersetzung aus Pierre Daniel Huet: Histoire du commerce … In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 7. Stück, S. 12–22. Über Quelle und Würkung der Poesie vom Abt Yart. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1784, 2. Stück, S. 206–220.

Rezensionen de Sales, Jean: Philosophie der Natur. Zweiter und letzter Band. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 5. Bd., Lemgo 1774, S. 180–186. Des Herrn von Voltaire vermischte Schriften. Fünfter Band. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 5. Bd., Lemgo 1774, S. 186–190. Über die Nationalvorurtheile, ein Buch für alle Stände. Hg. von Carl Renatus Hausen. Erster Theil, zweite Auflage. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 6. Bd., Lemgo 1774, S. 504–512.

414 | Bibliographie

Els, Johann Heinrich: Ermahnung an die Jugend. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 6. Bd., Lemgo 1774, S. 513. Zobel, Rudolf Wilhelm: Gedanken über die verschiedenen Meinungen der Gelehrten vom Ursprung der Sprachen. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 6. Bd., Lemgo 1774, S. 559–573. Els, Johann Heinrich: Vom Einfluß des Christenthums in das Wohl des Staats. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 6. Bd., Lemgo 1774, S. 573–575. Cataneo, Giovanni: Briefe eines Philosophen an den großen Philosophen. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 6. Bd., Lemgo 1774, S. 575. Schummel, Johann Gottlieb: Übersetzer-Bibliothek zum Gebrauch der Übersetzer, Schulmänner und Liebhaber der alten Litteratur. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, 7. Bd., Lemgo 1774, S. 234–242. [Selbstanzeige:] Archiv magdeburgscher Rechte. Erster Band. Magdeburg 1781. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1781, 6. Stück, S. 423–432. [Selbstanzeige:] Apologie der Duldung und Preßfreyheit. [Magdeburg] 1781. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1781, 7. Stück, S. 523–534. [Selbstanzeige:] Über deutsche Sprech- und Schreibart. Dessau 1783. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 11. St., S. 343–361. Briefe des Markus Tullius Cicero an dem Titus Pomponius Artikus. Ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen erläutert von Elias Kaspar Reichard. 1. Theil. Halle 1783. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 12. St., S. 445–454. Hartmann, Johann David: Briefe an eine Freundin über Schönheit, Grazie und Geschmack. Berlin 1784. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 57. Bd., 1. St., S. 131–132. Wippel, Wilhelm Jacob: Berlinisches Magazin der Wissenschaften und Künste, Jg. 1, St. 1–4. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 58. Bd., 1. St., S. 281–285. Heinze, Valentin August: Kielisches Magazin vor die Geschichte, Staatsklugheit und Staatenkunde, Bd. 1, St. 1. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 58. Bd., 1. St., S. 172–175. Hertzberg, Ewald Friedrich Graf von: Abhandlung über die großen Veränderungen der Staaten, besonders von Deutschland. [s. l.] [1783]. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 58. Bd., 1. St., S. 188–192. Windisch, Karl Gottlieb von: Briefe über den Schachspieler des Hrn. von Kempelen. Basel 1783. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 58. Bd., 1. St., S. 275–280. Plessing, Friedrich: Osiris und Sokrates. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 58 Bd., 2. St., S. 503–521. Dohm, Christian Konrad Wilhelm von: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Erster Theil. Zweyte Ausgabe. Zweyter Theil. Berlin 1783. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 59. Bd., 1. St. S. 19–43. Gulliver, Lilliputius: The Lilliputian Library, or Gullivers museum. Vol. 1–10. Berlin 1782. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 59. Bd., 1. St., S. 302–304. [Jacobi, Friedrich Heinrich:] Etwas, das (was) Lessing gesagt hat. Ein Kommentar zu den Reisen der Päbste, nebst Betrachtungen von einem Dritten. Berlin 1782. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 59. Bd. 1., St., S. 602–612. Genlis, Stéfanie Félicité Ducrest de Saint-Aubin, Comtesse de: Adelheid und Theodor oder Briefe über die Erziehung, ... übersezt von Peter Adolf Winkopp. Erster Theil. Gera 1783. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1784, 59. Bd., 2. St., S. 538–540.

Bibliographie | 415

Zeitgenössische Rezensionen zu Publikationen von Diez Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt. Von einem Unzertrennlichen in der A… Halle 1772. [Goethe, Johann, Wolfgang von (?):] Frankfurter gelehrte Anzeigen, 29. Sept. 1772, Nr. 67, S. 624. Buch des Kabus oder Lehren des persischen Königs Kjekjawus für seinen Sohn Ghilan Schach: Ein Werk für alle Zeitalter. Berlin 1811. [Hammer-Purgstall, Joseph und Chabert, Thomas:] Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung, 14. Mai 1813, Nr. 39, Sp. 616–624. Silvestre de Sacy, Antoine Isaac: Magasin encyclopédique, T. 2. 1814, S. 412 ff. Allgemeine Literatur-Zeitung, 18. Januar 1812, Nr. 16, Sp. 121–128. Denkwürdigkeiten von Asien. Erster Theil. Berlin 1811. Allgemeine Literatur-Zeitung, 18. Januar 1812, Nr. 16, Sp. 121–128. [Hammer-Purgstall, Joseph und Chabert, Thomas:] Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1813, Nr. 7, Sp. 49–56 sowie Nr. 8, Sp. 57–62. [Hammer-Purgstall, Joseph und Chabert, Thomas:] Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung, 2. Februar 1813, Nr. 10, Sp. 147–152 sowie 5. Februar 1813, Nr. 11, Sp. 166–171. Ermahnung an Islambol, oder Strafgedicht des türkischen Dichters Uweïssi über die Ausartung der Osmanen. Berlin 1811. Allgemeine Literatur-Zeitung, 4. Juli 1811, Nr. 180, Sp. 489–496 sowie 5. Juli 1811, Nr. 181, Sp. 497– 500. Über Inhalt und Vortrag, Entstehung und Schicksale des Königlichen Buchs. Berlin 1811. Allgemeine Literatur-Zeitung, 4. Juli 1811, Nr. 180, Sp. 489-496 sowie 5. Juli 1811, Nr. 181, Sp. 497– 500. [Hammer-Purgstall, Joseph und Chabert, Thomas:] Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 1813, Nr. 8, Sp. 62–64 sowie Nr. 9, Sp. 65–72. [Hammer-Purgstall, Joseph:] Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung, 6. Juli 1813, Nr. 54, Sp. 858–864. Wesentliche Betrachtungen oder Geschichte des Krieges zwischen den Osmanen und Russen in den Jahren 1768 bis 1774 von Resmi Achmed Efendi. Berlin, Halle 1813. [Hammer-Purgstall, Joseph:] Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung, 16. Mai 1815, Nr. 39, Sp. 609– 619. Vom Tulpen- und Narcissen-Bau in der Türkey aus dem Türkischen des Scheïch Muhammed Lalézari. Halle und Berlin 1815. Allgemeine Literatur-Zeitung, August 1815, Nr. 175, Sp. 621–623. Denkwürdigkeiten von Asien. Zweyter Theil. Nebst Anhang Unfug und Betrug in der morgenländischen Literatur. Berlin, Halle 1815. Chabert, Thomas: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 1816, Nr. 209, Sp. 266–272, Nr. 210, Sp. 273–280 sowie Nr. 211, Sp. 281–288.

Zeitgenössische ergänzende Texte und Briefeditionen Crome, A. F. W.: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, von C. W. Dohm. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1782, 6. St. S. 460–475 [Rezension]. Dr.[eßler, Johann Friedrich], Schicksale der Juden unter fremden Völkern, eine Skizze – An den Herrn Kanzleydirektor Diez in Magdeburg. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 8. St., S. 114–130. Barckhausen, H. L. W.: An meinen Bruder Viktor Barkhausen, über die Apologie der Duldung und Preßfreyheit von Herrn Kanzleydirektor Diez. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1783, 9. St., S. 181–191.

416 | Bibliographie

Dr.[eßler, Johann Friedrich], An Herrn Diez. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1784, 4. St., S. 394-397. Beförderungen, Todesfälle, Veränderungen. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1784, 6. St., S. 621. Abraham Jakob Penzels Sammlung merkwürdiger und wichtiger Briefe, die von angesehenen Standespersonen und berühmten Gelehrten an ihn geschrieben sind. 1. Band. Leipzig 1798, S. 223–234. Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzoglich Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Hg. von seinem Sohn Friedrich Wilhelm Mauvillon. Braunschweig 1801, S. 73–139. Silvestre de Sacy, Antoine Isaac: Notice de lʼOuvrage Intitulé: Buch des Kabus oder Lehren des persischen Koenigs Kjekawus für seinen Sohn Ghilan schach; cʼest-à-dire, le Livre de Kabous, ou Leçons de Caicous, Roi Persan, adressées à son fils Ghilan-schah: traduit du turc, et accompagné de Dissertations et de notes par M. H. Fr. de Diez … Berlin, 1811, 867 S. in-8°. [s. l.] 1814. Hammer, Joseph von: Fug und Wahrheit in der morgenländischen Literatur: Nebst einigen wenigen Proben von der feinen Gelehrsamkeit des Herrn von Diez zu Berlin in Sprachen und Wissenschaften. Wien 1816. Verzeichniß der von dem Königl. Geheimen Legationsrathe und Prälaten Herrn von Diez und andern hinterlassenen Kunst- und Naturmerkwürdigkeiten verschiedener Art, als Kupferstiche, Ölgemälde, Zeichnungen, Antiken, Pasten, mathemat. u. physikalische Instrumente, … welche den 8ten Juni und folg. T. d. J. Vormittags um 11 Uhr am Dönhofsplatze Nr. 36. durch den Königl. Auctionskommissarius Bratring gegen gleich baare Bezahlung in kling. Preuß. Cour. meistbietend versteigert werden sollen. Berlin 1818. Gottfried Benedict Funk’s Schriften. Nebst einem Anhange über sein Leben und Wirken. Hg. von seinen Zöglingen und Freunden. Zweyter Theil. Berlin 1821, S. 255–268. Von Diez, ehemaliger Gesandter des preuß. Hofes der hohen Pforte, an Gleim, über Friedrich den Großen. In: Literarisches Conversations-Blatt, Nr. 77 (3. April 1821), S. 305f. Briefe vom Geh. Rath v. Diez an Nicolai. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz. 6. Jg., 28. Blatt, 18. Februar 1822, S. 129f., 29. Blatt, 20. Februar 1822, S. 134f., 30. Blatt, 22. Februar 822, S. 141–143, 31. Blatt, 23. Februar 1822, S. 146f. Briefliche Urtheile des verstorbenen Geh. Legationsraths von Diez über Meninski Lexicon Arabicum, Persicum, Turcicum edit. IIda cur. Bern. de Jenisch. Viennae 1780. 4 Vol. Fol. In: Leipziger Literatur-Zeitung 139 (7. Juni 1823), Sp. 1105–1111. Briefe an Johann von Müller (Supplement zu dessen sämmtlichen Werken), Bd. 4. Hg. von Johann Heinrich Maurer-Constant. Schaffhausen 1840, S. 327–362. Witte, Leopold: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s. Erster Band 1799–1826, Bielefeld, Leipzig 1884, S. 456–459. Von Diez. In: Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. Stuttgart 1819, S. 510–521. Siegfried, Carl: Briefwechsel zwischen Goethe und v. Diez. In: Goethe-Jahrbuch, Hg. v. Ludwig Geiger. 11. Band. Frankfurt a. M. 1890, S. 24–41. Winter, Ursula: Das Diez’sche Bruchstück einer Kopie des Wachtendonckschen Psalteriums (Ms. Diez. C quart. 90). Neue Funde zu seiner Geschichte und Edition. In: Handschriften, Sammlungen, Autographen. Forschungsergebnisse aus der Handschriftenabteilung, Berlin 1990 (Beiträge aus der Deutschen Staatsbibliothek 8), S. 106–108.

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Personenregister Abbt, Thomas 74, 76, 82, 139, 153 ʿAbd al-Raḥman al-Üsküdārī 202 Abdülhamid I. 174, 214 Abel, Jakob Friedrich 3, 162f. Adelburg, Eduard Abramowitsch von 270 Aḥmad ʿAzmī Efendī 211f. Ahmed Resmi Efendi 207, 211, 231f., 358 Alexander III. von Mazedonien 83, 162, 239 Ainslie, Sir Robert 197, 206 Ariost, Ludovico 3, 162 Aristoteles 282 Arius von Alexandrien 104 Augusti, Johann Christian Wilhelm 251f. ʿAzīz ʿAlī Efendi 223, 224, 231, 236–239 Bacon, Francis 105 Barclay, John 62, 139 Basedow, Bernhard von 6, 74 Baumgarten, Gottlieb Alexander 158 Bayer, Francisco Pérez 197f. Bayle, Pierre 99 Benzelius, Hendric 209, 219 Bode, Johann Joachim Christoph 170 Boie, Heinrich Christian 111, 119, 406 Bolingbroke, Henry St, John, 1 Viscount 99 Boysen, Friedrich Eberhard 208 Burmann, Pieter 342 Cäsar, Julius 3, 162 Calvin, Johannes 99, 162 Campe, Joachim, Heinrich 31 Cardonne, Denis Dominique 266f. Cattaneo, Giovanni 62, 140 Catilina, Lucius Sergius 83, 162 Catull, Gaius Valerius 338, 340 Chabert-Ostland, Thomas von 243, 249– 252, 254–256, 260–262, 265, 271, 386 Charron, Pierre 97 Cherbury, Edward Herbert of 92 Cicero, Marcus Tulius 55, 76, 139, 259f., 293f., 340 Condillac, Étienne Bonnot de 54, 140 Copineau, Abbé de 137 D’Argens, Jean-Baptiste de Boyer, Marquis 32

Diderot, Denis 55, 97 Dohm, Christian Konrad Wilhelm 6, 8f., 11, 14, 20f., 29, 31f., 109–133, 143, 145f., 169–190, 192f., 195f., 198, 200–202, 204f., 287, 335, 339, 406 Eberhard, Johann August 106, 155 Els, Johann Heinrich 62, 140 Emmin Effendi, Seyyid Meḥmed 221f., 224, 228 Euklid 282 Ewald, Heinrich 250 Ewald, Schack Hermann 170 Feder, Johann Georg Heinrich 4, 133, 153– 156, 161f. Ferguson, Adam 50–52, 57f. Fichte, Johann Gottlieb 36f. Fielding, Henry 76f. Flögel, Karl Friedrich 76, 82 Forster, Georg 4, 157, 396 Forster, Reinhold 310 Friedrich II. (der Große) 1, 4, 8, 23, 29f., 32–34, 38, 76, 83, 99, 112, 164, 169, 171, 176, 185, 188, 204, 261, 263, 335f., 406 Friedrich Wilhelm II. 23 Friedrich Wilhelm III. 23 Funk, Gottfried Benedict 169, 172, 177f., 392 Gaffron, Christian Friedrich von 8, 14, 174f., 406 Galland, Antoine 251, 260, 266f. Gellert, Christian Fürchtegott 32, 134 Gentz, Friedrich von 4 Gerard, Alexander 162 Gerhard, Johann 23 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 6, 9, 20, 111, 169, 208, 335, 406 Goethe, Johann Wolfgang 1, 5, 9f., 12, 15, 20, 22, 24, 32, 36, 133f., 146f., 151, 165f., 219, 249, 251, 254, 265, 271f., 274, 297, 300, 311, 335, 337, 348, 381– 401, 407 Goeze, Johann Melchior 126

420 | Personenregister

Grotius, Hugo 55, 151 Gryphius, Andreas 206, 346 Gustav II. Adolf 3, 162 Habicht, Maximilian 192, 218 Hamann, Johann Georg 155 Hammer-Purgstall, Joseph von 10, 14, 24, 243–272, 277, 281, 305f., 337, 381– 383, 389, 398f. Hardenberg, Karl August von 24 Hausen, Karl Renatus 62, 67, 76, 140 Heinsius, Nikolaus 338, 342 Heinsius, Daniel 338 Helvétius, Claude Adrien 97, 100, 147, 159– 163 Helwing, Christian Friedrich 133, 142 Herder, Johann Gottlieb 31, 43, 50, 54f., 137f., 140, 151, 153, 164, 166, 250 Hertzberg, Ewald Friedrich von 171, 173f., 176, 347 Heyne, Christian Gottlob 133 Hißmann, Michael 5, 7, 43, 58, 125–127, 134, 155 Hobbes, Thomas 48–50, 52, 92, 102, 104, 151f. d‘Holbach, Paul Henri Thiry 46 Humboldt, Alexander von 22, 336 Humboldt, Wilhelm von 31, 261 Hume, David 21, 42, 50, 154–156 Huß, Jan 96 Ibn an Nağğar, Mordechai 218 İbrāhīm Efendi 224f., 228 Iselin, Isaak 76, 80, 82 Jacoby, Daniel 30f., 33 Joseph II. 4, 174 Justi, Heinrich Gottlieb von 64, 90 Kant, Immanuel 4, 21, 42, 50, 56, 66, 76, 81, 154–158, 163 Karneades 55 Katharina II. (die Große) 4, 174, 176 Klaproth, Heinrich Julius 249, 251f. Köhler, Johann Bernhard 208 Leibniz, Gottfried Wilhelm 67, 83, 140, 154, 158, 162, 325

Lessing, Gotthold Ephraim 30, 126, 134, 157, 164 Leuchsenring, Franz Michael 169f. Locke, John 48, 90f., 154 Luther, Martin 22f., 25, 30, 32, 96f., 99, 104, , 129, 162, 268 Maria Theresia von Österreich 153 Mauvillon, Jakob 5–7, 41–47, 54f., 134f., 137f., 140–142, 144, 169, 193, 405 Meḥmed Emīn Efendi 221f., 224, 228 Meḥmed Efendi-i Giridī 231 Meier, Georg Friedrich 3, 156f. Meiners, Christoph 153, 155 Melanchthon, Philipp 96 Mendelssohn, Moses 76, 111, 127, 130 Meninski, Franciscus a Mesgnien 199f., 225, 245–248, 254 Merck, Friedrich Heinrich 151 Mergelin, David Friedrich 208 Meusel, Johann Gottfried 134 Michaelis, Johann David 118, 125–127, 208, 210 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti, comte de 41, 134 Mīr Nuʿmān 234f. Möser, Justus 134 Monnier, Joseph Gabriel 366f., 370f., 373, 377 Montaigne, Michel de 22, 97 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 50 Mozart, Wolfgang Amadeus 8 Müller, Andreas 268 Muṣṭafā Efendi 231f. Nepos, Cornelius 340 Newton, Issac 3, 162, 396 Nicolai, Friedrich 106, 133, 169f., 391 Niebuhr, Carsten 203 Opitz, Martin 206, 346 Ovid 338, 340–342 Paalzow, Christian Ludwig 170 Penzel, Abraham Jakob 134, 193 Platner, Ernst 153–158, 162 Platon 80, 140 Properz, Sextus Aurelius 338, 340 Ptolemäus 282

Personenregister | 421

Pufendorf, Samuel 48, 150

Voltaire 4, 31, 50, 62, 97, 99, 140

Rabener, Gottlieb Wilhelm 32 Raffael da Urbino 3, 162 Raynal, Guillaume Thomas François 141 Röder, Friedrich Erhard Leopold von 232 Rousseau, Jean-Jacques 42, 49–55, 77, 97 Rückert, Friedrich 249 Rzewusky, Graf Waclaw Seweryn 252, 306

Wahl, Samuel Günther 192 Walch, Johann Georg 85 Wallenburg, Jakob von 245, 248 Wezel, Johann Carl 38 Wieland, Christoph Martin 36, 38, 76, 157, 170, 250, 267 Witte, Samuel Simon 199 Wolff, Christian 63, 66f., 75f., 82f., 147f., 150–158 Wolf, Friedrich August 22, 336

Sacy, Silvestre de 248, 255, 264, 266, 269 Ṣādıḳ Dede 234 Sales, Jean de 62, 139 Sallust, (Gaius Sallustius Cripsus) 139, 340 Schnurrer, Christian Friedrich von 192 Schubart, Christian Friedrich Daniel 143 Schummel, Johann Gottlieb 62, 139 Schwager, Johann Moritz 127 Selim III. 214, 314, 352 Seneca, Lucius Annaeus 76 Sestini, Dominica 197 Smollet, Tobias 76f. Sokrates 104, 134 Spechthausen, Johann Gottlieb 368 Spinoza, Baruch de 42, 92, 104, 107, 123, 131, 143, 169f., 193, 391f. Stein, Karl Freiherr von 24 Sterne, Laurence 77 Stolberg, Christian Ernst zu 135 Suárez, Francisco 150f. Ṭāhir Beğ 203, 234f. Teller, Wilhelm Abraham 125 Tetens, Johann Nikolaus 4, 154 Tholuck, Friedrich August Gotttreu 10, 14, 26, 273–295, 336 Thomasius, Christian 5, 34, 48, 78, 104, 150 Tibull, Albius 338, 340, Toland, John 92 Tsausch, Sali 202 Tychsen, Oluf Gerhard 14, 191–219, 232f., 240, 243f., 246, 248, 255 Unzer, Ludwig August 144, 405

5, 20, 134f., 137f.,

Velīyüddīn Aġa 230 Vergil (Publius Vergilius Maro) 340

Xenophanes 25 Zinkeisen, Johann Heinrich 11, 171, 176, 192, 198, 201, 204, 206, 215, 243 Zobel, Rudolf Wilhelm 138, 140, 143 Zwingli, Huldrych 96, 126

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Hendrik Birus ist Prof. em. an der LMU München und Wisdom Professor for Comparative Literature an der Jacobs University Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Literarische Hermeneutik; Wechselbeziehungen von Dichtung, Philosophie, bildender Kunst und Musik; Komparatistik im Zeitalter der Globalisierung; produktive Rezeption von Klassikern der europäischen und orientalischen Dichtung in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert; „Goethe und kein Ende“. Dr. Katrin Böhme ist wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Sammlungsgeschichte, Geschichte wissenschaftlicher Praktiken und Naturgeschichte. Prof. Dr. Elisabeth Fraser ist Professorin für Kunstgeschichte an der Universität South Florida in Tampa. Ihr Forschungsschwerpunkt ist der kulturelle Austausch zwischen dem Osmanischen Reich und Europa in Sammlungen, Reisebildern, und Kostümbüchern. Dr. Lela Gibson lehrt Geschichte am Santiago Canyon College. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der osmanischen und europäischen Kultur- und Geistesgeschichte. apl. Prof. Dr. Dieter Hüning ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kant-Forschungsstelle der Universität Trier. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie Immanuel Kants, die Philosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus sowie die neuzeitliche Naturrechtslehre. Jaqueline Jüling, M.A. ist Religionswissenschaftlerin und Doktorandin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem interreligiösen Dialog, den Postkolonialen Studien sowie der Analyse von Herrschaftsstrukturen in Religion und Gesellschaft. Prof. Dr. Arne Klawitter ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Waseda Universität in Tokyo mit dem Forschungsschwerpunkt gelehrte Journale und Zeitschriften der europäischen Aufklärung. Prof. Dr. Klaus Kreiser war bis zu seiner Pensionierung Professor für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der Universität Bamberg. Seine Arbeitsgebiete umfassen Themen der osmanischen Epoche und der modernen Türkei. Prof. Dr. Martin Mulsow ist Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit an der Universität Erfurt und Direktor des Forschungszentrums Gotha. Er beschäftigt sich mit Aufklärung, gelehrten Praktiken, Renaissancephilosophie, Konstellationsforschung und der Geschichte der Orientalistik. Christoph Rauch, M.A. ist Leiter der Orientabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sammlungsgeschichte, der Geschichte der Orientalistik und arabischer Handschriften.

424 | Autorenverzeichnis Dr. habil. Anne-Simone Rous ist Historikerin für Frühe Neuzeit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sächsische Landesgeschichte, Geheimdiplomatie, Geschichte der Internationalen Beziehungen, Adelsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte. Dr. Wolf Christoph Seifert ist Germanist und absolviert ein Referendariat an der Landesbibliothek Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind das 18. Jahrhundert und die Beziehung zwischen Literatur und Religion. Prof. Dr. Henning Sievert leitet die Abteilung Islamwissenschaft am Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients der Universität Heidelberg. Sein Fachgebiet ist die Neuere Geschichte des Nahen Ostens, besonders des Osmanischen Reiches. Prof. Dr. Gideon Stiening ist Privatdozent für Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Rechtslehre der Spanischen Spätscholastik; Philosophie und Literatur der Frühen Neuzeit, der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts; Recht und Literatur, Gegenwartsliteratur. Prof. Dr. Semih Tezcan (†2017) war von 1984 bis 2008 Dozent am Institut für Türkische Sprache der Universität Bamberg. Er unterrichtete viele Jahre in Ankara und war ab 2002 Leiter des Projektes „Turfanforschung“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Prof. Dr. Manfred Voigts (†2019) war seit 1995 Lehrbeauftragter und ab 2005 Professor am Institut für Jüdische Studien der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte waren deutsche Literaturgeschichte, deutsch-jüdische Beziehungen und Kulturgeschichte. Dr. Ursula Winter ist Altphilologin und wissenschaftliche Bibliothekarin i.R. Ihre Forschungsschwerpunkte sind mittelalterliche Handschriften und Bibliotheksgeschichte. Dr. Kay Zenker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Philosophischen Seminars und der Arbeitsstelle für Aufklärungsforschung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Philosophie-, Wissenschafts- und Ideengeschichte.