Heimat: Gemischte Gefühle: Zur Dynamik innerer Bilder [1 ed.] 9783666404917, 9783525404911


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Heimat: Gemischte Gefühle: Zur Dynamik innerer Bilder [1 ed.]
 9783666404917, 9783525404911

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Heimat Rainer Gross

Gemischte Gefühle Zur Dynamik innerer Bilder

Rainer Gross

Heimat Gemischte Gefühle Zur Dynamik innerer Bilder

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Caspar David Friedrich: Das Große Gehege bei Dresden | bpk | Staatliche Kunstsammlungen Dresden | Jürgen Karpinski Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40491-7

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I  Heimat – die Sicht von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimat – Was ist das, was soll das sein? Ein Ort? Ein Gefühl? Heimat aus Herkunft – Heimat als Ankunft . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimat aus Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimat im Plural: Die Fähigkeit, sich in Beziehungen/Orten/ Konstellationen zuhause zu fühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heimatgefühle »light«: Volksmusik, Lederhosen und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat – eine natürliche Einheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Nationalstolz und Nationalismus – in Deutschland und anderswo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Ein Psychoanalytiker als »Gewissen der Nation«: Alexander Mitscherlich, Heinrich Böll und Günter Grass denken öffentlich über Heimat nach . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Staatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze? . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Populärkultur als Identitätsstütze: Der deutsche Heimatfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ein Heimatfilm als Hollywood-Welterfolg: The Sound of Music . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Der Weltbürger: Vom philosophischen Ideal zum Lieblingsfeind der Gegenwart? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Jeder soll irgendwo dazugehören – der Weltbürger als »citizen of nowhere«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Michael Balint: Philobaten und Oknophile . . . . . . . . . . . . . . 67 Inhalt

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»Unsere Wurzeln« – eine potentiell gefährliche Metapher vom Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Von den Wurzeln zur Konstruktion einer Biographie . . . . . 71 II Identität und Heimat – Identität als Heimat? . . . . . . . . . . . Sozialpsychologische Positionen zur Identität: Lothar Krappmann und Heiner Keupp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytische Positionen zur Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Erik H. Erikson bis Otto Kernberg . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuere psychoanalytische Identitätskonzepte . . . . . . . . . . . . Identität als Verzahnung zwischen Individuum und Gruppe . . Identitätsdiskurse zwischen politischer Philosophie, Populismus und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganzheit, Totalität und Ambiguitätsintoleranz . . . . . . . . . . . . . .

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»Wir sind wieder wer«: Die Fußball-National-Elf als Testlabor für Nationalgefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Salman Akhtar: Identität und Immigration . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur des Individuums vs. kollektivistische Kultur independent self – interdependent self . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die entscheidende Wichtigkeit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimat in der Sprache – Entfremdung in der Fremdsprache . .

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Eva Hoffman: Lost in Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Nostalgie und Heimweh: Verschiebung und Idealisierung? . . . . 123 Politische Nostalgie: Reaktionäres Denken oder der Glanz der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Politische Nostalgie und Ressentiment als Identitätsstützen: Das Beispiel der »Ostalgie« . . . . . . . . . . 128

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Inhalt

III   Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat . . . . . . . Sigmund Freud: Freiberg/Wien/London: »Die Fremde ist überall so ungastlich …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der störungsanfällige Weg zum »inneren Objekt Heimat« . . . . . Inzest-Verbot und Exogamie-Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roger Kennedys Konzept der »Seelen-Heimat« . . . . . . . . . . . . . . Phantasien von Einheit und Reinheit: Die Kehrseite der Heimatsehnsucht als Sehnsucht nach dem idealen prä-ambivalenten Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ressentiment/Nationalgefühl/Heimat: Ein Fallbeispiel um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Ein Analytiker als Friedensstifter: Der »Feindgruppenanalytiker« Vamik Volkan . . . . . . . . . . . . . . . 152 Deutsche Mythen nach 1945: Vom Wirtschaftswunder und anderen identitätsstiftenden Narrativen . . . . . . . . . . . 155 Soll sich der Patient in der Therapie daheim fühlen? . . . . . . . . . 158 Selbstgewählte Orte der Heimat – Symptom und/oder Bewältigungsstrategie . . . . . . . . . . . . . 161 Heimatgefühle sind immer gemischte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . 164 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Inhalt

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Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben. 

JEAN AMÉRY

Ich finde das Wort Heimat schön. Ich bin dafür, es zu erhalten, es neu zu definieren. HEINRICH BÖLL

Wir taten uns schwer mit der Bedeutung des Wortes Heimat. 

NORA KRUG

Einleitung

Heimat, daheim, heimisch: Kaum ein anderes Konzept hat im medialen Diskurs der letzten Jahre eine solche Hochkonjunktur erlebt. Das Nachdenken über Heimat als Ort oder aber Heimat als Gefühl, die Ängste vor der Gefährdung dieser Heimat durch Zuwanderung, die identitätsstiftende Funktion von Heimat – das sind Dauerthemen der letzten Jahre geworden, allgegenwärtig in den Medien spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015. Auch in diesem Fall gilt wohl die Regel, dass der besonders häufige Gebrauch eines Begriffs meist ein Hinweis darauf ist, dass es um den Inhalt dieses Begriffs nicht zum Besten steht: Für »Heimat« würde das bedeuten, dass wir uns fast alle in Zeiten der Verunsicherung und Entwurzelung, in Zeiten von globalem Uniformierungsdruck zunehmend fremd und unbehaglich fühlen – eben nicht heimisch in einer kälter gewordenen Welt. Heute wünscht sich vermutlich jeder einen Ort, an dem er zuhause ist. Sei dies nun ein realer Ort in der eigenen Kindheit, ein Herkunftsort – oder aber ein ersehnter Ort der Ankunft in der Zukunft, in einer Familie, einer Liebesbeziehung oder in der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die in diesem Diskurs evozierten inneren Bilder von Heimat oszillieren zwischen Gedächtnis und Sehnsucht, zwischen nostalgischer Verklärung der Vergangenheit und utopischen Zukunftsvisionen. Wir kennen dumpfe rückwärtsgewandte Bilder von Heimat bis hin zur nationalistisch-exkludierenden Gefühlsmischung eines brütenden Ressentiments. Wir kennen aber auch offenere, inklusivere Formen und Konzepte von Heimat: Denn während Heimatgefühle bis vor wenigen Jahren von fortschrittlichen Menschen, von Intellektuellen abschätzig bis misstrauisch betrachtet wurden als sentimentale Gefühlsaufwallungen von Volksmusik-Fans, als Charakteristikum kitschiger, tränenseliger Heimatfilme, hat sich dies deutlich geändert: Viele Jahrzehnte lang schienen sowohl Bildung als auch eine »kritische« poliEinleitung

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tische Haltung fast automatisch eine Verachtung der naiven Heimatsehnsucht »einfacher Menschen« zu inkludieren. Theodor W. Adornos Diktum, dass es fast schon moralisch geboten sei, sich »bei sich selbst nicht zuhause zu fühlen«1 – zumindest der liberale Teil des Bildungsbürgertums und die jüngere Generation hätten es wohl mehrheitlich unterschrieben und über die Musikantenstadl-Fans gelächelt. Heute aber können sehr viele – durchaus auch jüngere und nicht konservative – Menschen den Begriff »Heimat« für sich selbst positiv besetzen: Sie berichten über ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Ankommen, nach dem Erleben von Sicherheit in einer Gemeinschaft. Im Gegensatz zum klassisch-konservativen Heimatbegriff aber ist es für sie möglich und auch wünschenswert, sich an mehreren Orten, in unterschiedlichen Situationen, mit verschiedenen Personen nebeneinander oder auch nacheinander zuhause zu fühlen. Daher müsste man eigentlich zur Begriffsklärung dieser verschiedenen Facetten von Heimatgefühlen eingangs fragen: Von welcher Heimat, von wessen Heimat sprechen wir eigentlich, wenn wir heute von Heimat sprechen? Schon das Wort »Heimat« steht nicht allein – es steht etwa in der Mitte einer Kette verschiedener Begriffe. Diese beginnt am »Kältepol« mit den martialisch-klirrenden Worten »Nation« oder »Vaterland«, setzt sich dann über das fast immer positiv konnotierte Wort »Heimat« fort hin zum hellen, wärmeren Gegenpol mit den Adjektiven heimatlich, heimisch und dem Adverb zuhause. An diesem »Wärmepol« aber scheint die Begriffskette offen. Sie franst geradezu aus in unverbindlich-positive Werte wie Sicherheit, Zugehörigkeit, Aufgehobensein. Letztlich geht es hier um ein allgemeines diffuses Wohlfühlen im Sinne von »psychischer Wellness«. So verwundert es auch nicht, dass uns die Werbung nicht nur gesunde Nahrungsmittel, sondern fast alle Gebrauchsgegenstände als »heimisch« und damit auch »natürlich«, ganzheitlich und insgesamt positiv verkaufen will. Beim weiteren Nachdenken über Heimat sind wir also konfrontiert mit den gegensätzlichen Gefahren einer allzu engen oder aber allzu weiten, überdehnten Definition des Begriffs: Im Falle der Engführung des Heimatbegriffs wird dieser meist auf einen konkreten Ort begrenzt, auf den Herkunftsort, die Familie und maximal noch die umgebende 12

Einleitung

Region. Damit wird das Konzept zwar ziemlich trennscharf und ausreichend stabil, aber eben auch starr und exklusiv bzw. exkludierend. Im Gegensatz dazu droht bei einer allzu großzügigen Ausweitung des Begriffs bis hin zum unverbindlichen Wohlfühlen und zur Gemütlichkeit die Beliebigkeit: Der Begriff ist dann allzu weit und dadurch flach geworden. Er bietet kaum noch Trennschärfe, bedeutet fast nichts mehr bzw. für jeden Anwender Unterschiedliches. Man könnte vermuten, dass gerade die Auseinandersetzung mit der schillernden Vieldeutigkeit des Begriffs »Heimat« hier entweder durch die Engführung des Fundamentalismus oder aber durch die übergroße Ausdehnung bis hin zur Gleichgültigkeit erfolgreich vermieden wird. Bei allem Nachdenken über Heimat bleiben die dazugehörigen Emotionen immer in einem Spannungsfeld zwischen Herkunft und Ankunft, zwischen vorgegebener Biographie und veränderbarer, selbst erkorener »Wahlfamilie« oder auch ersehnten »Wahlheimaten«: Der Begriff »Heimat« bleibt ein Assoziationsgenerator und damit immer auch ein politisch umkämpftes Konzept. Aber das Nachdenken über die ganz individuelle Bedeutung des Begriffs »Heimat« bietet für jeden Einzelnen auch eine Chance zur Klärung, dadurch auch zur Stärkung und Stabilisierung der eigenen Identität – zwischen Herkunft und Hoffnung, zwischen den eigenen Wurzeln und Flügeln. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Ich beginne mit dem Versuch, über historische, soziologische und politische Positionen zum Begriff »Heimat« nachzudenken. Ich verfolge die Geschichte des Begriffs vom Deutschland der Romantik über die Funktionalisierung von »Heimat« im Nationalismus und die folgende Pervertierung im Nationalsozialismus. Konsequenz davon war das Misstrauen speziell der Intellektuellen gegenüber diesem »kontaminierten« Konzept nach 1945. In den letzten Jahren hat diese Skepsis eine Wandlung erfahren bis hin zum Nachdenken über einen »aufgeklärten« Begriff von Nationalismus. Heimatgefühle gibt es heute nicht nur bezüglich des Ortes unserer Herkunft und Kindheit, Heimat können wir auch suchen und finden in Situationen und Konstellationen der Ankunft: Wir empfinden uns als zugehörig auf persönlicher, beruflicher, politischer oder spiEinleitung

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ritueller Ebene. All diese verschiedenen Mosaiksteine von Heimat, diese Heimaten im Plural konstituieren gemeinsam unsere Identität als Erwachsene. Im zweiten Teil werden soziologische, psychologische und psychoanalytische Konzepte zur Identität untersucht – wobei Identität hier verstanden wird als ein Scharnier zwischen psychischer Innenwelt und äußerer, sozialer Realität. Die wichtige Funktion von Heimatbildern nicht nur für individuelle, sondern auch für kollektive Identitäten wird hier diskutiert. Im dritten Teil geht es dann um die Psychodynamik unserer inneren Bilder von Heimat – um genuin psychoanalytische Positionen zum Thema: Beginnend mit Sigmund Freuds Äußerungen zum Thema über die bekannte psychoanalytische Standard-Analogie von Heimat und Mutterleib bis hin zu neueren psychoanalytischen Positionen zur Interdependenz von Individuum und Kollektiv werden diese theoretischen Entwicklungsstränge nachgezeichnet. Aufgelockert werden die Theorieteile durch kürzere Anwendungsbeispiele, um die Praxisrelevanz der vorgestellten Ideen zu illustrieren. Wir Psychoanalytiker sehen uns als Spezialisten für das »Zwischen«, für die Beobachtung der komplexen Passagen und Transformationen von Ideen, Phantasien und Wünschen zwischen intrapsychischer und interpersoneller Ebene, zwischen Innen und Außen – und zwischen Individuum und Gesellschaft. Insofern dürfte es nicht verwundern, dass die thematische Dreiteilung im Sinne eines Blickes von außen/ auf die Identitäten/von innen lebendig und durchlässig ist und die verschiedenen Perspektiven durch intensive Interdependenzen einen vielfältigen ­Mehrwert anbieten. Gestatten Sie mir am Ende dieses einleitenden Textes den Versuch, eine prinzipielle Kritik an »noch einem Buch über Heimat« vorwegzunehmen: Es ist wohl fast ebenso schwer, über Heimat nachzudenken oder gar zu schreiben wie über die Liebe. In beiden Fällen genügt das bloße Aussprechen oder Lesen des Wortes allein, um bei jedem Leser eine intensive und hochkomplexe Mischung von Gefühlen und Erinnerungen zu aktivieren. Diese Emotionen sind stark, aber sehr schwer in Worte oder gar Begriffe zu fassen. Daher wohl 14

Einleitung

auch das Misstrauen gegenüber jenen Autoren, die genau dies mit nur teilweisem Erfolg versuchen. Für Liebe und Heimat gilt auch gleichermaßen: Gerade bei jenen Gefühlszuständen, die wir für hochindividuell, ja unverwechselbar halten, stellen wir etwas peinlich berührt fest, dass beim Versuch der Verbalisierung dieser so exklusiven Gefühle fast immer nur bereits Gehörtes oder Gelesenes herauskommt – sodass wir schmerzlich die Differenz zwischen der Stärke unserer Gefühle und der Schwäche ihres sprachlichen Ausdrucks empfinden. Deshalb ist ein Gespräch über Heimat unter Vermeidung sowohl sentimentaler Klischees als auch reduktionistischer Umfragedaten oder kalter Abstraktion so schwer und so selten – es wird aber trotzdem immer wieder versucht. Die Skepsis, das Misstrauen gegenüber einer »Analyse« von Heimatgefühlen ist nur allzu verständlich, bedeutet doch Analyse etymologisch nichts anderes als Zergliederung, ja Auflösung eines Begriffs, eines Untersuchungsgegenstandes. Und wer will schon seine intimen und subjektiv einzigartigen Gefühle aufgelöst sehen? Daher ein bescheidener (zumindest etymologisch begründbarer) Vorschlag: Ein »Nachdenken« über Heimat scheint immerhin möglich. Denn laut Kluges etymologischem Wörterbuch geht es beim Denken um das Wiegen, um das Abwägen mit dem Ziel des »Wissens«. Aus der gleichen Wurzel des »Wiegens« allerdings kommt auch »dünken« im Sinne von: Mir wiegt etwas, mir ist etwas gewichtig … Nehmen Sie also die folgenden Seiten als mein Nachdenken über Heimat als etwas, das allen (ge)wichtig ist.

Einleitung

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I Heimat – die Sicht von außen

Heimat – Was ist das, was soll das sein? Ein Ort? Ein Gefühl? Was ist Heimat? Kluges »Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache« hilft nur wenig weiter: »Heimat: Die Bedeutung ist ungefähr ›Stammsitz‹, der zweite Bestandteil ist unklar«. Verwiesen wird auch auf »Heim« und dort gehen die Verweise großräumig in die Welt hinaus: »Heim, Erde, Boden, Welt«. Aber auch ins Kleine, Überschaubare: »Wohnung, Siedlung, auch Sicherheit, Ruhe«2. Eine kurze und politisch neutrale Definition liefert »Meyers Großes Taschenlexikon«: »Heimat: Subjektiv von einzelnen Menschen oder kollektiv von Gruppen, Stämmen, Völkern, Nationen erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger Verbundenheit besteht.« Weiterverwiesen wird auf Heimatrechte, Menschenrechte, Staatsangehörigkeit.3 Auch hier bekommen wir keine Antwort auf die Frage, warum der Begriff der Heimat im Deutschen emotional so aufgeladen ist wie wahrscheinlich in keiner anderen Sprache. Im Vergleich dazu sind die Worte »Patrie« oder »Patria« im Französischen, Italienischen und Spanischen zwar auch emotional besetzt, aber in ihrem Bedeutungsumfeld großflächiger: Sie sind näher am Begriff der Nation und des Vaterlandes als unser Wort »Heimat«, das einen größeren emotionalen Resonanzraum bezeichnet als den der Familie, aber auch einen deutlich kleineren als den der Nation oder des Vaterlandes. Gustav Seibt4 behauptet sogar, dass Heimat und Nation, speziell Heimat und Nationalismus, eher Gegensätze als Teile einer Ergänzungsreihe sind: Wenig hätte, laut Seibt, so massiv zur Schwächung der vertrauten Heimateinheiten beigetragen wie der moderne Nationalstaat. Dieser ersetzte nämlich die Gesellschaftsformen »auf Sichtweite« durch rationale und zentrale Verwaltungsinstitutionen. Er brach in die idylli16

Heimat – die Sicht von außen

schen Lebenswelten der Heimat ein als Steuerstaat und Militärstaat; mit Bürokratie und Wehrpflicht. Erst durch die Staatssymbolik, durch Fahnen, Nationalhymnen, Geschichtsmythen und Ideologien wurde aus einer Dorfgenossenschaft die größere Gemeinschaft der »Mitbürger«. Erst dadurch spaltete sich die davor regional und ständisch verfasste Gemeinschaft in Klassen und Parteien. Nächster Annäherungsversuch: Unser Wort »Heimat« wird auch übersetzt mit »Casa/Maison/Home« – das würde der älteren deutschen Bedeutung entsprechen, die Heimat primär als einen Wohnort, als Zuhause verstand. Allerdings erfasst auch dies nicht die Besonderheit des deutschen Heimatbegriffs, denn unsere »Heimat« liegt eben in der Mitte zwischen den Bedeutungen von »Casa« und »Patria« der romanischen Sprachen, zwischen dem heimischen Herd und der riesigen Gesamt-Nation. Heimat bleibt ein Zwischenbereich, eine seltsam vorpolitische Sphäre, emotional aufgeladen mit intensiven Gefühlen und Erinnerungen der Individuen. Wenn diese Emotionen aber politisiert werden, dann können aus der so unschuldigen Wurzel der Heimatgefühle giftige Blüten wachsen. Denn gerade wenn die große Kluft zwischen dem Nahbereich von Familie und Eigenheim und der riesigen Nation durch einen Heimatbegriff überspannt werden soll, wenn die Nation organisch aus der Familie, der Gemeinschaft erwachsen soll – dann wird die Forderung nach Vertrauen, Vertrautheit und Einheitlichkeit von der Dorfgemeinschaft auf das politische Mega-Gebilde der Nation übertragen: Völkisches Denken orientierte sich immer am Modell der kleinen, angeblich geordneten und gesunden Gemeinschaft auf dem Land und als Gegensatz zu den Strukturen der Großstadt. Das Vaterland wird dann zum familiarisierten Land der Väter, ewig, immer gleich und unveränderbar. Schlimmstenfalls führt dies zur Blut-und-Boden-Ideologie und zur Fremdenfeindlichkeit. Wenn nämlich diese Heimat als bedroht erlebt wird, dann folgen schnell der Aufruf zum »Heimatschutz« und die Bildung von »Heimwehren«. Die Exponenten eines solchen Heimatbegriffs als Schutzschild und Abwehr gegen das Fremde insinuieren, dass die Deutschen immer schon ein intensives Liebesverhältnis zu ihrer Heimat gehabt hätten – mehr als andere Völker. Heimat – Was ist das, was soll das sein?

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Diese Behauptung aber kann mit einer verblüffend einfachen Form der Objektivierung zumindest teilweise widerlegt werden: Im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache kann man Worthäufigkeitszählungen durchführen. Und dabei bemerkt man bis knapp vor dem Jahr 1800 einen relativ seltenen Gebrauch des Wortes »Heimat«. Um 1600 scheint das Wort weniger als dreimal pro Million verwendeter Worte auf. Bis 1740 steigt der Gebrauch nur minimal auf ca. viermal pro Million gebrauchter Worte. Erst unmittelbar nach 1800, also in der Epoche der Napoleonischen Kriege und des romantischen Nationalismus steigt die Frequenz des Wortgebrauchs massiv an und erreicht plötzlich einen Wert von 26-mal »Heimat« auf eine Million von Worten. Im 19. Jahrhundert sehen wir dann einen weiteren starken Anstieg (1840 53-mal pro Million, 1890 dann ein »Allzeithoch« von 70-mal pro Million). Diese »Fieberkurve des Heimatbegriffs«5 folgt eindeutig dem Rhythmus der neueren deutschen Sozialgeschichte: Sie spiegelt den Beginn der industriellen Revolution, die Auswanderungswellen des frühen 19. Jahrhunderts und dann den ersten Höhepunkt von Industrialisierung und Transformation der Gesellschaft durch die Verstädterung vor 1900. All diese dramatischen Veränderungen der Sozialstruktur, diese Beschleunigungserfahrungen, führen zur Hochkonjunktur des Wortes und Begriffs von Heimat. Im Vergleich dazu beeinflussen die beiden Weltkriege die Häufigkeit des Wortgebrauchs verblüffend wenig. Der jüngste Anstieg (von 58-mal pro Million im Jahr 1990 auf fast 64-mal pro Million seit 2010) dürfte eindeutig auf Globalisierungsängste und Migrationsschübe zurückzuführen sein: Wieder wird die Heimat als bedroht erlebt, wieder fühlen sich die Menschen weder in sich selbst noch in ihrem Wohnort oder in ihrem Land wirklich zuhause – und dadurch wird Heimat wieder von einem kulturellen zu einem hochpolitischen Thema. Die angeführten statistischen Befunde der Wortfrequenzzählung spiegeln sich auch im Verlauf der deutschen Literaturgeschichte: Der Beginn einer modernen Heimatliteratur mit den Dorfgeschichten ab ca. 1830 ist ebenfalls ein Ausdruck von Beschleunigungs- und Verlusterfahrungen durch die beginnende Industrialisierung und Moderne. 18

Heimat – die Sicht von außen

Von Anfang an zeigte sich die Schilderung der Dorfidylle als ideologisch anfällig, ungeachtet des so unterschiedlichen Niveaus zwischen Johann Peter Hebel und Adalbert Stifter bis hin zu Ludwig Anzengruber und Ludwig Ganghofer. Aber sowohl bei den heute kanonisierten Klassikern als auch in der Gebrauchsliteratur geht es um die Schilderung einer schon als bedroht empfundenen Lebenswelt. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die populären Heimatromane eindeutig ein ideologischer Konterpart zur Dekadenzdichtung, zum Symbolismus und Naturalismus mit deren düsteren Großstadtschilderungen. Dem sollten Schönheit, Harmonie und ideale Werte entgegengestellt werden, was schon in den Zwanzigerjahren zunehmend völkisch anmutete und dann in der Blut-und-Boden-Literatur des Nationalsozialismus den Tiefpunkt erreichte. Nach 1945 war für die Hochliteratur das Thema »Heimat« dadurch marginalisiert und wurde meist vermieden. Heimatromane gab es allerdings in großen Auflagen – aber als billige Heftchen und Schundromane. Auch heute wird die aktuelle Renaissance von Heimat- und Dorfgeschichten, wie z. B. »Unterleuten« von Juli Zeh oder »Altes Land« von Dörte Hansen, seitens der Kritik wieder als Ausdruck eines wachsenden Unbehagens am entfremdeten Großstadtleben interpretiert. Seit zweihundert Jahren also hat die Heimat auch in der Literatur speziell dann Konjunktur, wenn sie vom Lesepublikum als bedroht oder fast schon verloren erlebt wird.

Heimat aus Herkunft – Heimat als Ankunft Heimat aus Herkunft Bei den Recherchen für dieses Buch habe ich bei mehreren Autoren den schönen Satz »Der Anfang ist unsere Heimat« gefunden. So lautet ein Buchtitel des englischen Psychoanalytikers Donald Winnicott. Es ist eine einfache, aber unmittelbar einleuchtende Antwort auf die Frage, was denn Heimat für uns bedeutet. Da fallen wohl vielen zuerst Bilder des Anfangs ein: Gerüche, Geschmäcker, Melodien aus der frühen Kindheit. Ausgehend von der ersten Beziehung zur Mutter, zur Erfahrung eines Kinderzimmers, eines Hauses, eines HerkunftsHeimat aus Herkunft

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ortes entfalten sich die konzentrischen Kreise eines allmählich größer werdenden Herkunftsraumes, gefüllt mit Erinnerungen und den damit verbundenen Gefühlen. Diese frühen Bedeutungslandschaften prägen uns ein Leben lang, allerdings selten so eindeutig und widerspruchsfrei wie manche Heimatklischees vorgeben: Wir sind beeinflusst, aber nicht determiniert durch unsere Herkunft. Ich muss nicht alle Menschen aus X lieben, weil ich im Ort X aufgewachsen bin. Ich muss deshalb aber auch nicht alle Bewohner des benachbarten Y verachten. Es wird mir dennoch nicht gelingen, mich von diesen frühen Einflüssen völlig loszusagen und ihnen jegliche Einwirkung auf mein späteres Verhalten und Leben abzusprechen. Aber das muss auch nicht sein. Niemand kann oder soll auf seine gefühlsgetränkten Erin­nerungen an die Orte und Jahre seiner Kindheit und Herkunft verzichten. Aber diese Erinnerungsspuren können nicht und sollten auch nicht als unveränderbare heilige Bilder behandelt werden. Im Laufe eines Lebens müssen wir auch die Erzählungen über unsere frühen Jahre an unsere neuen Erfahrungen adaptieren. Durch eine veränderte Einstellung des Erwachsenen zu seinen Eltern, zur Familie und Herkunftsregion wird auch unsere Frühgeschichte umgeschrieben, wird neu ediert: Unsere Zukunft braucht zwar immer die Herkunft, aber oft auch eine jeweils »neue« Herkunft – letztlich eine neue Vergangenheit, die für unser aktuelles biographisches Narrativ begründend, weil sinngebend, wirken kann. Dennoch bleibt es für viele Menschen schwer, einen lebbaren Mittelweg zu finden zwischen Idealisierung und Entwertung ihrer Herkunft. Wir alle kennen Freunde, die sehr viel emotionale Energie auf ihre Vergangenheit verwenden, die eine nostalgische Sehnsucht nach den frühen Jahren kultivieren. Demgegenüber stehen die Traditionsverweigerer, die sich nur in konsequenter Opposition gegen die ihnen in der frühen Jugend aufgezwungenen Strukturen definieren wollen. Noch einmal zurück zu Winnicotts Titel: Das im Deutschen so voll tönende »Der Anfang ist unsere Heimat« lautet im englischen Original kühler und neutraler: »Home is where we start from«. Das scheint mir 20

Heimat – die Sicht von außen

persönlich sympathischer, weil offener und dadurch realistischer. Das Gefühl einer frühen Heimat ist immer mehr als die Erinnerung an einen Ort – es ist der Abdruck einer komplexen frühen Beziehungslandschaft in unserer Seele. Und es ist eben der Ort »where we start from«. Es ist also ein Ausgangspunkt und markiert die Startlinie für unsere Lebensreise. Schon deswegen ist es aber kein Ort, an dem wir ein Leben lang verharren können. Das wissen wir auch alle auf der Ebene der Vernunft, und daher wünscht sich auch niemand, sein gesamtes Leben im Kinderzimmer zu verbringen – sei es noch so idyllisch gewesen. »Der Anfang ist unsere Heimat« ist ein Zitat aus einem Gedicht von T.S. Eliot. Der Dichter wurde in den Vereinigten Staaten geboren, hat sich aber nach seiner Auswanderung nach Großbritannien ein Leben lang als Engländer gefühlt, weil er die britische Lebensart die der USA vorzog. Zumindest für ihn blieb also der Anfang nicht die Heimat. Die Wichtigkeit der Herkunft als Ausgangspunkt für unser Leben beschränkt sich aber nicht auf die schönen oder schrecklichen Erinnerungen an unsere ersten Jahre: Diese Gefühle von Heimat oder aber Heimatlosigkeit bilden die Matrix für alle späteren Heimatgefühle. Sie beeinflussen unsere Chancen, uns in neuen Situationen, Konstellationen und Beziehungen geborgen und heimisch zu fühlen. Die Grundtonart unserer Beziehung zur Welt wird weitgehend geprägt durch solche frühen Erfahrungen als Leitmotive. Können wir mit einem Grundgefühl von Sicherheit und Anerkennung aus der familiären Heimat hinausgehen in die Welt im Vertrauen darauf, dass sie uns freundlich-resonant aufnehmen wird? Oder bleiben wir ängstlich und misstrauisch in der zwar engen und unbehaglichen, aber doch vertrauten Familienhöhle sitzen, weil uns die Welt draußen zu bedrohlich und feindlich erscheint? Der Erlebnisraum eines Kindes erweitert sich in seinen frühen Jahren idealerweise im Wechselspiel zwischen einem Sicherheit gebenden Familienmilieu und der Eroberung der Welt, beginnend mit den Freundschaften in Kindergarten und Schule. In der Pubertät wird dann die Peergroup der Gleichaltrigen immer wichtiger, die Teilnahme an diversen altersspezifischen Subkulturen intensiver, sei dies parallel oder aber im schroffen Gegensatz zu den familiären Vorgaben. Je mehr Anerkennung wir in diesen prägenden Heimat aus Herkunft

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Jahren erfahren, desto leichter werden wir dann als junge Erwachsene Gefühle von Zugehörigkeit und Sicherheit auch in neuen Lebenssituationen finden können.

Heimat im Plural: Die Fähigkeit, sich in Beziehungen/Orten/ Konstellationen zuhause zu fühlen Das Grundgefühl des Zuhause-Seins, des Sich-aufgehoben-Fühlens in seinem Lebenszusammenhang entscheidet sich für Erwachsene nicht an einem emotionalen Schauplatz, es ist eher eine Summation von Gefühlen der Sicherheit oder aber Verunsicherung aus verschiedenen Segmenten ihres Beziehungslebens. Denn für alle im Folgenden ausgeführten Aspekte der Heimatfindung gilt: Das positive Gefühl des Dazugehörens, des Aufgehoben-Seins kann sich letztlich nur als Niederschlag geglückter Beziehungen zu Menschen entwickeln. Die allererste Basis dafür ist allerdings ein Grundgefühl des Daheimseins im eigenen Körper. Auch dafür bringen wir die Muster aus unserer Kindheit und Jugend mit. Diese können jedoch durch geglückte oder aber misslungene Beziehungen des jungen Erwachsenen nochmals entscheidend verändert werden. Als Therapeuten hören oder aber erleben wir meist schon im Erstgespräch mit einem neuen Patienten seine »Grundphantasie«. Dieses Leitmotiv eines Lebens prägt unsere Erwartungen und Ängste und damit alle unsere Beziehungen: a) »Letztlich ist man immer allein«: Eine Kindheit in einer emotional kargen oder dürren Familie mit wenig Möglichkeit zum Gefühlsausdruck führt später beim Erwachsenen oft zu Schwierigkeiten, sich in einer Liebesbeziehung vertrauensvoll zu öffnen, aber auch zu Unsicherheit und Angst in Gruppensituationen. b) »Du bist mir alles, nur mit dir bin ich glücklich«: Im positiven Fall der glücklichen, weil erwiderten Liebe kann die Realisierung dieser dyadischen Verschmelzungsphantasie Erlebnisse von Sicherheit, ja fast von Erlösung bieten. Im Negativen erleben wir schlimmstenfalls eine häufige Abfolge von Idealisierung und Entwertung, von Anklammern an die idealisierte geliebte Person und deren Entwertung nach ihrer Flucht vor dieser allzu großen Nähe. 22

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c) »Am wohlsten fühle ich mich in der Gruppe«: Während manche Menschen sich in einer Zweiersituation am wohlsten fühlen, leben andere erst wirklich auf im Zusammensein mit mehreren, mit vielen Menschen, sei es in der Großfamilie, am Arbeitsplatz oder im Sportverein. Die meisten würden ihre eigene Grund-Disposition und Erwar­ tungshaltung wohl als einigermaßen zufriedenheitsträchtige Mischung aus a + b + c beschreiben. Das »Mischungsverhältnis« aber wird unsere Fähigkeit, sich sowohl in Liebesbeziehungen als auch in Freundschaften als auch später in einer Elternrolle aufgehoben und zuhause zu fühlen, entscheidend beeinflussen. 1. Geographischer Kontext von Heimat Der Ort ihrer frühesten Kindheit bleibt für die allermeisten Menschen der »Gold-Standard« für Heimatgefühle. Gerade deshalb sind wir später oft so enttäuscht, wenn wir nach Jahren an unseren Geburtsort zurückkehren und fast empört feststellen müssen, dass dieser völlig anders aussieht als in unseren Kinderjahren, in unseren Erinnerungen. Hier erleben wir das Verrinnen von Zeit als Veränderung im Raum: Wir suchen dann einzelne Straßen, Parks oder vertraute Winkel, um uns der Kontinuität zu versichern. Wir wollen spüren, dass noch irgendetwas da ist vom Heimatort, den wir im Gedächtnis tragen.  Aber viele junge Erwachsene müssen ihren Geburtsort verlassen, sei es aus Erfordernissen ihrer Ausbildung oder des Studiums oder weil sie einem neuen Lebenspartner folgen. Durch diese Binnenmigration, oft aus der Kleinstadt oder einem Dorf mitten in die Großstadt, sind sie psychisch gefordert und manchmal überfordert. So überwiegt zwar z. B. in den ersten Semestern am Universitätsstandort oft noch die Freude über die vielen neuen Möglichkeiten und die geglückte Flucht aus der kleinstädtisch-familiären Enge. Bald aber wird auch die Anonymität und Kälte der Großstadt beklagt, wenn nicht schnell genug neue soziale Beziehungen geknüpft werden können, die wieder Zugehörigkeit und Heimatgefühle bieten. Heimat im Plural

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2. Zuhause am Arbeitsplatz? Für junge Erwachsene ist ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit durch soziale Akzeptanz am Arbeitsplatz mitentscheidend für ihre Lebenszufriedenheit. Wer erinnert sich nicht an die Unsicherheit und Entfremdung in den ersten Tagen im ersten Job – und an die große Erleichterung, wenn man allmählich die vielen geschriebenen und noch mehr ungeschriebenen Regeln des neuen Lebensraumes zumindest ansatzweise überblickte und sich dadurch ein bisschen heimisch fühlte. Allerdings re-inszenieren wir speziell in den ersten Jobs oft unsere familiäre Konstellation in der Hoffnung auf eine zweite Chance, auf einen positiven Ausgang: Vielleicht können wir hier endlich vom Chef geschätzt werden, wenn uns schon der Vater nie gelobt hat. Vielleicht können wir jetzt endlich über ältere (dienstältere) Geschwister triumphieren durch bessere Leistung. Oder wir erhoffen ein umfassendes Gefühl der Sicherheit und unbedingten Zugehörigkeit zur »Mutterinstitution«. All diese Hoffnungen und Sehnsüchte aber bleiben über weite Strecken unbewusst und werden gerade deshalb oft massiv ausagiert. Aber ein Job muss uns mehr bieten als angemessene Bezahlung und die Chance einer Re-Inszenierung unserer Familienkonstellation, um es dort gern und länger auszuhalten. Dazu bedarf es auch einer Struktur, die wir als stabil und Halt gebend genug empfinden, ohne dass sie uns durch allzu viel Kontrolle einschränkt. Das ist schon allein aufgrund der zeitlichen Komponente wichtig. In einem klassischen 40-Stunden-Job verbringen wir im Jahresschnitt mehr Lebenszeit mit den Arbeitskolleginnen als daheim mit dem Partner oder der Familie und danach bemisst sich dann auch die Intensität unseres Gefühls von Zugehörigkeit oder aber Entfremdung und Heimatlosigkeit. 3. Heimisch oder fremd in der sozialen Klasse? Als Folge der gestiegenen geographischen, aber auch sozialen Mobilität verändert sich für viel mehr Menschen als früher ihr sozio-ökonomischer Status: Sie wechseln ihre Klasse; meistens als Aufsteiger, in vielen Fällen als »Bildungsaufsteiger«. Viele Neuankömmlinge fühlen sich aber im neuen sozialen Umfeld über lange Zeit hindurch 24

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nicht heimisch – manche verlieren das Gefühl einer Heimatlosigkeit zwischen den Klassen ihr Leben lang nie ganz. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat das hochkomplexe System von Verhaltensweisen, Regeln, Alltagsritualen – bis hin zu Körperhaltungen und natürlich der dialektalen Färbung der Sprache als »Habitus« bezeichnet:6 Dadurch ist uns die Klassenzugehörigkeit auf den Körper geschrieben, ja in unsere Körper und vor allem in unser Denken und Fühlen eingeschrieben, und konstituiert uns in sehr hohem Maß. Beim Wechsel in eine andere Klasse mit anderen Codes und Distinktionsvorlieben können wir die bisherige Identität nicht einfach abwerfen wie eine Schlange ihre alte Haut. In einem mühsamen Prozess geht es darum, die alte Identität und ihr stützendes System von Regeln und Beziehungen nicht zu verlieren, gleichzeitig aber eine Identität in der neuen Bezugsgruppe zu erwerben: Bourdieu hat das Leiden jener Aufsteiger, die sich ihrer alten Klasse nicht mehr zugehörig fühlen, in der neuen aber nie heimisch wurden, als »gespaltenen Habitus« beschrieben. 4. Politische Heimat Während manche Jugendliche das Wertesystem ihrer Eltern und somit auch deren politische Ausrichtung für sich als sinnstiftend übernehmen können, ist die Opposition gegen die politischen Positionen der Eltern für viele Adoleszente einer der wichtigsten Schauplätze ihrer inneren Ablösung vom Elternhaus. Oft werden dann aus Opposition gegen die Familie oder im Rahmen neuer Loyalitäten diametral entgegengesetzte Werte vertreten. Mit Abschluss der Adoleszenz erreichen die meisten Menschen so etwas wie eine politische Heimat. Während dies für einige aber nur eine Wahlentscheidung bedeutet, kann es für andere durchaus ein Aspekt von Heimat sein als Ensemble von Zugehörigkeitsgefühlen, von Sicherheit und entspanntem Miteinander im gemeinsamen Handeln mit Gleichgesinnten. Das erleben wir dann als sinnstiftend, wenn wir sowohl die politische Aktivität im Rahmen einer Partei oder Non-Governmental Organisation als sinnvoll im Sinne unseres Wertekanons einschätzen als auch auf Beziehungsebene gern mit den Parteifreunden zusammen sind. Heimat im Plural

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In Österreich boten bis vor wenigen Jahrzehnten die damals noch viel größeren Volksparteien zur Ausweitung dieses politischen Engagements in den Alltag und in die Freizeit der Menschen hinein eine Fülle von »Vorfeldorganisationen«. Da gab es sozialdemokratische Sportvereine bis hin zu den »roten« Briefmarkensammlern, Schachspielern oder Gewichthebern; es gab auch Sparvereine, Autofahrerclubs, Sommerlager für die Kinder und Pensionistenvereine. All das existierte jeweils in zweifacher Ausführung, in einer sozialdemokratischen oder aber konservativen Variante. Dahinter stand explizit der politische Anspruch beider Lager, den Menschen eine politische Heimat auch in ihrem Alltag zu geben. Dementsprechend waren sowohl Zugehörigkeitsgefühle als auch Abgrenzung ein Leben lang vorgegeben – von den »Roten Falken« und ihrem konservativen Pendant der »Christlichen Jungschar« bis hin zu den jeweiligen Pensionistenvereinen waren sie unvermeidlich und sogar erwünscht. Nicht nur das Wahlverhalten, sondern ein zentraler Teil der Identität wurde durch diese Einbettung der Politik ins Privatleben oft über Generationen weitergegeben. In ländlichen Gebieten Österreichs definiert man heute noch eine Familie als »rot« oder »schwarz«. Und durch diese Festlegung der politischen Heimat ist bereits vorgegeben, wer sich dort zugehörig und heimisch fühlen kann oder aber abgelehnt werden wird. 5. Spirituelle Heimat Auch diese All-inclusive-Variante der weltanschaulichen Einfärbung des gesamten Lebens kann man als Säkularisierung eines früher von der Religion vorgegebenen Sinnstiftungsprogramms verstehen. Aber ähnlich wie bei den ehemals so starken Volksparteien ist in den letzten Jahrzehnten auch der Einfluss der organisierten christlichen Kirchen auf das Alltagsleben der Menschen deutlich zurückgegangen. Trotzdem erleben heute noch Millionen von Menschen im Sonntagsgottesdienst intensive Gefühle des Glaubens, aber auch der Zugehörigkeit. Sie fühlen sich aufgehoben sowohl im gemeinsamen Glauben an Gott als auch in der Gemeinschaft der Gläubigen. Die noch vor wenigen Jahrhunderten so zentrale Glaubensüberzeugung, dass der wahre Christ auf Erden nur ein durchreisender Pilger sei und erst nach dem 26

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Tod heimgehen kann zu Gott; diese Überzeugung haben wohl heute nur mehr wenige. Auf einer ganz anderen Ebene als in den großen Kirchen aber kennen auch viele im kirchlichen Sinne ungläubige Menschen Erlebnisse des Eins-Seins mit dem Kosmos, von tiefer Verbundenheit mit der Natur, die man am besten als spirituelle Erlebnisse beschreiben kann. Sigmund Freud bezeichnete solche Gefühle der unauflösbaren Verbundenheit mit der gesamten Außenwelt, ja mit dem Kosmos, als »ozeanisches Gefühl« und bezog sich dabei auf seinen Freund R ­ omain Rolland.7 Rolland beschrieb mit diesem Ausdruck sein Gefühl von Ewigkeit, von etwas Unbegrenztem und Schrankenlosem; für ihn ein Grundgefühl jeder privaten Religiosität – abseits aller kirchlichen Organisationen. Dadurch fühlte er sich aufgehoben, gehalten und verbunden mit der ganzen Welt. Spirituelle Meister können dies nach Jahren der Übung vielleicht durchgehend empfinden, aber auch viele Normalsterbliche haben zumindest einige Male in ihrem Leben für kurze Zeit vergleichbare Erfahrungen gemacht: So kennt fast jeder das Gefühl eines tiefen Friedens beim abendlichen Blick vom Strand hinaus auf ein ruhiges Meer bei Sonnenuntergang. In solchen Momenten scheint die Grenze zwischen unserem Selbst, unserem Körper und der Welt plötzlich nicht mehr existent zu sein. Prosaischer ausgedrückt: Unsere Realitätsprüfung wird für Sekunden suspendiert. In solchen Momenten erleben wir auf einer emotionalen Ebene genau jene Einheit mit der ganzen Welt, die auf intellektuell-rationaler Ebene in der Idee eines »Weltbürgertums« aller Bewohner dieser Erde so wenig Chancen auf Realisierung hat. Der Gegensatz eines solchen Erlebens von kosmischer Einheit, von Verbundenheit mit der Welt wäre das erschreckende Gefühl der Entfremdung, des weder in sich noch in der Welt Zuhause-Seins. Intensivere Ausprägungen solcher spirituellen, meist aber wohl insgesamt psychischen Unbehaustheit und Entfremdung sind zentrale Anteile der Symptomatik fast aller schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen. Im schlimmsten Fall erlangen jene Patienten, die jahrelang nicht aus einer solchen Symptomatik herausfinden, dann eine Art negative Heimat Heimat im Plural

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in der Symptomatik, in der Krankheit: In einem Zustand, der irgendwann einmal für sie das geringste Übel gewesen ist, den sie dann nach Jahren aber nicht mehr verlassen können. Manche Patienten beschreiben dies als ein gleichzeitig beruhigendes und fürchterlich einschränkendes Grundgefühl, eine vergitterte Zuflucht der Seele. Für all diese angeführten Möglichkeiten, sich heimisch und zuhause zu fühlen in Institutionen, Konstellationen, vor allem in Beziehungen, für all diese Compartments unseres Lebens bleibt die Frage zentral, ob wir zufrieden sein können mit einer Lösung, die zwar nicht ideal, aber hinlänglich gut ist (»good enough« im Original bei Winnicott 1990): Niemandem wird es gelingen, sich ein Leben lang durchgehend fraglos und selbstverständlich sowohl bei sich selbst als auch in den Beziehungen mit allen Mitmenschen und in jeder sozialen Situation zuhause zu fühlen. Das wäre nämlich eine Beschreibung eines lebenslangen Glückszustandes, der uns nicht gegeben ist. Für ein über weite Strecken zufriedenes Leben aber wäre der wichtigste Aspekt das Grundgefühl einer stabilen, jedoch nicht allzu starren Identität, durch die man sich in seiner Lebenswelt einigermaßen aufgehoben fühlt. In dieser Welt aber werde ich mich aufgehoben und heimisch fühlen, wenn ich mich auch in mir selbst, in meinem Körper und meiner Seele einigermaßen zuhause fühle – wenn ich mir selbst »good enough« sein kann. Das bedeutet, dass die Diskrepanz zwischen meinem Ich-Ideal als Summe meiner Anforderungen und Wünsche an mich selbst und meiner realen Lebenssituation nicht allzu schmerzlich groß ist. Dann kann ich auch auf der zeitlichen Ebene zuhause sein in der Gegenwart, ohne zu oft und zu schnell in Vergangenheit oder Zukunft flüchten zu müssen. Es gibt nämlich kaum eine verlässlichere Garantie für ein unglückliches Leben als die allzu feste und intensive Konzentration entweder auf eine verklärte Vergangenheit im Sinn der Nostalgie oder aber auf eine ersehnte, aber allzu weit entfernte biographische Zukunft. Denn dadurch wird das reale Leben in der Gegenwart schlimmstenfalls fast völlig bedeutungslos, weil kaum mehr psychische Energie übrig bleibt für dieses banale, aber Halt gebende Alltagsleben. So werden die Be28

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troffenen schlimmstenfalls heimatlos in der Gegenwart, erleben sich als entfremdet und ihr Leben als flach und sinnentleert. Sie spüren dann zwar eine starke Sehnsucht nach Heimat, erleben aber im Alltagsleben kaum jemals die Erfüllung dieses Wunsches. In allen beschriebenen Teilbereichen des Lebens, sei es in Familie und Beziehungen, im Beruf oder in Gruppensituationen bietet uns nämlich die ständige Wiederholung, die Gewohnheit eine entscheidende Stütze und Struktur für unser seelisches Leben: Die Wichtigkeit dieses Aspekts von Daheimsein im Alltag für das Gefühl eines sinnvollen Lebens kann kaum überschätzt werden. Auch in der Freizeit, bei all unseren Lieblingsbeschäftigungen, sei dies sportliche Betätigung oder Kulturgenuss, auch hier geht es oft um Gefühle der Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit bei der als sinnvoll erlebten Aktivität Gleichgesinnter. Dabei ist es sekundär, ob man regelmäßig in einer Gruppe tanzt oder seit Jahren kein Heimspiel seines Fußballclubs auslässt, ob man als Musikbegeisterter gemeinsam mit tausenden anderen glücklich ist beim Heavy Metal-Open Air-Festival oder im Konzertsaal ehrfürchtig einem Streichquartett lauscht. Wobei die Musik in all ihren Ausprägungen hier nochmals einen Sonderstatus einnimmt, weil sie so leicht und intensiv Gefühle hervorrufen kann – u. a. auch Heimatgefühle: Das wiederum gilt wohl besonders für Volksmusik.

Heimatgefühle »light«: Volksmusik, Lederhosen und Politik Wir sind es schon gewohnt, dass die Werbung uns Soft-Versionen von Heimatgefühlen als verkaufsfördernde Argumente nicht nur für Nahrungsmittel »aus heimischem Anbau« andient, sondern auch in fast allen anderen Bereichen des Konsums. Überall soll ein Gefühl »wie zuhause« als Schlüsselreiz dienen, als Auslöser für Empfindungen der Sicherheit und des Wohlgefühls. Darüber hinaus aber gibt es einen speziellen Bereich der Populärkultur, nämlich den der volkstümlichen Musik (in Abgrenzung sowohl zur klassischen als auch zur »echten« Volksmusik), in dem wir eine deutliche Erweiterung des Marktsegments weit über das frühere Musikantenstadl-Publikum der schunkelnden Pensionistinnen und Heimat im Plural

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Pensionisten hinaus erleben. Während früher Blasmusik oder volkstümlicher Gesang bei jüngeren Hörerinnen und Hörern verlässlich Fluchtreflexe auslöste, sind auch hier die Berührungsängste und die Distanz zu den Heimatklängen deutlich gesunken. Es gibt heute sogar »linke Post-Punk-Heimat-Musik«. So widmete »Die Zeit« am 11.01.2018 eine ganze Feuilleton-Seite einem Porträt der linken Punkrock-Gruppe »Feine Sahne Fischfilet« aus Mecklenburg-Vorpommern: Noch vor wenigen Jahren wurde diese Band wegen der ausnehmend »bullenkritischen« Texte noch vom Verfassungsschutz observiert. Jetzt aber stellen sie 2018 auf ihrer aktuellen CD die Frage, wie man sich als linker Punkmusiker in der ostdeutschen Provinz trotz der massiven Präsenz von Rechten und Rechtsradikalen heimisch und zuhause fühlen kann. Leadsänger Jan »Monchi« Gorkow beschreibt das Leben am flachen Land keineswegs als Idyll. Natürlich gäbe es für Leute wie ihn genügend Gründe, woanders hinzugehen: »Aber wir lieben unsere Heimat, wir lieben das Meer, wir lieben die Menschen – na ja, zumindest viele von ihnen …« Auf der CD »Sturm und Dreck« singt er: »Zuhause heißt, beschütze uns, alle sind gleich!«8 Auch Jens Balzer empfiehlt in der »Zeit«, die Songs von »Feine Sahne Fischfilet« als Heimatmusik zu hören. Allerdings weist er auch darauf hin, dass sowohl das Klangbild als auch die Abfolge von kräftigen Gitarrenriffs und betont heiserem Gesang bei den Vertretern eines eher rechten Punkrocks verblüffend ähnlich klingt. Auch die Dramaturgie der Lieder mit jeweils am Schluss hymnisch geschmetterten Parolen sei z. B. bei der rechtsorientierten Gruppe »Freiwild« fast ident. Ein diametraler Gegensatz bestünde nur bei den Texten. Es gibt also sichtlich beim jungen Publikum von Rockfestivals ein massives Bedürfnis nach »maskuliner Gitarrenmusik, die Heimatgefühle bedient und feiert«.9 Während aber auf der rechten Seite Rockgruppen die ewigen Traditionen und die unwandelbare kollektive Identität beschwören und gegen Fremde verteidigen wollen, ist die Heimat für »Feine Sahne Fischfilet« ein Ort, auf dessen Schönheit man stolz ist und den man mit möglichst vielen Menschen teilen will. 30

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Wenn dies die politischen Gruppen am rechten und linken Rand des Rock-Spektrums sind, stellt sich die Frage: Wer singt im ­Zen­trum, wer regiert im volksmusikalischen Mainstream? Dieses Zentrum hat sich auch in der Heimatmusik ebenso wie in der Politik zuletzt eindeutig nach rechts verschoben. So konnte sich als wichtigste Stimme einer »neuen Volksmusik« der Österreicher Andreas Gabalier positionieren. Er hat es geschafft, als selbsternannter »Volks-Rock’n’­Roller« mit Elvis-Tolle und Lederhose aus dem begrenzten Marktsegment des Musikantenstadls auszubrechen. Die volkstümliche Musik wird rockig aufgeputzt ohne wesentliche Änderung der Substanz. Das aber genügt für Millionen verkaufter CDs, sogar Mega-Konzerte wie jene im Münchner Olympia-Stadion sind bei Gabalier verlässlich ausverkauft. Darüber hinaus artikuliert er sich in seinen Texten wie auch in Interviews bewusst und lustvoll national und rechts von der Mitte, inszeniert sich so zum Reibebaum für liberale Kritikerinnen. Sowohl seine Weigerung, die österreichischen Bundeshymne in der neuen, ­gegenderten Version zu singen als auch seine Beschwörung, dass in einem christlichen Land ein Kreuz an die Wand gehöre – derlei Positionen sind in seinem Publikumssegment sicher verkaufsfördernd, ebenso wie die Kritik von links. Bei Gabaliers Konzerten trägt nicht nur der Künstler poppig aufgeputzte Trachtenhemden und Lederhose, auch ein großer Teil seines Publikums erscheint im Trachtenanzug oder im Dirndl. Auch das wäre noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen – tausende junge Leute bei einem Rockkonzert in der Großstadt in volkstümlicher Tracht. In welchem Ausmaß der Appell an zumindest latente Heimatgefühle aber auch links der Mitte politisch salonfähig geworden ist, konnte man im österreichischen Bundespräsidenten-Wahlkampf 2016/2017 verblüfft miterleben: Nachdem die Kandidaten der ehemals großen Volksparteien ÖVP und SPÖ im ersten Wahlgang ausgeschieden waren, standen sich in der Stichwahl der rechtspopulistische Norbert Hofer und als Kandidat der Grünen der linksliberale Ökonomie-Professor Alexander Van der Bellen gegenüber. Überraschenderweise gewann Van der Bellen diese Stichwahl, allerdings mit einem extrem knappen Vorsprung. Hofer als Kandidat der Heimat im Plural

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FPÖ ließ die Wahl aus formalen Gründen anfechten, sie wurde wiederholt und dieser neuerliche Wahlgang wurde von beiden Seiten zur großen Richtungsentscheidung hochstilisiert. In diesem emotional aufgeheizten Wahlkampf, in dem Hofer seinen linksliberalen Konkurrenten als Kryptokommunisten mit Migrationshintergrund diffamierte, überraschten dann die bundesweit affichierten Plakate für Van der Bellen: Plötzlich sah man den Professor ebenso wie seinen nationalen Opponenten in idyllisch sattgrüner Landschaft sinnend in die Ferne blicken, im Trachtenjanker und mit österreichischer Fahne im Hintergrund. Plakattext: »Heimat braucht Zusammenhalt.« Viele Sympathisanten waren entsetzt, wählten ihn aber natürlich trotzdem. Noch zwei Jahre danach war sein Wahlkampfleiter Lothar Lockl überzeugt davon, dass gerade dieser »Heimat-Touch« im Wahlkampf mitentscheidend gewesen sei für den schlussendlich deutlichen Sieg Van der Bellens. Für ihn war es ein deutliches Beispiel dafür, dass man den Heimatbegriff nicht der Rechten allein überlassen solle. Einen solchen Zugang muss ein Kandidat allerdings auch glaubhaft verkörpern können – was die Grünen bald leidvoll lernen mussten. Im Salzburger Landtagswahlkampf vom April 2018 plakatierten sie fröhlich spielende Mädchen im Dirndl mit dem Schriftzug »Heimat schützen«. Die Plakate waren von denen der rechtspopulistischen FPÖ kaum zu unterscheiden und auch die nachgereichten Wortmeldungen der Spitzenkandidatin zu den offenen Konzepten der Grünen von Heimat änderten nichts mehr an der diesmal deutlichen Wahlniederlage. Wiederum ein halbes Jahr später allerdings konnten die Grünen beim Wahlkampf in Bayern sichtlich ihre Heimatverbundenheit wieder überzeugender darstellen, was wohl auch zum Erfolg beitrug. Das Thematisieren von Heimatgefühlen und deren Pflege jetzt auch von liberaler oder linker Seite als Reaktion auf die Sehnsucht der Wähler nach Geborgenheit und Sicherheit; es ist fast schon ein Mantra in vielen politischen Diskussionen geworden. Ob es aber in den kommenden Wahlkämpfen und Auseinandersetzungen um die Migrationsproblematik ausreichen wird, sich aus dem Arsenal der altbekannten konservativen Heimatbilder zu bedienen und diese nur mit den Adjektiven »solidarisch« oder »offen« zu ergänzen, das muss sich erst 32

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weisen. Kann die Berufung auf Heimatgefühle auch andere Affekte auslösen als die sattsam bekannten Überfremdungsängste oder gar rassistische Reflexe? Und wenn ja, durch welche neuen Narrative sollte dies möglich sein? Wäre eine beim Wähler dann erfolgreiche Antwort »Linkspopulismus«? Wenn dann in den Auseinandersetzungen innerhalb der Linken noch das Adjektiv »nationalistisch« dazukommt, wird es meist sehr schnell hoch emotional: Dann erscheint am politischen Horizont die Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine »gute« Heimatliebe geben kann oder ob die Liebe zur Heimat, wie schon so oft in der Vergangenheit, legiert bleiben muss mit dem Gedankengut des Nationalismus.

Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat – eine natürliche Einheit? Christoph Türcke versuchte 2014 mit seinem Buch »Heimat. Eine Rehabilitierung« den Heimatbegriff aus liberaler Sicht neu zu interpretieren und offener zu gestalten: Er stellte sich die Frage, wie es am ehesten möglich wäre, die Erfahrung einer konkreten Heimat als eines gemeinsamen Erfahrungsraumes wiederzugewinnen. Dieser Erfahrungsraum sollte aber »über nationalstaatliche Grenzen hinweg als gemeinsamer Verantwortungsraum wahrgenommen werden«.10 Mit diesem gemeinsamen Verantwortungsraum ist natürlich die EU gemeint als ein gesamteuropäisches Projekt mit dem Ziel der Überwindung nationalstaatlicher Beschränkungen. Denn wie so viele Theoretiker, die den Heimatbegriff nicht der politischen Rechten und den Populisten überlassen wollen, fragt sich auch Türcke, ob es möglich sei, den Begriff der Heimat von dem des Nationalstaats zu emanzipieren. Für ihn ist es beileibe nicht naturgegeben, dass eine Rückbesinnung auf Heimat immer diesen fatal und fundamental ontologischen Zug mit allen zugehörigen Klischees von Wurzeln, Grundstein und unveränderbarer Heimat als Herkunft bekommen müsse. Ein solches Denken blende die Erfahrungen von Trennung und Verlust aus, die allen Heimatgefühlen vorausgehen und vorausgehen müssen. Erst durch diese Ausblendung aber erscheinen laut Türcke die Begriffe Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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Heimat, Nationalstaat und Nationalstolz so untrennbar »als wären sie eine Naturverbindung wie H2O.«11 Spätestens bei Erwähnung des Nationalstolzes folgt meist reflexhaft der Einwand, wie es denn überhaupt möglich sei, auf etwas stolz zu sein, für das man nichts geleistet habe, außer zufällig innerhalb gewisser geographischer Grenzen geboren zu sein. Aber diese skeptische Einschätzung ist eine Minderheitenposition: Viele Deutsche sehen dies ganz anders, wenn man den Zahlen einer Studie trauen darf, die 2016 im Auftrag der Universität Stuttgart von der Düsseldorfer »Identity Foundation« durchgeführt wurde.12 Laut dieser Studie sind 60 % der Deutschen stolz auf Deutschland und sogar 80 % gaben als typisch deutschen Wesenszug an, »ihr Vaterland zu lieben« (wörtlich!). Allerdings zeigen sich bei einem genaueren Blick auf die Studiendaten auch die bekannten Unterschiede: Je älter, ärmer und weniger gebildet die Befragten waren, desto stärker ihre Tendenz zum Nationalstolz. Das Nationalgefühl war am stärksten ausgeprägt bei allein lebenden Frauen, die über siebzig Jahre alt waren, im ländlichen Raum lebten und nur einen Volkschulabschluss hatten. Im Umkehrschluss war der Nationalstolz bei jüngeren, höher gebildeten und urbaneren Mitbürgerinnen und Mitbürgern deutlich weniger ausgeprägt. Aber schon diese Kurzzusammenfassung der Studiendaten wäre wohl für viele auf ihr Land aufrichtig stolze Menschen nur Ausdruck einer verächtlichen Elitenposition. Bei Fragen von Nationalstolz oder Nation kommt es sofort zur Lagerbildung: Einer Position von »Wir haben etwas geleistet und dürfen darauf auch stolz sein« steht unversöhnlich die Gegenposition gegenüber mit ihrer Angst, dass jede Stärkung des deutschen Nationalismus wieder katastrophale Folgen haben könnte. Bald müsse dann wieder die Welt »am deutschen Wesen genesen«. Türcke bezeichnet diese »Unfähigkeit, Heimat anders wahrzunehmen denn als überspannte Heimat als einen ›fatalen Konsens im Dissens‹. Die fixe Idee, Nationalstolz sei eigentlich nur ein anderes Wort für Heimatbewusstsein. Entweder man fordert Heimatbewusstsein ein; dann muss man auch voll Nationalstolz sein. Oder man hat etwas gegen Nationalstolz; dann muss man sich auch alle Heimat aus dem Kopf schlagen.«13 34

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Aus Sicht der nach zwei Weltkriegen misstrauischen Nachbarn der Deutschen ist jedes Nachdenken über eine deutsche Nation seit der Wiedervereinigung von 1989 brisanter geworden. Davor gab es zwei deutsche Staaten, aber eben deshalb keine Nation. In der DDR sollte sogar eine »Nationale Volksarmee« den einen deutschen Staat gegen befürchtete Angriffe des anderen verteidigen. Jetzt aber sind die Deutschen ein Volk – dürfen sie sich auch wieder als eine Nation fühlen? Auch diese Frage ist spätestens seit 2015 höchstgradig emotional besetzt und jede Diskussion darüber dementsprechend ein Minenfeld. Ich versuche daher, historisch einige Schritte zurückzugehen und die Frage nach der Herkunft der Worte »Deutschland« bzw. »deutsch« zu stellen. »Deutschland« ist laut Kluges etymologischem Lexikon sprachgeschichtlich eine Zusammenziehung, belegt seit dem 15. Jahrhundert, davor sagte man z. B. »aus deutschen Landen«. Das Adjektiv »deutsch« hingegen ist schon seit ca. tausend Jahren belegt – bedeutete aber ursprünglich nur »zum Volk gehörig« oder eben »volkssprachlich«. Hier gibt es noch keine nationale Konnotation des Begriffs.14 Laut Einschätzung des Mediävisten Johannes Fried15 sind die Deutschen (wie wohl auch alle anderen Nationen) kein immer schon bestehendes und naturgegebenes homogenes Volk gewesen. Sie entstanden vielmehr als Verbund von zahlreichen heterogenen Stämmen. Diese wiederum wurden immer wieder ergänzt, durchmischt und verändert durch diverse Einwanderungsprozesse. Fried datiert die Anfänge jeglichen Deutschtums irgendwann zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert, als die »Deutschen« aus einem heterogenen Vielvölkergemisch hervorgingen, das im Großraum zwischen Rhein, Donau und Oder siedelte. Als dann um das Jahr 1000 die Heerscharen der ottonischen Kaiser über die Alpen südwärts zogen und in Italien einfielen, wurden diese Soldaten (auch wenn es z. B. Slawen waren) von den Italienern »Deutsche« genannt. Das aber bedeutete primär nur »Menschen, die kein Latein sprechen«, sondern eben »diutisc« waren, also volkssprachlich, die Sprache ihres Volkes sprechend. Diese etymologischen Hinweise können also nicht als Beleg für eine ursprüngliche und naturgegebene nationale Einheit dienen. Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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Ähnliches gilt auch für den frühesten belegten Gebrauch des Begriffs »Nation«: Bei den Römern stand »natio« nur für die Geburt, für die ständische und durch Geburt definierte Herkunft. Der moderne Gebrauch des Wortes »Nation« beginnt im Mittelalter mit einer Exilerfahrung. Als in Bologna und Paris die ersten europäischen Universitäten gegründet wurden, kamen die Studenten von überall her. Sie waren bezüglich ihrer Vorbildung, Sprache und Lebensweise völlig heterogen und daher gab es auch zwischen den einzelnen Gruppen beträchtliches Konfliktpotential. Um die Auseinandersetzungen zumindest einzuhegen, beschloss man seitens der Universitätsadministration, die fremden »zugereisten« Studenten in Wohngemeinschaften zusammenzufassen – und zwar unterteilt nach der Gegend ihrer jeweiligen Herkunft. Für eben diese Hausgemeinschaften fand man dann die Bezeichnung »Nationes«, die am ehesten unserem heutigen Begriff von »landsmannschaftlichen Gruppen« entspricht. Diese Nationes wurden nach den Himmelsrichtungen ihrer Herkunft aufgeteilt und beileibe nicht nach Grenzen späterer Nationalstaaten wie Deutschland, England oder Frankreich. Nach einem kaiserlichen Privileg von 1158 wurden all diese Bildungsmigranten in ihren Nationes als besonders schutzbedürftig eingestuft: Als Studenten seien sie durch ihre Liebe zur Wissenschaft heimatlos geworden. Diese universitären Nationes sind also genuine Gemeinschaften von freiwillig Ausgewanderten. Es sind Versuche einer Ersatzbildung für die verlassene Herkunft, für die verlorene heimatliche Umgebung. Die heutige Bedeutung von Nation mit der Bedeutungsverschiebung in Richtung Nationalstaat kam erst Jahrhunderte später. Denn für uns klingt im Begriff der Nation heute sofort das martialische »Vaterland« an und noch meine Generation lernte im Gymnasium zumindest zwei bedrohliche Zitate: Im Latein-Unterricht das berühmte »Dulce et decorum …«16 und die dunkel-todessehnsüchtige deutsche Variante des existenziell so heimatlosen Dichters Friedrich Hölderlin: »Lebe droben, o Vaterland, und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! Nicht einer zu viel gefallen.«17 Noch knapp vor der Jahrtausendwende konnte der marxistische englische Historiker Eric Hobsbawm bilanzieren, dass sich der 36

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Nationalismus im Rückwärtsgang befinde. Nationalistische Aufwallungen seien zu verstehen als Reaktionen aus Schwäche und Angst. Es seien hilflose Versuche, Barrikaden gegen die Kräfte der modernen Welt zu errichten. Der Nationalismus sei zwar weltweit noch präsent, fungiere aber nicht mehr als eine Haupttriebkraft der historischen Entwicklung.18 Eine solche Entwicklung konnte ein Nationalismuskritiker wie Hobsbawm nur begrüßen, war doch nicht nur für ihn der Nationalismus zumindest mitverantwortlich für die Katastrophen des 19. Jahrhunderts ebenso wie für den Zivilisationsbruch des Ersten Weltkrieges – ganz abgesehen noch von allen folgenden schrecklichen Massakern und Genoziden des 20. Jahrhunderts. Fast immer standen am Anfang der Kriege nationalistische Aufwallungen. In der britisch-trockenen Diktion von Simon Winder »beginnt es immer mit Volkstanz und endet mit Stacheldraht«.19 Kein Wunder also, dass ein entspannter Umgang mit dem Begriff der Nation noch heute für kritische Mitbürger fast unmöglich scheint. Auch die begriffliche oder gar emotionale Trennung der beiden Entitäten Heimat und Nation bleibt ein schwieriges Unterfangen. Christoph Türcke versucht zu differenzieren: Bei aller Skepsis gegenüber nationalistischen Emotionen ließe sich das Heimatbedürfnis eben nicht austrocknen. Es sei ebenso fragwürdig, »Heimat zu tabuisieren, um allen Anfängen eines wiederkehrenden Nationalismus zu wehren, wie das Gegenstück: Heimat wieder zu pflegen im Dienste eines normalen Nationalgefühls, das auch Deutschen auf die Dauer nicht verwehrt bleiben dürfe.«20 Trotzdem sind öffentliche Manifestationen von Nationalstolz außer bei Fußball-Länderspielen für viele immer noch schwer zu ertragen, geschweige denn selbst zu empfinden. Allerdings hat es sich auch als fast unmöglich erwiesen, die intensive emotionale Aufladung des Begriffs der Nation, des Vaterlandes zu übertragen auf eine größere politische Einheit, sei dies nun die EU oder gar die ganze Welt als Heimatland des Kosmopoliten. Deshalb versucht der österreichische Schriftsteller Robert Menasse als einer der wenigen intellektuellen Verteidiger einer europäischen Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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Identität einen neuen Ansatz mit seinem Lob des Regionalismus. Er empfiehlt eine Art Kurzschluss, einen Bypass der positiven Emotionen von den Regionen hin nach Europa unter Aussparung der Nation. Die regionale Identität sei die Wurzel der europäischen. Und in der Region/für die Region sei auch das Empfinden von Heimatgefühlen sowohl leichter möglich als auch weniger gefährlich als im nationalen Rahmen: »Heimat ist ein Menschenrecht, Nation nicht. Heimat ist konkret, Nation ist abstrakt.«21 Soweit also Menasses Kompromissvorschlag, der ihm auch als kritischem Intellektuellen einen Ort für seine Heimatsehnsucht bietet. Zu dieser Position steht er auch noch in der aktuellen krisenhaften Situation: »Die Region stiftet die eigentliche Identität der Menschen. Alle Regionen sind historisch gewachsene Kulturräume, die wesentlich älter und gefestigter sind als die Nationen. Nationale Identität ist eine Fiktion. Regionen bieten konkrete Identitätsangebote …«22 Dem kann man sicher entgegenhalten, dass auch im Rahmen der EU der Regionalstolz nicht per se identitätsbildend nur im positiven Sinne wirken muss – wie sich im Baskenland und in der konstruierten italienischen Region Padanien gezeigt hat. Immerhin aber skizziert Menasse doch ein attraktives Identitätsangebot: Regionalstolz, Regionalpatriotismus als Ventil, als entgiftete Ausdrucksmöglichkeit für jene allzu starken Gefühle, die im Kontext des Nationalismus mörderisch wurden und wieder bedrohlich werden können. Zumindest aber in deutschen Regionen gibt es für mich als Außenbeobachter durchaus erfolgreiche Beispiele eines Regionalpatriotismus: Die beste Kombination von Freistaatspatriotismus, Traditionsverhaftung und anti-zentralistischem Affekt scheinen die Bayern gefunden zu haben. Auch ihr regionales Selbstbewusstsein im Sinne des bajuwarischen »mir san mir« klingt jenseits der deutschen Grenzen immer noch deutlich weniger bedrohlich als »Deutschland, Deutschland, über alles …«. Das neue Narrativ, das die Bayern in den letzten Jahrzehnten für den Stolz auf ihre Region gefunden haben, scheint mir durchaus beachtlich. Die oft zitierte Kombination von Laptop 38

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und Lederhose, der Stolz sowohl auf Ludwig II. und Neuschwanstein als auch auf die Weltmarke BMW – das alles hat dazu geführt, dass ganze 88 % der Bewohnerinnen und Bewohner des Freistaates Bayern sich in ihrem Bundesland »absolut zuhause fühlen« – was immer das auch heißen mag. Sichtlich ist es den Bayerinnen und Bayern also gelungen, in ihrer Identitätskonstruktion den Stolz auf die Heimatregion zu verbinden mit einem rebellisch-trotzigen Selbstverständnis als fleißiges, erfolgreiches, aber auch knorrig-unabhängiges Völkchen. Ein aktuelles Beispiel dafür lieferte die Diskussion im Sommer 2018 nach der Anweisung des Ministerpräsidenten Markus Söder, in allen bayerischen Amtsstuben wieder ein Kreuz aufzuhängen. Dies sei laut Söder weniger ein religiöses Symbol als ein Symbol der bayerischen Identität. Spätestens bei solchen Äußerungen allerdings scheint auch der Regionalpatriotismus nicht nur positiv identitätsstiftend zu sein. Prompt kam auch die liberale Kritik wie z. B. von Thomas Steinfeld in der »Süddeutschen Zeitung« vom 25.04.2018: Söder missbrauche durch solche Symbolpolitik die Identität als ein Zauberwort, um Kultur in Natur zu verwandeln. Damit aber verliere der Einzelne jegliche Wahlmöglichkeit und müsse an seine Herkunftsgruppe gebunden bleiben. Söder selbst würde dies wahrscheinlich sogar unterschreiben, hatte er doch schon früher betont, dass die CSU wieder eine Heimat für alle Heimatvertriebenen bieten müsse. Da ist es nur konsequent, dass das »Bundesheimatministerium« in Berlin von einem Bayern geführt wird … Aber auch die bajuwarische Identität wird wohl dadurch kompliziert werden, dass spätestens im Jahr 2024 zumindest ein Viertel der bayerischen Bevölkerung Migrationshintergrund haben wird. Schon jetzt ist die Tendenz deutlich steigend, der Anteil ist einer der höchsten im Bundesländervergleich.

Nationalstolz und Nationalismus – in Deutschland und anderswo Die Bayern sind sicher stolz auf Deutschland, noch stolzer aber scheinen sie auf die bayerischen Anteile des deutschen Erfolgsmodells zu sein. In Gesamt-Deutschland aber fällt es vielen immer noch schwer, auf ihr Land, auf ihre Nation stolz zu sein. Noch mehr fehlt den Intellektuellen in Österreich der patriotische Stolz auf ihr Land. In der Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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Disziplin der Selbstverachtung bis hin zur Selbstbeschimpfung kann Österreich auf eine stolze Tradition von Karl Kraus bis zu Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek verweisen. Hier reiht sich auch der begeisterte Europäer Robert Menasse ein: »Ich habe immer ein Problem gehabt, mich als Österreicher zu bezeichnen. Vor allem wenn ich mit der Selbstdarstellung dieses Landes konfrontiert war …«23 Andere Nationen ohne das schreckliche Erbe des Nationalsozialismus erleben Patriotismus ganz anders. In Frankreich und in England, speziell aber in den USA haben auch kritische Geister keinerlei Problem mit Nationalstolz und bezeichnen sich ganz ohne Ironie als Patrioten. Ein Beispiel dafür ist der gegenüber dem Rassismus in den USA ausnehmend kritische Schriftsteller Ta-Nehisi Coates. Er wurde berühmt durch »Between the world and me«, einen Brief an seinen Sohn in Buchform über die Schwierigkeiten, als Farbiger in Amerika aufzuwachsen und zu überleben. Eben dieser Coates aber sagte: »Ich werde mein Land nicht verlassen. Ich bin Amerikaner. Ich liebe mein Land. […] Du kannst dein Land lieben und seine Politik trotzdem hassen.«24 Damit ist er unter den amerikanischen Intellektuellen in zahlreicher und guter Gesellschaft. Bereits 1998 erschien ein Buch des US-Philosophen Richard Rorty, dessen Titel viele seiner deutschen Bewunderer befremdete: »Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus« (Weniger stolz lautete der Originaltitel: »­Achieving our country. Leftist Thought in Twentieth-Century ­America«). Auch beim Thema Patriotismus polemisierte Rorty – gemäß seiner philosophischen Grundeinstellung – gegen den Begriff einer Objektivität und somit auch gegen den Nationalismus: »Objektivität hilft kaum weiter, wenn es darum geht, was für ein Mensch oder was für eine Nation man sein möchte. Niemand weiß, worin ein Streben nach Objektivität bestehen könnte, wenn es darum geht, wie das eigene Land eigentlich beschaffen ist, was seine Geschichte eigentlich bedeutet – so wenig wie bei der Frage, wer man eigentlich ist – wie die Bilanz des eigenen bisherigen Lebens aussieht. Fragen der persönlichen oder nationalen Identität stellen wir im Zusammenhang mit Entscheidungen darüber, was wir als nächstes tun wollen, worauf wir hinstreben wollen.«25 40

Heimat – die Sicht von außen

Rorty betont hier die Analogie zwischen persönlicher und nationaler Identität. Diese emotionale Parallelisierung funktioniert in den USA auch für Oppositionelle über den allen Bürgern gemeinsamen patriotischen Stolz auf die US-Verfassung. Die in Deutschland so ausgeprägte emotionale Reserve bezüglich der Kopfgeburt eines Verfassungspatriotismus à la Jürgen Habermas ist den Amerikanern fremd. Allerdings erklärt dieser in Amerika so viel leichter als bei uns »herstellbare« oder auslösbare patriotische Affekt vielleicht auch weniger erfreuliche Aspekte der amerikanischen Politik bis hin zum tendenziell arroganten amerikanischen Nationalismus. In der Einschätzung des Nationalismus sind die Briten doch deutlich skeptischer: Der englische Nationalismus-Experte Tom Nairn zieht ebenso wie Rorty eine Parallele zwischen persönlicher und nationaler Identität, allerdings eine negative: »Nationalismus ist die Pathologie der modernen Entwicklungsgeschichte, ist ebenso schwer zu vermeiden wie die Neurose für das Individuum – mit weitgehend derselben grundlegenden eingebauten Ambivalenz. Nationalismus inkludiert auch die Möglichkeit des Abgleitens in den Wahnsinn, verursacht durch die Dilemmata der Hilf­ losigkeit. Er – der Nationalismus – ist für Gesellschaften das Äquivalent für Infantilismus und er ist größtenteils unheilbar.«26 Das international wohl immer noch meistzitierte Buch zum Thema Nationalismus schrieb 1973 der irisch-amerikanische Historiker Benedict Anderson: »Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism«. Nationen können für ihn nur vorgestellte Gemeinschaften sein, entstanden aus der Imagination der Menschen und nicht so sehr aus den historischen Fakten. Dementsprechend empfiehlt Anderson auch, den Begriff »Nationalismus« nicht in einer Kategorie mit politischen Ideologien wie Liberalismus oder Sozialismus zu betrachten, sondern ihn vielmehr in eine anthropologische bzw. ethnologische Begriffsreihe analog zu »Religion« oder »Verwandtschaft« zu setzen. Nach Andersons berühmter Definition zeichnet sich jede Nation aus durch die Eigenschaften der Begrenztheit, Souveränität und SelbstHeimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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legitimation mittels Zustimmung ihrer Bürger. Die Nation ist für ihn deshalb nur eine »vorgestellte« politische Gemeinschaft, weil man auch in der kleinsten Nation niemals alle anderen Mitbürger persönlich kennen kann. Die meisten von ihnen wird man niemals treffen oder je von ihnen hören – trotzdem aber gibt es im Kopf eines jeden Bürgers die Vorstellung dieser Gemeinschaft. Für Anderson sind bereits alle Gemeinschaften, die über die Größe eines Dorfes hinausgehen »imagined communities«. Begrenzt sind für diesen Autor die Nationen deshalb, weil auch die größten unter ihnen wie z. B. China mit etwa einer Milliarde Einwohnern doch definitive geographische Grenzen haben. Andere Nationen aber liegen jenseits davon und im Gegensatz zu Religionen wird eine Nation nicht »missionarisch« tätig werden und kann dies auch nicht wollen. Auch die glühendsten Nationalisten träumen nicht davon, dass z. B. einmal alle Menschen auf der Welt Deutsche oder Amerikaner sein sollten. Als souverän wird die Nation laut Anderson imaginiert, weil das Konzept im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution geboren wurde und damals dazu diente, die Legitimität einer göttlichen Ordnung oder eines von Gott eingesetzten Herrschers zu zerstören und die Emotionen auf die neue, demokratische Einheit des Volkes als Souverän umzuleiten. Für Anderson sind diese vorgestellten Gemeinschaften völlig unabhängig von realen Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnissen immer konzipiert im Sinne der Nation als einer tiefen horizontalen Kameradschaft. Und deshalb ist es wohl kein Zufall, dass zumindest mir beim Wort »Nation« sehr schnell die Kriegerdenkmäler einfallen. Denn für diesen Kameradschaftsbund der jeweiligen Nation sind in den letzten zweihundert Jahren Millionen von Menschen gefallen. Viele von ihnen haben angeblich ihr Leben sogar begeistert für ihr Land geopfert. Der Nationalismus bis hin zum Heldentod für das Vaterland muss also ein sehr mächtiges Identitätsangebot gewesen sein und ist es sichtlich bis heute geblieben. Dabei sollten wir nie vergessen, dass erst der Nationalismus des 19. Jahrhunderts mit seinen Gründungsmythen die Nationen hervorgebracht hat – und nicht 42

Heimat – die Sicht von außen

umgekehrt zuerst die Nationen da waren und dann ihre Gründungsnarrative folgten. Niemand sollte sich wundern über die aktuelle Renaissance des Nationalismus angesichts der für viele Menschen so bedrohlichen Globalisierung: Wenn Millionen als Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht werden und sich deshalb hilflos und austauschbar fühlen, dann bedeutet dies eine immense Kränkung vor allem für jene, die sonst materiell und symbolisch ohnehin nicht viel im Leben haben und die nun z. B. durch »Masseneinwanderung« auch noch das Letzte bedroht sehen, woraus sie noch Selbstwert beziehen können: Nämlich die unbestreitbare Zugehörigkeit zu ihrer Nation und dadurch auch zu Sozialleistungen und Chancen. Auch die ärmsten Verlierer unter den EU-Bürgern sind noch Gewinner in der globalen birthright lottery. Obwohl viele fortschrittliche Politiker heute langsam begreifen, wie weit neben dem materiellen Sein auch der Mangel an Anerkennung das Bewusstsein dieser Menschen bestimmt, so können sie diesen Abstiegsgefährdeten doch bisher keine überzeugende nicht-nationalistische Position von Solidarität bieten, die das Auseinanderdividieren der Schwachen und noch Schwächeren verhindern könnte. Interessanterweise hat der politisch nicht besonders fortschrittliche Sigmund Freud bereits 1927 auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Er beschrieb im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg, dass die unterschiedlichen Kulturideale Anlass zur Feindschaft zwischen den verschiedenen Nationen sein können und gerade dadurch Vorteile auch für die Unterprivilegierten bieten: »Nicht nur die bevorzugten Klassen, welche die Wohltaten dieser Kultur genießen, sondern auch die Unterdrückten können an ihr Anteil haben, indem die Berechtigung, die Außenstehenden zu verachten, sie für die Beeinträchtigung in ihrem eigenen Kreis entschädigt. Man ist zwar ein elender, von Schulden und Kriegsdienst geplagter Plebejer, aber dafür ist man z. B. Römer, hat seinen Anteil an der Aufgabe, andere Nationen zu beherrschen.«27

Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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Ein Psychoanalytiker als »Gewissen der Nation«: Alexander Mitscherlich, Heinrich Böll und Günter Grass denken öffentlich über Heimat nach Alexander Mitscherlich (1908–1982) war vor fünfzig Jahren nicht nur der bekannteste deutsche Psychoanalytiker, war nicht nur Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, Herausgeber der »Psyche« und Leiter einer Klinik. Er war darüber hinaus einer der bekanntesten öffentlichen Intellektuellen in Deutschland. Die Psychoanalyse-Historikerin Dagmar Herzog beschreibt 2017 Mitscherlichs einzigartige Funktion bei der Rückkehr der Psychoanalyse ins Nachkriegsdeutschland. Sie betont seine Wichtigkeit nicht allein für die Psychoanalyse, die damals und wohl auch durch ihn in Deutschland weit größeres Ansehen genoss als zu Freuds Lebzeiten, sie beschreibt auch die Vielfalt seiner publizistischen Arbeiten: »Er erreichte diese Stellung für die Psychoanalyse primär durch die Verbreitung einer hochgradig idiosynkratischen Version der Psychoanalyse als eine säkulare moralisch-politische Sprache. Mitscherlich wurde einerseits der westdeutsche Repräsentant der Psychoanalyse […] andererseits fungierte er auch als Gewissen der Nation und als freundlicher Reue-Prediger.«28 Die Titel von Mitscherlichs Büchern gingen so sehr in unsere Alltagssprache ein, dass viele sie heute noch im Munde führen, ohne sein Werk zu kennen. Immer noch sprechen wir von der »Unfähigkeit zu trauern« oder klagen über die »vaterlose Gesellschaft«. Axel Honneth vermisst in der Gegenwart einen sozialpsychologischen Denker, der mit vergleichbarer Behutsamkeit die psychischen Veränderungen im Leben des Einzelnen oder der Masse beschreiben könnte. Mitscherlichs Analysen hätten den seelischen Strukturwandel im damaligen Kapitalismus unter behutsamer Anwendung analytischer Grundbegriffe beschrieben.29 Entscheidend für Mitscherlich aber sei immer der Gegensatz zwischen Toleranz und Angst gewesen: »In den ersten drei formativen Jahrzehnten der Bundesrepublik ging es um das Verhältnis von Angst und Politik, von Ich-Schwäche und den Erfordernissen demokratischen Verhaltens.«30 Die Grundfrage Mitscherlichs bleibt daher aktuell: Welche Art von 44

Heimat – die Sicht von außen

Einstellung muss ein Subjekt gegenüber sich selbst einnehmen, um nicht der Versuchung zur Unterwerfung unter die Autorität zu erliegen, sondern im Gegenteil engagiert an der demokratischen Willensbildung mitarbeiten zu können? Für Mitscherlich war klar, dass für eine solche Teilnahme am demokratischen Meinungsbildungsprozess die unabdingbare Voraussetzung so etwas wie eine innerpsychische Toleranz des Subjektes sich selbst gegenüber sein müsse. Erst die Anerkennung all der beschämenden, angsteinflößenden und unverständlichen eigenen Wünsche als Teil der Gesamtpersönlichkeit kann den Bürger dazu befähigen. Eine der vielen publizistischen Aktivitäten Mitscherlichs war die Konzeption und Leitung von Radiodiskussionen im hessischen Rundfunk unter dem Übertitel »Hauptworte/Hauptsachen«. Erklärtes Ziel dieser Reihe war die Analyse großer Begriffe. Schlüsselworte sollten auf ihre Tragfähigkeit überprüft, sprachliche Felder ausgemessen werden, da mit dem gleichen Wort oft höchst verschiedene Vorstellungen verbunden seien und die Verständigung dadurch erschwert werde. So sollte »dem Aneinander-Vorbeireden, einer Vorform von Feindschaft, entgegengearbeitet werden.«31 Zwei dieser Diskussionssendungen befassten sich mit den Begriffen der Heimat und der Nation. Aufgrund des großen Erfolges wurden die Sendungen mehrmals wiederholt. Ich zitiere in der Folge aus dem in Buchform erschienenen Transkript. Teilnehmer beider Diskussionen waren u. a. auch Günther Grass und Heinrich Böll. Beide waren damals noch keine Nobelpreisträger, waren außerhalb einer literarischen Öffentlichkeit eher als Unterstützer der SPD-Reformpolitik Willy Brandts bekannt. Denn auch 1970 war »Heimat« ein Schlüsselwort der deutschen Innenpolitik. Wie heute ging es dabei sehr oft um Flüchtlinge, um aus ihrer Heimat vertriebene Menschen. Allerdings waren die damaligen »Heimatvertriebenen« keine Asylwerber aus Syrien oder Afghanistan, sondern die nach 1945 aus den Ostgebieten vertriebenen bzw. in die damalige BRD geflohenen Deutschen aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern und Brandenburg. Die Quantität dieser Migration in die damalige BRD ist heute kaum mehr bekannt. In den fünfzehn Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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Jahren zwischen 1945 und 1960 mussten acht Millionen Vertriebene plus vier Millionen Binnenmigranten aus der damaligen DDR und dazu noch eine halbe Million Aussiedler aus der damaligen UDSSR aufgenommen und zumindest notdürftig integriert werden – also insgesamt mehr als zwölf Millionen!32 Die Millionen der heimatvertriebenen Deutschen waren damals in den »Heimatvertriebenen-­ Verbänden« organisiert, politisch standen sie am rechten Flügel der CDU/CSU und oft noch weiter rechts. Ihre Heimatsehnsucht war die Triebfeder einer revanchistischen Politik und dementsprechend waren diese Verbände erbitterte Gegner von Willy Brandts Ostpolitik. Sie fühlten sich zum Widerstand gegen diese Politik verpflichtet, um ihre Vertreibung aus der alten Heimat vielleicht noch rückgängig zu machen. In ihrer (1970 noch gültigen) »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« formulierten sie 1950: »Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet ihn im Geiste töten. […] Heimatvertriebene sind die vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen.«33 Dementsprechend formulierte Gert Kalow in seinem Vorwort: »Heimat ist ein Schlüsselwort der deutschen Politik seit 1945, denn diese Gebiete gehören nicht mehr zu Deutschland, sind aber die Heimat von Millionen Bürgern der Bundesrepublik. Die Frage, wie der Begriff Heimat heute zu definieren ist, ist von größter Wichtigkeit nicht nur für diese Mitbürger, sondern für uns alle.«34 Und so kann es nicht überraschen, dass man bei der Lektüre dieses Sendungstranskripts viele Argumente der heutigen Diskussion wiederfindet – und auch die Spannung zwischen einem vernünftigen Umgang mit dem Begriff »Heimat« und der so gar nicht vernünftigen Sehnsucht danach. Mitscherlich beginnt als Diskussionsleiter die Gesprächsrunde mit der analytischen Frage an seine Zuhörer, die der Eröffnung einer Therapiestunde entspricht: Was ihnen denn einfiele, welche 46

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Erinnerung oder Gefühle, welche Bilder ihnen in den Sinn kämen, »wenn ich Ihnen das Wort Heimat zuspiele«? 35 Die Diskussionsteilnehmer arbeiten daran, so etwas wie einen neuen, offenen Begriff von Heimat zu definieren. Voraussetzung dafür allerdings ist die Anerkennung des Verlustes, der jede Heimaterfahrung prägt. So betont Günther Grass im Zurückdenken und in der Sehnsucht nach der für ihn verlorenen Heimat Danzig, dass einem »Heimat ja nur dann bewusst wird, wenn man sie verliert. Vorher ist sie etwas Selbstverständliches, auf das man zurückgreifen kann, aber nicht unbedingt zurückgreift«.36 Auch Mitscherlich unterstreicht, dass Heimat immer etwas Verlorenes sei, etwas Zerstörtes. Ausgehend davon überlegt er, wie denn ein Heimatbegriff aussehen müsse, der den Menschen in die Lage versetze, »aus seiner Umwelt einen Teil seiner Innenwelt zu machen, sodass er in der Lage ist, Heimat zu schaffen und unter Umständen sich aus mehreren Heimaten im Laufe seines Lebens zusammenzusetzen.37 Es geht ihm dabei um die Frage, ob Heimat primär als Herkunft verstanden werden müsse, als historisch abgeschlossene Vorstellung, oder ob man Heimat auch denken könne »im Sinne eines offenen Konzepts«. Er verknüpft das Nachdenken über einen solchen noch zu findenden neuen Heimatbegriff mit dem Begriff der Identität: »Wie bringen wir es zustande, dass die Menschen eine Identität haben, auch wenn sie mobil sind, dass sie also nicht mehr in der Mobilität ihre Identität verlieren? Wie soll dieser neue Heimatbegriff mit dem Identitätsbegriff des Menschen, dass er sich nicht selbst verliert, zu denken sein?«38 Ein solcher neuer Heimatbegriff wäre dringend notwendig, dafür aber müsse man das Bild von Heimat neu definieren, mit dem so viel Missbrauch getrieben wurde und das laut Grass »geradezu ein Markenartikel der Demagogen« geworden sei. Und Heinrich Böll bemerkt dazu berührend schlicht: »Heimat ist doch etwas, wonach man Heimweh empfinden können muss. Ich finde das Wort Heimat schön. Ich bin dafür, es zu erhalten, es neu zu definieren.«39 Heimat, Heimatliebe und Nationalstaat

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In einem abschließenden Versuch, die emotionale und die r­ational-abstrakte Ebene dieses gemeinsamen Nachdenkens und Nachfühlens zusammenzuführen, bilanziert Mitscherlich: »Die neue Heimat suchen wir alle mit dem Herzen offensichtlich, aber mit dem Kopf auch. Mit beiden möglichst. Es wäre doch ein Jammer, wenn es bloß eine Verstandesheimat wäre.«40 Die Lektüre dieser Diskussionstranskripte war für mich eine wichtige Erfahrung in Richtung einer Historisierung und Kontextualisierung der heute so aufgeheizten Diskussion: Alle aktuellen Stichworte sind schon angesprochen, allerdings in einer Zeit vor den Social Media, vor Hass-Postings und Aufheizung von Auseinandersetzungen im Stundentakt. Allerdings hat auch Alexander Mitscherlich damals keine Vertreter der Vertriebenen-Verbände zu seinen Diskussionen eingeladen …

Staatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze? Nicht nur im alten Rom wie im Freud-Zitat, sondern auch in den Staaten der EU gibt es sehr viele »elende Plebejer«, heute auch als Globalisierungsverlierer bezeichnet, die in ihrer Selbstwahrnehmung fast nur mehr einen symbolischen Besitz, eine Identitätsstütze haben, nämlich die Zugehörigkeit zu ihrer Nation. Pass und Staatsbürgerschaft dienen aber nicht nur als Identitätsstütze, sie bieten auch massive materielle Vorteile im Sinn des Zugangs zu Sozialleistungen. Und eben diese Vorteile eines funktionierenden Sozialstaates sehen bedrohte Mehrheiten in der EU massiv gefährdet durch die große Zahl der Migranten seit 2015. In ihrer Selbstwahrnehmung fühlen sie sich fast schon als Fremde im eigenen Land und sind deshalb oft besonders stolz auf ihre Nationalität, ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der »echten« Österreicher oder Deutschen. Soweit die Innenperspektive. Von einer globalen Außenperspektive aus betrachtet genießen sie die vielen Vorteile eines Glückstreffers in der birthright lottery. So die zynisch anmutende Bezeichnung der Rechtswissenschaftlerin Ayelet Shachar.41 Sie hält die Zugehörigkeit zu einer Nation mit ihrem spezifischen Niveau an Wohlstand, Stabilität und demokratischen Werten 48

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für den heute wichtigsten Faktor einer sicheren Identität und guter Lebenschancen eines Menschen. Dementsprechend wäre der wertvollste Besitz eines armen Deutschen sein Pass. Genau deshalb aber fürchtet dieser Deutsche nichts mehr als die inflationäre Verbreitung dieses Vorteils durch Einbürgerung vieler Migranten. Shachar hält die Staatsbürgerschaft als Institution für ebenso wichtig bei der Reproduktion globaler Ungleichheiten wie einst die Gewährung von Lehen im Mittelalter: Beides sind für sie vererbbare Eigenschaften (inherited property), die unabhängig von jeglicher Leistung von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können. In der pointierten Formulierung von Ivan Krastev »wird die Vollmitgliedschaft in einer Wohlstandsgesellschaft zu einer komplexen Form des vererbbaren Vermögens«.42 Und dieses Vermögen besteht nicht nur aus materiellem Kapital im Sinne der Versorgungssicherung, sondern auch aus symbolischem Kapital im Sinne von Nationalstolz und Identitätsstützung. Die Sicht auf die Nation muss also je nach dem Blickpunkt von innen oder außen unterschiedlich sein. Die Verlierer in der birthright lottery, vor allem die Bewohner Afrikas und des Nahen Ostens, empfinden schmerzlich die Ungerechtigkeit dieser globalen Lotterie. Denn auch neuere empirische Daten beim weltweiten Vergleich von Einkommensungleichheiten belegen, dass die Staatsangehörigkeit der wohl wichtigste Indikator für die Position eines Individuums in der globalen Ungleichheitsstruktur ist und dass diese Struktur seit mindestens zweihundert Jahren verblüffend stabil geblieben ist.43 Massiv verändert allerdings haben sich in diesen zweihundert Jahren die medialen Kommunikationsmittel und so sehen heute viele Millionen Menschen aus ärmeren Staaten die Bilder im Fernsehen und Internet, die ihnen die Gleichheit aller Konsumenten im globalen Dorf vorgaukeln und glitzernde Szenen der Konsumparadiese in der EU oder in den USA zeigen. Selbst wenn die Betrachter dieser Bilder nicht politisch verfolgt werden, ist dies eine starke Verlockung, ein Pull-Factor, und eines der Motive, sich trotz aller Gefahren auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa zu machen. Dann aber stehen diese globalen Verlierer draußen vor den Grenzwällen und StachelStaatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze?

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drähten und blicken neidvoll auf die Glücklichen, die sich drinnen frei bewegen dürfen und im Vergleich zu ihnen im Wohlstand leben. Manuela Boatca˘ beschreibt dementsprechend die Doppel-­Funktion der Staatsbürgerschaft44: Aus der Innenperspektive der klassischen Moderne stellte die Staatsbürgerschaft als Folge der Französischen Revolution ein Charakteristikum moderner Gesellschaften und einen Fortschritt gegenüber dem Feudalismus dar. Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz sollte soziale Ungleichheiten zumindest abfedern. Im Gegensatz dazu steht die heutige globale Außenperspektive: Der Zugang zur Staatsbürgerschaft wird im Sinne eines Prozesses sozialer Schließung inklusiv nur nach innen verstanden. Staaten erteilen die Rechte nur an diejenigen, die als Bürger definiert werden. Diese Gemeinschaft bleibt dadurch exklusiv gegenüber den einwanderungswilligen Nicht-Bürgern. Praktisch alle Staaten haben ihren Zugang zur Staatsbürgerschaft begrenzt nach einem von zwei Prinzipien: Entweder nach dem Territorialprinzip (Ius soli), wofür die Geburt auf dem Staatsgebiet entscheidend ist, oder aber durch das Abstammungsprinzip (Ius sanguinis). In den letzten Jahrzehnten der Globalisierung aber entstand ein Schlupfloch jenseits von Ius solis und Ius sanguinis: Diese geheime Pforte öffnet sich allerdings nicht für die verzweifelten Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika, sondern ausschließlich für Mitglieder der globalen Wirtschaftselite. Jetzt gibt es einen dritten Weg der »Staatsbürgerschaft durch Investition«, von Boatca˘ ironisch als Ius pecuniae bezeichnet. Internationale Consultant-Firmen haben für global tätige Geschäftsleute und für Angehörige der durch Korruption reich gewordener Eliten ausgebeuteter Länder das Programm einer »Premium-Staatsbürgerschaft« entwickelt. Dieses Modell wurde zuerst von kleinen Karibik-Inselstaaten angeboten, jetzt aber als Folge der Wirtschaftskrise auch von EU-Staaten wie Ungarn, Rumänien oder Malta: In einem Prospekt der politischen Beratungsfirma Henley & Partners wird für einen solchen »Pass eines kleinen friedlichen Landes« geworben als lebensrettende Maßnahme in Zeiten von politischer Unruhe, Bürgerkrieg und anderen unangenehmen Situationen. »Daher 50

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betrachten viele international tätige Geschäftsmänner einen Zweit-Pass als beste Lebensversicherung, die durch Geld erkauft werden kann.«45 Für reiche Menschen gilt also heute: Heimat, eine zweite Heimat kann ich mir kaufen … Kein Wunder, dass sich die Modernisierungsverlierer innerhalb der EU auch dadurch wieder – aus ihrer Innenperspektive berechtigt – bedroht fühlen durch einen Zangengriff von kosmopolitischen Wirtschaftseliten und Migranten. Beide Gruppen sind nach Logik ihrer Kritiker gleichgültig gegenüber lokalen Traditionen, sind nicht heimatverbunden – haben aber sichtlich die Möglichkeit, die oft als letztes Vorrecht betrachtete Staatsbürgerschaft zu erlangen. Hier beginnen dann die Narrative vom »Asylbetrug« oder der geplanten Einbürgerung ganzer ungewollter neuer Bevölkerungsgruppen.

Populärkultur als Identitätsstütze: Der deutsche Heimatfilm In den Fünfzigerjahren strömten in Deutschland und Österreich Hunderttausende in die Kinos, um Filme zu sehen mit Titeln wie »Grün ist die Heide« oder »Der Förster vom Silberwald«. Schon von der zeitgenössischen Kritik wurden diese Filme als Eskapismus und Kitsch für ein Massenpublikum geschmäht, aber sie fanden ihre Zuschauer. Denn im Kino konnten die Menschen die Nazi-­Gräuel und ihre Demoralisierung in den zerbombten Städten vergessen. Für Intellektuelle freilich waren solche Filme damals wie heute ein trivialer Tiefpunkt der deutschen Filmgeschichte. Die Formel dieses Genres war schlicht, die Plots einfach gestrickt. Aber es gab garantierte Schauwerte durch schöne Landschaften, die von kauzigen, aber liebenswerten Menschen bewohnt wurden. Und diese Menschen waren (im Gegensatz zum Kinopublikum in den Städten) tief verwurzelt in ihrer Heimat. Die Filme erzählten meist eine romantische Liebesgeschichte mit Happyend: Die jungen Liebenden fanden nach anfänglichen Schwierigkeiten zueinander, oft konnte auch der Mann durch die Liebe der naturbelassenen »guten« ländlichen Frau wieder zurückerobert werden von einer verführerischen Femme fatale aus der Stadt. Entscheidend für den immensen Publikumserfolg dieser Filme war wohl auch das Identifikationsangebot durch die konStaatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze?

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sequente Ausblendung sowohl aktueller sozialer Probleme als auch der Nazi-Vergangenheit. Ein österreichisches Mini-Subgenre waren die »Sissi-Filme« mit ihrer Verklärung der imperialen Größe Österreichs, verzuckert durch die schöne junge Romy Schneider. All diese Filme bedienten eine Vorstellung von der Heimat als Unschuld, von lebendiger, gleichzeitig aber unveränderbarer Tradition. Heimat war hier geographisch bestimmt als moralisch positives Gegenbild zur gefährlichen, weil allzu modernen Großstadt. Heimat wurde hier aber auch gezeichnet als Bild eines fast paradiesisch anmutenden Lebensraums frei von jeglicher Politik, frei auch von sonstigen tieferen oder gar unlösbaren Konflikten. Es war eine Einladung an das Publikum zur Idealisierung frei von jeglicher Ambivalenz – ein Wunschbild der Verschmelzung ohne jede Differenz – so wie die idealisierte Kindheit vor jeglicher Sexualität oder Aggression. Aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive kann man diese Filme als moralischen Flankenschutz für die ökonomische Erfolgsgeschichte des Wirtschaftswunders der Fünfzigerjahre sehen: Die idyllische Darbietung unzerstörter Landschaften bietet die Illusion eines ewigen Deutschland jenseits aller Nazi-Barbarei. Etwas unauslöschlich Gutes in der Einheit von Natur und Mensch war geblieben. Mit diesem »Guten« ist hier weder das »andere Deutschland« des Widerstandes gegen die Nazis gemeint noch das so oft bemühte Bild des »geistigen Deutschland«: Die Höhen deutscher Kultur hatten den absoluten Kulturbruch nicht verhindern können. Aber dahinter gab es – so die Botschaft dieser Filme – einen stillen, gefühlsmächtigen Rückzugsraum, der auch vom Faschismus kaum beeinträchtigt worden sei: Es ist dies das Reich einer stillen, harmonischen Dorfgemeinschaft, die Sehnsucht nach der schönen Landschaft der Kindheit – sei dies nun die grüne Heide, die stolzen Alpengipfel oder der deutsche Wald. Nach diesen Orten durfte man sich (jetzt wieder) zu Recht sehnen, dort durfte man Heimatgefühle empfinden. Es war ein auch für das Massenpublikum wirkmächtiges Bild eines ewigen Deutschland – gerade nicht durch gotische Dome, die Werke von Johann Sebastian Bach oder Goethe, sondern durch Bilder von Alpengipfeln und deutschen Wäldern, durch Harmonie in Gemeinschaft und Natur. 52

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Wohl kaum ein Zuschauer hätte dies damals wohl so formuliert – gespürt aber hat wohl jeder und jede von ihnen Ähnliches, nämlich ein Grundgefühl von beruhigender Identitätsstützung für eine geschlagene, zutiefst gedemütigte Nation. So konnte man leichter vergessen, dass noch wenige Jahre davor »Heimat« im deutschen Kino ganz anders – aber emotional ebenso aufgeladen – präsentiert worden war. Noch heute kann sich jeder durch Ansicht eines dreiminütigen Filmclips auf Youtube einen Eindruck davon verschaffen, wie grausam die Sehnsucht nach Heimat von der Kulturindustrie des Nazi-Deutschlands funktionalisiert und missbraucht wurde: 1941 drehte Gustav Ucicky den Film »Heimkehr«, der nach 1945 als einer der schlimmsten Propagandafilme der Nazis bezeichnet wurde. Dieser Film beschreibt grausam genau die Mechanismen des Nazi-­Terrors – allerdings mit dem perfiden Unterschied, dass dieser Terror im Film in den Jahren vor 1939 von den Polen gegen die dort lebende deutsche Minderheit ausgeübt wird. Die Hauptrolle in diesem Film über den Leidensweg der Wolhynien-Deutschen spielte der Star des Wiener Burgtheaters, Paula Wessely, einer der höchstbezahlten Filmstars im Nazi-Kino und ein besonderer Liebling sowohl von Hitler als auch von Goebbels. Der Monolog der Wessely am Ende des Filmes wurde damals von den meisten Zuschauern als emotionaler Höhepunkt des Streifens empfunden: Eingekerkert von den Polen und angesichts des sicheren Todes versucht sie ihre Mitgefangenen aufzurichten. Immer schwärmerischer und visionärer spricht sie von ihrer Vision einer Zukunft in Deutschland. Dort würden alle als freie Menschen leben können »und alles rundherum nur deutsch, kein jiddisches Wort …« Unmittelbar nach dieser Szene endet der Film mit der Befreiung der Gefangenen in letzter Minute durch die deutsche Wehrmacht im September 1939. In den allerletzten Bildern sehen wir dann einen Planwagen-Treck die Grenze von Polen nach Deutschland überschreiten. Unter anschwellender Streichermusik (gespielt von den Wiener Philharmonikern) ragt als letztes Bild eine Hitlerbüste am Grenzstein auf. Es ist nur allzu verständlich, dass dieser Film als Legitimationsversuch für den deutschen Einmarsch in Polen empfunden wurde. Kein WunStaatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze?

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der also, dass für viele nach 1945 das Wort »Heimatfilm«, ja schon der Begriff von Heimat, überhaupt zutiefst kontaminiert war. Das von den Nachkriegsheimatfilmen vermittelte schlichte Bild einer harmonischen Welt wurde spätestens ab Mitte der Sechzigerjahre vor allem von jüngeren und kritischeren Zuschauerinnen und Zuschauern als besonders reaktionär-peinliche Abteilung von »Papas Kino« empfunden. Als Reaktion gab es dann in den Siebzigerjahren auch die Gegenbewegung der kritischen Heimatfilme (mit den berühmten Beispielen von Herbert Achternbusch, Rainer Werner Fassbinder, Martin Sperr). Danach kamen in Deutschland die monumentalen Fernseharbeiten von Edgar Reitz und die in Österreich legendäre Fernsehserie »Alpensaga«. Für heutige junge Filmemacher ist dies alles bereits ferne Geschichte: Sie können mit den Versatzstücken des kitschigen Heimatfilms von vorgestern bereits entspannt und ironisch umgehen – wie z. B. der junge Bayer Thomas Kronthaler mit seinem Überraschungserfolg »Die Scheinheiligen«.

Ein Heimatfilm als Hollywood-Welterfolg: The Sound of Music Obwohl der Heimatfilm vielleicht das einzige Filmgenre ist, das im deutschen Sprachraum erfunden wurde, schaffte ein Film aus Hollywood den einzigen Welterfolg in dieser Sparte. Der Film »The Sound of Music« wurde seit seiner Uraufführung 1964 in Amerika ein einzigartiger Erfolg und ist es bis heute geblieben. Von der Filmkritik wurde er verachtet und oft genug vernichtet: Die bedeutende Filmkritikerin Pauline Kael sprach von unerträglichem Kitsch. Der Film sei so schrecklich süß, dass man Diabetikern vom Besuch abraten sollte … Trotzdem erhielt der Film fünf Oscars – inklusive der Auszeichnung als »Bester Film«. Vielleicht bei keinem anderen berühmten Spielfilm des 20. Jahrhunderts ist die Diskrepanz zwischen der einhelligen Verachtung seitens der Kritik und seinem überragenden Publikumserfolg bis heute so groß. Auch heute kennt praktisch jede junge US-Amerikanerin und jeder junge US-Amerikaner den Film, ist mit ihm aufgewachsen. Für viele Familien gehört es zu den lieb gewordenen Ritualen, einmal jährlich, meist in der Weih54

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nachtszeit gemeinsam und gerührt diesen Film im Fernsehen anzuschauen. Dieser Film, der Weg des Narrativs von der Trapp-Familie über den Atlantik und wieder zurück scheint mir ein beeindruckendes Beispiel für die Konstruktion bzw. Verzerrung kollektiver Identitäten und Bilder durch ein Produkt der Populärkultur.

»The Sound of Music«: Erfolgreiches Narrativ einer erfundenen Heimat »The Sound of Music« beruht auf der Autobiographie der in den USA berühmt gewordenen Maria von Trapp. Sie wurde bekannt als Leiterin der »singenden Trapp-Familie«, eines A capella-Familien-Chores. Der Erfolg des in den USA 1949 erschienenen Buches aber beruhte wohl auch auf der rührenden Aschenputtel-Geschichte: Die junge Maria lebte in den Dreißigerjahren in Salzburg als Novizin in einem Nonnenkloster. Als ein tief gläubiger verwitweter Adeliger die Äbtissin bat, ihm eine der Nonnen als Gouvernante für seine große Kinderschar zu schicken, wurde Maria ausgewählt. Sie eroberte durch ihr sonniges Wesen und ihre Liebe zur Musik die Herzen der Kinder im Sturm  – und wurde dann auch zur Frau des fünfundzwanzig Jahre älteren Georg Ritter von Trapp. Das Happyend blieb aber ein vorläufiges, denn die Familie Trapp musste nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland aus Salzburg fliehen, weil die Nazis den Ritter von Trapp als U-Boot-Kommandanten wieder in Dienst stellen wollten. Das aber konnte er aus Liebe zum untergegangenen österreichischen Kaiserreich und als gläubiger Katholik nur strikt verweigern. Nach ihrer Emigration wurde die verarmte Familie in Amerika durch ihre Konzerte rasch bekannt, es erfolgten triumphale Tourneen, die Autobiographie der Maria von Trapp und die Verfilmung dieser rührenden Erfolgsgeschichte, die (fast) Realität gewesen war. Anfang der Sechzigerjahre waren Musical-Verfilmungen in Hollywood sehr populär. »West Side Story« und »My Fair Lady« hatten Millionen eingespielt und jeweils mehrere Oscars gewonnen. Julie Andrews war 1964 durch das Musical »Mary Poppins« berühmt geworden und spielte im Jahr darauf auch die Rolle der Maria von Staatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze?

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Trapp. Durch ihre Ausstrahlung und vor allem durch die Melodien des Musical-Dreamteams Richard Rodgers und Oscar Hammerstein wurde der Film zum letzten großen Erfolg des Hollywood-Musicals. Es war eine Geschichte ganz nach dem Herzen der konservativeren Amerikaner. Hier gab es den edlen Kriegshelden, der allerdings als Vater etwas überfordert war. Es gab vor allem die Mutter als Zentrum und Herz der Familie und eine Kinderschar, die begeistert gemeinsam mit den Eltern musizierte. Und als Zugabe noch die dramatische Flucht all dieser guten Menschen vor den Nazi-Schergen. Dass Maria von Trapp im Buch ihre Biographie und das Bild von Österreich in der Zwischenkriegszeit deutlich geschönt hatte, störte niemanden. Denn so wie alle Nationen imagined communities sind, so wird auch in »The Sound of Music« von amerikanischen Künstlern in Hollywood ein ersehntes Bild von Heimat imaginiert, ja konstruiert – und zwar weitgehend unabhängig von den Fakten bzw. fast schon kontrafaktisch. Spannenderweise aber stammt diese Erzählung aus einem anderen Land, was damals wahrscheinlich den phänomenalen Erfolg des Filmes noch beförderte. Vielleicht konnte das Salzburg von 1938 deshalb zum Sehnsuchtsort eines konservativen Amerika der späten Sechzigerjahre werden, weil der Film suggerierte, dass dort »in the last days of the golden thirties« die Welt noch in Ordnung gewesen sei. Das stand im Gegensatz zur aktuellen Lebenswelt des Amerika von 1965, in dem der konservativere Teil der Bevölkerung den American way of life durch den »inneren Feind«, durch die Hippies und Studenten so gefährdet sah wie in Salzburg 1938 die Nazis das Glück der Trapp-Familie bedroht hatten. Es ist das Amerika in den Jahren nach der Ermordung John F. Kennedys und vor Woodstock und den militanten Studenten von 1968. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg waren bereits aufgeflammt und die Einstellung zu diesem Krieg war die Bruchlinie, die auch damals schon die United States of America in »divided States of America« verwandelte (wie es Jahrzehnte später Barack Obama beschrieb). Für die konservative silent majority im ländlichen und vorstädtischen Amerika wurde damals Maria von Trapp ein beliebtes Role Model als Über-Mutter und Verkörperung familiärer Werte. 56

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Und deshalb – so meine These – änderte aller Hohn der Kritiker in den Jahrzehnten seither nichts an diesem so genial erfundenen Bild eines wunderschönen Österreich mit Alpengipfeln im Abendrot und einfachen, gläubigen Menschen – und den durch die Trapp-Familie so erfolgreich in die USA exportierten (fiktiven!) Volksliedern. Noch heute sind Millionen Amerikaner davon überzeugt, dass es sich beim hochgradig sentimentalen Lied »Edelweiß« natürlich um die österreichische Bundeshymne handeln muss! Und niemand von ihnen kann verstehen, warum in Österreich kein Mensch den legendären Opener, das Lied »Over all the hilltops I hear …« kennt. Der Erfolg des Filmes in den USA scheint mir psycho-historisch schlüssig. Hier wurde den verunsicherten US-Amerikanerinnen ein identitätsstützendes Angebot gemacht. Es verleugnete die damals in den späten Sechzigerjahren aktuelle Realität des amerikanischen Einmarsches in ein wehrloses kleines Land – nämlich Vietnam. Stattdessen konnte man im Kino sehen, wie böse Nazis in das wehrlose kleine Österreich einmarschierten. Die guten Österreicher wünschten sich deshalb ein Leben im gelobten Land Amerika. Und diese dankbaren Migranten der Trapp-Familie konnten als Einwanderer den American way of life noch wirklich schätzen, ganz im Gegensatz zu den aufrührerischen Schwarz-Amerikanern in den Ghettos, den Wehrdienstverweigerern oder den ersten Feministinnen. Die silent majority konnte sich also in ihrer moralischen Position durch diesen Film bestätigt fühlen, in ihrer Identität bestätigt und gestärkt. Diese Verzerrung der amerikanischen und der österreichischen Geschichte diente also sowohl den Amerikanern als auch später den Österreichern, denen sie in den USA ein unverdient positives Image als Nation im Widerstand gegen die Nazis bescherte. Daran änderte auch Spott wie der des Kulturwissenschaftlers Reinhold Wagnleitner nichts, der über den Film schrieb: »The sound of forgetting meets the United States of Amnesia«.46 Die damals entscheidende Botschaft war wohl, dass der American way of life nicht so schlecht sein konnte wie seine Kritiker behaupteten – sonst würden doch so noble Menschen wie die Trapp-­ Familie ihre geliebte Heimat nicht verlassen, um in den USA Freiheit und Glück zu finden. Staatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze?

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Bis heute ist Maria von Trapp mit ihrer Familie in den USA und auch weltweit (außer eben in Österreich und Deutschland) eine Ikone der Populärkultur geblieben. Die Vorstellung, dass man eine geliebte Heimat verlieren, aber ins Exil mitnehmen kann dadurch, dass man im Ankunftsland ein schönes Bild eben dieser Heimat popularisiert – diese Vorstellung ist sehr verlockend. Deshalb gibt es in den USA, aber auch in Japan an vielen Orten regelmäßige »Sing along«-Vorstellungen des Films, wobei das Publikum im Dirndl-Outfit alle Songs begeistert und auswendig mitsingt. Eine Ironie der Rezeptionsgeschichte besteht übrigens darin, dass »The Sound of Music« sich auch in der Schwulenszene höchster Beliebtheit erfreut, was die erzkatholische Maria von Trapp wohl befremdet hätte. So stand auch der in der Gay-­Community beliebte »Life Ball« in Wien 2018 unter dem Motto »The Sound of Music«. Im offiziellen Promotionfoto sah man die durch ihren Eurovisions-Songcontest-Sieg berühmt gewordene bärtige Frau Conchita Wurst verkleidet als Maria von Trapp – in der ikonischen Pose der Julie Andrews und im züchtigen Schürzenkleid. Aber auch der angesichts dieses Welterfolges so verblüffende Misserfolg von »The Sound of Music« in Deutschland und Österreich scheint für mich aus demselben identitätspolitischen Blickwinkel erklärbar: An der Story kann es nicht gelegen sein, denn schon vor »The Sound of Music« wurde die Geschichte der Trapp-Familie in Deutschland erfolgreich verfilmt (mit Ruth Leuwerik als Maria und Hans Holt als Georg von Trapp). Die Botschaft des amerikanischen Filmes aber wirkte damals bei uns eher identitätsstörend, gefährdete die gerade erst wieder mühsam erreichte neue Balance des Wirtschaftswunders und der politischen Harmonie. Denn eine der Bedingungen für den Erfolg der »einheimischen« deutschen Heimatfilme war, dass dort Politik völlig ausgespart blieb und Konflikte (wenn überhaupt) nur zwischen Generationen entstanden, aber ohne allzu große Schwierigkeiten unter aufrechten und ehrlichen Menschen durch die Kraft der Liebe und die gemeinsame Liebe zur Heimat lösbar waren. Deshalb waren die Bilder vom Einmarsch der Nazis 1938 in »The Sound of Music« für die deutschen und österreichischen Zuschauer unangemessen, ja fast peinlich – so etwas wollte man gerade in einem Heimatfilm nicht 58

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sehen! Es half nicht einmal, dass in den ersten Jahren nach der Premiere »The Sound of Music« im deutschen Sprachraum um ein Drittel gekürzt wurde. Hier endete der Film abrupt mit der Hochzeit des glücklichen Paares, die letzten vierzig Minuten mit der dramatischen Flucht wurden schlicht weggeschnitten. Trotzdem kennt heute in Österreich so gut wie niemand den Film. Selbst in Salzburg, wo der Film in vielen Hotels im Kabelfernsehen in Endlosschleife 24/7 gezeigt wird, hat kaum ein Einheimischer den Streifen gesehen. Und dies, obwohl täglich hunderte Amerikanerinnen und Ostasiaten im Rahmen spezieller »Sound of Music-Tours« die Drehorte besichtigen. Laut Einschätzung des Salzburger Touristik-Büros zieht Salzburg als Drehort von »The Sound of Music« viel mehr Touristinnen und Touristen an als durch den Mozart-Mythos. Bei der Rezeptionsverweigerung des Filmes in Österreich kam bis vor wenigen Jahren noch ein entscheidender Faktor dazu: Emigranten, Flüchtlinge vor der Nazi-Herrschaft wie die Trapp-Familie waren keine populären Role Models. Ihnen wurde eher unterstellt, dass sie die schweren Kriegsjahre hier nicht erlebt hatten und deshalb zu diesem Thema am besten schweigen sollten. Oft genug wurden sie auch nicht gerade ermutigt zur Rückkehr, wie auch Maria von Trapp beklagte. Diese Emigranten waren für die allermeisten Österreicher eben keine »Heimatvertriebenen«. Mit diesem Wort bezeichnete man damals die Sudetendeutschen, die aus der ehemaligen ČSSR vertrieben wurden und sich in Deutschland und auch in Österreich niederließen. Auch für deren Heimatsehnsucht, auch für die konservative Politik der Vertriebenenverbände war der Begriff von Heimat und von Sehnsucht nach der verlorenen Heimat zentral. Und spätestens hier fällt einem wieder der schreckliche Nazi-Film »Heimkehr« ein, der durch die Schauspielkunst Paula Wesselys so wirkungsvoll geworden war. Die unbezahlte und vor allem unbezahlbare Image-Werbung, das Bild von Österreich als einer Nation von aufrechten katholischen und heimatliebenden Menschen, die beim Anschluss 1938 verzweifelt waren und den Widerstand planten, dieses durch »The Sound of Music« in den USA erzeugte Bild allerdings nahmen die Österreicher dankend an. Es entsprach durchaus dem in Österreich so lange dominierenden Staatsbürgerschaft als letzte Identitätsstütze?

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Narrativ des Landes als »Hitlers erstes Opfer«, das sogar in der Moskauer Deklaration von 1943 festgeschrieben wurde. Diese Schönfärbung wurde erst 1986 erschüttert durch die emotionale und erbitterte Auseinandersetzung um die Nazi-Vergangenheit des Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim. Im Streit um die Deutungshoheit bezüglich seiner Vergangenheit, seiner Rolle als Wehrmachtsoffizier auf dem Balkan wurde eine ganze Generation junger Österreicherinnen und Österreicher politisiert. Diese Kämpfe um ein historisch realistisches Narrativ führten immerhin dazu, dass Österreich spät, aber doch, auch seine Täteranteile in der schrecklichen Zeit der Nazi-Herrschaft anerkennen konnte bzw. musste. Die Rezeption (besser gesagt: die Nicht-Rezeption) von »The Sound of Music« speziell in Österreich scheint mir ein populärkulturelles Beispiel für ein allgemeines Phänomen zu sein, das wohl jeder aus seinem Privatleben kennt. Wenn uns von einem Mitmenschen, sei dies nun unser Therapeut oder auch ein wohlmeinender Freund, erklärt wird, dass ein Ereignis unseres Lebens doch ganz besonders schön oder schrecklich gewesen wäre, dann regt sich fast automatisch der Widerstand dagegen, dass uns hier jemand vorschreiben möchte, welche Gefühle wir zu empfinden hätten. Niemand lässt sich gerne vorschreiben, wodurch er gerührt oder berührt wird – und in Österreich schon gar nicht von den Amis. Denn unsere Bilder, unsere Wunschbilder und Klischees – letztlich also wesentliche Teile unseres Ich-Ideals – diese Imagines wollen wir schon selbst erzeugen. So auch unsere inneren Bilder von Heimat, die abgestützt oder kontrastiert werden durch Bilder von anderen Ländern und Nationen. Eines dieser Zerrbilder war noch in meiner Jugend ein Klischee vom »primitiven« Amerikaner. Nach diesem Narrativ hatten die USA zwar die militärische und auch ökonomische Macht in der Welt, aber unsere Kultur hatten sie eben nicht. Dazu noch eine autobiographische Randbemerkung zum Verhältnis von Heimat, Heimweh und »The Sound of Music«: 1972 verbrachte ich einige Monate als Austauschschüler in den USA. Der Sohn meiner Gastfamilie war davor bei uns in Österreich und meine Eltern waren sehr befremdet über sein völliges Desinteresse 60

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an jeglicher österreichischer Kunst oder Kultur – sei dies nun klassische Musik, Barockschlösser oder Wiener Jugendstil. Aber er wollte unbedingt nach Salzburg fahren und wir waren schon gerührt von seinem Interesse für W. A. Mozart. Es stellte sich aber heraus, dass ihn Salzburg nur wegen »The Sound of Music« interessierte – während wir keine Ahnung von der Existenz dieses Films hatten. Umgekehrt lud mich am allerletzten Abend meines Aufenthaltes in Dayton/Ohio die Gastfamilie zu einem Überraschungskinobesuch ein: Es wäre ein Film, der mir wohl besonders gefallen müsste. Natürlich sahen wir »The Sound of Music«, den alle außer mir bestens kannten. In den ersten Minuten war ich damals froh, dass es im Kino schon dunkel war. Der Film beginnt mit wunderschönen Luftaufnahmen des Salzkammergutes und nach langer Abwesenheit von daheim spürte ich (höchst peinlich berührt), wie mir die Augen feucht wurden … Obwohl ich den Film als entsetzlich kitschig empfand, hat er also auch mir ein emotionales Erlebnis von Heimatsehnsucht beschert. Und peinlicherweise konnte ich auch noch Jahrzehnte danach einige der Melodien summen oder pfeifen, obwohl ich die Musik als zuckersüß und unangenehm in Erinnerung hatte.

Der Weltbürger: Vom philosophischen Ideal zum Lieblingsfeind der Gegenwart? Unter dem Begriff des Kosmopoliten verstand man bis vor kurzem nicht Geschäftsleute, die zwischen den Kontinenten hin und her jetten, sondern kultivierte und daher tolerante Philosophen. Der Begriff des Weltbürgers hat eine jahrtausendlange ehrwürdige Tradition. Wahrscheinlich wurde er erstmals im vierten vorchristlichen Jahrhundert von den griechischen Kynikern gebraucht: Sie bezeichneten sich als »Bürger des Kosmos« und unterstrichen dadurch ihre Ablehnung der auch damals gebräuchlichen Meinung, dass jeder Mensch nur einer von vielen Gemeinschaften angehören könne. Der Kosmos war für sie das grenzenlose Gegenbild zur beengenden Heimat der Polis, des Stadtstaates. Diogenes antwortete auf die Frage, aus welchem Land er komme: »Ich bin ein Bürger der Welt …«.47 Der Weltbürger

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Aus anthropologischer Sicht kann man das kosmopolitische Konzept als Versuch beschreiben, die Frage nach einem moralisch korrekten Verhalten in immer größer werdenden Gemeinschaften zu regeln, weil die Verhaltensweisen der kleinen frühen Gruppen der Jäger und Sammler längst nicht mehr zur Regelung des Zusammenlebens ausreichten. Die kosmopolitische Einstellung war auch bei den griechischen Intellektuellen ein Elitenprojekt, weil diese Weltbürgerschaft aus ihrer Sicht nur für freie Bürger von griechischer Abkunft galt und beileibe nicht für Sklaven oder Barbaren. Eine vergleichbare partikular-kosmopolitische Position finden wir auch bei den Philosophen der römischen Stoa wie Seneca oder Epiktet. Sie betonen die Gleichheit aller männlichen römischen Bürger vor dem Gesetz – ungeachtet der ethnischen Herkunft dieser Menschen. Eine für antike Verhältnisse geradezu extrem demokratische Ausformung einer potentiell weltumspannenden Gleichheit über die Grenzen von Ethnien und bürgerlichen Freiheitsgraden hinaus bot dann das Christentum: Ob Jude oder Römer, Mann oder Frau, ja sogar Sklave oder freier Bürger – alle Gläubigen sollten »eins sein in Christus« wie Paulus im Galater-Brief schreibt (III,28). Auch hier allerdings bleiben alle Ungetauften, alle Heiden natürlich außerhalb dieser egalitären Glaubensgemeinschaft. Die ersten wirklich weltumspannenden kosmopolitischen Grundsätze ohne Exklusion irgendwelcher Menschen wurden mit dem Siegeszug der europäischen Aufklärung (zumindest in der Theorie) erstmals wirksam formuliert und auf politischer Ebene in Frankreich mit der Erklärung der Menschenrechte 1789 dekretiert. Aber bereits im folgenden 19. Jahrhundert wurden mit dem aufkommenden Nationalismus die Gegenpositionen einer Loyalität zum Vaterland, einer Verwurzelung in der Heimat immer mächtiger. Spätestens in den ersten Kriegstagen 1914 wurde das völkerumspannende und Nationen transzendierende Elitenprojekt des aufgeklärten Bürgertums ebenso zu Grabe getragen wie die Solidarität der Sozialistischen Internationale, die davon träumte, »die Welt zur Heimat zu machen« (so das Ideal des Marxismus zumindest nach Ernst Bloch)48. Die Warnung des russischen Nationaldichters Leo Tolstoi vor der Torheit des 62

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Patriotismus war vergebens geblieben: »Wer den Krieg ausrotten will, der muss den Patriotismus ausrotten.«49 Nach zwei Weltkriegen und ihren schrecklichen Folgen wurde die supra-nationale Einstellung eines Kosmopolitismus wieder zum Leitbild in Zeiten des Kalten Krieges. Im Westen unter dem Signum der Freiheit, im damals kommunistischen Osten unter dem Banner des Internationalismus. Allerdings wurden auch damals unliebsame Intellektuelle durchgehend als heimatlose Gesellen und daher als Vaterlandsverräter verfolgt und im Stalinismus zu Tausenden ermordet, in den USA von Joseph McCarthy als unpatriotische Kommunisten diffamiert. Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es 1989 wieder Hoffnung auf die Möglichkeit eines Weltbürgertums nach dem angeblichen Ende der Geschichte. Spätestens aber nach den Anschlägen des 11. September 2001 war auch diese Hoffnung wieder vergangen und die Schlachtordnungen für einen neuen Kampf der Kulturen formierten sich wieder. Überraschenderweise wurde wenige Jahre nach den Ereignissen des 11. September ein populärphilosophisches Buch zum Thema ein Bestseller: Kwame Anthony Appiahs »Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums«. Gerade in Zeiten von Terror und fundamentalistischen Bewegungen weltweit betont Appiah die Wichtigkeit des Gemeinsamen, des miteinander Geteilten für alle Menschen in einer einzigen gemeinsamen Welt. Appiah kann dieses Ideal nicht nur beschreiben, sondern auch überzeugend verkörpern: Er wuchs auf als Sohn einer englischen Mutter aus einer berühmten Intellektuellenfamilie. Sein afrikanischer Vater war ein Abkömmling eines AshantiKönigs­geschlechtes. Der Sohn wuchs in Ghana auf, lebt seit Jahrzehnten als Philosoph und politischer Publizist in den USA, bekleidete Professuren an Universitäten wie Yale, Harvard und Princeton. Kein Wunder also, dass es ihm ein Anliegen ist, in einem Klima des politischen Kampfes der Kulturen ein Plädoyer für eine kosmopolitische Geisteshaltung zu schreiben. Er empfiehlt die kosmopolitische Einstellung nicht nur aus moralischen, sondern auch aus pragmatischen Gründen. Durch die globale Vernetzung und das Internet erfahren wir so viel wie nie zuvor über das Leben der Menschen auch am anderen Ende der Welt: Der Weltbürger

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»Die Herausforderung besteht darin, das über Jahrtausende eines Lebens in kleinen, lokalen Gruppen geformte Denken und Fühlen mit Ideen und Institutionen auszustatten, die uns ein Zusammenleben in dem globalen Stamm erlauben, zu dem wir geworden sind.«50 Durch millionenfache Migration gibt es laut Appiah die weitgereisten polyglotten Menschen heute nicht nur unter den Reichen und Gebildeten, sondern auch in den schäbigen Vorstädten und Flüchtlingsquartieren. Kosmopolitismus sei also nicht nur als erhabene Fähigkeit zu verstehen, er beginne schon mit dem einfachen Gedanken, dass wir in jeder menschlichen Gemeinschaft Bräuche für das Zusammenleben, für Umgang und Geselligkeit entwickeln müssten.51 Dabei aber ist heute jeder auf die Hilfe von Fremden und auf die Zusammenarbeit mit ihnen angewiesen. Daher ist eine Grundeinstellung zu empfehlen, die die Welt nicht aufteilt zwischen The west and the rest oder zwischen Einheimischen und Fremden. Jenseits von »Multikulti« oder sentimentaler Humanität bleibt uns laut Appiah die »goldene Regel« als Grundgesetz eines respektvollen Gesprächs und Umgangs miteinander. Er hat sie weltweit gefunden, sei es im indischen Mahabharata, im Matthäus-Evangelium oder in den Gesprächen des Konfuzius. Denn die Summe der Pflichten sei: »Tue anderen nichts an, was dir Leiden bereitete, wenn man es dir antäte.«52 Der Autor empfiehlt also einen bescheidenen Kosmopolitismus und beileibe kein eurozentristisches Auftrumpfen. Appiahs Buch erschien 2006 und wurde auch nach der Übersetzung ins Deutsche 2007 oft zitiert und positiv rezensiert – so auch in der liberalen »Zeit«. Elf Jahre später aber finden wir auf der Titelseite eben dieser »Zeit« die Schlagzeile vom »Kosmopoliten als neuem Lieblingsfeind der Gegenwart.« Was ist hier passiert? Laut dem Autor der Titelgeschichte Adam Soboczynski würde diese Elite einer urbanen Akademikerklasse von links und von rechts verachtet und verhöhnt. Diese Weltbürger werden als egoistische und arrogante Nutznießer der Globalisierung empfunden, die aufgrund ihrer exzellenten Ausbildung überall auf der Welt gesuchte Arbeitskräfte sind, sich aber auch nirgends zugehörig oder gar heimisch fühlen außer im Umgang mit 64

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ihresgleichen. Diesen heimatlosen Gesellen wird dann als Gegenbild der edle Verlierer, der brave abgehängte klassische Industriearbeiter gegenübergestellt, der sich voller Heimweh nach seinem Job in der längst wegrationalisierten Fabrik sehnt. Zumindest im Feuilleton gibt es den Kosmopoliten als positive Figur fast nur noch als Sub-Typus des Weltbürgers wider Willen, des Vertriebenen, des Flüchtlings. Im besten Fall kann dieser aus der Not der Heimatlosigkeit die melancholische Tugend des Weltbürgertums machen. Ein beeindruckendes Beispiel dafür bietet für mich der wahrhaft internationale Autor Ilija Trojanow. Er bemerkt dazu lakonisch: »Wer nirgendwo dazugehört, kann überall heimisch werden …«.53 Für eine solche souveräne Haltung ist dem Migranten dann unser Mitleid und auch unsere Bewunderung sicher. Denn er hat schon erlebt und ausgedrückt, was für immer mehr Menschen nicht nur eine Option ist, sondern zur Anforderung wurde: »Die selbstgewählte Heimat ist stärker als die, in die man hineingeboren wird …«.54

Jeder soll irgendwo dazugehören – der Weltbürger als »citizen of nowhere«? Der englische Politologe David Goodhart wurde mit seinem Buch »The Road to somewhere« 2017 schlagartig bekannt. Seine binäre Unterscheidung zweier politischer Lager in Großbritannien wurde von zahlreichen Beobachtern als Erklärungsansatz für den überraschenden Ausgang des Brexit-Votums, später aber auch für den Wahlsieg von Donald Trump herangezogen: Goodhart beschreibt eine Trennung, ja einen Kulturkampf zwischen zwei »Stämmen« in England: Er unterscheidet »people from anywhere« und »people from somewhere«. ȤȤ »People from anywhere« sind für ihn die kosmopolitischen, urbanen Weltbürger. Sie sind meist akademisch gebildet, fühlen sich einer Elite zugehörig und sind optimistisch und zukunftsorientiert. Sie definieren ihre Identität nicht aus ihrer Herkunft, sondern aus ihrer »mobile achieved identity«, ihrer selbstgewählten und erreichten Heimat. Sie fühlen sich dem anderen englischen »Stamm« überlegen und blicken mitleidig und leicht verächtlich herab auf die Der Weltbürger

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ȤȤ »people from somewhere«: Diese Menschen sind klar verwurzelt in ihrer Region und meist auch in ihrer gesellschaftlichen Klasse. Sie sind im Schnitt weniger gebildet als die Kosmopoliten, fühlen sich politisch und vor allem kulturell oft marginalisiert oder ökonomisch abgehängt. Ihr Heimatempfinden wird definiert von einer ererbten, unveränderbaren Zugehörigkeit zu einer Region oder einem Clan. Ihre Identität ist daher eine konkrete: Sie definieren sich als nordenglische Hausfrau, schottischer Fischer etc. Den »people from any­ where« stehen sie misstrauisch bis ablehnend gegenüber und fühlen sich von diesen bevormundet und nicht ernstgenommen. Aber nicht nur bei den Ärmeren ist der Kosmopolit ein Feindbild, auch im Bürgertum und bei bürgerlichen Politikern, wo er bis vor kurzem noch positive Resonanz fand, ist dieses Leitbild einer Elite in Verruf gekommen: So äußerte Theresa May schon 2016 abschätzig: »Citizens of everywhere are citizens of nowhere!«. David Goodhart betont trotz seiner Selbstdefinition als Bildungsaufsteiger und damit als »citizen of anywhere« sein tiefes Verständnis für die Ressentiments der »people from somewhere«, die sich von der Elite verraten und an den Rand gedrängt fühlen. Er belegt seine Unterscheidung mit einer Überfülle von Daten und Statistiken, die vor allem den signifikanten Zusammenhang zwischen Bildungsstatus und sozialer Mobilität belegen. Aber auch andere Eigenschaften korrelieren eindeutig mit der Zugehörigkeit zu einem der beiden Stämme: Die Anywheres sind jünger, leben in urbanen Zentren, sind politisch liberal eingestellt und stehen vor allem der Globalisierung und damit auch der Migration positiv gegenüber. Im Gegensatz dazu sind die Somewheres im Schnitt älter, leben am Land oder in Kleinstädten, sind in ihrer politischen Einstellung tendenziell eher autoritär, vor allem aber deutlich ablehnend sowohl gegenüber ökonomischer Globalisierung als auch Migration. All diese soziologischen Faktoren aber können wohl in vielen Einzelfällen nicht hinlänglich erklären, warum der eine sich seinem Herkunftsort, seiner angestammten Heimat zutiefst verbunden fühlt und diese niemals verlassen will, während der andere sozial so mobil 66

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ist, dass er bei der ersten Gelegenheit von daheim auszieht. Meist bleibt er dann in der Großstadt, wo er studiert und davon träumt, in der ganzen Welt zuhause zu sein. In beiden Fällen sind für diese Entscheidung wohl auch höchst individuelle Persönlichkeitsfaktoren und Biographien mitentscheidend. Und eben für diese persönliche Ebene gibt es schon seit langem eine binäre Unterscheidung, ein Gegensatzpaar aus der psychoanalytischen Theoriebildung, das allerdings wenig bekannt ist.

Michael Balint: Philobaten und Oknophile Der ungarisch-britische Psychoanalytiker Michael Balint beschrieb zwei Extremformen dessen, was er in »Thrills and Regressions« (deutsch erst 1972 als »Angstlust und Regression«) als »Grundstörung« oder »basic fault« 1959 definierte. Den meisten ist der originelle Theoretiker und frühe Exponent einer »Two-body psychology« Balint nur als Erfinder des Supervisionsmodells der Balint-Gruppe bekannt. Seine beiden nicht eben glücklich gewählten Kunstworte des Oknophilen gegenüber dem Philobaten konnten sich nicht durchsetzen. Das Wort Philobat setzte er zusammen aus »philos«, Freund bzw. »philein«, lieben und »akrobates« – der auf den Zehenspitzen Gehende. Der Okno­phile hingegen leitet sich ab von »okneo« – zögern, sich anklammern. Balint verstand darunter das Verhalten von Menschen, die man auch als Nesthocker gegenüber den Nestflüchtern beschreiben könnte. Menschen also mit einem Überwiegen der Objektlibido gegenüber anderen mit einer überwiegend narzisstischen Libido-Besetzung. Es muss betont werden, dass beide Varianten für Balint nur extreme pathologische Folgen der von ihm beschriebenen Grundstörung aus der frühen Kindheit darstellen: Nur wer zu wenig Urvertrauen mitbekommen habe, würde im späteren Leben philobatisch oder oknophil reagieren. Die allermeisten Menschen entsprechen laut Balint »Mischformen« irgendwo dazwischen, weil sie in der Regel einzelne Züge von beiden Extremen in sich tragen würden. Der Philobat zeichnet sich nach Balint aus durch seine Angst vor jeder Einschränkung und Bindung, durch seine Sehnsucht nach »mögDer Weltbürger

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lichst objektlosen Weiten«, er zeigt weniger Bindungsverhalten als vielmehr starken Drang zur Exploration der Außenwelt. In der Außensicht erscheint er als risikofreudig, er sucht den »Thrill« (auf Deutsch: Angstlust). Demgegenüber hat der Oknophile primär Angst davor, in der weiten kalten Welt alleingelassen zu werden. Bei ihm dominiert das Verlangen nach möglichst enger Bindung, sein Explorationsbestreben hält sich in Grenzen. Das befähigt ihn zu einer hohen Objektkonstanz, erschwert aber die Umstellung nach Trennungen oder Änderungen der Lebenssituation. Andere Menschen erleben ihn als risikovermeidend, ängstlich und immer auf der Suche nach möglichst permanenter Sicherheit.55 In einem Versuch, Balints Kategorien des Oknophilen und Philobaten auf unsere aktuelle politische Situation anzuwenden, könnte man Folgendes behaupten: Nach 1945 bis in die Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts hinein entsprach in Europa der eher selbstunsichere und abhängigkeitssuchende Oknophile dem statistisch vorherrschenden »Normaltypus« in Deutschland oder Österreich. Sein Ideal von Sicherheit würde auch dem heute als »Versorgungsmentalität« diffamierten Ziel eines Sozialstaates entsprechen. Demgegenüber sind heute in der Ära des Neoliberalismus die meisten Menschen in ihrer Realität, zumindest in ihrem Ideal eher philobatisch geprägt. Diese Grundhaltung einer Selbstsicherheit bis hin zur Überschätzung und einer Verleugnung aller Bindungswünsche kommt dem neuen Sozialcharakter ziemlich nahe, den Richard Sennett 1998 in »Der flexible Mensch« beschrieb. Die Skepsis des Autors drückt sich schon im englischen Originaltitel »The corrosion of character« aus. Für Sennett sind solche Menschen fähig zu flachen, leicht austauschbaren Beziehungen, ständig auf der Suche nach dem noch besseren Job oder dem idealen Partner – also auf psychologischer Ebene durchaus »citizens of nowhere«. Als Analytiker resultiert daraus für mich die Frage, wie weit ein solcher veränderter durchschnittlich anzunehmender Sozialcharakter mit den Konzepten der klassischen Psychoanalyse noch erreichbar ist, wie wir als Therapeuten auf diese einschneidenden sozialpsychologischen Transformationen reagieren sollten. Allgemeiner formuliert: 68

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Wie orientieren wir uns theoretisch und vor allem in unserer Lebenspraxis in diesem neuen Koordinatensystem, in diesem philobatischen Modell von immer mehr Autonomie und immer weniger Sicherheit, Solidarität und Heimat?

»Unsere Wurzeln« – eine potentiell gefährliche Metapher vom Ursprung Das Kontrastbild, die Gegenmetapher zum heimatlosen und daher wurzellosen Kosmopoliten wäre der im Ort seiner Herkunft und dadurch auch im sozialen Ort verwurzelte, heimatbewusste Mensch. Im deutschen Sprachraum blinken bei Gebrauch dieses Bildes schon die Warnlichter auf vor einer Renaissance von »Blut und Boden«. Aber auch bei uns hat ein allzu großer Uniformierungsdruck der Globalisierung die Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln, die Hochschätzung des Lokalen und Regionalen massiv gefördert. Das aber führt oft schnell zu reaktionären oder nationalistischen Engführungen. Der italienische Philologe Maurizio Bettini warnt vor der Wirkungsmacht dieser Wurzel-Metapher und ihrer Verwendung zur Identitätsbildung. Die folgenden Überlegungen verdanken seinem Buch »Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität«56 viele Anregungen. Bettini beschreibt die für ihn potentiell bedrohliche Karriere dieses vertikalen Bildes von den Wurzeln: Es sei eine Metapher und »metaphorein« bedeute ja nichts anderes als die Übertragung von einem Begriffsfeld auf ein anderes. Daher spricht diese Metapher unsere Gefühle so unmittelbar an, denn jeder kann sich Wurzeln vorstellen, weil er die Wurzeln eines Baumes schon gesehen hat. Seine eigene Tradition oder Identität hingegen hat niemand je gesehen. Die Rede von den Wurzeln hat also eine so starke Suggestivkraft, weil sie seit der Antike als Mittel dient, um die Zugehörigkeit zur Gruppe zu bezeichnen. Dadurch wird die Tradition naturalisiert, wird zur naturgegebenen Ordnung und gewinnt daraus ihre Legitimation. Denn wer könnte es wagen, wider die Natur zu sprechen oder gar zu handeln? »Wurzeln liegen tief in der Erde, dem Ort, aus dem alles hervorgeht und zu dem alles zurückkehrt. Die Wurzeln geben dem Baum Halt »Unsere Wurzeln«

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und Stütze, leiten die lebenswichtigen Nährstoffe an Stamm, Äste, Blätter weiter. Mit dem Bild der Wurzeln und damit des Baumes wird also auch die Tradition zu etwas biologisch Ursprünglichem, das in der Erde verwurzelt ist, das uns und unsere Identität nährt und stützt.«57 Als Konsequenz aus dieser Naturanalogie scheint evident, dass es für unsere Gruppen-Identität gar keine andere Möglichkeit geben kann: Ist doch Identität auch bei uns von den Wurzeln, von der Tradition determiniert und muss es auch bleiben. Und weil die Wurzeln ganz unten an der Basis liegen, fungieren sie auch als Sinnbild für Grundlegendes. Die Metapher vom Baum und seinen Wurzeln konstituiert also »ein Dispositiv der Autorität, das seine Kraft aus starken semantischen Kernen wie Leben, Natur oder biologischer Notwendigkeit bezieht«.58 Ähnlich wirkmächtig wie die Wurzeln wirkt auch ein Bild vom anderen Ende der kollektiven vertikalen Imagination. Die kulturellen Gipfel, die ewigen Höhen unserer Kultur, von denen herab uns die Weisheiten der Väter übermittelt werden. Je nach Bedarf werden dann die Griechen, die Römer oder aber die christlichen Heiligen zu eben solchen Vätern, wir aber bleiben für immer ihre Abkömmlinge und Kinder, denen sie den einzig richtigen Weg weisen. Als Gegenentwurf bietet Bettini eine horizontale Metapher für die Entwicklung von Traditionen an: Das Bild eines Flusses und seiner Nebenflüsse. Hier gibt es viele Zuflüsse, viele Möglichkeiten der Eingliederung und Anlagerung auch neuer, anderer Traditionen. In diesem Bild kann es auch viele Seitenarme geben, mehrere Traditionen, die nebeneinander, aber nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen. Die Verwendung einer solchen horizontalen Metapher würde laut Bettini helfen, den »Traum der Autochthonia«59 zu vermeiden, der vom Wurzelbild gefördert wird. Autochthonia bedeutet bei Bettini den Anspruch einer Bevölkerungsgruppe, sich als die einzig wahren, weil eben autochthonen Kinder des Landstrichs zu definieren und damit auch als allen später Hinzugekommenen überlegen. (Im rechtsnationalen Diskurs taucht des Öfteren der Begriff des »autochthonen« Deutschen auf, wobei das [nicht autochthone] Fremdwort nobler und weniger rassistisch wirkt als die Feier des »echten Deutschen«.) 70

Heimat – die Sicht von außen

Gegenüber solchen identitären Ansprüchen betont Bettini als postmoderner Autor, dass Traditionen weder aus der Erde aufsteigen wie die Wurzeln noch von Höhen oder Gipfeln zu uns herabkommen. Tradition sei zu allererst immer etwas Konstruiertes und Erlerntes. Jede Tradition verschwinde, wenn ihre Inhalte in der Gegenwart von der jeweils nachfolgenden Generation nicht wieder aufs Neue erlernt und weitergegeben werden. Und so wirbt Bettini für die Möglichkeit einer Vielfalt unterschiedlicher Kulturen nebeneinander: »Wer sich für Kulturen interessiert, liebt die Differenz, wer Wurzeln propagiert, sucht die Identität.«60 So könnten wir Kultur als etwas Offenes verstehen, als pluralistisch im Gegensatz zur individuell jeweils einzigen Wurzel. Das Konzept der Kulturen blickt zuerst nach außen und erst dann nach innen, während die Wurzel-Metapher den Blick primär nach innen wendet. Das Narrativ der Wurzel und des Baumes inkludiert laut Bettini zwangsläufig Vorstellungen von Authentizität, Unverfälschtheit und Reinheit. Diese Rede gibt vor, es gäbe eine echte, ursprüngliche Form von Kultur, die vor allen anderen existiert hätte und daher wertvoller sein müsse.61 Konsequenterweise wird dann Fortschritt prinzipiell als negativ erlebt, als Weg vom vergangenen goldenen Zeitalter über ein silbernes bis zum gegenwärtigen Kulturverfall. Diese Formel, diese Vorstellung einer ursprünglichen Kultur, die heute von der neuen, nivellierenden Weltkultur der Globalisierung bedroht oder sogar zerstört wird ist eines der großen aktuellen Themen. Vor allem aber ist sie eine Reaktion auf unsere größten Ängste: Die Ängste vor Nivellierung, Überfremdung und letztlich Zerstörung unserer Identität. Wie also soll man heute seine eigenen Wurzeln, seine Traditionen erhalten, ohne dabei entweder ausgrenzend zu werden oder aber sich entwurzelt und heimatlos zu fühlen?

Von den Wurzeln zur Konstruktion einer Biographie Es bleibt die Königsfrage: Wie schaffen wir es, bei allen (vielleicht auch positiven) Veränderungen das Gefühl einer stabilen Identität zu bewahren, ohne dabei die neuen Errungenschaften ausschließen oder verleugnen zu müssen? Eine scheinbar paradoxe und wohl auch »Unsere Wurzeln«

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ironische Antwort darauf gab die amerikanische Schriftsteller-Ikone Gertrude Stein. Auf die Frage, ob sie nach Jahrzehnten des Exils in Paris ihre amerikanische Heimat und ihre Wurzeln nicht vermisse, reagierte sie mit einer Gegenfrage: »Wozu sind Wurzeln gut, wenn man sie nicht mitnehmen kann?«62 Diesen Wunsch nach mitnehmbaren Wurzeln habe ich in Daniel Schreibers Essay »Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen« gefunden. Schreiber betont die Priorität von Heimat als einem Gefühl im Gegensatz zur Heimat aus Herkunft: »Ich glaube, dass wir den Orten, an denen wir leben, gemeinhin mehr Bedeutung zuschreiben, als sie verdienen. Es kommt sehr viel weniger darauf an, wo man Wurzeln schlägt, worauf es ankommt, ist vielmehr, dass man Wurzeln schlägt.«63 Ein Buch wie das von Schreiber wäre vor zwanzig Jahren kaum geschrieben worden, weil ein kritischer Intellektueller wie er damals wohl kaum sein Bedürfnis, ja sogar seine Sehnsucht nach Heimat als einem Ort von Aufgehobensein und Sicherheit geäußert hätte. Diese Heimatsehnsucht bei Intellektuellen, bei Linksliberalen und Linken – sie ist in dieser Ausprägung wirklich neu. Noch vor kurzem galt die Feier eines Heimatgefühls als Privileg bzw. Erkennungszeichen eines rechten Denkens – so inszenierte sich der Philosoph Heidegger als heimischer Denker in seiner Berghütte in Todtnauberg. Demgegenüber waren die intellektuellen Idole der Studentenbewegung von 1968 geprägt von der Erfahrung des Exils. Sie empfanden sich auch nach ihrer Rückkehr nach 1945 als Kosmopoliten und auch als potentiell heimatlos. Der prinzipielle Zweifel an der Existenz eines geistigen Zuhauses war in ihren Augen ein zentraler Aspekt der Moderne. Daher die fast arrogant wirkende Formulierung von Adorno in den »Minima moralia«: »Es gehört zur Moral, nicht bei sich selbst zu Hause zu sein.«64 Wenn diese Philosophen dann vielen Mitbürgern als heimatlose Gesellen erschienen, dann empfanden sie dies fast als Distinktion, als Ausweis ihrer Distanz zur verkitschten Welt der Heimatfilme und zur politischen Position der Heimatvertriebenen-Verbände. 72

Heimat – die Sicht von außen

Aber trotz dieser hochfahrenden Definition des Intellektuellen als unbehaustes Wesen gibt es von Adorno auch ganz andere Äußerungen über die Wichtigkeit seiner Erfahrungen von Heimat und Kindheit. Als der Philosoph nach dem Grund für seine Rückkehr aus dem amerikanischen Exil ins Nachkriegsdeutschland gefragt wurde, bekannte er ganz schlicht: »Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, dass, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen.«65 Interessanterweise spricht Adorno hier nicht von einer »Wiedergewinnung« der Kindheit, sondern vom »Einholen«. Das klingt paradox, weil doch die Kindheit unwiederbringlich hinter uns liegt, zurückliegt – während etwas, das man einholen möchte, ja vor uns liegen müsste. Aber so paradox wäre eben Kindheit zu verstehen, wenn damit nicht allein die Zeit gemeint ist, als man noch klein war, sondern die Zeit eines Erlebens, das so tief war, dass es aller späteren Erfahrung den Weg bahnt – und dadurch auch uneinholbar weit voraus liegt.66 Eine solche Anverwandlung unserer frühen und im Idealfall auch späteren Erfahrungen bleibt ein Lebensprojekt. Denn nur wenn ich mir eine neue Erfahrung so zu eigen machen kann, dass diese Erfahrung auch mich verändert, nur dann ist so etwas wie Persönlichkeitswachstum bei gleichzeitig stabil bleibender Identität möglich. Dieses psychologische Konzept von Kindheit und Erinnerung impliziert auch ein Bild von Heimat als Sehnsucht, als emotionaler Zustand. So auch bei Christina von Braun: »Dass der Begriff der Heimat heute immer mehr einem Ort in unserem Kopf, in unseren Gefühlen, in unserem Unbewussten – nicht einem konkreten Ort – entspricht …«.67 Die Unterscheidung zwischen Anverwandlung oder aber einer bloßen Aneignung von Erfahrung ist auch zentral für die psychotherapeutische Arbeit. Es hilft wenig, dem Patienten seine Psychodynamik zu erklären. Solche Lerninhalte kann er sich zwar merken und bei Gelegenheit reproduzieren, emotionale Veränderungen aber wird eine solche rein kognitive Einsicht nicht bewirken. Das Gegenteil davon ist die in fast jeder Therapie zumindest teilweise mögliche Aneignung, Anverwandlung der eigenen Biographie, der frühen Er»Unsere Wurzeln«

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fahrungen mit ihren oft noch Jahrzehnte danach so heftigen Affekten. Die dabei entstehenden Bilder, auch Bilder von Heimat, bezeichnete der Psychoanalytiker Christopher Bollas als »evocative objects«.68 »Evocative« bedeutet im Englischen »erinnernd an, im Geiste hervorrufend«. Evokation ist die Hervorrufung, die Erzeugung, aber auch die Beschwörung, ja sogar die Geisterbeschwörung. Es werden durch aktuelle Sinneseindrücke alte Erinnerungen und Erfahrungen wieder hervorgerufen, wachgerufen, heraufbeschworen. So erleben wir im Alltag beim Hören bestimmter Musikstücke, bei einem speziellen Licht über einer Landschaft plötzlich und intensiv frühe Erfahrungen wieder. Häufig wird ein solches Erlebnis auch von Geruchsempfindungen ausgelöst, so wie bei Marcel Proust im wohl berühmtesten Beispiel aus der Weltliteratur für eine intensive Erinnerung als wiedergewonnene Zeit in der Madeleine-­Episode. Bollas hat solche Erfahrungen und ihren Zusammenhang mit Heimweh und Nostalgie poetisch beschrieben: »Ich habe die Wirkung der Ansicht eines Teiches auf mich diskutiert oder auch anderer Objekte, die Erinnerungen auslösen, die in dieses Objekt eingelassen sind. Diese Objekte sind genau deshalb so wichtig, weil sie nicht länger anwesend sind, nicht zur Verfügung stehen: Wir sind weit weg von daheim. Nostalgie ist die Emotion der verlorenen Liebe, des ausgehaltenen Schmerzes und der Dankbarkeit für die evokative Kraft der Erinnerung, die es uns erlaubt, am verlorenen Objekt festzuhalten.«69 Andere Analytiker schätzen die Nostalgie nicht so positiv ein wie Bollas. Sie sehen eher Parallelen zur Melancholie, wobei in beiden Fällen die Trauerarbeit vermieden wird. Immer aber geht es dabei um unsere Erinnerungen und deren affektive Färbung: Wenn es stimmt, dass die Erinnerung jenes Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können, dann kann die Erinnerung leider auch die Hölle sein, der wir nicht entkommen können. Der Erinnerung können wir gerade dann schwer entkommen, wenn wir sie später nicht aktiv und meist unbewusst umgestalten können. Erst also durch Veränderung, Umschreibung, wohl auch durch ihre Verklärung oder Verfälschung wer74

Heimat – die Sicht von außen

den Erinnerungen für uns zum Paradies, werden sie zu wichtigen inneren Objekten. Dann sind sie an der Grenzlinie angesiedelt zwischen unserer inneren, psychischen Realität und der äußeren Wirklichkeit. Dann werden die alten Bilder von Menschen oder Landschaften zu »evocative objects«. Große Künstler können diese Leistung der Evokation formal so raffiniert oder vollendet darbieten, dass auch wir als ihr Publikum davon affektiv tief berührt werden. Aber das Motiv der Künstler bei ihrer Erinnerungsarbeit ist dasselbe wie unseres: Es ist ein Versuch, zu einer kohärenten, im Idealfall auch als sinnvoll erlebten Geschichte des eigenen Lebens zu kommen durch so etwas wie »autobiographische Imagination«. Wenn dies gelingt, kann man sich leichter daheim fühlen in der eigenen Biographie, letztlich im eigenen Leben. Der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee und die Psychoanalytikerin Arabella Kurtz haben gemeinsam ein Buch über diese Arbeit der autobiographischen Imagination in Literatur und Psychoanalyse geschrieben. Diese Leistung unserer Vorstellungskraft ermöglicht es uns, kontinuierliche Geschichten über uns selbst zu erzählen, in denen die vielen Aspekte über die Person, die wir heute sind und früher waren, über unsere gelebten und unsere ungelebten Leben zusammengeführt werden: »Diese Imagination ist für jeden von uns überlebenswichtig. Genauso wie die eigene Lebensgeschichte ist auch das Zuhause – ein wirkliches Zuhause, das gut genug ist – das Produkt dieser autobiographischen Imagination.«70 Auch die Arbeit in einer Psychotherapie zielt in vielen Stunden darauf, dem Patienten ein Gefühl des Zuhauses zu vermitteln, das nicht mit dem Ende der Therapie wieder verschwinden soll. Ein Grundgefühl von Heimat als Gegenteil von Entfremdung, als entscheidende Identitätsstütze für sein weiteres Leben wäre das Ziel. Psychotherapeutinnen sind also in der gemeinsamen Arbeit mit ihren Patienten Produzentinnen von Heimat.

»Unsere Wurzeln«

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II Identität und Heimat – Identität als Heimat?

Wie für den Begriff »Heimat« gilt auch für das Konzept der Identität, dass ein Begriff immer dann Konjunktur hat, wenn sein Inhalt in der Krise ist. Speziell die Ausdrücke der kulturellen, kollektiven, ja n ­ ationalen Identität wurden in den letzten Jahren oft fast gleichgesetzt mit »Heimat«. Dadurch wurden sie Teil der kontroversen politischen Diskussion. Denn während die allermeisten Menschen über ihre ­individuelle Identität oder Identitätsproblematik kaum nachdenken, so lange sie sich einigermaßen wohl und daheim in ihrem Leben fühlen, führen Identitätskrisen oder die Angst vor ­Identitäts-Diffusion zum Denken und schlimmstenfalls zum Grübeln über dieses Thema. Einen solchen Anlass zum Nachdenken vor allem über kollektive Identität boten die dramatischen Ereignisse der letzten Jahre. Denn in Zeiten rascher gesellschaftlicher Umwälzungen wird die kollektive, nationale Identität zum Anlass von Besorgnis, von Ängsten vor Überfremdung, die zum Aufflammen patriotischer Heimatgefühle führen. Erst in solchen Situationen werden die Fragen »Woher komme ich, was macht mich aus, was macht uns unverwechselbar und einzigartig?« wieder relevant. Allerdings wurde schon sehr viel früher beklagt, dass der Begriff der Identität schwer zu fassen sei. Odo Marquard schrieb 1979 ironisch: »Das Thema Identität hat Identitätsschwierigkeiten: Die gegenwärtig inflationäre Entwicklung seiner Diskussion bringt nicht nur Ergebnisse, sondern auch Verwirrungen. In wachsendem Maße gilt gerade bei der Identität: Alles fließt. So werden die Konturen des Identitätsproblems unscharf, es entwickelt sich zur Problemwolke mit Nebelwirkung: Identitätsdiskussionen werden – mit erhöhtem Kollisionsrisiko – zum Blindflug.«71

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Identität und Heimat – Identität als Heimat?

Gerade dieses Fließen bei der Definition und Konstruktion jeglicher Identität wurde zu einem der Kernthemen der Postmoderne, dabei wurde oft auch bewusst provokant formuliert. Unter anderem als Reaktion auf diese zugespitzten Positionen von der Auflösung jeder festen Identität schlug den Vertretern der Postmoderne dann aber spätestens bei den Diskussionen um die Migration und deren Folgen so viel Ablehnung entgegen: Die betont offenen und hybriden Identitätskonzepte wurden außerhalb des akademischen Diskurses von einer Mehrheit im besten Falle als lebensfremd, schlimmstenfalls aber als identitätsbedrohend empfunden. Schlagworte wie »Bastel-Biographie« oder »Patchwork-Identität« wurden abgelehnt, weil solche Konstrukte von vielen Kritikern als theoretischer Überbau, als Propaganda für eine als bedrohlich empfundene Globalisierung eingeschätzt wurden. Diese Gegenbewegung führte in den letzten Jahren zur Renaissance einer Engführung, ja fast Gleichsetzung von kollektiver Identität und Heimat. Spürbar ist dahinter der starke Wunsch nach einer Rückkehr zu eindeutigen und stabilen, weil verlässlich und bindend vorgegebenen Normal-Identität, die man sich nicht ständig im Sinne der lebenslangen Identitätsarbeit neu adaptieren und erwerben muss. Viele Menschen wollen eben nicht dauernd an ihrer Hybrid-Identität basteln, sie wollen wieder ein klares Gefühl dafür, woher sie kommen, wer sie sind und zu wem sie gehören. Postmoderne Intellektuelle unterstellen dann eine Verweigerung der heute unvermeidlich gewordenen lebenslangen Identitätsarbeit und die Tendenz zur Flucht in vormoderne Zustände. Vormodern meint hier politische und gesellschaftliche Zustände, in denen die Herkunft und speziell die Klassenherkunft eines Menschen schicksalshaft über dessen weiteren Lebensweg entschied. Damals konnte der Bauernsohn nur Bauer werden, der Sohn des Adeligen wurde wieder zum Baron, für Frauen blieben nur die sozialen Rollen der Hausfrau und Mutter oder aber der Nonne. Eine solche soziale Immobilität bestimmte das Mittelalter und noch die Zeit des Feudalismus. Wann anschließend dann die Moderne begann, wird von Soziologen unterschiedlich eingeschätzt. Alle Autoren aber sind sich einig, dass soziale Mobilität im heutigen Sinn sich vor Beginn der Identität und Heimat – Identität als Heimat?

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Moderne auf wenige Einzelfälle beschränkte. Ebenso besteht Einigkeit bei den Theoretikern des modernen Subjekts darüber, dass die entscheidenden Impulse zur Beendigung solch vormoderner Zustände ideengeschichtlich als Folgen der Aufklärung und politisch als Folgen der Französischen Revolution zu verstehen sind. Nach 1789 waren Feudalismus und Gottesgnadentum der Monarchen nur mehr Hindernisse für den Fortschritt der Naturwissenschaften. Die neuen Technologien führten auch zu einer massiven Labilisierung der ständischen Schichtung der Bevölkerung. Die beschleunigte technische Entwicklung veränderte den Blick des Menschen auf sich selbst, und das Leben in dieser verwirrend neuen Welt veränderte die Identität. Damit aber schwand auch das Vertrauen in die ehemals stützenden, wenn auch als einengend empfundenen Institutionen und Lebensformen. Als Resultat davon fühlten sich die Menschen freier, aber weniger sicher. Das rasende Tempo der Umwälzungen, die Beschleunigung der gesellschaftlichen Veränderungen verunsicherte massiv. Die Beschreibungen dieser Verunsicherung ähneln manchmal bemerkenswert unserem heutigen Klima von Fortschrittsskepsis und Angst vor zunehmender Beschleunigung. Auch um 1900 empfanden die Bürger und Arbeiter in den Metropolen des Fin de Siècle bei aller Fortschrittseuphorie eine Zunahme des sozialen Druckes durch den Zwang zum Zusammenleben einer Vielzahl von Menschen. Sie litten unter den massiven Freiheitseinschränkungen durch soziale Regulative, die aber dieses Zusammenleben der Vielen auf engem Raum und die immer intensivere Arbeitsteilung erst ermöglichten. Die politisch jetzt freieren Individuen fühlten sich nicht nur von innen, von ihren Triebwünschen her beschränkt in ihrer Freiheit, sondern auch von der immer massiveren Abhängigkeit aller von allen, von der Interdependenz bei gleichzeitig schmerzlich großen sozialen Unterschieden. Auch die Frage eines der Gründerväter der Soziologie Émile Durkheim von 1893 mutet seltsam aktuell an: »Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt?«72 Die klassische Beschreibung des Idealtyps eines Bürgers in der Ära des damals entstehenden Kapitalismus und der ersten Globali78

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

sierung lieferte Max Weber in »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« 1904. Obwohl in seinem Buch der Begriff »Identität« kaum vorkommt, liefert Weber doch eine präzise Genese und Phänomenologie, ja fast schon eine Normbiographie der damaligen bürgerlichen Identität: Das innerweltlich-asketische Berufsethos, die Auffassung vom Beruf als Berufung, die insgesamt rationale Ausrichtung aller Lebensbereiche und schlussendlich die Bürokratisierung bestimmten das Selbstverständnis des damals modernen Menschen. Die soziologische Gegenposition zu Webers kühler Beschreibung der Entzauberung der Welt und der daraus resultierenden Unbehaustheit der Menschen formulierte bereits 1897 Ferdinand Tönnies in »Gemeinschaft und Gesellschaft«: Bei ihm spürt man die damals schon nostalgische Sehnsucht nach der Heimat einer ländlichen Gemeinschaft, nach einem positiven Gegensatz zur urbanen Gesellschaft mit ihren entfremdeten Zweckbeziehungen zwischen den Menschen. Fast spätromantisch mutet Tönnies Klage an, dass man in die Gesellschaft gehe wie in die Fremde. Das Gegenstück aber zur soziologischen Außensicht liefert Sigmund Freud mit seiner Beschreibung der psychologischen Innenausstattung dieses modernen Menschen des Fin de Siècle (wobei Freud selbst als bekennender Workaholic dem soziologischen Typus von Webers »protestantischer Arbeitsethik« in hohem Ausmaß entsprach). Bereits vor hundert Jahren gab es also durch die Spannung zwischen dem Sicherheitsstreben und dem Wunsch nach Freiheit ein »Unbehagen in der Kultur«, das wir aus heutiger Sicht als Identitätskrise bezeichnen würden: Ein Oszillieren zwischen dem Bedürfnis nach Authentizität und Selbstverwirklichung einerseits und der als einschränkend erlebten Abhängigkeit von der sozialen Kontrolle, von der Außen-Einschätzung durch die Mitmenschen. Spätestens nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der daraus resultierenden Diskreditierung aller Autoritäten intensivierte sich nach 1918 dieses Gefühl der Identitäts-Diffusion. In den neuen Republiken Deutschland und Österreich mussten sich speziell jüngere Mitbürgerinnen und Mitbürger in hohem Ausmaß selbst eine stabile Identität erarbeiten, während die Älteren durch den Zusammenbruch fast aller Werte in Identität und Heimat – Identität als Heimat?

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ihren sozialen Interaktionen oft heillos überfordert waren. Sie trauerten ihrer untergegangenen imperialen Heimat nach und blickten entsetzt auf die für sie moralisch verkommene Jugend. Diese Jugend wiederum war heilfroh, dass die angeblich so gute alte Zeit vorbei war und träumte eher von Amerika als vom gütigen Kaiser. Und ein nächster wichtiger Schritt für die Theorie moderner Identität kam damals auch aus Amerika: George Herbert Mead postulierte die entscheidende Funktion der sozialen Interaktionen für jegliche Identitätskonstruktion. Der amerikanische Soziologe betonte die überragende Wichtigkeit der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und des politischen Diskurses bei der symbolischen Konstruktion von sozialer Realität und Identität. Sein Ansatz der Zweiteilung des Selbst in ein »I«, das etwa unserem »Ich« entspricht und ein »Me« beeinflusste alle späteren Identitätstheorien. Laut Axel Honneth steht bei Meads das »I« als unreflektierter Akteur einem »Me« gegenüber, das sich auf die Kommentare der anderen bezieht und davon beeinflusst wird: »Zwischen ich und mich besteht eine Persönlichkeit des Einzelnen, mithin eine dem Verhältnis zwischen Dialogpartnern vergleichbare Beziehung.«73 Es ist also eine Theorie des geteilten, des notwendigerweise geteilten Selbst, des lebenslangen Selbstgesprächs als Gegenteil zum in sich selbst heimischen, mit sich selbst übereinstimmenden Selbst. Mead betonte auch, dass erst soziale Interaktionen für uns Bedeutungen schaffen. Erst durch Interpretation dieses Beziehungsgeschehens werden dann gemeinsame Erfahrungen geschaffen und erst in diesem Zusammenhang kann sich dann auch kollektive Identität entwickeln und durch neue Interaktionen und deren Interpretationen wiederum verändern. Der Soziologe Erving Goffman radikalisierte dann Meads Ansatz durch seine »interaktionistische Rollentheorie«. Bei ihm bestimmen fast nur mehr die anderen, die Interaktionspartner unsere Identität. In seinem Klassiker »Wir alle spielen Theater« (1956) beschreibt er das »impression management« als zentral für unsere Identitätsbemühungen. Darunter versteht er das Bemühen, beim Interaktionspartner genau jene Eindrücke und Einschätzungen unserer Person hervorzurufen, 80

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

die wir uns wünschen. Das Selbst, die Identität ist für Goffman dann nicht mehr als das Resultat eines solchen Impression-Managements zu sehen; es ist also fast nur mehr ein Zuschreibungsprodukt. Sowohl Mead als auch Goffman betonen die Wichtigkeit der Sprache, in der sich jede individuelle Geschichte, jedes biographische Narrativ artikulieren muss – die aber gleichzeitig immer auch Medium jeder interpersonellen Kommunikation ist. Man könnte also Identität am Schnittpunkt des Selbstgesprächs und der Verständigung mit den anderen sehen, wobei jede individuelle Identität von der kollektiven Identität beeinflusst wird – und umgekehrt.

Sozialpsychologische Positionen zur Identität: Lothar Krappmann und Heiner Keupp In Deutschland erarbeitete Lothar Krappmann ab 1973 eine eigenständige Theorie zur modernen Identität. Seine damalige Schilderung der Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer hinlänglich stabilen Identität liest sich aus heutiger Sicht schon fast postmodern: Für sein Konzept einer »balancierenden Identität« betont er die Wichtigkeit einer Identitätsarbeit als kreative Leistung. Dies sei umso notwendiger, weil traditionelle Rollenübernahmen und auch identitätsstützende Institutionen kaum mehr zur Verfügung stünden (geschrieben 1973!). Krappmanns Stichworte zur Identitätsarbeit lauten »Neugestaltung« und »Interpretation«. Die zentralen Kompetenzen dafür sind auf intrapsychischer Ebene die Fähigkeit zur reflexiven Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz sowie auf interpersoneller Ebene die Ausprägung von Empathie und kommunikativer Kompetenz. Wir würden dies heute wohl zusammenfassen als Kombination von Selbstreflexionskompetenz und sozialer Kompetenz. Erst die Summe dieser Fähigkeiten ermöglicht laut Krappmann die Integration von persönlicher und sozialer Identität. Spätere Autoren kritisierten, dass Krappmann das Subjekt immer noch zu autonom sehen würde und nicht realisiere, wie instabil die sozialen Rollen durch die rasche gesellschaftliche Umstrukturierung bereits geworden seien. Die dadurch immer schwieriger gewordene Aufgabe der IdentitätsSozialpsychologische Positionen zur Identität

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findung für das Subjekt steht im Zentrum von Heiner Keupps lebenslanger Beschäftigung mit diesem Thema: Der Münchner Sozialpsychologe beschreibt Identitätsarbeit als lebenslang ergebnisoffene Arbeit, die der Einzelne immer wieder leisten muss, um sich seiner selbst neu zu vergewissern. Keupps Leitmetapher der »Patchwork-Identität« wurde über die akademische Community hinaus bekannt als eines der Keywords zur Beschreibung des Sozialcharakters der jüngeren Generation. Auch Keupp selbst ist durchaus erfolgreich als »Patchwork-Arbeiter« in seiner Verflechtung verschiedener Theorie-Stränge. So betont er die Wichtigkeit des Urvertrauens (siehe Erik H. Erikson), aber auch die Dialektik von Autonomie und Bezogenheit analog zu den Objektbeziehungstheoretikern. Er spricht von der Entwicklung einer »Lebenskohärenz« analog zur Salutogenese und von der Ausbildung sozialer Ressourcen bzw. eines symbolischen Kapitals durch Netzwerkbildung. Sowohl Krappmann als auch Keupp sehen die anstrengende Identitätsarbeit des Menschen in der Moderne noch als einigermaßen ergebnisoffen trotz ihrer Betonung der systemimmanenten Schwierigkeiten. 1998 aber erschien ein schmales Buch des amerikanischen Soziologen Richard Sennett, das schnell zu einem der meistzitierten Texte zur Kritik des Neoliberalismus aus sozialpsychologischer Perspektive wurde: »Der flexible Mensch«. Der deutsche Titel klingt deutlich neutraler als der Originaltitel »Corrosion of Character«. Das Individuum im Neoliberalismus ist für Sennett eine bemitleidenswerte Figur. Es kann durch schwache Bindungen nur flüchtige Formen von Gemeinsamkeit erreichen, während eine tiefergehende Persönlichkeitsentwicklung ihm kaum mehr möglich ist. Seine Beziehungen werden kürzer, er selbst als Beziehungspartner austauschbar. Auch die Wünsche und Ziele in seinen privaten Beziehungen werden immer häufiger in ökonomischen Termini definiert, es bleiben nur oberflächliche Identifikationen und fließende Identitäten. Der Mensch ist also für Sennett heute notwendigerweise ein Heimatloser, zuhause weder bei sich selbst noch in seinen verrosteten und ausgedünnten sozialen Bezügen. In der Abfolge der Positionen von Krappmann über Keupp bis hin zu Sennett können wir im Lauf von 25 Jahren eine deutliche Ver82

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

änderung verfolgen von einer prinzipiell positiven Einschätzung der Identitätskonstruktion in der Moderne bis hin zu Sennetts Hypothese von der Unmöglichkeit einer erfolgreichen Identitätsarbeit unter neoliberalen Bedingungen. All diese theoretischen Positionen gehen davon aus, dass Identität immer nur eine konstruierte Identität sein kann und dass es so etwas wie einen von außen unveränderbaren inneren Kern der Identität nicht gibt und auch nicht geben kann. Das Bild des fest verwurzelten Menschen mit unverwechselbarem Identitätskern wird in der Postmoderne als essentialistisch und unrealistisch belächelt. Identität wird jetzt nicht mehr als Abfolge von Reifungsschritten gesehen, sodass man am Ende der Adoleszenz eine stabile Identität erreicht hätte analog zu einem Studienabschluss, um hinfort in Frieden und ohne Identitätskrisen leben zu können. Im Gegenteil: Die Ideen eines kohärenten und in sich selbst ruhenden Subjekts bzw. eine einigermaßen fixe Identität scheint in der »Flüchtigen Moderne«74 fast schon anachronistisch. Nach diesem vereinfachten Schnelldurchlauf durch Identitätstheorien in Moderne und Postmoderne stellt sich für mich als Psychoanalytiker natürlich die Frage: Was hatte und hat die Psychoanalyse zum Stichwort Identität zu sagen? Wie und wodurch stellen wir uns als Analytiker vor, dass es einem Individuum auch heute gelingen könne, so etwas wie eine innere Heimat, eine stabile Identität bei sich selbst zu finden und trotz aller Außeneinwirkungen auch zu behalten?

Psychoanalytische Positionen zur Identität Sigmund Freud Sigmund Freud betonte Zeit seines Lebens, dass die Ablehnung der Psychoanalyse nur eine logische Konsequenz jener »dritten narzisstischen Kränkung des Selbst« sei, die sie der Menschheit zugefügt habe. Nach Kopernikus, der den Menschen und die Erde als Mittelpunkt des Kosmos de-zentrierte und nach Darwin, der die Abstammung des Menschen vom Tier belegte, kam die Psychoanalyse. Sie zeigte dem menschlichen Ich die Grenzen seiner Macht auf: Weder könne es sein Triebleben voll beherrschen noch seien die seelischen Vorgänge dem Psychoanalytische Positionen zur Identität

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Ich und der Wahrnehmung vollständig zugänglich – weil teilweise unbewusst. Und so kommt er zu seiner berühmten Feststellung, »dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«.75 Allerdings bot Freud diesem entmachteten Ich auch Abhilfe an – eben durch die psychoanalytische Behandlung. Resultat einer geglückten Analyse sei eine zumindest gestärkte Position des Ich durch verbesserte Triebkontrolle und Bewusstmachung aggressiver oder libidinöser Inhalte. Daher die Devise: »Wo Es war, soll Ich werden.«76 Während also Freud in Theorie und Metapsychologie das Subjekt de-zentrierte, versuchte er in seiner psychoanalytischen Praxis eine Re-Zentrierung seiner Patientinnen und Patienten. In den über hundert Jahren seit diesem Oszillieren Freuds zwischen De-Zentrierung und Re-Zentrierung des Subjekts haben sich viele Analytiker mit dem Problem der so labilen menschlichen Identität beschäftigt. Als Ziel der therapeutischen Arbeit allerdings wurde meist ein kohärentes Selbst oder eine reife Persönlichkeit angesehen – der Ausdruck der stabilen Identität ist seltener zu finden. Im Gesamtwerk Freuds taucht der Begriff »Identität« im heutigen Sinn nur ein einziges Mal auf: In einem kleinen Text, den er als Dank für Geburtstagswünsche seitens der jüdischen Loge B’nai B’rith verfasste, sinnierte er über seine Identität als Jude: »… viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten erfassen ließen, ebenso wie die klare Bewusstheit der inneren Identität …«77. Allerdings kann man wesentliche Aussagen in Freuds kulturtheoretischen Schriften durchaus als Positionen zum Thema Identität lesen, speziell zur Beschreibung einer pathogenen Zurichtung des männlich-bürgerlichen Ich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So seine Behauptung in »Das Unbehagen in der Kultur«, dass der Kulturmensch der Moderne die Einschränkungen seiner Freiheit und seiner Genussmöglichkeiten hinnehme, um dadurch seinen Ängsten zu entgehen und mehr Sicherheit zu erlangen. Allerdings stellt sich die Frage, wie weit diese kulturpessimistische Position Freuds noch relevant ist, wenn sich doch bei so vielen Menschen ihr psychisches Leid heute eher aus dem Mangel an Sicherheit ergibt bei gleichzeitigem Übermaß an Freiheit und Selbstverantwortung. Die Allermeisten fühlen sich nicht mehr so sehr 84

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

eingeschränkt durch ein Übermaß an sozialen Regeln und gesellschaftlichen Verboten, vielmehr leiden sie an ihrer Insuffizienz angesichts der übergroßen Autonomie-Anforderungen und auch angesichts des gesellschaftlichen Drucks in Richtung einer lebenslangen Identitätsarbeit.

Von Erik H. Erikson bis Otto Kernberg Erikson ist der einzige bekannte Psychoanalytiker, der fast sein gesamtes Arbeitsleben, der tausende Seiten dem Problem der Identität bzw. der Identitätsstörung gewidmet hat. Trotz aller Vorsicht bei einer Begründung theoretischer Positionen eines Autors aus dessen Lebensgeschichte kann man bei ihm wohl davon ausgehen, dass seine eigene Biographie einer der Gründe für dieses so intensive Erkenntnisinteresse am Problemfeld der Identität darstellte: Er konnte nämlich trotz intensiver Nachforschungen bis zu seinem Tode nicht herausfinden, wer sein eigener biologischer Vater war. Erst spät in seinem Leben änderte er seinen Familiennamen (bis dahin hieß er Homburger) und gab sich einen neuen rätselhaften Namen – nämlich Erik H. Erikson, also Erik, Sohn des Erik. Durch seine mehr als hundert Publikationen zum Thema wurde Identität auch für die Psychoanalyse ein zentrales Konzept. Erikson postulierte für jeden Lebensabschnitt von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter einen jeweils phasenspezifischen Grundkonflikt. Seine Bezeichnung für den frühesten und tiefsten dieser Konflikte ging sogar in die Umgangssprache ein: Jeder kennt den Begriff des Urvertrauens, das dem Ur-Misstrauen gegenübersteht. Erst nach Bewältigung eines jeweils altersgemäßen Konfliktes und der dadurch wiedererreichten bzw. neuen, altersadäquaten Identität kann das Individuum zur nächsten Entwicklungsstufe und damit zum nächsten binären Konflikt voranschreiten. Obwohl uns heute eine Entwicklungspsychologie nach diesem Muster eines Computerspiels mit stufenweisem Fortschreiten zum nächsthöheren Level als allzu linear und normativ erscheint, bietet sie immer noch den Vorteil der Klarheit. Bei fast bei jedem Leser erweckt sie den Eindruck, dass er viel davon auf sein eigenes Leben anwenden kann. Für seine Zeit aber war Eriksons Ansatz zukunftsweisend sowohl in Richtung Psychoanalytische Positionen zur Identität

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der späteren Objektbeziehungstheorie als auch in seiner Wendung zur intersubjektiven Psychoanalyse. Im Gegensatz zur dominanten amerikanischen Ich-Psychologie seiner Ära betonte Erikson nämlich auch die Wichtigkeit der Außenwelt, der Umwelt bei der Entwicklung einer stabilen und kohärenten Identität. Für eine solche fordert er vom Individuum sowohl eine Ich-Synthese als auch eine Rollen-Integration in seiner Bezugsgruppe. Die Identität muss also sowohl von innen her als auch von außen durch die Umgebung validiert werden. Gelingt diese Aufgabe nicht, dann kommt es zu der in der Adoleszenz fast typischen bzw. erwartbaren Identitätskrise. Falls diese nicht gelöst wird und ins Erwachsenenalter hinein weiterbesteht als Identitätsdiffusion, kann es kaum ein zufriedenes und gelingendes Leben geben.78 Im Durchlauf der jeweils altersspezifischen Entwicklungsphasen nach Erikson individualisiert sich der amerikanische Jugendliche der Sechzigerjahre noch in eine stabile und daher für ihn auch vorhersehbare Umwelt hinein. Es ist die Welt der prosperierenden USA im Kalten Krieg. Dies war wohl auch einer der Gründe für die Popularität von Eriksons Theorie eines unabhängigen Individuums und seiner reifen Identität als positives Gegenbild zur kollektivistischen Ideologie des damaligen Russland. Im Gegensatz zu Eriksons Balance von Umwelteinflüssen und psychischer Innenwelt sah die Ich-Psychologie die Verantwortung für ein allfälliges Scheitern bei der Identitätsfindung eindeutig beim Individuum und nicht bei einer belastenden Umwelt. Am Ende einer erfolgreichen Identitätsentwicklung sollte eine fast schon unheimlich autonome Persönlichkeit stehen, die über immer größere Freiheitsgrade verfügte sowohl gegenüber äußeren, sozialen als auch gegenüber inneren triebhaften Einflüssen. Wenn überhaupt ein äußerer Einfluss auf die Entwicklung von Identität und Persönlichkeit thematisiert wurde, dann jener der Mutter. So prägte Heinz Lichtenstein 1961 den Ausdruck des »Identity theme«. Darunter verstand er ein Leitmotiv, das dem Kind ganz früh in der Entwicklung von der Mutter gegeben, ja aufgegeben wurde: »Die Mutter prägt nicht die Identität ihres Säuglings, aber sie gibt ihm ein Identitätsthema vor. Dieses Thema ist irreversibel, aber es 86

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

ist fähig zu Variationen, und diese Variationen können die Differenz zwischen menschlicher Kreativität und Neurose ausmachen.«79 Die meisten Analytiker aber idealisierten damals eine fast schon autarke Position des Selbst auf Kosten von Beziehungsfähigkeit und der Fähigkeit zum Dazugehören und Daheimsein: Gelungene Identitätsfindung bestand vorwiegend in der Lösung aus inneren und äußeren Abhängigkeiten! Diese Entwicklungspsychologie wurde nach 1968 nicht nur seitens der Sozialwissenschaften und durch die Studenten kritisiert, sondern auch von feministisch orientierten Analytikerinnen. Diese beklagten eine phallozentrische Einengung der Theorie auf das Schicksal der männlichen Jugendlichen unter Ausklammerung der weiblichen Entwicklung, so z. B. Carol Gilligan 1982. Sie beschrieb die Überbetonung von Problemstellungen wie Triebkontrolle versus Anpassung, ödipaler Revolte und Über-Ich-Entwicklung bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Themenfeldern wie Bindung, Verbundenheit, Intimität und Zuwendung. Das Entwicklungsziel einer Autonomie bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Bindung, die mit Unselbständigkeit gleichgesetzt wurde, schien ihr zu einseitig. Für Gilligan besteht die Differenz darin, dass Jungen eher Kämpfe um abstrakte Prinzipien wie Gerechtigkeit ausfechten, während Mädchen mehr mit Loyalitätskonflikten beschäftigt sind, die sie durch Gespräch und Aushandeln lösen wollen, um ihre Beziehungen aufrechthalten zu können. Die Mädchen würden im Gegensatz zu den Jungen eine Ethik der Zuwendung, Verantwortung und Ansprechbarkeit in der Beziehung entwickeln.80 Aber die Beschäftigung der amerikanischen Psychoanalyse mit kulturkritischen Fragen wie jener nach der Wechselwirkung von Umwelt und Identitätsentwicklung oder auch den Genderstereotypien verebbte in den Siebzigerjahren. Gleichzeitig wanderte das Interesse an Identität und Identitäts-Diffusion aus der analytischen Kulturtheorie hinüber in die Klinik. Dort wurde es zentral in der Beschreibung der damals neu entwickelten Diagnose der Borderline-Persönlichkeit. In seinem Standardwerk »Borderline-Störungen und pathologischer NarzissPsychoanalytische Positionen zur Identität

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mus« bezog sich Otto Kernberg zwar explizit auf Erikson, sprach jedoch nicht mehr von einer Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt. Der Konflikt wurde von ihm eindeutig intrapsychisch beschrieben, er fand im Individuum selbst statt: »Es handelt sich um den gleichen Sachverhalt, wie ihn Erikson 1956 unter dem Begriff der Identitäts-Diffusion beschrieben hat, nämlich um das Fehlen eines integrierten Selbstkonzepts und eines stabilen und integrierten Konzepts ganzer Objekte, die in Beziehung zum Selbst stehen. Insofern ist die Identitäts-Diffusion ein typisches Syndrom der Borderline-Persönlichkeitsstruktur …«81 Allerdings hatte sich auch die US-amerikanische Umwelt verändert, in der die plötzlich so zahlreich diagnostizierten Borderline-Patientinnen und -Patienten mit ihrer Identitäts-Diffusion aufwuchsen. Der Sozialpsychologe James Marcia fand bei seinem Versuch einer empirischen Überprüfung der Erikson’schen Identitätskriterien 1994 zu seiner eigenen Überraschung heraus, dass ein viel höherer Anteil der von ihm interviewten jungen Erwachsenen, nämlich ganze 40 % einem Status von Identitäts-Diffusion nach Erikson zugeordnet werden mussten, während dies in den Sechzigerjahren nur auf 20 % zutraf.82 Marcias Erklärungsansatz geht davon aus, dass die Prozesse der Identitätsbildung selbst in den Jahrzehnten nach Erikson einen Funktionswandel durchlaufen hätten. Diese neue Form der Identitäts-­ Diffusion definiert er demnach als eine jetzt kulturell adaptiv wirksame Diffusion. Sie sei eine adäquate Reaktion der Jugendlichen auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die ihnen Unverbindlichkeit und Indifferenz nahelegen würden: Heutzutage sei es eben vernünftiger, sich nicht zu früh festzulegen. So würden die Adoleszenten ihre Chancen zwar ergreifen, gleichzeitig aber versuchen, sich möglichst viele andere Optionen offen zu lassen. Marcia betonte weiters, dass es nicht mehr ausreiche, eine von den Eltern übernommene, mithin nicht selbst gewählte Identität als Erwachsener einfach weiterzuführen. Dies bezeichnete er als vorzeitigen Abschluss der Identitätsentwicklung, als »fore­closure«. Auch die lineare Abfolge von vorhersehbaren Entwicklungsstufen nach Erikson 88

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

sei kaum mehr zu beobachten. Jetzt gebe es bis weit ins Erwachsenenalter hinein immer neue Abfolgen von Identitäts-Diffusionen, die jeweils von kritischer Identität (»Moratorium«) bis hin zu einer neu erarbeiteten Identität (»Identity Achievement«) abliefen. Diese Abfolge von Moratorien und Achievements (A-M) würden viele Individuen öfters durchlaufen müssen (Marcias Kurzfassung für diese Abfolge deutet vielleicht auch einen Einfluss der Mütter auf derlei Prozesse an, sie lautet nämlich M-A-M-A). Marcias Phasen unterscheiden sich durch von ihm beschriebene jeweils unterschiedliche Ausprägungen von Commitment – was am ehesten unserer Selbstverpflichtung und Anerkennung von Werten entspricht – gegenüber einer Exploration, also einer Suche nach neuen Möglichkeiten bzw. Alternativen. Spätestens seit den Arbeiten von Marcia gilt die Formel von der reifen Persönlichkeit, die man am Ende der Adoleszenz erreicht haben sollte, als obsolet. Ab jetzt wird Identitätsarbeit zu einem lebenslangen und potentiell unabschließbaren Projekt. Und seit Marcia sind die gesellschaftlichen Bedingungen sicher noch von wesentlich größerer Unsicherheit gezeichnet. So gut wie alle identitätsstiftenden Institutionen und Norm-Systeme sind weggefallen oder erodieren zunehmend, sodass die noch bei Erikson adoleszenztypische Experimentierphase mit ihrer Fragmentierung des Selbst häufig ein lebenslanger Zustand bleibt, ja bleiben muss.83

Neuere psychoanalytische Identitätskonzepte Die Fragmentierung als Identitätsstörung von gestern ist fast schon zur Normalität von heute geworden, zur erfolgreichen Coping-Strategie für das psychische Überleben in der neuen gesellschaftlichen Realität. Aus Sicht der Postmoderne gibt es kaum mehr ein kohärentes Selbst. Paradoxerweise aber erleben wir einen immer intensiver werdenden Wunsch nach Selbstverwirklichung. Dem Zuwachs an Freiheit steht das wachsende Unbehagen an der Wurzellosigkeit, Überforderung und Vereinzelung gegenüber. Ein klassisches Therapieziel wie Persönlichkeitsentwicklung scheint sich kaum mehr realisieren zu lassen. Gleichzeitig werden heute den Menschen aber immer öfter die Therapieziele Psychoanalytische Positionen zur Identität

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wie Selbstverwirklichung oder Persönlichkeitswachstum als neue Forderungen entgegengehalten. Der frühere Anspruch der einzelnen und oft privilegierten Patienten in einer Therapie wurde in den letzten Jahrzehnten fast schon in eine gesellschaftliche Forderung an alle verkehrt. Diese fast schon normativen Anforderungen in Richtung Persönlichkeit und Identitätsfindung spiegeln sich auch in aktuellen psychoanalytischen Ansätzen: Der israelische Psychoanalytiker Carlo Strenger verabschiedet die Idee einer reifen Persönlichkeit überhaupt als unrealistisch (Strenger, 1998). Für ihn bleibt nur mehr die entscheidende Frage, ob sich das Subjekt als autonomer Autor seiner Lebensgeschichte oder aber als Spielball äußerer Kräfte und Objekte erlebt. Er stellt das Selbstwirksamkeitsgefühl einem Gefühl von Ausgeliefertsein, von »fatedness« gegenüber. Für Strenger gibt es keine normativen Vorgaben oder Therapieziele mehr, nur mehr höchstpersönliche Ideale der Individualität. Dementsprechend beschreibt er die gesamte Geschichte der Psychoanalyse als eine Abfolge solcher Ideale. Bei Freud gab es das Ideal der stoischen Selbstkontrolle, bei Winnicott das Ideal von Spontaneität und bei Wilfred Bion das Ideal der negativen Fähigkeit, also der Fähigkeit, unser Nicht-Wissen zu ertragen. Insgesamt sind für Strenger alle therapeutischen Anstrengungen letztlich nur Praktiken, die dem Patienten helfen sollen, sein Selbst gemäß seinem ganz persönlichen Ideal von Individualität zu formen.84 Bei solch massiven Reaktionen der Psychoanalyse auf die philosophischen, vor allem aber sozialen und politischen Umbrüche bleibt von der klassischen Triebtheorie nur wenig übrig. Das früher prioritäre Therapieziel der fast absoluten Autonomie wird zurückgenommen, Identität und Identitätsprobleme hingegen werden zentral. So betitelt Inge Seiffge-Krenke ihr vielbeachtetes Buch 2012 sogar mit »Therapieziel Identität« und so behaupten Martin Altmeyer und Helmut Thomä pointiert: »Sämtliche Zeitdiagnosen […] teilen einen Kernbefund: Nicht mehr Sexualität, sondern Identität ist das seelische Hauptproblem unserer Zeit.«85 Solche Auseinandersetzungen in der therapeutischen Community um Identitätsprobleme blieben bis vor wenigen Jahren Insider-Diskussionen. Spätestens seit der Flüchtlingskrise aber war das Thema 90

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

der bedrohten Identität, speziell der bedrohten kollektiven Identität plötzlich auf den Titelseiten und in den Talkshows. Auch Identität wurde schnell zu einem der heißen und umkämpften Begriffe. Das inkludierte die Kritik an einer überbordenden Identitätspolitik ebenso wie die Namensgebung einer neu-rechten Gruppe als »Identitäre«. Immer geht es dabei um den Versuch, die individuelle Identität durch eine Rückbindung, eine Einordnung in eine harmonische und geschlossene kollektive Identität zu stärken. In dieser aufgeheizten Diskussion könnten einige psychoanalytische Ansätze meiner Einschätzung nach bei der Versachlichung der Diskussion helfen: So hat Werner Bohleber ein Balance-Modell der Identitätsbil­ dung vorgelegt.86 Für ihn besteht das Ziel in einer lebenslangen Eingebundenheit des Selbst in möglichst befriedigende interpersonale Beziehungen. Dabei sollte aber die Autonomie, das Für-sich-selbstSein nicht ausgespielt werden gegen ein Gefühl der Zugehörigkeit. Der Mensch sollte sich nicht zwischen zwei Extremen entscheiden müssen. Das Subjekt bleibt bei Bohleber als offenes Beziehungssystem lebenslang um seelische Integration bemüht. Die basale Polarität aber bleibt jene zwischen dem Zusammensein und dem Unterschiedensein. Die Balance zwischen Anerkennung und Abgrenzung, zwischen Identität und Alterität, zwischen Inklusion und Exklusion – sie bleibt auch bei aller Anstrengung schwierig. Daher bleibt auch die Versuchung sehr groß, sich eben dieser Schwierigkeit zu entledigen durch die Flucht in die Sicherheit einer frühen, prä-ambivalenten symbiotischen Beziehung jenseits von Konflikten und Ambivalenz. Und diese Sehnsucht wurde und wird in den letzten Jahren politisch erfolgreich funktionalisiert und ausgebeutet. Denn die Menschen müssen ihre intensiven negativen Affekte wie Scham, Hilfslosigkeit und den Mangel an Anerkennung irgendwie bewältigen – sei es im internalisierenden Modus mit der Ausprägung von Depressionen, Angsterkrankungen oder Somatisierungen, sei es externalisierend als Wut, Aggression oder auch brütendes Ressentiment als Treibsatz für Aggression und Gewalt. Das Erleben solch früher Ängste und ebenso früher intensiver Sehnsüchte und Phantasien disponiert die Menschen für solche nePsychoanalytische Positionen zur Identität

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gativen individuellen oder auch kollektiven Emotionen. Hier geht es um den verführerischen Sog eines wortlosen Verstanden-Werdens, um die Sehnsucht nach symbiotischer Beziehung als einem Ort des Zuhauses. Es geht aber auch um die Vermeidung psychischer Anstrengung in Richtung Selbstreflexion, Selbstdistanzierung und Konfliktfähigkeit. Und es geht immer um die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies. Diese Sehnsucht kennen nicht nur die armen Modernisierungsverlierer oder prekären Existenzen – diese Sehnsucht kennen wir alle. Der entscheidende Unterschied aber bleibt, ob es auch ein Gegengewicht zu dieser Sehnsucht nach Verschmelzung und sicherer Heimat gibt; ein gegenläufiges Streben nach Autonomie und nach offenen, triangulierenden Strukturen. Erst in der Balance zwischen diesen beiden Polen erreicht ein Individuum die Ebene des intrapsychischen Konflikts. Und nur wenn dieser inner-seelische Konflikt bewusst wird und doch erträglich bleibt – nur dann sind wir fähig, auch soziale und politische Fragen als Konflikte zu begreifen, die nicht nur durch Kampf, sondern auch durch Kompromisse lösbar sind.87

Identität als Verzahnung zwischen Individuum und Gruppe Identitätsdiskurse zwischen politischer Philosophie, Populismus und Psychoanalyse Aus psychologischer Sicht können wir den Begriff der Identität als ein Scharnier begreifen, als eine Verzahnung zwischen dem Individuum und seiner Bezugsgruppe. Die großen publizistischen und politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre aber wurden nicht um Fragen der individuellen Identität geführt. Es ging auch nicht um die Ebene einer staatlich-administrativen Identität im Sinne eines Personalausweises oder Meldezettels. Stattdessen stand plötzlich ein schon lange überwunden geglaubter völkischer Identitätsbegriff im Raum, der den Appell an die gemeinsame Herkunft als »offen reaktionäre Variante der Identität« postulierte.88 Der bisherige Konsens darüber, dass die Identität jedes Kollektivs erst durch den Zusammenhang, durch die Erzählung ihre Gültigkeit 92

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

erhält – dass also ein politisches Narrativ immer eine Erfindung sein muss, sie geriet in die Defensive gegenüber einem Stammesdenken, einer ganz neuen Art von Identitätspolitik, die aggressiv das Partikulare als einzig bindendes Allgemeines hinstellte.89 Seit Jahren erleben wir eine massive Verschärfung der von Populisten befeuerten Kämpfe verschiedener Minderheiten oder auch Mehrheitsgruppen nach dem Leitmotiv: »Wir drinnen gegen die da draußen«. Diese Entgegensetzung, diese Konstruktion der Identität des einen, einigen, weil unterschiedslosen Volkes sehen viele Theoretiker als entscheidendes Charakteristikum des Populismus überhaupt, wie z. B. Jan-Werner Müller: Gerade rechtspopulistische Bewegungen zeichnen sich durch ihre radikal antipluralistische und meist auch xenophobe Form der kollektiven Identitätskonstruktion aus. Dabei nehmen sie auch in Anspruch, als Einzige für das Volk zu sprechen oder gar »das Volk zu sein«. Daher können nur sie die Heimat verteidigen und alle politischen Gegner werden dann zu heimatlosen Gesellen oder Volksfeinden erklärt und verfolgt.90 Wenn es aber zutrifft, dass eine binäre und damit exkludierende Gegenüberstellung im Sinne von »Wir gegen sie« ein zentrales Konstruktionsmerkmal aller populistischen Bewegungen sein muss, dann wäre ein »linker Populismus« wohl schwer vorstellbar. Würde nicht auch ein solcher dann jeweils einen bösen Außenfeind zur Festigung der Gruppenidentität brauchen? Und wären die entfesselte Globalisierung und der weltweite Neoliberalismus nicht zu weit weg, zu abstrakt, sodass schnell auch ein konkreter Außenfeind im lokalen politischen Gegner gefunden und bekämpft werden muss? Die Forderung nach dem linken Populismus als Gegenmittel gegen die konservative Hegemonie ist schon als Zeichen der Hilflosigkeit zu werten: Denn über Jahrzehnte waren sich Liberale und Linke darin einig, dass ein reifes Individuum mit einer einigermaßen stabilen Identität so etwas wie kollektive Identität gar nicht notwendig hätte. Solche Konstruktionen wurden als Prothesen verunsicherter und daher leicht verführbarer Individuen gewertet und abgewertet. Bei der Sichtung älterer psychoanalytischer und auch soziologischer Texte fand ich allerdings einige Arbeiten von Autorinnen und AuIdentität als Verzahnung zwischen Individuum und Gruppe

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toren, die allesamt nicht im Verdacht standen, Nationalismus oder gar Rassismus fördern zu wollen, trotzdem aber die Wichtigkeit von Gruppenidentitäten für die Ausformung einer stabilen individuellen Identität postulierten.

Jede Identität braucht neben der Ich-Schicht auch eine Wir-Schicht In »Die Gesellschaft der Individuen« wies der Soziologe und ausgebildete Gruppenanalytiker Norbert Elias darauf hin, dass keine Identitätsbildung ausschließlich durch die Ausprägung einer individuellen Identität des Subjekts (für ihn die »Ich-Schicht«) gelingen könne: Neben dieser »Ich-Schicht« brauche jede und jeder von uns auch eine »Wir-Schicht«, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Jeder müsse sich in einer Gruppe oder einem Kollektiv gemeinsam mit anderen zuhause fühlen können, um so etwas wie eine kulturelle Identität zu erfahren. Und diese Wir-Schicht als Zugehörigkeit zu einem Kollektiv können wir uns nur begrenzt aussuchen oder verändern.91 In ihrem Plädoyer für einen aufgeklärten Patriotismus bezog sich Thea Dorn 2018 auf Elias und seine Unterscheidung der beiden Identitätsschichten: Auch sie betont, dass unsere individuellen Identitätsprojekte in der Luft hängen bleiben, wenn wir diese »Wir-Schicht« negieren. Denn Identität sei sowohl die Schnittstelle zwischen individuellen Anlagen und persönlichen Zielen als auch die zwischen der kollektiven Herkunft und den gemeinsamen Absichten. Und wenige Zeilen danach merkt Dorn an, dass ihr der derzeit so überstrapazierte Begriff der kulturellen Identität etwas abstrakt erscheine, wo es doch »im Deutschen ein viel schöneres Wort gibt für kulturelle Identität: Es lautet Heimat!«92 Im Rahmen der heute so erbitterten Auseinandersetzungen über kulturelle und nationale Identitäten greifen zunehmend auch kritische Politologen auf Konzepte der kollektiven Identität zurück, um die Umrisse einer offenen Demokratie zur Abwehr antipluralistisch-monolithischer Identitätsangebote zu skizzieren. Ironischerweise empfehlen sie dabei als identitätsstärkend ausgerechnet jene aufklärerischen Tugenden, die von rechter Seite kriti94

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

siert oder gar verhöhnt werden. So plädiert Oliver Marchart 2018 für ein »schwaches Narrativ« von Identität: Wenn kollektive Identität nicht nur ein noblerer Ausdruck sein wolle für Abschottung der idealisierten Heimat gegen alles Fremde, dann müsse die Infragestellung der eigenen, individuellen Identität bis hin zu einer »Ethik der Selbstentfremdung« verstärkt werden: Eine offene Demokratie sei gerade als Gesellschaftsordnung definiert, die nicht auf einem letzten, unhintergehbaren oder natürlichen Volkswillen oder einem Gottesgesetz gegründet sei. Demokratische Gesellschaften könnten nach Abwahl der Herrschenden jederzeit auch anders organisiert sein. Demokratie als politische Ordnungsform verweigere eine stabile, beruhigende Kontinuität der Herrschaft und müsse aufbauen auf eben dieser Ethik der Selbstinfragestellung, ja Selbstentfremdung. Eine solche Haltung stelle natürlich eine ungeheure psychologische Zumutung für die Bürger dar. Daher sei es auch nicht überraschend, dass eben diese Verunsicherung immer wieder zum starken Wunsch nach einer Rückkehr zum Identitären führe, nach der Re-Konstruktion einer ethnischen Homogenität, Eindeutigkeit, Wieder-Absicherung von kollektiver und dadurch auch individueller Identität. Wenn sich aber das Subjekt selbst als konflikthaft erlebt, als nicht mit sich selbst identisch, dann wird es nicht nur intellektuell, sondern auch emotional realisieren, dass es immer den anderen zur eigenen Identitätsbildung braucht. Und erst dadurch wird dieses Individuum erkennen, dass dieser andere ebenso wie wir selbst nicht nur monolithisch gut oder böse sei, nicht nur voll identisch oder fremd. Marchart nennt dies eine »Erfahrung geteilter Selbstentfremdung«93, die uns die Anerkennung des anderen und der Alterität an sich erleichtere. Solche Erfahrungen würden uns auch zur Solidarität mit Personen befähigen, die wir nicht als gleich oder identisch mit uns selbst einschätzen. Durch eine solche »Nicht-Binnen-Solidarität« mit jemandem von außerhalb unserer Identitäts-Gruppe aber entsolidarisiert man sich teilweise von der eigenen Identitätsgemeinschaft: »Bedingung der Solidarität im Anderen ist folglich die Entsolida­ risierung vom Eigenen. Aus Sicht der eigenen Gemeinschaft haftet Identität als Verzahnung zwischen Individuum und Gruppe

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Solidarität in diesem Sinn daher immer der Geruch des Verrats an – Verrat an der eigenen Volksgemeinschaft durch Beförderung fremder Interessen …«94 Das klingt zwar abstrakt, das Stichwort vom »Verrat an der eigenen Volksgemeinschaft« aber liefert einen sehr konkreten Baustein zur Erklärung des Hasses und der Verachtung, die aktuell sowohl den »Eliten« als auch den z. B. in Flüchtlingsprojekten engagierten »Gutmenschen« entgegenschlagen. Hier kommt also die Politologie von der anderen Seite, von der Betrachtung kollektiver Identitäten zu ähnlichen Einschätzungen wie Psychoanalytiker wie Werner Bohleber, die von Fragen der individuellen Identität ausgehen. Leider gab es bisher kaum Versuche, diese beiden Stränge des Nachdenkens über Identitäten zu verknüpfen.

Ganzheit, Totalität und Ambiguitätsintoleranz Bereits 1953 lieferte Erik H. Erikson im Rahmen einer Veranstaltung zum Totalitarismus in Harvard einen Beitrag zum Thema einer offenen gegenüber einer exkludierenden Identität: Er präsentierte den Gegensatz zwischen einer von ihm als positiv geschilderten, gesunden »Ganzheit« (wholeness) und dem pathologischen Gegenstück einer »Totalität« (totality). Er ging dabei von seiner Entwicklungspsychologie aus, in der er Übergänge von einer Ganzheit der Erfahrung bis hin zu den gegensätzlichen Zuständen eines totalitären Fühlens und Handelns beschrieben hatte. Während Ganzheit für ihn eine fruchtbare Zusammenkunft von verschiedenen Teilen und Organisationen des Selbst ist (von ihm beschrieben in Analogie zu »wholeheartedness, wholemindedness, wholesomeness etc.«) und er die organische Gegenseitigkeit verschiedener Funktionen und Teile mit offenen und flüssigen Grenzen bei dieser »wholeness« beschrieb, gibt es auch den Gegenpol: Totalität als Betonung der absoluten Grenzziehung ist für Erikson eine »totale Gestalt«: »Es darf bei den willkürlich gewählten Grenzen nichts außerhalb bleiben, was hineingehört und nichts kann innen 96

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

geduldet werden, was nach draußen gehört. Totalität ist ebenso absolut exklusiv wie inklusiv.«95 Das war damals in Zeiten des Krieges sicher auf das totalitäre Regime der UDSSR gemünzt, man kann es aber auch heute durchaus als Warnung vor Phantasien wie denen vom autochthonen Volkskörper lesen. Erikson betont die Gefahren sowohl für Individuen als auch für Gruppen oder Staaten, wenn eine solche gesunde Ganzheit nicht gefunden werden kann oder wieder verloren wird: Wenn ein Mensch aufgrund äußerer oder auch entwicklungsbedingter Veränderungen seine Ganzheit verliert, dann »baut er sich selbst und die Welt um, indem er Zuflucht sucht in etwas, was wir Totalismus nennen können«.96 Er warnt aber davor, dies ausschließlich als regressiven Abwehrmechanismus zu betrachten. Es sei ein zwar primitiver, aber alternativ durchaus gängiger Modus des Umgangs mit Erfahrungen. Deswegen könne er durchaus einen vorübergehenden Wert in Richtung Anpassung und psychisches Überleben haben. Trotzdem ist eine solche »totality« für Erikson immer die Konsequenz einer Verlusterfahrung. Hier wurde das Gefühl eines Urvertrauens verloren, der ersten und grundlegenden Ganzheitserfahrung: Sie impliziert für das Kleinkind, dass es sein Inneres und auch das Äußere als eine »interrelated goodness« erfahren kann. Im Gegensatz dazu ist das Ur-Misstrauen die Summe all jener diffusen Erfahrungen, die eben nicht erfolgreich integriert bzw. ausbalanciert werden können. Dies bewirkt Erlebnisse von totaler Wut inklusive Phantasien einer totalen Dominanz. Solche Kindheitserfahrungen haben Konsequenzen für das weitere Leben: »Und solche Phantasien und eine solche Wut des Kindes – sie leben im Individuum weiter und werden in extremen Zuständen und Situationen wiederbelebt.«97 Solche Extremsituationen betreffen dann speziell in Zeiten dramatischer politischer oder ökonomischer Krisen nicht nur einzelne Individuen, sondern ganze Bevölkerungsgruppen. Eben dadurch kommt es in Regionen, die von plötzlichen ökonomisch-politischen Veränderungen betroffen sind, zu einer erhöhten Bereitschaft für totalitäre und autoritäre Ideen der Ganzheit. Die Bereitschaft zur AkGanzheit, Totalität und Ambiguitätsintoleranz

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zeptanz eines Führers oder einer Ideologie, die eine simple Erklärung geben und eine Ablenkung der angestauten Wut auf Außenfeinde liefern, nimmt zu.98 Erikson beschreibt hier (ohne den Begriff explizit zu verwenden) ziemlich genau den Mechanismus der Entstehung von politischen Ressentiments. Mit dieser Charakteristik kommt er verblüffend nahe an den Typus der »autoritären Persönlichkeit« heran, die Theodor W. Adorno et al. 1950 in ihrem gleichnamigen Sammelband beschrieben hatten. Eine dieser Mitarbeiterinnen Adornos war die Psychologin und Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik. Sie referierte 1953 auf derselben Tagung wie Erikson und beschrieb einen zentralen Mechanismus dieser totalitären, für faschistische Ideologie anfälligen Persönlichkeit: Nämlich die Unfähigkeit solcher Personen, Ambivalenz bzw. Ambiguität zu ertragen. Dafür prägte sie den Ausdruck der Ambiguitätsintoleranz. Durch die Ausprägung einer solchen Intoleranz wird laut Frenkel-Brunswik sowohl die Aufnahme von Sinneseindrücken als auch die Lösung kognitiver Aufgaben erschwert bzw. verzerrt. Dies führt zu einer Tendenz des Schwarz-Weiß-Denkens und der Entweder-Oder-Lösungen. In ihrem Denkstil neigen ambiguitätsintolerante Personen zu Stereotypen und zur sturen Wiederholung auch als falsch erkannter Hypothesen. Sie tendieren zum vorzeitigen Abschluss von Diskussionen und zu einer Vorliebe für Symmetrie und Regelmäßigkeit, die auch moralisch als gut empfunden werden. All dies dient auch als Abwehr gegen das bewusste Erleben innerpsychischer Konflikte: »Hier wird eine rigide kognitive ›Überstruktur‹, in der alles Dunkle und Komplexe soweit wie möglich vermieden wird, auf eine durch Konflikte zerrissene emotionale Sub-Struktur aufgesetzt.«99 Die Autorin betont, dass ein solch regressiver Modus des Denkens und Fühlens in stabilen Situationen bzw. Konstellationen durchaus gut funktionieren kann. In Krisenzeiten aber, wenn eine Differenzierung oder eine flexible Anpassung an veränderte Umstände gefordert wird, kommt eine solche ambiguitätsintolerante Person schnell unter Druck und kann leicht psychisch zusammenbrechen. All diese hier angeführten Konzepte von den Klassikern Erikson und Frenkel-Brunswik bis zu Marchart werden wohl nur die ohnehin 98

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

schon überzeugten Anhänger einer offenen Demokratie beeindrucken. Die allermeisten verängstigten oder wütenden Modernisierungsverlierer bzw. Wutbürger wird man damit nicht erreichen, dafür sind diese Gedankengänge zu abstrakt. Sie fordern zu viele Zwischentöne und sind daher intellektuell anstrengend. Die Ablehnung solch komplexer Erklärungsansätze liegt wohl auch daran, dass sich viele der resignierten und daher populistisch so leicht zu verführenden Menschen in Deutschland oder Österreich in ihrem eigenen Heimatland nicht mehr sicher aufgehoben fühlen, nicht mehr zugehörig: Sie empfinden sich selbst oft als »Fremde im eigenen Land«. Und daher sehnen sie sich voller Nostalgie nach früheren, angeblich besseren und glücklicheren Zeiten. Sie fühlen sich verraten von eben jenen »Eliten« und Experten, die ihnen in den letzten Jahren die Vorteile der offenen Grenzen und der Globalisierung angepriesen hatten: Ja die Akademiker, die können sich’s richten, können überall arbeiten, wohnen in den noblen Stadtvierteln oder in ihren idyllischen Wochenendhäusern. Wir aber müssen bleiben, wo wir sind, am flachen Land, in den verödeten Dörfern oder Kleinstädten, auf der Schattenseite der Heimat. Und hier müssen wir mit den Neuankömmlingen aus Afrika konkurrieren um den Platz an der heimischen Sonne und haben ganz konkret Angst um unsere Arbeitsplätze. Was bleibt diesen verunsicherten Anklägern noch außer ihrem Nationalstolz und ihrer Nationalmannschaft?

»Wir sind wieder wer«: Die Fußball-National-Elf als Testlabor für Nationalgefühle Vor 1945 war die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nicht wirklich wichtig als identitätsstiftendes Kollektiv. Fußball wurde von den Nationalsozialisten auch nicht als besonders deutsche Sportart empfunden. Die Initialzündung zum deutschen Fußball-Mythos erfolgte erst 1954 bei der WM in der Schweiz: Die deutsche Elf schlug im Finale völlig überraschend die hoch favorisierten ungarischen »­Csárdás-Tänzer« um den genialen Kapitän Ferenc Puskás. Ein 3:2 Sieg der Kämpfer gegen die Künstler! Die National-Elf wurde danach in Deutschland im Triumphzug empfangen. Endlich konnte man als Ganzheit, Totalität und Ambiguitätsintoleranz

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Deutscher wieder stolz sein auf eine Kollektiv-Leistung, die nichts mit Krieg und Massenmord zu tun hatte. Und so kam es zur Grundstimmung von »Wir sind wieder wer …«. Das nächste wichtige Datum in dieser Heldenlegende ist das WM-Finale 1966 mit dem legendären »Wembley-Tor«. Wieder ein Ergebnis von 3:2, diesmal aber für England und gegen Deutschland. Bis heute dauern die Diskussionen darüber an, ob der Ball beim Schuss von Geoff Hurst wirklich hinter der Torlinie war oder nicht. Aus der Perspektive der kollektiven Identität könnte man diese Szene durchaus als ein »chosen micro-trauma« der Deutschen bezeichnen. Das Bild von Uwe Seeler, der mit hängendem Kopf vom Platz geführt wird – es ist »der Anfang der global verbreiteten Bildhaftigkeit, der Anstoß einer medialen Bilderkette«.100 Vier Jahre später gab es die nächste heroische Niederlage im WM-Halbfinale nach einem Jahrhundertspiel gegen Italien. 1974 aber folgte daheim in Deutschland der zweite Weltmeistertitel. Wieder war es im Finale ein Sieg der Kämpfer über eine technisch überlegene holländische Mannschaft. Den Fußballfans blieb das Bild des deutschen Verteidigers Berti Vogts im Gedächtnis, der als »Terrier« das holländische Fußball-Genie Johan Cruyff mit wirklich allen Mitteln bekämpfte. Auch für die DDR bot diese WM einen mythischen Moment, siegte sie doch in der Vorrunde gegen die späteren Weltmeister aus der BRD. Auch in den Folgejahren waren die Deutschen meistens erfolgreich, holten 1990 sogar zum dritten Mal den WM-Pokal. Franz Beckenbauer als damaliger Nationaltrainer verkündete danach, dass der deutsche Fußball jetzt nach der Wiedervereinigung wohl noch viele Jahre lang in der Welt dominieren würde. Alle Fußballfans kennen das ironische Pendant zu dieser Prognose, den resignativen Ausspruch der englischen Fußball-Legende Gary Lineker als Kommentator: Er seufzte, dass Fußball ein Spiel sei, in dem 22 Männer hinter einem Ball herjagten. Am Schluss aber würden immer die Deutschen gewinnen. Auch nach 1990 gewannen sie allerdings nicht immer. Sie verloren sogar deutlich häufiger und ihr kampfbetonter »Panzerfußball« wirkte immer weniger attraktiv, nicht mehr zeitgeistig. Die Fans aber waren trotzdem weiter stolz auf das typisch deutsche Spiel ihrer 100

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

Mannschaft, die oft noch in den letzten Minuten durch überragenden körperlichen Einsatz ein entscheidendes Tor wie mit der Brechstange erzwingen konnte. Ironie des Fußball-Schicksals war, dass die deutsche Mannschaft bei der EM 2004 früh und ruhmlos ausschied, während ein krasser Außenseiter Europameister wurde: Griechenland mit seinem deutschen Trainer Otto Rehhagel. Dessen Strategie eines wenig attraktiven, aber hocheffektiven Sicherheitsfußballs entzauberte im Finale fast wie anno 1954 die spielerisch überlegenen Portugiesen. Anschließend sprachen Kommentatoren von den »deutschen Griechen« und ihrem Trainer Rehakles, der sie zur Kämpfertruppe geformt hatte wie weiland antike Spartaner. Sichtlich eignete sich Fußball sogar als Exportartikel »bestens als Bindemittel der nationalen Ideologie«.101 Dann aber änderte sich auch der Charakter des deutschen Spiels. Während Langzeitkanzler Helmut Kohl als Fußballfan bei der EM 1996 noch entschuldigend bemerkte, dass das Spiel der Deutschen hässlich gewesen sei, aber dass es eben »hier keine Schönheitspreise zu gewinnen gibt«, war nur zehn Jahre später alles ganz anders. Bei der WM 2006 wurde ein neues Kapitel im Mythos der deutschen Nationalmannschaft geschrieben: Diese WM im eigenen Land wurde zum »Sommermärchen« auch deshalb, weil die Deutschen plötzlich völlig »undeutsch« spielten. Die Trainer Jürgen Klinsmann und Jogi Löw hatten eine moderne Taktik entwickelt und einige Individualisten mit der Fähigkeit zu überraschenden Spielzügen in die Mannschaft eingebaut. Jetzt ging es nicht mehr primär um Kraft und körperlichen Einsatz, mit einem Mal wirkte das Spiel leicht, ja fast elegant. Und dadurch war das Team plötzlich auch attraktiv für viele junge Deutsche, auch für solche mit Migrationshintergrund. Sogar die ansonsten gegenüber dem allzu chauvinistischen WM-Taumel misstrauischen Linksliberalen konnten endlich ohne Schuldgefühle mit ihrer Mannschaft mitfiebern. Erstmals konnten Deutsche wieder ohne schlechtes Gewissen nationalistische Gefühle äußern, noch dazu abgefedert durch viel Selbstironie: Typisch dafür war auch der Schlachtruf »Schland« statt des martialisch hingepeitschten »Deutschland, Deutschland«. Die gesamte Fußballwelt vor den Fernsehschirmen war beeindruckt, und Ganzheit, Totalität und Ambiguitätsintoleranz

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Deutschland gewann zwar nicht diese WM, wurde aber zum »Weltmeister der Herzen«. Allerdings waren nicht alle Deutschen davon überzeugt, dass man nun wieder begeistert die Deutschlandfahne schwingen konnte. Max Czollek empfand noch zwölf Jahre später die damalige Begeisterung als erschreckenden Dammbruch hin zu einem wieder erlaubten Nationalismus.102 2014 war dann das Spiel der Deutschen endlich sowohl schön als auch erfolgreich und es folgte die Apotheose des vierten WM-Titels: War schon das 7:1 über Brasilien fast unglaublich gewesen, folgte dann ein Finale, in dem einige Spieler nahe an mythische Vorbilder herankamen. Kapitän Bastian Schweinsteiger spielte als »teutscher Recke« noch mit blutender Kopfwunde weiter, der Schütze des Gold-Tors Mario Götze schlüpfte in die Rolle des »Jung-Siegfried«. Völlig integriert in diese Mannschaft waren damals auch sowohl der elegante Regisseur Mesut Özil als auch Jérôme Boateng als mächtiges Bollwerk in der Abwehr. Legendär war auch der Jubel von Angela Merkel nach diesem Finale. Die sonst nicht übermäßig volksnahe Kanzlerin konnte auch ihre eigenen Sympathiewerte deutlich aufbessern durch ihre ansteckende, weil authentisch wirkende Begeisterung für das deutsche Team. Wie anders die Situation für Merkel und Deutschland vier Jahre später: Nach dem blamablen Scheitern bei der WM 2018 in Russland nach einer Niederlage gegen Südkorea wurde das Versagen der deutschen Mannschaft sofort als weiteres Symptom der nationalen Krise und des deutschen Abstiegs interpretiert. Wenige Monate danach begann im Herbst der Abschied des berühmtesten Fans dieser Mannschaft: Angela Merkel kündigte ihren Rückzug an.

Salman Akhtar: Identität und Immigration Einen der wichtigsten psychoanalytischen Beiträge zum Thema der Identität erarbeitete der indisch-amerikanische Analytiker Salman Akhtar. Ähnlich wie Erik H. Erikson kam auch er aus persönlichen Gründen zum Thema Identität: Im Alter von neunundzwanzig Jahren emigrierte er als Sohn einer Intellektuellenfamilie aus Indien in die 102

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

USA, absolvierte dort seine Facharztausbildung und auch eine Psychoanalyse (in der Fremdsprache Englisch) und war zwanzig Jahre später einer der berühmtesten Psychiater und Analytiker der USA mit einer Professur an der Harvard Medical School und zahlreichen viel zitierten Aufsätzen und Büchern. Daneben veröffentlichte er noch mehrere Gedichtbände. Aber sogar in seinen wissenschaftlichen Papers berichtete er freimütig über seine massiven Schwierigkeiten bei der Anpassung an sein neues Heimatland. Dies sei für ihn auch einer der Gründe gewesen, sich systematisch mit dem Zusammenhang von Immigration und Identität zu beschäftigen. Für mich war die Auseinandersetzung mit Akhtars Überlegungen eine Gelegenheit, wenigstens einmal in diesem Buch auch die Perspektive des anderen, des Migranten, des Fremden genauer zu beleuchten, die sonst in meinem Text fast nur implizit auftaucht. Implizit deshalb, weil bei jedem Nachdenken über das Eigene, über die Heimat auch die Frage mitschwingt, wie wir es denn mit den Nicht-Dazugehörigen, den Fremden halten, wie wir mit Differenzen und Grenzen umgehen. Die folgenden Seiten sind also auch als Einladung zu einem solchen Perspektivenwechsel zu verstehen. Ich hoffe, dass dabei klar wird, dass viele dieser angeblich so typisch migrantischen Erfahrungen nicht so existenziell verschieden sind von Erlebnissen, die auch unsere Biographien bestimmt haben. Schon im Vorwort seines Buches betont Akhtar103, dass jede Migration, auch unter günstigsten Umständen, ein traumatisches Ereignis ist und dass sie wie andere Traumata einen Trauerprozess in Gang setzt. Denn jede Migration (sogar jede Binnenmigration innerhalb eines Landes) bewirkt einen gewissen Kulturschock. Die resultierenden Verunsicherungen, Identitätskrisen und Ängste stellen eine massive Herausforderung an die psychische Stabilität des Neuankömmlings dar. Dazu kommt noch die Notwendigkeit der Trauerarbeit zur Bewältigung der migrationsassoziierten Verluste von Familienangehörigen, Freunden und heimatlichen Orten und Landschaften. Das Resultat ist eine zunehmende Diskontinuität des Identitätsgefühls. Außerhalb seines Herkunftslandes hat der Migrant nicht mehr die vorher selbstverständliche bestärkende Bestätigung für seine Salman Akhtar

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Ich-Identität. Je tiefer die Trauer, die den Migrationsprozess begleitet, desto größer die Bedrohung der individuellen Identität.104 Insgesamt beschreibt Akhtar hier eine Identitätskrise, im Idealfall eine Transformation der Identität, die als »dritte Individuation« nach der frühen Individuation des Säuglings und der zweiten Individuation in der Adoleszenz die Persönlichkeit des Migranten entscheidend verändert. Und bezüglich dieser Veränderungen unterscheidet Akhtar vier getrennte, wenn auch interdependente Dimensionen oder »Schienen der Identitätsveränderung«105. Verändert werden: I. die Dimension von Trieben und Affekten II. die Dimension des intrapsychischen und interpersonellen Raums III. die Dimension der Zeit und der Vergänglichkeit IV. die Dimension der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Gegenseitigkeit I. Veränderung von Trieben und Affekten:  Von Liebe und Hass zur Ambi­valenz Parallel zur großen Herausforderung an die Autonomie-Entwicklung eines Kleinkindes geht es auch bei der Immigration um den Übergang von sehr frühen Abwehrmechanismen zu reiferen Formen, insbesondere um die Überwindung bzw. Rücknahme von Prozessen der Spaltung und Projektion. Akhtar argumentiert hier im Rahmen der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und zeichnet den Weg von einem Schwarz-Weiß-Denken und -Fühlen bis hin zur Entdeckung von Zwischentönen und bewusstem Erleben von Ambivalenz. Der Migrant muss ein zweites Mal von seinem Leben die »nur guten« bzw. »nur bösen und wertlosen« inneren Bilder von sich selbst und von seinen Objekten modifizieren und realitätsnäher gestalten: So wie in den frühen Beziehungen zu Mutter und Vater oder auch in den Liebesbeziehungen des Erwachsenen muss er anerkennen, dass er auch gegen ein geliebtes Objekt durchaus Aggression und Hassgefühle entwickeln kann und dass er umgekehrt auch ein gehasstes oder verachtetes Objekt begehren oder bewundern kann. Diese Objekte aber, von denen Akhtar hier spricht, sind nicht nur Menschen, son104

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

dern vor allem die beiden Pole im Heimatgefühl des Migranten: Das Herkunftsland, die alte Heimat und ihr gegenüber das Ankunftsland als neue, zweite Heimat. Und in Anlehnung an Kernberg 1976 beschreibt Akhtar, dass auch hier ein inneres Bild des Einwanderers von sich selbst (eine Selbst-Repräsentanz) immer verbunden wird mit einem inneren Bild des Herkunftslandes oder des Ankunftslandes (einer Objekt-Repräsentanz). Verbunden werden diese beiden Repräsentanzen jeweils durch einen vorherrschenden Affekt. Je komplexer und vielschichtiger die Bilder werden, je mehr Affekt-Nuancen zwischen Liebe und Hass, Verachtung und Idealisierung sich entwickeln, desto näher kommen die inneren Abbilder an die äußere Realität heran und desto leichter wird dadurch dem Migranten die Verbindung seiner innerpsychischen Dimension mit der äußeren Realität fallen. Aber was so einfach klingt, bleibt für die meisten Einwanderer ein jahrelanger schwieriger und leidvoller Weg. In einem der klassischen analytischen Werke zu den Phänomenen von Migration und Exil beschrieben Rebeca und León Grinberg 1989 das Phänomen einer »desorientierenden Angst«106 als typisches Zeichen für die Gefühlslandschaft des Emigranten zwischen der alten und der neuen Heimat: Er erlebt diesen Übergang so, als ob sich seine Eltern scheiden lassen würden, und in seinen Phantasien verbündet er sich mit einem Elternteil (einem Land) gegen den anderen. Und diese Verwirrung nimmt noch zu, sobald Kultur, Sprache, Erinnerungen und Erlebnisse in den beiden Ländern sich vermischen und überlagern. In solchen Situationen erleben die Betroffenen massive Regressionstendenzen. Bevor die oben beschriebenen reiferen Abwehrmechanismen benutzt werden können und Ambivalenz möglich wird, dominiert oft für lange Zeit die Spaltung bei den Affekten des Betroffenen. Er erlebt z. B. nur positive Gefühle bezüglich seiner früheren Heimat und nur negative Gefühle für das Ankunftsland oder aber umgekehrt. Erst durch die Synthese der positiven und negativen Selbst-Repräsentanzen und erst durch eine reichliche »Sättigung der Wachstumsbedürfnisse« (nach Akhtar), erst nach vielem Erfahren der Nützlichkeit und Akzeptanz in der neuen Heimat, insgesamt vor allem erst durch Salman Akhtar

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das Übergewicht der libidinösen über die aggressiven Strömungen entwickelt sich die Fähigkeit zur wohlwollenden Ambivalenz sowohl gegenüber dem Herkunftsland als auch dem Einwanderungsland. Jetzt erst kann das entstehen, was Salman Akhtar als »hyphenated identity«, als Bindestrich-Identität bezeichnet. II. Veränderung des intrapsychischen und intrapersonellen R ­ aumes:  Von nah oder fern zur optimalen Distanz Das Mischungsverhältnis der oben beschriebenen Affekte ergibt bei jedem Menschen so etwas wie eine affektive Temperatur – im Idealfall eine angenehme und mittlere Temperatur zwischen der überhitzten symbiotischen Verschmelzung und der allzu kalten rationalen Überbetonung von Autonomie. Akhtar spricht in diesem Zusammenhang von der Schwierigkeit bei der Überbrückung der Distanz zwischen den beiden Ländern analog zur Überbrückung der Distanz zwischen zwei (affektiv unterschiedlich temperierten) Mutterbildern. Es gibt neben der frühen Mutter der Symbiose die spätere Mutter der Trennung. Hilfreich bei einer Balance und ermöglichend für eine gelungene Bindung an beide Mütter-Figuren, hilfreich für die Bindung sowohl an Herkunftsland als auch an Ankunftsland ist oft die Möglichkeit eines emotionalen Wiederauftankens z. B. durch Telefonate nach Hause oder Besuche, Urlaube im Herkunftsland. Dies ist natürlich unmöglich für Exilanten, die aus ihrer früheren Heimat fliehen mussten, nicht zurückkehren können und allein schon deshalb größere Schwierigkeiten beim Finden einer neuen Identität im Ankunftsland haben als freiwillige Migranten. Akhtar beschreibt zwei Extremformen des Umgangs mit dieser Distanzproblematik: Einerseits die Möglichkeit eines ethnozentrischen Rückzugs, eines Festhaltens an einer idealisierten Sicht der gesamten Herkunftskultur. In einem solchen Fall werden nur heimattypische Speisen gegessen und die Menschen suchen soziale Kontakte ausschließlich in ihrer homo-ethnischen Gruppe – Stichwort: Parallel-­ Gesellschaften. Oft spüren sie jetzt nach der Migration ein deutlich stärkeres Nationalgefühl als damals, als sie noch im Herkunftsland lebten. 106

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

Demgegenüber steht der Modus einer »kontraphobischen Assimilation«. In diesem Fall wird die Herkunftskultur vom Individuum völlig verleugnet oder entwertet. Diese Migranten versuchen, möglichst schnell und fast übertrieben durch eine laut Akhtar »magische Identifikation« und massive Assimilationsbereitschaft die Kultur des Einwanderungslandes aufzunehmen. Akhtar beschreibt zudem einen aushaltbaren Kompromiss, eine pragmatische Form der Assimilation: Solche Personen können z. B. in der Arbeitszeit als vollkommen assimiliert funktionieren und sich dabei auch wohl fühlen, während ihre Freizeit oft noch lange ethnozentrisch auf die Herkunftskultur ausgerichtet ist. Letztlich führt aber auch diese Lösung nur zu einem zerstückelten Leben in zwei verschiedenen Compartments. Eine solche Zerrissenheit kann erst dadurch aufgelöst werden, dass die empfangende neue Kultur als eine haltende Umwelt im Sinne von Donald Winnicott funktioniert. Das bedeutet, dass sie sowohl libidinöse Sättigung als auch Aggressionseindämmung in ausreichend großem Maße zur Verfügung stellen kann. Erst eine solche, wohl nur selten durchgehend erlebte Akzeptanz seitens der neuen Nachbarn und Kollegen führt zur Entspannung und zu einer Identitätstransformation des Ankömmlings im positiven Sinn. Solche komplexen Prozesse werden nicht nur auf sprachlicher Ebene erlebt, mindestens ebenso wichtig ist das Finden einer optimalen Distanz auf der Ebene des non-verbalen Affektausdrucks. Der Ankömmling muss oft mühsam lernen, welche physische Distanz in seinem neuen Land als adäquat empfunden wird, wie das jeweils als normal empfundene Ausmaß an physischer Nähe, Berührungsbereitschaft und Intensität des gezeigten Affektes aussieht. Im Idealfall kommt es dann zu einer gelungenen Kombination der alten und der neuen Konzepte von persönlicher Interaktion und Intimität. Aber auch im Idealfall wird sich ein temperamentvoller Südländer in Hamburg oft noch ebenso fremd fühlen wie der kühle Norddeutsche in Sizilien. Mikro-Beispiele für derlei Verunsicherungen kennen wir alle aus dem Urlaub: Die als normal erachtete physische Distanz im Gespräch mit Fremden ist für uns Mitteleuropäer in Südeuropa oder gar in Nordafrika schnell unterschritten und wir fühlen uns dadurch peinSalman Akhtar

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lich berührt oder gar bedroht. So gesehen bedeutet Heimat auch, sich in seiner Körpersprache nicht dauernd kontrollieren zu müssen, nicht bei jeder Begrüßung oder Berührung zurückschrecken zu müssen. III. Veränderungen der Zeit und der Vergänglichkeit:  Von Gestern oder Morgen zu Heute Speziell für Migranten sind die Dimensionen von Zeitlichkeit, Präsenz und letztlich auch von Endlichkeit und Vergänglichkeit in hohem Maße entscheidend für das Ausmaß an Lebendigkeit, das einem Menschen möglich ist durch die libidinöse Besetzung der Gegenwart in Relation zur Vergangenheit und Zukunft. Anders ausgedrückt geht es hier um eine möglichst optimale Dosierung der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, der Nostalgie. Bei dieser Balance zwischen verschieden intensiven Besetzungen von Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft scheint mir – auch für Nicht-Migranten – die frühe Herkunft von zwei zentralen Phantasien besonders interessant: Akhtar stellt die Phantasie, des »if only …« der eines »someday …« gegenüber. Das eine wäre die Überbesetzung der Vergangenheit (wenn ich doch nur …), die gegensätzliche Phantasie des »eines Tages« wäre die allzu starke Besetzung einer fernen, herbeigesehnten Zukunft. Akhtar aber betont, dass hinter den Bildern einer Sehnsucht nach der verklärten Vergangenheit oder Zukunft in psychoanalytischen Behandlungen solcher Migranten eine andere Ebene hervortritt. In beiden Fällen basieren diese Phantasien auf ontogenetisch frühen Erfahrungen: Die Phantasie des »if only« drückt laut Akhtar auch den Wunsch aus, dass der Tag doch nie gekommen wäre, an dem ich das Glück der symbiotischen Dual-Union mit der Mutter verlor. Und ebenso wenig möge der Tag gekommen sein, an dem ich mir der sexuellen Unterschiede, der ödipalen Grenzen und Verbote bewusst wurde. Auf der Gegenseite liegt hinter der Phantasie des »someday« die Hoffnung, dass doch der Tag endlich kommen möge, an dem ich die verlorene Mutter der Symbiose wiedergewinnen und damit auch die sexuellen und ödipalen Grenzen überwinden kann. Laut Akhtar fixiert die erste Haltung den Einwanderer in seiner Vergangenheit, die zweite in der Zukunft. Beide aber führen zu einer 108

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

zeitlichen Diskontinuität in der Selbsterfahrung.107 In beiden Fällen bleibt zu wenig Energie für ein Gefühl der Lebendigkeit in der Gegenwart. Bei einer positiven Lösung, bei einer gelungenen Identitätstransformation auf dieser zeitlichen Ebene hingegen, »ersetzen Vergangenheit und Zukunft nicht die Gegenwart, sondern bereichern sie«.108 Wie alle anderen mit Trennungserfahrungen konfrontierten Menschen reagiert auch der Migrant häufig mit einer Überbesetzung der verlorenen Objekte. Allerdings fokussiert diese verklärte Erinnerung an die Vergangenheit, diese Idealisierung häufig eher auf die erinnerten Orte als auf die im Herkunftsland zurückgelassenen geliebten Menschen. Laut Akhtar ist dies nicht überraschend: In den Zeiten von Kindheit und Adoleszenz präsentiert sich die Welt der unbelebten Objekte, die nicht-menschliche Umwelt als relativ neutraler Bereich, als Hort der emotionalen Kontinuität im Vergleich zur Diskontinuität der Beziehungen zu den Menschen als lebenden und daher unkontrollierbaren Objekten. Eben dadurch können in den Beziehungen zur nicht-belebten Umwelt der Kindheit, in den Gefühlen zu den frühen Bildern von Heimat die für alle Kinder und Jugendlichen oft so verwirrenden Erlebnisse aus den Interaktionen mit Eltern und Geschwistern ausgedrückt und in relativer psychischer Ungestörtheit durchgearbeitet werden. IV. Veränderung der gesellschaftlichen Zugehörigkeiten und  der Gegenseitigkeit: Vom »Dein« oder »Mein« zu »Unser« Akhtar bezieht sich zwar auf die klassischen Modelle der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, die einen graduellen Übergang aus der frühen symbiotischen Dual-Einheit von Mutter und Baby bis hin zur Differenzierung von Selbst- und Objekt-Repräsentanzen beschreiben. Allerdings relativiert er die fast absolute Priorität der Autonomie als Entwicklungsziel und die geforderte Überwindung von Abhängigkeit und Verschmelzungswünschen. Dabei beruft er sich auf Anni Bergman als Expertin für entwicklungspsychologische Fragen. Sie schreibt, dass sich unser Empfinden des »Mein« und »Dein« aus einem zeitlich früheren, vorangehenden Empfinden des »Unser« entwickelt. Allerdings fügt sie (vielleicht verwirrenderweise) hinzu, dass Salman Akhtar

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eben dieses primäre Wir-Gefühl in der psychoanalytischen Theoriebildung gleichzusetzen wäre mit dem »Ich« des primären Narzissmus beim Kind, der in der Entwicklungsphase der Symbiose dominiert. Das »Wir« würde hier also noch das Gefühl einer ungetrennten Mutter-Kind-Dyade bezeichnen. Erst viel später in der kindlichen Entwicklung wird diese archaische Wir-Erfahrung dahingehend modifiziert, dass sie differenziertere Erfahrungen von »Ich« und »Wir« einschließt. Die Erfahrung eines »Ich« aber würde erst in dieser späteren Phase die Mutter nicht mehr inkludieren.

Kultur des Individuums vs. kollektivistische Kultur independent self – interdependent self Während frühere analytische Entwicklungspsychologinnen und -psychologen die Priorität des Individuums, der Individuation gegenüber dem Wir-Gefühl in Familie und Gruppe völlig selbstverständlich als anthropologische Konstante bezeichneten, wissen wir heute, dass dies beileibe nicht überall gilt. Weltweit ist nur ca. ein Drittel aller Kulturen individualistisch geprägt, zwei Drittel hingegen sind eher kollektivistisch/soziotrop eingestellt. Dafür haben sich die Ausdrücke des westlichen »Independent Self« in Gegenüberstellung zum nicht-westlichen »Interdependent Self« eingebürgert. Denn unsere Priorisierung des Individuums betrifft vor allem die USA und Europa (vor allem den Norden und Westen Europas). Kollektivistisch orientiert hingegen sind das gesamte Asien, Mittelamerika und der Nahe Osten. Die Wichtigkeit dieser Kulturdimension wird spätestens beim Umgang mit größeren Gruppen von Migranten klar: Seit Jahrzehnten betonten speziell Analytiker, die in nicht westlich geprägten Ländern aufgewachsen sind, den Kulturschock, den es für einen Inder oder Japaner bedeutet, sich z. B. nach der Migration in die USA in einem völlig anderen Milieu wiederzufinden, wo der Akzent eindeutig auf Autonomie gelegt wird und nicht auf Interdependenz oder eine auf die Familie zentrierte Identität. Die Analytiker Joe Yamamoto und Hiroshi Wagatsuma (1980) haben als Angehörige der japanisch-amerikanischen Community sowohl in Japan lebende als auch in die USA ausgewanderte Japaner be110

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

handelt und betonen, dass sie in ihren Analysen immer wieder erlebt hätten, dass sich Japaner massiv unwohl fühlen, wenn sie ihr Selbst, ihre Identität als unabhängig von ihrer sozialen Rolle empfinden sollen. Für sie bedeutet »Selbstverwirklichung«, die Erwartungen ihrer Familie und ihrer gesellschaftlichen Gruppe zu erfüllen. Im traditionell orientierten japanischen Denken und Fühlen wäre »Individualismus« im westlichen Sinne fast gleichbedeutend mit »Egoismus« im absolut negativen Sinne des Wortes. Japaner würden dazu neigen, das westliche Konzept des Individualismus mit Selbstsucht gleichzusetzen.109 Während klassische Analytiker eine solche Einstellung wohl als tendenziell unreif eingeschätzt hätten, wissen wir heute, dass das nicht-westliche Selbst im Sinne einer beziehungsgebundenen Identitätsfindung einen hohen Grad an Individualität erreichen kann, ohne vergleichbare Erfahrungen von Getrenntheit wie in unserem Kulturkreis. Die massiv unterschiedliche Ausprägung von Einstellungen zur Individualität zwischen Kulturen eines unabhängigen Selbst im Vergleich zu einem interdependenten Selbst sind sicher auch oft beteiligt an der beiderseitigen Verständnislosigkeit zwischen der Mehrheitsbevölkerung im Aufnahmeland und den Neuankömmlingen – z. B. in Deutschland und Österreich zwischen den Flüchtlingen aus Syrien seit 2015 und den Einheimischen. Auch kulturell sehr offene und migrationsfreundliche Psychotherapeutinnen und soziale Helfer erleben ihre Erfahrungen in Therapien oder Beratungen in Flüchtlingscamps, in Migranten-Communitys oft als zutiefst verunsichernd. Denn die therapeutische Technik und auch die »Ideologie« unserer Psychotherapie basiert auch auf dem Konzept eines Independent Self und ist daher ohne interkulturelle Adaptionen nur schwer auf Patientinnen und Patienten mit Herkunft aus außereuropäischen Kulturkreisen anwendbar. Aber auch jenseits therapeutischer Bemühungen bleibt diese für uns heute so ungewohnte Priorisierung der Familie, der Großfamilie oder des Clans bei gleichzeitiger Nachreihung des Individuums beunruhigend und löst daher starke Emotionen zwischen Verachtung für die »Unreife« dieser Zuwanderer, aber auch manchmal Neid auf ihre familiäre Solidarität aus. Salman Akhtar

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In solchen kollektivistischen oder soziotropen Kulturen hat der soziale Zusammenhang, haben Bindung und Zugehörigkeit eindeutig Priorität vor den Autonomiebedürfnissen des Einzelnen, dessen Position in der Hierarchie vorgegeben und fixiert ist. Daher wird auch jede Veränderung als potentiell gefährlich erlebt, Traditionen sind viel wichtiger als bei uns und die Familie, der Clan ist die entscheidende Existenzsicherung. Das Individuum wird in die Gemeinschaft hineingeboren, seine soziale Identität wird ihm zugewiesen und bleibt lebenslang gleich. Jedes Individuum ist auch verantwortlich für das Ansehen der Familie, ja des ganzen Stammes und dementsprechend hat das »Wahren des Gesichts« oft auch Vorrang vor rationalen Überlegungen. Wir erleben eine hohe Orientierung an Schamfreiheit, weniger Fixierung auf Schuld als bei uns. Das Gerechtigkeitsziel ist dementsprechend eine Wiedergutmachung und weniger die Strafe, die Konsequenzen einer Verfehlung trägt das Kollektiv und nicht wie bei uns das Individuum. Zusammenfassend könnte man sagen, dass beim Interdependent Self die Wir-Identität viel stärker ausgeprägt ist als in unserer Kultur des Individuums, die Ich-Identität hingegen deutlich geringer.

Die entscheidende Wichtigkeit der Sprache Das wohl wichtigste Hilfsmittel auf dem Weg zu einer gelungenen Balance zwischen »Ich« und »Wir« und der damit verbundenen Identitätstransformation ist bei Migranten das Füllen des Zwischenbereiches, des Übergangsbereichs zwischen Ich und Wir durch Teilnahme an der Kultur, durch zunehmendes Interesse für die Kultur des Aufnahmelandes. Im positiven Fall interessiert sich der Einwanderer zunehmend für Filme, Literatur und Populärkultur seines neuen Landes und kann für sich als Individuum diese Kulturprodukte als bedeutsam empfinden. Die Kultur wird dann eine geeignete Zone zum relativ gefahrlosen Ausprobieren neuer Beziehungsmuster, zum zunehmenden Interesse an den vorerst so fremden Regeln und Ritualen des neuen Landes. Auch die Beziehungsmuster zwischen den Generationen und den Geschlechtern können, ja müssen Einwanderer oft aus Fernsehserien, aus Filmen kennenlernen – und können dadurch ihre eigenen Verhaltens112

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

muster der Herkunftskultur modifizieren. Gerade die technischen Entwicklungen mit der Möglichkeit des weltweiten Satellitenfernsehens haben dazu geführt, dass Migranten die Fernsehprogramme aus der Heimat auch im neuen Land empfangen können – und schlimmstenfalls nur diese Programme empfangen. Jede kulturelle Teilnahme aber ist nur möglich durch das Erlernen, Verstehen und Sprechen der neuen Sprache: Sie ist das wichtigste Mittel für die Entwicklung eines neuen Wir-Gefühls. Und auch hier ist es ein weiter Weg von der Einsprachigkeit in der Muttersprache über den Gebrauch der Fremdsprache als Introjekt bis hin zu einem wahren Bilingualismus. Meist wird am Anfang dieses Weges die Muttersprache idealisiert. Die narzisstische Illusion wird gepflegt, dass nur diese Sprache die Dinge gut und adäquat ausdrücken kann, während die neue Sprache als schwach abgewertet wird.110 Diese Abwertung der zu erlernenden Zweitsprache imponiert oft geradezu als Spiegelbild der Selbstabwertung des Migranten bzw. seiner subjektiv erlebten Abwertung durch die Ankunftskultur. Das Leiden an der Fremdsprache, in der jetzt kommuniziert werden muss, erlebte sogar Sigmund Freud nach seiner Flucht nach London 1938. Obwohl er fast perfekt Englisch sprach, schrieb er tieftraurig kurz nach seiner Ankunft in England an Raymond de Saussure: »… den Umstand, den der Emigrant als so schmerzlich empfindet. Es ist – man kann nur sagen – der Verlust der Sprache, in der man zu leben und zu denken gewohnt war und welche man trotz aller Versuche der Empathieentwicklung nie durch eine andere wird ersetzen können. Mit schmerzlichem Verständnis beobachte ich, wie mir sonst vertraute Mittel des Ausdrucks im Englischen versagen …«111 Und das schrieb ein Mann, der ein Leben lang Englisch gelesen hatte, selbst englische Bücher übersetzt hatte, zahlreiche Analysen auf Englisch durchgeführt hatte. Wie viel dramatischer also muss diese Situation für jene Emigranten sein, die nicht so privilegiert sind, die Sprache des Ankunftslandes exquisit zu beherrschen, die auch meist nicht so herzlich empfangen werden wie damals Freud in England. Kein Wunder, dass in einer solchen Situation die perfekt beherrschte Die entscheidende Wichtigkeit der Sprache

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Muttersprache idealisiert und verklärt wird. Davon kann auch der so erfolgreich in den USA assimilierte Salman Akhtar im wahrsten Sinne des Wortes ein Lied – oder ein Gedicht – singen: In einem seiner Gedichte schreibt er über die Schwierigkeit des Verzichts auf die Muttersprache: »The silk of our mother tongue is banned from the fabric of our dreams.«112 Immer wieder betont Akhtar, dass seine vier Dimensionen der Identitätstransformation weder voneinander unabhängig sind noch erschöpfende Erklärungen für die komplizierten Vorgänge bei und nach der Emigration bieten können. Diese Entwicklungsschienen hätten allesamt keine Endpunkte, die auf die Migration folgende Identitätsveränderung dauere das ganze folgende Leben lang an, und natürlich sind die Erfolgschancen der Einwanderer sowohl von ihnen selbst als auch vom Empfang im neuen Land abhängig. Bei jenen Menschen, die bereits vor der Migration ausreichende Fähigkeiten zum Empfinden einer intrapsychischen Getrenntheit entwickelt hatten, die auch zumindest einigermaßen freiwillig emigrierten und auch im Einwanderungsland hinreichend positiv aufgenommen wurden – bei ihnen und nur bei ihnen kann die so komplexe Transformation der Persönlichkeit gelingen. Selbst in diesen Fällen aber gibt es zwischen den Extremen der nostalgischen Verklärung des Herkunftslandes und der Über-Assimilation an den neuen Kulturkreis viele Identitätsfallen. Oft genug bleibt es unklar, ob nach der Erfahrung von Trauer, aber auch von Befreiung durch den Prozess der Emigration die neu geschmiedete Identität eine einigermaßen stabile »hybride Einheit« geworden ist oder nur ein lockeres, wenn auch oft sehr gut funktionierendes Nebeneinander diverser »Selbste«. All dies hängt nicht nur vom realen, äußeren oder materiellen Erfolg im Ankunftsland ab. Dazu abschließend ein Brief der von Akhtar so geschätzten Kollegin Anni Bergman, die im Gegensatz zu Akhtar ihr Herkunftsland nicht freiwillig verließ, sondern vor den Nazis fliehen musste. Auf Akhtars Frage, wo sie sich denn am Ende ihres Lebens zuhause fühle, in den USA oder in Österreich, antwortete sie ihm: »Ich liebe mein Zuhause. Aber ist es wirklich mein Zuhause? Das Zuhause ist, wo wir herkommen. Wenn ich nach Wien komme, gehe ich 114

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immer zu dem Haus, in dem ich geboren wurde und zwanzig Jahre lebte. Ist es mein Zuhause? Nein. So habe ich in gewisser Hinsicht kein Zuhause, fühle mich jedoch an vielen Orten heimisch. Auswanderung bedeutet neben vielen anderen Dingen, sich in mindestens zwei Sprachen zuhause und sich vielleicht an vielen Orten heimisch zu fühlen. Für mich bedeutet es aber auch ein ewiges Sehnen nach Zugehörigkeit, welches nie wirklich erfüllt wird.«113

Heimat in der Sprache – Entfremdung in der Fremdsprache Viele Intellektuelle und speziell viele Schriftstellerinnen klagen oft, dass sie sich in ihrem Heimatland nicht wirklich zuhause fühlen. Ihre wahre Heimat aber würden sie in der Sprache finden, in ihrer Muttersprache. Dementsprechend ist es nur logisch, dass der Verlust dieser Sprach-Heimat durch Exil oder Flucht als besonders schmerzlich empfunden wird: Dies wurde und wird in unzähligen autobiographischen Zeugnissen von Migrantinnen immer wieder als ungemein leidvolle Erfahrung beschrieben – und zwar auch von Arbeitern und Bauern, besonders aber natürlich von jenen Intellektuellen, deren Handwerkszeug im Ursprungsland die Sprache war. So schrieb z. B. Hannah Arendt unmittelbar nach ihrer Ankunft in den USA in ihrem zornigen Essay »Wir Flüchtlinge«: »Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.«114 In diesem Zitat klingt auch die Untrennbarkeit von sprachlichem und non-verbalem Ausdruck in jeder Kommunikation und Interaktion deutlich an: Die zur Begleitung und Untermalung der verbalen Botschaft in der Herkunftskultur so natürlichen und selbstverständlichen Gesten und Gebärden wirken als »Begleitspur« in der Fremdsprache oft plump und unpassend. Der Migrant ist peinlich eingeschränkt in der daheim so selbstverständlichen Fähigkeit, den Affektausdruck des Gesprächspartners zu lesen und darauf seinerseits zu reagieren. Ein Großteil der vom Kind durch das Erlernen der Muttersprache erreichten Autonomie, aber auch die Gemeinsamkeit Heimat in der Sprache

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mit seiner Umgebung ist verloren und schon dadurch wird das Erlernen der Fremdsprache zwangsläufig zur re-infantilisierenden Erfahrung. Als Kinder erlernen wir die Muttersprache im Kontext der frühestens Beziehungen, primär eben in der affektiven Beziehung zur Mutter, deren Stimme uns sogar schon im Mutterleib begleitet. Die ersten Worte werden für immer untrennbar bleiben von der Qualität dieser Gefühlsbindung, in der sie gehört, schließlich erlernt und selbst ausgesprochen werden. Aber auch die Qualität, der Sprachreichtum des Herkunftsmilieus insgesamt wird die entstehenden sprachlichen Fähigkeiten des Kindes lebenslang prägen und auch die Bedeutung, die ein Kind später dem sprachlichen Ausdruck in seinem Leben gibt. Die Internalisierung dieser Muttersprache mit all ihren symbolischen Feinheiten ist sowohl auf die Bereitschaft und die Kompetenz eines entstehenden kindlichen Ich als auch auf die Befriedigung der Es-­ Anteile angewiesen. Deshalb lieben Kinder die emotionalen, primärprozesshaften Erlebnisse beim Hören und späteren Nachsprechen von Reimen, beim Singen von Liedern. So erhalten Worte und Sätze ihr Bedeutungsumfeld, ihre assoziative Färbung, die für uns alle ein Leben lang subjektiv so wichtig bleibt. Durch das Erlernen der Sprache kann das Kind viel umfassender als vor dem Spracherwerb sowohl seinen eigenen Gefühlen, Ängsten und Wünschen Ausdruck verleihen als auch kognitive und emotionale Botschaften von anderen empfangen. Erst dadurch wird es endgültig eingebunden in den emotional geteilten heimatlichen Raum der Muttersprache. Erst jetzt kann das Kind durch sein Sprechen andere dazu bringen, es zu schätzen, zu verstehen, vielleicht sogar zu bewundern. Allerdings braucht es dafür viele Jahre der Übung, um schließlich zumindest in einer Sprache sowohl die Worte als auch die Syntax und Grammatik vollständig zu beherrschen und im Idealfall auch Melodie und Sprachklang genießen zu können. Die subtilen sprachlichen Nuancen – durch dialektale Färbung oder Verwendung spezieller Worte – sind auch ein wesentlicher Teil unseres Habitus, signalisieren den sozialen Status und stehen lebenslang in einem intensiven Verhältnis zu jenen frühen Objekten, von denen wir sie lernten. 116

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Es ist also kein Wunder, dass das Erlernen einer Fremdsprache – und zwar nicht als Kind in der Schule, sondern unter sozialen und psychischen Extrembedingungen nach einer Flucht – eine extrem schwierige Aufgabe bleibt. Dies gilt sogar unter den Idealbedingungen, also für extrem lernwillige Migrantinnen in einer sie wohlwollend empfangenden neuen Umgebung. Es gilt sogar für Binnenmigranten, wenn sie von ihrem Herkunftsdialekt in die Schriftsprache wechseln müssen. Bei diesen Überlegungen geht es mir nicht primär um das im Integrationsdiskurs tausendfach wiederholte Mantra von der Inte­ gration durch Erlernen der neuen Sprache. Es geht mir um eine tiefere, großteils unbewusste Ebene: Auch die allermeisten jener Migranten, die eine neue Sprache schnell und gut lernen, können oft noch Jahre nach erfolgter Flucht nicht in der neuen Zweitsprache »ankommen«. Sie fühlen sich in der neuen Sprache nicht heimisch und dementsprechend »fremdeln« sie auch im Ankunftsland immer noch trotz aller intensiven Bemühungen um Assimilation. Als Folge davon schildern Betroffene massive Identitätskrisen und ein Grundgefühl von Heimatlosigkeit, von Ausgeschlossensein aus ihrer neuen kulturellen Umgebung. Schlimmstenfalls berichten sie über das Gefühl, überhaupt niemand zu sein – weil die alte Sprache fast vergessen ist und die neue noch nicht gewonnen. In einem psychoanalytischen Klassiker zum Thema Mehrsprachigkeit, »Das Babel des Unbewussten«, beschreiben Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri und Jorge Canestri die Zerrissenheit, den Loyalitätskonflikt zwischen zwei Sprachen. Für eine erfolgreiche ­Lösung dieser Problematik muss der Migrant auf die narzisstische Illusion verzichten, dass seine eigene Muttersprache die beste sei und die einzige, in der die Komplexität des Lebens adäquat ausgedrückt werden kann. Auf der anderen Seite muss er die Gefühle von Scham überwinden und die Angst, sich lächerlich zu machen – die narzisstische Verletzung beim Erlernen der Fremdsprache.115 Als berührendes Beispiel dafür, wie schwer es auch für hochintelligente und fast allzu anpassungswillige Auswanderer sein kann, in ihrer Zweitsprache »anzukommen«, wird oft das Buch von Eva Hoffman »Lost in Translation. A life in a new language« angeführt. Heimat in der Sprache

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Eva Hoffman: Lost in Translation Eva Hoffman wurde 1945 in Krakau geboren. Ihre jüdischen Eltern hatten den Holocaust nur knapp überlebt: Sie hatten sich in Erdlöchern im Wald versteckt, waren mehrmals verraten, aber auch von polnischen Bauern versteckt und letztlich gerettet worden. Die meisten Verwandten wurden im Holocaust ermordet. Nach Kriegsende schaffte es Evas Vater, mit mehr oder weniger legalen Geschäften in Krakau zu bescheidenem Wohlstand zu kommen. Die Familie lebte in vergleichsweise komfortablen Verhältnissen und so erhielt Eva schon als kleines Kind Klavierunterricht. Ihr wurde großes Talent attestiert und sowohl ihre Mutter als auch sie selbst sahen sie schon als künftige Konzertpianistin. Im Zuge des zunehmenden Antisemitismus im kommunistischen Polen wurden jüdische Familien schikaniert und zur Ausreise gedrängt und so verließ auch Eva Hoffmans Familie 1959 Krakau in Richtung Kanada, um sich in Vancouver niederzulassen. In der Rückschau dieser ersten Jahre nach der Emigration erschien Eva das ärmliche Leben in Krakau als verlorenes Kindheitsparadies: »Ich wusste nicht, dass wir arm waren. Es gab ein Gefühl der Gemeinschaft und Solidarität, der Nachbarschaft wegen der schrecklichen Zeiten, die alle im Krieg erlebt hatten. Die Barrieren zwischen den Menschen waren dort nicht so hoch. Es gab menschliche Wärme, aber auch viel Platz zum Phantasieren und Spielen.«116 In Krakau war die Zukunft für Eva klar vorgezeichnet: Ihre Bestimmung war es, eine berühmte Pianistin zu werden und ihre Sandkastenliebe Marek zu heiraten. Beide Zukunftspläne musste sie nach der Ankunft in Kanada verloren geben. Auf der Ebene der äußeren Realität gelang ihr zwar verblüffend schnell die Assimilation, vor allem durch ihr erfolgreiches Erlernen des Englischen. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die sich in Vancouver immer marginalisiert fühlten und auch nie zum erhofften Wohlstand kamen, wurde Eva bereits in ihrer Pubertät zu einer Vorzeige-Immigrantin. Sie durfte an ihrer High School sogar die Abschlussrede halten und erhielt wegen ihrer hervorragenden Noten auch ein Universitätsstipendium. Das Studium erforderte 118

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allerdings eine Zweit-Auswanderung ins mehr als dreitausend Kilometer entfernte Texas. Nach erfolgreichem Abschluss an der dortigen Rice-University ging sie für ein Jahr nach New York an die Yale School of Music. Dann aber legte sie ihren Traum von der Pianisten-Karriere endgültig ad acta, um ihre in den USA neu entstandene zentrale Phantasie zu realisieren: Sie wollte eine »Metropolitan intellectual« werden und schaffte dies nach einem Abschluss in Harvard auch. Viele Jahre arbeitete sie erfolgreich als Kritikerin u. a. für die »New York Times«, schrieb mehrere erfolgreiche Bücher – insgesamt also eine Traumkarriere für eine arme Migrantin aus Polen. Weltbekannt aber wurde sie erst mit jenem Buch, in dem sie sich mit dem Preis dieser scheinbar so perfekten Assimilation auseinandersetzt: Genau dreißig Jahre nach der Ankunft der kleinen Eva in Vancouver erschien 1989 »Lost in Translation«. In ihren Erinnerungen beschreibt sie die Verunsicherung des Kindes nach der Ankunft und die jahrzehntelang übermächtige Sehnsucht nach der alten Heimat. Im ersten Teil des Buches – »Paradise« betitelt – schildert sie detailreich und sinnlich das verlorene Kindheitsparadies in Polen. Im Mittelteil »Exile« stellt sie die schwierigen Jahre nach der Ankunft in Kanada dar und erst im Schlusskapitel »The new world« erfahren wir von ihrer »wirklichen« Ankunft, nämlich der in der englischen Sprache. Dies allerdings war ihr erst ein Vierteljahrhundert nach ihrer Ankunft in Vancouver möglich. Die folgenden Zitate habe ich bewusst im englischen Original belassen, um den durch Übersetzung ins Deutsche unvermeidlichen Verlust an Eindringlichkeit zu vermeiden und die von Hoffman geschilderte Spannung zwischen dem Polnischen und dem Englischen nicht noch durch eine »Drittsprache« zu verkomplizieren. Eva Hoffman beschreibt ihr Leben im Ankunftsland Kanada mit dem erstaunten Blick eines intelligenten, aufmerksamen, aber misstrauischen Kindes: »Everything is strange to the eye of a stranger.« Und alles erscheint ihr noch fremder, kälter und lebloser durch die neue Sprache: »I am interested in how we are constructed by language and by culture. There is some kind of dialectic going on, but we can never grasp what it is that engages with language.« Durch ihren aufgeweckten, aber Heimat in der Sprache

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auch skeptischen Blick wird das kanadische Leben der Sechzigerjahre lebendig und das Erstaunen des Kindes über das Ausmaß des vorhandenen Luxus: Hier gibt es sogar Toilettenpapier in verschiedenen Farben! Aber Eva vermisst die Wärme und die affektive Intensität des Lebens in Polen. Und sie macht die für sie schreckliche Erfahrung, dass die neue Sprache, die sie so schnell erlernte, für sie emotional nicht tragfähig ist. Das beginnt schon bei vergleichsweise unwichtigen Details: So erlebt sie den Wechsel vom warmen Klang des polnischen »Ewa« zum kühlen englischen »Eva« oder »Eve« als wahre »Umtaufung«, die sie völlig verwirrt. Für alle Worte aber ergibt sich das prinzipielle Problem, dass »the signifier has become severed from the signified. The words I learn now don’t stand for things in the same unquestioned way they did in my native tongue.«117 Während z. B. im Polnischen das Wort für Fluss für sie einen vitalen, energiereichen Klang hervorruft »with the essence of riverhood«, klingt das englische Wort »River« nur kalt, es ist »a word without an aura«. Es bietet für sie keine akkumulierten Assoziationen, keinen strahlenden Glanz der Konnotationen: »It does not evoke.«.118 Dadurch wird es Eva auch unmöglich, nach Belieben mit Worten zu spielen wie in ihrer Muttersprache. Die radikale Trennung zwischen den Dingen und den Worten ist für sie eine »desiccating alchemy«, die ihre Welt austrocknet, von jeglicher Signifikanz entleert, die alle Farben, Schichtungen und Nuancen für sie verunmöglicht. »It is the loss of a living connection.«119 Und so beschreibt sie die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn die Sprache, in der wir mit uns selbst sprechen, nicht dieselbe Sprache ist, in der wir mit anderen kommunizieren. In ihren ersten unglücklichen Jahren in Vancouver schildert sie, dass sie abends »in a strange bed in a strange house« vergeblich auf den spontanen Fluss ihrer inneren Sprache wartet, der ihr in Polen allnächtlich vorm Einschlafen ihre Selbstgespräche ermöglicht hatte als »my way of informing the ego where the id had been.«120 Jetzt kommt nichts, keine Nachricht aus ihrem Unbewussten, dem Es. Denn das Polnische ist innerhalb kurzer Zeit atrophiert, ist durch Nutzlosigkeit vertrocknet. Die polnischen Vokabeln sind nicht anwendbar auf ihre 120

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neuen Erfahrungen, die Worte des Englischen aber haben noch keinen emotional gesättigten »Hof«, keine Aura von Erinnerungen. So hat sie keine innere Sprache mehr und ohne diese werden auch ihre inneren Bilder immer verschwommener und blasser. Erst ganz allmählich taucht die neue Sprache auch an ihrem innerpsychischen Horizont auf: »The cultural unconscious is beginning to exercise its subliminal influence.«121 Die logische Folge dieser Entfremdungserfahrung im Ankunftsland ist die Idealisierung des verlorenen polnischen Paradieses, denn »loss is a magical preservative«.122 Das Bild der Heimat kann durch die neueren Entwicklungen nicht mehr beschädigt werden. Das Haus, der Garten und das ganze verlorene Land bleiben unverändert, eingefroren in der Erinnerung. »Nostalgia – that most lyrical of feelings – crystallizes around these images like amber. Arrested within it, the house, a past, is clear, vivid, made more beautiful by the medium in which it is held and by its stillness.«123 Und so wird für Eva Hoffman die Nostalgie zu einer Quelle sowohl von Poesie als auch von melancholischer Treue zur alten Heimat: »As I walk the streets of Vancouver I am pregnant with the images of Poland …«124 Als Erwachsene unterscheidet sie dann zwei verschiedene Typen von Nostalgie: Die Fraktion der Konservativen des Gefühls glaube, dass die eigene vergessene Geschichte ein wirksames Antidot zur Bewältigung der Flachheit der Gegenwart sei. Demgegenüber sehen die Ideologen der Zukunft eine solche Bindung an die Vergangenheit als Monster an: Derlei möge man aus der menschlichen Seele herausschneiden ohne Selbstmitleid, denn es verhindere die unvermeidlichen Veränderungen im Laufe eines Lebens. Aber durch die Unmöglichkeit der emotionalen Ankunft in der neuen Sprache bleibt für Eva auch der Affektausdruck im neuen Land schwierig: »Even the design and thrust of our passions is in large part written by where and when we happen to live.«125 Und noch dazu musste sie in einem besonders vulnerablen Lebensalter emigrieren. Ihre Passionen waren durch das jugendliche Alter zwar noch nicht so fixiert, dass sie nicht umgeschmolzen werden konnten, sie seien allerdings Heimat in der Sprache

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bereits mächtig genug gewesen, um diese Einschmelzung immens schmerzvoll zu gestalten.126 Trotz aller Schwierigkeiten, Krisen und Depressionen aber versucht Hoffman beharrlich, ihre beiden inneren Welten, ihre beiden Heimatländer zu verbinden. In diesem Zusammenhang schildert sie als für sie negatives Beispiel die Autobiographie einer früheren Emigrantin in die USA: Die russische Jüdin Mary Antin hatte ihre Auswanderung und die Jahrzehnte danach in den USA als reine Erfolgsgeschichte beschrieben und betont, dass sie ihr Herkunftsland möglichst umfassend vergessen wollte: »I want to forget – sometimes I long to forget. It is painful to be consciously of two worlds.«127 Im Gegensatz dazu wird Hoffman von ihrem Studienkollegen Michael Ignatieff als jemand beschrieben, die keine ihrer beiden Seiten amputieren wollte. Viele Migranten würden sich für die eine oder andere Seite entscheiden, doch »sie hat sich für beide Seiten entschieden.«128 Beharrlich versucht die Autorin sowohl die Sprache selbst als auch die Affektsprache ihres Ankunftslandes zu erlernen, anfangs auch oft nur nachzuahmen: »Perhaps a successful immigrant is an exaggerated version of the native.«129 Dabei liefert sie auch fast ethnologisch anmutende Beschreibungen der für sie anfangs so fremden und befremdlichen Rituale wie z. B. der heftigen Affektstürme während eines Footballspieles, die ihr so fremd blieben wie aztekische Bräuche. So schwer es ihr anfangs in Vancouver fällt, die neuen Erfahrungen zuzulassen, so schwierig wird es mit Fortgang ihres Studiums und Entwicklung eines Freundeskreises mit amerikanischen Kolleginnen und Kollegen, ihr altes Selbst in sich aufrecht zu erhalten. Sie fühlt sich jetzt wie eine Astronautin, die immer weiter in den Weltraum hinausgetrieben wird: »I know that I cannot sustain my sense of a separate reality forever, for after all, the only reality is a shared reality, situated within a common ground.«130 Die definitive psychische Ankunft aber bleibt für sie noch jahrelang schwierig, denn »I have to find a way to lose my alienation without losing myself«.131 Für diese schwierigste Aufgabe, authentisch zu bleiben, ohne aber dadurch sozial autistisch zu werden, sucht sich Hoffman schließlich therapeutische Hilfe: Sie absolviert in New York 122

Identität und Heimat – Identität als Heimat?

eine Psychoanalyse und beginnt anschließend sogar eine analytische Ausbildung. Ihre Lehranalyse aber gibt sie schließlich wieder auf, um weiter als Schriftstellerin zu arbeiten. Ihre Analyse wird natürlich auf Englisch geführt – eine weitere intensive Übersetzungs-Erfahrung: »For me, therapy is partly translation therapy, the talking cure a second-language cure.«132 Schließlich kommt sie zur Einsicht, dass ihre einzige Möglichkeit, »the great divide« zu überwinden, darin besteht, alles noch einmal auf Englisch zu erleben: »It’s only when I retell my whole story, back to the beginning, and from the beginning onward, in one language, that I can reconcile the voices within me with each other; it is only then that the person who judges the voices and tells the stories begins to emerge.«133 Allmählich beginnt sie, dem Englischen soweit zu vertrauen, dass ihr Kindheits-Selbst Englisch sprechen kann, um das lange Verborgene auszudrücken: »In English, I wind my way back to my old Polish melancholy. When I meet it, I reenter myself, fold myself again in my own skin.«134 Dieses Erlebnis des »Re-Entry«, die Wiedergewinnung ihres Selbst erlebt sie als überwältigende Erfahrung beim Lesen eines Gedichtes von T. S. Eliot. Erstmals empfindet sie Englisch für sich als eine »Heimatsprache«. Der entscheidende Gewinn ihres langjährigen Kampfes um ein Leben in beiden Kulturen aber bleibt für Eva Hoffman ihre intensive persönliche Erfahrung der kulturellen Relativität: »Because I have learned the relativity of cultural meanings on my skin, I can never take any one set of meanings as final.«135

Nostalgie und Heimweh: Verschiebung und Idealisierung? Das Wort Nostalgie taucht erstmals 1688 in der Dissertation des Schweizer Arztes Johannes Hofer auf. Es ist ein Kunstwort, eine Kombination aus »nostos« (Heimkehr, das Wort findet sich schon in der Odyssee) und »algos« (Schmerz). Ebenso wie das deutsche Wort Heimweh steht Nostalgie für eine krankhafte, schmerzliche Sehnsucht Nostalgie und Heimweh

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nach dem Heimatland: Hofer beschrieb drei Fälle von Schweizer Söldnern im Ausland, die aus Heimweh an Melancholie, Schlaflosigkeit und psychosomatischen Symptomen litten. In der Folge wurde die Nostalgie in ganz Europa bekannt als »Schweizer Krankheit«. Denis Diderot schrieb den Eintrag zum Thema »Hemvé« in der »Enzyklopädie«. Jean-Jacques Rousseau schrieb über die dramatischen Folgen nach dem Singen des »Kuhreigens« (ein Schweizer Hirtengesang, der auch in der klassischen Musik – bis hin zu Wagners »Tristan« verwendet wird). Laut Rousseau intensivierte sich nach dem Hören des »Kuhreigens« das Heimweh der Soldaten so sehr, dass sie desertierten oder sogar starben.136 Ähnliche Wirkungen wurden auch über den Zauber vaterländischer Musik berichtet, über die Tiroler nach dem Jodeln, über die Steirer nach ihrem Wechselgesang über die Berge und über die Schotten nach dem Klang der Sackpfeife – so Karl Jaspers in seiner Dissertation »Heimweh und Verbrechen« von 1909. Er berichtet von verzweifelten Bauernmädchen, die sich als Dienstmädchen in der Stadt heimwehkrank fühlten, im einsamen Bette viel weinten und oft genug schließlich das Haus der Herrschaft anzündeten, um ihrem unerträglichen Zustand ein Ende zu bereiten. Mit der Romantik setzte die Umdeutung und Bedeutungsausweitung des Heimweh-Begriffs ein: Seit damals kennen wir die Nostalgie als bittersüßes Verlangen nach einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit bzw. Heimat. Daher findet sich der Schweizer Soldat so häufig als Figur in romantischen Gedichten. Auch im Englischen entstand die noch heute gültige Definition in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: »A longing for something far away or long ago.« Schon Jaspers beschrieb die Zusammensetzung eines kognitiven Aspekts (Erinnerungen an einen Ort oder eine Zeit) mit dem bittersüß-melancholischen Affekt als Charakteristikum der Nostalgie. Die Psychoanalytiker setzten dann Heimweh gleich mit der Sehnsucht nach der Mutterbrust (so Editha Sterba, 1934) oder als Wunsch nach einer Rückkehr zur prä-ödipalen Mutter (Otto Fenichel, 1945). David S. Werman definierte 1977 die »nostalgische Objektbeziehung«: Dabei würde das verlorene Objekt weder internalisiert noch würde 124

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ausreichend Trauerarbeit geleistet. Das Objekt sei dadurch wie eingefroren in der Erinnerung. Schon davor hatten Nawas und Platt 1965 die zeitliche Dimension verschiedener Formen von Nostalgie differenziert: Während in der »past oriented view« die nostalgische Person zu jemand oder etwas in der Vergangenheit zurückkehren möchte, beschreiben sie die »present oriented-option« der Nostalgie als Reaktion auf mangelhafte Adaption an das aktuelle nicht-heimatliche Umfeld, verbunden mit Zukunftsängsten. Für beide Formen sahen die Autoren damals speziell »lower class people« bzw. traditionell orientierte Menschen als besonders anfällig an – im Gegensatz zur eher rationalen und zukunftsorientierten Mittelklasse. Bei Werman scheint mir der Vergleich der Nostalgie mit der Phantasie interessant. Laut Freud ist die Phantasie ein Ersatz für die Wunscherfüllung. Während aber die Phantasie durch reale Erfüllung eines Wunsches weniger intensiv wird oder ganz verschwindet, ist die Nostalgie kein Ersatz für einen Wunsch, sondern eine Erfahrung der Vergangenheit, die um ihrer selbst willen erinnert wird.137 Als bekanntestes Beispiel aus der Literatur führt Werman natürlich Marcel Proust an mit seiner monumentalen Erinnerungsarbeit »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. »Prousts Worte wurden zur ekstatischen Kristallisierung seiner Nostalgie.«138 Außerdem zitiert er Eduard Mörike, der in seinem Gedicht »Im Frühling« die bittersüße Grundstimmung der Nostalgie so wunderbar evozierte: Ich denke dies und denke das, Ich sehne mich, und weiß nicht recht, nach was: Halb ist es Lust, halb ist es Klage; Mein Herz, o sage, Was webst du für Erinnerung In golden grüner Zweige Dämmerung? – Alte unnennbare Tage! 139 Wie Salman Akhtar betont auch Werman die häufige Abwesenheit von Objekten, speziell von lebenden Objekten in den nostalgischen Szenarien: »Ein grundlegender Zug der Nostalgie ist die häufige AbNostalgie und Heimweh

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wesenheit von unbewussten Objekt-Repräsentanzen in der nostalgischen Erinnerung.«140 Die Ursache für diese Absenz sieht Werman in der Verschiebung der affektiv-kognitiven Erinnerung weg vom ursprünglichen Objekt und hin zu einem idealisierten Ort, mit dem dieses Objekt einst assoziiert wurde. Insgesamt fungiert Nostalgie für Werman sowohl als Deckerinnerung als auch als »Deck-Affekt« und sie bringt durchaus angenehme, süße Gefühle, wenn sie auch mit einer milden Traurigkeit assoziiert ist.141 Alle oben genannten Analytiker sehen also in der nostalgischen Erinnerung eine Verschiebung weg vom ursprünglich ersehnten Objekt und eine Idealisierung der Vergangenheit, wodurch sowohl die Trauerarbeit als auch ein bewusstes Erleben des Konfliktes vermieden werden. Dies aber entspricht genau der Psychodynamik des Melancholikers. Akhtar unterscheidet noch verschiedene Ausmaße der Idealisierung je nachdem, ob Migrantinnen ihr Heimatland freiwillig verließen oder ins Exil gezwungen wurden. Während Immigranten stärker zur Idealisierung ihres Herkunftslandes neigen, empfindet der Exilant genau das Gegenteil. Deshalb sollte der Analytiker bei der Behandlung eines Einwanderers gefasst sein auf viel nostalgisches Wiederkäuen, beim Exilanten hingegen findet er sehr wenig davon. Insgesamt beschrieb Akhtar die wichtige Funktion des nostalgischen Sehnens als psychischen Balsam zur Linderung von Frustration und Wut.142 Alle bisher referierten analytischen Positionen beziehen sich auf das Heimweh, das nostalgische Sehnen von Individuen. Was aber geschieht, wenn diese so wirkmächtige Kombination von idealisierter Erinnerung und heftiger Emotion in größeren Gruppen, in Kollektiven auftritt? Was könnte die politische Funktion von Nostalgie sein? Gibt es so etwas wie eine »politische Nostal­gie«?

Politische Nostalgie: Reaktionäres Denken oder der Glanz der Vergangenheit Der Begriff der politischen Nostalgie wurde populär durch den Essay »Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion« (2018) des New Yorker Essayisten Mark Lilla. 126

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Darin beschreibt Lilla eine Sequenz des Denkens, Fühlens und durchaus auch Handelns, die ihm und auch uns in den letzten Jahren öfter begegnet ist. Im Credo des politischen Reaktionärs wird jede Zukunft immer durch die Vergangenheit bestimmt: Es gab einmal ein goldenes Zeitalter des glücklichen Zusammenlebens der Menschen in einem harmonischen Staatsgebilde. Die Untertanen orientierten sich an der Tradition und glaubten an Gott. Dann aber kam es zum Sündenfall durch die zersetzende Wühlarbeit von Intellektuellen: Die Harmonie wurde gestört, die Herrschenden wurden geschwächt und konnten die Ordnung nicht mehr aufrecht halten. »Im Zentrum jeder reaktionären Geschichte steht der Verrat der Eliten.«143 Die Konsequenz dieses Verrates ist eine Selbstzerstörung der Gesellschaft, falls nicht jene wenigen Aufrechten, die sich eine positive Erinnerung an das Alte bewahrt haben, Widerstand leisten. Nur von ihnen hängt es ab, ob eine Gesellschaft zur Umkehr fähig oder aber dem Untergang geweiht ist. »Heute sind es die politischen Islamisten, die europäischen Nationalisten und die amerikanischen Rechten, die ihren ideologischen Kindern diese Geschichte erzählen.«144 Auf einer politischen Ebene verband man den Begriff der Nostalgie früher mit der sentimentalen Erinnerungskultur in den amerikanischen Südstaaten oder aber mit der alpinen Brauchtumspflege. Nun aber wird dieser Modus des reaktionären Denkens relevant, ja politisch bedrohlich durch die als unkontrollierbar erlebten sozialen Veränderungen: »Jede größere soziale Wandlung hinterlässt ein neues Eden, das dann wieder zum Objekt historischer Nostalgie werden kann. Und die Reaktionäre unserer Zeit haben entdeckt, dass Nostalgie eine machtvolle politische Motivation ist, noch stärker als die Hoffnung. Hoffnungen können enttäuscht werden, Nostalgie aber ist unwiderlegbar.«145 Vom Verrat der Eliten über den kulturellen Niedergang und den Protest einer selbsternannten reaktionären Gegen-Elite: In den Programmen und Forderungen solcher Gruppen fallen immer wieder die beiden Wort »wahr« und »wieder« auf. Sei es in »Make America great again« oder in der Parole, endlich von der »Willkommenskultur« abzugehen hin zu einer Anerkennung der »wahren Deutschen« etc. Diese Politische Nostalgie

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explosive Verbindung von subjektiv empfundener Kränkung und politischer Nostalgie ist der Nährboden für populistische Bewegungen in den USA und in Europa. Ein Beispiel dafür finden wir auch in der »Ostalgie« und ihren multiplen Ausformungen zwischen Selbstironie und rassistischer Wut.

Politische Nostalgie und Ressentiment als Identitätsstützen: Das Beispiel der »Ostalgie« In den Jahren nach der Wende beobachteten die »Wessis« mit Erstaunen und Befremden die Entwicklung der »Ostalgie« als nostalgische Verklärung und Sehnsucht nach jenem Staat, aus dem erst wenige Jahre davor seine Bürger zu tausenden geflohen waren. Diese Ostalgie führte zu den skurrilen Fernsehshows im MDR-Hauptabendprogramm mit Katharina Witt im blauen Hemd der Jungen Pioniere und zur Begeisterung für genau jene DDR-Konsumgüter, die vor der Wende noch verachtet worden waren. Das Grundgefühl der Vergangenheitssehnsucht prägte auch viele Post-DDR-Romane und Filme um die Jahrtausendwende. So feiert der Held von Jens Sparschuhs »Der Zimmerspringbrunnen« seine größten Verkaufserfolge »unter den Mitgliedern eines DDR-Heimatvertriebenenverbandes«, während der Protagonist in »Good Bye, Lenin« für seine Mutter nach der Wende auf 70 m2 eine imaginäre DDR weiterleben lässt, die über die kapitalistische BRD gesiegt hat – der Film erzählt in einer schrägen Utopie »von einem Land, das es in Wirklichkeit so nie gegeben hat«146. Der Erzähler in Thomas Brussigs »Am kürzeren Ende der Sonnenallee« resümiert am Ende des Romans: »Erinnerung verbringt das Wunder, einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, indem sich jeder Groll verflüchtigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was einmal scharf und schneidend empfunden wurde. Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen.«147 Aber zur Konstruktion einer stabilen »Nach-Wende-Identität« benötigten die Ossis mehr als nur ein schlechtes Gedächtnis: Es bedurfte 128

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für viele einer speziellen Anstrengung, um ihre von den »Kolonisatoren« aus der BRD so entwertete Lebenserfahrung neu und wieder positiv und dadurch sinnstiftend zu erinnern. Sogar die in der DDR als Bürgerrechtler Verfolgten mussten sich dagegen wehren, dass sie nach der Wende nur still sein sollten und dankbar für die Errettung aus der Diktatur: So beharrte Bärbel Bohley darauf, »dass das Leben im Osten sehr viel Spaß gemacht hat. Wir waren traurig, heiter, verzweifelt und haben intensiv gelebt. Auch ein Leben im Osten war ein ganzes Leben.«148 Noch 2018 berichten ehemalige Bürger der DDR von der massiven narzisstischen Kränkung, dass ihr Vor-Wende-Leben auf einmal nichts mehr wert gewesen sein sollte, so der Regisseur Andreas Dresen: »Es ist eine Kränkung, wenn einem die ganze Zeit gesagt wird, man habe sich schuldig zu fühlen, man habe zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre ein falsches Leben geführt.«149 Und Dresens Drehbuchautorin Laila Stieler schildert die Auswirkung einer solchen Kränkung auf die Identität: »Wenn alles weg ist, was du gewohnt bist, bricht auch ein Stück Identität weg.«150 Sichtlich ist für viele »Ossis« die Ostalgie ein Hilfsmittel, um diese Kränkungen und Identitätsstörungen zu bewältigen. Bei solchen Prozessen geht es primär um Trost und nicht um Tatsachen. Gesucht wird eine spirituelle, psychologische und symbolische Wahrheit über die untergegangene DDR, die einem positiven Heimat-Empfinden und einem dadurch positiven biographischen Narrativ näherkommen möchte.151 Die Ostalgie und ihre kulturellen Produkte erfüllen also eine gesellschaftliche Stützfunktion als Kohäsionskern: Geboten wird Verständigungshilfe bei der Herstellung einer Wir-Identität durch die Solidarität mit der alten Bezugsgruppe. Aber eben dieses »Wir«, diese kollektive Identität wurde noch überschattet von einer speziellen Entfremdungserfahrung, einem Gefühl der Vertreibung aus der Heimat. So berichtete der Schriftsteller Bernhard Schlink zehn Jahre nach dem Mauerfall, dass sich seiner Erfahrung nach Deutsche aus den neuen Bundesländern wie im Exil fühlten: »Sie leben, wo sie immer schon lebten, arbeiten vielleicht sogar noch in der gleichen Fabrik, aber alles habe sich verändert und sei ihnen Politische Nostalgie

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fremd geworden – mehr noch, es sei von anderen verändert worden, ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen …«152 »Von anderen verändert …«: Also auch hier eine als Verrat der Eliten empfundene Erfahrung als Kern der politischen Nostalgie und dazu eine migrationsanaloge Erfahrung der ehemaligen DDR-Bürger. Jana Hensel spricht in diesem Zusammenhang vom »migrantischen Kern ostdeutscher Erfahrung – der wahrscheinlich am besten als Heimatlosigkeit zu beschreiben ist«.153 Ähnliches beobachtet die Migrationsforscherin Naika Foroutan. Sie arbeitet über die Parallelen in den Einstellungen/Stereotypen gegenüber Migranten und Ostdeutschen und betont: »Sehr viele Erfahrungen, die Ostdeutsche machen, ähneln den Erfahrungen von migrantischen Personen in diesem Land. Dazu gehören Heimatverlust, vergangene Sehnsuchtsorte, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen. […] Ostdeutsche sind irgendwie auch Migranten: Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen.« 154 Auf Grundlage all dieser »migrantischen« Erfahrungen von Entfremdung, Verunsicherung bis hin zur Verstörung durch Migration ohne Ortswechsel entstanden dann die »ostalgischen« Erzählungen, oft jenseits von Fakten und Rationalität, aber als Versuche der Sinnstiftung und Identitätsstärkung, als Narrative zwischen Mystifikation und Mythos. Die Sehnsucht nach einer DDR, die es so nie gegeben hatte, zielte auf eine konstruktive Nutzbarmachung der biographischen Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft. Laut Herfried Münkler sollen solche mythischen Narrative als Orientierungshilfe dienen, indem sie die Komplexität der geschichtlichen Ereignisse und ökonomischen Prozesse »wegerzählen«155. Auch dreißig Jahre nach der Wende gibt es noch kein sowohl für »Wessis« als auch für »Ossis« gleichermaßen sinnstiftendes gemeinsames Narrativ, das von den Jahren nach dem Mauerfall erzählt. Immer noch stehen einander die Klischeebilder vom »Besser-Wessi« und »Jammer-Ossi« gegenüber – und immer noch klagen viele »Ossis« 130

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mehr über die mangelnde Anerkennung nach der Wende als über das Leid davor in der Diktatur. Für allzu viele Menschen aus den neuen Bundesländern begann mit der mangelnden Anerkennung auch ihr Ressentiment. Der Begriff »Ressentiment« tauchte in den letzten Jahren häufig im politischen Diskurs auf. Aus psychoanalytischer Perspektive kann man Ressentiment beschreiben als eine hochkomplexe Abwehr-Organisation zur Bewältigung von Angst und Verwirrung. Wenn so intensive negative Emotionen wie Beschämung, Hilflosigkeit und Gefühle der Verachtung bewältigt werden müssen, dann kann es zu dieser »zweizeitigen« Abwehrformation kommen. Es beginnt mit einer (oft sehr lange zurückliegenden) subjektiv erlebten Kränkung oder Beschämung, der man ohnmächtig und schwach gegenüberstand. Diese Kränkung wirkt vorerst still nach innen, die Umwelt bemerkt davon nichts: Aber hier keimt die dann jahrzehntelang stumm brütende Wut, evtl. noch verbunden mit unbewusstem Neid, die nach Jahren bis Jahrzehnten der stillen »Gegenverachtung« gegenüber den Kränkenden dann plötzlich explodieren kann. Viele Jahre fühlte man sich zwar ökonomisch und politisch unterlegen, dafür aber moralisch überlegen im Sinne von: Sie glauben, dass sie mit uns alles machen können – aber sie werden schon sehen … Wenn dann ein solches Potential von Wut durch geschickte Demagogen oder durch eine massive Destabilisierung der politischen Situation aktualisiert und reaktiviert wird, dann detoniert diese Zeitbombe. Wenn solche Explosionen von Resignation und Wut kollektiv erfolgen, kann dies im Extremfall auch zu Ereignissen führen wie im Sommer 2018 in Chemnitz: In den hilflosen Erklärungsversuchen nach den dortigen rassistischen Ausschreitungen wurde das Motiv der Kränkung von verschiedensten Seiten angeführt. So z. B. von Hans Vorländer (Zentrum für Demokratieforschung an der TU Dresden): »Sachsen ist ein deutsches Bundesland mit besonderem Bewusstsein – es hat ein ausgeprägtes Opfer-Narrativum. Viele denken, dass sie Opfer nicht beherrschbarer Entwicklungen wurden. […] Entscheidend ist das Gefühl der latenten Kränkung. Das äußert sich dann auch auf der Straße.«156 Politische Nostalgie

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Der schon seit 1981 in Chemnitz tätige Pfarrer Stephan Brenner thematisierte ebenfalls die Kränkung und verband sie explizit mit der Sehnsucht nach früheren Zuständen, also mit der politischen Nostalgie: »Es ist richtig, dass wir in der DDR gewohnt waren, dass für uns gesorgt wurde. Da wurde einem gesagt, was man machen darf und was nicht. Und wenn man sich in das System eingefügt hat, hatte man sein Auskommen.« Brenner betont, dass er diese Zeit nicht mehr herbeisehne, dass wohl aber viele zur Verklärung früherer Zeiten neigen würden, wenn etwas schief laufe.157 Der fein beobachtende Schriftsteller Christoph Hein formulierte – ausgerechnet wenige Tage vor den Ereignissen in Chemnitz – im Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« am 24.08.2018: »Wir haben hier Zerfallserscheinungen erlebt, das Gefühl, dass plötzlich überhaupt nichts mehr gilt. Ich glaube, dass es zu einer Enthemmung kommt, wenn sich jemand zurückgesetzt fühlt.« Um Missverständnisse zu vermeiden: Weder Hans Vorländer noch Pfarrer Brenner noch Christoph Hein (noch der Autor dieser Zeilen) wollen den Rassismus von Chemnitz rechtfertigen. Es geht vielmehr um den Versuch, solch langfristig wirksame Prozesse zu begreifen, die Genese dieser Wut nachzuzeichnen. Dazu noch ein weiteres Stichwort zur Psychodynamik von Norbert Elias. Er postuliert, dass zur gelingenden Identitätsbildung die individuelle Identität des Subjektes nicht genüge, zusätzlich zu dieser »Ich-Schicht« brauche jeder auch eine »Wir-Schicht« als heimatlich-haltendes Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einem Kollektiv. Er braucht also eine kulturelle Identität. Elias führt weiter aus, dass dieses »Wir-Bild« auch eine wichtige soziale Funktion hat. Es gibt dem Einzelnen eine Vergangenheit weit über seine persönliche Vergangenheit hinaus und hat somit auch die Funktion eines kollektiven Gedächtnisses. Wenn aber eine zuvor unabhängige Gruppe ihre Eigenständigkeit aufgibt, sei es durch Assimilation an eine mächtigere Einheit oder durch freiwilligen Zusammenschluss, dann wird nicht nur die Gegen132

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wart der Betroffenen verändert, sondern auch ihre Vergangenheit: Was früher geschah und im »Wir-Bild« der Gruppe weiterlebte, verändert oder verliert seinen Sinn, wenn sich die Identität der Gruppe ändert. Und bei solchen kollektiven Identitätskrisen geht es nicht um rationale Überlegungen: »In Bezug auf die eigene Gruppenidentität haben Menschen keine freie Wahl. Man kann sie nicht einfach auswechseln wie Kleidung.«158 Wenn im Zuge einer solchen Entwicklung wie für die DDR-Bürger in den Jahren nach der Wende das Aufgehen der früheren WirGruppe in einer Gruppe höherer Ordnung als Entwertung verstanden wird, weil sich mit der neuen größeren Einheit keine Wir-Gefühle verbinden, dann hat das laut Elias dramatische Folgen: »Es erscheint schlimmstenfalls als das Verblassen oder das Verschwinden der Wir-Gruppe niedriger Ordnung als eine Art Todesdrohung, als ein kollektiver Untergang und als Sinnentleerung höchsten Grades«.159 Noch Jahrzehnte nach der Wende war der Rahmen, war die Bezugsgruppe für das Wir-Gefühl der Ostdeutschen immer noch eher die DDR als das neue Gesamt-Deutschland. Dazu kam noch, dass die »Ossis« stolz darauf waren, dass sie im Vergleich zu den »Wessis« »deutlich mehr Wir als Ich empfanden«160. Dieses Wir-Gefühl fand im vereinten Deutschland keine neue Heimat. Dazu aber kam noch eine weitere Komplikation bei der Ankunft der »Ossis« im real existierenden Kapitalismus, denn nach 1989 vollzog sich in Deutschland (wie im gesamten Westeuropa) der Beginn einer Veränderung, der Anfang von dem, was wir heute Neoliberalismus nennen. Das bedeutete für alle Bürgerinnen eine Schwächung der Wir-Ebene bei gleichzeitiger Hypertrophie der Ich-Ebene, des jetzt nur mehr autonomen und selbstverantwortlichen Subjekts. Mehr Freiheit lautete jetzt die Devise, heraus aus der als zu eng und muffig empfundenen Sicherheit des langweiligen Wohlfahrtsstaates. Und ausgerechnet in diese beginnende Veränderung hinein kamen die »Ossis«. Es kamen in den ersten drei Jahren nach der Wende 1,4 Millionen ExDDR-Bürger, die in die westlichen Bundesländer auswanderten. BeiPolitische Nostalgie

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leibe nicht nur diese gekränkten »Ossis« beklagten die schlechte Behandlung nach der Wende und warnten vor deren Folgen: In seiner Geschichte der Transformationen Osteuropas nach 1989 konstatierte der Historiker Philipp Ther: »Obwohl dies nie ideologisch begründet oder offen deklariert wurde, wurde die Wirtschaft der DDR der radikalsten Schocktherapie im postkommunistischen Europa unterzogen. […] Die deutsche Vereinigung war politisch und rechtlich eine Erweiterung der alten Bundesrepublik.«161 Zum Wende-Jubiläum 2018 schrieb Heribert Prantl von der unvollendeten Wiedervereinigung Deutschlands. Die Einheit sei eher eine Erweiterung Westdeutschlands gewesen als die Vereinigung gleichwertiger Staaten. Deshalb hätte die Mehrheit der DDR-Bevölkerung die Marktwirtschaftsmaschinerie der Treuhand auch als systematische Demütigung empfunden. Ihr bisheriges Leben und ihre Selbstachtung sei dadurch aufgefressen worden und nicht wenige Menschen aus der gewesenen DDR »reagierten und reagieren darauf mit aggressiver Selbstanerkennung, mit Überhebung gegen Ausländer und Flüchtlinge.«162 Ich habe die obigen Positionen so ausführlich zitiert, weil man meiner Meinung nach daraus erkennen kann, wie massiv emotionale und oft unbewusste Faktoren des politischen Denkens dieses komplexe Zusammenspiel von Kränkung, Ressentiment, politischer Nostalgie und Funktionalisierung all dieser Phänomene durch populistische Politiker beeinflussen. Natürlich prägt auch bei solchen Massenbewegungen das Sein das Bewusstsein, aber eben nicht nur das materielle und ökonomische Sein: Unser Bewusstsein wird auch vom Gefühl der Anerkennung oder Verachtung geprägt, von unserem gesamten emotionalen Sein und Erleben.

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Identität und Heimat – Identität als Heimat?

III D  er Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

Sigmund Freud: Freiberg/Wien/London: »Die Fremde ist überall so ungastlich …« Sigmund Freud hat sich zum Thema Heimat in den tausenden Seiten seines Gesamtwerkes so gut wie nie geäußert. Im Register seiner Gesammelten Werke, das immerhin 816 Seiten umfasst, steht zwischen den Stichworten »heilsam« und »Heirat« nur: »Heimlich« – siehe auch »Heimliches« – siehe auch »Unheimliches«163. Freud hat fast seine gesamte Lebenszeit an drei Orten verbracht: Die ersten drei Lebensjahre im Geburtsort Freiberg (Příbor) in Mähren und die letzten eineinhalb Jahre seines Lebens in London im Haus in Maresfield Gardens, »unsere letzte Adresse auf diesem Planeten«164. Dazwischen lagen ganze achtundsiebzig Lebensjahre, die er in Wien verbrachte. Trotzdem sind von Freud kaum positive Äußerungen über seine Heimatstadt bekannt, hingegen sehr viele negative, abfällige und verächtliche. Schon als Sechzehnjähriger war ihm die Stadt »ekelhaft« und auch in späteren Jahren gab er wieder und wieder seiner Abneigung gegenüber Wien und den Wienern Ausdruck. Es ist schwer nachvollziehbar, dass jemand, der Wien so erbittert hasste, ein Leben lang dort blieb ohne zwingende Notwendigkeit. Freud hatte die englische Lebensweise immer geschätzt und beherrschte die Sprache perfekt. Er hätte deshalb einer der vielen ehrenvollen Einladungen nach England oder in die USA folgen können. Aber er blieb sogar noch nach 1934 in Wien, weil er den gemäßigten Faschismus des klerikalen Ständestaats-Regimes von 1934 bis 1938 hinnahm als kleineres Übel gegenüber der befürchteten Nazi-Herrschaft. 1934 war er aber bei aller Weltläufigkeit und kosmopolitischer Einstellung auch schon ein alter und kranker Mann, der in seinen Briefen immer deutlicher der Angst vor der Heimatlosigkeit in der EmigraSigmund Freud

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tion Ausdruck gibt: So auch im Brief an Arnold Zweig vom 25.02.1934 (nach dem »Staatsstreich« in Österreich): »Sie erwarten richtig, dass wir in Ergebung hier ausharren wollen. Wohin sollte ich auch in meiner Abhängigkeit und körperlichen Hilflosigkeit? Und die Fremde ist überall so ungastlich.« Patriotische Gefühle als Österreicher bzw. vor 1918 als Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie kannte Freud nicht – mit einer kurzen Ausnahme von wenigen Wochen, als sogar er vom patriotischen Taumel mitgerissen wurde und sich »vielleicht zum ersten Mal seit dreißig Jahren als Österreicher«165 fühlte. Wie bei so vielen Emigrantinnen tauchten auch bei Freud die positiven Äußerungen über die Heimat erst auf, als diese endgültig verloren war: Nach der Ankunft in London, nach dramatischer Flucht vor den Nazis schrieb er am 06.06.1938 an Eitingon: »Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt.«166 Freuds Sohn Martin bemerkte dazu später gegenüber dem Freud-Biographen Peter Gay, dass die so intensive und fast obsessiv geäußerte Abscheu seines Vaters gegenüber der Stadt Wien vielleicht auch so etwas wie eine typisch wienerische Liebeserklärung gewesen sei: Der echte Wiener liebe es, an seiner Heimatstadt herumzunörgeln und zu granteln. Aber jenseits des wienerischen »Raunzens« kann man Freuds durchgehend negative Einstellung zu Wien auch als Aspekt einer lebenslangen Selbststilisierung sehen. Er erlebte sich als einsamen, unbestechlichen Aufklärer, der den verborgenen Motiven der oberflächlich-sinnlichen Wiener auf den Grund ging und deshalb angefeindet und marginalisiert wurde. Im auffälligen Gegensatz zu Freuds negativer Einstellung gegenüber Wien stehen seine sehnsüchtigen und idealisierenden Erinnerungen an das Freiberg seiner frühen Kindheit. Diese Erzählungen der goldenen Jahre haben fast den Charakter eines Familienromans. Obwohl Freiberg in Freuds Kinderjahren massiv antisemitisch geprägt war, obwohl die Familie die Stadt fast fluchtartig verlassen musste, nachdem einer von Freuds Onkeln ins Gefängnis musste – die Erinnerungen des kleinen Sigmund blieben ein Leben lang unverändert positiv: 136

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

»Mit siebzehn Jahren bin ich zuerst wieder als Gymnasiast zum Ferialaufenthalt in meinen Heimatort gekommen. […] Ich meine jetzt, die Sehnsucht nach den schönen Wäldern der Heimat, in denen ich schon, kaum dass ich gehen konnte, dem Vater zu entlaufen pflegte, sie hat mich nie verlassen.«167 Soweit Freud im Alter von dreiundvierzig Jahren. Und noch mit fünfundsiebzig Jahren schrieb Freud in einem Brief an den damaligen Bürgermeister von Freiberg: »Tief in mir überlagert lebt noch immerfort das glückliche Freiberger Kind, der erstgeborene Sohn einer jugendlichen Mutter, der aus dieser Luft, aus diesem Boden die ersten unauslöschlichen Eindrücke empfangen hatte.«168 Besucht hat Freud allerdings sein verklärtes Kindheitsparadies nach 1872 nie mehr. Viel wichtiger aber als seine Verklärung des Geburtsortes oder seine lebenslange Abneigung gegen Wien ist für alle Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker nach Freud seine berühmte Definition des Unbewussten als unser aller »inneres Ausland« geworden. Das berühmte Zitat lautet: »Das Symptom stammt vom Verdrängten ab, das Verdrängte ist aber für das Ich Ausland, inneres Ausland, so wie die Realität äußeres Ausland ist.«169 Das Verdrängte ist auch eines der Schlüsselworte in jenem Text Freuds, der von Analytikerinnen und Analytikern immer wieder zitiert wird zur Frage des Fremden und der Angst vor dem Fremden: »Das Unheimliche«. Ausgehend von einer Analyse der schwarzromantischen Schauergeschichte »Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann versucht Freud hier, das Wesen des Unheimlichen zu erfassen. Er findet schon im Wörterbuch der Gebrüder Grimm den Hinweis, dass der Gegensinn, das »un« schon im Adjektiv »heimlich« selbst angelegt sei. Das Heimliche, Heimatliche, Häusliche sei auch das Private und Verborgene – bis hin eben zum Unheimlichen. Warum aber dieser spezielle Schauder-Affekt beim Erleben des Unheimlichen? Laut Freud ist es die Erfahrung von etwas Unbekanntem, gleichzeitig aber auch Altbekanntem. Ich zitiere Freuds Fazit hier ausSigmund Freud

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führlich, weil diese Stelle der Locus classicus ist, in dem er die Gleichsetzung von Heimweh und Sehnsucht nach dem Mutterleib postulierte – und weil es die meines Wissens einzige Stelle in all seinen Publikationen ist, an der der Begriff »Heimat« zumindest erwähnt wird: »Es kommt oft vor, dass neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. ›Liebe ist Heimweh‹ behauptet ein Scherzwort, und wenn der Träumer von einer Örtlichkeit oder Landschaft noch im Traume denkt: Das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ›un‹ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.«170 Aus psychoanalytischer Sicht kann es also nicht überraschen, dass wir Menschen uns ein Leben lang meist so schwer damit tun, in uns selbst eine Heimat zu finden, uns zuhause und aufgehoben zu fühlen zwischen dem inneren und dem äußeren Ausland. Freuds Analyse des Unheimlichen nahm Julia Kristeva zum Ausgangspunkt für ihre philosophisch-psychoanalytische Meditation »Fremde sind wir uns selbst«, in der sie betonte, dass mit dem Begriff des freudschen Unbewussten das Fremde in die Psyche jedes Menschen eingebunden wird, zum integralen Teil des Selbst wird. Von nun an sei nach Freud das Fremde nicht mehr eine Rasse oder Nation: »Als Unheimliches ist das Fremde in uns selbst. Wir sind unsere eigenen Fremden – wir sind gespalten. […] Die Psychoanalyse erweist sich damit als eine Reise in die Fremdheit des anderen und meiner selbst …«171 Dies könnte, so zumindest Kristevas Hoffnung, die Basis für einen Kosmopolitismus neuer Art sein, der quer zu Regierungen, Ökonomien und Märkten »an einer Menschheit arbeitet, deren Solidarität in dem Bewusstsein ihres Unbewussten gründet …«172 138

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

Aber als Gegenkraft zu diesem unheimlichen Bewusstsein des Fremden in uns selbst gilt unsere stärkste Sehnsucht jenem verlorenen Paradies der frühen Kindheit als Teil des »inneren Auslandes«, gilt jenen verdrängten Inhalten, die so untrennbar verbunden sind mit den frühesten Erinnerungen an ein Gefühl von Sicherheit, Gehalten-Werden, sich geborgen fühlen. Dies sind frühe und starke Bilder einer Heimat, einer Situation, in der eine sorgende und beschützende Mutter vom Säugling noch fast als Teil des eigenen Körpers erlebt wird, dieses Kleinkind aber schützt vor dem »äußeren Ausland« der Realität und der Umwelt. Interessanterweise sind diese frühen Bilder auch wirkmächtig gerade bei jenen Kindern, deren erste Jahre in der Realität beileibe nicht so idyllisch verlaufen sind. Für die Frage aber, ob bei uns spätere Bilder von Heimat eher »geschlossen« oder aber »offen« sein werden, ob wir eher zu Nesthockern oder zu Nestflüchtern werden – für die Beantwortung dieser Frage bleibt wohl entscheidend, ob in der Frühzeit unseres Lebens so viel Sicherheit vorhanden war, dass wir uns auch relativ angstfrei auf den Weg in die Welt machen konnten, um das »äußere Ausland« zu erkunden und zu erobern.

Der störungsanfällige Weg zum »inneren Objekt Heimat« Das Gefühl, zuhause zu sein, ein Zuhause zu haben scheint uns ebenso natürlich zu sein wie das Atmen, solange es ungestört bleibt, solange genug Sauerstoff da ist. Deshalb vergessen wir so leicht, dass dieses Gefühl von Heimat im Sinne von Geborgenheit, Sicherheit und Zugehörigkeit eine komplexe Entwicklungsleistung ist, die jedes Neugeborene in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten bewältigen muss, um sowohl zu einem Gefühl von Identität zu kommen als auch zu einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einem »Wir«. Denn mit diesem Grundgefühl des Daheimseins sind viele verschiedene und mächtige Gefühle verknüpft wie Stabilität, Bezogenheit und die Fähigkeit, das eigene Leben als bedeutsam zu erleben. Daher ist dieses bei genauerer Betrachtung so komplexe Heimatgefühl auch ein Leben lang potentiell Der störungsanfällige Weg zum »inneren Objekt Heimat«

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erschütterbar und störungsanfällig. Die Suche und Sehnsucht nach körperlicher und seelischer Sicherheit, gleichzeitig auch nach Zugehörigkeit bleibt eine Aufgabe, für die wir immer wieder andere Menschen, bedeutsame innere Objekte brauchen. Aus dem Blickwinkel der Bindungstheorie entsteht das Gefühl der sicheren Bindung beim Kleinkind aus der tausendfach wiederholten Schaukelbewegung, aus dem Hin und Her zwischen dem Gefühl des Gehaltenwerdens, der anfangs absoluten Sicherheit am Schoß der Mutter und im Blick der Mutter, aber auch der Möglichkeit zur Exploration, zum Hinausgehen und Entdecken der Welt. Mitentscheidend bei all diesem Hin und Her, bei dieser Pendelbewegung bleibt, dass bei jedem neuen Reifungsschritt für den Zugewinn an Autonomie immer auch ein Weggehen aus der sicheren Position heraus und weg von der Heimat notwendig ist. Diese sichtlich anthropologische Konstante wird in den Mythen aller Völker beschrieben, auch in der Bibel kann Abraham nur zum Erzvater und Patriarchen seines Volkes werden, nachdem er seine Heimat verlassen hat. Das aber kann er erst nach Gottes Verheißung an ihn, dass dieser Auszug aus der Heimat mit dem Finden des gelobten Landes belohnt werden wird. Die meisten Menschen aber müssen ihre Heimat ohne solche Verheißungen verlassen. In der Interpretation einer berührenden Fallgeschichte zeigt uns Joshua Durban, ein israelischer Psychoanalytiker, der auch viel mit traumatisierten Flüchtlingen gearbeitet hat, die drei unterschiedlichen, aber in hohem Ausmaß interdependenten Ebenen eines psychischen Gefühls von Heimat. Für Durban fühlt sich ein Mensch dann bei sich selbst wirklich zuhause, wenn er sowohl in seiner Innenwelt als auch in seiner Außenwelt daheim ist, aber auch die Grenzen zwischen diesen Welten sowohl erkennen als auch ertragen kann. Dann fühlt er sich daheim ȤȤ intrapsychisch im eigenen Körper ȤȤ interpersonell in der Sorge um seine Objekte, gehalten von deren Liebe ȤȤ zuhause auch als Beobachter im »Verbund der Unterschiede«, zuhause in Gesellschaft und Kultur. 140

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

Im Gegensatz dazu ist Heimatlosigkeit für Durban der vorübergehende oder andauernde Verlust dieser drei Ebenen von Heimat. Sie stehen dem Menschen nämlich nur dann zur Verfügung, wenn er nach dem Gefühl des Zuhause-Seins im eigenen Körper der Mutter auch einen dyadischen zwischenmenschlichen Raum durch Internalisierung dieser Mutter erlebt hat und schließlich einen triangulären ödipalen Raum für sich eröffnen konnte.173 Hier werden also die drei Ebenen psychischen Erlebens angewandt auf das Heimatgefühl: Die primäre, narzisstische One-Body-Ebene, die darauffolgende dyadische Objekt-Ebene und schließlich die Ebene der Triangulierung, die erst den Raum des Denkens und Fühlens nutzbar macht. Erst dann wird dieser Raum erfüllt von Phantasien, Erinnerungen und inneren Objekten – an Menschen und auch an Orte. Diese Dialektik zwischen Eins-Sein und Getrennt-Sein, zwischen inkludierenden und exkludierenden Komponenten von Identität beschreibt Durban als eine lebenslange Interdependenz von Abschottungs- und Verknüpfungsprozessen. Das ist aus seiner Sicht die »Doppelhelix des Seelenlebens«174. Er betont, dass dies beileibe nicht nur für Patientinnen und Patienten gilt: Speziell bei der Behandlung von Flüchtlingen, von Heimatlosen muss auch der Psychoanalytiker seine eigene Zone der Sicherheit und des Zuhauses verlassen. Er tut dies selten bewusst und absichtlich, meist erlebt er ganz ungewollt diese Gefühle der Unbehaustheit und Entfremdung im Rahmen seiner Gegenübertragung. Ein »inneres Objekt Heimat« ist also sowohl bei Patienten als auch bei ihren Therapeutinnen meist durch mehrere, widersprüchliche Affekte geprägt. Es schillert irgendwo zwischen einem verlorenen Paradies und dem doch geliebten Gefängnis. Wie und wodurch aber konstituiert sich beim Individuum ein solches inneres Objekt? Sicher aus der primären, frühen Mutterbeziehung, aber wohl nicht nur aus dieser Quelle: Wie groß ist der Einfluss der ersten Explorations-Versuche nach »draußen«? Erlebt das Kind hier den Beginn einer geglückten Resonanzbeziehung zur Welt oder aber erste Erfahrungen von Kälte, von Nicht-Gewollt-Werden? Könnte die spätere »Grundtonart« der Beziehung zur Heimat beeinflusst sein von Der störungsanfällige Weg zum »inneren Objekt Heimat«

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der Erfahrung einer gesicherten oder aber Unsicherheit auslösenden Exploration? Wichtig scheint mir hier auch die Funktion des Vaters zu sein, der diese Exploration als eine Triangulation fördern und begleiten soll. Wenn nämlich das Kind die Welt draußen, entfernt von der Mutter (oder später außerhalb der Familie) als unsicher oder feindlich empfindet (oder wenn ihm dies von seinen Eltern eingeprägt wird) – dann ist das Resultat oft ein ängstliches oder unsicheres Kind, das länger am Rockzipfel der Mutter hängt, das sich später nur schwer aus der Familie lösen kann. Eine solche Lösung aus der Familie wird leichter fallen, wenn das Kind Familie und Umwelt als »überlappende Bereiche« empfindet, als ähnlich bzw. vergleichbar im emotionalen Muster. Wenn aber Familie und Umwelt schroffe Gegensätze sind oder sein müssen, dann fällt in der Adoleszenz das Hinausgehen aus der Familie schwerer. Im interkulturellen Vergleich allerdings beeinflusst wohl auch die unterschiedliche Ausdehnung zwischen unserer enggefassten Kernfamilie und der Großfamilie anderer Kulturen die Entwicklung von Identität und auch Heimatgefühlen (vgl. die Konzepte des independent self/interdependent self). Wenn es aber im Extremfall für ein Kind außerhalb der Familie überhaupt keine andere Welt gibt, keine Umwelt, kein Außen, dann droht die Gefahr des familiären Inzests oder zumindest der inzestuösen Tönung aller künftigen Beziehungen des Erwachsenen.

Inzest-Verbot und Exogamie-Gebot Nach Einschätzung von Paul Verhaeghe ist das für uns so entscheidende Inzestverbot zwischen Vater und Tochter bzw. Sohn und Mutter bereits ein »zweites Stadium«. Das ursprüngliche Inzestverbot bestand in allen Kulturen darin, dass die Mutter ihr Kind loslassen, ja zurückweisen muss und das Kind seinerseits die symbiotische Verbindung zu ihr aufgeben muss. Die ursprüngliche Dyade muss sich auflösen.175 Wenn aber dieses erste Inzestverbot nicht beachtet wird und das Kind zu lange, im Extremfall auch noch als Erwachsener gefangen 142

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

bleibt in der absoluten Einheit der Dyade, in der Illusion des ursprünglichen Paradieses ohne jegliche Differenz, ohne Grenze zwischen Subjekt und Objekt, dann droht später schlimmstenfalls die Entwicklung einer Psychose. Vor allem die Anthropologen schätzen dieses Exogamie-Gebot als mindestens so wichtig wie das Inzest-Verbot ein. Denn dieser Imperativ zwingt zur Suche nach einem Partner außerhalb des Familienkreises. Aber es geht hier um mehr als um Objektwahl oder um Sexualität: Im weiteren Sinn muss jeder Mensch zuerst einmal hinausgehen, anderswo hingehen, dort etwas aufbauen – und autonom werden durch eigene Anstrengung. Also muss oder zumindest sollte jeder und jede in der Adoleszenz diese Erfahrung des Hinausgehens und damit auch die einer Emanzipation von seiner Familie machen. Diese Erfahrung inkludiert aber immer auch ein Erleben von Heimat­losigkeitsgefühlen.

Roger Kennedys Konzept der »Seelen-Heimat« In »The psychic home. Psychoanalysis, consciousness and the human soul« versucht sich der englische Psychoanalytiker Roger Kennedy an einer allgemeinen Theorie eines seelischen Zuhauses. Unter Rückgriff auf eine Vielzahl von analytischen, sozialphilosophischen und literarischen Quellen kommt er zu einem umfassenden Konstrukt einer inneren Heimat, das teilweise umfassenden Entwicklungszielen wie dem einer inneren Kohärenz oder einem reifen Selbst ähnelt. Immer wieder betont Kennedy, dass die Idee eines »soul home« für eine Person genauso wichtig ist wie eine physische Wohnung – es ist eines der tiefsten menschlichen Bedürfnisse. Wir brauchen das Gefühl, in der Welt daheim zu sein. Erst dadurch fühlen wir uns sicher, gewinnen wir eine Basis, von der aus wir die Welt entdecken können. Daher ist der Verlust dieses psychischen Heimatgefühls genauso traumatisch wie der Verlust eines realen Hauses.176 Alle Menschen sehnen sich laut Kennedy nach einem Gefühl des Ganz-Seins, das sie nur in einem Zuhause erleben können. Allerdings überwiegt bei manchen Menschen der Wunsch, in sich selbst heimisch Roger Kennedys Konzept der »Seelen-Heimat«

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zu sein, während andere einen Menschen oder ein Etwas außerhalb von sich selbst brauchen, um sich vollständig und dadurch heimisch zu fühlen. Gläubige Menschen sehnen sich nach einem transzendenten Wesen, das ihnen erst ein Heimatgefühl gibt. Allen gemeinsam aber ist die Furcht vor Heimatlosigkeit, die uns als dunkler Schatten des Heimatgefühls ein Leben lang begleitet. Ein solches Entfremdungsgefühl sieht Kennedy nicht nur im Erleben des Unheimlichen, sondern letztlich in jedem neuen Kontakt mit fremden Menschen. Für den Autor ist ein psychisches Zuhause oder »das Empfinden einer sicheren Ausgangsbasis«177 ein Schlüsselmerkmal jeglicher Identität, weil es uns erst die organisierende psychische Struktur gibt, an die ein entstehendes Identitätsempfinden überhaupt in der Folge anknüpfen kann. Dazu aber bedarf es verschiedener Elemente bzw. Vorbedingungen sowohl auf intrapsychischer als auch auf intersubjektiver und psychosozialer Ebene: 1. Im Idealfall bietet die reale/materielle schutzspendende Unterkunft auch das Modell eines verinnerlichten psychischen Zuhauses. Dann wird der räumliche Ort der Container für den psychischen Behälter. Das »psychic home« bei Kennedy hat den dualen Aspekt eines physischen und psychischen Containers.178 Wie beim materiellen Wohnhaus gehören zur Struktur des seelischen Zuhauses die Wände als verlässliche Grenze zwischen psychischer Innenwelt und Außenwelt, sie müssen aber durchlässig genug sein für äußere Einflüsse. Falls dies nicht möglich ist, werden die Beziehungen und Phantasien im Inneren immer realitätsferner und schließlich kann alles Äußere und Fremde nur mehr als Bedrohung des prekären psychischen Zuhauses wahrgenommen werden. 2. Aber es gibt auch eine vom Kind bereits vorgefundene Welt, eine Umwelt als intersubjektiven symbolischen Raum, die vor der Errichtung des eigenen Hauses existiert: Denn jedes Kind wird hineingeboren in ein kompliziertes Netzwerk von Beziehungen innerhalb einer Familiengeschichte, eines Familien-Narratives. Es ist verortet in einer Abstammungslinie, in einem komplexen, größtenteils aber unbewussten Netzwerk von Symbolen und Verwandtschaftsstrukturen.179 144

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

3. Die psychische Inneneinrichtung, das »Mobiliar der Seele« entwickelt sich im Wesentlichen aus unseren Identifizierungen mit Familienmitgliedern. Das psychische Zuhause wird dann als stabil erlebt, wenn wir im Familienverband sowohl in unserer Individualität respektiert werden als auch über sichere Verbindungen verfügen. Dieser Aspekt wird in der Adoleszenz besonders wichtig, wenn die Jugendlichen ihr Zuhause sowohl als sichere Ausgangsbasis für Erkundungen der Welt brauchen als auch als Möglichkeit einer Rückkehr. Wenn ein Individuum in einem solch sicheren psychischen Heim aufwachsen kann, wird es ihm auch später leichter fallen, »alternative psychic homes« zu finden: In der Arbeit, in Liebesbeziehungen oder in Gruppenkonstellationen.180 4. Kennedy hat dreißig Jahre lang als Consultant in der »Family Unit« der Cassel Clinic in London gearbeitet und betont aus dieser Erfahrung die Wichtigkeit der Alltagsstrukturen, des »work of the day« für das Gefühl eines seelischen Zuhauses181. Üblicherweise besteht dieses Zuhause aus Aktivitäten, es ist keine erstarrte Entität. An diesem Ort findet das statt, was wir die Arbeit des Tages nennen können. Das sind bedeutungsgenerierende Gewohnheiten und Rituale, Ereignisse, die oft vorbewusst ablaufen, aber eben durch ihre Regelmäßigkeit »die psychologischen Ziegel und der Mörtel des seelischen Heims« sind. Diese Abläufe werden als selbstverständlich wahrgenommen und ihre Wichtigkeit wird oft erst im therapeutischen Umgang mit gestörten Familien deutlich, wo der häusliche Alltag keine Quelle der Struktur und Sicherheit bietet, sondern vielmehr ein Grundgefühl von Verunsicherung, Entfremdung und Gefährdung. In Großbritannien gibt es schon auf administrativer Ebene ohne festen Wohnsitz kaum den Nachweis einer Identität, denn jeder Antrag für einen britischen Pass wird beim »Identity and passport service« gestellt – und nur im Falle eines festen Wohnsitzes bewilligt. Aber weit darüber hinaus berühren Identitätsfragen für Kennedy immer auch »the soul territory«: Ein verlässliches Gefühl des Bei-sich-daheim-Seins und eine stabile Identität fördern einander im Idealfall gegenseitig. Eine labile Identität oder in Kennedys Terminologie ein prekäres Roger Kennedys Konzept der »Seelen-Heimat«

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Empfinden eines psychischen Zuhause kann zu elementaren Ängsten davor führen, von gefürchteten Fremden aus dieser Heimat vertrieben werden zu können. Die Gefahr dafür ist besonders groß, wenn in der Entwicklung die Grenzen innerhalb des psychischen Zuhauses nicht von Respekt und Anerkennung der Individualität gekennzeichnet waren. Dann ist das Risiko für eine Wagenburg-Mentalität, für eine Ablehnung aller Fremden außerhalb der Familie und später der Gruppe im Erwachsenenleben deutlich größer182.

Phantasien von Einheit und Reinheit: Die Kehrseite der Heimatsehnsucht als Sehnsucht nach dem idealen prä-ambivalenten Zustand Vielen Psychoanalytikern war der Heimatbegriff als Kategorie der politischen Rechten zutiefst suspekt. Paul Parin definierte 1996 in einem Vortrag mit dem Titel »Wie viel Heimat braucht der Mensch?« Heimat als »seelische Plombe: Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträgliche Traumen aufzufangen, die Seele wieder ganz zu machen. Je schlimmer es um einen Menschen bestellt ist, je brüchiger sein Selbstgefühl ist, desto nötiger die Heimatgefühle.«183 Demgegenüber definiert Parin seine eigene Position: »Ich bin Weltbürger. Das ist meine Heimat« und schließt mit einer Goethe-Paraphrase: »Wir sagen: Wer ein gutes Selbstgefühl hat, der hat Heimat, wem es daran gebricht, der habe Heimat.«184 Heute sind zwar Begriffe wie Nation und Vaterland politisch heiß umkämpft, das Wort Heimat aber wird oft schon eher am kuscheligen »Wärmepol« dieser Signifikantenreihe lokalisiert: Wir sprechen dann vom Heimisch-Fühlen, vom Aufgehoben-Sein und von der Wärme – bis dann das Konzept verflacht und ausfranst zu Allgemeinbegriffen wie Wellness, »Hygge« und anderen unspezifischen Positiva. Aber wir dürfen die dunkle Seite dieser Gemütlichkeit nicht übersehen: Bei Heimatgefühlen geht es nicht nur um Wärme und Wellness, es geht auch um individuelle und kollektive Phantasien von Einheit 146

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

und Reinheit. Es sind Phantasien von intensiver und oft gewaltsamer Sehnsucht nach einer Rückkehr ins verlorene Paradies, in eine psychische Innenwelt vor dem Bewusstwerden jedes Konfliktes, vor jeder Ambivalenz – in eine sehr frühe narzisstische Welt des primärprozesshaften Denkens. Die Beschreibung der Psychodynamik solcher Phantasien kann meiner Ansicht nach auch dabei helfen, die kollektiven Affektstürme im Zusammenhang mit der »Flüchtlingskrise« der letzten Jahre zu begreifen: Diese Krise hat zu einer massiven Renaissance eines rechtspopulistischen Volksbegriffs und der Idee des »ethnischen Nationalstaats« geführt. Oft hört man die fast schon wahnhaft anmutende Angst, die allzu vielen Fremden hätten das Heimatland schon in Besitz genommen. Nach einer Untersuchung von Elmar Brähler stimmten 2016 bei einer Befragung mehr als fünfzig Prozent der Aussage zu, dass sie sich angesichts der vielen Muslime »wie ein Fremder im eigenen Land« fühlen würden. Das kann man beschreiben als paranoide Verarbeitung einer Verlusterfahrung: Verloren scheint das Gefühl einer fraglosen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, die uns schützt und nährt – zu der aber eben nur – qua Geburt – »echte« Deutsche oder Österreicher gehören dürfen. Werner Bohleber beschreibt ein solches Fühlen und Denken als untergründig wirkende Phantasien von Einheit und Reinheit. Er sieht hier einen uniformierten, einen nicht nur xenophoben, sondern sogar xenophagen (fremdenfressendenden) Nationalismus. Alles soll dem Ideal der Eigengruppe »gleichgemacht« werden. Assimilieren bedeutet gleich machen, ähnlich machen. Es geht hier um ein narzisstisches Ideal von Vereinheitlichung und Homogenisierung: Unifikation durch Purifikation – notfalls auch gewaltsam185. Zu solchen Gruppenphantasmen der völkischen Reinheit schrieb Theodor W. Adorno schon 1950: »Die Fremdgruppe stellt eine ewige Herausforderung dar. Solange irgendetwas von ihm Verschiedenes übrigbleit, fühlt sich der faschistische Charakter bedroht …«186 Aber die Realität sieht anders aus: »Da diese Reinheit kein Tatbestand ist, kann sie nur ein Wunsch sein: Eine Sehnsucht oder eine Hoffnung. Der Rassist schmachtet nach dem Bild eines vollkommenen Heimatlandes …«187 Phantasien von Einheit und Reinheit

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Bei einer solchen psychischen Struktur, einer solchen Sehnsucht nach vollkommener Reinheit muss jede Minderheit diese ideale Einheit, die Zugehörigkeit zum »idealen Objekt« eines ethnisch reinen Volkskörpers bedrohen. Schon ein einziger Fremder kann das fragile Gleichgewicht dieser narzisstischen (Größen-)Vorstellung gefährden. Wir sehen hier den Wunsch, die Vision eines Universums ohne andere, eine »vision of an otherless universe«188. So kann sich eine überwältigende Mehrheit durch eine winzige Minderheit existenziell bedroht fühlen. Der indisch-amerikanische Anthropologe Arjun Appadurai spricht von der »Angst vor Unvollständigkeit«: Die als unkontrollierbar erlebte Globalisierung verstärkt die Unsicherheit und bewirkt ein Reinheitsphantasma: Die Mehrheit sieht sich durch Minoritäten gefährdet in ihrem Bestreben, zu einer makellos reinen Ethnie zu werden. Dabei ist laut Appadurai »die Minderheit nur ein Symptom, das prinzipielle Problem ist die Differenz an sich!«189 Die heute so verbreitete Suche nach Zugehörigkeit und Heimat sei nur die Kehrseite der Bedrohung durch intensivierte Globalisierung, so Geschiere. Eine »autochthone Identität« soll als Coping-Strategie dagegen dienen und folgerichtig beobachten wir den paranoiden Drang nach Einheit, nach Reinigung, die endlose Suche nach den letzten verborgenen Feinden im Inneren. Dies sei die Basis der neuen Fundamentalismen – der geschlossenen Bilder von Zugehörigkeit und Heimat190. Und eben diese Bilder, diese kollektiven Phantasien von Reinheit und Einheit können politisch so leicht instrumentalisiert werden, sind für so viele Menschen so attraktiv, weil hier ein immenses Angebot in Richtung Narzissmus gemacht wird. Schon Freud sprach in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« von der Ersetzung des individuellen Narzissmus durch den Gruppen-Narzissmus mittels Ersetzung des eigenen Ich-Ideals durch das des Massenführers plus Identifizierung der Gruppenmitglieder untereinander. Neuere analytische Konzepte zur Massenpsychologie beschreiben in Gruppen (speziell in Großgruppen) allerdings eine noch viel tiefere Regression als die damals von Freud dargelegte: Bei den Phantasien der Gruppe gehe es weniger um den Führer als um die Gruppe 148

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

als einen illusionären Ersatz für das erste verlorene Objekt, die Mutter der kindlichen Frühzeit. Die Gruppenphantasien kreisen nicht so sehr um den Führer, vielmehr um die Phantasie eines idealen prä-ambivalenten symbiotischen Zustands. In diesem Hochgefühl, in diesem Glück als Teil eines großen Ganzen muss jede auch nur geringe Abweichung oder Differenz als unerträglich erlebt werden. Sie muss daher ausgestoßen/projiziert/ ausgegrenzt werden. Gerade beim narzisstischen Ideal der Reinheit bilden Paranoia und Gewalt die dunkle Kehrseite. Was hier geleugnet wird, ist letztlich die Unaufhebbarkeit der Differenz und Ambivalenz im menschlichen Leben. Was idealisiert wird, ist der frühkindliche Zustand vor jeder Ambivalenz, vor jedem bewussten Erleben eines Konflikts. Vielleicht muss hier die Grenze nach außen deshalb so grimmig verteidigt werden, weil intrapsychisch die Grenze zwischen Mutter und Kind, zwischen Subjekt und Objekt noch so unzuverlässig und offen ist. Bereits Freud erwähnte, dass das Erleben des Unheimlichen eine Regression sei auf frühe Formen des Erlebens, in denen noch keine klare Grenze zwischen dem Selbst und dem Objekt bestand. Auf einer psychodynamischen Ebene kann man auch die Versuchung für uns alle durch diesen Sirenen-Gesang der frühen prä-ambivalenten symbiotischen Welt nachfühlen: Endlich einmal ausruhen von den Konflikten, von der Dauerbelastung durch überkomplexe Situationen, Konstellationen, von der Belastung durch das Bewusstwerden intrapsychischer Konflikte. Ein zwischenzeitliches, oft wunderbar regressives »Eintauchen« in diese warme und Sicherheit verheißende frühe Welt – diesen Wunsch kennt jeder von uns im Sinne einer Regression im Dienste des Ich. Wenn aber vom Individuum der trianguläre Raum und damit der Bereich der Selbstreflexion überhaupt nie erreicht wurde, dann wird auch die Entscheidungsfindung auf einer interpersonellen oder politischen Ebene im Sinne eines Aushandelns von Kompromissen oder einer prinzipiellen Anerkennung von Differenz schwierig werden. Das Erleben von Heimat hat viel zu tun mit einer solchen Sehnsucht nach prä-konfliktualen Welten. Die Erfahrung des Zuhause-Seins bePhantasien von Einheit und Reinheit

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ruht weniger auf den geographischen Orten der Kindheit, sie ist das Ergebnis von Beziehungserfahrungen, von Identifikationen. Die tiefe Sehnsucht nach Abwesenheit von Konflikten und Ambivalenz hat dadurch immer sowohl regressive als auch utopische Anteile. In jedem Heimweh suchen wir etwas, was längst vergangen und verloren ist. Entscheidend aber bleibt hier die Frage, ob das Erleben von Heimat für uns mehr von der Rückschau geprägt ist oder vom Blick in die Zukunft, ins Offene. Bei dieser Balance zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem nach Freiheit kann eine Psychoanalyse entscheidend helfen: Viele Patienten kommen in Psychotherapie, weil sie einen »Sicheren Ort« suchen: Das wäre »ein Ort in ihrer inneren Welt, wo gute Erfahrungen verinnerlicht sind und ein grundlegendes Vertrauens- und Sicherheitsgefühl in das Selbst und die Welt besteht«.191 Einen solchen »Sicheren Ort« aber können wir als Erfahrung eines »Daheim in der Therapie« verstehen. Die Erfahrung einer derartigen sicheren Beziehung zum Therapeuten ist wohl eine Grundvoraussetzung für das Gelingen jeglicher Behandlung.

Ressentiment/Nationalgefühl/Heimat: Ein Fallbeispiel um 1800 Im islamkritischen Diskurs der letzten Jahre wird immer wieder als Begründung für die aktuelle Ablehnung westlicher Werte seitens der gläubigen Araber die Mentalitätsgeschichte bemüht: All der Hass und Neid auf einen technisch, ökonomisch und intellektuell überlegenen Westen stamme daher, dass die Aufklärung mit ihren Werten wie Menschenrechten und Gleichheit vor dem Gesetz nach der De-Kolonialisierung das Vorbild und die große Hoffnung für die freiheitsdurstigen Massen der damaligen »Entwicklungsstaaten« in der Nahost-Region gewesen sei. Dann aber mussten die Menschen dort miterleben, dass eben diese Vorbilder als brutale Invasoren, als »Kreuzritter« ihnen die universellen Werte von Demokratie und Menschenrechten mit Waffengewalt aufzwingen wollten. Das Resultat war eine Gefühlsmischung aus Ohnmacht, Beschämung durch diese Ohnmacht und daraus resultierender Verbitterung bis hin zum brütenden Hass, 150

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

kompliziert durch einen immer noch anhaltenden vergleichend-neidvollen Blick auf Europa und speziell auf die USA. Eine ähnlich dramatische und historisch wirkmächtige emotional aufgeheizte intellektuelle Bewegung gab es schon einmal, damals mitten in Europa. Die von Pankaj Mishra192 für den radikalen Islam beschriebene Entwicklung eines Ressentiments kann man in der Aufeinanderfolge von Idealisierung, enttäuschter Hoffnung und daraus resultierender Verachtung bis zum bitteren Hass ebenso eindeutig nachzeichnen im Verhältnis Deutschlands zu Frankreich in der Epoche ca. von 1780 bis 1830: Die Elite der jungen deutschen Intellektuellen bewunderte damals die Errungenschaften der französischen Aufklärung. Leitfiguren wie Voltaire oder Diderot wurden verehrt, auch weil deren kühne Ideen Hoffnung versprachen zur Überwindung der tristen politischen Situation in Deutschland. Das Land war weit entfernt vom Ideal einer geeinten, republikanischen Nation – es war im Gegenteil zersplittert in viele kleine und kleinste Duodez-Fürstentümer. Die meisten Deutschen stöhnten unter einem politischen Klima von Spitzeltum, Zensur und Absolutismus. Die Französische Revolution ab 1789 als politische Konsequenz der philosophischen Aufklärung wurde in Deutschland anfangs begeistert begrüßt, weil sie die Hoffnung auf politische Umwälzung und Realisierung von Menschenrechten und Gleichberechtigung aller Bürger plötzlich ganz nahe brachte. Als aber einige Jahre später Napoleon als Führer einer französischen Armee in Deutschland einmarschierte, da kam er als Eroberer, nicht als Befreier. In den Folgejahren erlebten die jungen deutschen Dichter und Denker die Behandlung durch die siegreichen Franzosen als Herablassung, fühlten sich von den Invasoren behandelt wie rückständige Hinterwäldler. Die darauffolgenden kriegerischen Jahrzehnte, die Schlachten der Napoleonischen Kriege bis 1815 wurden deshalb zunehmend auch als »Befreiungskriege« erlebt. Erst durch den letztlich erfolgreichen Kampf gegen die anfangs so überlegenen Usurpatoren entstand die Idee einer angeblich tieferen und einzigartigen deutschen Kultur, die bewusst als Gegenprogramm zum früheren französischen Vorbild konzipiert wurde: Kultur versus Zivilisation, deutsche GedankenPhantasien von Einheit und Reinheit

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tiefe gegen brillante, aber oberflächliche Zivilisation, der Geist der Nation gegen universelle Aufklärungsprinzipien. Eine wesentliche Komponente dieser »Aufrichtung des Gefühlskultus anstelle des Kultus der Vernunft«193 war die Liebe zur deutschen Heimat. Nach ihrer Demütigung durch die Feinde wurde sie schließlich gerettet durch den gemeinsamen erfolgreichen Kampf gegen die Franzosen. Fast alle Bestandteile eines Gründungsmythos der deutschen Nation lagen somit bereits vor – und wurden vom preußischen Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreich instrumentalisiert.

Ein Analytiker als Friedensstifter: Der »Feindgruppenanalytiker« Vamik Volkan Seit Freud haben sich Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen Gedanken gemacht über die Auswirkungen der Großgruppe auf das Individuum. Der 1932 im türkischen Teil der geteilten Insel Zypern geborene Vamik Volkan hat durch seine Erweiterung dieser Fragestellung in den letzten dreißig Jahren bedeutende Beiträge zur friedlichen Verständigung zwischen Großgruppen geleistet und wurde dafür auch schon viermal für den Friedensnobelpreis nominiert. Er war im Auftrag der UNO in vielen ethnischen Konflikten als Vermittler tätig, u. a. im Baltikum, in Russland, in Georgien und Südossetien, in Kroatien und in Palästina. In jahrelanger Arbeit versuchte er, einen Dialog zwischen den verfeindeten Gruppen zu ermöglichen. Entscheidend dafür ist nach seiner Einschätzung die Frage, was die Identitätsphantasien von zwei Großgruppen füreinander, im Konflikt miteinander bedeuten. Nur so könne man ergründen, warum sich die Menschen in Konflikten so fühlen, wie sie sich fühlen. Wie also bewahren und schützen Großgruppen ihre Identität? Volkan besitzt in hohem Maß die Gabe, sich ohne Verwendung psychoanalytischen Jargons allgemeinverständlich auszudrücken und von seiner Friedensarbeit zu berichten. Entscheidend für ihn sind die Konzepte des »Zeltes« als Symbol für die Großgruppen-Identität und des »ausgewählten Traumas« (chosen trauma) als wichtiger Baustein nationaler Identitäten194. 152

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

Volkan definiert das ausgewählte Trauma als ein Ereignis in der Vergangenheit einer Nation oder ethnischen Gruppe. Es geht dabei um Erfahrungen von Demütigung, Ohnmacht und Verlust. Das erweckt den Wunsch nach Wiedergutmachung und auch die Überzeugung, wegen des erlittenen Unrechts ein Recht auf Rache zu haben. Man könnte es als Konstruktion einer nationalen Notwehr-Situation beschreiben. Wenn die äußere Realität eine solche Rache nicht zulässt, entwickeln sich Hass, Ressentiment und auch eine Idealisierung des nationalen Opferstatus. Die Erinnerung an solche ausgewählten Traumata wird oft geradezu obsessiv gepflegt, damit »es« nicht wieder geschehen möge: Nie wieder soll die Nation so erniedrigt werden, deshalb müssen alle immer wachsam bleiben. Wenn aber aus einem Volk speziell in einer politisch-historischen Krisensituation ein charismatischer, demagogischer Führer erscheint, der eben dieses gewählte Trauma reaktiviert und funktionalisiert, dann wird die Mischung aus kollektiver Erinnerung und Mythos hoch­ explosiv. Eines der wohl bekanntesten Beispiele aus der jüngeren Geschichte ist Slobodan Miloševics konsequente Funktionalisierung der historischen serbischen Niederlage 1389 gegen das osmanische Reich am Amselfeld im heutigen Kosovo: Die Sechshundertjahrfeier dieser Schlacht benutzte Miloševic, um die Serben gegen die muslimischen Kosovaren aufzuhetzen. Nie wieder sollten sie von Muslimen so gedemütigt werden wie damals! Diese Brandrede war einer der entscheidenden Auslöser für den kurz danach beginnenden Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen des früheren Jugoslawien. Volkan betont, dass durch eine solche Aktualisierung des gewählten Traumas ein »Zeitkollaps« entsteht. In einem Gefühl der Zeitlosigkeit waren viele Serben 1989 wirklich fest überzeugt, dass der nächste Angriff der Muslime gegen sie unmittelbar bevorstünde. Schon Freud beschrieb das Unbewusste als zeitlos, und aus der Erfahrung sowohl mit Trauma-Opfern als auch mit psychotischen Patienten können Psychiater dies nur bestätigen. Aber das völlige Verschwimmen der Jahrhunderte, das Erleben einer historischen Schmach, als ob sie erst gestern geschehen wäre – das kennen sehr viele Nationen. Ein psycho-historisches Beispiel dafür Ein Analytiker als Friedensstifter

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ist sicher auch die konsequente Stilisierung der USA und aller sonstigen westlichen Interventionsmächte im Nahen Osten als »Kreuzritter«. In dieser Kurzformel eines politischen Islam, in der all die Niederlagen und früheren Demütigungen durch übermächtige Kolonialmächte zu einem Narrativ verdichtet werden, wird die Gefährdung der Glaubensheimat beschworen. Jegliche gewaltsame Reaktion auf derlei Beschämung sowie durch die technische und ökonomische Überlegenheit des Westens scheint dann legitim, ja fast schon geboten. Bei solchen Erzählungen oder Legenden vom erlittenen Unrecht oder von vergangener Größe ist die Frage nach der historischen Wahrheit nicht entscheidend. Diese nationalen oder religiösen Narrative des Kollektivs sind wichtige Bausteine der Grußgruppenidentität. Für die Beziehung zwischen einer Großgruppe, ihrem Führer und der Gruppenidentität prägte Vamik Volkan das Bild vom Zelt: Alle Mitglieder einer Großgruppe leben in einem großen Zelt mit Zeltwänden aus Stoffbahnen. Wir alle lernen von Kindheit an, zwei Schichten von Bekleidung übereinander zu tragen. Die erste, körpernahe Schicht soll möglichst genau passen – sie ist maßgeschneidert als individuelle Identität des einzelnen Subjekts. Die zweite Schicht dagegen ist ein loser Umhang. Das ist die »Wir-Schicht« von Identität, die ethnische Identitätsschicht einer emotional verbundenen Großgruppe. Sie schützt das Individuum so wie ein Elternteil ein Kind behütet. Innen auf den Zeltplanen sind in Volkans Bild auch die wichtigen Ereignisse, die für die Großgruppenidentität prägenden Narrative und Mythen aufgezeichnet. Sie stärken ihrerseits noch den Gruppenzusammenhang. Im Vergleich zu früheren analytischen Großgruppen-Konzepten ist die Rolle des Führers bei Volkan zweitrangig hinter der Gruppen-Identität: Alle Gruppenmitglieder im Zelt sind gleich, zwar verbunden in ihrer Liebe zum Führer, wobei dessen Funktion aber »nur« darin besteht, als zentraler Zeltpfosten das Zelt vorm Zusammenbruch zu bewahren. Doch der Stoff der Zeltbahnen mit den nationalen Narrativen, der märchenhaft verklärten Geschichte der Großgruppe, er überlebt viele Führer. Allerdings kann ein charismatischer Führer diese Geschichten auch verändern oder gar neu erfinden. So schenkte Nelson 154

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

Mandela in Südafrika seinem Volk mit der Erfindung der »Rainbow Nation« auch eine neue, die Volksgruppen versöhnende Erzählung von der südafrikanischen Nation. Diesem Beispiel der versöhnungs-­ fördernden Großgruppen-Erzählung stehen leider viele negative Beispiele gegenüber. In Interviews betonte Volkan, dass jede Einwirkung von außen auch die Großgruppen-Identität der Innengruppe verändere, diese Gruppe rücke dann zusammen. So hätte auch der »Flüchtlingsansturm« von 2015 die Identität der Deutschen als Ankunftsnation verändert: Anfangs seien Flüchtlinge und Einheimische als Gruppen aufeinandergetroffen. Davor hätten sich im »deutschen Zelt« die Menschen als Individuen definiert, als Frauen oder Männer, Lehrer, Freunde, Taxi-­Fahrer, kaum jemand hätte viel darüber nachgedacht, ob er oder sie deutsch sei. »Aber wenn das Andere kommt und auf die Deutschheit einschlägt, werden sie beim Aufwachen sofort an ihr Deutschsein denken. Wird das deutsche Zelt von außen mit Dreck beworfen, gleichen sich alle unterschiedlichen Identitäten im Zelt an.«195 Erst durch das Gefühl der Bedrohung wird die Grenze der Großgruppenidentität wahrgenommen, physische Grenzen werden zu psychischen Grenzen. Heimat wird also erst als bedrohte Heimat, als gefährdete Großgruppen-Identität wirklich relevant.

Deutsche Mythen nach 1945: Vom Wirtschaftswunder und anderen identitätsstiftenden Narrativen Das Jahr 1945 bedeutete auch für die National-Mythen der Deutschen eine Stunde Null, einen »Mythen-Schnitt«196. Die altehrwürdigen Erzählungen wie die von Armin dem Cherusker oder vom Kyffhäuser, ja sogar der Preußen-Mythos – sie waren nicht mehr sinnstiftend. Auch sie waren nach ihrem Missbrauch durch die Nationalsozialisten unrettbar verloren und konnten eine nationale Identität nicht mehr stützen. Viel weniger noch konnten sie einen gemeinsamen Sinn für die zwei deutschen Staaten nach 1945 liefern. Es bildeten sich aber überraschend schnell sowohl in der BRD als auch in der DDR neue Ein Analytiker als Friedensstifter

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Mythen, allerdings diametral entgegengesetzte: In der DDR erreichte der Kult um den antifaschistischen Kampf gegen Hitler fast den Platz einer säkularen Religion. Er mündete im geschichtlichen Auftrag zur Errichtung des Arbeiter- und Bauernstaates. Dieser Zentralmythos der DDR war im Kalten Krieg eindeutig ein Propagandainstrument gegen die BRD, der man die mangelnde Entnazifizierung vorwarf. Im Gegensatz dazu zeichnete die DDR eine Abstammungslinie von den Bauernkriegen des Spätmittelalters über den im wahrsten Sinne des Wortes »re-sozialisierten« Preußen-Mythos bis zur revolutionären Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu diesem eindeutig vergangenheitszentrierten Narrativ vom antifaschistischen Kampf der deutschen Arbeiterklasse Arm in Arm mit der siegreichen UDSSR entwickelte sich im Westen als sinnstiftend die Erzählung vom Wirtschaftswunder. Dieser neue deutsche Mythos war zukunftsorientiert, kam fast ohne Feindbild aus, betonte trotzdem die »deutschen Tugenden« von Fleiß, Leistung und technischer Begabung. Der Ausdruck vom Wunder implizierte auch den Segen höherer Mächte unter Vernachlässigung so prosaischer Faktoren wie der Marshall-Plan-Hilfe und der Funktionalisierung der BRD im Kalten Krieg. Das Narrativ vom Wirtschaftswunder funktionierte als einigendes Narrativ in der Bundesrepublik bis weit in die Siebzigerjahre hinein. Die Strahlkraft dieser National-Erzählung ließ erst nach, als die Überzeugung zerbrach, dass es im Sozialstaat auch den Ärmeren jedes Jahr ein bisschen besser gehen würde. Die heutige Variante des Mythos von der deutschen Leistung, die Erzählung vom »Exportweltmeister Deutschland« erreichte nie auch nur annähernd die Strahlkraft der Erzählung vom Wirtschaftswunder. Denn allzu viele Deutsche fragen sich wohl, wie viel sie selbst als prekär Beschäftigte oder Hartz-IV-Empfänger von diesem Weltmeistertitel profitieren würden. Nach 1989 musste es zu einem Clash der beiden nationalen Erzählungen nach der Wiedervereinigung kommen: Die Deutschen in den alten Bundesländern fühlten sich in ihrem Wirtschaftswunder-Mythos bestätigt als ökonomische Sieger im innerdeutschen Vergleich. Viele Bürger der ehemaligen DDR aber empfanden die Behandlung durch 156

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

die Wessis als demütigend, fühlten sie sich doch als moralisch überlegen im Sinne der antifaschistischen DDR-Gründungslegende. Eigentlich hätte sich die Geschichte der Wiedervereinigung selbst für beide Seiten geeignet zur Schaffung eines neuen gesamtdeutschen Nationalmythos, war sie doch auf fast wunderbare Weise zustande gekommen. Dafür aber war sowohl die Verbitterung vieler »abgewickelter« DDR-Bürger zu groß als auch die Unzufriedenheit im Westen über die vielen Milliarden, die als Solidarbeitrag in die neuen Bundesländer flossen. So wurde das vereinigte Deutschland »insgesamt ein mythenarmes Land, obwohl die meisten Erzählungen der Bundesrepublik weiterhin Bedeutung besaßen«197. Gerade heute aber hätte das mythenarme Deutschland wieder sinnstiftende und dadurch identitätsstärkende nationale Mythen nötig, denn: »Wir brauchen starke Erzählungen, weil wir Zuversicht benötigen, um die Herausforderungen in einer sich beschleunigenden Welt zu meistern. Zuversicht entsteht zu einem großen Teil aus sinnstiftenden Narrativen, die aus der Vergangenheit in die Zukunft weisen.«198 In diesem Kontext überlegt Münkler auch, warum Angela Merkels legendärer Satz »Wir schaffen das!« nicht als Kern eines neuen Deutschland-Narratives fungieren konnte. Hätte man doch den Umgang mit der Herausforderung durch die Migrations-Krise sehr wohl auch als Erfolgsgeschichte erzählen können. Laut Münkler brauchen Gesellschaften und Nationen etwa alle fünfundzwanzig bis vierzig Jahre eine neue große Herausforderung, deren Bewältigung dann zum Anlass einer prägenden Erzählung wird, die danach als nationales Narrativ wieder mehrere Generationen beeinflusst. Solche Mythen seien immer auch Instrumente eines politischen Kampfes, um Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie. Dabei verwenden nicht nur die Deutschen, sondern alle Nationen konstruierte Feindbilder: »Die Mythen aller Nationen kreisen um Überlegenheit, Selbstzweifel und die eigene Opferrolle. Am gefährlichsten sind die Opfer-Erzählungen, weil sie zu einem guten Gewissen verhelfen, wenn man zurückschlägt.«199 Ein Analytiker als Friedensstifter

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Soll sich der Patient in der Therapie daheim fühlen? Jede psychodynamisch orientierte Therapie lädt den Patienten ein zur freien Assoziation und für jeden von uns, also auch für jeden Patienten ist das Wort »Heimat« ein wahrer Assoziationsgenerator. Daher gibt es in jeder Therapie Erzählungen des Patienten von Heimat, die den Therapeuten auch interessieren müssen. Denn sie stellen ein wichtiges inneres Objekt jedes Menschen dar und sind mehr als eine bloße Kulisse, in der sich die Beziehung zu Mutter, Vater und Geschwistern einst abgespielt hat. Die Heimat-Repräsentanz liefert den Rahmen für unser inneres Bild von Familie, also für die frühesten Objektbeziehungen. Es bietet somit auch für die Entwicklung des kindlichen Selbst eine stützende Struktur. Wie beim Rahmen um das gemalte Ölbild besteht auch hier die Funktion darin, das Bild optimal zu präsentieren, aber auch zu schützen und abzugrenzen. Auch die Psychotherapie bietet später einen solchen Rahmen, eine Beziehung mit Sicherheit garantierenden Grenzen: Die Regelmäßigkeit der fixen Stunden, die Zuverlässigkeit des Beginns, das fixe Zeitpensum und die Einhaltung des Distanzgebotes – all das bezeichnen wir als »Setting«. Aber jeder Patient hat den begreiflichen Wunsch, sich auch über dieses stützende Setting hinaus in seiner Therapie geborgen und aufgehoben zu fühlen. Er will sich in der Beziehung zum Therapeuten zuhause fühlen, also geschützt und abgeschirmt gegenüber einer oft als allzu bedrohlich erlebten Außenwelt. Viele Patienten betonen, dass sie sich gerade deshalb in der Therapie heimisch fühlen, weil sie sich oft zum ersten Mal in ihrem Leben vom Therapeuten verstanden fühlen. Das ist der Ausgangspunkt, es ist Bedingung und Beginn einer jeden gelingenden therapeutischen Beziehung. Ist die Psychotherapie also eine Heimat für den Patienten? Das ist sie oder sollte es zumindest sein, aber im Idealfall ist diese Heimat eine (wenn auch jahrelange) Durchgangsstation. Denn das Verständnis, das sich fast alle Patienten in der Therapie wünschen – es ist ein unbedingtes, absolutes und im Idealfall sogar wortloses Verstanden-Werden. Das erinnert natürlich an die frühe Mutter-KindBeziehung und wohl nicht zufällig an eine der berühmtesten Defini158

Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

tionen von Heimat aus der Ära der Romantik: »Heimat ist dort, wo ich mich nicht erklären muss«, schrieb Herder 1792. Aber genau diese Anstrengung und Arbeit des Erklärens, den oft schmerzlichen Versuch des Nachdenkens über sich selbst und des Verbalisierens, des Kommunizierens mit dem Therapeuten über die eigenen Wünsche, Motive und Ängste, diese Anstrengungen sollen und dürfen wir unseren Patienten letztlich nicht ersparen. Das von uns allen als paradiesisch ersehnte tiefe und wortlose Verstehen suchen wir in unseren Liebesbeziehungen und oft genug auch in den von uns selbst gewählten Gruppen. Wir finden es aber meist nur vorübergehend im gewünschten »absoluten« Ausmaß. Und daher sollte dieses absolute Verstehen auch in der Therapie nur ein Ausgangspunkt sein, auch wenn der Patient es anfangs oder für längere Zeit dringend braucht. Wenn es aber bei diesem wortlosen Verständnis bleibt, wenn sich der Patient immer und bruchlos angenommen fühlt unter Verleugnung jeglicher Differenz mit dem Therapeuten, unter Ausklammerung jeglichen Missverstehens und jeder Meinungsverschiedenheit, dann wird sich dieser Patient wohl jahrelang tief verstanden fühlen, aber er wird in einer solchen Therapie kaum lernen können, sich selbst besser zu verstehen. Denn ein solches vermehrtes Selbstverständnis bedarf der Distanz zu sich selbst, es braucht dazu das Hinausgehen. Das aber ist das Gegenteil zum Verharren in der symbiotisch-dyadischen Beziehung. Erst diese Distanzierung von sich selbst und schließlich auch vom Therapeuten führt zur Autonomie und vermeidet ein Verharren in der Abhängigkeit einer unendlichen Therapie. Ein Verharren in der Symbiose hingegen, eine Verweigerung oder Vermeidung der Triangulierung, des Hinzukommens eines Differenzierungs-Faktors – das hat nicht nur intrapsychische Folgen für den Patienten, es prägt auch sein soziales Verhalten und letztlich wohl auch seine politische Einstellung. Wenn Symbiose die Abwesenheit, ja Bekämpfung jeglicher Differenz bedeutet, dann ist die logische Konsequenz davon oft die aggressive Abwehr jeglicher »Eindringlinge«, jeglicher anderer Menschen oder Mächte, die solch bruchlose Einheit erschweren. Es soll im Idealfall gar keine Differenz geben, alles soll Soll sich der Patient in der Therapie daheim fühlen?

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verlässlich gleich bleiben. Gleich bedeutet aber auch »identisch« – und so finden wir hier nochmals den Ausgangspunkt für »geschlossene« Identitätskonstruktionen, für exkludierende, exklusive Identitäten, die immer auf der Suche nach einem Außenfeind sind. Das Gegenstück dazu wären offenere Identitäten, die ein bedeutungsvolles inneres Objekt, wie z. B. die Heimat, auch mit anderen teilen können. Wir wollen also in der Therapie dem Patienten auch dabei helfen, die unausweichlichen Differenzen in seinen Beziehungen zu den Objekten – und auch zum Therapeuten als Objekt – auszuhalten. Nur dadurch wird es ihm möglich, die schmerzlichste Differenz von allen auszuhalten, nämlich die in der Beziehung zu sich selbst, die Differenz zwischen seinen Ansprüchen an sich und der Realität. In einer Kombination der Konzepte von Winnicott und Kernberg könnte man vereinfachend formulieren: Nur in jenem Ausmaß, in dem ich bezüglich meines Selbstbildes meinen Frieden mit mir machen kann, kann ich auch aushalten, dass das reale Objekt, die geliebte Person oder Idee – also auch die Idee von Heimat – meine Wünsche immer nur begrenzt erfüllen kann. Es geht also darum, die Differenz zwischen der Wunschphantasie und der Realität auszuhalten und trotzdem einigermaßen zufrieden zu sein mit sich selbst und auch mit Objekten, die »hinlänglich« gut sind: Dann und nur dann können wir einigermaßen zufrieden in der Gegenwart leben, können uns lebendig fühlen ohne einen Großteil unserer Besetzungsenergie nostalgisch auf eine verklärte Vergangenheit zu konzentrieren oder auf eine ebenso verklärte utopische Zukunft. Diesem Ziel kommen Patienten durch eine Psychotherapie oft näher. Die gemeinsame Konstruktion eines vielleicht neuen biographischen Narrativs, die Erfahrung einer sicheren Bindung zum Therapeuten sollte deshalb den Patienten dazu befähigen, weniger Angst zu verspüren und mehr Sicherheit, vielleicht auch Dankbarkeit, und dadurch wieder hinauszugehen, seinen eigenen Weg zu finden in Richtung Emanzipation. Das wäre am Ende einer Therapie der Aufbruch, den sich Therapeuten wünschen sollten: »Alles prüfe der Mensch, dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern, und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will.«200 160

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Eine Psychotherapie kann nicht lebenslang Heimat für den Patienten bleiben, aber sie kann ihm genügend Kraft und Orientierung geben, um danach selbständig zu entscheiden, wohin er aufbrechen will, wo und mit wem er sich heimisch fühlen will. Das Hinausgehen, das Weggehen vom Therapeuten wird leichter fallen, wenn der Patient den Blick seines Therapeuten auf neue Lösungen für Beziehungen oder auch für Heimat-Erlebnisse als freundlich und unterstützend erlebt hat.

Selbstgewählte Orte der Heimat – Symptom und/oder Bewältigungsstrategie Im Laufe einer Psychotherapie oder Psychoanalyse wird der Patient immer wieder versuchen, Übereinstimmungen oder Differenzen zwischen seinen Einstellungen und Werten und denen des Analytikers zu finden. Auch danach wird sich seine Übertragungsbeziehung ausrichten, wird sich das emotionale Klima der Therapie verändern. Umgekehrt beurteilt auch der Analytiker jede Erzählung, jedes Detail aus der Biographie seines Patienten danach, ob er es als positive und kreative Bewältigungsstrategie einschätzt oder aber als Symptom einer Regression. Abwehr oder Bewältigungsstrategie also – in vielen Fällen wohl beides. Das klingt etwas abstrakt, daher im Folgenden zwei persönlich erlebte Beispiele dafür, wie unterschiedlich man die Versuche von Menschen interpretieren kann, eine selbstgewählte »zweite Heimat« zu suchen und zu finden:

Fallbeispiel A Als Student lernte ich eine junge Frau kennen, die mich damals durch ihre Willensstärke sehr beeindruckte. Sie stammte aus dem Mürztal im Norden der Steiermark, einer Gegend, die sie selbst als eng, kalt und dunkel empfand. Als sie auf einer Klassenfahrt die Stadt Radkersburg an der der Südgrenze Österreichs zu Slowenien kennenlernte, verliebte sie sich (nach ihren eigenen Worten) dort sofort in die sanfte Hügellandschaft und das warme Klima. Und so beschloss sie, dort zuhause zu sein! Sie setzte gegen ihre verblüfften, aber letztlich hilflosen Eltern die Übersiedlung in ein Untermietzimmer in Radkersburg durch Soll sich der Patient in der Therapie daheim fühlen?

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und absolvierte dort die Abschlussklasse zum Abitur. Als Studentin kam sie ein Jahr später als »Südsteirerin« nach Wien und erzählte begeistert von ihrer Heimat. In den nächsten Jahrzehnten verbrachte sie die Sommerzeit meist in einer kleinen Hütte inmitten der Maisfelder, einer »Keusche« ohne Strom- und Wasseranschluss, die ihr ein alter Bauer fast gratis überlassen hatte. Diese selbstgewählte Heimat und ihre oft rückständigen Bewohner verteidigte sie temperamentvoll gegen alle spöttischen Bemerkungen ihrer Besucher aus Wien. Wie soll man diese Inszenierung bewerten? Natürlich kann man sich auf die eindeutig vorliegende ödipale Komponente im Rahmen einer adoleszenten Ablösung konzentrieren, kann auch den narzisstischen Anteil einer »Selbsterschaffung« in dieser Geschichte feststellen. Man kann das Narrativ der neuen Heimat auch als Variante eines psychoanalytischen Familienromans betrachten: Hier eben nicht mit der Phantasie von den »eigentlichen« besseren Eltern, sondern der – ausagierten, realisierten – Phantasie des besseren Geburtsortes. Allerdings war damals auch eindeutig festzustellen, dass die Frau sich durch die selbstgewählte neue Heimat in ihrer Identitätsbildung und -entwicklung gestärkt und gefestigt fühlte – ungeachtet der ihr durchgehend bewussten Fiktion dieser Heimat-Erzählung. Interpretieren wir das als Symptomverhalten und Agieren in einer adoleszenten Krise oder als geglückte Coping-Strategie? Beide Einschätzungen sind sicher argumentierbar – und die Wahl zwischen diesen Optionen ist wohl auch abhängig von den internalisierten Bildern, von der Heimat-­ Repräsentanz im Kopf des Beobachters oder Therapeuten.

Fallbeispiel B Stellen Sie sich ein ruhiges, idyllisches Dorf an der Südküste Kretas vor: Es liegt einige Kilometer vom Meer entfernt und ist dadurch vom Massentourismus fast unberührt, ohne Hotels und Pauschalreisende. Allerdings ist es seit Jahrzehnten für mehr als hundert Deutsche und Österreicher zur Wahlheimat, zur zweiten Heimat geworden. Viele von ihnen haben dort bereits vor Jahren ein kleines Häuschen oder Apartment erworben oder selbst gebaut. Die anderen verbringen jeden 162

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Sommer mehrere Monate dort oder aber zumindest ihren gesamten Urlaub. Es ist eine lose Community von älter gewordenen graubärtigen Ex-Hippies, pensionierten deutschen Lehrern, Aussteigern, aber auch einigen Unternehmern oder Chefärzten, deren wunderschöne Villen sich in den umliegenden Olivenhainen verstecken. Die knapp tausend griechischen Bewohner des Dorfes haben sich mit den Zugereisten höchst profitabel arrangiert. Es gibt viele jahrzehntelange Freundschaften, häufig schon in zweiter Generation. Die Griechen schätzen die Neuankömmlinge nach deren Taten ein und nicht nach ihren Reden: Ein seit zwanzig Jahren im Dorf lebender Österreicher erzählte mir, dass er selbstverständlich bei kollektiven Tätigkeiten der Dorfgemeinschaft, wie der Olivenernte oder dem Bau eines Hauses, mithelfe wie alle anderen. Dadurch fühle er sich auch schon lange zugehörig und werde als Freund behandelt und nicht mehr als Tourist. Jeden Donnerstag von Mai bis Oktober trifft sich der ganze Ort, speziell aber die deutschsprachige Gemeinschaft, am Dorfplatz, um dem Gratis-Konzert einer Rockband zu lauschen, deren Mitglieder alle als ausländische Wahl-Griechen seit Jahren in Kreta leben. Gespielt werden Rock-Klassiker aus den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Zu späterer Stunde tanzen auch die Siebzigjährigen noch ebenso begeistert wie die jungen Touristinnen und Touristen. Kinder laufen über den Platz, gelegentlich röhrt ein Moped vorbei und verscheucht die dösenden Hunde und Katzen. Das perfekte mediterrane Idyll und der wöchentliche Höhepunkt im Empfinden einer kollektiven Identität, einer Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft in der selbstgewählten zweiten Heimat. Auch hier stellt sich für den Beobachterin die Frage: Ist das alles nur eine sentimentale Illusion altgewordener Aussteiger? Erleichtert diese mediterrane Zweit-Identität »nur« das Altern im kalten Norden? Ist es eine Zweit-Heimat oder die »eigentliche« Heimat? Verleugnen all diese Pseudo-Hellenen die Tatsache, dass sie eben doch Deutsche und Österreicher bleiben und Griechenland nur mit der Seele suchen können? Sehen wir hier eine pittoreske Nobel-Variante des Schrebergarten­­idylls mit Nachbarschaftstratsch unter Palmen? Soll sich der Patient in der Therapie daheim fühlen?

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Oder soll man der deutschsprachigen Community vor Ort dazu gratulieren, dass sie den idealen Kompromiss gefunden haben? Deutschsprachige Nachbarschaft mit Gleichgesinnten zum gemeinsamen Genuss ihres Traumes unter südlicher Sonne? Ist es ein Menschenrecht, sich (bei ausreichenden finanziellen Mitteln) eine zweite Herkunft nach der Herkunfts-Heimat oder sogar gegen diese zu wählen? Angesichts der globalen Flüchtlingstragödie der letzten Jahre kann man solche Fragen durchaus als Luxus-­Problem einschätzen – aber für viele Menschen sind derlei Sehnsüchte und natürlich noch mehr ihre Realisierung wichtige Identitätsbausteine geworden im Sinne eines Heimatgefühls.

Heimatgefühle sind immer gemischte Gefühle Was bedeutet »Heimat«? Warum fühlt sich ein Mensch hier zugehörig, ein anderer aber dort, ein dritter zuhause in seiner Familie, ein vierter wiederum daheim in vielen verschiedenen Konstellationen? Ich konnte und kann darauf leider keine kurze und klare Antwort geben. Solche Überlegungen bedeuten immer ein Denken, ein Nachdenken über Gefühle, über Heimatgefühle. Dabei versuchen wir, mehr zu erfahren über jene komplexe Mischung aus Emotionen, Ängsten, Wünschen und inneren Bildern, die diesen so individuellen Begriff, dieses innere Objekt von Heimat konstituieren. Dieses Objekt steht immer im Zeichen mehrerer Spannungsfelder, steht zwischen binären Gegensätzen. Es beginnt mit dem Gegensatz von vorgegebener Heimat und selbst »hergestellter«, konstruierter oder erarbeiteter: Unser Umgang mit dem Begriff von Heimat ist daher nie vollständig kontrollierbar, auch nicht beliebig veränderbar, weil eben auch vorgegeben durch Genetik, Biographie und Geographie. Er ist eben nicht ewig und unveränderlich – da durch neue Erfahrungen und vor allem Beziehungen immer wieder modifizierbar, oft sogar gegen unseren Willen. Deshalb ist die Behauptung einer beliebig und lebenslang »fließenden« Identität nur begrenzt sinnvoll, weil unser aller Zukunft auch durch unsere Herkunft bestimmt ist. Aber auch eine Beschwörung von Heimat als heilig, 164

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weil ewig, ist wenig zielführend. Denn durch externe Einflüsse wurden und werden die Identität, die Gefühle von Zugehörigkeit sowohl von Individuen als auch von Kollektiven immer und überall verändert. Diese Veränderungen finden heute statt auf der Basis ethnisch und kulturell »gemischter« Bevölkerungen in allen Staaten. Diese Tatsache kann man leugnen und bekämpfen, sie bleibt aber trotzdem Realität. Es führt kein Weg zurück zur völlig reinen und unvermischten Nation. Die Diskussionen aber um einen offenen gegenüber einem restriktiv-exkludierenden Begriff von Heimat werden unweigerlich emotional und konflikthaft bleiben. Es ist eben schwierig, »vernünftig« über so persönliche Gefühle zu sprechen, und noch mehr über kollektive Emotionen. Die beiden Ebenen der individuellen und kollektiven Identität stehen ebenfalls in einem Spannungsverhältnis, wobei sie einander unweigerlich gegenseitig beeinflussen: So verändert die Ankunft eines »Kollektivs« von Fremden, von Migranten sowohl die individuelle Identität und das Heimatgefühl der Menschen in den Ankunftsländern als auch deren kollektive Identität. Erst durch die Konfrontation mit den Ankommenden, mit dem Fremden wird die eigene Heimat als bedroht empfunden und erst dadurch zu einem beherrschenden Thema. Gefühle und Erinnerungen, auch die Erlebnisse von Zugehörigkeit und Aufgehobensein, von Heimat – sie stehen immer zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein scheinbar einheitliches Gefühl von Daheimsein oder aber Entfremdung besteht immer aus verschiedenen Affekten. Das spüren wir oft als innere Unsicherheit. Wir spüren diese Ambivalenz, wenn wir Heimatgefühle erleben zwischen Sicherheit und Beengtheit, zwischen Freiheit und Isolation. Auch hier gilt es, die Konflikte zwischen widersprüchlichen Erfahrungen und Gefühlen bewusst zu machen und auszuhalten, ohne der Versuchung nach allzu einfachen Lösungen, nach Scheinsicherheit in kollektiver Einheit zu erliegen. Es geht in solchen Diskursen weniger um nachprüfbare Fakten oder Zahlen, es geht um einen Wunsch, den Wunsch nach einer stabilen Identität mit genügend individueller Freiheit, aber auch einem verlässlichen Grundgefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit in der Heimatgefühle sind immer gemischte Gefühle

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»Wir-Schicht« unserer Identität. Diese Sehnsucht kennen wir alle, aber unsere Vorstellungen von ihrer Erfüllung sind unterschiedliche: Manche betonen eher den Faktor der Zugehörigkeit und Gleichheit, andere den der Differenz und Abgrenzung des Eigenen vom Anderen. Beide Aspekte, beide Pole aber sind notwendig zur Identitätskonstruktion eines Menschen. Wir konstruieren unsere Wunschbilder aus Erinnerungen der Vergangenheit, aus aktuellen Erfahrungen der Gegenwart und aus Sehnsüchten, die wir in die Zukunft richten: »Sie sehen an solchem Beispiel, wie der Wunsch einen Anlass der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen.«201 Bei aller Ambivalenz, trotz aller Konflikte können wir nur hoffen, dass nicht allzu viel Lebensenergie gebunden wird durch das Weg-Wünschen von einer schlechten Vergangenheit oder das Hin-Wünschen in eine verklärte Zukunft. Unser Leben in der Gegenwart, unser aktuelles Da-Sein muss gelebt und gestaltet werden zwischen ökonomischen Herausforderungen und emotionalen Bedürfnissen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, aber nicht nur das materiell-ökonomische Sein. Die Menschen leiden an der Armut genauso wie am Bedeutungsverlust und am Mangel an Anerkennung. Auch unser emotionales Sein bestimmt unser Bewusstsein. Daher sollten wir uns gemeinsam darum bemühen, dass für jeden Einzelnen sowohl die ökonomische Sicherheit als auch die Anerkennung stärker ist als die Angst, die Zugehörigkeit spürbar auch in Situationen der Fremdheit und schließlich die Zugehörigkeitsgefühle des Menschen, die Heimatgefühle stark und nicht nur defensiv. Dann können wir auch leichter einen neuen Aufbruch in die innere oder äußere Fremde wagen.

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Der Blick von innen: Psychoanalyse und Heimat

Literatur

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Anmerkungen

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29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Honneth, 2007, S. 192. Honneth, 2017, S. 194. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 7. Ther, 2017, S. 44. Zitiert nach Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 58. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 8. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 13. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 14. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 34. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 34/40. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 28. Mitscherlich u. Kalow, 1971, S. 47. Zitiert nach Krastev, 2017, S. 37. Krastev, 2017, S. 38. Boatcă, 2016, S. 140. Boatcă, 2016. Zitiert nach Boatcă, 2016, S. 147. Wagnleitner, 2000, S. 127. Zitiert nach Appiah, 2007, S. 12. Bloch, 1985, S. 1628. Zitiert nach Appiah, 2007, S. 14. Appiah, 2007, S. 11. Appiah, 2007, S. 17. Appiah, 2007, S. 86. Im Interview vom 31.10.2018 im »Zeit-Magazin«. Im Interview vom 31.10.2018 im »Zeit-Magazin«. Balint, 1972. Bettini, 2016. Bettini, 2016, S. 29. Bettini, 2016, S. 31. Bettini, 2016, S. 42. Bettini, 2016, S. 94. Vgl. Bettini, 2016, S. 96. Zitiert nach Habekuß, 2017, S. 40. Schreiber, 2017, S. 129.

Anmerkungen

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64 Adorno, 1979, S. 41. 65 Adorno, 1979, Band 20/1, S. 395. 66 Vgl. Adorno, 1979, Band 10/1, S. 302 f. 67 V. Braun, 2008, S. 354. 68 Bollas, 2009. 69 Bollas, 2009, S. 79 f. Übersetzung R. G. 70 Zitiert nach Schreiber, 2017, S. 131 f. 71 Marquard, 1979, S. 347. 72 Zitiert nach Teising, 2017, S. 56. 73 Honneth, 2007, S. 120. 74 Bauman, 2003. 75 GW XII, S. 8. 76 Freud, 1932, GW XV, S. 86. 77 Freud, GW XVII, S. 52. 78 Vgl. Erikson, 1975. 79 Lichtenstein, 1961, S. 208. 80 Vgl. Bohleber, 2012, S. 65 f. 81 Kernberg, 1978, S. 61. 82 Marcia im Folgenden zitiert nach Bohleber, 2012, S. 68 f. 83 Vgl. auch Bohleber, 2012. 84 Strenger, 1998. 85 Altmeyer u. Thomä, 2006, S. 25. 86 Bohleber, 2012. 87 Vgl. dazu auch Honneth, 2004. 88 Steinfeld, 2018. 89 Vgl. Steinfeld, 2018. 90 Müller, 2016. 91 Vgl. Elias, 1987, insbesondere 238–247. 92 Dorn, 2018, S. 113. 93 Marchart, 2018, S. 40. 94 Marchart, 2018, S. 41. 95 Erikson, 1954, S. 162. Übersetzung R. G. 96 Erikson, 1953, S. 162. 97 Erikson, 1953, S. 163. Übersetzung R. G. 98 Erikson, 1953, S. 165. 99 Frenkel-Brunswik, 1954, S. 186. Übersetzung R. G. 100 Zeyringer, 2014, S. 279. 101 Zeyringer, 2014, S. 246.

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Anmerkungen

102 Vgl. Czollek, 2018. 103 Akhtar, 2007, S. 20. 104 Vgl. Garza-Guerrero, 1974. 105 Garza-Guerrero, 1974, S. 95–124. 106 Grinberg u. Grinberg, 1989. 107 Akhtar, 1999, S. 112. 108 Akhtar, 1999, S. 113. 109 zitiert nach Akhtar, 1999, S. 114. 110 Akhtar, 1999, S. 116. 111 Zitiert nach Peter Gay, 1989, S. 711. 112 Akhtar, 1999, S. 123. 113 Anni Bergman, Brief an S. Akhtar, Mai 1999. 114 Arendt, 1943/1986, S. 10. 115 Zitiert nach Bouville, 2018, S. 477. 116 Interview im »Guardian« am 28.04.2001. Übersetzung R. G. 117 Hoffman, 1989, S. 106. 118 Hoffman, 1989, S. 106. 119 Hoffman, 1989, S. 107. 120 Hoffman, 1989, S. 107. 121 Hoffman, 1989, S. 108. 122 Hoffman, 1989, S. 115. 123 Hoffman, 1989, S. 115. 124 Hoffman, 1989, S. 115. 125 Hoffman, 1989, S. 158. 126 Vgl. Hoffman, 1089, S. 158. 127 Hoffman, 1989, S. 163. 128 Interview im »Guardian«, 28.04.2001. Übersetzung R. G. 129 Hoffmann, 1989, S. 164. 130 Hoffman, 1989, S. 195. 131 Hoffman, 1989, S. 209. 132 Hoffman, 1989, S. 271. 133 Hoffman, 1989, S. 272. 134 Hoffman, 1989, S. 274. 135 Hoffman, 1989, S. 275. 136 Vgl. Bernet, 2011. 137 Vgl. Werman, 1977, S. 393. 138 Werman, 1977, S. 394. Übersetzung R. G. 139 Zitiert nach Werman, 1977, S. 395. 140 Werman, 1977, S. 397. Übersetzung R. G.

141 Werman, 1977, S. 397. 142 Akhtar, 2007, S. 142. 143 Lilla, 2018, S. 20. 144 Lilla, 2018, S. 20. 145 Lilla, 2018, S. 21. 146 Zitiert jeweils nach Ludewig, 2007, S. 142 f. 147 Brussig, 1999, zitiert nach Ludewig, 2017, S. 144. 148 Bohley, 1992, zitiert nach Ludewig, 2017, S. 144. 149 In: »Die Zeit«, 04.10.2018. 150 In: »Die Zeit«, 04.10.2018. 151 Vgl. Ludewig, 2017, S. 157. 152 Schlink, 2000, S. 7. 153 Engler u. Hensel, 2018, S. 143. 154 »taz« am 13.05.2018. 155 Münkler, 2005, S. 65. 156 In: »Der Standard«, 28.08.2018. 157 Interview im Wiener »Kurier«, 02.09.2018. 158 Elias, 1987, S. 299. 159 Elias, 1987, S. 299. 160 So noch 2018 Wolfgang Engler, S. 130. 161 Ther, 2014, S. 94 u. S. 279. 162 »Süddeutsche Zeitung«, 02.10.2018. 163 Freud, GW XVIII, S. 181. 164 Brief an J. Lampl-de-Groot, 22.08.1938. 165 Brief an Abraham vom 26.07.1914, zitiert nach Gay, 1989, S. 391. 166 Zitiert nach Gay, 1989, S. 707. 167 Freud, GW I, S. 542.

168 Zitiert nach Gay, 1989, S. 17. 169 Freud, GW XV, S. 62. 170 Freud, GW XII, S. 258 f. 171 Kristeva, 1990, S. 209. 172 Kristeva, 1990, S. 209. 173 Vgl. Durban, 2019, S. 31. 174 Durban, 2019, S. 30. 175 Vgl. Verhaeghe, 2004, S. 68. 176 Vgl. Kennedy, 2014, S. 138. 177 Kennedy, 2014, S. 25. 178 Kennedy, 2014, S. 25. 179 Kennedy, 2014, S. 26. 180 Kennedy, 2014, S. 27. 181 Kennedy, 2014, S. 28. 182 Vgl. Kennedy, 2016, S. 805 ff. 183 Parin, 1996, S. 18. 184 Parin, 1996, S. 19. 185 Vgl. Bohleber, 2016. 186 Adorno, 1950/1973, S. 143. 187 Albert Memmi, zitiert nach ­Bohleber 2012, S. 203. 188 Vgl. Geschiere, 2009. 189 Zitiert nach Bohleber, 2016, S. 772. 190 Zitiert nach Bohleber, 2012, S. 205. 191 Zwiebel u. Weischede, 2017, S. 26. 192 Mishra, 2016, S. 130. 193 Nietzsche, 1999, S. 171. 194 Vgl. Volkan, 1999. 195 »taz«, 12.12.2015. 196 Vgl. Münkler, 2018. 197 Faulenbach, 2018, S. 95. 198 Münkler. 2018, S. 102. 199 Münkler, S. 2018, 106. 200 Hölderlin, 1969, Band I, S. 74. 201 Freud, GW VIII, S. 2018.

Anmerkungen

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