Hegels "Phänomenologie" als metaphilosophische Theorie: Hegel und das Problem der Vielfalt philosophischer Theorien. Eine Studie zur systemexternen Rechtfertigungsfunktion der "Phänomenologie des Geistes" 9783787327201, 9783787325276

Brendan Theunissen behandelt in dieser Studie die Frage, mit welcher Art Text wir es in der Phänomenologie des Geistes z

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German Pages 356 [358] Year 2014

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Hegels "Phänomenologie" als metaphilosophische Theorie: Hegel und das Problem der Vielfalt philosophischer Theorien. Eine Studie zur systemexternen Rechtfertigungsfunktion der "Phänomenologie des Geistes"
 9783787327201, 9783787325276

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HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 61

HEGEL-STUDIEN In Verbindung mit Walter Jaeschke und Ludwig Siep herausgegeben von Michael Quante und Birgit Sandkaulen Beiheft 61

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

HEGELS PHÄNOMENOLOGIE ALS METAPHILOSOPHISCHE THEORIE Hegel und das Problem der Vielfalt philosophischer Theorien. Eine Studie zur systemexternen Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie des Geistes

von BRENDAN THEUNISSEN

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2527-6 ISBN E-Book 978-3-7873-2720-1

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2014. ISSN 0440-5927. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

teil 1 einleitung 1.

Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zum Verhältnis von Phänomenologie und System . . . . . . . . . . 1.1.1 Skizze des Hegelschen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Drei Lesarten der argumentativen Funktion der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Hegels vorphänomenologische Einleitungskonzeptionen . . . 1.3 Historische Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Hegels nachphänomenologische Einleitungskonzeptionen und die spätere Stellung der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Phänomenologie als »Einleitung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Zum Begriff der »Einleitung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Hat die Phänomenologie verschiedene Einleitungsfunktionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Zur Rekonstruktion der Phänomenologie als epistemologischer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Metaphilosophische Rekonstruktion der Funktion der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 25 25 29 44 51 54 67 67 73 77 82

teil ii metaphilosophie 2.

Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

2.1 Zum Begriff der metaphilosophischen Theorie . . . . . . . . . . .

92

6

Inhalt

2.2 Bisherige Verwendungsweisen des Begriffs Metaphilosophie 106 2.2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.2.2 Rescher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.

Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.1 Das faktisch-strukturelle Isosthenieverständnis metaphilosophischer Theorieüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Philosophisches vs. metaphilosophisches Isosthenieverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Philosophisches Isosthenieverständnis bei Sextus Empiricus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Metaphilosophisches Isosthenieverständnis in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Typologischer Abriss der Entstehung metaphilosophischer Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 117 117 120 126 128 133 136

teil iii hegels phänomenologie als metaphilosophische theorie 4.

Metaphilosophisches Problemverständnis und Theoriebildung vor der Phänomenologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.1 Die Differenzschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.2 Der Skeptizismus-Aufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4.3 Exkurs: Michael Forsters pyrrhonistische Deutung der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

5.

Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

161

5.1 Hegels Typologie von Begründungsstrategien. . . . . . . . . . . . . 5.2 Die natürliche Prüfungsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die natürliche Prüfungsvorstellung als Begründungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Hegels Kritik an der natürlichen Prüfungsvorstellung 5.3 Die »Wissenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161 164 164 168 173

Inhalt

5.3.1 5.3.2 6.

Die »Wissenschaft« als Begründungsstrategie . . . . . . 173 Hegels Kritik an der »Wissenschaft« . . . . . . . . . . . . . . 187

Hegels phänomenologische Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6.1 Die phänomenologische Darstellungskonzeption. . . . . . . . . . 6.2 Die bewusstseinstheoretische Explikation der Darstellungskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Hegels erster Satz des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Hegels zweiter Satz des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.1 Zur Kritik der komplex-relationalistischen Lesart 6.2.2.2 Cramers Kritik an der intentionalistischen Lesart 6.2.3 Hegels dritter Satz des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.1 Hegels Prüfungsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.2 Zum Verhältnis des zweiten und dritten Bewusstseinssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.3 Hegels Prüfungserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Hegels metaphilosophische Erfahrungstheorie . . . . . 6.2.4.1 Die wissenschaftliche Interpretationsperspektive . . . 6.2.4.2 Die Selbstinterpretationsperspektive des erscheinenden Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4.3 Isosthenie als legitimatorische Basis von Hegels Erfahrungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.

7

193 200 202 205 214 217 223 223 225 230 242 245 246 251 254

Hegels Phänomenologie als Philosophiegeschichte und als metaphilosophische Theoriedisziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 7.1 Die Phänomenologie als Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . 7.1.1 Drei Argumente für die Deutung der Phänomenologie als Philosophiegeschichte . . . . . . . . 7.1.2 Die Phänomenologie als Philosophiegeschichte und die metaphilosophische Interpretation . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Phänomenologie als metaphilosophische Theoriedisziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Zum Verhältnis von einleitender und eigentlicher Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.1 Die Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.2 Die Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Hegels Phänomenologie als verselbständigte Topik

261 261 267 272 273 274 278 282

8

8.

Inhalt

Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

288

8.1 Bisherige Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 8.2 Die zweite Hälfte als materiale Ausweitung der phänomenologischen Einleitungskonzeption . . . . . . . . . . . . . 295 9.

Schlussbetrachtung: Die argumentative Selbständigkeit und die Begründungsrelevanz von Hegels metaphilosophischer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 9.1 Zum methodischen Charakter des Bewusstseinsbegriffs . . . . 9.2 Die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Hegels Grundannahme philosophischer Isosthenie 9.2.2 Herleitung von Hegels Bewusstseinstheorie aus der Annahme der Isosthenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Zur Rechtfertigungsfunktion von Hegels metaphilosophischer Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305 308 309 312 319

10. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 11. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 11.1 Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.1 Quellentexte bis 1850. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Quellentexte ab 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333 333 337 340

VORWORT

Sowohl die Phänomenologie als auch das System sind für Hegel argumentativ in sich geschlossene Begründungsleistungen. Das System ist für Hegel die vollständige Darlegung und Begründung seiner philosophischen Ansichten und besteht aus drei Disziplinen: einer »Logik« genannten metaphysischen Grundlegungsdisziplin und zwei realphilosophischen Disziplinen, der »Philosophie der Natur« und der »Philosophie des Geistes«. Die Phänomenologie ist für Hegel ebenfalls ein selbständiger Begründungsversuch: sie soll als einleitende »Vorbereitung« (GW 9, 28, 446) eine »Rechtfertigung« (GW 11, 20) der eigentlichen Wissenschaft des Systems, der »Logik«, leisten. Es ist klar, dass die Phänomenologie als eine Begründungsleistung verstanden werden muss, die sich in irgendeiner Weise extern zu derjenigen des Systems verhält, wenn das Verhältnis beider Begründungsleistungen so verständlich gemacht werden soll, dass sie sich nicht funktional überschneiden. Die genauere Bestimmung dieses Verhältnisses bereitet aber große Schwierigkeiten. Denn einerseits fragt sich, wie das System argumentativ selbständig sein kann, wenn es zugleich durch die Phänomenologie gerechtfertigt werden soll. Andererseits bleibt unklar, wie die Phänomenologie noch eine selbständige Begründungsleistung sein kann, wenn das System bereits die vollständige Begründung von Hegels philosophischen Ansichten ist. Zur Vermeidung dieser Schwierigkeiten wird die Phänomenologie oft als Theorie interpretiert, die entweder bereits in Systemaufgaben involviert ist – so etwa von Fulda und Forster –, oder aber gar keine selbständige Begründungsfunktion hat, sondern lediglich den Leser didaktisch auf das System vorbereitet – so etwa von Pöggeler und Hösle. Im ersten Fall hat die Phänomenologie zwar eine selbständige Begründungsfunktion, verhält sich aber nicht mehr (in jeder Hinsicht) extern zum System; im zweiten Fall verhält sie sich zwar extern zum System, stellt aber keine selbständige Begründungsleistung mehr dar. Im ersten Teil dieser Arbeit wird dagegen dargelegt, dass Hegel die Phänomenologie sehr wohl als einen selbständigen Beweis des Systems verstanden hat, welcher sich zugleich völlig extern zu diesem verhält. Die Phänomenologie kann einerseits nicht als Systemdisziplin verstanden werden, da Hegel mehrmals betont, dass die Phänomenologie sowohl hinsichtlich ihrer disziplinären Stellung als auch hinsichtlich ihrer Funktion einen

10

Vorwort

propädeutisch-vorbereitenden Charakter hat: sie ist eine distinkte Wissenschaft, die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« bzw. »Phänomenologie des Geistes«, welche der eigentlichen Wissenschaft des Systems, der »Logik«, vorangeht; und sie hat als die »Bildung des Bewusstseins zur Wissenschaft« eine spezifische Vorbereitungsfunktion. Die Phänomenologie kann andererseits nicht als didaktische Disziplin interpretiert werden, weil die Phänomenologie für Hegel eine selbständige Beweisfunktion hat: sie soll durch den Aufweis der Inkonsistenz von nicht-Hegelschen Theorien eine Rechtfertigung liefern, ohne welche die zu rechtfertigende Hegelsche Wissenschaft eine unbewiesene Voraussetzung wäre. Im zweiten und dritten Teil wird ausgeführt, dass man die Phänomenologie als metaphilosophische Theorie verstehen muss, wenn man sowohl ihrer Systemexternalität als auch ihrer selbständigen Begründungsrelevanz Rechnung tragen will. Unter einer metaphilosophischen Theorie wird eine Theorie über Philosophie verstanden, die ihrem Selbstverständnis nach von philosophischer Theoriebildung argumentativ unabhängig ist, zugleich aber für diese begründungsrelevant sein will. Es werden also nicht alle Überlegungen über Philosophie als metaphilosophische Theorieüberlegungen verstanden, sondern nur solche, denen eine selbständige argumentative Funktion für das, was als philosophische Theorie gilt, zukommt. Vor diesem Hintergrund kann das Verhältnis der Begründungsleistungen von Phänomenologie und System so verständlich gemacht werden, dass sie sich nicht überschneiden: Als metaphilosophische Theorie erhebt die Phänomenologie keine Wahrheitsansprüche bezüglich der Sachverhalte, welche im System (oder in anderen philosophischen Theorien) thematisiert werden, sondern prüft metatheoretisch die Wahrheitsansprüche philosophischer Theorien bezüglich solcher Sachverhalte. Metaphilosophischen Theorieüberlegungen liegt ein spezifisch metaphilosophisches Problemverständnis zugrunde, für das die faktisch-strukturelle Isosthenie philosophischer Theorien von zentraler Bedeutung ist: Wenn das isosthene Auftreten philosophischer Theorien – ihre faktische Gegebenheit als eine Vielfalt von unverträglich, aber gleichfundiert erscheinenden Theorien – als ein strukturelles Merkmal philosophischer Theoriebildung gilt, das die Möglichkeit von Philosophie grundsätzlich in Frage stellt, können nicht mehr philosophische Mittel eingesetzt werden, um die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter zu befreien; es werden nun also metaphilosophische Theoriemittel erforderlich. Hegels Phänomenologie liegt ein entsprechendes Problemverständnis zugrunde. Sie beschäftigt sich exklusiv mit dem Problem des isosthenen Auftretens philosophischer Theorien, in Hegels Worten: mit dem Problem, dass

Vorwort

11

die Philosophie zunächst als erscheinendes Wissen auftritt, als philosophisches Wissen neben anderem philosophischem Wissen, deren beider gegenteiliges »Versichern […] [argumentativ] gerade so viel als« (GW 9, 55) das jeweils andere Wissen gilt. Die Phänomenologie soll nun durch eine Prüfung des isosthen vorliegenden philosophischen Wissens die Inkonsistenz aller nicht-Hegelschen Versionen von Philosophie aufzeigen und so die Wissensform Philosophie von ihrem isosthenen Charakter befreien. Die Phänomenologie soll also nicht inhaltlich einen bestimmten Systemstandpunkt entwickeln, sondern konkurrierende Theorien destruieren. Hiermit ist das systematische Hauptargument für die metaphilosophische Lesart der Phänomenologie gegeben: Ist Philosophie prinzipiell isosthen, kann nur eine metaphilosophische Theorie die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter befreien. Wäre die Phänomenologie selbst eine philosophische Theorie, würde sie als selbst isosthene Theorie nicht mehr gegen das Problem der Isosthenie ausrichten können als das System selbst. Hegels phänomenologische Bewusstseinstheorie kann als die nähere Ausarbeitung von Hegels metaphilosophischer Konzeption verstanden werden. Das Bewusstsein, die methodische Grundkategorie der Phänomenologie, ist kein Gegenstand philosophischer Theorien – etwa ein psychologischer oder realhistorischer Sachverhalt –, sondern ein metatheoretischer Terminus, um die Struktur philosophischer Theorien voraussetzungsfrei zu beschreiben. Wenn in dieser Arbeit eine derartige kontraintuitive, nicht-mentalistische Deutung des phänomenologischen Bewusstseinsbegriffs vertreten wird, ist dies textinterpretatorisch durchaus legitimiert, sagt doch Hegel selbst in der Selbstanzeige: die Phänomenologie »soll an die Stelle der psychologischen Erklärungen […] über die Begründung des Wissens treten« und als solche eine »neue […] Wissenschaft der Philosophie« bilden (GW 9, 446). Das so verstandene Bewusstsein ist nichts anderes als das, was Hegel in der frühen Jenaer Zeit die »Idee der Philosophie« nannte. Während er aber diese Idee damals noch philosophisch bestimmte, geht er in der Phänomenologie vom »erscheinenden Wissen« aus, d. h. von den historischen Erscheinungsformen der Philosophie, und d. h. von dem, was jeweils »Philosophie« zu sein beansprucht. Damit kann Hegels »Geschichte der Bildung des Bewusstseins« in gewisser Hinsicht als eine phänomenologische Form von Philosophiegeschichte verstanden werden. Soll die Phänomenologie eine Rechtfertigungsleistung erbringen, indem sie die Inkonsistenz alternativer Positionen aufzeigt, kann es sich bei dieser Philosophiegeschichte aber nicht um eine bloß historische Beschreibung handeln. Die Geschichte der Bildung des Bewusstseins wird vielmehr als die

12

Vorwort

Geschichte der Prüfung der Philosophie verstanden werden müssen, und d. h. im Ausgang vom Selbstverständnis der kritisierten Positionen: als die Geschichte der Selbstprüfung dessen, was bisher Philosophie zu sein beanspruchte. Deutet man Hegels phänomenologische Bewusstseinstheorie in dieser Weise, erfüllt seine Phänomenologie alle Kriterien einer metaphilosophischen Theorie: sie handelt als metatheoretische »Wissenschaft des erscheinenden Wissens« (GW 9, 434) von (fremden) philosophischen Theorien, sie ist als Darstellung der Selbstprüfung dieses Wissens argumentativ unabhängig von eigenen philosophischen Annahmen, und sie strebt als kritisch-destruktive Disziplin, welche die Inkonsistenz nicht-Hegelscher Positionen aufzeigt, Begründungsrelevanz für dasjenige an, was ihr als philosophische Theorie gilt. Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Frühjahr 2012 unter dem Titel »Die Phänomenologie als metaphilosophische Theorie. Eine Studie zur argumentativen Funktion der Phänomenologie des Geistes« von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen wurde. Sie wurde um drei Kapitel gekürzt, die nicht von Hegel handelten; an ihre Stelle ist in der jetzigen Fassung das dritte Kapitel getreten. In einem 2011 erschienenen Artikel, der auf einen 2008 gehaltenen Vortrag zurückgeht, habe ich einige Thesen der Arbeit bereits programmatisch vorgestellt.1 Zahlreiche Personen haben mich beim Zustandekommen dieser Arbeit unterstützt. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Betreuer Rolf-Peter Horstmann. Ohne die vielen Gespräche mit ihm hätte die Arbeit nicht zu der begrifflichen Form gefunden, in der sie jetzt vorliegt. Danken möchte ich ihm ausdrücklich auch für die Ermunterung, die Arbeit nach einer längeren Unterbrechung wieder fortzusetzen. Dina Emundts, die bereit war, sehr kurzfristig das Zweitgutachten zu übernehmen, möchte ich meinen Dank aussprechen für ihr wohlwollend-kritisches Interesse und viele wertvolle Hinweise. Ein weiterer Dank gilt Tobias Rosefeldt für die Übernahme des Vorsitzes der Prüfungskommission und das Interesse an dieser Arbeit. Christoph Bongert danke ich für die intensive Korrektur und dafür, dass er bereit war – insbesondere auch während der Überarbeitungsphase –, sich sowohl sprachlich als auch philosophisch wie ein Phänomenologe zu meinen »Erfahrungen« kritisch zu verhalten. Namentlich danken möchte ich außerdem für ihre Anteilnahme, kritischen Bemerkungen, Hinweise oder sonstige Unterstützung Rajesh 1

Vgl. B. Theunissen 2011.

Vorwort

13

Arya, Elena Ficara, Jörg Fischer, Hermien Hegeman, Till Hoeppner, KaiUwe Hoffmann, Daniel James, Jannis Pissis, Ulrich Schlösser, Mark Theunissen, Patrick Vandevelde und Konrad Vorderobermeier. Danken möchte ich schließlich den Herausgebern der Hegel-Studien Michael Quante und Birgit Sandkaulen sowie dem Felix Meiner Verlag für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe der Beihefte der Hegel-Studien. Berlin, im Juni 2014

Brendan Theunissen

ZITIERWEISE

1. Ältere Quellentexte (bis 1850) werden nach Titel und Seitenzahl, neuere Quellentexte (ab 1850) und alle Sekundärliteratur nach Autor, Jahres- und Seitenzahl zitiert. 2. Werkausgaben und Lexika werden nach Sigle und Seitenzahl zitiert. Römische Zahlen vor dem Schrägstrich verweisen auf Abteilungen, arabische auf Bände, so dass SW I/4, 23 = Schelling: Sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. 4, S. 23 und GS 2/1, 23 = Reinhold: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Teilbd. 1, S. 23. Siglen werden im Siglen- und Abkürzungsverzeichnis nachgewiesen. 3. Titel werden bei der Ersterwähnung vollständig aufgeführt, danach mit Kurztitel oder Sigle belegt. Häufig verwendete (oder sich nicht selbst erklärende Abkürzungen) werden im Siglen- und Abkürzungsverzeichnis nachgewiesen. Titel und Abkürzungen des Titels werden kursiviert. 4. Texte antiker Autoren werden wie üblich nach den Standardausgaben zitiert: Platon unter Angabe von Seite und Spalte nach der Werkausgabe von Henricus Stephanus (Paris 1587), Aristoteles unter Angabe von Seite, Spalte und Zeile nach der Werkausgabe von Immanuel Bekker (Berlin 1831 ff.) und die Grundzüge des Pyrrhonismus des Sextus Empiricus unter Angabe von Buch- und Abschnittsnummer nach der Werkausgabe von Fabricius (Leipzig 1718). 5. Fremdsprachliche Texte werden grundsätzlich in deutscher Übersetzung zitiert. Grundlagen für die deutsche Textwiedergabe sind die im Literaturverzeichnis aufgeführten Übersetzungen von Hermann Bonitz für Aristoteles, von Malte Hossenfelder für Sextus Empiricus, und von Holger Ostwald für Descartes. Hinweise zu Originalbezeichnungen wurden den im Literaturverzeichnis aufgeführten Texteditionen von Wilhelm Christ (Aristoteles), Jürgen Mau (Sextus Empiricus) und Adam/Tannery (Descartes) entnommen. 6. Falls vorhanden, werden textinterne Gliederungen im Original oder in maßgeblichen Textausgaben – Paragraphen, Absatznummerierungen usw. – im Zitationsnachweis an zweiter Stelle mitangegeben. 7. Hervorhebungen im Original – Sperrdruck, Fettdruck, Kursivierung usw. – werden, wenn nicht anders angegeben, in der Zitation nicht wiedergegeben.

16

Zitierweise

8. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Einfügungen in eckigen Klammern (»[…]«) vom Verfasser dieser Arbeit. Von Herausgebern zitierter Werke vorgenommene Konjekturen werden durch spitze Klammern (»«) wiedergegeben.

SIGLEN- UND ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

AA: Immanuel Kant: Kant’s gesammelten Schriften, hg. von der Königlich Preußischen, Deutschen, Göttinger und Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. AT: René Descartes: Oeuvres, hg. von Charles Adam und Paul Tannery. Paris 1887–1913 Beyträge zur leichtern Uebersicht: Karl Leonhard Reinhold: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts, hg. von C. L. Reinhold. 6 Hefte. Hamburg 1801–1803 Berliner Enzyklopädie: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) [3. Aufl.], unter Mitarbeit von Udo Rameil hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas.1 In: GW 20 Briefe I–IV: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister. 4 Bde. Hamburg 1969–1981 Differenzschrift: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie. In: GW 4, 1–92 Dokumente: Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801–1807), hg. von Heinz Kimmerle. In: Hegel-Studien 4 (1967), S. 21–99 Einleitung: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Einleitung zur Phänomenologie. In: GW 9, 53–62 FA: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. [Frankfurter Ausgabe], hg. von Hendrik Birus et al. Frankfurt a. M. 1985 ff. GG: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart 1972–1997 GS: Karl Leonhard Reinhold: Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe, hg. von Martin Bondeli. Basel 2007 ff.

1

Die zweite (in: GW 19) und dritte Auflage der Enzyklopädie stimmen in Bezug auf die in dieser Arbeit thematisierten Passagen inhaltlich weitgehend überein. Es soll daher immer nur die dritte, gängigere Auflage zitiert werden. Vgl. zu den Differenzen beider Auflagen GW 20, 593–598.

18

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

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Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

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Selbstanzeige: [Georg Wilhelm Friedrich Hegel]: Selbstanzeige der Phänomenologie. In: GW 9, 446–72 Skeptizismus-Aufsatz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Verhältniß des Skepticismus zur Philosophie, Darstellung seiner verschiedenen Modificationen, und Vergleichung des neuesten mit dem alten. In: GW 4, 197–238 SW: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Sämmtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling. Stuttgart 1856–1861 TVV: Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag und Jena 1789 TWA: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke [Theorie-Werkausgabe], auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986 Vorrede: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorrede zur Phänomenologie. In: GW 9, 9–49 W: Johann Gottlieb Fichte: Sämmtliche Werke, hg. von I. H. Fichte. Berlin 1845–1846 Werke: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Berlin 1832–45

2

Zur Autorschaft Hegels vgl. GW 9, 471.

teil i einleitung

1. Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie des Geistes

Es ist nicht leicht, die argumentative Funktion der Phänomenologie des Geistes verständlich zu machen. Denn anders als die Logik wird die Phänomenologie von Hegel nicht als Nachfolgerin einer etablierten philosophischen Disziplin, sondern als eine »neue, interessante« (GW 9, 446) Wissenschaft präsentiert, welche als die »Vorbereitung zur Wissenschaft« (ebd.) die Rechtfertigung des Systems bzw. der Logik bilden soll. Eine erste Betrachtung von Hegels Funktionsbeschreibung dieser neuen Wissenschaft ergibt folgendes Bild. Sie steht da als Antwort auf das Problem der Vielfalt von in ihrem Begründungsanspruch gleichstarken (isosthenen) und in ihrem Wahrheitsanspruch sich gegenseitig ausschließenden philosophischen Positionen: als Antwort auf die Tatsache, dass »ein trockenes Versichern […] gerade so viel als ein anderes [gilt]« (GW 9, 55). Die phänomenologische Wissenschaft soll aus dieser Situation philosophischer Isosthenie heraus führen, indem sie – ohne den Hegelschen oder einen anderen philosophischen Standpunkt bereits argumentativ vorauszusetzen – durch eine kritische Darstellung aller nicht-Hegelschen Positionen einen eigenständigen Beweis für den durch das System repräsentierten Hegelschen Standpunkt liefert, der diesen Standpunkt auf eine für andere Positionen verbindliche Weise als einzig legitimen ausweist. Um was für einen Beweis es sich genauer handelt und wie dieser sich zum Beweisversuch des Systems verhält, bleibt unklar. Es ist sicherlich nicht zwingend, sich den Absichten und methodischen Zielen, welche Hegel selbst mit der Phänomenologie verfolgt hat, zu unterwerfen, wenn man ihre Funktion bestimmen will. Es ist auch möglich, insbesondere im Ausgang von späteren Textpartien der Phänomenologie, diese nicht als theoretische Rechtfertigungsdisziplin, sondern als eigenständigen Entwurf zu interpretieren, in welchem sowohl methodisch als auch inhaltlich die Kategorien des Sozialen und Historischen eine große Rolle spielen. In dieser Arbeit aber soll die Phänomenologie dem Hegelschen Selbstverständnis gemäß als externe Rechtfertigung des Systems interpretiert werden. So verstanden ist die Phänomenologie keine Darstellung von Hegels philosophischen Ansichten – seinen Ansichten darüber, was letztlich wahr und seiend ist –, sondern der Versuch, durch eine kritische Analyse der Möglichkeit philosophischer Ansichten überhaupt die im System dargelegten eigeDie systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

nen philosophischen Ansichten extern zu rechtfertigen. Eine solche Deutung wird m. E. den Intentionen, welche Hegel selbst mit der Phänomenologie verband, am besten gerecht.1 Außerdem soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass eine solche Deutung auch systematisch sehr attraktiv ist, insofern sie die phänomenologische Theorie als einen neuartigen Theorietyp verständlich zu machen vermag, der mit großem argumentativem Potenzial verbunden ist. In diesem ersten Kapitel soll die Frage nach der argumentativen Funktion der Phänomenologie präzisiert werden, indem verschiedenen Strategien, diese Frage aufzuklären, nachgegangen wird. Zunächst werden Hegels eigene Aussagen zu dieser Frage daraufhin geprüft, inwiefern sie eine funktionale Einordnung der von ihm als neue Wissenschaft verstandenen phänomenologischen Disziplin ermöglichen. Da die meisten Bemerkungen Hegels über den methodischen Status der Phänomenologie durch die Angabe ihres Verhältnisses zum System bzw. zur Logik erfolgen, wird die Analyse hier einsetzen (1.1). Weil das Ergebnis dieser Analyse sich als unzureichend herausstellen wird, wird im Anschluss untersucht, inwiefern entwicklungsgeschichtliche und vergleichende Analysen zur Aufklärung der Begründungsfunktion der Phänomenologie beitragen können. Es werden zunächst Hegels vorphänomenologische Einleitungskonzeptionen (1.2) und mögliche historische Vorbilder (1.3) unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, dann Hegels nachphänomenologische Einleitungskonzeptionen und spätere Einstellung zur Funktion der Phänomenologie analysiert (1.4), um schließlich zu prüfen, inwiefern der Begriff der Einleitung selbst zur Aufklärung der Funktion der Phänomenologie beitragen kann (1.5). Da auch das Resultat dieser Versuche, die argumentative Funktion der Phänomenologie auf philologischem Wege verständlicher zu machen, sich insgesamt als wenig ertragreich erweisen wird, soll zuletzt die Möglichkeit untersucht werden, ob die Funktion der Phänomenologie mit rekonstruktiven Mitteln erhellt werden könne. Es wird sich zeigen, dass zumindest solche Rekonstruktionen der Funktion der Phänomenologie scheitern müssen, welche diese als eine epistemologische Rechtfertigung von Hegels eigentli1

Ähnlich wie z. B. Marx 1971, Fulda 1975 und Forster 1998 wird sich diese Arbeit also auf Hegels »Idee der Phänomenologie« konzentrieren. Die Analyse wird sich entsprechend auf Texte beschränken, in der Hegel sich explizit zu dieser »Idee« geäußert hat: an erster Stelle die Einleitung und Vorrede zur Phänomenologie, dann vor allem die Selbstanzeige und die Einleitung zur Logik. Es wird offengelassen, ob und wie getreu Hegel seine »Idee« im Haupttext der Phänomenologie realisiert hat. Nur im achten Kapitel wird in Bezug auf einige Einzelfragen programmatisch vorgeführt, wie auch der Haupttext aufgrund der in dieser Arbeit vorgestellten metaphilosophischen Interpretation verständlich gemacht werden kann. Zum Verhältnis von Phänomenologie und System

Zum Verhältnis von Phänomenologie und System

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cher metaphysischer Theorie interpretieren (1.6). Der letzte Abschnitt dieses Kapitels soll schließlich kurz vorführen, dass und inwiefern eine metaphilosophische Rekonstruktion der Funktion der Phänomenologie in der Lage ist, die Phänomenologie als spezifisch systemexterne Begründung von Hegels im System dargelegten philosophischen Ansichten verständlich zu machen (1.7).

1.1 Zum Verhältnis von Phänomenologie und System Als erstes soll nun ausgehend vom Hegelschen Selbstverständnis das Begründungsverhältnis von Phänomenologie und System analysiert werden. Bevor dieses Verhältnis selbst analysiert werden kann, ist es aber erforderlich, das Hegelsche System, auf das die Begründungsanstrengungen der Phänomenologie gerichtet sind, kurz zu charakterisieren. Ich werde mich dabei an der Vorrede zur Phänomenologie orientieren, welche in großer zeitlicher Nähe2 zu den anderen Textbestandteilen der Phänomenologie eine programmatische Skizze des Hegelschen Systems enthält.3

1.1.1 Skizze des Hegelschen Systems Der Grundgedanke des Hegelschen Systems kann als eine bestimmte Form von ontologischem Monismus beschrieben werden, also als eine Form der These, dass die ontologischen Eigenschaften aller gegebenen Sachverhalte auf die ontologischen Eigenschaften eines einzigen Sachverhaltes als Inbegriff aller Realität zurückgeführt werden können. Dieser einzig wahrhaft seiende Sachverhalt wird von Hegel mit unterschiedlichen, aber funktional äquivalenten Termini – »das Absolute«, »der Geist«, »die Vernunft«, »die Idee«, »der Begriff« u. a. – bezeichnet, soll in dieser Arbeit aber immer »das Absolute« genannt werden.4 Als monistische Instanz kann das Absolute Hegel zufolge nicht so konzipiert werden, dass es als Dimension des Indifferenten der Dimension der Verschiedenheit gegenübersteht. Das Absolute muss laut Hegel vielmehr so gedacht werden, dass es sowohl in struktureller als auch in materialer Hinsicht als identisch mit der Dimension der Verschiedenheit angesehen werden 2

Hegel hat sie zuletzt geschrieben: zwischen Oktober 1806 und Januar 1807; vgl. Bonsiepen 1988, XXIII und GW 9, 462 f. 3 Vgl. GW 9, 18–22. 4 Vgl. Horstmann 2004, 134. Mit diesen Begriffen möglicherweise verbundene Unterschiede können im Rahmen dieser Arbeit vernachlässigt werden.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

kann. Nur wenn das Absolute auf diese Weise aufgefasst wird, kann Hegel zufolge verständlich gemacht werden, dass das Absolute auch epistemisch zugänglich ist.5 Damit das Absolute als monistischer Sachverhalt in dieser Weise gedacht werden kann, muss für Hegel zweierlei gewährleistet sein. Erstens muss das Absolute als Subjekt gedacht werden: »Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen« (GW 9, 18). Wenn die Verschiedenheit gegebener Sachverhalte dem Absoluten als von Verschiedenheit freiem Sachverhalt nicht ontologisch gegenüberliegen soll, muss angenommen werden, dass dem Absoluten und der Dimension des Verschiedenen die gleichen Eigenschaften zugesprochen werden können. Die Dimension der Verschiedenheit ist nun für Hegel wesentlich durch die Erkenntnisform der Reflexion charakterisiert, da Hegel in nachkantischer Tradition – aus Gründen, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann – die Gegebenheit einer heterogenen Vielfalt von Gegenständen als epistemisch bedingt durch die »trennende«, d. h. Sachverhalte unterscheidende Tätigkeit des Urteilens ansieht.6 Wenn also das Absolute als identisch mit der Dimension der Verschiedenheit gedacht werden soll, muss das Absolute ebenfalls als etwas gedacht werden, dem das Merkmal der Reflexion bzw. Subjektivität zugesprochen werden kann: »Es ist daher ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird« (GW 9, 19–20). Der Subjektbegriff bezeichnet in diesem Kontext nicht das personale oder neuzeitlich-kantische Subjekt, welches als epistemische Instanz dadurch ausgezeichnet ist, dass es mit seinem Bezugsgegenstand nicht identisch ist bzw. diesem dualistisch gegenübersteht. Charakteristisch für Hegels monistische Position ist vielmehr eine ontologische Subjektauffassung, der zufolge der ontologische Charakter der Realität selbst als subjektiv oder epistemisch strukturiert angesehen werden muss. In der Vorrede wird das Subjekt dementsprechend als Differenzierung bewirkende ontologische Instanz verstanden: als »Negativität« und »Bewegung des sich selbst Setzens« (GW 9, 18).7 5

Die Gründe, welche Hegel zu dieser Variante einer monistischen Konzeption bewogen haben, können hier vernachlässigt werden; vgl. dazu Henrich 1971, Horstmann 2004, Kondyles 1979, Baum 1989. 6 Vgl.: »Die Thätigkeit des Scheidens ist die Krafft und Arbeit des Verstandes« (GW 9, 27). 7 Im weiteren Verlauf der Vorrede bestimmt Hegel diese negative »Thätigkeit des Scheidens«, die »Krafft und Arbeit des Verstandes« (GW 9, 27) ist, als konstitutiven Bestandteil des dort Geist genannten Absoluten: vgl. GW 9, 27 f.

Zum Verhältnis von Phänomenologie und System

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Zweitens kann Hegel zufolge das Absolute nicht als eine reflexive, differenzierungsfähige Struktur aufgefasst werden, die in ihrem anfänglichen Auftreten bereits vollständig bestimmt wäre. Das Absolute muss vielmehr als Struktur gedacht werden, die sich erst in einem von ihr selbst als subjektivem Prinzip initiierten Entwicklungsprozess ihrer Differenzierung vollständig realisiert und so als absolutes Prinzip mit diesem Differenzierungsprozess identifiziert werden kann: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirklichkeit, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn« (GW 9, 19). Dies heißt für Hegel auch, dass es sich bei diesem Prozess der Differenzierung, soweit er nur mit Hilfe des Begriffs des Absoluten verständlich gemacht werden darf, um einen Prozess der internen Selbstdifferenzierung des Absoluten handeln muss. Das Resultat der Differenzierungsaktivität des Absoluten soll nicht von demjenigen, von dem diese Aktivität ausgeht, getrennt und unterschieden, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Absoluten selbst sein. Während durch die Auffassung des Absoluten als Subjekt sichergestellt wird, dass das Absolute strukturell mit dem Verschiedenen zusammengedacht werden kann, wird durch die Identifikation des Absoluten mit dem Prozess seiner Selbstdifferenzierung gewährleistet, dass es auch material mit dem Verschiedenen identisch und nicht als subjektives Prinzip von den Produkten, die es aus sich entlassen hat, ontologisch verschieden ist. Die Auffassung des Absoluten als Entwicklungsprozess einer subjektiven Struktur bedeutet für Hegel ferner, dass der Prozess der Selbstdifferenzierung des Absoluten als Prozess der Selbstexplikation dieser subjektiven Struktur, d. h. als Prozess der Selbsterkenntnis des Absoluten, verstanden werden muss. Mit diesem Verständnis ist eine wichtige methodische Konsequenz für Hegel verbunden, welche die Begründungsform seiner Theorie betrifft. Die Auffassung des Absoluten als Entwicklung impliziert für Hegel, dass das Absolute epistemisch nicht als oberster Grundsatz fungieren kann oder über Erkenntnisformen zugänglich ist, welche mit einer Auffassung des Absoluten als Dimension völliger Indifferenz verbunden wären – wie beispielsweise die intellektuelle Anschauung oder Konzeptionen unmittelbaren Wissens –, sondern nur über seine Selbstdarstellung bzw. -explikation epistemisch zugänglich ist. Diese eigentümliche Form der Grundlegung als Selbstdarstellung bezeichnet Hegel als System.8 8

Vgl. GW 9, 21 f., 11 f. und GW 7, 343–344 (Zwei Anmerkungen zum System). Die methodische Besonderheit einer systematischen Grundlegung besteht nach der Berliner En-

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

Zusammenfassend und ausreichend präzise für die Zwecke dieser Arbeit kann Hegels eigene philosophische Theorie als eine Form von Monismus charakterisiert werden, die dadurch ausgezeichnet ist, dass derjenige Sachverhalt, der als allein wahr und seiend gilt, sowohl in methodischer wie in materialer Hinsicht als subjektive bzw. reflexive Struktur interpretiert wird, die nur in und durch den Prozess ihrer Entwicklung vollständig realisiert und begründet ist. Im Gegensatz zu seinen wechselnden Meinungen bezüglich der Frage, ob und durch welche Disziplin eine Einleitung in das System geleistet werden solle,9 hat Hegel seit der Differenzschrift stets an der Auffassung festgehalten, dass die eigenen, nur adäquat durch die Systemform darstellbaren philosophischen Ansichten, vollständig durch drei Disziplinen zum Ausdruck gebracht werden könnten.10 Ich werde mich ich dieser Arbeit, wenn nicht näher angegeben, mit dem Terminus »System« (kursiv geschrieben) immer auf diese drei Disziplinen beziehen und Hegels Charakterisierung der Phänomenologie als ›ersten Teil des Systems‹ vorläufig ignorieren, da, wie unten ausführlicher begründet wird, dieser Charakterisierung, die einigen Interpreten zufolge mit einem Konzeptionswandel des Systems in Zusammenhang gebracht werden kann, nur geringe Bedeutung für die Frage nach der argumentativen Funktion der Phänomenologie zukommt. Bei diesen Disziplinen handelt es sich um eine metaphysische Grundlegungsdisziplin, die Hegel bis mindestens 1805 auch als »Metaphysik« bezeichnete, danach ausschließlich »Logik« nannte, und um zwei realphilosophische Disziplinen, die sich mit den Instanziierungen der logischen bzw. metaphysischen Kategorien befassen: die »Philosophie der Natur« und die »Philosophie der Sittlichkeit« bzw. des »Geistes«.11 Für die im Rahmen dieser Arbeit thematisierte Frage nach dem Verhältnis der Begründungsleistungen zyklopädie darin, dass ein »Inhalt […] allein als Moment des Ganzen seine Rechtfertigung, außer demselben aber eine unbegründete Voraussetzung« (GW 20, 56; § 14) darstellt; vgl. auch GW 13, 19; § 7, Anm. Vgl. dazu 9.3. 9 Vgl. 1.2 und 1.4. 10 Auch wenn für die frühe Jenaer Zeit ein viergliedriges System angenommen wird – in der Systemskizze GW 5, 264 ist von einem vierten Systemteil die Rede; vgl. auch Hegel’s Leben, 179 –, bleibt die These von der strukturellen Kontinuität mit dem späteren System unproblematisch. Denn ein viergliedriges würde sich von einem dreigliedrigen System nur durch die weitere Differenzierung der Philosophie des Geistes in eine Philosophie des endlichen und des absoluten Geistes unterscheiden. Vgl. Kimmerle 1970, Horstmann 1977 und Meist 1980. Vgl. auch den Forschungsüberblick in Kwade 2000, 24–35. 11 Laut Horstmann kann dies als die gemeinsame Struktur aller in Details abweichenden Systemgliederungen der Jenaer Zeit angesehen werden, vgl. Horstmann 1980, 181 f.

Zum Verhältnis von Phänomenologie und System

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von Phänomenologie und System ist zunächst nur die »Logik« von Interesse, da sie als die zentrale Begründungsdisziplin des Systems dessen argumentative, und d. h. für Hegel: begriffliche Grundlagen entwickeln soll. Die funktionale Rolle der realphilosophischen Disziplinen, welche die von der »Logik« entwickelten und gerechtfertigten begrifflichen Begründungsprinzipien in Hinblick auf bestimmte Gegenstandsbereiche konzeptuell und deskriptiv weiter entwickeln und realisieren sollen, kann dagegen vernachlässigt werden.12 Die Logik – veröffentlicht zwischen 1812 und 1816 in drei Bänden – ist die erste (und einzige) vollständige Ausarbeitung der von Hegel »Logik« genannten metaphysischen Grundlegungsdisziplin. Da Hegel zudem die Phänomenologie, wie unten in 1.1.2 und 1.4 (a) näher ausgeführt wird, im ersten Band der Logik noch für gültig angesehen hat, werde ich im Folgenden davon ausgehen, dass die Logik die für die Phänomenologie relevante Version seiner »Logik« genannten metaphysischen Grundlegungsdisziplin ist.13

1.1.2 Drei Lesarten der argumentativen Funktion der Phänomenologie Nach dieser groben Charakterisierung von Hegels System soll nun das Verhältnis von Phänomenologie und System gemäß Hegels expliziten Äußerungen näher betrachtet werden. Je nachdem, wie Hegels Bemerkungen zu diesem Verhältnis interpretiert werden, ergeben sich drei Lesarten der Begrün12

Die Frage, ob die Phänomenologie auf die »Logik« oder auf das gesamte System vorbereitet, scheint mir nur von Interesse, wenn die These vertreten wird, dass der Phänomenologie argumentativ Kategorien aus derjenigen Systemdisziplin bzw. denjenigen Systemdisziplinen zugrundeliegen, auf welche sie vorbereitet. Dabei sollte zweierlei unterschieden werden: die These einer argumentativen Abhängigkeit der Phänomenologie von einer oder mehreren Systemdisziplinen und die These einer – entweder exakten oder strukturellen – Korrespondenz von phänomenologischen Bewusstseinskategorien und logischen (und gegebenenfalls auch realphilosophischen) Systemkategorien. Beide Thesen können unabhängig voneinander vertreten werden; denn eine strukturelle Übereinstimmung von beispielsweise phänomenologischen und logischen Kategorien impliziert nicht auch schon ein Fundierungsprimat der logisch-metaphysischen Kategorien. Wie im Folgenden ausgeführt wird (vgl. auch 9.3), würde die Annahme einer argumentativen Abhängigkeit phänomenologischer von logischen Kategorien den systemexternen Rechtfertigungsstatus der Phänomenologie untergraben; diese These wird daher in dieser Arbeit nicht vertreten. 13 Hegel hat die Geltung der Phänomenologie nach 1812 zwar relativiert (vgl. dazu 1.4), für das Verhältnis der »Phänomenologie« zur »Logik« ist jedoch an erster Stelle die »Seinslogik« relevant, die Gegenstand des ersten, bereits 1812 veröffentlichten Bandes der Logik ist.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

dungsfunktion der Phänomenologie. Dabei sei der typologische Charakter dieser Einteilung hervorgehoben; es können durchaus einzelne Lesarten auf unterschiedliche Weise oder mehrere Lesarten gleichzeitig vertreten werden.14 Der ersten – »systeminternen« – Lesart15 zufolge unterscheidet sich die phänomenologische Begründung oder Rechtfertigung des Systems in Art und Funktion nicht von derjenigen Begründung, welche innerhalb des Systems geleistet wird. In der zweiten und dritten Lesart wird dagegen die Phänomenologie als eine »Einleitung« in das System aufgefasst, die selbst keinen argumentativen (Bestand-)Teil des Systems bildet. Der zweiten – »didaktischen« – Lesart16 zufolge soll die Phänomenologie keine Begründung des Systems im eigentlichen Sinne darstellen, sondern als eine didaktische oder pädagogische Hinführung zum System verstanden werden. Der dritten – »systemexternen« – Lesart17 zufolge kommt der Phänomenologie als Einleitung dage14

Vgl. zum Letzteren 1.5.2, insbesondere Anm. 152. Der systeminternen Lesart können solche Interpretationen zugeordnet werden, in denen die Phänomenologie als eigenständiger Entwurf oder als eigenständige Fassung des Systems angesehen wird. Zurückgehend auf linkshegelianische Deutungen (vgl. 8.1) hat die systeminterne Lesart im 20. Jahrhundert vor allem wichtige Impulse durch die metaphysische Deutung Heideggers (vgl. Heidegger 1980, Heidegger 1988 und Heidegger 1993) und durch – ihrerseits durch Husserl und Heidegger beeinflusste – französische Hegeldeutungen (vgl. Kojève 1947 und Hyppolite 1946) erfahren. Als gegenwärtige Vertreter der systeminternen Lesart seien Pöggeler 1961 und Pöggeler 1966 und Weckwerth 2000 genannt. Der systeminternen Deutung können auch diejenigen Deutungen zugeordnet werden, die die Phänomenologie als eigenständigen geschichtsphilosophischen, sozialphilosophischen, sozialpragmatischen oder kulturtheoretischen Entwurf interpretieren; als Beispiele seien hier M. Westphal 1979, Pinkard 1994 und Brandom 2001, bedingt auch Pippin 1989 genannt. 16 Vor allem frühe Hegelschüler wie Gabler, Hinrichs und Michelet scheinen Vertreter der didaktischen Lesart gewesen zu sein, vgl. Fulda 1975, 58. Gegenwärtige Interpreten, welche (zumindest auch) eine didaktische Funktion mit der Phänomenologie verbinden, sind Pöggeler (Pöggeler 1993, 257 ff.), Forster (Forster 1998, 13 ff.), Stern (Stern 2002, 22 f.), Ellias (Ellias 2007, 14, 45 ff., 93 f.), Hösle (Hösle 2008, 629 f.) und Emundts (Emundts 2012, 85 ff., 101). Vgl. für eine didaktische Interpretation speziell der Einleitung zur Phänomenologie Gutschmidt 2006, insbesondere 37, 48 ff. 17 Gegenwärtige Vertreter einer systemexternen Lesart sind beispielsweise Fulda (vgl. Fulda 1975, 298 ff.), Konrad Cramer (vgl. Cramer 1978, 360, 365, 387 f.), K. R. Westphal (K. Westphal 1989, 10), Forster (vgl. Forster 1998, 13 ff., 126 ff. und 270 ff.), Horstmann (vgl. Horstmann 2006, 22 ff., 28 f.) und Jaeschke (vgl. Jaeschke 2003, 178 ff.). Als frühes Beispiel einer systemexternen Lesart sei die Interpretation von Rudolf Haym genannt, der zufolge die Funktion der Phänomenologie darin besteht, als »Vorbereitung und Beweisversuch für den Standpunkt des absoluten Wissens« (Haym 1857, 234) diesen »Standpunkt der absoluten Erkenntniß wissenschaftlich zu rechtfertigen« (Haym 1857, 232). Es sei dabei angemerkt, dass Autoren, die eine systemexterne Lesart (in dem hier festgelegten Sinne) vertreten, diese nicht immer konsequent umsetzen. 15

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gen ein selbständiger Rechtfertigungscharakter zu. Sie versteht die phänomenologische Rechtfertigung zwar (wie die erste und im Gegensatz zur zweiten Lesart) als eine Begründung des Systems, aber (im Gegensatz zur ersten Lesart) als eine solche, die sich in Art und argumentativer Funktion gänzlich von der im System selbst geleisteten Begründung unterscheidet und sich zu dieser vollkommen extern18 verhält. Wie in 1.5 ausführlicher begründet wird, sollen in dieser Arbeit mit »einleitenden«, »vorbereitenden« oder – hier synonym verwendet – »propädeutischen«19 Überlegungen immer Überlegungen gemeint sein, welche von den Überlegungen, in die sie einleiten bzw. die sie argumentativ vorbereiten, sowohl (i) material als auch (ii) argumentativ-funktional verschieden sind.20 Mit (i) ist gemeint, dass die Einleitungs- und Zielüberlegun18

Der Begriff der systemexternen Rechtfertigung scheint – zumindest in der neueren Diskussion – auf Fulda zurückzugehen, vgl. Fulda 1975, 46, 60 f., 298 f.; vgl. zur Charakterisierung dessen, was hier »extern« heißen kann, auch Cramer 1978, 367. Die Einleitungsaufgabe bestimmt Fulda wie folgt: »Er [der Ausdruck ›Einleitung‹] bezeichnet die konsequente Vermittlung des ›Standpunkts der Wissenschaft‹ für ein gewöhnliches Bewußtsein, das durch seine eigenen Voraussetzungen auf den Weg zur Wissenschaft genötigt wird« (Fulda 1975, 18). Fulda selbst versteht allerdings diejenige Aufgabe, die er als solche der systemexternen Rechtfertigung bezeichnet, nicht als Aufgabe, die auch ausschließlich mit systemexternen Argumentationsmitteln durchzuführen ist. So ist Fulda der Meinung, dass die durch die Phänomenologie zu leistende systemexterne Einleitung »ihre Grundlagen im Systemschluß« (Fulda 1975, 12) hat, wie von ihm im zweiten Teil seiner Studie (Die systematischen Grundlagen der Einleitung) näher ausgeführt wird. Vgl. neuerdings allerdings Fulda 2008, 603, Fußnote 5. 19 Es sei betont, dass der Begriff der Propädeutik in dieser Arbeit nicht gleichgesetzt wird mit einer didaktischen Form von Einleitung; in seiner didaktischen Bedeutung, wie ihn die Hegel-Schüler nahmen – Gabler, Michelet, Rosenkranz; bedingt auch Hinrichs; vgl. Fulda 1975, 58 ff. –, hat Fulda den Terminus »Propädeutik« verwendet, um die Deutung der Phänomenologie als didaktische Einleitungsschrift zu kritisieren; vgl. Fulda 1975, 79 ff. und Fulda 2003, 84. In der Tat war es am Anfang des 19. Jahrhunderts in der Philosophie üblich, den Begriff der Propädeutik vorwiegend didaktisch aufzufassen. (Diese didaktische Interpretation des Propädeutikbegriffs dürfte vor allem auf Herbarts Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie von 1813 zurückgehen; vgl. insbesondere 10 ff.) In der Tradition gilt »Propädeutik« allerdings auch als Bezeichnung für vorbereitende Überlegungen generell – oft in Bezug auf die der Philosophie vorhergehenden logischen Disziplinen, die traditionell als Teil des aristotelischen Organons galten – und nicht nur als Bezeichnung für die didaktische Mitteilungsform solcher Überlegungen. Als bekanntes Beispiel einer nicht-didaktischen Verwendung des Propädeutik-Begriffs sei Kants Charakterisierung der Kritik der reinen Vernunft als »Propädeutik zum System der reinen Vernunft« (KrV, A 11) angeführt; vgl. dazu 3.3.3. Um diese Kontinuität des vorhergehenden Charakters philosophiemethodologischer Überlegungen terminologisch sichtbar zu machen, gilt in dieser Arbeit der Begriff der Propädeutik als Bezeichnung für argumentativ vorbereitende Überlegungen generell. 20 In dem Falle, wo ein Autor (der Primär- oder Sekundärliteratur) eine Disziplin explizit als »Einleitungs«-Disziplin bezeichnet, ohne sie von der Disziplin, in die eingeleitet

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gen als material verschiedene Überlegungskomplexe oder Textteile – etwa als verschiedene Schriften, Buchteile oder Disziplinen – ausgeführt sind; mit (ii) ist gemeint, dass beide Überlegungsarten sich nicht thematisch – beispielsweise, indem die Einleitungs- die Zielüberlegungen zur ersten Orientierung des Lesers bloß auf vorläufige Weise charakterisieren – überschneiden.21 Verschieden von »Einleitungsüberlegungen« in diesem Sinne sind also die Überlegungen, die Hegel oft zu Beginn einer Disziplin zum Problem des »methodischen Anfangs« eben jener Disziplin anstellt, sofern diese nicht das Verhältnis zwischen Disziplinen mit argumentativ unterschiedlichen Funktionen, sondern nur die Weise des argumentativen Beginnens einer Disziplin betreffen.22 Worin die argumentative Vorbereitungsfunktion von einleitenden Überlegungen genauer besteht und ob mit ihr auch ein eigenständiger Begründungsanspruch verbunden ist, soll durch den Einleitungsbegriff als solchen offengelassen werden; auch für didaktische Überlegungen gilt also, dass sie in dem hier festgelegten Sinne als Einleitungsüberlegungen gelten sollen, wenn sie die genannten Kriterien erfüllen. Der zweiten Lesart zufolge soll die Phänomenologie als eine didaktische Einleitung in das System verstanden werden, welche den Leser, der noch mit den Vorurteilen des natürlichen Verstandes behaftet ist, durch eine kritische Widerlegung dieser Vorurteile zum Standpunkt der Hegelschen Wiswird, hinsichtlich ihrer argumentativen Funktion strikt zu unterscheiden, soll in dieser Arbeit von einer argumentativen Teilhabe oder Involviertheit der als »Einleitung« bezeichneten Disziplin an der bzw. in die Disziplin, in die eingeleitet wird, gesprochen werden. 21 Bereits durch diese begriffliche Festlegung mag klar sein, dass Hegels allgegenwärtige Polemik gegen das vorläufige Philosophieren – gegen das Philosophieren vor dem Philosophieren und das Erkennen vor dem Erkennen (vgl. z. B. das dritte Kapitel der Differenzschrift und die Einleitung zur Berliner Enzyklopädie) – sich nicht gegen die systematische Aufgabe der Einleitung in die Philosophie richtet; ähnlich Fulda 1975, 17 f. Verschieden ist die so verstandene Einleitungsaufgabe auch von der Problematik, welche mit der literarischen Form von »Vorreden«, »Einleitungen« und »Einführungen« zusammenhängt; vgl. Fulda 1975, 18. Verwirrenderweise hat Hegel selbst (von einer Ausnahme abgesehen) diese systematische Aufgabe, anders als in der Hegelforschung üblich, nicht als »Einleitungs«-Aufgabe bezeichnet, sondern den Terminus »Einleitung« genau mit solchen Formen von vorläufigem Philosophieren assoziiert; vgl. dazu im Einzelnen 1.5. 22 Das (so verstandene) Problem des methodischen Anfangs stellt sich also für die Phänomenologie und die Logik bzw. die einzelnen Disziplinen des Systems gesondert; es stellt ein internes methodologisches Problem der jeweiligen Disziplin dar. Zwar sind mit der Phänomenologie als einleitender Disziplin auch Konsequenzen für die Weise, wie in der Logik der methodische Anfang gemacht werden soll, verbunden; aber die Frage, wie diesen Konsequenzen am Anfang der Logik Rechnung getragen wird, hängt nicht mehr unmittelbar mit der Einleitungsfunktion der Phänomenologie zusammen und wird in dieser Arbeit nicht thematisiert werden.

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senschaft hinführe. Die Phänomenologie wäre nach dieser Lesart also gar keine Begründungsschrift im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Populärdarstellung, welche in Form einer Hilfeleistung die subjektiven Verständnisbedingungen für die eigentliche Hegelsche Philosophie schaffen soll. Auch die von manchen Interpreten mit der Phänomenologie verbundene Aufgabe, das Bedürfnis der Philosophie durch die Herstellung einer einheitlichen Weltsicht zu befriedigen, kann als eine didaktische Form der Hinführung charakterisiert werden, durch welche die kognitiven Bedürfnisse von empirischen Subjekten befriedigt werden sollen.23 Die didaktische Lesart kann m. E. insgesamt als unplausibel zurückgewiesen werden, da Bezeichnungen wie »Wissenschaft« und »Rechtfertigung« für den argumentativen Status der Phänomenologie auf einen Begründungsanspruch hinweisen, der über den einer bloßen didaktischen Populärdarstellung deutlich hinausgeht; unmissverständlich hebt Hegel in der Vorrede hervor, die Phänomenologie sei keine pädagogische »Anleitung des unwissenschaftlichen Bewußtseyns zur Wissenschaft« (GW 9, 24). Die erste und die dritte Lesart können dagegen beide mit philologischen Argumenten verteidigt werden. Der ersten Lesart zufolge stellt die Phänomenologie keine Einleitung in das System dar, welche ihren argumentativen Ort außerhalb desselben hätte, sondern einen argumentativen Bestandteil oder sogar eine eigenständige Fassung des Hegelschen Systems. Als Belege für diese These kann sie auf Textstellen verweisen, welche die Phänomenologie als den »ersten Teil« des »Systems der Wissenschaft«24 charakterisieren, dessen zweiten Teil die »Logik oder speculative Philosophie« (Vorrede, GW 9, 30) bzw. die »Logik« und Realphilosophie25 bilden.26 Dem Einwand, dass in diesen beiden Systemteilen verschiedene wissenschaftliche Disziplinen 23

Vgl. beispielsweise Forster 1998, 17–125. Vgl. dazu weiter 1.5.2. Vgl. GW 9, 1–3, 24, 29 sowie die Selbstanzeige (GW 9, 446–7). 25 Vgl. die Selbstanzeige (GW 9, 447) und GW 11, 8. In der Selbstanzeige ist im Übrigen nicht von zwei »Teilen«, sondern von zwei »Bänden« die Rede: Der erste Band enthält die Phänomenologie, ein »zweyter Band« soll »das System der Logik als speculativer Philosophie, und der zwey übrigen Theile der Philosophie, die Wissenschaften der Natur und des Geistes enthalten« (GW 9, 447). 26 Die Realphilosophie wird in der Vorrede zwar nicht explizit erwähnt, man wird aber davon ausgehen können, dass sie für Hegel auch hier Bestandteil des zweiten Systemteils ist; sie ist ja seit 1801 Teil von Hegels Systemkonzeption und Hegel bot auch zu dem Zeitpunkt, als er die Vorrede verfasste, im WS 1806/7, eine Vorlesung über Realphilosophie an (»Philosophie der Natur und des Geistes«, Dokumente, 56). Ich werde daher im Folgenden immer voraussetzen, dass der zweite Systemteil auch die Realphilosophie mitumfasst. (Ob der zweite Systemteil die Realphilosophie mitumfasst oder nicht, scheint mir im Übrigen für die Frage nach dem Begründungsverhältnis beider Systemteile nur von geringer Bedeutung zu sein, da die »Logik« in beiden Fällen als die zentrale Grundlegungsdiszi24

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

mit unterschiedlichen argumentativen Funktionen dargestellt werden, kann sie mit dem Verweis auf Textstellen27 aus der Vorrede zur Phänomenologie begegnen, welche nahezulegen scheinen, die beiden Systemteile als Darstellungen von unterschiedlichen Erscheinungsformen derselben Wissenschaft aufzufassen,28 welcher Wissenschaft folglich nur eine einzige argumentative Funktion zukommen kann. Ein Problem der systeminternen Lesart ist allerdings, dass weit mehr Textstellen – insbesondere solche, in denen Hegel selbst sich über die Funktion der Phänomenologie äußert – dagegen sprechen, deren argumentative Funktion mit derjenigen des Systems zu identifizieren. So heißt es in der Selbstanzeige: »Sie [die Phänomenologie] betrachtet die Vorbereitung [!] zur Wissenschaft aus einem Gesichtspuncte, wodurch sie eine neue […] Wissenschaft der Philosophie ist«;29 in der Logik wird die Funktion der Phänomenologie wiederholt als »Rechtfertigung«, »Deduction« und »Voraussetzung« des Systems bezeichnet;30 und verschiedene Passagen aus der Einleitung zur Phänomenologie charakterisieren die phänomenologische Wissenschaft als eine distinkte Wissenschaft, die »Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns« (GW 9, 61), die der reinen, »eigentlichen Wissenschafft« (GW 9, 62) vorausgeht.31 Schließlich können auch in der Vorrede zur Phänomenologie verschiedene Textpassagen gefunden werden, in denen zwischen der »Phänomenologie« einerseits und der reinen, eigentlichen, nun »Logik« genannten Wissenschaft andererseits deutlich funktional unterschieden wird.32 Es stehen dem Interpreten zwei Optionen offen, mit diesen anscheinend widersprüchlichen Textstellen umzugehen. Die erste Option besteht darin, der Charakterisierung der Phänomenologie als erstem Teil des Systems das interpretatorische Primat zu geben und die phänomenologische Begründung entsprechend als systeminterne Begründung aufzufassen. Diese Option wäre darauf verpflichtet, die systeminterne Deutung mit denjenigen Textstellen plin des zweiten Systemteils fungiert; vgl. 1.1.1, insbesondere Anm. 12. Wohl aus diesem Grund erwähnt Hegel die Realphilosophie in der Vorrede auch nicht explizit.) 27 Vgl. GW 9, 22–23, 30. 28 Vgl. insbesondere GW 9, 29, Zeile 7–11. 29 Vgl. GW 9, 446, vgl. auch GW 9, 28. 30 Vgl. GW 11, 20–21, 30, 33; vgl. auch GW 11, 34, Zeile 9 und GW 11, 38, Zeile 31 – GW 11, 39, Zeile 5. 31 Vgl. GW 9, 55, 56 und 61. 32 Es wird funktional unterschieden zwischen der »Phänomenologie« (GW 9, 24) als »Leiter […] zu diesem [wissenschaftlichen] Standpunkte« (GW 9, 23), »Werden der Wissenschaft« (GW 9, 24) und »Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtseyn macht« (GW 9, 29) einerseits und der eigentlichen Wissenschaft als »eigentliche[m] Wissen« (GW 9, 24), »Logik oder speculative[r] Philosophie« (GW 9, 30) und »Wissenschaft des Wahren, das in der Gestalt des Wahren ist« (GW 9, 30) andererseits; vgl. insgesamt GW 9, 23–30.

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in Einklang zu bringen, welche für eine eigenständige Begründungsrolle der Phänomenologie als vorbereitende Einleitung in die eigentliche Wissenschaft sprechen. Die zweite Option besteht darin, diejenigen Textstellen, welche für eine eigenständige Begründungsrolle der Phänomenologie sprechen, zum interpretatorischen Ausgangspunkt zu machen und die Phänomenologie entsprechend als eine systemexterne Begründung aufzufassen. Diese Option wäre umgekehrt darauf verpflichtet, die Charakterisierung der Phänomenologie als ersten Teil des Systems mit ihrem Rechtfertigungscharakter interpretatorisch in Einklang zu bringen. Die systeminterne Lesart scheint in systematischer Hinsicht den großen Vorteil zu haben, dass durch sie die Funktion der Phänomenologie gut verständlich gemacht werden kann, insofern diese ja identisch mit derjenigen des Systems bzw. der Logik wäre. Dies wäre deshalb von Vorteil, weil die Funktion der Logik wesentlich leichter bestimmt werden kann als diejenige der Phänomenologie. Auch wenn der Argumentationsgang der Logik im Detail nicht leicht verständlich zu machen ist, lässt sich doch relativ einfach feststellen, worin Hegel ihre argumentative Hauptaufgabe gesehen hat: Sie soll die Funktion erfüllen, die traditionellerweise die Metaphysik erfüllte, und so die »eigentliche Metaphysik« (GW 11, 7) ausmachen. Wie auch immer diese gleichzeitige Fortsetzung und Transformation der »vormaligen Metaphysik« (GW 11, 32) im Einzelnen verstanden werden soll – etwa als transzendentale Grundlegung, als Anknüpfung an das Programm der traditionellen Metaphysik oder als vollkommen revisionäres Programm –, klar zu sein scheint, dass ihre Funktion die der eigentlichen philosophischen Grundlegung sein soll.33 Diese systematisch attraktiv scheinende erste Option ist allerdings aus mehreren Gründen unplausibel. Um dies deutlich werden zu lassen, sei zunächst festgestellt, dass die systeminterne Deutung nicht nur in der terminologischen These besteht, dass Hegel die Phänomenologie – unabhängig davon, wie diese sonst noch verstanden wird – als den ersten Teil des Systems bezeichnet hat, sondern in der darüber hinausgehenden These, dass beide Systemteile – Phänomenologie einerseits und Logik und Realphilosophie andererseits – die gleiche metaphysische Funktion erfüllen. Auch wenn die terminologische These zutreffen sollte, folgt daraus keineswegs die zweite These. Vielmehr ist diese schon deshalb unplausibel, weil auch in dem einzigen im zeitlichen Umfeld der Phänomenologie entstandenen Text, in dem die Systembezeichnung eine systematisch bedeutsame Rolle spielt, der Vorrede, 33

Vgl. GW 11, 7 und 32.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

die Disziplinen, welche den ersten, und diejenigen, welche den zweiten Teil des Systems ausmachen sollen, immer klar funktional getrennt werden. Der zweite Teil des Systems soll von der »Logik oder speculative[n] Philosophie« (GW 9, 30) als eigentlicher »Wissenschaft des Wahren« (ebd.) gebildet werden, dem als erster Teil des Systems die »Phänomenologie« als das »Werden der Wissenschaft« (GW 9, 24) bzw. als »Vorbereitung« (GW 9, 28) vorausgeht.34 Die systeminterne Lesart ist zudem aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen unplausibel, müsste sie doch unterstellen, dass Hegel die Disziplinen, die er vor der Abfassungszeit der Phänomenologie als metaphysische Disziplinen verstanden hatte und auch danach so verstehen sollte, um 1806/07 in funktionaler Hinsicht völlig anders interpretiert hätte. Denn sowohl davor als auch danach sollen metaphysische Aufgaben exklusiv von Disziplinen wahrgenommen werden, die funktional und z. T. auch strukturell äquivalent sind mit den Disziplinen, die während jener Zeit den »zweiten Teil« des Systems ausmachen, und deren Grundlegungsdisziplin Hegel mindestens seit dem Jenaer Systementwurf III von WS 1805/6 exklusiv als »Logik« bezeichnet.35 Auch für die Phänomenologie selbst lassen sich funktional äquivalente Disziplinen auffinden, welche vor und nach ihrer Abfassungszeit von Hegel als Disziplinen verstanden wurden, die nicht Teil seiner metaphysischen Theorie sein, sondern in diese einleiten sollen. Als Beispiele seien die logische Einleitungskonzeption im Jenaer Systementwurf II von 1804/536 und die »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« in der Berliner Enzyklopädie von 182737 genannt. Insbesondere die Tatsache, dass Hegel relativ kurz vor der Phänomenologie eine Einleitungsdisziplin vertreten hat, die funktionale Gemeinsamkeiten mit der Phänomenologie aufweist, macht es unplausibel, 34

Die Vorrede ist nach Verfassung der ursprünglich nicht vorgesehenen zweiten Hälfte der Phänomenologie entstanden. Die Bezeichnung »Erster Theil«, dort in Bezug auf die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns«, findet sich zwar auch auf dem wohl bereits Ostern 1806 in gedruckter Form vorliegenden ursprünglichen Zwischentitelblatt (GW 9, 444), auffällig ist aber, dass in der (zum gleichen Zeitpunkt gedruckten) Einleitung von der Bezeichnung kein systematischer Gebrauch gemacht wird. Zumindest im Frühjahr 1806 scheint Hegel die Bezeichnung also in einem rein textorganisatorischen Sinne verwendet zu haben. Die Tatsache, dass die Systembezeichnung erst in der Vorrede eine systematische Rolle spielt, deutet m. E. darauf hin, dass diese mit Problemen zu tun hatte, welche mit der (Lieferung der) zweiten Hälfte der Phänomenologie zusammenhingen. Vgl. zu diesen Fragen ausführlicher 1.2 (Ende) und 8.1. 35 Vgl. Düsing 1976, 150 ff., Kimmerle 1970, Horstmann 1980, und für einen allgemeinen Überblick Jaeschke 2003, 160 ff.; zur Nürnberger Logik von 1808/9 vgl. Jaeschke 2003, 204–207. Vgl. auch 1.2 und die dort angeführte Literatur. 36 Vgl. dazu 1.2. 37 Vgl. dazu 1.4, (c).

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die Phänomenologie als metaphysische Theorie und nicht als Einleitung in eine solche Theorie zu interpretieren. Eine systeminterne Lesart hätte also anzunehmen, dass Hegel für kurze Zeit die Phänomenologie als vollständige Alternative zum bisherigen (aus »Logik« und »Realphilosophie« bestehenden) System betrachtet habe, um schon bald nach der Phänomenologie wieder an seine bisherige Systemkonzeption anzuknüpfen. Sie müsste ferner annehmen, dass Hegel diejenige Aufgabe, die er bisher als Einleitungsaufgabe verstanden hatte und die durch die Jenaer Einleitungsdisziplin von 1804/5 in Form einer Destruktion von Verstandesbestimmungen realisiert werden sollte, plötzlich als Systemaufgabe neubestimmt habe, während er gleichzeitig oder nur wenig später in Vorlesungsankündigungen38 bei der alten Sicht stehengeblieben bzw. zu ihr zurückgekehrt sei. Eine solche Deutung lässt sich eigentlich nur durch spekulative werkgeschichtliche Annahmen wie etwa diejenige Theodor Haerings39 rechtfertigen, Hegel habe die Phänomenologie zwar ursprünglich als eine Art didaktische Einleitung in das System ohne eigenständigen Rechtfertigungscharakter konzipiert, sie aber während der Ausarbeitung und Niederschrift zusehends als Teil des Systems verstanden; eine Verschiebung, die Hegel dann nachträglich in der Vorrede systematisch reflektiert habe.40 In der Tat stellt die Vorrede zur Phänomenologie den einzigen Text dar, auf welchen sich eine systeminterne Lesart der Phänomenologie stützen kann. Allerdings finden sich in diesem Text neben den Passagen, welche eine systeminterne Lesart zu unterstützen scheinen,41 auch solche, die für eine funktionale Trennung der phänomenologischen und metaphysischen Disziplinen sprechen.42 Diese Schwierigkeit, welche einerseits mit der Doppelfunktion 38

So ist in der Vorlesungsankündigung für das Wintersemester 1806/7 (zitiert in Anm. 82) klar von dem der spekulativen Philosophie vorausgehenden (»praemissa«) Charakter der »Phänomenologie« die Rede. 39 Vgl. Haering 1934 und Haering 1938, 482 ff.; vgl. dazu Pöggeler 1961 und Fulda 1975, 84 ff. 40 Vgl. 8.1. 41 Vgl. z. B.: »Eine solche [phänomenologische] Darstellung macht ferner den ersten Theil der Wissenschaft darum aus, weil das Daseyn des Geistes als Erstes nichts anderes als das Unmittelbare oder der Anfang […] ist« (GW 9, 29). Zusammen mit anderen Formulierungen (vgl. insbesondere den 26. Absatz der Vorrede, GW 9, 22–23) suggeriert diese, dass es eine (und nur eine) Wissenschaft gebe, deren unvollkommene Erscheinungsform die Phänomenologie und deren vollendete Erscheinungsform die eigentliche Wissenschaft bilde; so verstanden würden die Phänomenologie und die eigentliche Wissenschaft einen genetischen Zusammenhang im gleichen Begründungsraum bilden. Vgl. auch GW 9, 24. Zur Vorrede vgl. 1.5.2 und 7.2.1.2. 42 Vgl. Anm. 32.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

dieses Textes als Einführung in Hegels Gesamtsystem und Spezialeinführung in die Phänomenologie zusammenhängen dürfte, andererseits aber auch dem Versuch Hegels geschuldet sein könnte, Konzeptionsverschiebungen in späteren Teilen der Phänomenologie mit der ursprünglichen Konzeption nachträglich in Einklang zu bringen, macht den interpretatorischen Ertrag dieses Textes bezüglich der hier thematisierten Frage insgesamt unsicher und kann daher ebenfalls nicht als überzeugender Beweis für die systeminterne Lesart gewertet werden.43 Schließlich erweist sich auch der scheinbare Vorteil systematischer Klarheit bei näherer Betrachtung als problematisch. Denn es droht eine funktionale Redundanz einer der beiden Systemteile, wenn sowohl die Phänomenologie als erster Teil des Systems wie die Disziplinen des zweiten Teils des Systems eine metaphysische Aufgabe erfüllen sollen. Auch wenn die Aufgabe metaphysischer Begründung auf zwei Disziplinen aufgeteilt wird, ist nicht leicht zu sehen, wie nicht doch eine der beiden Disziplinen als primäre Grundlegungsdisziplin fungieren sollte: Entweder müsste die Phänomenologie als die primäre Grundlegungsdisziplin aufgefasst werden; dann aber wäre die Logik entgegen ihrem Selbstverständnis44 als ihrerseits begründungsfunktional autonome Disziplin als von der Phänomenologie argumentativ abhängige Disziplin zu interpretieren. Oder die Logik müsste es; dann aber bliebe nur, die Phänomenologie als eine Disziplin aufzufassen, welche keine selbständigen Begründungsaufgaben erfüllt und sich argumentativ subsidiär zur Logik verhält; in diesem Fall wäre die Phänomenologie in begründungsfunktionaler Hinsicht redundant und könnte höchstens noch als didaktische Disziplin verstanden werden. Die Probleme, welche sich der dritten, systemexternen Deutungsoption stellen, erweisen sich dagegen als weniger gravierend. Zwar vermag auch sie den Grund für die Charakterisierung der Phänomenologie als ersten Teil des Systems nicht abschließend aufzuklären, kann aber dieses Problem überzeugend als eines von bloß terminologischem Interesse entschärfen, das als solches keine Relevanz für die Frage besitzt, wie das funktionale Verhältnis der Phänomenologie zu den metaphysischen Disziplinen der Logik und Realphilosophie verstanden werden muss. Denn für eine systemexterne Deutung der Phänomenologie spielt es keine Rolle, ob die Frage nach dem Verhältnis der Phänomenologie zum System als Frage nach dem Verhältnis des ersten Systemteils zum zweiten formuliert wird, solange nur funktional zwischen dem zweiten Teil des Systems als metaphysischer Theorie und der Phänomenologie 43 44

Vgl. 1.5.2. Vgl. dazu weiter unten.

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als diese vorbereitende und rechtfertigende Theorie unterschieden wird. Als Indiz dafür, dass auch Hegel selbst der Systembezeichnung kein großes systematisches Gewicht beigemessen hat, kann eine Bemerkung aus der Vorrede zur ersten Auflage der Logik angeführt werden, in der Hegel rückblickend die Bezeichnung von Phänomenologie und Logik als »Systemteile« eine solche nennt, welche (nur) »das äusserliche Verhältniß betrift« (GW 11, 8).45 Nichtsdestoweniger kann die Charakterisierung der Phänomenologie als erster Teil des Systems auch im Rahmen einer systemexternen Deutung der Phänomenologie verständlich gemacht werden. Zunächst sei nochmals hervorgehoben, dass die Rede vom Teil-Sein in dieser Charakterisierung auf zweierlei Weise interpretiert werden kann. Zunächst als Bezeichnung für die disziplinäre Rangordnung einer Theorie als erster Disziplin in einem Gesamtsystem, das aus zwei Disziplinen besteht. Davon kann die Rede vom Teil-Sein als argumentativer Teilhabe einer Behauptung an einer anderen Behauptung unterschieden werden; in diesem Sinne wäre die Phänomenologie durch eine argumentative Teilhabe an dem, was hier System heißt, charakterisiert. Mit »System« wäre dann eine inhaltliche Größe gemeint – etwa Hegels Philosophie des Absoluten –, von der die Phänomenologie als deren erster Bestandteil argumentativ abhängig wäre. So spricht beispielsweise Otto Pöggeler davon, dass die Phänomenologie als erster Systemteil bereits »Teil der spekulativen Philosophie« (Pöggeler 1993, 272) ist. Wie die obige Diskussion gezeigt haben mag, ist letztere Interpretation unplausibel: zu oft wird von Hegel betont, dass die phänomenologische Erfahrungswissenschaft und die reine, logische Wissenschaft zwei distinkte Wissenschaften bilden. Auch gibt es keinerlei Indizien dafür, dass die zwei Systemteile sich auf ein gemeinsames, sie übergreifendes Theoriesystem bezögen; vielmehr scheinen die Phänomenologie als System der Bewusstseinsgestalten und die reine Wissenschaft als System von Begriffsbestimmungen verschiedene Systementitäten bilden zu sollen.46 Es scheint also erstere Interpretation zutreffen zu müssen. Die Charakterisierung »Systemteile« bringt ihr zufolge lediglich zum Ausdruck, dass die Gesamtheit der von Hegel angestellten Theorieüberlegungen in einem rein textorganisatorischen Sinn in zwei Teile eingeteilt werden kann: stellt Hegel im zweiten Teil – in seiner Logik und Realphilosophie – philosophische bzw. 45

Wie weiter unten ausgeführt wird, hat Hegel zu diesem Zeitpunkt (1812) noch unvermindert festgehalten an der Geltung der Phänomenologie als systemexterner Rechtfertigung des Systems. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Hegel die Relativierung der Systembezeichnung bereits hier aufgrund einer Neubewertung der Funktion der Phänomenologie vorgenommen hat; vgl. 1.4. 46 Vgl. GW 9, 61 und 432.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

metaphysische Überlegungen an, so im ersten Teil – in der Phänomenologie – Überlegungen, welche diese argumentativ vorbereiten.47 Als weitere Indizien für diese These können spätere Bemerkungen zur Phänomenologie angeführt werden, mit denen Hegel seine frühere Charakterisierung der Phänomenologie als Systemteil erläutert. Dass sich für Hegel der Status der Phänomenologie als erster Teil des Systems und die Tatsache, dass sie der eigentlichen Wissenschaft einleitend vorausgehen soll, keineswegs ausschließen, geht zunächst aus einer prägnanten Formulierung der Heidelberger Enzyklopädie hervor, wo Hegel rückblickend die Funktion der Phänomenologie folgendermaßen charakterisiert: »Ich habe früher die Phänomenologie des Geistes, die wissenschaftliche Geschichte des Bewußtseyns, in dem Sinne [!] als ersten Theil der Philosophie behandelt, daß sie der reinen Wissenschaft vorausgehen solle« (GW 13, 34; § 36, Anm.). Man sieht, dass beide Charakterisierungen sich für Hegel nicht nur nicht ausschließen, sondern die Phänomenologie laut Hegel sogar genau deshalb – »in dem Sinne« – als erster Teil der Philosophie bezeichnet werden kann bzw. von ihm früher so bezeichnet worden sei, weil sie der reinen Wissenschaft vorausgeht.48 Auch in einem Brief an Schelling vom 1.5.1807 verdeutlicht Hegel die Charakterisierung der Phänomenologie als ersten Teil des Systems durch den Zusatz, dass sie »eigentlich die Einleitung« sei.49 In der späten Überarbeitungsnotiz zur geplanten Neuauflage der Phänomenologie schließlich erläutert Hegel die Formulierung, dass sie den ersten Teil des Systems bilde, ebenfalls durch ihren vorausgehenden Charakter: »erster Theil eigentlich [!] Voraus, der Wissenschaft« (GW 9, 448). Man scheint aufgrund dieser Bemer47

Für den textorganisatorischen Charakter der »Systemteile«-Bezeichnung spricht auch die Tatsache, dass in der nur wenig später als die Vorrede verfassten (vgl. GW 9, 471) Selbstanzeige nicht von zwei »Teilen«, sondern »Bänden« die Rede ist; vgl. GW 9, 446–7. In Bezug auf die oben in Anm. 41 angeführten Textstellen, die für die Interpretation der »Phänomenologie« und der »Logik« als Modi einer einzigen »Wissenschaft« zu sprechen scheinen, kann vorgebracht werden, dass Hegel den Wissenschaftsterminus dort als generische Bezeichnung für philosophische Begründung überhaupt verwendet; vgl. dazu 5.3.1. Nur eine solche Deutung scheint im Übrigen auch verständlich machen zu können, dass Hegel im gleichen Text die »Phänomenologie« und die »Logik« einerseits als selbständige Wissenschaften charakterisiert und andererseits als Teile »der« Wissenschaft bezeichnet. 48 Dieser Punkt wird auch von Forster stark betont; vgl. Forster 1998, 553 f. Hegel beschreibt zwar an dieser Stelle m. E. eine frühere, von ihm zu diesem Zeitpunkt (1817) nicht mehr vertretene Ansicht – hier weiche ich von Forsters Deutung ab –; gerade dieser Umstand scheint aber seine unparteiische Einstellung zu dieser Ansicht zu gewährleisten. Vgl. 1.4, (b) und (d). 49 Vgl. Briefe I, 161. Vgl. auch Hegels Brief an Sinclair von Mitte Oktober 1810 (Briefe I, 331–333), in dem es in Bezug auf die Phänomenologie heißt, »die Wissenschaft selbst soll erst noch nachkommen« (Briefe I, 332).

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kungen feststellen zu dürfen, dass für Hegel die Phänomenologie genau deshalb, »in dem Sinne«, den ersten Teil des Systems bildet, weil bzw. als sie die Einleitung zum zweiten Teil des Systems ist.50 Insgesamt kann damit die systemexterne Lesart als zugleich philologisch wie systematisch deutlich überzeugender gewertet werden. Als bisheriges Ergebnis des Versuchs, die Funktion der Phänomenologie aufzuklären, kann also die Einsicht festgehalten werden, dass die Phänomenologie ihrer ursprünglichen Konzeption nach eine propädeutische Begründungsdisziplin darstellt, welche das Hegelsche System systemextern mit Mitteln rechtfertigen soll, welche keinen argumentativen Bestandteil des Systems ausmachen. Gegen die didaktische Lesart wurde gezeigt, dass sie eine Begründungsdisziplin ist, und gegen die systeminterne Lesart, dass sie eine propädeutische Funktion hat. Dabei sei ausdrücklich betont, dass dieses Ergebnis zunächst nur Hegels Selbstdeutung der phänomenologischen Konzeption betrifft, also nur diejenigen Passagen der Phänomenologie, in denen explizit die Funktion und Methode der phänomenologischen Wissenschaft thematisiert wird. Da Hegel in der Phänomenologie selbst keine genaueren Angaben über den Begründungsstatus der eigentlichen Wissenschaft – der »Logik oder speculative[n] Philosophie« (GW 9, 30) – macht und aus dieser Zeit auch keine für diese Frage relevanten Logik-Fragmente überliefert sind, kann an dieser Stelle immer noch der Einwand erhoben werden, dass Hegel zwar die Phänomenologie als begründungsfunktional selbständige Wissenschaft verstand, nicht aber die Wissenschaft, in die sie einleiten soll. In diesem Fall müsste also die Phänomenologie als die eigentliche (metaphysische) Begründungsdisziplin der Hegelschen Philosophie angesehen werden, so dass am Ende die systeminterne Lesart doch zuträfe.51 Zur Widerlegung dieses Einwands sei eine Stelle aus der Logik von 1812 angeführt, aus der besonders deutlich hervorgeht, dass Hegel die Logik als in jeder Hinsicht begründungsfunktional autonome Disziplin verstanden hat: »Die Logik dagegen kann keine dieser [von anderen Wissenschaften als bekannt vorausgesetzten] Formen der Reflexion oder Regeln und Gesetze des Denkens voraussetzen, denn sie machen einen Theil ihres Inhalts aus und haben erst innerhalb ihrer begründet zu werden. Auch der Begriff selbst der Wissenschaft überhaupt, 50

Wie in 1.4, (d) näher ausgeführt wird, betreffen möglicherweise mit diesen späten Bemerkungen verbundene Revisionen nicht sosehr den vorausgehenden Charakter der Phänomenologie, d. h. ihren Charakter als »ersten Teil«, sondern ihren Status als selbständige Wissenschaft, d. h. ihren Charakter als »System«. 51 Obwohl diese Lesart in der Einleitung und Vorrede nicht explizit ausgeschlossen wird, erscheint sie im Kontext des argumentativen Gesamtaufbaus dieser Texte zugleich keineswegs als naheliegend. Vgl. dazu 7.2.1.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

nicht nur der wissenschaftlichen Methode, gehört zu ihrem Inhalte, und zwar macht er ihr letztes Resultat aus; was sie ist, kann sie daher nicht voraussagen, sondern ihre ganze Abhandlung bringt diß Wissen von ihr selbst erst als ihr Letztes und als ihre Vollendung hervor« (GW 11, 15). Man könnte einwerfen, diese Bemerkung entstamme einer 1812, also fünf Jahre später veröffentlichten Schrift und könnte einem in der Zwischenzeit stattgefundenen Konzeptionswandel geschuldet sein, der zu einer Devaluation des Begründungsstatus der Phänomenologie geführt habe. Jedoch wird gerade auch im ersten Band der Logik an der Auffassung der Phänomenologie als Rechtfertigung der Logik festgehalten: Während im vorher angeführten Zitat der »Begriff der Wissenschaft« als Resultat der logischen Wissenschaft charakterisiert wurde, heißt es etwas weiter im gleichen Text, dass gerade »[d]ieser Weg [der Phänomenologie] […] den Begriff der Wissenschaft zu seinem Resultate [hat]«; und »[d]er Begriff der reinen Wissenschaft und seine Deduction wird hier also insofern vorausgesetzt, als die Phänomenologie des Geistes nichts anderes als die Deduction desselben ist« (GW 11, 20).52 Diese Zitate machen es umgekehrt unplausibel, anzunehmen, dass die Phänomenologie trotz ihres systemexternen Charakters von logischen Kategorien argumentativ abhängig wäre.53 Eine solche Annahme würde nicht nur Hegels Selbstverständnis widersprechen, sondern auch systematisch problematisch sein, da die Phänomenologie in diesem Fall als eine von der Logik abhängige Disziplin entweder nicht mehr ihre systemexterne Rechtfertigungsfunktion wahrnehmen könnte54 oder aber als solche Rechtfertigung zirkulär würde.55

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Es kann auch der (inverse) Einwand gebracht werden, dass in diesen fünf Jahren eine Aufwertung des Begründungsstatus der Logik stattgefunden habe – dass Hegel also 1807 mit der Phänomenologie deswegen einen starken Rechtfertigungsanspruch habe verbinden können, weil er sie damals als Vorbereitung einer begründungsfunktional eingeschränkteren Fassung der Logik verstand, die noch nicht alle metaphysischen Aufgaben der späteren Logik wahrnahm; der Rechtfertigungsanspruch der Phänomenologie hätte sich also 1807 diesem Einwand gemäß durchaus auf metaphysische Aufgaben beziehen können. Doch auch diese These ist unplausibel. Zunächst würde man auch in diesem Fall erwarten, dass Hegel die Phänomenologie 1812 nicht mehr als selbständige Rechtfertigung verstanden hätte. Zudem scheint sich, wie in 1.4 (a) näher ausgeführt wird, Hegels Logikkonzeption seit 1807 nicht fundamental verändert zu haben. 53 Dies ist die Position, die Fulda vertritt, vgl. vor allem Fulda 1975, 110 f., 140 ff. und 163 ff.; vgl. auch Fulda 1966. 54 Vgl. die vor allem gegen Fulda gerichteten kritischen Bemerkungen Rüdiger Bubners in Bubner 1969, 152 f. und Forsters in Forster 1998, 270–274, insbesondere 273–274, Fußnote 6. 55 Der erste, der einen Zirkelvorwurf erhoben hat, scheint Isaac von Sinclair gewesen zu sein (vgl. Heidemann 2007, 332); vgl. Briefe I, 417. Einflußreich in Bezug auf die spätere Forschung dürfte auch die Formulierung des Zirkelvorwurfs durch Rudolf Haym ge-

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Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass Hegel in der Tat die kontraintuitive These vertreten hat, dass beides zugleich zutrifft: einerseits die argumentative Selbständigkeit sowohl der Phänomenologie als auch der Logik, andererseits die argumentative Abhängigkeit der Logik von der Phänomenologie, findet sich im Kapitel Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden in der ersten Auflage der Logik. Hier wird zunächst die Phänomenologie als Voraussetzung und Grund der Logik qualifiziert: »Aus der Phänomenologie des Geistes […] wird vorausgesetzt, daß sich als dessen letzte, absolute Wahrheit das reine Wissen ergibt. Die Logik ist die reine Wissenschaft, das reine Wissen in seinem Umfange und seiner Ausbreitung« (GW 11, 33); dieser phänomenologische »Rückblick auf den Begriff des reinen Wissens ist der Grund, aus welchem das Seyn herkommt, um den Anfang der absoluten Wissenschaft auszumachen« (ebd.). Gleich anschließend wird dann aber die Logik ihrerseits als begründungsfunktional autonome Disziplin und als ihr eigener Grund charakterisiert: »der Anfang der absoluten [logische] Wissenschaft muß selbst absoluter Anfang seyn, er darf nichts voraussetzen. Er muß also durch nichts vermittelt seyn, noch einen Grund haben; er soll vielmehr selbst der Grund der ganzen Wissenschaft seyn« (ebd.); und etwas später im Text heißt es, es liege »in der Natur des Anfangs selbst, daß er das Seyn sey« (GW 11, 36), weshalb er »keiner Vorbereitung noch weitern Einleitung« bedürfe (GW 11, 40). Die argumentative Abhängigkeit der eigentlichen, logischen Wissenschaft von einer propädeutisch »vorhergehenden Bewegung des Bewußtseyns« (GW 11, 34) bringt Hegel im weiteren Verlauf dieses Textes anlässlich einer Kritik propädeutikfeindlicher Auffassungen noch einmal auf besonders deutliche Weise zum Ausdruck: ohne diese propädeutisch vorhergehende Bewegung wäre die Forderung zur Erhebung auf den Standpunkt des reinen Wissens »ein subjectives Postulat; um als wahrhafte Forderung sich zu erweisen, müßte die Fortbewegung […] des unmittelbaren Bewußtseyns zum reinen Wissen an ihm selbst, durch seine eigene Nothwendigkeit, aufgezeigt und dargestellt worden seyn« (GW 11, 38–39). Ohne diesen Aufweis würde das reine Wissen als ein »willkührlicher Standpunkt« erscheinen, dem mit gleichem Recht ein anderer Standpunkt entgegengesetzt werden könnte: als »selbst […] einer der empirischen Zustände des Bewußtseyns, in Rücksicht dessen es darauf ankommt, ob ihn der eine in sich vorfinde oder hervorbringen könne, ein anderer aber nicht« (GW 11, 39).

wesen sein; vgl. Haym 1857, 256. Für die neuere Zeit seien stellvertretend Ottmann 1973 und Habermas 1973 genannt.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

Damit ist vollends klar, dass die phänomenologische Rechtfertigungsaufgabe nicht als Systemaufgabe verstanden werden kann. Ferner scheint eine genauere Aufklärung ihrer argumentativen Funktion zu erfordern, dass verständlich gemacht wird, wie zwei Beweisversuche sich konsistent zueinander verhalten können, die einerseits beide nicht auf unbewiesenen Voraussetzungen zu beruhen haben, deren einer aber andererseits in einer bestimmten Hinsicht vom andern abhängig sein soll. In Bezug auf die Phänomenologie heißt dies, in einer Formulierung Rudolf Hayms: »Es lag ihm [Hegel] [in der Phänomenologie] das Schwierige[…] ob, das Beweisen des absoluten Standpunkts mit dem Nichtbeweisen zu verbinden« (Haym 1857, 251). Die bisherigen Ausführungen scheinen den Schluss zu erlauben, dass es sich bei dem von der Phänomenologie zu leistenden Beweis um einen systemexternen handeln muss, beim nicht durch die Phänomenologie zu leistenden dagegen um einen metaphysischen, welcher den Systemdisziplinen überlassen bleiben soll. Dieses Ergebnis erlaubt allerdings insgesamt nur die negative Feststellung, dass es sich bei der phänomenologischen Wissenschaft um eine gänzlich andere Art von Begründungsdisziplin handeln muss; wie diese Begründungsdisziplin und die mit ihr verbundene »externe« Begründungsaufgabe näher beschaffen sind, bleibt nach wie vor völlig unklar. Aus diesem Grund soll als Nächstes geprüft werden, ob die argumentative Funktion von Hegels Phänomenologie durch einen entwicklungsgeschichtlichen Vergleich mit Hegels früheren Einleitungskonzeptionen (1.2) oder möglichen historischen Vorbildern (1.3) weiter aufgeklärt werden kann.

1.2 Hegels vorphänomenologische Einleitungskonzeptionen Bereits in zwei Vorlesungsfragmenten,56 die den von Hegel im WS 1801/2 gehaltenen Vorlesungen Introductio in philosophiam und Logica et metaphysica zugeordnet werden können,57 scheint die Einleitungsaufgabe als die destruktive Aufgabe verstanden zu werden, durch die Vernichtung inadäquater Erkenntnisformen – hier verstanden als endliche, durch Entgegensetzungen charakterisierte Gegebenheitsweisen des Absoluten – die adäquatwiderspruchsfreie und d. h. spekulative Erkenntnis des Absoluten zu ermöglichen. Allerdings ist unklar, ob Hegel bereits zu diesem Zeitpunkt die »Logik« – von ihm bis 1805/6 als Disziplin verstanden, die auch bzw. primär Ein-

56 57

Zum Fragment Diese Vorlesungen vgl. 1.5.1. Vgl. dazu den Editorischen Bericht in GW 5, 652–660. Hegels vorphänomenologische Einleitungskonzeptionen

Hegels vorphänomenologische Einleitungskonzeptionen

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leitungsaufgaben wahrnimmt58 – als exklusive Einleitungsdisziplin begreift, welche auf eine funktional von dieser Disziplin getrennte weitere Disziplin vorbereitet, die mit der Darstellung der eigentlichen Philosophie betraut ist. So scheint die »Logik« im Fragment Die Idee des absoluten Wesens nicht nur als Einleitungsdisziplin verstanden zu werden, sondern zugleich als Disziplin, welche als Wissenschaft der Idee bereits selbst eine metaphysische Disziplin bildet: »Die ausgedehnte Wissenschafft der Idee als solche [d. h. die metaphysische Aufgabe] wird der Idealismus oder die Logik seyn, welche zugleich in sich begreifft, wie die Bestimmtheiten der Form, die die Idee in sich schließt, sich zu absoluten zu constituiren versuchen [d. h. die Einleitungsaufgabe]; d. i. sie wird, wie als Wissenschafft der Idee selbst Metaphysik ist, die falsche Metaphysik der Beschränkten philosophischen Systeme vernichten« (GW 5, 263). Dagegen entsteht im Fragment Dass die Philosophie eher das Bild, dass die »Logik« eine Disziplin bildet, welche auf eine metaphysische Disziplin vorbereitet: nach einer Darstellung der endlichen Denkformen und ihres Nachahmens der Vernunft durch den Versuch der Herstellung von Identität in den ersten beiden Teilen der »Logik« soll im letzten, dritten Teil – »der negativen, oder vernichtenden Seite der Vernunft« – der »Übergang zur eigentlichen Philosophie oder zur Metaphysik gemacht werden« (GW 5, 274). Da einerseits diese Disziplin nur aus spekulativer Perspektive als Einleitung59 qualifiziert wird und auch bereits an metaphysischen Aufgaben beteiligt zu sein scheint,60 andererseits die Rolle der »Metaphysik« in diesem Fragment sehr 58

In grober Vereinfachung kann gesagt werden: Bis etwa 1805/6 bezeichnet Hegel seine Einleitungsdisziplin(en) als »Logik«, seine metaphysischen Disziplin(en) als »Metaphysik«. Um 1805/6 deutet Hegel die »Logik« radikal um: Sie nimmt ab nun die Stellung seiner metaphysischen Grundlegungsdisziplin ein. Die Position der Einleitungsdisziplin wird von verschiedenen neuen Disziplinen bzw. Konzeptionen besetzt: von der »Phänomenologie« (1806–1812), der »Heidelberger Entschlusskonzeption« (1817), den »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« (1827) und der »Philosophiegeschichte« (vgl. 1.4 und 7.1.1). Obwohl dieses Bild im Groben wohl zutrifft, bleibt in Bezug auf die Details – insbesondere bezüglich der frühen »Logik« und des Verhältnisses dieser Konzeptionen zueinander – vieles unklar und entsprechend kontrovers. 59 Vgl.: »Ich glaube, daß von dieser spekulativen Seite allein die Logik als Einleitung in die Philosophie dienen kann« (GW 5, 272); der Rückverweis bezieht sich auf die Aufgaben der Logik und insbesondere auf deren dritte Aufgabe, die negative Seite der Vernunft darzustellen. 60 Die Logik dient als Einleitung in die Philosophie, indem sie als Vorbereitungsdisziplin »die Reflexion vollständig erkennt und aus dem Wege räumt, daß sie der Spekulation keine Hindernisse in den Weg legt« (GW 5, 273). Die Logik ist dabei einerseits angewiesen auf die metaphysischen Vernunfterkenntnisse, in die sie einleitet; so gilt beispielsweise in Bezug auf den zweiten Teil der Logik – die Darstellung des Strebens des Verstandes, die

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

unbestimmt bleibt, fällt es allerdings schwer, das funktionale Verhältnis beider Disziplinen genauer anzugeben.61 Auf diese Weise bleibt unklar, ob die logische Disziplin, die in diesen Fragmenten Einleitungsaufgaben erfüllen soll, zugleich als metaphysische Disziplin verstanden wird62 oder von der metaphysischen Disziplin, in welche sie einleiten soll, funktional und material unterschieden ist.63 Unklar ist demnach, ob Hegel zu dieser Zeit überhaupt schon über eine Einleitungskonzeption im oben definierten Sinne verfügt hat. Aber selbst, wenn man dies annimmt, wird das funktionale Rollenverhältnis der beiden unterschiedenen Disziplinen zueinander – insbesondere auch aufgrund der schlechten Quellenlage – nicht genau bestimmt werden können. Damit kann das Aufklärungspotenzial dieser beiden Fragmente in Bezug auf die Frage nach der argumentativen Funktion der Phänomenologie als eher begrenzt eingestuft werden. Ein zweites potenzielles Aufklärungsmittel aus der Jenaer Zeit stellt das Fragment64 Logik, Metaphysik, Naturphilosophie dar, dessen nicht vollstän-

Vernunft in ihrer Produktion von Identität nachzuahmen –, dass »wir uns zugleich das Urbild, das er [der Verstand] kopirt, den Ausdruck der Vernunft selbst immer vorhalten« (GW 5, 272) müssen; ein solches Vorhalten setzt offenkundig metaphysische Erkenntnis voraus. Anderseits sollen durch die Logik auch bereits metaphysische Vernunfterkenntnisse generiert werden: die Logik soll »zugleich gleichsam in einem Widerschein immer das Bild des Absoluten […] [vorhalten], und damit vertraut [machen]« (GW 5, 273). 61 Vgl. Forster 1998, 180 f. 62 Laut Horstmann interpretiert Hegel die Logik und die Metaphysik erst im Systemfragment von 1804/5 als »verschiedene Teile des Systems […], denen jeweils spezifische Aufgaben zugedacht werden«, während vorher Logik und Metaphysik »als ein einheitlicher Teil des Systems, der zwei Aufgaben wahrzunehmen hat, ausgeführt« sind (Horstmann 1982, X). 63 Für Baum ist die Tatsache, dass Logik und Metaphysik im Fragment Die Idee des absoluten Wesens »beide auf gleicher Ebene den ersten Teil des Ganzen bilden«, während im Fragment Dass die Philosophie »die Logik nur als Einleitung in die Metaphysik genommen wird«, »Indiz eines sachlichen Problems, dem sich Hegel gegenübersieht, dem der methodischen Begründung der Philosophie innerhalb ihrer selbst« (Baum 1980, 123); vgl. ausführlicher Baum 1989, 142–173. Laut Düsing (vgl. Düsing 1976, 93 ff., Düsing 1988, 157– 188), der sich dabei auch auf die Nachschrift von Hegels Logica et metaphysica-Vorlesung von 1801/2 durch Ignaz Troxler beruft (als »Troxler-Nachschrift« ediert von Düsing in Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik, 63–77), unterscheidet Hegel zu dieser Zeit dagegen strikt zwischen einer Einleitungsfunktionen wahrnehmenden logischen Disziplin und einer »Metaphysik« genannten metaphysischen Disziplin. 64 Es handelt sich bei diesem Manuskript mit großer Wahrscheinlichkeit um eine unvollendet gebliebene Darstellung: es fehlen die Philosophie des Organischen (in der Naturphilosophie) und die Philosophie des Geistes. Vgl. GW 7, 356.

Hegels vorphänomenologische Einleitungskonzeptionen

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dig überlieferte Abfassung65 auf den Sommer 1804 bis Anfang 1805 datiert wurde66 und das in den Gesammelten Werken unter dem Titel Jenaer Systementwürfe II herausgegeben wurde. Die hier enthaltene Logik bildet das einzige Beispiel einer ausgearbeiteten vorphänomenologischen Einleitungsdisziplin und geht zeitlich Fragmenten kurz vorher, die eine erste Arbeit an der Phänomenologie belegen und auf den Sommer 1805 datiert wurden.67 Anders als in den Fragmenten von 1801/2 kann hier deutlich eine Einleitungsdisziplin, welche wie vorher als »Logik« bezeichnet wird, von einer metaphysischen Disziplin, welche »Metaphysik« genannt wird, unterschieden werden.68 Die Unterschiede zwischen dieser logischen und der phänomenologischen Einleitungsdisziplin sind erheblich. Die Destruktion des endlichen Denkens erfolgt in dieser »Logik« mittels der Kantischen Urteilstafel entlehnten logischen Kategorien, die inhaltlich nicht ohne weiteres in Zusammenhang gebracht werden können mit den bewusstseinstheoretischen Kategorien der Phänomenologie. Auch wird die kritische Analyse der endlichen Verstandesbestimmungen nicht in der gleichen Weise von den logischen Kategorien selbst geleistet wie die kritische Darstellung in der Phänomenologie durch das sich selbst prüfende, sich selbst erfahrende Bewusstsein. Vielmehr scheint die kritische Destruktionsaufgabe auch hier angewiesen zu sein auf und involviert zu sein in den metaphysischen Theorieteil, in den sie einleiten soll.69 Durch diese Abhängigkeit der kritischen Mittel von Kantischen Annahmen einerseits und von der metaphysischen Theorie, in welche sie einleiten soll, andererseits ist noch viel weniger als im Falle der Phänomenologie klar, wie 65

Es fehlen insbesondere die ersten drei Bogen (= bei je 8 Seiten der überlieferten Bogen vermutlich 24 Seiten); vgl. GW 7, 355 f. 66 Vgl. GW 7, 360. 67 Vgl. GW 9, 464–6. Vgl. zur Datierung der Niederschrift der Phänomenologie 8.1, 8.2 und 7.1.1. 68 Diese Unterscheidung ist zunächst schlicht dadurch gegeben, dass in diesem Fragment die logische und die metaphysische Disziplin in zwei verschiedenen Textpartien ausgeführt sind. Bei den Einleitungskonzeptionen der Fragmente von 1801/2 kann genau dies nicht entschieden werden, da sie einerseits nicht in ausarbeiteten Fassungen vorliegen und andererseits eine funktionale Trennung auch nicht eindeutig aus den spärlichen Beschreibungen dieser Konzeptionen hervorgeht. Laut Horstmann und Forster ist die Logik von 1804/5 funktional unabhängiger von der metaphysischen Disziplin, in die sie einleiten soll, als die Logik von 1801/2; vgl. Horstmann 1982, X, Forster 1989, 148 ff. und Forster 1998, 275. Düsing ist dagegen der Meinung, die Logik von 1804/5 habe einen stärker metaphysischen Charakter als die frühe Logik von 1801: während die frühe Logik vor allem eine Einleitungsfunktion gehabt habe, versuche Hegel in der Logik von 1804/5 den neuen Ansatz der Logik als Grundlegung der Metaphysik mit dem frühen Gedanken der Logik als Einleitung in die Metaphysik zu verbinden (vgl. Düsing 1976, 150–156). 69 Vgl. Düsing 1976, 150–156, Schäfer 2001, 91–157, Jaeschke 2003, 168.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

von ihr eine systemexterne Begründungsleistung erbracht werden kann, die argumentativ nicht angewiesen wäre auf diejenige Theorie, in die eingeleitet werden soll. Aufgrund des Fehlens einer expliziten und genaueren Bestimmung der Einleitungsaufgabe im Fragment von 1804/5, welche möglicherweise in der nichtüberlieferten Anfangspartie des Logikabschnittes erfolgte,70 kann allerdings nicht entschieden werden, ob dies überhaupt als Einwand gegen diese Einleitungskonzeption gewertet werden kann oder nicht gar den Grund dargestellt hat, der Hegel dazu bewog, die logische zugunsten der phänomenologischen Einleitungskonzeption aufzugeben. Insofern wird auch die Logik von 1804/5 nicht zur Aufklärung der Frage beitragen können, wie die phänomenologische Einleitungsdisziplin als begründungsfunktional selbständige Disziplin verständlich gemacht werden kann.71 Schließlich sei noch ein weiterer Grund genannt, der es erschwert, die Entstehung der Phänomenologie aus ihrer Vorgeschichte aufzuklären. Die zwischen 1801/2 und 1804/5 entstandenen Fragmente zur Logik und Metaphysik scheinen mit einem Buchprojekt in Zusammenhang gebracht werden zu können, welches Hegel seit 1802 verfolgte und das im Jahre 1804 weit fortgeschritten war. So berichtet Hegel Goethe in einem Brief vom 29.9.1804 von einer »Arbeit, die ich diesen Winter für meine Vorlesungen

70

Eine solche Bestimmung dürfte in den fehlenden ersten drei Bogen erfolgt sein; die Herausgeber des 7. Bandes der GW nehmen in ihrer Textgliederung an dieser Stelle eine »Einleitung« an; vgl. GW 7, 359. 71 Zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass aus der vorphänomenologischen Zeit auch einzelne Fragmente überliefert sind, welche teilweise mit der Einleitungsproblematik in Verbindung gebracht, aber keiner bestimmten Einleitungskonzeption zugeordnet werden können; vgl. insgesamt Hegel’s Leben, 178 ff. Als wichtigster Text kann das in GW 7, 343–347 abgedruckte Fragment Zwei Anmerkungen zum System genannt werden, das vermutlich zwischen 1803 und 1804/5 entstanden ist, aber nicht eindeutig anderen Textgruppen zuzuordnen ist; vgl. GW 7, 364–366 (Editorischer Bericht) und Horstmann 1982, XXI–XXIII. In diesem Fragment klingen bereits verschiedene Themen der Phänomenologie an: die Aufgabe der Befreiung der Philosophie von ihrem scheinhaften Charakter (vgl. GW 7, 344), der Gegensatz von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand (vgl. GW 7, 345–346) und in einer Randbemerkung Überlegungen zum Begriff der Erfahrung (GW 7, 346–347). Überlegungen zum Erfahrungsbegriff finden sich allerdings auch in der Logik von 1804/5 (vgl. z. B. GW 7, 50–51); und auch ist in diesem Fragment nicht die Rede von der Erfahrung des Bewusstseins, obwohl Rosenkranz berichtet, dass Hegel bereits 1804 »den Begriff der Erfahrung, welche das Bewußtsein von sich selbst macht« (Hegel’s Leben, 202) aufgestellt hatte. In welchem funktionalen Kontext diese Überlegungen entwickelt werden, ist aufgrund ihres fragmentarischen Charakters nicht leicht zu entscheiden. Es scheint aber klar, dass diese Überlegungen insgesamt eher das Problem des methodischen Anfangs eigentlicher philosophischer Begründung – ob der »Logik« oder der »Metaphysik«, bleibt in diesem Fragment unbestimmt – betreffen als das Problem der Einleitung in die Philosophie.

Hegels vorphänomenologische Einleitungskonzeptionen

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zu vollenden hoffe, eine rein wissenschaftliche Bearbeitung der Philosophie« (Briefe I, 85).72 Mit dem Fragment Logik, Metaphysik, Naturphilosophie liegt ein ausgearbeitetes Manuskript in Reinschrift vor, das sehr wahrscheinlich mit diesem Buchprojekt zusammenhängt und wohl dessen vorläufiges Ende darstellt.73 Trotz des ausgearbeiteten Zustandes hat Hegel die Arbeit an diesem Manuskript nicht fortgesetzt und seine Publikationspläne zunächst aufgegeben. Die Gründe, welche Hegel zum Abbruch seines Buchprojektes bewogen haben, bleiben ungewiss; weder sind dazu Äußerungen Hegels überliefert, noch lassen sich zwingende systematische Gründe für einen solchen Abbruch ausmachen.74 Es finden sich lediglich einige Hinweise, welche den Abbruch bestätigen.75 So kündigt Hegel für das Wintersemester 1805/6 zum ersten Mal seit Beginn seiner Jenaer Dozententätigkeit keine Vorlesung über Logik und Metaphysik an, sondern Vorlesungen über Realphilosophie sowie – mit der Phänomenologie thematisch durchaus verwandt76 – über »Historiam philosophiae«.77 Im 72

Vgl. die Hinweise in Hegels Vorlesungsankündigungen auf eine bald bevorstehende Buchpublikation für das Sommersemester 1802, 1803 und 1805 sowie für das Wintersemester 1802/3 in Dokumente, 53–54. Da dort, abgesehen vom Sommersemester 1803, immer von »Logik und Metaphysik« die Rede ist, scheint man annehmen zu dürfen, dass es sich um dasselbe bzw. um sehr verwandte Buchprojekte gehandelt hat. Vgl. auch Briefe I, 96, 99 und IV/1, 85. Vgl. zu Hegels Buchplänen in der Jenaer Zeit insgesamt Dokumente, 85 ff. und den Editorischen Bericht GW 9, 456 ff. und GW 7, 361–362. 73 Laut Horstmann kann aufgrund des Reinschriftcharakters »vermutet werden, daß diese Arbeit von Hegel zunächst als Druckvorlage für eine Veröffentlichung seiner damaligen Systemkonzeption vorgesehen war« (Horstmann 1982, XIII). Vgl. auch GW 7, 361–362. 74 Klar ist, dass der Abbruch und der Beginn der Ausarbeitung der Phänomenologie mit Hegels sich seit 1803 formierenden Geistkonzeption in Zusammenhang stehen. Diese Geistkonzeption entwickelt Hegel jedoch zunächst im Rahmen seiner realphilosophischen Disziplin der Philosophie des Geistes, zu der er ab Wintersemester 1803/4 auch jedes Semester bis zum Ende der Jenaer Zeit eine Vorlesung anbietet; vgl. Dokumente, 54–56. Die Gründe, welche Hegel dann aber dazu bewogen haben, aufgrund dieser Geistkonzeption auch seine Einleitungsdisziplin und seine metaphysische Grundlegungstheorie grundsätzlich neu zu konzipieren, sind aufgrund der in GW 5, 363–377 und GW 6 abgedruckten Fragmente, welche diesen frühen Vorlesungen zugeordnet werden können und dementsprechend ausschließlich von realphilosophischen Zusammenhängen handeln, nicht unmittelbar aufzuklären. Vgl. dazu Siep 2000, 59 ff. Vgl. auch Horstmann 1980 und Jaeschke 2003, 157 ff. 75 Die folgenden Ausführungen basieren weitgehend auf dem Editorischen Bericht zur Entstehungsgeschichte der Phänomenologie in GW 9, 456–464 und Bonsiepen 1988, XVII– XXIII. 76 Vgl. 7.1.1 und 8.2. 77 Die Zitate aus Vorlesungsankündigungen sind dem Abdruck dieser Ankündigungen in Dokumente, 53–56 entnommen.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

Sommersemester 1806 bietet Hegel dann eine Vorlesung an, die nur noch den Namen »Philosophiam speculativam s[ive] logicam« trägt. Dies scheint die zu dieser Zeit stattfindende Kontamination der »Logik und Metaphysik« zu einer einzigen, nun »Logik« genannten metaphysischen Disziplin zu bestätigen.78 Gleichzeitig kündigt Hegel zu dieser Vorlesung ein Buch an, das unter dem Titel »System der Wissenschaft« bald erscheinen solle. Die Tatsache, dass in der Ankündigung nicht von einem ersten Teil des Systems oder einem der Logik vorangehenden Werke die Rede ist, suggeriert, dass Hegel zu dieser Zeit noch zuversichtlich war, auch den metaphysischen, nun »Logik« genannten Teil seines »Systems« bald veröffentlichen zu können.79 Zugleich ist belegt, dass Hegel in dieser Vorlesung vor allem über die Thematik der Phänomenologie las. So teilt Andreas Gabler in seinem Erinnerungsbericht zur späten Jenaer Zeit80 über das Sommersemester 1806 mit, dass, während Hegel in der Logik-Vorlesung die Logik selbst »nur im Grundrisse und im Anschlusse an die Phänomenologie gab«, diese dagegen in der Vorlesung »bereits in ihrer vollständig entwickelten Gestalt auftrat« (Dokumente, 71). Auch ist belegt, dass Teile der Phänomenologie »auch damals schon [Sommer 1806] in Bamberg gedruckt wurde[n]« (ebd.): Hegel selbst berichtet in einem Brief vom 6.8.1806 an Niethammer von einem nicht weiter namentlich genannten Werk, dessen »Druck […] im Februar angefangen worden« (Briefe I, 113) sei. In Bezug auf dieses Werk teilt Gabler mit, dass Hegel »die Veranstaltung getroffen [hatte], daß seine Zuhörer die einzelnen Bogen, wie sie erschienen, in der akademischen Buchhandlung in Jena erhalten konnten« (Dokumente, 71). Während noch in dem Brief an Niethammer vom 6. August auf unbestimmte Weise von einem vor Ostern fertig zu stellenden »Teil« (Briefe I, 113) die Rede ist, spricht Hegel selbst wohl zum ersten Mal namentlich von der Phänomenologie in der Vorlesungsankündigung für das Wintersemester 1806/7.81 Erst hier ist die Rede von einer »Phaenomenologia mentis«, welche der spekulativen Philosophie vorangehe, und von einem ersten Teil des Systems der Wissenschaft, welcher bald erscheinen werde.82 Auf das tatsächlich erschienene Werk bezieht Hegel sich dann schließlich in der 78 79

Vgl. die (von Hegel selbst so nicht bezeichnete) Systemskizze GW 8, 286. Vgl. dazu und zum Folgenden die Darstellung der Umstände des Druckverlaufs in

8.1. 80

Abgedruckt in Dokumente, 65–73. Vgl. auch das ursprüngliche Zwischentitelblatt, auf dem es heißt: »Erster Theil. Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns« (GW 9, 444). Diese Bezeichnung bezieht sich noch auf die ursprüngliche Fassung der Phänomenologie, die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns; vgl. dazu 8.1. 82 Vgl.: »Hegel […] b) Logicam et Metaphysicam s. philosophiam spekulativam prae81

Historische Vorbilder

Historische Vorbilder

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Ankündigung für das nächste Semester. Insgesamt scheinen die angeführten Indizien also zu bestätigen, dass die Phänomenologie in relativ kurzer Zeit konzipiert worden ist und viele der mit ihrer Veröffentlichung zusammenhängenden Einzelheiten bis zum letzten Moment nicht feststanden. Die Entstehung der Phänomenologie wird daher nur in einem sehr eingeschränkten Sinne aus ihrer Vorgeschichte aufgeklärt werden können.

1.3 Historische Vorbilder Es können in der Philosophiegeschichte unproblematisch Theorieentwürfe identifiziert werden, welche der Phänomenologie auf den ersten Blick ähnlich zu sein scheinen, so dass auch sie als potenzielle Aufklärungsmittel der Funktion der Phänomenologie in Betracht zu kommen haben. Als Beispiele seien Lamberts und Reinholds Versionen einer phänomenologischen Disziplin als mögliche methodische Vorbilder und Schellings Konzeption der Geschichte des Selbstbewusstseins als mögliches inhaltliches Vorbild für Hegels phänomenologische Konzeption genannt.83 Indes wird man die spezifische Begründungsfunktion der Phänomenologie durch einen Vergleich mit historischen Vorbildern nicht aufklären können. Denn man wird nicht eine Disziplin zu identifizieren imstande sein, welche in der gleichen Weise wie die Phänomenologie exklusiv als eine propädeutische Begründungsdisziplin verstanden wurde, durch die eine metaphysische Theorie mit von ihr unabhängigen Argumentationsmitteln extern gerechtfertigt werden soll. So kann leicht festgestellt werden, dass Schelling mit seiner Konzeption von Bewusstseinsgeschichte im System des transzendentalen Idealismus keine propädeutische Rechtfertigungsfunktion verbindet.84 Auch von dieser Seite aus scheint somit Hegels These aus der Selbstanzeige, dass es missa Phaenomenologia mentis ex libri sui: System der Wissenschaft, proxime proditura parte prima […] tradet« (Dokumente, 55–56). 83 Johann Heinrich Lamberts Neues Organon von 1764, Karl Leonhard Reinholds Elemente der Phänomenologie von 1802 und Schellings System des transzendentalen Idealismus von 1800 (in: SW I/3, 327–634). 84 Vgl. das Urteil Klaus Düsings: »die Phänomenologie […] ist […] was jene Theorien [Fichtes und Schellings Theorien der Bewusstseinsgeschichte] nicht sind, notwendige und systematische Einleitung in die spekulative Logik« (Düsing 1993, 119). Wie Jürgen Stolzenberg zurecht bemerkt, stellt Hegels Phänomenologie im Verhältnis zu dem, was Schellings Geschichte des Selbstbewusstseins thematisiert, insofern die »Vorgeschichte zu diesem Prozeß« (Stolzenberg 2009, 39) dar. Auch mir scheint, dass die Phänomenologie für Hegel eine Vorgeschichte ist, nämlich: die Vorgeschichte zu seiner Metaphysik, der Logik, die er ebenfalls als genealogische Entwicklungsgeschichte konzipiert (vgl. dazu 9.3); Fichtes und Schellings Konzeptionen von Bewusstseinsgeschichte kommen also so ver-

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

sich bei der Phänomenologie um eine »neue, interessante« Wissenschaft handelt, bestätigt zu werden. Dennoch kann durch einen kontrastierenden Vergleich der Phänomenologie mit alternativen Formen propädeutischer Begründung, die im Gegensatz zur Phänomenologie nicht durch ein so hohes Ausmaß an argumentativer Autonomie ausgezeichnet sind, die argumentative Funktion der Phänomenologie besser verständlich gemacht werden. Aus diesem Grund wird an späterer Stelle in dieser Arbeit kurz auf die propädeutischen Konzeptionen von Lambert und Reinhold eingegangen.85 Schellings Einfluss auf Hegel muss aber weitgehend ausgeblendet bleiben. Schelling hat zweifelsohne einen entscheidenden Einfluss auf die Formation von Hegels verschiedenen frühen Systemkonzeptionen ausgeübt;86 Hegels Einleitungskonzeptionen scheinen aber (qua Einleitungskonzeptionen) weitgehend ohne direkten Einfluss Schellings zustandegekommen zu sein. Man scheint in dieser Beziehung generell sagen können, dass die verschiedenen Begründungsverfahren, welche Schelling bis zu diesem Zeitpunkt erprobt hatte – genannt seien grundsatzphilosophische Verfahren, Rekurs auf Formen von intellektueller Anschauung und genetische Begründungsverfahren –, begründungsfunktional nicht angewiesen waren auf propädeutische Begründungsformen, welche die Anwendung dieser Begründungsverfahren durch Vorüberlegungen erst methodisch zu ermöglichen gedacht waren. Hegel scheint die endlich-reflexive und d. h. für ihn: widersprüchliche Gegebenheit der Erkenntnis dagegen von Anfang an als Problem verstanden zu haben, das den Zugang zu philosophischen Begründungsverfahren entweder subjektiv behindert (frühe Einleitungskonzeptionen) oder prinzipiell in Frage stellt (Logik von 1804/5 und Phänomenologie) und daher der vorausgehenden Destruktion durch propädeutische Begründungsverfahren bedarf. Diese These sei hier kurz illustriert anhand von Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803.87 Diese Schrift basiert auf Vorlesungen, die Schelling in Jena im Sommersemester 1802 ein Semester nach Hegels im WS 1801/2 abgehaltenen Vorlesungen zur »logica et metaphysica« und »introductio in philosophiam« abhielt, und behandelt ebenfalls die Thematik der Einleitung in die Philosophie.88 Schelling stellt hier die These auf, dass Philosophie nicht gelernt werden kann: »Kann Philosostanden an erster Stelle nicht als Vorbilder für die Phänomenologie, sondern für die Logik in Betracht. 85 Vgl. 7.2.2. 86 Stellvertretend seien dazu die Beiträge in Henrich/Düsing 1980 genannt. 87 Abgedruckt in SW I/5, 207–352. 88 Vgl. SW I/5, 212 ff. und 255 f. Schelling hat die Vorlesungen zugleich als eine Ein-

Historische Vorbilder

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phie erlernt, kann sie überhaupt durch Uebung, durch Fleiß erworben werden; oder ist sie ein angeborenes Vermögen, ein freies Geschenk und durch Schickung verliehen? Daß sie als solche nicht gelernt werden könne, ist in dem Vorhergehenden schon enthalten« (SW I/5, 266). Während die Kenntnis ihrer besonderen Formen gelernt werden könne, handele es sich bei der Philosophie selbst um die »Ausbildung des nicht zu erwerbenden Vermögens, das Absolute zu fassen« (ebd.). Die Aufgabe der Einleitung in die Philosophie versteht Schelling – übereinstimmend mit Hegels Position in Diesen Vorlesungen89, aber nicht mit seiner Position in Dass die Philosophie – dementsprechend als eine, der keine eigenständige argumentative Bedeutung zukommt. Vielmehr kann und soll beim Einleiten in das akademische Studium (der Philosophie) diejenige Erkenntnis, in die eingeleitet werden soll, bewusst vorausgesetzt werden: »Lassen Sie mich alles, was doch bloß Einleitung, Vorbereitung seyn könnte, abkürzen und gleich unmittelbar zu dem Einen gelangen, wovon unsere ganze folgende Untersuchung abhängig [!] seyn wird, und ohne das wir keinen Schritt zur Auflösung unserer Aufgabe thun können. Es ist die Idee des an sich selbst unbedingten Wissens, welches schlechthin nur Eines und in dem auch alles Wissen nur Eines ist, des[…] Urwissens« (SW I/5, 215).90 Klarer noch drückt sich Schelling in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie91 von 1802 aus: »Daß sie [die intellektuelle oder Vernunftanschauung] nichts sey, das gelehrt werden könne, ist klar; alle Versuche sie zu lehren sind also in der wissenschaftlichen Philosophie völlig unnütz, und Anleitungen zu ihr, da sie nothwendig einen Eingang vor der Philosophie, vorläufige Expositionen und dergleichen bilden, können in der strengen Wissenschaft nicht gesucht werden. Zu begreifen ist auch nicht, warum die Philosophie eben zu besonderer Rücksicht auf das Unvermögen leitung in die Wissenschaft generell konzipiert, wenn ihm auch die Philosophie als die eigentliche Grundlage aller Wissenschaft gilt (vgl. SW I/5, 255 f.). 89 Vgl. dazu 1.5.1. 90 Schellings ablehnende Haltung zur Einleitung in die Philosophie hängt näher mit seiner (frühen) identitätsphilosophischen Position in dieser Schrift zusammen. Dasjenige, was in absoluter Identität vorliegt, gilt ihm als nicht beweisbar: »Wir können diese wesentliche Einheit [die Identität des wahren Realen und Idealen] selbst in der Philosophie nicht eigentlich beweisen, da sie vielmehr der Eingang zu aller Wissenschaftlichkeit ist; es läßt sich nur eben dieß beweisen, daß ohne sie überhaupt keine Wissenschaft sey« (SW I/5, 215). Zugänglich ist diese absolute Einheit vielmehr nur als »Urwissen« (SW I/5, 216 ff., 255 f.) bzw. über die »intellektuelle oder Vernunftanschauung« (vgl. SW I/5, 255 f.). Für diese gilt: »Wer sie [die intellektuelle Anschauung] nicht hat, versteht auch nicht, was von ihr gesagt wird; sie kann also überhaupt nicht gegeben werden« (SW I/5, 256). Sie wird also in einer Einleitung nicht gelehrt oder argumentativ vorbereitet werden können. 91 Vgl. SW I/4, 333–510.

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

verpflichtet sey, es ziemt sich vielmehr, den Zugang zu ihr scharf abzuschneiden und nach allen Seiten hin von dem gemeinen Wissen so zu isoliren, daß kein Weg oder Fußsteig von ihm aus zu ihr führen könne. Hier fängt die Philosophie an, und wer nicht schon da ist oder vor diesem Punkt sich scheut, der bleibe auch entfernt oder fliehe zurück« (SW I/4, 361–362). Es dürfte klar sein, dass durch die Einbeziehung einer solchen Position, die durch eine völlige Ablehnung jeglicher argumentativen Funktion von Einleitungsüberlegungen gekennzeichnet ist,92 wenig für das Verständnis der argumentativen Funktion von Hegels Einleitungskonzeptionen gewonnen werden kann.93

1.4 Hegels nachphänomenologische Einleitungskonzeptionen und die spätere Stellung der Phänomenologie

Hegel hat nach der Phänomenologie weitere Einleitungs- bzw. Hinführungskonzeptionen aufgestellt. Genannt seien der sogenannte »Entschluß, rein denken zu wollen« (GW 13, 35; § 36, Anm.) in der Heidelberger Enzyklopädie und die »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« in der Berliner Enzyklopädie. Da allerdings keine direkten konzeptuellen Kontinuitäten zwischen diesen späteren Einleitungskonzeptionen und der Phänomenologie zu bestehen scheinen und mit ihnen keine selbständige Rechtfertigungsfunktion mehr verbunden wurde, scheint auch das Aufklärungspotenzial dieser späteren Einleitungsüberlegungen für die Funktion der Phänomenologie von vornherein als begrenzt eingestuft werden zu müssen. Dies gilt auch für Hegels spätere Bemerkungen zur Stellung der Phänomenologie, welche durch diese neuen Konzeptionen beeinflusst sind. In der Sekundärliteratur werden Hegels spätere Bemerkungen allerdings des Öfteren in Anspruch genommen, um die Funktion der Phänomenologie verständlich zu machen. Daher soll in diesem Abschnitt isoliert auf diese Bemerkungen eingegangen und die These von ihrer geringen Relevanz für das Verständnis der argumentativen Funktion der Phänomenologie etwas 92

Ich folge in dieser Einschätzung weitgehend Forsters Ausführungen in Forster 1998, 108–9, denen ich auch die Hinweise auf die meisten der angeführten Schelling-Stellen verdanke. Diese Sichtweise scheint im Übrigen von Hegel selbst bestätigt zu werden; vgl. die oben am Ende von 1.1.2 thematisierte Kritik an propädeutikfeindlichen Auffassungen GW 11, 38–40, die neben Fichte vor allem auf Schelling (so ist dort die Rede von »Postulat« und »intellectuelle[r] Anschauung«) bezogen zu sein scheint. 93 Auch in der unveröffentlichten Schrift Propädeutik der Philosophie (SW I/6, 71–130) von 1804 lehnt Schelling eine eigenständige argumentative Funktion propädeutischer Überlegungen ab; vgl. insbesondere SW I/6, 73–74.

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ausführlicher begründet werden. Zu diesem Zweck wird es darüber hinaus erforderlich sein, die jeweils relevante spätere Einleitungskonzeption kurz abzuhandeln. Es werden nacheinander Hegels Einleitungsverständnis bis 1812 (a), die Heidelberger Entschlusskonzeption von 1817 (b), das Einleitungsverständnis der späten Berliner Zeit (c) sowie Hegels nachphänomenologische Einstellung speziell zur ursprünglichen Bezeichnung der Phänomenologie als erstem Teil des Systems (d) durchgegangen, um schließlich ein Fazit zu formulieren (e). (a) Von einer wirklich alternativen Einleitungskonzeption, die möglicherweise mit einer Infragestellung der phänomenologischen Konzeption einhergeht, scheint erst ab 1817 die Rede sein zu können.94 In der Logik hält Hegel, wie bereits dargelegt, noch vollständig an der systemexternen Geltung der Phänomenologie fest und beruft sich explizit auf sie als Rechtfertigung seiner »Logik« genannten metaphysischen Grundlegungsdisziplin. Es sind denn auch keine wesentlichen Unterschiede im Verständnis der argumentativen Funktion der Phänomenologie zwischen Einleitung und Vorrede zur Phänomenologie einerseits und der Einleitung zur Logik von 1812 andererseits feststellbar: In allen diesen Texten gilt die Phänomenologie als eine vorbereitende Wissenschaft, durch welche eine eigentliche Grundlegungsdisziplin als allein gültig ausgewiesen werden soll, und sowohl in der Vorrede zur Phänomenologie als auch in der Einleitung zur Logik wird diese eigentliche Grundlegungsdisziplin als »Logik« bezeichnet.95 Auch Hegels Logikkonzeption scheint sich in diesen Jahren nicht grundsätzlich verändert zu haben: Aus Rosenkranz’ Bericht ist überliefert, dass Hegel in seinem Kolleg über Logik und Metaphysik aus dem Sommersemester 1806, in dem er vor allem über die Phänomenologie las, »die Phänomenologie in der Weise mit der Logik [verknüpfte], daß er jene als Einleitung zu dieser nahm und aus dem Begriff des absoluten Wissens unmittelbar zu dem des Seins überging« (Hegel’s Leben, 214). Dies stimmt überein mit den Ausführungen in Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?, in denen Hegel ausführt, dass das Resultat der Phänomenologie – der »Begriff des reinen Wissens« – der »Grund [ist], aus welchem das Seyn [!] herkommt, um den Anfang der absoluten Wissenschaft auszumachen« (GW 11, 33).96 94

Vgl. Fulda 1975, 105. Vgl.: Die »Phänomenologie des Geistes« ist die »Deduction desselben«, des »Begriff[s] der reinen Wissenschaft« (GW 11, 20); »[d]ie Logik ist die reine Wissenschaft« (GW 11, 33). Vgl. in der Vorrede GW 9, 29–30. 96 Auch bezüglich der Nürnberger Logikentwürfe von 1808/9 kann leicht festgestellt werden, dass sie sich, insbesondere in Bezug auf die objektive Logik, nicht stark von der späteren Logik unterscheiden; vgl. das Urteil von Jaeschke in Jaeschke 2003, 204. 95

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Bestätigt wird die These, dass Hegel bis 1812 ungebrochen an der Geltung der Phänomenologie festgehalten hat, auch durch die Tatsache, dass Hegel während der Nürnberger Zeit an einer didaktischen Version seiner Phänomenologie gearbeitet hat: die »Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie«.97 Die Bestimmung der Einleitungsfunktion der Geisteslehre, die Hegel hier vornimmt, weicht trotz des Ausgangs vom »Geist« nicht wesentlich von den Funktionsbestimmungen der Erfahrungswissenschaft in der Phänomenologie ab.98 Auch hier ist die Rede von Auftrittsformen des Geistes, welche der eigentlichen Wissenschaft vorausgehen, und auch hier bilden diese eine eigenständige Wissenschaft: »Eine Einleitung in die Philosophie hat vornämlich die verschiedenen Beschaffenheiten und Thätigkeiten des Geistes zu betrachten, durch welche er hindurch geht, um zur Wissenschafft zu gelangen. Indem diese geistigen Beschaffenheiten und Thätigkeiten, in einem nothwendigen Zusammenhange stehen, macht diese Selbsterkenntniß gleichfalls eine Wissenschafft aus« (GW 10/1, 8; Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie, § 1). Diese Nürnberger Einleitungskonzeption – oder besser: Einführungskonzeption – muss hier nicht weiter thematisiert werden, da Hegel zum einen die Arbeit an ihr bereits frühzeitig abgebrochen hat und sie zum anderen aufgrund ihres didaktischen Charakters in der konkreten Ausführung erheblich von der Phänomenologie abweicht.99 Mit letzterem ist nicht gemeint, dass Hegel nun anstelle der wissenschaftlichen Rechtfertigungskonzeption der Phänomenologie eine didaktische Rechtfertigungskonzeption entwickelte, sondern nur der Umstand berücksichtigt, dass Hegel die Phänomenologie hier gar nicht in einem Rechtfertigungskontext, sondern in seiner Nürnberger Funktion als »Professor der philosophischen Vorbereitungswissenschaften«100 für den Gymnasialunterricht der Mittelstufe vortrug.101 Da kein eigenständiger Begründungsanspruch mit dieser Konzeption verbunden wird, ist auch sie für das Verständnis der argumentativen Funktion der Phänomenologie nicht unmittelbar relevant. (b) Zwischen 1812 und 1817 scheint Hegel sich dann aber zumindest teilweise von der Möglichkeit systemexterner Rechtfertigung distanziert zu haben. So berichtet er 1817 in der Anmerkung zu § 36 der Heidelberger Enzyklopädie – fünf Jahre nach den angeführten Stellen aus der Logik, wo Hegel sich auf die Phänomenologie noch als »Rechtfertigung« berief –, dass 97 98 99 100 101

Vgl. GW 10/1, 5–60 und 99–136. Vgl. das Urteil von Udo Rameil in Rameil 1990, 105 f. Vgl. dazu und zum Folgenden Jaeschke 2003, 208–214 und Rameil 1990. Vgl. Briefe I, 331, 419. Vgl. Jaeschke 2003, 210.

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er »früher die Phänomenologie des Geistes« so behandelt habe, »daß sie der reinen Wissenschaft vorausgehen solle« (GW 13, 34; § 36, Anm.). Es sei aber »zugleich« zu bedenken, so scheint Hegel die frühere systemexterne Stellung der Phänomenologie nun zurückzunehmen oder doch zu relativieren, dass »das Bewußtseyn, und dessen Geschichte, wie jede andere philosophische Wissenschaft, nicht ein absoluter Anfang, sondern ein Glied in dem Kreise der Philosophie« (ebd.) ist.102 Unklar ist hier, ob Hegel eine systeminterne Neuverortung seiner früheren phänomenologischen Einleitungsdisziplin vornimmt, oder ob er bloß meint, dass die Phänomenologie nicht nur als systemexterne Einleitungsdisziplin, sondern unabhängig davon in einer zweiten Rolle auch als »Glied« im System auftritt, welche ihr Auftreten als systemexterne Disziplin unbehelligt lässt.103 Mit der Thematisierung des Bewusstseins als Systemglied könnte (in beiden Interpretationsfällen) ihre Thematisierung in dem Teilabschnitt B. Das Bewusstseyn in der enzyklopädischen Philosophie des Geistes gemeint sein.104 Für die These der Auflösung der Phänomenologie in eine systeminterne Bewusstseinsgeschichte spricht zunächst die Tatsache, dass Hegel in der Heidelberger anders als in der Berliner Enzyklopädie die gesamte Geschichte des Bewusstseins und nicht nur dessen spätere Gestalten als »Glied« im System bestimmt.105 Gestützt wird diese These weiter durch den Umstand, dass in der ersten Auflage der Enzyklopädie die Bezeichnung »Phänomenologie« in der Titelüberschrift des realphilosophischen Bewusstseinsabschnitts fehlt.106 Aufgrund dieser Indizien scheint man annehmen zu dürfen, Hegel wolle hier geltend machen, dass das Bewusstsein als »Glied in dem Kreise der Philosophie« (GW 13, 34; § 36, Anm.) gerade nicht mehr eine »Phänomenologie des Geistes« darstellt, weil diese als intrinsisch systemexterne Disziplin überhaupt nicht als Teil der Philosophie – nicht als Glied im Kreis der Philosophie – konzeptualisiert werden könne.107 102

Ähnlich interpretiert Hösle die Rede von »früher« in Hösle 2008, 628. Letztere Option scheint Forster zu vertreten; vgl. Forster 1998, 554, Fußnote 20. 104 Vgl. GW 13, 194 ff. 105 Vgl. dazu und zum Folgenden Fulda 22 ff. und 105 ff. Fulda differenziert allerdings nicht streng zwischen den Bemerkungen in der Heidelberger und der Berliner Enzyklopädie. 106 In der Heidelberger Enzyklopädie trägt dieser Abschnitt den Titel »B. Das Bewusstseyn (GW 13, 194), in der Berliner Enzyklopädie dagegen »B. Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewusstseyn« (GW 20, 421); vgl. allerdings auch schon GW 13, 183; § 307. 107 Bezüglich des realphilosophischen Teilabschnitts B. Das Bewusstseyn in Hegels enzyklopädischer Darstellung seines Systems, der aufgrund seines in der zweiten und dritten Auflage hinzugefügten Titels oft (auflagenübergreifend) als enzyklopädische Phänomenologie bezeichnet wird, sei hervorgehoben, dass Hegel mit diesem Abschnitt keinerlei Einleitungsfunktionen mehr verbindet, sondern, wie es die disziplinäre Stellung dieses 103

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Die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie

Ferner scheint relativ klar, dass Hegel sich in der Heidelberger Enzyklopädie zumindest teilweise von der Notwendigkeit vorbereitender Einleitungsverfahren distanziert. Denn Hegel wendet sich nicht nur von einer (einseitig) als vorausgehende Wissenschaft verstandenen »Phänomenologie« ab, sondern nennt auch den »Skepticismus« in seiner Funktion als »gleichfalls [!] […] eine solche [d. h. wie die Phänomenologie vorausgehende] Einleitung« (GW 13, 34; § 36, Anm.) etwas »überflüssiges« (ebd.). In Bezug auf diesen Skeptizismus bringt Hegel zudem vor, dass die mit ihm verbundene Einleitungsaufgabe bereits vollständig innerhalb des Systems selbst abgeleistet worden sei: dieser Skeptizismus sei deshalb etwas »überflüssiges […], weil das dialektische selbst ein wesentliches Moment der positiven Wissenschaft ist« (ebd.).108 109 Abschnitts bereits nahelegt, das Bewusstsein hier als argumentativen Bestandteil seines Systems thematisiert (vgl. Bonsiepen 1988, LIII). Auch dieser Teilabschnitt wird also nicht zur Aufklärung der argumentativen Funktion von Hegels Phänomenologie herangezogen werden können. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen der enzyklopädischen Phänomenologie und der Phänomenologie von 1807 in Bezug auf deren ersten Abschnitte bestehen. Allerdings werden der enzyklopädischen Thematisierung des Bewusstseins in voller Absicht logische Bestimmungen zugrundegelegt, so dass auch in struktureller Hinsicht erhebliche Unterschiede zur Phänomenologie bestehen. Zur Entstehung der enzyklopädischen Phänomenologie vgl. Rameil 1998. 108 Mit der positiven Wissenschaft ist die Logik gemeint. Alles Logische soll für Hegel durch drei Seiten bzw. Momente charakterisierbar sein: »die […] verständige, […] die dialektische oder negativvernünftige, […] die speculative oder positivvernünftige« (GW 13, 24; § 13). Da das Dialektische »für sich abgesondert genommen […] den Skepticismus aus[macht]« (GW 13, 24; § 15) und das spekulative Moment die beiden ersten Momente integrieren soll (vgl. § 16), ist Hegel hier der Meinung, auf eine eigenständige Darstellung der »Dialektik« bzw. des »Skeptizismus«, d. h. auf eine der Logik vorausgehende Betrachtung, verzichten zu können. 109 Fulda ist der Meinung (vgl. Fulda 1975, 25 ff.), dass es sich in der Anmerkung zu § 36 bei »Phänomenologie« und »Skeptizismus« um unterschiedliche Konzeptionen handelt: beide würden zwar parallel behandelt, aber es werde nur der Skeptizismus für überflüssig erklärt, während Hegel an der Phänomenologie offenkundig festhalte. Anders als Fulda will es mir scheinen, dass »Phänomenologie« und »Skeptizismus« für Hegel keine verschiedenen Konzeptionen darstellen. Zunächst charakterisiert Hegel beide auf parallele Weise als vorausgehende Disziplinen: der Skeptizismus sei »gleichfalls […] eine solche [vorausgehende] Einleitung«. Dann bringt Hegel den Skeptizismus mit der auch für die Phänomenologie charakteristischen »Foderung eines solchen vollbrachten Skepticismus« (GW 13, 34; § 36, Anm.) in Zusammenhang und bezeichnet ihn darüber hinaus wie die Phänomenologie als »eine durch alle Formen des endlichen Erkennens durchgeführte, negative Wissenschaft« (ebd.). Ferner scheint erst in der kritischen Analyse des Skeptizismus’ das Argument für die Behauptung geliefert zu werden, dass die früher als systemexterne Wissenschaft behandelte Phänomenologie nun als Systemglied zu thematisieren sei: sie kann bzw. soll deshalb nicht als systemexterne Wissenschaft behandelt werden, weil das Dialektische bereits Teil des Logischen ist. Hegel möchte m. E. auf diese Weise Folgendes zum Ausdruck bringen: die Phänomenologie ist als sich vollbringender Skeptizismus, d. h.

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Diesen Einleitungsverfahren stellt Hegel die Konzeption eines »Entschluß[es], rein denken zu wollen« (GW 13, 35; § 36, Anm.) entgegen, mit dem offenbar nicht »eine solche [skeptizistische bzw. phänomenologische] Einleitung« gemeint ist. Auch in der zweiten Auflage der Logik von 1832 wird Hegel die Geltung der Phänomenologie als einzig mögliche legitime Hinführung zur reinen Wissenschaft – die Logik sollte gemäß der ersten Auflage von 1812 »keiner andern Rechtfertigung fähig« (GW 11, 20) sein als durch die Phänomenologie – mittels dieser Entschlusskonzeption relativieren.110 Die Funktion des Entschlusses besteht darin, die Aufgabe derjenigen Voraussetzungen zu ermöglichen, welche den Zugang zum Standpunkt der Wissenschaft verhindern: »Um sich nun auf den Standpunkt der Wissenschaft zu stellen, ist erforderlich die Voraussetzungen aufzugeben, die in den angeführten subjectiven und endlichen Weisen des philosophischen Erkennens enthalten sind« (GW 13, 34; § 35).111 Der Entschluss ist zwar selber auch eine Voraussetzung, aber eine solche, die zugleich die »Voraussetzungslosigkeit an Allem« (GW 13, 35; § 36, Anm.) in sich enthält: »Sie [die Voraussetzungslosigkeit an Allem] ist eigentlich in dem Entschuß, rein denken zu wollen, durch die Freyheit vollbracht« (ebd.). Hegel begründet die Notwendigkeit eines solchen Entschlusses mit dem Argument, dass die Hinführung zum Standpunkt der Wissenschaft nicht in Form einer der wahren Wissenschaft vorausgehenden Kritik der Falschheit dieser Voraussetzungen erfolgen kann. Eine solche Kritik könne vielmehr nur durch die wahre Wissenschaft selbst geleistet werden. »Diese Voraussetzungen aufzugeben, kann noch nicht sowohl aus dem Grunde gefordert werden, weil sie falsch sind, denn dieß hat die Wissenschaft, in der die angeführten Bestimmungen vorkommen müssen, an ihnen selbst erst zu zeigen; sondern aus dem Grunde, weil sie […] dem mit Gegebenem befangenen Denken […] angehören, überhaupt weil sie […] Voraussetzungen sind, die Wissenschaft aber nichts voraussetzt, als daß sie reines Denken seyn wolle« (GW 13, 34; § 36) – und d. h. nur den Entschluss voraussetzt. Es liegt m. E. nahe, dass sich Hegel bei der abgelehnten Kritikform implizit auf die Phänomenologie bezieht, handelt es sich bei ihr doch genau um einen solchen propädeutischen Beweisversuch der Falschheit von Voraussetsoweit sie als systemexterne Wissenschaft auftritt, überflüssig; denn auch sie ist als Dialektisches bereits Teil der eigentlichen Wissenschaft, in die sie einleiten soll. Nicht überflüssig aber ist sie, insofern sie – hinsichtlich ihres Inhalts, nicht aber hinsichtlich ihrer methodischen Form – als Glied im System auftritt. 110 Vgl. GW 21, 56. 111 Eine Auflistung dieser Voraussetzungen erfolgt in GW 13, 34; § 35.

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zungen, welcher der eigentlichen Wissenschaft vorausgeht und argumentativ nicht auf sie angewiesen ist. Aus diesem Grund scheint Hegel sich auch in der gleich anschließenden Anmerkung zu den Ausführungen im Haupttext von der früheren phänomenologisch-propädeutischen Behandlung des Bewusstseins zu distanzieren und darauf zu insistieren, dass »das Bewußtseyn, und dessen Geschichte« wie jede andere philosophische Wissenschaft »Glied« im System sei. Wie genau die Entschlusskonzeption eine Hinführungsfunktion für das endliche Denken erfüllen können soll und in welcher funktionalen Kontinuität mit der früheren Phänomenologie sie dabei steht, braucht an dieser Stelle nicht weiter untersucht zu werden. Hier war nur zu zeigen, dass Hegels Bemerkungen zur Phänomenologie in der Heidelberger Enzyklopädie stark beeinflusst sind von seiner Entschlusskonzeption und daher nicht ohne weiteres zur Aufklärung der Funktion der Phänomenologie, wie Hegel sie 1807 und noch 1812 auffasste, herangezogen werden können. (c) Die Heidelberger Entschlusskonzeption wird von Hegel in der Berliner Enzyklopädie – d. h. in der zweiten (1827) und (fast unveränderten) dritten (1830) Auflage der Enzyklopädie – nicht mehr als selbständige Konzeption vertreten.112 An ihre Stelle treten als neue Einleitungskonzeption die »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität«, auf die als Nächstes kurz einzugehen ist. Der Begriff des objektiven Gedankens113 soll für Hegel einerseits die »Wahrheit« als »absolute[n] Gegenstand« der Philosophie bezeichnen, zugleich aber denjenigen »Gegensatz […], um dessen Bestimmung und Gültigkeit das Interesse des philosophischen Standpunkts jetziger Zeit […] sich dreht« (GW 20, 68; § 25), aufzeigen.114 Bei diesem »Gegensatz« handelt es sich für Hegel um eine Struktur der Gegensätzlichkeit, die dem Denken inhärent ist, ein »Gegensatz[…] des Denkens in und gegen sich« (GW 20, 69; § 26). Da mit diesem »Gegensatz« im Denken laut Hegel auf unterschiedliche Weise umgegangen werden kann, ergeben sich verschiedene »Stellungen des Gedankens zur Objektivität«: »dem Denken zur Objectivität gegebene[…] Stellungen« (GW 20, 68; § 25). Insbesondere solche Weisen des Umgangs, in denen die gegensätzliche Struktur sich als verfestigt zeigt bzw. aufgefasst wird und die dem endlichen 112

Es finden sich lediglich noch Spuren von ihr; vgl. GW 20, 59 und 118; § 17 und § 78. Der Begriff des objektiven Gedankens wird in GW 20, 61–69; §§ 19–25 entwickelt und ist abhängig von Überlegungen aus der Einleitung zur Berliner Enzyklopädie, die hier nicht weiter thematisiert werden können. Vgl. zur Einleitungsfunktion der Drei Stellungen Fulda 1975, Fulda 1984, Lucas 1991, Lucas 2004, Nuzzo 2010 und Sell 2010. 114 Vgl. dazu die Beschreibung der Bedürfnisbefriedungsaufgabe in GW 20, 43–54; §§ 4–12. 113

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Verstandesdenken zugeordnet werden können, behindern die Möglichkeit wahrer Erkenntnis: »Sind die Denkbestimmungen mit einem festen Gegensatze behaftet, d. i. sind sie nur endlicher Natur, so […] kann die Wahrheit nicht in das Denken eintreten« (GW 20, 68; § 25). Aus diesem Grund hält Hegel eine Einleitung für erforderlich, welche in Form einer Darstellung der verschiedenen Weisen des Auftretens objektiver Gedanken den Standpunkt der Hegelschen Logik herbeiführt: »Die dem Denken zur Objectivität gegebenen Stellungen sollen als nähere Einleitung, um die Bedeutung und den Standpunkt, welcher hier der Logik gegeben ist, zu erläutern und herbeizuführen, nun betrachtet werden« (GW 20, 68; § 25). Anders als die Phänomenologie soll diese Einleitung aber keine argumentativ selbständige Funktion erfüllen, sondern bloß »historisch und räsonnirend« (GW 20, 69; § 25, Anm.) verfahren115 und nur in dieser Hinsicht zur »Einsicht mitwirken«, dass die konkret erscheinenden Fragen des natürlichen Bewusstseins sich »auf einfache Gedankenbestimmungen zurückführen [lassen], die […] erst in der Logik ihre wahrhafte Erledigung erhalten« (ebd.). Auf welche Weise durch eine solche historische Betrachtung der Standpunkt der Hegelschen Logik im Einzelnen herbeigeführt werden können soll, kann an dieser Stelle wiederum unberücksichtigt bleiben. Hegels Bemerkungen zum Status der Phänomenologie, die in einer Anmerkung erfolgen, welche den im Haupttext von § 25 dargelegten Ausführungen zum Begriff des objektiven Gedankens beigegeben ist, können wiederum auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert werden. Klar scheint aber, dass Hegel den Status der Phänomenologie im Vergleich zur Heidelberger Enzyklopädie wieder aufwertet. Während die mit der Darstellung der Stellungen des Gedankens zur Objektivität verbundene Einleitung »das Unbequeme« habe, »nur historisch und räsonnirend sich verhalten zu können« (GW 20, 69; § 25, Anm.), werde durch die Phänomenologie die »Nothwendigkeit« des »Standpunkte[s] der philosophischen Wissenschaft« (GW 20, 68; § 25, Anm.) aufgezeigt. Der Phänomenologie scheint also im Vergleich zu den Drei Stellungen ein mindestens gleichwertiger Status zugesprochen zu werden. Obwohl Hegel auch hier die Geltung der Phänomenologie als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin relativiert, fällt doch ins Auge, dass diese Relativierung im Vergleich zur Heidelberger Enzyklopädie milder ausfällt. Während Hegel in der Heidelberger Enzyklopädie die Gesamtheit der

115

Sie scheint also genau eine solche Art von Einleitung bilden zu sollen, die Hegel als Form des vorläufigen Philosophierens früher immer abgelehnt hatte; vgl. z. B. die Verwendung des Einleitungsbegriffs noch in der Logik von 1812: GW 11, 40, Zeile 26–27. Vgl. dazu 1.5.1.

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in der Phänomenologie dargestellten Bewusstseinsgestalten als »Glied« (GW 13, 34; § 36, Anm.) im System charakterisierte und sich so von deren phänomenologisch-propädeutischer Thematisierung insgesamt distanzieren konnte, macht Hegel den systeminternen Charakter hier nur in Bezug auf die »concreten Gestalten des Bewußtseyns« (GW 20, 69; § 25, Anm.) der späteren Partien der Phänomenologie geltend. Diese Lesart wird unterstützt durch die Tatsache, dass ab der zweiten Auflage der Enzyklopädie dem Titel des realphilosophischen Bewusstseinsabschnitts die Bezeichnung »Phänomenologie« hinzugefügt wird.116 Hierdurch entsteht nicht länger der Eindruck, die Phänomenologie werde in einen systeminternen Sachverhalt aufgelöst; das nun doppelte Auftreten der Bezeichnung »Phänomenologie« legt vielmehr die Vorstellung nahe, dass es sich bei der enzyklopädischen Phänomenologie um eine Repräsentation der Phänomenologie im System handelt, durch die der systemexterne Status des so Repräsentierten nicht angetastet wird. Auch ist nun nicht mehr von der Phänomenologie als »früher[er]« (GW 13, 34) Konzeption die Rede. Die relative Aufwertung der Phänomenologie geht allerdings mit einer subtilen Umdeutung ihrer Funktion einher, die ihr nicht mehr eindeutig den Status einer systemexternen Rechtfertigungsdisziplin belässt. Während in der Heidelberger Enzyklopädie die Phänomenologie noch unmissverständlich, wenn auch ablehnend, als vorausgehende Disziplin mit einem selbständigen Wissenschaftsstatus charakterisiert wurde, ist nun keine Rede mehr von ihrem Charakter als selbständiger propädeutischer Wissenschaft; stattdessen wird die Tatsache in den Vordergrund gerückt, dass sie die Entwicklung des Standpunktes der Wissenschaft darstellt: »In meiner Phänomenologie des Geistes […] ist der Gang genommen, von […] dem unmittelbaren Bewußtseyn […] anzufangen und die Dialektik desselben bis zum Standpunkte der philosophischen Wissenschaft zu entwickeln« (GW 20, 68; § 25, Anm.). Diese Charakterisierung der Phänomenologie als genetische Begründungsform scheint gegenüber der oben angeführten Formulierung in der Heidelberger Enzyklopädie zunächst oder zumindest in stärkerem Maße offenzulassen, ob es sich bei der »Entwicklung« um eine systemexterne Rechtfertigung des wissenschaftlichen Standpunktes, um dessen systeminterne Ausgestaltung im Rahmen eines innerhalb des Systems beheimateten genetischen Begründungsprogramms oder bloß um dessen didaktische Verdeutlichung handelt. Insofern kann in Bezug auf diese Formulierung lediglich negativ festgestellt werden, dass sie die Deutung der Phänomenologie als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin nicht ausschließt. Eine solche negative Fest116

Vgl. Anm. 106.

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stellung scheint aber nur möglich aus der Perspektive von Hegels ursprünglichem Verständnis der Funktion der Phänomenologie; für sich betrachtet legt die Formulierung keineswegs zwingend eine solche Deutung nahe. Ein besonderes Problem stellt in diesem Zusammenhang der Umstand dar, dass Hegel in der späten Berliner Zeit mehrere Einleitungskonzeptionen gleichzeitig für gültig angesehen zu haben scheint. In der Anmerkung zu § 25 der Berliner Enzyklopädie werden sowohl die Phänomenologie als auch die neue Berliner Einleitungskonzeption als legitime Formen der Einleitung präsentiert. Weil Hegel die Phänomenologie als Einleitungskonzeption, welche die »Nothwendigkeit« des Standpunkts der Wissenschaft aufzeige, der neuen Einleitungskonzeption vorzuziehen scheint – letztere habe »noch mehr [!] das Unbequeme, nur historisch und räsonnirend sich verhalten zu können« (GW 20, 69; § 25, Anm.) – und er keine weiteren Gründe für die Notwendigkeit einer bloß historisch verfahrenden Einleitung anführt, bleibt an dieser Stelle besonders unklar, warum er der Phänomenologie eine ihr anscheinend als unterlegen eingeschätzte Einleitungskonzeption zur Seite stellt.117 In der zweiten Auflage der Logik von 1832, im stark revidierten Kapitel Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?, beruft sich Hegel sogar auf alle drei hier thematisierten Konzeptionen – die phänomenologische Einleitungskonzeption von 1807, die Heidelberger Entschlusskonzeption von 1817 und die Berliner Einleitungskonzeption von 1827 – als Einleitungen in die eigentliche (logische) Wissenschaft.118 Auch dies bestätigt, dass Hegel zu dieser Zeit der Ansicht gewesen zu sein scheint – oder zumindest den Eindruck hat erwecken wollen –, die Geltungsansprüche dieser verschiedenen Einleitungskonzeptionen seien miteinander verträglich. Unterstellt man Hegel diese Ansicht, wird auch verständlich, warum er nahezu zeitgleich zur dritten Auflage der Enzyklopädie und der darin enthal117

In diesem Sinne berichtet schon Rosenkranz über die Aufnahme dieser Einleitungskonzeption: »Diese zum Theil auch historisch gehaltene Einleitung richtete um so mehr Verwirrung an, als sie die Frage veranlassen mußte, wie sie sich denn zur Phänomenologie verhalte, welche doch vordem den isagogischen Beruf überkommen [sic] hatte« (Hegel’s Leben, 406). Das Hinzukommen des historischen Einleitungsunternehmens scheint m. E. nur verständlich gemacht werden zu können, wenn man annimmt, dass mit ihm eine implizite Ablehnung oder zumindest Problematisierung des phänomenologischen Einleitungsversuchs einhergeht. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass Hegel insbesondere den systemexternen Rechtfertigungsstatus der Phänomenologie für problematisch gehalten hat. Denn gerade diesen Aspekt hatte er in der Heidelberger Enzyklopädie kritisiert, und gerade dieser Aspekt wird in der Anmerkung zu § 25 der Berliner Enzyklopädie nicht mehr explizit erwähnt; und genau aus diesem Grund scheint Hegel sowohl der Heidelberger Entschlusskonzeption als der Konzeption der »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« eine selbständige Beweisfunktion abzusprechen. 118 Vgl. GW 21, 54–56.

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tenen Einleitungskonzeption der »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« eine Neuauflage der Phänomenologie vorbereiten konnte, die er einer wahrscheinlich nicht vor 1829 geschriebenen Überarbeitungsnotiz119 zufolge immer noch als »Voraus, der Wissenschaft« thematisieren und als »[e]igenthümliche frühere Arbeit« nicht grundsätzlich »[u]marbeiten« wollte (GW 9, 448). Wie sich allerdings diese verschiedenen Einleitungskonzeptionen systematisch zueinander verhalten sollen und miteinander verträglich sein können, wird von Hegel weder in der Anmerkung zu § 25 der Berliner Enzyklopädie noch in der Neuauflage der Logik näher verständlich gemacht. Insbesondere die Tatsache, dass die Phänomenologie nun neben anderen Einleitungskonzeptionen steht, macht auf ein gravierendes Problem aufmerksam: Wenn die Option gegeben ist, auf die phänomenologische Rechtfertigung zugunsten des »Entschlußes, rein denken zu wollen« oder der Hinführung durch die »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« zu verzichten, scheint der Phänomenologie kein alternativloser Rechtfertigungscharakter mehr zukommen zu können und insofern für Hegel nicht mehr im gleichen Sinne wie früher eine argumentative Abhängigkeit des Systems von der Phänomenologie zu bestehen. Auch dies scheint darauf hinzuweisen, dass Hegel in seinen späten Berliner Jahren zwar wieder einen Geltungsanspruch mit der Phänomenologie erhoben hat, diesen aber nunmehr stärker didaktisch auffasste und nicht mehr im gleichen Sinne wie früher auf ihren systemexternen Rechtfertigungscharakter bezog.120 (d) Mit Blick auf Hegels verschiedene Einleitungskonzeptionen sei an dieser Stelle noch einmal auf Hegels ursprüngliche Charakterisierung der Phä119

Vgl. den Editorischen Bericht GW 9, 477 f. Die Herausgeber von GW 9 datieren sie auf den Herbst 1831 (vgl. GW 9, 478). 120 Als Indiz für eine didaktische Umdeutung der Funktion der Phänomenologie seien auch die Modifikationen des für die Neuauflage überarbeiteten Teils der Vorrede genannt. (Hegel hat laut Johannes Schulze, dem Herausgeber der Phänomenologie in der Freundesvereinsausgabe, erst wenige Wochen vor seinem Tod mit der »Revision« (Schulze 1832, VI) des ursprünglichen Textes angefangen und diese nur bis S. XXXVII der Originalausgabe (= GW 9, 27) fortsetzen können; vgl. Schulze 1832, V–VI und GW 9, 473.) So soll es beispielsweise in der neuen Auflage nicht mehr heißen, dass das phänomenologische Werden der Wissenschaft »als etwas anderes« erscheine denn als die pädagogische bzw. didaktische »Anleitung des unwissenschaftlichen Bewußtseyns zur Wissenschaft« (GW 9, 24, Zeile 8–9), sondern stattdessen: es »wird nicht das seyn, was man zunächst [!] unter einer Anleitung des unwissenschaftlichen Bewußtseyns zur Wissenschaft sich vorstellt« (GW 9, 24; Textkritischer Apparat). Hegel scheint also die Charakterisierung der Phänomenologie als didaktische Anleitung nicht mehr länger vollständig abzulehnen, sondern nun stattdessen die These zu vertreten, dass sie als alternative Form der (didaktischen) Anleitung verstanden werden müsse.

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nomenologie als ersten Teil des Systems und seine spätere Handhabung dieser Bezeichnung zurückgekommen. In Bezug auf Hegels spätere Bemerkungen zur Systembezeichnung kann zunächst zweierlei unterschieden werden: (i) Hegels mögliche Distanzierung von der Tatsache, dass die Phänomenologie den ersten Teil des Systems bildet und als solche der eigentlichen Wissenschaft vorausgeht, und (ii) seine mögliche Distanzierung von ihrem wissenschaftlichen Charakter als erstem Systemteil. Isoliert betrachtet scheinen Hegels spätere Bemerkungen doppeldeutig. Eine erste, von Forster favorisierte,121 Deutungsoption besteht darin, dass Hegel die ursprüngliche Formulierung in Bezug auf beide Aspekte für missverständlich gehalten und aus diesem Grunde den vorausgehenden Charakter der Phänomenologie in seinen späteren Bemerkungen stärker betont hat; Hegel hätte somit an beiden Aspekten seiner Formulierung festgehalten. Diese Option ist m. E. für Hegels Bemerkung in der Heidelberger Enzyklopädie einschlägig, da Hegel hier eine frühere Ansicht charakterisiert, die er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vertritt und an deren Umdeutung er folglich auch kein großes Interesse haben kann. Hegels Bemerkungen aus der Berliner Zeit können m. E. dagegen nicht als bloße Verdeutlichung von Hegels ursprünglicher Ansicht verstanden werden. In diesen Bemerkungen hält Hegel zwar eindeutig an ihrem vorausgehenden Charakter fest, er behauptet aber nun nicht mehr, dass sie eine selbständige Wissenschaft sei und ihr in diesem Sinne ein Systemstatus zukomme. In der späten Überarbeitungsnotiz ist lediglich von einem unbestimmten »Voraus« die Rede, und auch in der Charakterisierung der Phänomenologie in der Berliner Enzyklopädie – sie sei die Entwicklung zum Standpunkt der Wissenschaft und von Hegel »deswegen [!] bei ihrer [ersten] Herausgabe als der erste Theil des Systems der Wissenschaft bezeichnet worden« (GW 20, 68; § 25, Anm.) – wird ihr Status als erster Systemteil nicht mehr davon abhängig gemacht, dass sie eine selbständige, systemexterne Wissenschaft ist.122 Auch 121

Vgl. Forster 1998, 553–555. Auch die Weglassungen der Systembezeichnung in der zweiten Auflage der Logik (vgl. GW 21, 9, Anm.) und in dem für die Neuauflage überarbeiteten Teil der Vorrede zur Phänomenologie (vgl. GW 9, 24, Zeile 2–3 und dazu den Textkritischen Apparat) scheinen mir durch das Bestreben motiviert zu sein, dem Eindruck vorzubeugen, es handle sich bei der Phänomenologie um eine selbständige Wissenschaft. Denn trotz Hegels Versuchen, den Systemterminus umzudeuten, scheint dieser isoliert betrachtet eine solche Selbständigkeit doch sehr zu suggerieren. Im Übrigen hält Hegel auch in der Anmerkung zur zweiten Auflage der Logik, in der er Rechenschaft über die Weglassung der Systembezeichnung ablegt, eindeutig an dem vorausgehend-propädeutischen Charakter der Phänomenologie fest: die Enzyklopädie soll nur an die Stelle des ursprünglich geplanten »zweyten Theils [des Systems der Wissenschaft], der die sämmtlichen andern philosophischen Wissen122

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von dieser Seite scheint also bestätigt zu werden, dass Hegel in der Berliner Zeit daran interessiert war, den selbständigen Begründungsstatus der Phänomenologie subtil abzumildern und in eine Disziplin umzudeuten, die einen stärker didaktischen Charakter hat und als solche besser verträglich ist mit seinen späteren Einleitungskonzeptionen. (e) Diese abrisshafte Darstellung hat hoffentlich klar werden lassen, dass Hegels spätere Bemerkungen zum Status der Phänomenologie insgesamt stark abhängig sind von seinen späteren Einleitungskonzeptionen und insofern nicht unmittelbar zur Aufklärung von Hegels ursprünglichem Verständnis der argumentativen Funktion der Phänomenologie herangezogen werden können. Auch wenn man die Differenzen zwischen Hegels Bemerkungen zur Phänomenologie in der Heidelberger und der Berliner Enzyklopädie weniger stark markiert, wird man zustimmen müssen, dass diese Bemerkungen nicht in jeder Hinsicht Hegels ursprüngliches phänomenologisches Einleitungsverständnis reflektieren. Dabei sei hervorgehoben, dass ausschließlich in diesen späteren Bemerkungen davon die Rede ist, dass die Phänomenologie – entweder als Ganzes oder in Bezug auf ihre späteren Partien – einen argumentativen Bestandteil des Systems bilde. Die interpretatorische Inanspruchnahme dieser enzyklopädischen Passagen im Rahmen des Versuchs, die ursprüngliche Funktion der Phänomenologie aufzuklären, kann daher zu Missverständnissen führen. Insbesondere die in der Sekundärliteratur häufig anzutreffende Vorstellung, der Wissenschaftsstatus der Phänomenologie impliziere in irgendeiner Form bereits, dass diese auch einen argumentativen Bestandteil des Systems bilden müsse,123 kann sich nicht auf vor 1817 entstandene Hegelsche Textstellen berufen. Vielmehr betont Hegel bis 1812, dass die phänomenologische Wissenschaft einen selbständigen Begründungsversuch des Systems und eine von ihm argumentativ wohlunterschiedene Wissenschaft darstelle. Dass er vor 1817 die Funktion der Phänomenologie anders aufgefasst hat, gibt Hegel in der Heidelberger Enzyklopädie auch unumwunden zu: »Früher« – also zu diesem Zeitpunkt, 1817, nicht mehr – habe er die Phänomenologie als wissenschaftliche Geschichte des Bewusstseins verstanden, die der reinen Wissenschaft vorausging. Dieses Selbstverständnis der Phänomenologie als argumentativ selbständige Wissenschaft wäre nun aber kaum möglich, wenn Hegel die phänomenologische Wissenschaft seit jeher als Disziplin aufgefasst schaften [die Logik und Realphilosophie, vgl. GW 21, 9, Zeile 2–4] enthalten sollte« (GW 21, 9, Anm.), nicht an Stelle beider Systemteile (so z. B. Weckwerth, 2000, 80–81, Fußnote 1) treten. 123 Vgl. die Kritik Forsters an dieser These: Forster 1998, 276–277 (Punkt b). Vgl. insgesamt Forster 1998, 270–281.

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hätte, die, »wie jede andere philosophische Wissenschaft« (GW 13, 34) auch, abhängig wäre von Bestimmungen des Systems. Aus diesem Grund scheint es mir, wie dargelegt, am plausibelsten, Hegels Bemerkungen zur Phänomenologie von 1817 als eine implizite Kritik der Möglichkeit einer solchen systemexternen Wissenschaft zu interpretieren. Diese und noch spätere Bemerkungen ohne Beachtung ihres jeweiligen Kontextes zum Verständnis der Phänomenologie heranzuziehen, würde dazu führen, dass ihr von vornherein kein konsistentes Verständnis als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin abgewonnen werden könnte.

1.5 Die Phänomenologie als »Einleitung« 1.5.1 Zum Begriff der »Einleitung« Der bisher verschaffte Überblick über das, was hier vorläufig und der Forschungskonvention entsprechend unter den Begriff der Einleitungskonzeption subsumiert wurde, macht auf ein Problem aufmerksam, das mit dem Einleitungsbegriff selbst zusammenhängt. Denn Hegel verwendet diesen Begriff in Zusammenhang mit sehr unterschiedlichen Aufgaben und Konzeptionen, niemals aber als Bezeichnung für seine systemexternen Destruktionsdisziplinen: weder in der Logik von 1804/5 noch in der Phänomenologie kommt das Wort »Einleitung« in dieser Bedeutung, abgesehen von seiner Verwendung als Titelbegriff, ein einziges Mal vor; erst im kritischen Rückblick wird Hegel die Phänomenologie im gedruckten Werk als »Einleitung« bezeichnen. Einzig in dem Fragment Dass die Philosophie von 1801/2 wird das Wort »Einleitung« als eine Art terminus technicus für die Aufgabe einer kritischen Zerstörung von Erkenntnisformen verwendet, die den Zugang zur wahren Erkenntnis des Absoluten verstellen. Erstaunlicherweise scheint Hegel zur gleichen Zeit in dem Fragment Diese Vorlesungen, das der von Hegel im Wintersemester 1801/2 gehaltenen Vorlesung Introductio in philosophiam zugeordnet werden kann, eine Einleitung in die Philosophie im Sinne einer argumentativ selbständigen Vorbereitung auf diese vollständig abzulehnen. Aus diesem Grund wurde besagtes Fragment in Abschnitt 1.2 nicht aufgenommen. Auch mit der frühen Logik verwandte Destruktionskonzeptionen wie die Antinomienkonzeption in der Differenzschrift und Hegels Inanspruchnahme des pyrrhonistischen Skeptizismus als antinomisch-destruktive Erkenntnisform im Skeptizismus-Aufsatz werden von Hegel nicht als »Einleitung« bezeichnet. Dies ist insbesondere im Fall des Skeptizismus-Aufsatzes – der Die Phänomenologie als »Einleitung«

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vermutlich nur wenig später als die Fragmente zur frühen Logik verfasst wurde – verwunderlich, da Hegel hier den von ihm als destruktive Erkenntnisform aufgefassten pyrrhonistischen Skeptizismus auf eine mit der frühen Logik verwandte Weise als eine selbständige destruktive Erkenntnisdisziplin sich anzueignen scheint, die »auf eine Art, welche […] dem gemeinen Bewußtseyn [d. h. dem Verstandesdenken] nahe liegt« (GW 4, 215), dem endlichen Verstandesdenken seinen antinomischen Charakter aufzeigen und so den »Anfang« und die »erste Stuffe zur Philosophie« (GW 4, 215–216) bilden soll. Wie im vierten Kapitel näher ausgeführt wird, ist allerdings auch im Falle der Differenzschrift und des Skeptizismus-Aufsatzes unklar, ob wirklich eigenständige Einleitungskonzeptionen vorliegen; auch sie wurden daher im Vorigen nicht behandelt. Bezeichnenderweise verwendet Hegel nach der frühen Jenaer Zeit den Terminus »Einleitung« nur noch einmal in zustimmender Weise für die Konzeption einer Vorbereitung auf die eigentliche Philosophie, und zwar mit Bezug auf die enzyklopädische Konzeption der »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« – für eine Einleitungskonzeption also, mit der Hegel keine eigenständige argumentative Funktion mehr verknüpft, sondern die bloß »historisch und räsonnirend« (GW 20, 69; § 25, Anm.) verfahren soll. Diese heterogenen Verwendungsweisen des Einleitungsbegriffs scheinen wenig miteinander gemeinsam zu haben. Hegels Ablehnung des Einleitungsbegriffs in Diese Vorlesungen und sein Fehlen in der Phänomenologie werden aber m. E. verständlich, wenn in Betracht gezogen wird, dass es sich beim Begriff der »Einleitung« um eine damals geläufige und wenig spezifische Bezeichnung für die Aufgabe einer vorläufigen Einführung in die Philosophie gehandelt hat. In der dieser Aufgabe gewidmeten Gattung solcher oft »Einleitung« oder »Propädeutik« genannten Schriften wurde, meistens vorlesungsbegleitend, Begriff, Aufgabe und Zweck der Philosophie bestimmt. Eine prägnante lexikographische Bestimmung dessen, was zu dieser Zeit in der Wissenschaft unter dem Begriff »Einleitung« verstanden wurde, findet sich im Krugschen Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften unter dem entsprechenden Lemma: »Einleitung (introductio), wissenschaftlich genommen, ist die vorläufige Einführung des Geistes in eine Wissenschaft, z. B. in die Philosophie. Eine solche E. enthält also eben das, was man auch die Vorkenntnisse oder Prolegomena zur Wissenschaft nennt, und ihr Zweck ist, das Studium der Wissenschaft selbst vorzubereiten oder zu erleichtern. Sie ist folglich auch schon eine Art von Anleitung dazu, jedoch ohne Ausführlichkeit. In einer E. wird daher bloß der Begriff einer Wissenschaft bestimmt, und mittels desselben ihr Gegenstand, Inhalt, Umfang […], Zweck, Nutzen oder Werth […], auch wohl ihre Methode […] angegeben«

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(Krug, Allgemeines Handwörterbuch I, 616). Von den »schriftlichen Einleitungen in die Philosophie, die auch zuweilen Encyklopädien oder Propädeutiken genannt werden« (ebd.), führt Krug anschließend eine längere Liste an, unter denen sich auch Einleitungsschriften aus der Zeit der Phänomenologie finden.124 Man sieht, dass der Begriff der Einleitung damals üblicherweise nicht mit einer systematischen Aufgabe in Verbindung gebracht wurde, sondern als unspezifischer Terminus für vorläufige Charakterisierungen einer Wissenschaft, als »vorläufige Einführung […] in eine Wissenschaft« (ebd.) galt. Ein starkes Argument für diese These stellen auch die Ausführungen Friedrich Schlegels zum Einleitungsbegriff am Anfang der Kölner Privatvorlesungen zur Entwicklung der Philosophie von 1804/5 dar, in denen er alle bisher verfolgten Einleitungsstrategien in die Philosophie als Formen vorläufigen Philosophierens kritisiert.125 Hegels Kolleg zur »introductio in philosophiam« scheint genau eine solche Einleitungsveranstaltung im zeitgenössischen Sinne gewesen zu sein. Der Begriff der Einleitung bezieht sich in dem diesem Kolleg zugeordneten Fragment Diese Vorlesungen auch in der Tat hauptsächlich auf diese Einführungspraxis; offenbar mit Bezug auf die an ihn in einer solchen Einleitungsveranstaltung gestellten Erwartungen richtet sich Hegel gegen die Möglichkeit eines einführenden und vorläufigen Philosophierens: »Diese Vorlesungen, in welchen ich eine Einleitung in die Philosophie [hier offenbar als Typ von Lehrveranstaltung] vorzutragen versprochen habe, können mit keiner andern Bemerkung anfangen, als daß die Philosophie als Wissenschafft weder einer Einleitung bedarf, noch eine Einleitung verträgt« (GW 5, 259).126 Hegel setzt dem einführenden Einleiten an dieser Stelle dementsprechend keine alternative Einleitungskonzeption im Sinne einer argumentativ selbständigen Vorbereitung, sondern eine alternative Konzeption von Pädagogik entgegen: »der Zweck einer Einleitung in die Philosophie könnte bloß seyn, […] subjective[…] Standpunkte über sich selbst aufzuklären und sie mit dem objectiven der Philosophie zu verständigen« (ebd.). Diese pädagogische Konzeption hängt für Hegel mit dem aus der Differenzschrift und der Frankfurter Zeit bekannten praktisch-pädagogischen Problem der Befriedigung des 124

Vgl. Allgemeines Handwörterbuch I, 616–617. Aus der Reihe der Autoren, die eine Einleitung in diesem Sinn verfasst haben, nennt Krug u. a. Bouterwek, Heydenreich, Reinhold, Herbart und im Supplement-Band (V, 82) auch Andreas Gabler. 125 Vgl. KFSA 12, 109 ff. Vgl. dazu 7.1.1, Anm. 24. 126 Nicht verwunderlich ist denn auch, dass sich in diesem Fragment polemische Bemerkungen gegen solches vorläufiges, »einleitendes Philosophiren« (GW 5, 260) finden: »Es ist im Gegentheil nichts so sehr zu vermeiden, als daß nicht die ganze Philosophie selbst in ein Einleiten [d. h. in ein vorläufiges Charakterisieren der Philosophie] verwandelt, oder daß das Einleiten für Philosophie genommen werde« (GW 5, 259–260).

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Bedürfnisses der Philosophie zusammen: Im Ausgang vom »Philosophiren […] [als] etwas empirische[m] […], das von verschiedenen Standpunkten und mannichfaltiger Form der Bildung und Subjektivität« ausgeht, soll eine »Einleitung in die Philosophie« erfolgen, die »eine Art von Bindungsmittel und Brükke zwischen den subjektiven Formen [des Bedürfnisses der Philosophie] und der objektiven und absoluten Philosophie macht« (GW 5, 260– 261). Das Einleitungsproblem betrifft also in diesem Fragment nicht das methodologische Problem einer propädeutischen Begründung, die eigentlicher philosophischer Begründung vorausginge, sondern ein praktisch-pädagogisches Problem.127 Die Einleitungsaufgabe wird von Hegel dementsprechend näher bestimmt als »Antwort auf die Frage, welche Beziehung hat die Philosophie aufs Leben?«, eine Frage, die »eins ist mit der [Frage]: inwiefern ist die Philosophie praktisch?« (GW 5, 261). Es ist in Anbetracht dieser ablehnenden Verwendung des Einleitungsbegriffs nicht verwunderlich, dass Hegel in der Folgezeit so gut wie keinen Gebrauch von ihm macht als Bezeichnung für seine systemexternen Begründungskonzeptionen. Eine Ausnahme stellt das zeitgleich entstandene Fragment Dass die Philosophie dar. Allerdings wird der Einleitungsbegriff hier nur ein einziges Mal verwendet und nimmt Hegel an dieser Stelle eine revisionäre Neubestimmung des Begriffs vor: Die von der Logik zu leistende Aufstellung und Destruktion von endlichen Verstandesbestimmungen, welche der Metaphysik vorausgehen soll, gilt ihm »von dieser spekulativen Seite allein [!] […] als Einleitung« (GW 5, 272). Auch hier bezieht sich Hegel also indirekt auf den damals gängigen Einleitungsbegriff, nimmt nun aber eine spekulative Umdeutung vor, vielleicht veranlasst durch das Bestreben, einen Bezug zum zeitgleich abgehaltenen Einleitungskolleg herzustellen.128 Man scheint resümieren zu dürfen, dass es sich bei dem, was in diesen beiden Fragmenten jeweils dem gängigen ›Einleiten in die Philosophie‹ (GW 5, 259) entgegengesetzt ist, um gänzlich Verschiedenes handelt: Im ersten Fragment bietet Hegel eine praktisch-pädagogische Alternative für dasjenige an, was damals tatsächlich unter »Einleitung« verstanden wurde, im zweiten Fragment nimmt Hegel eine Revision des etablierten Einleitungsbegriffs vor, indem er mit seiner spekulativen Einleitungskonzeption etwas entwickelt, 127

Angekündigt wurden die Einleitungsvorlesungen von Hegel auf einem handschriftlichen Anschlagzettel (vgl. Editorischer Bericht, GW 5, 653 f.) dementsprechend als »unentgeldliche Vorlesungen über das praktische Interesse der Philosophie« (Editorischer Bericht, GW 5, 654), dem Hegel »als Einleitung in dieselbe« (ebd.) am Rande hinzufügte. 128 Eine ähnlich revisionäre Neubestimmung des Einleitungsbegriffs findet sich auch bei Friedrich Schlegel; vgl. KFSA 12, 109 ff.

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das sich von dem damals unter »Einleitung« Firmierenden völlig unterscheidet.129 Der Einleitungsbegriff scheint nur im zweiten Fragment mit einer Einleitungskonzeption im Sinne einer der Philosophie vorausgehenden Begründungskonzeption in Verbindung gebracht werden zu können. Im ersten Fragment wird der Einleitungsbegriff dagegen gar nicht in einem theoretischen Begründungskontext verwendet – nicht einmal in einem solchen der didaktischen Rechtfertigung –, sondern als eine praktisch-philosophische Aufgabe bestimmt. Es wäre daher m. E. irreführend, beide Konzeptionen als »Einleitungskonzeptionen« zu charakterisieren. Dass Hegel in der unmittelbaren Folgezeit weder die Logik von 1804/5 noch die Phänomenologie – diese gilt ihm vielmehr als »Vorbereitung«130 – mit dem Terminus »Einleitung« bezeichnet, scheint im Lichte der bisherigen Ausführungen durchaus konsequent: Man darf vermuten, dass Hegel auf diese Weise eine Verwechslung seines propädeutischen Rechtfertigungsverständnisses mit dem damals gängigen Einleitungsverständnis ausschließen wollte.131 Die Tatsache schließlich, dass Hegel während der enzyklopädischen Zeit den Einleitungsbegriff auch im gedruckten Werk verwendet, scheint ein Indiz für den Niedergang des argumentativen Status propädeutischer Überlegungen im Hegelschen Werk darzustellen. In der Heidelberger Enzyklopädie bringt, wie gesehen, die indirekte Charakterisierung der Phänomenologie als »gleichfalls […] eine solche Einleitung« (GW 13, 34; § 36, Anm.) eine Distanzierung von ihrem systemexternen Status zum Ausdruck. Durch diese Charakterisierung entsteht hier jedenfalls der Eindruck, dass Hegel sie 129

Auch Manfred Baum betont die Verschiedenheit des Einleitungsverständnisses in beiden Fragmenten, das er als »didaktisches« und »spekulatives« bezeichnet; vgl. Baum 1980, 120–123 und Baum 1989, 142 ff. 130 Vgl. GW 9, 28 und 446. 131 Dem scheint entgegengehalten werden zu können, dass Hegel in Briefen die Phänomenologie einmal als »Einleitung« bezeichnet. So heißt es im Brief an Schelling vom 1.5.1807: »Ich bin neugierig, was Du zur Idee dieses 1sten Teils, der eigentlich die Einleitung ist – denn über das Einleiten hinaus, in mediam rem, bin ich noch nicht gekommen, sagst« (Briefe I, 161). Diese Begriffsverwendung wird jedoch verständlich, wenn man sich daran erinnert, dass der damalige Einleitungsbegriff eine unspezifische Bezeichnung für jegliche Art von propädeutischen Überlegungen abgab. Es scheint in Anbetracht des etablierten Charakters dieses Begriffs durchaus verständlich, wenn Hegel ihn in einem informellen Kontext verwendet, um einem (befreundeten) Zeitgenossen eine erste unspezifische Orientierung zu bieten, ihn in argumentativ formaleren Kontexten dagegen vermeidet. In einem Brief an Sinclair von Mitte Oktober 1810 (vgl. Briefe I, 331–333) spricht Hegel auf ähnlich unspezifische Weise von der Phänomenologie als »meinem Anfang, den ich vor einigen Jahren machte« (Briefe I, 332); auch hier ist aber die Rede davon, dass »die Wissenschaft selbst […] erst noch nachkommen [soll]« (ebd.).

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als vorausgehende Disziplin nun auch derjenigen Einleitungspraxis zurechnet, die er seit der frühen Jenaer Zeit ablehnte. In der Berliner Enzyklopädie scheint er dem Einleitungsbegriff in Bezug auf seine neue Konzeption der »Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« dagegen wieder eine positivere Bedeutung abgewonnen zu haben. Mit dieser Konzeption aber, welche sich bloß »historisch und räsonnirend« (GW 20, 69; § 25, Anm.) verhalten soll, verbindet Hegel keine selbständige argumentative Begründungsfunktion mehr, weswegen er wohl auch den Einleitungsbegriff in Bezug auf diese Konzeption für angemessen hält. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Hegel selbst scheint den Einleitungsbegriff für solche Konzeptionen verwendet zu haben, mit denen er keine starke, selbständig argumentative Funktion verband und die insofern am ehesten dem entsprachen, was damals unter einer ›Einleitung in die Philosophie‹ verstanden wurde. Aus genau diesem Grunde scheint Hegel gerade die Phänomenologie, die ihm als selbständige Rechtfertigung des Systems galt, nicht als »Einleitung« bezeichnet zu haben. Die Charakterisierung der Phänomenologie als »Einleitung« geht dagegen wohl auf Hegel-Schüler und frühe Hegel-Interpreten zurück, welche die Phänomenologie – gegen Hegels Intention – oft didaktisch als Einleitungsschrift oder »Propädeutik« im damals üblichen Sinne auffassten.132 Einflussreich in dieser Beziehung war zunächst Andreas Gabler, eine der ältesten Schüler Hegels noch aus der Jenaer Zeit, der 1827 in Form eines Lehrbuchs der philosophischen Propädeutik als Einleitung in die Philosophie eine systematische Neuformulierung133 von Hegels Phänomenologie vorlegte: die Kritik des Bewußtseyns.134 Die Aufgabe philosophischer Propädeutik ist für Gabler »die Erziehung des Subjects zur Philosophie« (Kritik des Bewußtseyns, 12). Eine solche Propädeutik hat laut Gabler keine selbständige begründende Funktion, sondern setzt die Methode der Wissenschaft bereits voraus: »Diesen Weg zur Wissenschaft, welcher die Wissenschaft noch nicht selbst ist, aber sie zur inneren Leiterin hat, und nicht ohne die Methode der Wissenschaft voll132

Vgl. Anm. 19. Gablers eigene Ansicht zum Verhältnis seiner Schrift zu Hegels Phänomenologie ist allerdings ambivalent. Einerseits scheint er seine Schrift im Sinne einer »Propädeutik« als bloß didaktische Formulierung der Phänomenologie zu verstehen, spricht ihr aber andererseits als »Kritik des Bewußtseyns« zugleich eine systematisch selbständige Bedeutung zu; vgl. Kritik des Bewußtseyns, 109–110 und die Vorrede zu dieser Schrift, insbesondere xix ff. Vgl. dazu auch den Brief Gablers an Hegel vom 28.9.1827 (Briefe III, 206–209), wo Gabler Hegel sein Werk mit den folgenden Worten empfiehlt: »Sie werden finden, daß ich mich zu meinem Anfang sogleich an Ihre Phänomenologie, wenigstens einen Teil derselben, gewagt und Ihnen nachgearbeitet habe« (Briefe III, 207). Vgl. auch Fulda 1975, 59 f. 134 Gablers Schrift trägt verschiedene Titel; vgl. 11.1.1. 133

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bracht werden kann, zeigt und führt die philosophische Propädeutik« (ebd.). Einflussreich für die spätere Forschung dürfte auch Karl Rosenkranz gewesen sein, der für die gesamte Jenaer Zeit die Bemühung um eine »[d]idaktische Modification des Systems« annimmt, die er auch für Hegels phänomenologische Konzeption noch in Anschlag bringt.135 Insgesamt scheint damit die explikative Kraft des Einleitungsbegriffs in Bezug auf die argumentative Funktion der Phänomenologie als äußerst begrenzt eingestuft werden zu können. Auch geht aus dem Einleitungsbegriff als solchem nicht hervor, ob es sich bei der Einleitungsaufgabe um eine didaktische oder argumentativ selbständige Rechtfertigungsaufgabe handelt, ob diese Aufgabe eher theoretischer oder praktischer Art ist, und ob diese Aufgabe systemextern oder systemintern durchgeführt werden soll. Die Verwendbarkeit dieses Begriffs für so heterogene Aufgaben suggeriert darüber hinaus funktionale Gemeinsamkeiten zwischen diesen Aufgaben, was zu Missverständnissen führen kann. Insbesondere kann die Vorstellung, die Phänomenologie nehme als Einleitung in das System verschiedene funktional zusammenhängende Einleitungsaufgaben wahr, m. E. zu einem irrtümlichen Verständnis ihrer argumentativen Funktion führen, wie im Folgenden ausführlicher dargelegt wird.

1.5.2 Hat die Phänomenologie verschiedene Einleitungsfunktionen? Manchmal wird in Bezug auf die argumentative Funktion der Phänomenologie eine Vielzahl von Einleitungsaufgaben angenommen. So findet sich bereits bei Haym der in polemischer Absicht vorgebrachte Vorwurf gegen Hegel, mit der Phänomenologie ein »Dickicht« von »Beweismotiven« (Haym 1857, 235) verbunden zu haben.136 Michael Forster nimmt in Bezug auf die Phänomenologie sogar 11 Aufgaben an, die er alle unter den Oberbegriff der Einleitung subsumiert und weiter in pädagogische, epistemische und metaphysische Aufgaben unterteilt.137 135

Vgl. Hegel’s Leben, 178 ff. Vgl. für die Auflistung dieser Beweisaufgaben Haym 1857, 234. 137 Vgl.: »The Phenomenology in fact serves a multiplicity of introductory tasks. These introductory tasks prove, on inspection, to be very diverse« (Forster 1998, 13–14). Eine provisorische Auflistung erfolgt in Forster 1998, 14–15. Als weitere Vertreter mehrerer Einleitungsaufgaben der Phänomenologie seien stellvertretend Siep 2000, 58–9, 71–73 und Emundts/Horstmann 2002, 52–54 genannt. Hervorgehoben sei auch Fuldas (vor allem auf die Phänomenologie bezogene) provisorische Beschreibung der Einleitungsaufgabe (vgl. Fulda 1975, 10–11), der ähnlich wie Forster drei Einleitungsaufgaben annimmt, mit denen jeweils verschiedene Teilaspekte verbunden seien: »1) das theoretische Problem des Ver136

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In der Vorrede scheinen sich auch durchaus Anhaltspunkte für die These zu finden, dass die Phänomenologie neben der systemexternen Rechtfertigung des Systems noch weitere Aufgaben wahrzunehmen hat. Genannt seien als zumindest implizit präsente Funktionsbeschreibungen:138 (i) die Aufgabe der Befriedigung des Bedürfnisses der Philosophie durch die Zerstörung einer (gegenwärtig) entzweiten Welt und durch die Herstellung einer einheitlichen Weltsicht,139 (ii) die Aufgabe der Darstellung der realen bzw. realhistorischen Genese der Wissenschaft,140 (iii) die Aufgabe der didaktischen Hinführung empirischer Subjekte zur Wissenschaft141 und schließlich (iv) die Aufgabe der Bildung des philosophischen Subjekts.142 In der Einleitung zur Phänomenologie scheint dagegen nicht von mehreren Aufgaben die Rede zu sein, die Phänomenologie vielmehr exklusiv als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin verstanden zu werden. Auch wenn einige Ausdrücke in der Einleitung didaktisch konnotiert sind – genannt seien die Läuterung der Seele zum absoluten Wissen und der sich vollbringende Skeptizismus143 –, wird im Kontext des argumentativen Gesamtverlaufes der Einleitung doch ziemlich klar, dass sie als vorläufige Explikationen der insgesamt als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin verstandenen »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« dienen.144 Es bieten sich in Bezug auf das Verhältnis der Funktionsbeschreibungen in Vorrede und Einleitung drei Interpretationsoptionen an: (i) es handelt sich um zwei verschiedene systematische Perspektiven auf die Funktion der Phänomenologie, (ii) die später verfassten Ausführungen in der Vorrede sind Ausdruck eines Konzeptionswandels und (iii) die Überlegungen in Vorrede und Einleitung beziehen sich auf Unterschiedliches: die Funktionsbeschreibungen in der Einleitung ausschließlich auf die Funktion der Phänomenologie, die Funktionsbeschreibungen in der Vorrede auf die der Phänomenologie und des Systems gemeinsam. Im Rahmen der ersten Option scheint die These nahezuliegen, dass die argumentative Funktion der Phänomenologie in der Vorrede aus der Systemhältnisses von systematisch-spekulativem Wissen und Geltungsreflexion; 2) das ethische des Verhältnisses von Philosophie und Praxis und 3) das ehemals theologische des Verhältnisses zwischen der […] Subjektivität und dem Absoluten« (Fulda 1975, 10). 138 Für eine ausführliche Beschreibung dieser Aufgaben vgl. Forster 1998, 17–125 (= Kapitel 2: Curing Modern Culture: The Pedagogical Tasks) 139 Vgl. GW 9, 12–13 und 28. 140 Vgl. GW 9, 14–17. 141 Vgl. GW 9, 15 f. und 23. 142 Vgl. GW 9, 24–25. 143 Vgl. GW 9, 55 f. 144 Vgl. dazu im Einzelnen 6.1 und 7.2.1.1.

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perspektive, d. h. mit den argumentativen Mitteln des Systems, in der Einleitung dagegen aus der Perspektive der phänomenologischen Erfahrungswissenschaft beschrieben wird. So meint Siep in Bezug auf die Frage, ob beide Texte unterschiedliche Konzeptionen enthalten, dass »Erfahrungsgeschichte [in der Einleitung] und Phänomenologie [in der Vorrede] […] eher zwei Aspekte derselben Sache als zwei Methoden [sind], die verschiedene Teile des Buches charakterisierten. Man kann vereinfacht sagen, daß ›Erfahrung‹ den Weg ›von unten‹, von den unmittelbarsten Formen und Standpunkten des ›natürlichen Bewußtseins‹, zum absoluten Wissen ist, ›Phänomenologie‹ dagegen diesen Weg ›von oben‹ charakterisiert, nämlich insofern auf ihm schon alle Kategorien […] des Geistes ›erscheinen‹« (Siep 2000, 63). Im Laufe dieser Arbeit wird sich herausstellen, dass sich insbesondere diejenigen Aufgabenbeschreibungen in der Vorrede, die sich spezifisch auf die Phänomenologie beziehen,145 in der Tat als alternative Beschreibungen der systemexternen Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie »von oben«, d. h. aus der Systemperspektive, verstehen lassen.146 Einen vollständigen Konzeptionswandel im Sinne der zweiten Option, der auch das Funktionsverständnis der Phänomenologie beträfe, halte ich dagegen für unwahrscheinlich.147 Auch wenn Hegel bestimmte Akzentverschiebungen vornimmt – er rückt beispielsweise den genetischen Aspekt phänomenologischer Begründung in der Vorrede etwas stärker in den Vordergrund –, scheint er doch insgesamt an einem systemexternen Verständnis der Phänomenologie festzuhalten. So gilt auch in der Vorrede die Phänomenologie als das »Werden der Wissenschaft« (GW 9, 24) und die »Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtseyn macht« (GW 9, 29), die als solche die »Vorbereitung« (GW 9, 28) zur Wissenschaft bildet. Die meisten Unterschiede zwischen beiden Texten hängen m. E. mit der Tatsache zusammen, dass die Vorrede nicht spezifisch auf die Phänomenologie bezogen ist, sondern als Vorrede zu Hegels Gesamtsystem konzipiert ist. In dem wohl von Hegel selbst verfassten detaillierten Inhaltsverzeichnis der Vorrede heißt es in diesem Sinne, sie handele »[v]om wissenschaftlichen Erkennen« (GW 9, 5) generell. Hegels Ausführungen nehmen dementsprechend ihren Ausgang von Überlegungen, welche von philosophischer Erkenntnis überhaupt handeln.148 Im Anschluss an diese im ersten Drittel der Vorrede angestellten Überlegungen behauptet Hegel, dass mit der Aus-

145 146 147 148

Diese erfolgen vor allem im zweiten Drittel der Vorrede: GW 9, 22–31. Vgl. 7.2.1.2. Vgl. 8.1. Zum Folgenden vgl. 7.2.1.2.

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führung der »Wissenschaft« nicht unmittelbar angefangen werden könne, sondern ihr eine vorbereitende Überlegung vorausgehen müsse, welche den – dem Standpunkt der Wissenschaft entgegengesetzten – Standpunkt des natürlichen Denkens zerstöre. Erst im Rahmen dieser im zweiten Drittel149 der Vorrede angestellten Überlegungen unterscheidet Hegel begrifflich zwischen einer reinen, logischen Wissenschaft und einer phänomenologischen Erfahrungswissenschaft. Während in diesem zweiten Drittel vor allem die Funktion der Phänomenologie näher beschrieben wird – so auch nach dem Inhaltsverzeichnis150 –, handelt das dritte vor allem von der »Natur der philosophischen Wahrheit und ihrer Methode« (GW 9, 5), deren »eigentliche Darstellung […] der Logik an[gehört]« (GW 9, 35). Im argumentativen Gesamtaufbau der Vorrede wird also deutlich, dass sich viele der Überlegungen zur Didaktik und zum »[i]tzige[n] Standpunkt des Geistes« (GW 9, 5) insbesondere im ersten Drittel der Vorrede gar nicht spezifisch auf die Phänomenologie beziehen. Die dort anzutreffenden Aufgabenbeschreibungen sind auch gar nicht spezifisch für die Vorrede zur Phänomenologie, sondern finden sich auch in Vorreden und Einleitungen zu anderen Hegelschen Werken.151 Es wäre daher m. E. missverständlich, diese auf Hegels Gesamtsystem bezogenen Aufgaben im gleichen Sinne wie die kritische Rechtfertigungsaufgabe der Phänomenologie als Einleitungsaufgaben zu charakterisieren. Auch die metaphysischen Aufgabenbeschreibungen am Anfang und im letzten Teil der Vorrede zielen klarerweise nicht auf die Phänomenologie, sondern entweder auf die Wissenschaft im Allgemeinen oder auf die »Logik oder speculative Philosophie« im Besonderen (GW 9, 30). Aus diesem Grund scheint es mir am plausibelsten, die Phänomenologie exklusiv als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin zu interpretieren.152 149

GW 9, 22–31. Vgl. GW 9, 5. 151 Als Beispiel sei die Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (GW 14/1, 5–17) genannt. 152 Zudem wäre es auch systematisch unbefriedigend, eine Vielzahl von argumentativen Funktionen für die Phänomenologie zu veranschlagen. Dies gilt besonders dann, wenn man zugleich systemextern-rechtfertigende und metaphysische Aufgaben für sie ansetzt; denn ein und dieselbe Disziplin scheint nicht als metaphysische Disziplin solche Erkenntnisse bereits in Anspruch nehmen zu können, die sie als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin vorab und ohne argumentative Inanspruchnahme dieser Erkenntnisse erst zu ermöglichen hat. Diese These wird jedoch, wie bereits erwähnt, von Michael Forster vertreten. Dass Forster Hegels »official project« in diesem Sinne interpretiert, verwundert in Anbetracht der Tatsache, dass Forster dieses »project« insgesamt als systemexternen Begründungsversuch zu deuten scheint, welcher keinerlei Annahmen aus dem System voraussetzen darf: »Hegel’s considered conception of the work’s method is instead that the work in no respect essentially presupposes Hegelian Science for intelligibility or cogency, 150

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1.6 Zur Rekonstruktion der Phänomenologie als epistemologischer Theorie Die bisherigen Textbefunde und interpretatorischen Überlegungen scheinen die These bestätigt zu haben, dass es sich bei der Phänomenologie nicht um eine metaphysische (d. h. systeminterne) oder didaktische Disziplin handelt, sondern um eine Hegels metaphysischer Theorie vorangehende Disziplin, der in Bezug auf diese eine selbständige Begründungsfunktion zukommen soll und die als solche eine »neue […] Wissenschaft« (GW 9, 446) darstellt. Wie die argumentative Funktion dieser neuen Disziplin einem tieferen Verständnis näher gebracht werden kann, ist nach wie vor aber unklar. Da Hegels Texte keine weiteren Anhaltspunkte zu dieser Frage zur Verfügung stellen, scheint es berechtigt, nunmehr den Versuch zu unternehmen, die Funktion der Phänomenologie auf systematisch-rekonstruktivem Wege verständlich zu machen. »Systematische Rekonstruktion« soll hier der Versuch genannt werden, eine Theorie mit ihr fremden methodischen Mitteln verständlicher zu machen, als es die theorieeigenen Mittel ihrem Urheber erlaubten, mit dem Ziel, das argumentative Potenzial dieser Theorie bezüglich eines bestimmten Sachaspektes deutlicher hervortreten zu lassen. Die systematische Rekonstruktion kann von der eigenständigen systematischen Aneignung insofern unterschieden werden, als hinsichtlich ihrer transparent bleibt, dass und inwiefern die rekonstruktiven Eingriffe dem Verständnis der Theorie dienen, wie diese vom Autor formuliert wurde; es dürfen also keine theoretischen Ziele mit der Rekonstruktion verfolgt werden, welche mit dieser Theorie ursprünglich nicht verbunden waren.153 Bisherige Rekonstruktionen der Phänomenologie haben diese vor allem als epistemologische Theorie interpretiert. Im Rahmen des Versuchs, die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie aufzuklären, interessieren von diesen Interpretationen hier nur diejenigen, welche die Phänomenologie als erkenntnistheoretische Kritik nicht-Hegelscher Positibut is entirely independent of Hegelian Science« (Forster 1998, 274). Obwohl Forster genau in diesem Punkt Kritik an Fuldas Deutung übt (vgl. Forster 1998, 273–274, Fußnote 6), ist nicht leicht zu sehen, wie die Phänomenologie metaphysische Funktionen erfüllen können sollte, ohne Annahmen aus dem System, der »Hegelian Science«, in Anspruch zu nehmen. Vgl. zu Forsters Interpretation insgesamt 4.3. Am ehesten lassen sich dagegen die metaphysische und die didaktische Deutung der Funktion der Phänomenologie als miteinander verträglich denken. Eine solche kombinierte Deutung scheinen mir u. a. Otto Pöggeler, Stephan Ellias und Dina Emundts zu vertreten. Zu Pöggeler vgl. 8.1, zu Ellias Anm. 165 und zu Emundts Anm. 154. 153 Vgl. Henrich 1976a, 9–15 und Habermas 1976, 9. Zur epistemologischen Rekonstruktion der Phänomenologie

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onen verstehen, durch welche Kritik Hegels Position als einzig konsistente gerechtfertigt werden soll.154 Zwei Interpretationsansätze verdienen dabei, besonders hervorgehoben zu werden: Interpretationen, die in Anlehnung an Kant die argumentative Struktur der Phänomenologie als »transzendentales Argument«155 oder als Reihe von solchen Argumenten rekonstruieren,156 154

Es sei betont, dass es durchaus möglich ist, die Phänomenologie als Form von Erkenntnistheorie aufzufassen, ohne sie als argumentative Rechtfertigung der Hegelschen Wissenschaft zu deuten. So hat Dina Emundts neuerdings die These aufgestellt, dass die Phänomenologie in dem Sinne als eine epistemologische Theorie zu verstehen sei, als sie darlegt, wie reale Erkenntnisversuche im Modus »wirklicher« (alltäglicher Erfahrung strukturell analoger) Erfahrung auf nicht-argumentativem Wege zu Hegels Position hinführen: »Dem Anspruch nach ist die Phänomenologie ein Unternehmen systematisch durchgeführter und analysierter Erfahrungen, die man im Zusammenhang mit der Frage macht, was Erkenntnis ist. Es soll sich so eine Auffassung der Welt und ihrer Erkennbarkeit bilden, die nicht mehr revidiert werden muss. Diese Auffassung ist nicht eine theoretische Konstruktion, sondern erfahrungsgedeckt« (Emundts 2012, 404–5); vgl. Emundts 2012, 24 f., 78 ff., 85 ff. Es ist klar, dass die Phänomenologie als Theorie, die von »wirklicher Erfahrung« (und den raumzeitlich existierenden Gegenständen, worauf wirkliche Erfahrung laut Emundts immer bezogen ist; vgl. Emundts 2012, 69 ff.) abhängig ist, nicht mehr als argumentativ selbständige Rechtfertigung des Systems verstanden werden kann. Dies wird von Emundts allerdings auch ausdrücklich nicht beansprucht: Die Phänomenologie sei »keine argumentative Rechtfertigung der Hegelschen Position« (Emundts 2012, 24) im Sinne einer »Darstellung begrifflicher Inkonsistenzen anderer Philosophen« (Emundts 2012, 79), sondern ein »therapeutisches Projekt, das […] mit Einübungen in Praktiken, mit Erinnerungen und Wiederholungen arbeitet« (Emundts 2012, 85). Dieses Projekt versteht Emundts als didaktische, nicht-theoretische Form der Rechtfertigung: die Phänomenologie richte sich nicht primär mit Argumenten an diejenigen, die nicht Hegels Standpunkt einnehmen, sondern zeige durch eine Analyse ihrer wirklichen Erfahrungen, wie diese auf nicht-begriffliche Weise dazu »nötigen« (Emundts 2012, 86), Hegels Position einzunehmen. Die Phänomenologie sei also eine »Darstellung von [wirklichen] Erfahrungen […], die Änderungen (hin zu Hegels Philosophie) bewirken, ohne dass Hegels Position begrifflich gerechtfertigt oder überhaupt für sie argumentiert werden muss« (Emundts 2012, 101); vgl. insgesamt Emundts 2012, 85 ff. Zugleich ist die Phänomenologie für Emundts keine strikt systemexterne Betrachtung: sie thematisiere auch bereits die logisch-begrifflichen Prinzipien, welche die Welt laut Hegel strukturieren (vgl. Emundts 76 f.); insofern überschnitten sich Logik und Phänomenologie thematisch (vgl. Emundts 2012, 162), nur die Darstellungsform sei unterschiedlich (vgl. Emundts 2012, 165); vgl. insgesamt Emundts 2012, 162–167. Mir scheint diese Lesart insgesamt vor allem deswegen problematisch, weil Hegel mit der Phänomenologie eine vollständige Destruktion des Alltagswissens, des »natürlichen Bewusstseins«, anstrebt, wie unten sogleich ausführlicher dargelegt wird. Würde Hegel die Erfahrung als nicht zu überwindende Struktur (vgl. Emundts 2012, 107 f.) und d. h. affirmativ in Anspruch nehmen, wäre gerade dieses Ziel nicht erreichbar. 155 Der Begriff des transzendentalen Arguments findet sich nicht bei Kant selbst, sondern geht auf die Kant-Interpretation Strawsons zurück in Strawson 1966 und Strawson 1959. 156 Dieser Interpretationsansatz scheint zurückzugehen auf C. Taylor 1972; als weitere Interpretationen, welche die argumentative Beweisstruktur der Phänomenologie vollstän-

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und Interpretationen, welche die argumentative Strategie der Phänomenologie als eine Form von auf pyrrhonistische Probleme reagierende Erkenntniskritik rekonstruktiv verständlich machen.157 Interpretationen der ersteren Art schreiben ihr eine Begründungsstrategie zu, die die als argumentativ voraussetzungsvoll geltenden und nicht allgemein akzeptierten Thesen der Hegelschen Philosophie als notwendige Bedingungen für allgemein akzeptierte und als wenig voraussetzungsvoll geltende Annahmen auszuweisen gewillt ist, so dass die Hegelschen Thesen in Bezug auf diese allgemein akzeptierten Annahmen als begründet gelten können. Wenn beispielsweise gezeigt wird, dass die sensualistische Position der »sinnlichen Gewissheit« die komplexere, mit einem Ding-Eigenschaft-Dualismus operierende Position der »Wahrnehmung« zu ihrer Bedingung hat, und diese Position wiederum noch komplexere Positionen zu ihrer Bedingung, können diese Positionen als alternativlos gerechtfertigt gelten für denjenigen, der die sensualistische Ausgangsposition akzeptiert. Diese Ausgangsthese wird im Rahmen der transzendentalen Lesart oft am Hegelschen Begriff des natürlichen Bewusstseins festgemacht, welcher als Inbegriff eines allgemein akzeptierten, naiven Alltagswissens ausgelegt wird. Im Verhältnis zu diesem Alltagswissen sollen durch die phänomenologische Wissenschaft immer neuere und komplexere Bedingungen aufgedeckt werden, welche Wissenschaft sich so als Reihe von transzendentalen Argumenten darstellt, durch welche die jeweils komplexere Position in Bezug auf die sie bedingende, auf dem Wissensweg vorangehende Position als gerechtfertigt ausgewiesen wird. Problematisch an dieser Deutung ist die Tatsache, dass Hegel eben nicht wie Kant einen bestimmten Erkenntnisbereich – bei Kant die Erfahrung – als unproblematisch voraussetzt, um dann bezüglich dieses Erkenntnisbereichs die konditionale These aufzustellen: Wenn diese gegebene Erkenntnis als möglich gelten soll, dann müssen auch andere Arten von Erkenntnis – bei Kant apriorische Elemente in der Erfahrungserkenntnis – als deren Bedingung angenommen werden.158 Vielmehr ist Hegels Ziel die vollständige Destruktion des natürlichen Bewusstseins bzw. des Alltagswissens: »es verliert auf diesem Wege [dem Weg des natürlichen Bewusstseins zum wahren Wissen] seine Wahrheit« (GW 9, 56). Dies heißt aber gerade, dass nach Hegeldig oder zum Teil als transzendentales Argument interpretieren, seien hier stellvertretend Norman 1976, 109 ff., Flay 1984, Neuhouser 1986, Pippin 1989 und Stewart 2000 genannt. 157 Vgl. Forster 1989 und Forster 1998, 126–192, insbesondere 182–4, 164 ff.; bedingt kann auch K. Westphal 1989 der pyrrhonistischen Interpretationslinie zugeordnet werden. 158 Vgl. die Kritik an der transzendentalen Lesart in Forster 1998, 161–3 und Horstmann 2006, 26–7. Vgl. auch Stern 2002, 27 f. und Emundts 2012, 83 f., 357 f.

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schem Verständnis keine Alternativen zur Hegelschen Position des »absoluten Wissens« unzerstört bestehen bleiben dürfen, insbesondere auch nicht ein naives Alltagswissen.159 Um dieses Problem zu umgehen, hat Horstmann eine Modifikation dieses Interpretationsansatzes vorgeschlagen, die darin besteht, die argumentative Grundstruktur der Phänomenologie als negatives transzendentales Argument zu interpretieren, das von ihm auch als »transzendentalistisches Argument« bezeichnet wird. Demgemäß zeigt die Phänomenologie, wie nur unter der Bedingung der Hegelschen Position konsistente Erkenntnis konzipierbar ist. Indem aufgewiesen wird, dass und wie alternative Positionen zu inkonsistenten Erkenntniskonzeptionen führen, wird die Hegelsche Position als eine solche, die zeigt, wie Erkenntnis konsistent modellierbar ist, indirekt oder negativ gerechtfertigt.160 Allerdings wird auch diese Modifikation ein gravierendes Problem des transzendentalen Interpretationsansatzes nicht lösen können, das sich dann stellt, wenn die phänomenologische Wissenschaft in dem weiter unten dargelegten Sinne als eine Form der Kritik nicht-Hegelscher Positionen verständlich gemacht werden soll, die die Hegelsche Position ohne Inanspruchnahme metaphysischer bzw. philosophischer Thesen systemextern rechtfertigt. Denn dann bleibt immer noch die Frage offen, wie die epistemischen bzw. kritischen Mittel selbst als alternativlos gerechtfertigt werden können – sei es, dass diese Mittel nun benötigt werden, um alternative Positionen wie im Falle der traditionell-transzendentalen Deutung als andere Positionen bedingend auszuweisen, oder sei es, wie im Falle der transzendentalistischen Interpretation, um sie als inkonsistent auszuweisen. Man könnte dagegen einwenden, diese Rekonstruktionsversuche beträfen nur die formale Beweisstruktur der Phänomenologie, deren inhaltliche argumentative Durchführung aber könne nur aufgrund der Rekonstruktion der im Haupttext der Phänomenologie vorgebrachten Argumente beurteilt werden, die jeweils einzeln gegen die Konsistenz einer bestimmten Erkennt159

Es kommt hinzu, dass Hegel zufolge der Standpunkt des natürlichen Bewusstseins und der des absoluten Wissens oder der eigentlichen Wissenschaft sich diametral entgegenstehen: »Jeder von diesen beyden Theilen [der Standpunkt des natürlichen Bewusstseins und der der Wissenschaft] scheint für den andern das Verkehrte der Wahrheit zu seyn« (GW 9, 23). Als transzendentales Argument würde die Phänomenologie also dasjenige als Bedingung der Ausgangsthese aufzeigen, was dieser Ausgangsthese widerspricht und insofern gerade zur Aufgabe der Ausgangsthese zu nötigen scheint. In dem Moment, wo die Ausgangsthese aufgegeben wird, scheint also die Bedingung, welche zu ihrer Aufgabe nötigt, nicht länger gerechtfertigt sein zu können, so dass ein so verstandenes transzendentales Argument sich gewissermaßen selbst aufheben würde. 160 Vgl. Horstmann 2006, insbesondere 27 ff.

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niskonzeption ins Feld geführt werden. Dieser Einwand verschiebt jedoch lediglich das Problem. Denn auch in Bezug auf diese konkreten Erkenntniskonzeptionen stellt sich jeweils die Frage, wie Hegel über Mittel verfügen kann, Bedingungen einer bestimmten Erkenntniskonzeption auf eine für diese oder andere Erkenntniskonzeptionen verbindliche Weise aufzuzeigen. In Bezug auf die Position der »sinnlichen Gewissheit« heißt dies beispielsweise: Ob nun – traditionell-transzendental – nicht-indexikalisch interpretierbare Strukturen, die von Hegel als »Allgemeines«161 charakterisiert werden, als Bedingung der nur indexikalisch Singuläres als wahr anerkennenden Position der »sinnlichen Gewissheit« verstanden werden oder vielmehr – transzendentalistisch – diese Position nur unter der Bedingung der Wahrheit solcher nicht-indexikalischen Strukturen als konsistente Position konzipierbar ist, in beiden Fällen scheinen externe epistemische Mittel benötigt zu werden, um diesen Bedingungsnachweis zu führen. Wie aber über solche Mittel im Rahmen einer systemexternen Rechtfertigung verfügt werden kann, scheint auf diese Weise nicht verständlich gemacht werden zu können, es sei denn, diese Rechtfertigung wird implizit oder explizit als epistemologische Theorie interpretiert, die sich nicht vollkommen systemextern zu Hegels philosophischen Ansichten verhält, sondern selbst bereits bestimmte positive philosophische Resultate impliziert, die als solche funktional dem System zugeordnet werden müssen. Die Rechtfertigung der kritischen Mittel stellt ebenfalls ein Problem für die Interpretationen der zweiten Art dar, welche als »pyrrhonistisch« bezeichnet werden können. Sie rekonstruieren den Versuch der phänomenologischen Theorie, alternative Positionen als inkonsistent aufzuzeigen, als Inkorporation oder Reaktion auf die pyrrhonistische Strategie der Isosthenie, konträre Positionen als argumentativ gleichkräftig – der griechische Terminus für argumentative Gleichkräftigkeit lautet isostheneia162 – darzustellen. Indem gezeigt wird, dass sich für alle nicht-Hegelschen Positionen gleichüberzeugende konträre Alternativen finden, jene Positionen insofern als inkonsistent gelten können, kann die Hegelsche Position als die einzige, zu der sich keine solche Alternative finden lässt, als konsistent und gerechtfertigt ausgewiesen werden. Hier bleibt einerseits unklar, wie der bloße Aufweis einer alternativen, isosthenen Position von der Ausgangsposition als legitime Kritik akzeptiert und diese Kritik zugleich als eine nicht bloß didaktische Form der Rechtfertigung verstanden werden können soll. Andererseits ist nicht zu sehen, welche 161 162

Vgl. GW 9, 65, 69–70. Vgl. zu diesem Terminus 3.1 und 3.2.1.

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methodischen Mittel der phänomenologischen Wissenschaft in dieser Interpretation zur Verfügung stehen, um die Hegelsche Position als selbst nichtisosthene Position auszuweisen.163 Ausdrücklich sei angemerkt, dass die hier vorgetragene Kritik diese epistemologischen Deutungen nur insoweit trifft, als diese auch tatsächlich mit dem Anspruch auftreten, die phänomenologische Wissenschaft als argumentativ selbständige systemexterne Rechtfertigung von Hegels durch sein System repräsentierten philosophischen Ansichten verständlich zu machen.

1.7 Metaphilosophische Rekonstruktion der Funktion der Phänomenologie Als das im Kontext dieser Arbeit gravierendste Problem kann die Tatsache angesehen werden, dass beide epistemologischen Interpretationsansätze auf unterschiedliche Weise nicht vermögen, die spezifische Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie als systemexterne Rechtfertigung der Hegelschen Philosophie verständlich zu machen. Wird die Beweisstruktur der Phänomenologie als transzendentales Argument gedeutet, werden ihr philosophische Leistungen unterstellt, durch welche die Hegelsche Philosophie, sofern sie als durch diese Leistungen gerechtfertigt angesehen wird, nicht mehr gleichzeitig als begründungsfunktional autonome Theorie verstanden werden kann. Die dadurch drohende (direkte) Abhängigkeit des Systems von der Phänomenologie scheint wieder zur systeminternen Lesart zurückzuführen, der gemäß die Phänomenologie als die eigentliche Begründungsdisziplin des Systems fungiert. Interpretiert diese Deutung die argumentative Funktion der Phänomenologie gewissermaßen zu stark, verbindet die pyrrhonistische Deutung zu schwache Leistungen mit der Phänomenologie, so dass es schwer fällt, mit der Phänomenologie noch den strengen wissenschaftlichen Begründungscharakter zu verknüpfen, den sie für Hegel besitzen soll. Die pyrrhonistische Interpretationslinie scheint insofern wieder zur didaktischen Lesart der Funktion der Phänomenologie zurückzuführen. In dieser Arbeit soll die Phänomenologie unter einem anderen Gesichtspunkt rekonstruiert werden, der anders als die epistemologischen Interpretationsansätze erlaubt, die spezifische Begründungsfunktion der Phänomenologie verständlich zu machen. Wenn Hegels Anspruch ernst genommen wird, dem zufolge die Theorie, auf die sich die phänomenologische Wissen163

Für eine ausführlichere Kritik an Forsters Interpretation sei auf 4.3 verwiesen.

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schaft begründend bezieht, selber schon die vollständige Begründung der Hegelschen Philosophie ist, kann die phänomenologische Wissenschaft nicht in derselben Weise als Begründung der Hegelschen Philosophie verstanden werden. Die phänomenologische Theorie und das System werden in diesem Fall vielmehr als verschiedene Typen von Begründung expliziert werden müssen. Nun ist es sicherlich möglich, dem Hegelschen System als metaphysischem Typ philosophischer Grundlegung andere Typen philosophischer Grundlegung – etwa transzendentaler, epistemologischer, linguistischer, (sozial-) pragmatischer Art – gegenüberzustellen. Dadurch würde man jedoch noch immer nicht dem Hegelschen Anspruch gerecht werden, dass das System die vollständige Grundlegung aller Sachverhalte ist, die letztlich wahr und seiend sind. Nennt man die Theorieform, die sich auf Sachverhalte bezieht, die jeweils als letztlich wahr und seiend gelten, »philosophisch«, so stellt das System nach Hegel eine vollständige philosophische Grundlegung dar, die als solche keine alternativen philosophischen Grundlegungen oder alternativen Formen philosophischer Begründung neben sich duldet. Eine weitere philosophische Begründung neben dem System – sei es auch in einer nichtmetaphysischen Form –, würde zwangsläufig zu einer Konkurrenz um das Primat der Grundlegung führen, die entweder zugunsten des Systems oder der alternativen philosophischen Grundlegung entschieden werden müsste. Mit anderen Worten, insoweit in Bezug auf das System der Anspruch erhoben wird, mit diesem eine vollständige philosophische Begründung aller für letztlich wahr und seiend gehaltenen Sachverhalte geleistet zu haben, kann ›philosophische Grundlegung‹ auch nur systemintern auftreten. Da die Phänomenologie als systemexterne Grundlegung des Systems also nicht als philosophische Begründungsform verständlich gemacht werden kann, soll in dieser Arbeit der Versuch unternommen werden, sie als metaphilosophische Form der Grundlegung verständlich zu machen. Mit diesem Terminus164 soll einerseits die Eigenart des Gegenstandes der Phänomenologie zum Ausdruck gebracht werden: in ihr werden nach Hegelschem Selbstverständnis nicht solche Sachverhalte thematisiert, welche seit jeher Gegenstand der Philosophie sind – etwa das Sein, die Natur oder die Erkenntnis –, sondern philosophische Theorien als solche.

164

Auch vom Begriff der »Einleitung« soll in dieser Arbeit weiterhin die Rede sein; er soll allerdings, anders als der Begriff der metaphilosophischen Theorie, nicht als explikative Kategorie fungieren, sondern in dem oben bereits terminologisch eingeführten Sinne (vgl. 1.1.2, Anfang) auf unspezifische Weise die Aufgabe der argumentativen Vorbereitung bezeichnen. Metaphilosophische Rekonstruktion der Phänomenologie

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Andererseits soll dieser Terminus die methodische Eigenart der Phänomenologie markieren: Während das System, wiederum nach Hegelschem Selbstverständnis, Hegels Version eines Theorietypus – hier »philosophische« Theorie genannt – darstellt, der Wahrheitsansprüche bezüglich dessen erhebt, was als letztlich wahr und seiend gilt, so die Phänomenologie einen Typus von Theorie über solche theoretischen Bemühungen. Dies heißt auch, dass die phänomenologische Theorie nach Hegelschem Selbstverständnis keine Wahrheitsansprüche bezüglich der Gegenstände der Philosophie erhebt, sondern solche Wahrheitsansprüche auf metatheoretische Weise kritisch zu ihrem eigenartigen Gegenstand macht.165 In dieser Arbeit wird also, um die oben angeführte Formulierung Hayms zu variieren,166 die These vertreten, dass in der Phänomenologie ein metaphilosophisches Beweisen mit einem philosophischen Nichtbeweisen verbunden wird. Durch diese Deutung kann das Verhältnis der Begründungsleistungen von Phänomenologie und System tatsächlich so verständlich gemacht werden, dass sie sich nicht begründungsfunktional überschneiden: Als metaphilosophische Theorie erhebt die Phänomenologie keine Wahrheitsansprüche bezüglich der Sachverhalte, welche im System thematisiert werden, sondern prüft metatheoretisch die Wahrheitsansprüche philosophischer Theorien bezüglich solcher Sachverhalte. Als Ergebnis kann am Ende dieses Kapitels festgehalten werden: Wenn man die Phänomenologie als systemexterne Rechtfertigung im Sinne einer selbständigen Begründungsleistung interpretiert – wofür m. E. ausreichend Textbelege, Indizien und interpretatorische Überlegungen angeführt worden sind –, dann muss man sie auch als metaphilosophische Theorie auffassen. 165

Auch Stephan Ellias interpretiert die Phänomenologie als metaphilosophische Überlegung, welche auf Hegels eigentlichen philosophischen Standpunkt vorbereitet (vgl. Ellias 2007, 7, 13). Während in dieser Arbeit aber die Phänomenologie qua metaphilosophische Überlegung als strikt systemexterne Überlegung verstanden wird, die zugleich eine selbständige Beweisfunktion hat, gilt sie Ellias als didaktische Überlegung – »ultimately its force is only didactical« (Ellias 2007, 14) –, die argumentativ von Hegels Philosophie bzw. dessen System argumentativ abhängig ist: Sie ist ein »pedagogical system in terms of its function« (Ellias 2007, 93), zugleich aber »an indispensable and organic part of Hegel’s philosophy« (Ellias 2007, 8), der methodisch auf die Logik angewiesen sei (vgl. Ellias 2007, 116 ff.; vgl. auch 58 ff. und 65 ff.). Diesem didaktischen Verständnis gemäß gilt Ellias die Phänomenologie nicht deshalb als metaphilosophisch, weil sie, wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit ausgeführt wird, als spezifisch metaphilosophische Theorie philosophische Theorien zu ihrem Gegenstand macht, sondern weil sie als »account of the world and totality which is geared not cognitively but educationally« (Ellias 2007, 138) eine »existential conversion« bewirken (vgl. Ellias 2007, 98 ff., 109 f., 527 ff.) und insofern keine Begründung, sondern eine Form von Therapie (vgl. Ellias 2007, 553 ff.) leisten soll. 166 Haym 1857, 251; vgl. 1.1.2 (Ende).

Metaphilosophische Rekonstruktion der Phänomenologie

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Welche systematischen Gründe für die Interpretation der Phänomenologie als metaphilosophische Theorie sprechen, ist aber noch unklar. Im Laufe dieser Arbeit wird sich zeigen, dass die Phänomenologie deshalb als metaphilosophische Theorie aufgefasst werden muss, weil sie nur so adäquat auf das Problem der isosthenen Vielfalt philosophischer Theorien reagieren kann. Bevor dies aber im dritten Teil dieser Arbeit ausgeführt werden kann, müssen im zweiten Teil dieser Arbeit der Begriff der metaphilosophischen Theorie (Kapitel 2) und das ihr zugrundeliegende Problemverständnis (Kapitel 3) näher erläutert werden.

teil ii metaphilosophie

2. Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

Metaphilosophische Reflexion – Überlegungen über Philosophie im weitesten Sinne – hat die Philosophie seit ihren Anfängen begleitet. In dieser Arbeit zur argumentativen Funktion der Phänomenologie als systemexterner Rechtfertigung von Hegels philosophischen Ansichten interessieren allerdings nur ganz bestimmte metaphilosophische Überlegungen: solche, die ihrem Selbstverständnis nach argumentativ unabhängig von der jeweils reflektierten philosophischen Theorie sowie zugleich für diese begründungsrelevant sind, und insofern einen eigenen Theorietyp darstellen, der mit spezifisch metaphilosophischen Argumentationsmitteln verbunden ist. Während die Existenz von metaphilosophischen Überlegungen im allgemeinen Sinne – jede Form der Rede über Philosophie – kaum bestritten wird, wird die Möglichkeit metaphilosophischer Theoriebildung im engeren Sinne als einer für die Philosophie begründungsrelevanten, aber von ihr verschiedenen und argumentativ unabhängigen Theorieform oft mit dem Argument bezweifelt, dass eine metaphilosophische Theorie nichts anderes als ein Spezialfall einer philosophischen Theorie sein könne, die zu Unrecht beanspruchen würde, allein durch ihren vermeintlich philosophiereflexiven Standpunkt den von ihr als philosophischen zum Gegenstand gemachten Theorien in der Begründung überlegen zu sein. So meint etwa Geldsetzer, dass alle Konzeptionen von Metaphilosophie seit dem 18. Jahrhundert in Wahrheit nur eine Fortsetzung der Metaphysik darstellen.1 1

Laut Geldsetzer gibt es »kein Transzendieren der Philosophie oder der Metaphysik in Richtung auf eine Meta-Philosophie oder Meta-Metaphysik« (Geldsetzer 1974, 250), denn die Metaphysik sei »seit Aristoteles’ erster Philosophie immer der Ort, das Diskussionsforum gewesen, wo über Letztbegründungen verhandelt und Reflexion ins non-plusultra getrieben wurde« (Geldsetzer 1974, 249); daher bleibe der Philosophie »nur der Ausbau und die Fortentwicklung ihrer traditionellen Kerndisziplin Metaphysik« (Geldsetzer 1974, 255). Negativ über die Möglichkeit metaphilosophischer Theoriebildung im engeren Sinne äußern sich auch Jürgen Mittelstraß – Metaphilosophie stelle keine »spezielle Theoriebildung innerhalb oder außerhalb der Philosophie dar« (Mittelstraß 1995b) – und Herbert Schädelbach: »Was sich […] an allen Einzelwissenschaften demonstrieren läßt, gilt für die Philosophie nicht in gleicher Weise. Sie kann ihre Metatheorie – also die Untersuchung dessen, was Philosophie sei – nicht an eine Meta-Metatheorie delegieren; denn die Wissenschaftstheorie als Metatheorie der Wissenschaften ist selbst schon eine philosophische Disziplin« (Schnädelbach 1998, 37–38); ähnlich urteilen Jocelyne Couture, Kai Nielsen (Couture/Nielsen 1993, 1 f.) und Timothy Williamson (Williamson 2007, ix–x), Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

Viele dieser in Bezug auf metaphilosophische Theoriebildung skeptischen oder kritischen Autoren richten sich dabei gar nicht gegen eine bestimmte Form metaphilosophischer Theorie, sondern bestreiten die Möglichkeit metaphilosophischer Theoriebildung schlechthin und führen dafür bloß terminologische Gründe an. Dies wird besonders deutlich bei Geldsetzer: der Terminus für den Ort, wo traditionell Überlegungen fundamentalster Art angestellt werden, laute »Philosophie«, und aus diesem Grund müsse es sich auch bei Untersuchungen, welche gegenüber bestehenden philosophischen Theorien einen gleichfundamentalen oder fundamentaleren Begründungsanspruch erheben, per definitionem um Philosophie handeln; fundamentalste Annahmen, Sachverhalte oder Ansprüche seien m. a. W. eo ipso philosophischer Natur.2 Dagegen kann dreierlei eingewandt werden. Zum Ersten scheint es mir unplausibel, jede Erkenntnisform, mit der implizit oder explizit fundamentalste Wahrheitsansprüche erhoben werden, von vornherein als »philosophisch« zu bezeichnen, da in diesem Fall der Begriff der Philosophie jede Diskriminierungskraft verlöre. Zum Zweiten scheint eine solche Kritik abhängig von einem ganz bestimmten Verständnis von Philosophie, dem mit gleichem Recht alternative Bestimmungen von Philosophie entgegengesetzt werden können, welche sehr wohl mit der Möglichkeit metaphilosophischer Theoriebildung verträglich sind. Zum Dritten ist, wenn auch die Möglichkeit einer metaphilosophischen Theorieform nicht auf Anhieb einsichtig gemacht werden kann, nicht zu bestreiten, dass sich seit Kant faktisch viele Konzeptionen vorfinden, die sich ihrem Selbstverständnis nach als metaphilosophische Theorien im oben angedeuteten Sinne verstehen.3 Als prominentes Beispiel der Gegenwart können die Arbeiten von Nicholas Rescher genannt werden.4 und auch Raatzsch scheint am Ende seiner Studie Philosophiephilosophie zu demselben Ergebnis zu kommen (Raatzsch 2000, 96 f.). 2 Vgl. Geldsetzer 1974, 247–251. 3 Das Vorhandensein einer solchen Theorieformation wird eindrucksvoll gerade durch Geldsetzer selbst belegt, der zwar die Möglichkeit konsistenter metaphilosophischer Theoriebildung bestreitet, zugleich aber die zunehmende Präsenz solcher Theorien bedauernd konstatiert, vgl. Geldsetzer 1974, insbesondere 251 ff., Geldsetzer 1968 und Geldsetzer 1989. Viele Materialien finden sich auch in Rescher 1985, 3–16, Raatzsch 2000 und besonders ausführlich in der auf deutschsprachige Konzeptionen konzentrierten und z. T. stark tabellarischen Darstellung in Kramer 1967, 31–164. 4 Vgl. 2.2.2 unten. Als weiteres Beispiel sei Bernhard Taureck genannt. Taureck legt seiner Studie Philosophie und Metaphilosophie folgende Bestimmung von Metaphilosophie zugrunde: »Metaphilosophie bedeutet metatheoretische Beschreibung und Begründung von Philosophie« (Taureck 1998, 5). Eine metatheoretische Begründung von Philosophie sei erforderlich geworden, weil die »metaphysischen Fragen der Philosophie […] sich in

Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

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Akzeptiert man (einen) diese(r) Einwände, dann kann die Möglichkeit von Metaphilosophie nicht von vornherein und bloß aus terminologischen Gründen als inkonsistente Theorieform ausgeschlossen werden, sondern es werden in jedem Einzelfall spezifische Argumente gegen die Möglichkeit dieser Theorieform vorgebracht werden müssen. In dieser Arbeit wird nur Hegels metaphilosophische Theorie gegen solche Einwände zu verteidigen sein. Da es sich bei der Wortschöpfung »Metaphilosophie« und ihren semantischen Äquivalenten wie »Philosophie der Philosophie« und »Protophilosophie« um relativ neue Wortbildungen handelt, soll in diesem Kapitel zunächst ein terminologisches Vokabular entwickelt werden, welches erlaubt, diejenigen Theorien über Philosophie, welche in argumentativer Selbständigkeit eine Begründungsfunktion für diese anstreben, einheitlich als »metaphilosophische Theorien« zu beschreiben. Dieser Begriff der metaphilosophischen Theorie wird zwar prinzipiell in systematischer Absicht entwickelt, kommt hier aber lediglich als historiographisches Instrument zur Rekonstruktion historischer Konstellationen zum Einsatz, ähnlich wie etwa die neuzeitliche Wortschöpfung »Epistemologie« als Beschreibungskategorie für philosophische Theorien der Antike zur Anwendung gelangt.5 Es wird in dieser Arbeit also nicht der Anspruch erhoben, eine eigenständige metaphilosophische Theorie zu entwickeln; stattdessen sollen einzelne metaphilosophische Theorieformationen historisch-rekonstruktiv (und d. h. metatheoretisch) zum Gegenstand gemacht werden, mit dem Ziel, die argumentative Funktion von Hegels Phänomenologie besser verständlich machen zu können. Im Folgenden werden zunächst die Kriterien dargelegt, welche erlauben, metaphilosophische Theoriebildungen zu identifizieren (2.1), um anschließend die so gewonnene Begriffsbestimmung in Abgrenzung zu alternativen Verwendungsweisen des Terminus »Metaphilosophie« näher zu verdeutlichen (2.2).

metaphilosophische Fragen verwandelt« (ebd.) haben: »Es geht nicht mehr primär um die Möglichkeiten einer Begründung der Physis, sondern um Begründung der Möglichkeit von Philosophie« (ebd.). Allerdings wird nicht gänzlich klar, ob es sich bei dem, was Taureck als metatheoretische Begründung der Philosophie bezeichnet, um eine sich zur philosophischen Begründung schlechthin alternativ verhaltende Argumentationsform handeln soll. Taureck selbst meint, dass die Metaphilosophie »keine neue Disziplin« (Taureck 1998, 10) darstellt. Vgl. insgesamt Taureck 1998, 5–10 und 200–202. 5 Vgl. beispielsweise die Beiträge in dem Sammelband zur antiken Erkenntnistheorie Epistemology (Everson 1990). Vgl. zur Wortschöpfung »Erkenntnistheorie« Diemer 1972.

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

2.1 Zum Begriff der metaphilosophischen Theorie Von metaphilosophischer Theoriebildung soll in der Folge immer dann die Rede sein, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: eine Theorie (i) handelt von Sachverhalten, die ihr als philosophische Theoriebildung (im Sinne einer Gesamttheorie über theorieexterne Sachverhalte) gelten; (ii) ist ihrem Selbstverständnis nach argumentativ unabhängig von dem, was ihr (irgendwie) als philosophische Theoriebildung gilt; (iii) ist ihrem Selbstverständnis nach für das, was ihr als (zu begründende) philosophische Theoriebildung gilt, begründungsrelevant.6 Zunächst einige Bemerkungen zum ersten Kriterium. Dieses Kriterium legt fest, was für metaphilosophische Überlegungen im Allgemeinen gelten soll. »Metaphilosophisch« sollen demnach alle Überlegungen heißen, welche implizit oder explizit davon handeln, was jeweils als philosophische Theorie verstanden wird.7 Solche Überlegungen können die unterschiedlichsten Funktionen erfüllen und in den unterschiedlichsten – auch nicht-philosophischen – Kontexten angestellt werden.8 Sie können einzelne philosophische Theorien oder philosophische Theoriebildung im Ganzen, beispielsweise deren Möglichkeit, thematisieren. Es können schließlich verschiedene Arten metaphilosophischer Überlegungen isoliert oder in Kombination miteinander9 vertreten werden.

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Sind die Kriterien (ii) und (iii) erfüllt, wird in dieser Arbeit in abkürzender Redeweise von »(argumentativ) selbständiger Begründungsrelevanz« die Rede sein; Überlegungen sind selbständig begründungsrelevant für das, was ihnen als philosophische Theorie gilt, wenn sie als von philosophischer Theoriebildung argumentativ unabhängige Überlegungen für philosophische Theoriebildung begründungsrelevant sein wollen. 7 In dieser Arbeit wird in abkürzender Redeweise statt von »Überlegungen darüber, was als philosophische Theorie gilt« oft von »Überlegungen über Philosophie« gesprochen werden. 8 Um diese vielfältigen Kontexte, in denen metaphilosophische Überlegungen auftreten können, angemessen zu beschreiben, wird in dieser Arbeit der Begriff der »Metaphilosophie« demjenigen der »Philosophie der Philosophie« vorgezogen. Denn letzterer erlaubt anders als ersterer Begriff nicht, auf klare Weise zwischen einer Objekt- und einer Subjektdisziplin terminologisch zu unterscheiden, wodurch er es bereits terminologisch erschwert, zwischen Theorien, die »Philosophie« zum Gegenstand haben, und Theorien, die Objekt solcher »Philosophie« reflektierenden Theorien sind, disziplinär zu differenzieren. 9 Beispielsweise indem verschiedene metaphilosophische Überlegungskomplexe im gleichen Theorieensemble jeweils unterschiedliche Funktionen – etwa philosophiemethodologische Überlegungen und Überlegungen über die Sinnfunktion der Philosophie – nebeneinander wahrnehmen.

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Es beziehen sich allerdings offenkundig nicht alle Überlegungen über »Philosophie« auch auf philosophische Theorien. Folgende Überlegungen sollen nicht als »metaphilosophische Überlegungen« gelten: erstens Überlegungen, welche, der Verwendung des Wortes »Philosophie« zum Trotz, sich bei dem, was ihnen als »Philosophie« gilt, gar nicht auf theoretische, d. h. explanative Ansichten (Meinungen, Überzeugungen usw.) zu beziehen meinen; zweitens Überlegungen, welche sich bei dem, was ihnen als »Philosophie« gilt, gar nicht auf theoretische Ansichten über die Gesamtheit dessen, was wahr und seiend ist, sondern bloß über Einzelsachverhalte zu beziehen meinen. Es gilt demnach folgende Minimaldefinition: Eine »philosophische Theorie« ist eine Theorie, die (dem Selbstverständnis der metaphilosophisch reflektierenden Überlegungen gemäß) (i) von dem handelt, was (im Ganzen) allein wahr und seiend ist, und (ii) in Bezug darauf eine bestimmte Begründungsleistung erbringt. Eine philosophische Theorie erhebt also gemäß dieser Definition erstens einen allumfassenden Wahrheitsanspruch bezüglich der Gesamtheit dessen, was überhaupt seiend ist, oder, anders formuliert, bezüglich der Gesamtheit der von ihr angenommenen theorieexternen Sachverhalte.10 Und eine philosophische Theorie beansprucht zweitens – dies folgt aus ihrem Theoriecharakter –, die von ihr gemachten Annahmen über theorieexterne Sachverhalte auf eine bestimmte Weise zu begründen; anders formuliert: sie verbindet mit den von ihr vertretenen Thesen über theorieexterne Sachverhalte einen bestimmten Beweisanspruch.11 Wenn also Überlegungen in irgendeiner Weise begründete Ansichten über die Gesamtheit dessen, was überhaupt seiend ist, zu thematisieren meinen, 10

Der Begriff »was im Ganzen wahr und seiend ist« wird hier in einem sehr weiten Sinne verstanden: mit ihm soll lediglich in einem unspezifischen Sinne der Gegenstand philosophischer (auch praktisch-philosophischer und ästhetischer) Theorien benannt sein. Mit »theorieexternen Sachverhalten« sind dementsprechend die Sachverhalte (oder im Falle einer monistischen Theorie: der Sachverhalt) gemeint, die in einer philosophischen Theorie für wahr gehalten werden. Mit dem Begriff »extern« soll nur zum Ausdruck gebracht sein, dass es sich um Sachverhalte handelt, die selbst keine philosophischen Theorien sind; mit ihm soll also keine bestimmte ontologische These verbunden sein. Solche theorieexternen Sachverhalte können das sein, was Gegenstand der traditionellen Ontologie oder Metaphysik war, sie können aber auch z. B. epistemische oder sprachliche Strukturen (soweit diese nicht als »theoretische Strukturen« angesehen werden) sein. 11 Mit »Begründung« oder »Beweis« ist in einem unspezifischen Sinne jegliche Strategie gemeint, philosophische Wahrheitsansprüche auf argumentativ verbindliche Weise auszuweisen; was argumentative Verbindlichkeit in verschiedenen philosophischen Theorien (bzw. in Bezug auf solche Theorien) genauer heißt, soll durch diese Begriffe offengelassen werden. Auch Theoretiker wie beispielsweise Jacobi, die sich explizit gegen die Möglichkeit des Beweisens von Thesen über die Gesamtheit dessen, was überhaupt seiend ist, richten, leisten nach dieser Bestimmung einen philosophischen Beweis, wenn sie ihre begründungskritischen Ansichten auf argumentativ verbindliche Weise ausweisen. Zum Begriff der metaphilosophischen Theorie

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

handelt es sich nach diesen Festlegungen um metaphilosophische Überlegungen.12 Offen bleibt in dieser Festlegung, ob metaphilosophische Überlegungen den Wahrheitsanspruch der von ihnen reflektierten philosophischen Theorie (jeweils ganz oder teilweise) bejahen, ablehnen oder sich neutral zu ihm verhalten. Obwohl prinzipiell von der Selbstdeutungsperspektive der in Frage kommenden Überlegungen ausgegangen wird, fallen metaphilosophische Überlegungen so verstanden nicht zusammen mit Überlegungen über dasjenige, was von diesen Überlegungen jeweils wörtlich als »Philosophie« (oder »philosophy«, »filosofia« usw.) bezeichnet wird. Denn einerseits haben auch Überlegungen beispielsweise über »Metaphysik«, »Wissenschaft«, »das höchste Wissen« oder »theologia« nach diesen Festlegungen als metaphilosophische Überlegungen zu gelten, wenn es sich bei dem Begriff, auf den sie sich beziehen, diesen Überlegungen zufolge um begründete Ansichten darüber, was überhaupt wahr und seiend ist, handelt.13 Und andererseits sind, umgekehrt, nicht alle Überlegungen über theorieexterne Sachverhalte, die mit dem Wort »Philosophie« belegt werden, nach diesen Festlegungen metaphilosophische Überlegungen. So sind zum Einen gegenständliche Verwendungsweisen des Wortes »Philosophie« ausgeschlossen, in denen der Terminus »Philosophie« nicht auf eine Theorie-Ebene verweist, sondern selbst als Teil dessen angesehen wird, was als überhaupt wahr und seiend gilt,14 zum Anderen sind sol12

Es sei betont, dass die Frage, ob Überlegungen begründete Ansichten über die Gesamtheit dessen, was wahr und seiend ist, also eine »philosophische Theorie« zum Gegenstand machen, vollständig vom Selbstverständnis der reflektierenden Überlegungen abhängig gemacht wird: Der gleiche Aussagekomplex – etwa eine auf der Straße ausgesprochene Tirade gegen »gesellschaftliches Unrecht« – kann, je nach Selbstverständnis der die Tirade reflektierenden Überlegungen, als philosophische Überlegung oder nicht als philosophische, sondern etwa alltägliche Überlegung verstanden werden. Nur in ersterem Fall handelt es sich bei den die Tirade reflektierenden Überlegungen um »metaphilosophische Überlegungen«. Das Selbstverständnis der reflektierten Überlegungen spielt dagegen bei der Frage, ob metaphilosophische Überlegungen vorliegen, keine Rolle; wenn aber, wie in dieser Arbeit meistens der Fall ist, die reflektierenden und reflektierten Überlegungen von demselben Theoretiker angestellt werden, wird natürlich keine Differenz im Selbstverständnis bestehen. 13 Allerdings kann es im Einzelfall schwierig sein, ausgehend vom Selbstverständnis festzustellen, was genau unter einer philosophischen Theorie verstanden wird. Dass dies aber im Prinzip entschieden werden kann, zeigt eindrucksvoll der ausführliche Artikel Philosophie im Historischen Wörterbuch der Philosophie (HWdP 7, 572–879). 14 In diesem Fall wäre es auch gar nicht mehr möglich, metaphilosophische Reflexion als eigenständige Überlegungsform von philosophischen Reflexionsformen zu unterscheiden. Als klassisches Beispiel einer solchen gegenständlichen Verwendung des Wortes »Philosophie« seien die Überlegungen genannt, die Platon im Symposion über philosophia anstellt. Im Symposion wird im Rahmen einer Stufenleiter des Seins Philosophie

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che Verwendungsweisen des Wortes »Philosophie« exkludiert, wo mit ihm lediglich (begründete) Ansichten über Einzelsachverhalte gemeint sind, beispielsweise eine »Philosophie«, die sich auf ein einzelnes Leben – etwa eine »persönliche Philosophie« im Sinne einer praktisch-konkreten Lebenslehre – oder auf einzelne Institutionen – etwa eine »Unternehmensphilosophie« im Sinne eines Systems von Leitsätzen für das konkrete Firmenhandeln – beschränkt. Nun zum zweiten Kriterium. Hegel konzipiert seine Phänomenologie als Theorie, die argumentativ unabhängig sein soll von dem, was ihm als philosophische Theoriebildung gilt, d. h. sowohl von jeder fremden als auch von seiner eigenen philosophischen Theorie.15 Daher interessieren in dieser Arbeit nur solche metaphilosophischen Überlegungen, die argumentativ unabhängig von dem sein wollen, was ihnen irgendwie als philosophische Theorie gilt. Dabei kann es sich bei dem, was jeweils als philosophische Theorie gilt, um eine konkrete Theorie, eine Gruppe von Theorien oder die Gattung philosophischer Theoriebildung generell handeln. Mit der argumentativen Unabhängigkeit einer Theorie von einer anderen Theorie ist in einem unspezifischen Sinne gemeint, dass diese Theorie ihrem Selbstverständnis nach keine Annahmen aus dieser Theorie voraussetzt. Was dies genauer heißt, kann von Theoretikern, die mit ihren metaphilosophischen Überlegungen eine argumentative Unabhängigkeit anstreben, unterschiedlich verstanden werden und soll durch diese Bestimmung offengelassen werden. Metaphilosophische Überlegungen können in Bezug auf dieses Kriterium prinzipiell in zwei Gruppen eingeteilt werden: in solche, die von dem, was ihnen irgendwie als philosophische Theoriebildung gilt, nicht argumentativ unabhängig sein wollen, und in solche, welche dies anstreben. Erstere Überlegungen sollen in dieser Arbeit »philosophieimmanente«, letztere »philosophieexterne metaphilosophische Überlegungen« heißen. Philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen sind an erster Stelle Überlegungen, die innerhalb einer philosophischen Theorie über diese Theorie angestellt werden; die metaphilosophischen Überlegungen stellen in diesem Fall gleichsam eine argumentative Selbstanwendung der Ein(verstanden als erōs) zwischen dem Unvergänglichen (Göttlichen und Schönen) und dem Vergänglichen situiert und insofern als Teil einer Beschreibung dessen, was ist, verstanden (Symposion 204–212). In anderen Platonischen Dialogen können allerdings durchaus auch nicht-gegenständliche Bestimmungen von Philosophie angetroffen werden; vgl. Kranz 1989, 576–583. 15 Hegels eigene philosophische Theorie, das System, beansprucht, wie im ersten Kapitel dargelegt, die vollständige Begründung aller Ansichten darüber zu sein, was letztlich wahr und seiend ist. Andere philosophische Theorien gelten Hegel dagegen als defizient; vgl. dazu 5.3.

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

sichten der philosophischen Theorie auf diese selbst dar. Aber auch kritischpolemische oder theoriestrategische Überlegungen, die innerhalb einer philosophischen Theorie (oder vom Standpunkt einer philosophischen Theorie aus) über eine andere philosophische Theorie angestellt werden, sind philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen: sie meinen zwar, argumentativ unabhängig von den Theorien zu sein, welche sie kritisch zum Gegenstand machen, nicht aber von der eigenen philosophischen Theorie; sie sind also ihrem Selbstverständnis nach nicht argumentativ unabhängig von dem, was ihnen irgendwie als philosophische Theorie gilt.16 Philosophieimmanente Überlegungen verhalten sich nicht neutral zum Wahrheitsanspruch der von ihnen reflektierten Theorien. Handelt es sich um Überlegungen, die innerhalb einer philosophischen Theorie über die eigene Theorie angestellt werden, wird der Wahrheitsanspruch der reflektierten Theorie, auf die ja begründungsfunktional rekurriert wird, bejaht. Werden dagegen aus der Perspektive einer eigenen philosophischen Theorie fremde Theorien reflektiert, wird der Begründungsanspruch dieser fremden Theorien, deren Wahrheitsansprüche ja mit der eigenen Theorie unverträglich sind, abgelehnt.17 Philosophieexterne metaphilosophische Überlegungen sind entweder einzelwissenschaftliche oder alltägliche Überlegungen über Philosophie18 oder aber metaphilosophische Theorieüberlegungen. Unter einzelwissenschaftlichen und alltäglichen Überlegungen über Philosophie verstehe ich philosophieexterne metaphilosophische Überlegungen, die bei der Erklärung bzw. Beschreibung dessen, was ihnen als philosophische Theoriebildung gilt, auf Sachverhalte rekurrieren, die in irgendeiner Weise für theorieextern (gegeben) gehalten werden. Mit einzelwissenschaftlichen metaphilosophischen Überlegungen sind näher theoretische Überlegungen über das, was als Phi16

Da philosophieimmanenten metaphilosophischen Überlegungen oft nur die eigene philosophische Theorie als »Philosophie« im eigentlichen Sinne gilt, werden solche fremde Theorien allerdings oft nicht als »philosophische Theorien«, sondern als defiziente Ausdrucksformen – »Meinungen«, »Ansichten«, »doxai« usw. – dessen, was eine philosophische Theorie im eigentlichen Sinne ist, begriffen; vgl. 3.1 und 3.3 (zweites Indiz). Als klassisches Beispiel für philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen über fremde Theorien seien die metaphilosophischen Überlegungen genannt, die Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik über die Ansichten seiner Vorgänger anstellt; vgl. dazu 3.3.1. 17 Vgl. dazu 9.2.1. 18 Wenn metaphilosophische Überlegungen, die sich als einzelwissenschaftliche oder alltägliche verstehen, nicht argumentativ unabhängig von dem, was ihnen irgendwie als philosophische Theorie gilt, zu sein meinen – wenn sie also auf philosophische Annahmen über theorieexterne Sachverhalte rekurrieren –, handelt es sich nach den hier vertretenen Festlegungen nicht um philosophieexterne, sondern um philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen.

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losophie gilt, gemeint, die nicht rekurrieren wollen auf Annahmen über die Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte, sondern auf Annahmen über eine bestimmte Teilmenge dieser Sachverhalte;19 sie erfüllen also Kriterium (ii), nicht aber Kriterium (i) der Minimaldefinition von Philosophie. Beispiele solcher Überlegungen wären psychologische oder soziologische Überlegungen über Philosophie,20 soweit diese auf Annahmen über theorieexterne Sachverhalte rekurrieren. Mit alltäglichen Überlegungen über Philosophie sind alle Überlegungen über Philosophie gemeint, die sich nicht als theoretische Überlegungen verstehen; dies können also beispielsweise auch Überlegungen sein, die in einem religiösen oder ästhetischen Kontext angestellt werden. Solche Überlegungen können sowohl auf die Gesamtheit21 oder auf eine Teilmenge der Sachverhalte rekurrieren, die für theorieextern gehalten werden; im ersteren Fall erfüllen sie Kriterium (i) der Minimaldefinition, nicht aber Kriterium (ii); im letzteren Fall erfüllen sie beide Kriterien nicht. Auch einzelwissenschaftliche und alltägliche Überlegungen über Philosophie verhalten sich nicht neutral zum Wahrheitsanspruch der von ihnen reflektierten Theorien. Sie rekurrieren auf Annahmen über theorieexterne Sachverhalte und überschneiden sich in Bezug auf diese Annahmen mit der reflektierten Theorie, die ja den reflektierenden Überlegungen zufolge von 19

Ich differenziere nicht zwischen »philosophischen« und »nicht-philosophischen« Methoden. Wenn Überlegungen meinen, dass diejenigen (ihrer Meinung nach) einzelwissenschaftlichen Annahmen, auf die sie rekurrieren, die Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte auf argumentativ verbindliche Weise beschreiben, haben auch sie als philosophieimmanente Überlegungen zu gelten. Wird beispielsweise (im Rahmen einer naturalistischen, historistischen oder kulturalistischen Position) der Anspruch erhoben, dass mit den empirisch-physikalischen Methoden der Naturwissenschaft(en) oder aber mit den empirischen-historischen Methoden der Geschichts- oder Kulturwissenschaft(en) die Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte vollständig und auf argumentativ verbindliche Weise beschrieben werden kann, haben diese Beschreibungen den hier entwickelten Festlegungen gemäß als philosophische Theorien zu gelten. 20 Stellvertretend für psychologische Überlegungen zur Philosophie seien William James’ The Present Dilemma in Philosophy (James 1907), Dvornikovic 1918, Herzberg 1926, Schiller 1934 und Bartlett 1989 genannt, für soziologische Kusch 1995 und Kusch 2000; für weitere Beispiele sei auf Rescher 1985, 6–9 und Kramer 1967, 31–164 verwiesen. 21 Im Einzelfall kann es schwierig zu entscheiden sein, ob es sich bei Überlegungen, die auf Annahmen über die Gesamtheit dessen, was seiend ist, rekurrieren, um philosophieimmanente oder alltägliche metaphilosophische Überlegungen handelt. Philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen meinen aber auf Annahmen zu rekurrieren, die auf argumentativ verbindliche Weise ausgewiesen werden (, und d. h. auf philosophische Annahmen); alltägliche metaphilosophische Überlegungen dagegen nicht. Werden also beispielsweise ästhetische Überlegungen als solche verstanden, welche verbindlich argumentierend Wahrheitsansprüche über die Gesamtheit dessen, was ist, zur Geltung bringen, haben auch die sie reflektierenden Überlegungen als philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen zu gelten.

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

der Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte handelt.22 Die Bejahung der einzelwissenschaftlichen oder alltäglichen Wahrheitsansprüche bezüglich dieser Sachverhalte impliziert also, dass die Wahrheitsansprüche der reflektierten philosophischen Theorie bezüglich dieser Sachverhalte nicht bejaht werden.23 22

Das Sich-Überschneiden von einzelwissenschaftlichen (oder alltäglichen) und philosophischen Wahrheitsansprüchen scheint nur nicht gegeben, wenn von einer Arbeitsteilung ausgegangen wird. So könnte man meinen, dass sich Einzelwissenschaften mit dem, was raumzeitlich konkret gegeben und entsprechend nur mittels empirischer Methoden beschreibbar ist, philosophische Theorien dagegen mit apriorischen »Grundsatzfragen« beschäftigen. Eine solche Arbeitsteilung ginge jedoch mit einer Einschränkung der Wahrheitsansprüche der jeweiligen Theorieformen einher: beide Wissensformen würden sich so verstanden nur noch auf eine bestimmte Teilmenge der Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte beziehen; in diesem Fall auf die Teilmenge empirischer und apriorischer Sachverhalte. Werden philosophische Theorien nun aber als Theorien verstanden, die Wahrheitsansprüche bezüglich der Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte erheben, überschneiden sie sich zwangsläufig mit einzelwissenschaftlichen Annahmen über solche Sachverhalte; in unserem Beispiel: mit Annahmen über theorieexterne Sachverhalte, die raumzeitlich gegeben sind. 23 Dies deshalb, weil einzelwissenschaftliche und alltägliche metaphilosophische Überlegungen definitorisch auf Wahrheitsansprüche über theorieexterne Sachverhalte zu rekurrieren meinen, die von den Wahrheitsansprüchen der reflektierten philosophischen Theorie über diese Sachverhalte argumentativ unabhängig sind. Die philosophischen Wahrheitsansprüche, die mit den Annahmen übereinstimmen, auf welche die alltäglichen oder einzelwissenschaftlichen Überlegungen rekurrieren, werden daher per definitionem nicht bejaht; sonst könnten sie ja von den philosophischen nicht argumentativ unabhängig zu sein meinen. (Anders formuliert: Die bejahten einzelwissenschaftlichen und alltäglichen Wahrheitsansprüche bezüglich bestimmter theorieexterner Sachverhalte einerseits und die bejahten philosophischen Wahrheitsansprüche bezüglich derselben Sachverhalte andererseits sind nach den hier getroffenen Festlegungen per definitionem unverträglich.) Stimmten jene einzelwissenschaftlichen oder alltäglichen den philosophischen Wahrheitsansprüchen zu, müsste einer der folgenden beiden Fälle zutreffen: Entweder die einzelwissenschaftlichen oder alltäglichen metaphilosophischen Überlegungen würden der Meinung sein müssen, in ihren Annahmen von den philosophischen Annahmen abhängig zu sein; in diesem Fall handelte es sich nach unseren Festlegungen nicht mehr um philosophieexterne, sondern um philosophieimmanente Überlegungen über Philosophie. Oder aber es müsste davon ausgegangen werden, dass die philosophischen Annahmen vollständig begründungsfunktional auf die einzelwissenschaftlichen reduzierbar sind; in diesem Fall würden die einzelwissenschaftlichen Annahmen nach unserer Bestimmung von »philosophischer Theorie« als philosophische Annahmen zu gelten haben; bei den sie reflektierenden Überlegungen würde es sich dann ebenfalls um philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen handeln. (Dies trifft auch dann zu, wenn man davon ausginge, dass nur die Teilmenge von philosophischen Wahrheitsansprüchen, die sich mit den einzelwissenschaftlichen oder alltäglichen überschneiden, auf letztere reduzierbar wären; man hätte es dann mit zwei Teiltheorien über theorieexterne Sachverhalte zu tun, die zusammen eine Theorie über die Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte ergäben.)

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Nun zum dritten Kriterium. Hegel konzipiert die Phänomenologie nicht nur als eine Theorie, die argumentativ unabhängig ist von dem, was ihr (irgendwie) als philosophische Theorie gilt, sondern zugleich als eine Begründungsleistung, die eine »Rechtfertigung« für philosophische Theoriebildung, nämlich: für sein System, erbringt. Daher interessieren in dieser Arbeit nur solche philosophieexternen metaphilosophischen Überlegungen, die für das, was ihnen als zu begründende philosophische Theorie gilt, begründungsrelevant zu sein meinen. Diese sollen »metaphilosophische Theorieüberlegungen« heißen. Mit der »Begründungsrelevanz« einer Theorie oder Überlegung ist die argumentative Relevanz dieser Theorie oder Überlegung für das, was ihr als begründungsbedürftig gilt, gemeint; »argumentative Relevanz« meint dabei, dass die Theorie oder Überlegung in begründungsfunktionaler Hinsicht in irgendeiner Weise von Bedeutung ist für das, wofür sie relevant sein soll. Meint eine Theorie begründungsrelevant zu sein, so meint sie demnach irgendeine Begründungsfunktion für das, wofür sie relevant sein will, zu erfüllen. Was mit argumentativer Relevanz im Einzelnen gemeint ist, kann wiederum sehr unterschiedlich beantwortet werden und soll durch diese Bestimmung offengelassen werden. Sie kann z. B. in methodologischer Reflexion über die Begründungsform einer Theorie oder in der Darlegung von Prämissen bestehen. Begründungsrelevanz kann Überlegungen sowohl für einzelne Überlegungen als auch für ganze Überlegungsformen zugesprochen werden. Verschiedenartige Überlegungsformen können füreinander – etwa alltägliche für einzelwissenschaftliche – für begründungsrelevant gehalten werden. Und die Überlegungen, denen Begründungsrelevanz zugesprochen wird, können als solche verstanden werden, welche argumentativ unabhängig oder abhängig sind von dem, wofür sie begründungsrelevant sein sollen.24 Insofern Überlegungen begründungsrelevant für andere Überlegungen zu sein meinen, heißt dies, dass sie sich nicht ablehnend oder neutral zum erhobenen Wahrheits- und Begründungsanspruch dieser Überlegungen verhalten; sie wollen ja eine Begründungsfunktion für diese Überlegungen erfüllen. 24

Ich strebe hier keine erschöpfende Typologie metaphilosophischer Überlegungen an. So könnte man innerhalb der Gruppe philosophieimmanenter metaphilosophischer Überlegungen weiter zwischen solchen, denen Begründungsrelevanz, und solchen, denen keine Begründungsrelevanz zugesprochen wird, differenzieren. Ein Beispiel für erstere Überlegungen wären wohl Aristoteles’ Überlegungen in Metaphysik Alpha, ein Beispiel für letztere Platons Bemerkungen zu Funktion und Status des Philosophen in den frühen Dialogen. Betont sei aber, dass die Begründungsrelevanz philosophieimmanenter metaphilosophischer Überlegungen ihnen nur aufgrund philosophischer Überlegungen zukommen kann, von denen sie argumentativ abhängig sind; es handelt sich insofern immer um eine »entliehene Begründungsrelevanz«.

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Zugleich wird aber die Begründungsleistung dieser Überlegungen in irgendeiner Hinsicht für mangelhaft oder unvollständig gehalten, sonst würden sie ja nicht als der zusätzlichen Begründung bedürftig angesehen.25 Nun sind metaphilosophische Theorieüberlegungen ihrem Selbstverständnis nach nicht nur begründungsrelevant für das, was ihnen als (zu begründende) philosophische Theoriebildung gilt, sondern zugleich argumentativ unabhängig von dem, was ihnen irgendwie als philosophische Theoriebildung gilt.26 Sie wollen also einerseits eine Begründungsleistung für das, was ihnen als (zu begründende) philosophische Theorie gilt, erbringen, insofern sie die Begründung der Wahrheitsansprüche dieser Theorie in irgendeiner Hinsicht für mangelhaft oder unvollständig halten. Sie meinen aber andererseits vom Wahrheits- und Begründungsanspruch dessen, was ihnen irgendwie als philosophische Theorie gilt, argumentativ unabhängig zu sein.27 Es kann sich bei der von ihnen zu erbringenden Begründungsleistung insofern nicht um eine philosophische handeln; sie wollen ja eine Begründungsleistung für philosophische Theoriebildung aufgrund von Überlegungen erbringen, die argumentativ unabhängig sind von dem, was irgendwie als philosophische Theoriebildung gilt. Sie können aber auch nicht als einzelwissenschaftliche oder alltägliche metaphilosophische Überlegungen verstanden werden, die auf nicht-philosophische Annahmen über theorieexterne Sachverhalte rekurrieren. Sähen 25

Man könnte sagen, sie streben eine Situation an, welche die Affirmation der erhobenen Wahrheits- und Begründungsansprüche der Überlegungen, wofür sie begründungsrelevant sein wollen, erlaubt; sie verhalten sich insofern »zustimmend« zu diesen Überlegungen. 26 Statt von »argumentativ unabhängig von dem, was irgendwie als philosophische Theorie(bildung) gilt, und begründungsrelevant für das, was als zu begründende philosophische Theorie(bildung) gilt« wird in dieser Arbeit in abkürzender Redeweise von »argumentativ unabhängig und begründungsrelevant für das, was als philosophische Theorie(bildung) gilt« gesprochen werden. 27 Die Mangelhaftigkeit der metaphilosophisch reflektierten philosophischen Begründungsleistung wird entsprechend als etwas verstanden, das sich nicht mit philosophischen Mitteln beheben lässt. Sie gilt m. a. W. nicht der Mangelhaftigkeit eines spezifischen philosophischen Begründungsverfahrens, das durch ein alternatives philosophisches Begründungsverfahren, welches als »begründungsrelevantes« für das mangelhafte Verfahren ins Feld geführt wird, reparabel wäre. Meinen metaphilosophische Überlegungen, dass Begründungsmittel erforderlich werden, die schlechthin argumentativ unabhängig von philosophischer Theoriebildung sind, so deshalb, weil philosophische Begründungsmittel als strukturell mangelhaft oder defizient gelten; es werden nun metaphilosophische Begründungsmittel erforderlich, um für philosophische Begründungsverfahren so begründungsrelevant sein zu können, dass diese nicht mehr mangelhaft sind. Warum philosophische Begründungsmittel ab einem bestimmten Zeitpunkt als strukturell defizient angesehen wurden, wird im nächsten Kapitel ausgeführt.

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sie sich als solche Überlegungen an, könnten die Annahmen, aufgrund derer sie in diesem Fall begründungsrelevant wären, nicht argumentativ unabhängig von dem sein, wofür sie als metaphilosophische Überlegungen begründungsrelevant sein wollen. Das, wofür sie begründungsrelevant sein wollen, ist ja eine philosophische Theorie, die Wahrheitsansprüche über die Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte erhebt; die mit den nicht-philosophischen Annahmen erhobenen Wahrheitsansprüche über theorieexterne Sachverhalte würden sich insofern zwangsläufig mit den Wahrheitsansprüchen dessen, wofür sie begründungsrelevant sein wollen, überschneiden. Durch die Übereinstimmung dieser Wahrheitsansprüche wären die metaphilosophischen Überlegungen argumentativ abhängig von Annahmen, die zugleich Teil wären von dem, wofür die metaphilosophischen Überlegungen begründungsrelevant sein wollten;28 als solche Überlegungen könnten sie also nicht mehr argumentativ unabhängig von dem sein, was ihnen irgendwie als philosophische Theoriebildung gilt.29 Metaphilosophische Theorieüberlegungen werden also als Überlegungen verstanden werden müssen, welche ihrem Selbstverständnis nach begründungsrelevant sind für philosophische Theoriebildung aufgrund von Überlegungen, welche von jeglichen Annahmen über theorieexterne Sachverhalte, seien dies philosophische, einzelwissenschaftliche oder alltägliche, argumentativ unabhängig sind. Die von ihnen zu erbringende Begründungsleistung für das, 28

Genauer ergeben sich in Bezug auf die übereinstimmenden metaphilosophischen und philosophischen Annahmen bzw. Wahrheitsansprüche wieder die in Anm. 23 beschriebenen Optionen: entweder die metaphilosophischen Überlegungen werden als argumentativ abhängig von den philosophischen Überlegungen oder die philosophischen als argumentativ abhängig von den metaphilosophischen verstanden werden müssen; im ersten Fall handelt es sich bei den metaphilosophischen Überlegungen um philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen, im zweiten Fall fungieren die metaphilosophischen Überlegungen als philosophische Überlegungen. 29 Es sei betont, dass dies aus der Selbstinterpretationsperspektive metaphilosophischer Überlegungen folgt: Überlegungen können nicht meinen, einerseits argumentativ unabhängig von (nicht abgelehnten) Annahmen über die Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte, andererseits aber aufgrund von (mit den philosophischen Annahmen ja konkurrierenden) Annahmen über einzelne theorieexterne Sachverhalte für erstere begründungsrelevant zu sein. Werden Überlegungen, die als einzelwissenschaftliche oder alltägliche verstanden werden, für die philosophische Theoriebildung begründungsrelevant und argumentativ unabhängig gehalten, ohne dass sie auf Annahmen über theorieexterne Sachverhalte rekurrieren, handelt es sich nach den hier vertretenen Festlegungen dagegen nicht um einzelwissenschaftliche oder alltägliche, sondern um metaphilosophisch-theoretische Überlegungen über Philosophie. Als Beispiele hierfür seien Husserls argumentativer Bezug auf die Lebenswelt in der Krisis der philosophischen Wissenschaften und die argumentative Rolle der Alltagswelt und normalsprachlicher Argumentationsformen in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen genannt. Vgl. Husserl 1996 und Wittgenstein 1984.

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was ihnen als Philosophie gilt, kann insofern nur auf Annahmen über philosophische Theoriebildung beruhen. Nur in Bezug auf Überlegungen dieser Art soll von »metaphilosophischer Theoriebildung« gesprochen werden; denn nur solche metaphilosophischen Überlegungen erheben den Anspruch, eine spezifisch metaphilosophische Begründungsleistung zu erbringen, die nicht auf (philosophische, einzelwissenschaftliche oder alltägliche) Annahmen über theorieexterne Sachverhalte, sondern ausschließlich auf metaphilosophische Annahmen über die Struktur der Philosophie rekurriert; nur sie berufen sich also auf Einsichten, die ausschließlich im Rahmen von metaphilosophischer Reflexion generiert werden. Zum Abschluss noch drei Bemerkungen. (a) Zuerst eine Bemerkung heuristischer Art. In dieser Arbeit werden keine einzelwissenschaftlichen oder alltäglichen metaphilosophischen Überlegungen thematisiert. Daher wird im weiteren Verlauf nur der Kontrast zwischen philosophieimmanenten und metaphilosophisch-theoretischen Überlegungen über Philosophie eine Rolle spielen. Dabei dürfte es hilfreich sein, im Auge zu behalten, dass diese Überlegungen sich in mancher Beziehung konträr zueinander verhalten: Philosophieimmanente Überlegungen meinen argumentativ abhängig, metaphilosophische Theorieüberlegungen dagegen argumentativ unabhängig von dem, was (irgendwie) als philosophische Theorie gilt, zu sein. Daher meinen metaphilosophische Theorieüberlegungen eine selbständige Begründungsrelevanz – eine Begründungsrelevanz, die ihnen nicht aufgrund anderer Überlegungsformen über theorieexterne Sachverhalte zukommt – für philosophische Theoriebildung zu haben. Philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen meinen dagegen entweder gar nicht oder nur aufgrund dessen, was ihnen als philosophische Theorie gilt, für philosophische Theoriebildung begründungsrelevant zu sein. Während schließlich metaphilosophische Theorieüberlegungen meinen, dass das, was ihnen als philosophische Theorie gilt, nicht für sie selbst begründungsrelevant ist – sie meinen ja von philosophischer Theoriebildung schlechthin argumentativ unabhängig zu sein –, meinen philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen dass das, was ihnen als (wahre) philosophische Theorie gilt, für sie begründungsrelevant ist – sie rekurrieren ja begründungsfunktional auf philosophische Theoriebildung. (b) Dann eine Bemerkung zum Verhältnis von metaphilosophischen zu philosophiemethodologischen Überlegungen. Methodologische Überlegungen über Philosophie sind wohl die in der Geschichte der Philosophie am häufigsten anzutreffenden metaphilosophischen Überlegungen. Man findet sie vor dem 18. Jahrhundert vor allen in den Disziplinen, welche sich in der Nachfolge des aristotelischen Organons mit (normativ oder explikativ ver-

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standenen) Regeln der Argumentation – seit Descartes (als) Regeln des Denkens – beschäftigen. Insofern die hier anzutreffenden Überlegungen auch Regeln für philosophische Argumentation (mit) zu thematisieren meinen, handelt es sich bei ihnen um metaphilosophische Überlegungen.30 Philosophiemethodologische Überlegungen können nun im Prinzip auf gleiche Weise eingeteilt werden wie metaphilosophische Überlegungen generell; sie können jeweils als Unterform von philosophieimmanenten, einzelwissenschaftlichen, alltäglichen und metaphilosophisch-theoretischen Überlegungen über Philosophie verstanden werden. Allerdings werden Überlegungen zur Methode der Philosophie typischerweise nicht in einem einzelwissenschaftlichen oder alltäglichen Kontext angestellt. Man wird es also in der Geschichte der Philosophie meistens mit philosophiemethodologischen Überlegungen zu tun haben, die entweder philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen oder metaphilosophische Theorieüberlegungen sind. Beide Arten von methodologischen Überlegungen haben einen unterschiedlichen Charakter. Philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen beruhen begründungsfunktional auf dem, was ihnen als philosophische Theorie gilt. Sie werden daher oft in Rekurs auf philosophische Annahmen eruieren, welche methodologische Konsequenzen mit diesen Annahmen verbunden sind, um dann verbindliche Regeln für die philosophische Argumentation aufzustellen. Sie sind als solche eine Form von methodologischer Selbstreflexion philosophischer Theorien, die in deren Begründungsleistung involviert ist. So besteht etwa in Aristoteles’ Analytiken offenkundig eine argumentative Abhängigkeit der beweistheoretischen Überlegungen von metaphysischen Annahmen über die ersten Prinzipien.31 Metaphilosophische Theorieüberlegungen sind dagegen ihrem Selbstverständnis nach argumentativ unabhängig von philosophischer Theoriebildung und werden daher nicht unmittelbar in die Theorie, wofür sie begründungsrelevant zu sein anstreben, intervenieren wollen. Sie werden daher in der Regel keine verbindlichen Regeln für die philosophische Argumentation aufstellen, also eine philosophische Methodenlehre entwickeln, sondern (in Form von Überlegungen über das, was eine philosophische Methode zu leisten hat) methodologische Anforderungen formulieren wollen, die in methodischer Hinsicht von einer philosophischen Begründungsleistung erfüllt sein müssen, wenn sie nicht mangelhaft sein soll. Im Laufe dieser Arbeit wird 30 31

Vgl. dazu 3.3 (drittes Indiz). Vgl. 3.3.1 und die dort angeführte Literatur.

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

sich herausstellen, dass dies auch auf Hegels Phänomenologie zutrifft: auch sie stellt nicht als philosophische Methodenlehre Regeln für die philosophische Argumentation auf, sondern formuliert metaphilosophisch Anforderungen, die das System (u. a. auch) in methodischer Hinsicht erfüllen muss, wenn es als philosophische Theorie konsistent sein will.32 (c) Schließlich noch eine Bemerkung zum Entdeckungskontext metaphilosophischer Überlegungen. In dieser Arbeit werden lediglich historisch gegebene metaphilosophische Theorieformationen analysiert. Daher interessiert hier primär der argumentative Zusammenhang oder »Rechtfertigungskontext« zwischen metaphilosophischen und philosophischen Überlegungen. Doch auch hinsichtlich ihres Entdeckungskontextes gibt es einige aufschlussreiche Differenzen zwischen metaphilosophischen Theorieüberlegungen und anderen metaphilosophischen Überlegungen. Daher sei hier kurz (und schematisch) auf diese Differenzen eingegangen. Man wird davon ausgehen können, dass metaphilosophische und philosophische Überlegungen in der Regel nicht gleichzeitig angestellt werden. Philosophieimmanente metaphilosophische Überlegungen rekurrieren auf philosophische Überlegungen. Sie setzen insofern voraus, dass bereits eine philosophische Theorie vorhanden ist. Die metaphilosophische Reflexion, die in diesem Fall in der Anwendung schon vorhandener Einsichten auf das, was als philosophische Theorie gilt, besteht, wird also erst nachträglich einsetzen können. Einzelwissenschaftliche oder alltägliche Überlegungen werden in der Regel nicht über die eigene philosophische Position angestellt, sondern über historisch oder phänomenal gegebene Theorien oder Theorieformationen. Auch hier werden metaphilosophische Überlegungen in der Regel also erst im zeitlichen Nachhinein angestellt. War die reflektierte philosophische Theorie bereits vorhanden, können metaphilosophische Überlegungen beim (historischen bzw. realen) Zustandekommen dieser Theorie keine Rolle gespielt haben. Philosophieimmanenten, einzelwissenschaftlichen und alltäglichen Überlegungen kommt daher nicht nur in begründungsfunktionaler Hinsicht, sondern (in der Regel) auch für das historische Zustandekommen philosophischer Ansichten keine selbständige Relevanz zu. Bei metaphilosophischen Theorieüberlegungen verhält es sich genau umgekehrt. Metaphilosophische Überlegungen, die meinen, nicht auf philo32

Vgl. dazu 9.3. Philosophieimmanente methodologische Überlegungen, die in Rekurs auf die im System gemachten philosophischen Annahmen im Einzelnen ausführen, wie diese Anforderungen implementiert werden können, finden sich dagegen in Hegels Logik, welche von Hegel als philosophisch-metaphysische Theorie konzipiert wird, die von einer ständigen (philosophischen) Methodenreflexion begleitet wird.

Zum Begriff der metaphilosophischen Theorie

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sophische Theorien rekurrieren zu können, werden erst angestellt, wenn die Möglichkeit philosophischer Begründung für problematisch gehalten wird.33 Sie werden daher in der Regel angestellt, bevor eine philosophische Theorie (vollständig) entwickelt (worden) ist. Sie werden sich dabei oft zunächst auf die Möglichkeit philosophischer Theoriebildung generell konzentrieren und erst in zweiter Instanz bzw. in einer späteren Phase – nachdem sich in Reaktion auf diese anfänglichen Überlegungen erste philosophische Überzeugungen gebildet haben – auf eine philosophische Position bzw. die Idee einer Position, welche die von ihnen geforderten Anforderungen einlöst, beziehen. Man wird daher damit rechnen können, dass metaphilosophische Theorieüberlegungen beim Zustandekommen philosophischer Theorien nicht nur begründungsfunktional, sondern auch faktisch relevant waren. Ein gutes Beispiel für diese These ist m. E. Kant, der ursprünglich (1781) vorhatte, zunächst in seiner kritischen Theorie metaphilosophisch-propädeutisch die Möglichkeit metaphysischer Theoriebildung zu untersuchen, um dann auf der Grundlage der im Rahmen dieser metaphilosophischen »Kritik« gewonnenen Einsichten in Form eines »Systems der reinen Vernunft« eine philosophische Position zu formulieren.34 Auch im Falle Hegels scheint man sagen zu können, zumindest in genereller Hinsicht, dass die metaphilosophische Theoriereflexion der philosophischen zeitlich oft vorausging.35 33

Vgl. dazu das dritte Kapitel. Vgl. dazu 3.3.3. Als weiteres Beispiel sei Lambert genannt, vgl. 7.2.2. 35 Damit sei nicht behauptet, Hegel habe bis zu einer gewissen Zeit nur metaphilosophische und dann nur noch philosophische Überlegungen angestellt. Die obigen Überlegungen skizzieren nur ein schematisches Bild. Im Einzelfall (und d. h. auch bei Hegel) ist mit einer komplexen Wechselwirkung von Entwicklungsstufen philosophischer Theorien bzw. Modifikationen dieser Theorien einerseits und dem Einfluss (verschiedener Entwicklungsstufen) metaphilosophischer Theorieüberlegungen andererseits zu rechnen. Ohne diese komplexe Interaktion bei Hegel in dieser auf die Phänomenologie beschränkten Arbeit ausführlich untersuchen zu können, seien doch zwei Beispiele für das zeitliche Vorhergehen metaphilosophischer Überlegungen genannt. Erstes Beispiel: In der frühen Jenaer Zeit scheint das metaphilosophische Problembewusstsein teilweise »fortgeschrittener« als die philosophische Theoriebildung. Wie im vierten Kapitel dargelegt wird, verfügt Hegel zu dieser Zeit offenbar noch nicht über die (meta)philosophischen Mittel, um den in der frühen Jenaer Zeit neu entdeckten (metaphilosophischen) Problemen adäquat theoretisch Rechnung tragen zu können; er wird diese Mittel erst später (zum ersten Mal wohl mit der Logik von 1804/5) entwickeln. Zweites Beispiel: Die philosophische Theorie, auf welche die Phänomenologie vorbereiten soll, d. h. das System, scheint Hegel zeitlich erst nach der Phänomenologie entwickelt bzw. näher ausarbeitet zu haben. Seine Grundlegungsdisziplin, die (zur Zeit der Phänomenologie vertretene) »Logik«, scheint zumindest während der Zeit der Phänomenologie nur sehr grundrisshaft vorhanden gewesen zu sein; vgl. Dokumente, 71 (zitiert am Ende von 1.2). In einer ausarbeiteten Form hat Hegel das System (in einer ersten vollständigen Fassung) dann erst zwischen 1812 (erster Band der 34

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

2.2 Bisherige Verwendungsweisen des Begriffs Metaphilosophie 2.2.1 Überblick Die bisherigen Verwendungsweisen des Terminus »Metaphilosophie« und seiner funktionalen bzw. semantischen Äquivalente wie »Philosophie der Philosophie« und »Protophilosophie«36 lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Der Terminus »Metaphilosophie« fungiert entweder als Bezeichnung für die eigentliche und höchste Philosophie (i) oder als Name für eine gegenüber philosophischen Wahrheitsansprüchen zunächst neutrale, oft typologische Untersuchung des bisherigen oder möglichen Philosophierens (ii).37 Im ersten Fall meint der Terminus »Metaphilosophie« einen im Verhältnis zu bestehenden und als defizitär angesehenen Formen von philosophischer Begründung fundamentaleren philosophischen Begründungsanspruch. Der Reflexionsausdruck »Metaphilosophie« bringt in diesem Fall also lediglich ein dem Anspruch nach höheres Maß an Fundiertheit zum Ausdruck, jedoch keine von der Philosophie qualitativ verschiedene Art der Begründung. Dies zeigt sich auch darin, dass hier oft der Ausdruck »Philosophie der Philosophie« zur Anwendung gelangt, dessen sprachliche Form es bereits erschwert, eine qualitative Perspektivendifferenz zwischen reflektierender und reflektierter Philosophie zur Geltung zu bringen. Als Beispiel einer solchen Verwendungsweise kann Friedrich Schlegels Gebrauch des Terminus’ im dritten Teil seiner Vorlesungen über Transzendentalphilosophie von 1801/2 angeführt werden.38 Im zweiten Fall bezieht sich der Begriff der Metaphilosophie dagegen auf eine dem Anspruch nach von philosophischer Überlegung unterschiedene Betrachtungsart, die sich anders als diese nicht mit den Sachverhalten beschäftigt, welche traditionell den Gegenstand philosophischer Theorien bilden – Sachverhalte wie Sein, Bewusstsein und Natur –, sondern sich als Disziplin zweiter oder dritter Ordnung39 mit dem Sachverhalt der Philosophie selbst beschäftigt. Diese Begriffsverwendung tritt zunächst im Zuge von Typologisierungen der Philosophie auf – so etwa bei Trendelenburg oder Logik) und 1817 (Heidelberger Enzyklopädie, d. h. »Logik« und »Realphilosophie«, immer noch im Grundriss) vorlegen können. 36 Vgl. zu diesen und anderen Äquivalenten Geldsetzer 1989 und Geldsetzer 1974. 37 Zu dieser Unterscheidung vgl. Geldsetzer 1989. Für einen ausführlichen Überblick über die Begriffsgeschichte des Terminus »Metaphilosophie« vgl. Geldsetzer 1974, Geldsetzer 1989 und Rescher 1985, 3 ff. 38 Vgl. KFSA 12, 91–105, insbesondere 91–94. 39 Dies in dem Fall, wenn die Philosophie bereits als Disziplin zweiter Ordnung gilt; so beispielsweise Rescher 1985, 17 ff.

Bisherige Verwendungsweisen des Begriffs Metaphilosophie

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Dilthey40 –; in der Gegenwart wird der Terminus aber oft auch für Überlegungen verwendet, welche man als ›wissenschaftstheoretisch‹ charakterisieren könnte und die sich vordergründig dem Misserfolg der Disziplin Philosophie widmen. Als Beispiele für eine solche Verwendungsweise können die Arbeiten von Morris Lazerowitz41 – er hat dem Terminus »Metaphilosophie« in der Gegenwart allererst zu Bekanntheit verholfen – und diejenigen Nicholas Reschers genannt werden.42 Die im letzten Abschnitt vorgenommenen Begriffsbestimmungen können der zweiten Verwendungsweise des Begriffs »Metaphilosophie« zugeordnet werden. Die bisherigen Verwendungsweisen des Begriffs erlauben allerdings nicht, anders als die dort vorgenommenen Festlegungen, zwischen verschiedenen argumentativen Funktionen metaphilosophischer Überlegungen zu unterscheiden. Dies hat zur Folge, dass historische Entwicklungen innerhalb des metaphilosophischen Denkens nicht dargestellt werden können oder bereits aus begrifflichen Gründen unerkannt bleiben müssen. Ein weiteres Spezifikum der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Verwendungsweise des Begriffs »Metaphilosophie« stellt die Tatsache dar, dass vom Selbstverständnis der als »metaphilosophisch« charakterisierten Theorien ausgegangen wird; auf diese Weise kann vermieden werden, dass philosophisch gehaltvolle Begriffsbestimmungen an fremde Theorien implizit oder explizit herangetragen werden. Die Gründe für eine solche Historisierung des Metaphilosophiebegriffs können näher verdeutlicht werden durch eine kritische Analyse des Metaphilosophiebegriffs von Nicholas Rescher, dem in der Gegenwart wohl 40

Vgl. Trendelenburg 1855 und Dilthey 1991. Als der locus classicus des den gegenwärtigen Diskussionen zugrundeliegenden Begriffs von Metaphilosophie kann die programmatische Note angesehen werden, welche der ersten Ausgabe der Zeitschrift Metaphilosophy beigegeben ist: »Metaphilosophy is the investigation of the nature of philosophy, with the central aim of arriving at a satisfactory explanation of the absence of uncontested philosophical claims and arguments« (Lazerowitz 1970, 91). Vgl. auch Lazerowitz 1964. 42 Welcher Kategorie einzelne Theorien zugeordnet werden müssen, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Als weitere potenzielle Kandidaten solcher Theorien – ob es sich bei diesen Theorien auch um metaphilosophische Theorien in dem oben definierten Sinne handelt, soll hier nicht entschieden werden – seien die »Denkformenforschung« (Leisegang 1928, Pepper 1942), die Modell- und Metaphernforschung (Topitsch 1958, Blumenberg 1960), ideologiekritische Formen von Metaphilosophie (Lefebvre 1965), die vergleichende Philosophiegeschichte (Dempf 1947, Kwee 1953) und das weite Feld der Methodologie der Philosophie (z. B. Ducasse 1941 und Schnädelbach 1971) genannt; vgl. die Auflistung in Geldsetzer 1974, 253–255; vgl. auch Geldsetzer 1989, Kramer 1967, 31–164 und Rescher 1985, 6 ff. Für die Gegenwart seien neben Rescher stellvertretend Rorty 1980, Rorty 2007 und Williamson 2007 genannt; vgl. zu Adorno, Heidegger, Foucault und Derrida als Metaphilosophen Taureck 1998, zu Wittgenstein Raatzsch 1998. 41

Bisherige Verwendungsweisen des Begriffs Metaphilosophie

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

bekanntesten Vertreter einer explizit metaphilosophischen Theorie, welcher ebenfalls metaphilosophischen Überlegungen eine eigenständige argumentative Funktion zuspricht und mit dem Begriff der Metaphilosophie nicht nur eigene Theorieentwürfe bezeichnet.

2.2.2 Rescher Reschers metaphilosophische Konzeption ist explizit von der für metaphilosophische Theorien konstitutiven Frage43 motiviert, warum es philosophische Meinungsverschiedenheit gibt.44 Rescher selbst strebt eine zunächst philosophisch voraussetzungslose oder neutrale metaphilosophische Theorie zur Erklärung dieser Vielfalt an. In dieser Beziehung unterscheidet Rescher zwischen normativer und deskriptiver Metaphilosophie. Erstere Theorieform handle davon, wie Philosophie sein soll, und wird von Rescher selbst als Teil der Philosophie verstanden; bei dieser Theorieform soll daher ebenso wie in der Philosophie mit Kontroverse und unentscheidbarer Meinungsdifferenz zu rechnen sein. Deskriptive Metaphilosophie dagegen handle davon, wie Philosophie als Disziplin tatsächlich beschaffen ist; da sie von der Philosophie als Faktum handelt, sollen hier ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft oder Soziologie im Prinzip Konsens und allgemein anerkannte – laut Rescher sogar objektive – Ergebnisse erreicht werden können.45 Rescher unterscheidet auch bezüglich seiner eigenen metaphilosophischen Theorie zwischen einem deskriptiven und einem auf diesem aufbauenden normativen Teil. Die Grundbestimmungen zu Begriff und Struktur der Philosophie am Anfang seines The Strife of Systems 46 können dabei als Fundament seiner deskriptiv-metaphilosophischen Theorie angesehen werden; auf sie wird die nachfolgende Darstellung sich daher konzentrieren. Philosophie wird von Rescher bestimmt als eine Disziplin zweiter Ordnung, welche mit einer potenziell unendlichen Mannigfaltigkeit sich wider43

Vgl. dazu das dritte Kapitel. Vgl. Rescher 1985, 3–16 und 1978, 219 f. Rescher hat zahlreiche Bücher und Artikel zum Thema Metaphilosophie veröffentlicht. Trotz terminologischer Schwankungen und Verschiebungen scheint Rescher aber seine Position seit 1978 nicht wesentlich geändert zu haben. Die Darstellung in diesem Abschnitt wird primär auf The Strife of Systems. An Essay on the Grounds and Implications of Philosophical Diversity (Rescher 1985), Reschers ausführlichster Entwicklung seiner metaphilosophischen Konzeption, beruhen. Als weitere wichtige Veröffentlichungen Reschers zur Metaphilosophie seien Rescher 1978, Rescher 1994a, Rescher 1994b und Rescher 2001 genannt. 45 Vgl. Rescher 1985, 261–277. 46 Vgl. Rescher 1985, 17–21. 44

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sprechender Daten konfrontiert ist: »Taken altogether in their grand totality, the data are inconsistent« (Rescher 1985, 19). Die »extra-philosophical inputs for our philosophizing« (Rescher 1985, 18), welche nach Rescher »›the data‹ of philosophy« konstituieren, entstammen ihm zufolge sechs Wissensquellen: (i) Common-sense-Ansichten, (ii) wissenschaftlichen Ansichten, (iii) alltagspraktischen Erfahrungen, (iv) zeitspezifisch geltenden Ansichten, (v) der Tradition und (vi) den Lehren der Vergangenheit (»teachings of history«).47 Für eine philosophische Theorie seien jeweils diejenigen Vorstellungen aus diesen Quellen relevant, die zum Zeitpunkt der Theorie als richtig angesehen werden.48 Philosophie kann nun laut Rescher als der Versuch angesehen werden, diese Daten in einen kohärenten und konsistenten Zusammenhang zu bringen: »The key task of philosophy is thus to impart systemic order into the domain of relevant data; to render them coherent and, above all, consistent« (Rescher 1985, 20). Aufgrund der Widersprüchlichkeit der Daten ergeben sich allerdings – so Rescher – alternative Möglichkeiten, diese Daten in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Das Hauptanliegen der Rescherschen Theorie ist nun, zu zeigen, dass philosophische Datenorganisation nicht völlig willkürlich abläuft, so dass es nicht eine ebenso potenziell unendliche Menge philosophischer Theorien wie Daten gibt. Vielmehr meint Rescher, es sei eine gewisse Logik der philosophischen Datenorganisation vorhanden, die bestimmt sei durch sich gegenseitig ausschließende – von Rescher »aporetische Cluster« genannte – Grundalternativen der kohärenten Vereinheitlichung. Auf diese Weise ergebe sich eine begrenzte Anzahl von philosophischen Grundpositionen bezüglich eines bestimmten Problems; so stünden beispielsweise zur Lösung des Problems der Freiheit nur drei Grundoptionen bereit: Determinismus, Voluntarismus und Kompatibilismus.49 Resultat dieser Überlegungen soll ein metaphilosophischer Perspektivismus kognitiver Werte sein, dem zufolge es eine Vielzahl von – philosophische Theorien konstituierenden – rationalen Orientierungsperspektiven gibt, die sich zwar gegenseitig ausschließen, innerhalb derer aber rational zwischen richtigen und falschen Theorien unterschieden werden kann. Die metaphilosophische Position Reschers – die von ihm als »orientational pluralism« bezeichnet wird – soll dementsprechend zwischen skeptischen und dogmatischen metaphilosophischen Positionen angesiedelt sein.

47 48 49

Vgl. Rescher 1985, 18 und Rescher 2001, 15 f. Vgl. ebd. Vgl. Rescher 1985, 27.

110

Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

Von Interesse für die in diesem Kapitel verfolgte Frage nach dem Begriff der Metaphilosophie sind nun nicht so sehr die spezifischen Inhalte von Reschers metaphilosophischer Konzeption, sondern vor allem der ihr zugrundeliegende Philosophiebegriff und die für sie konstitutive Vorstellung von der für die Vielfalt philosophischer Theorien verantwortlichen Widersprüchlichkeit der Meinungsdaten, von welcher alle weiteren Theoreme der Rescherschen Konzeption – der Begriff des aporetischen Clusters, der Antinomie und weitere, hier nicht thematisierte Theoriestücke – abhängig sind. In der nachfolgenden kritischen Analyse wird daher von diesen spezifischen Inhalten absehen werden. Trotz Reschers Intention einer zunächst deskriptiv ausgerichteten metaphilosophischen Theorie gehen viele Voraussetzungen in Reschers Philosophiebegriff ein, die mit dieser Intention nur schwer in Einklang zu bringen sind. Diese Voraussetzungen betreffen zunächst den Status der Meinungsdaten, auf welche philosophische Theorien bezogen sein sollen. Obwohl Rescher nichts Genaueres über den Charakter und den Status dieser Daten sagt, scheint doch auf jeden Fall eine der folgenden Möglichkeiten zutreffen zu müssen: Die Daten werden entweder im weiten Sinne als Repräsentationen eines theorieunabhängigen Gegenstandsbereiches oder in einem unspezifischen und dem Anspruch nach philosophisch unparteiischen Sinne als die herrschenden Vorstellungen einer Zeit verstanden werden müssen. Im ersten Fall, der wohl die stärkere Lesart darstellt, ist Rescher dazu verpflichtet, eine philosophische Hintergrundtheorie über die ontologische Verfassung dieses datenunabhängigen Gegenstandsbereiches anzunehmen. Solche philosophischen Annahmen auf der deskriptiv-metaphilosophischen Ebene würden aber dazu führen, dass eine strukturelle Differenz zwischen deskriptiv-metaphilosophischer und philosophischer Analyse kaum noch aufrechtzuerhalten wäre. Die Reschersche Metaphilosophie würde dann trotz ihres typologischen und autonomen Anspruchs dem ersten Typ von Metaphilosophie – Metaphilosophie als der Philosophie gegenüber fundamentalere, aber von ihr nicht qualitativ verschiedene Theorie – zugeordnet werden müssen; Reschers Ausgangstheorie müsste in diesem Fall also gegen Reschers Intention als eine nach seiner Terminologie normative Metaphilosophie verstanden werden. In der zweiten Lesart ist Rescher dagegen nicht gezwungen, eine philosophische Theorie in Bezug auf diese Daten anzunehmen; hier gelten die Daten selbst als gegebene theoretische Ansichten. Sie werden sozusagen als implizite philosophische Theorien oder Prototheorien aufgefasst. Auch diese Lesart ist mit Schwierigkeiten verbunden. Diese Schwierigkeiten betreffen zunächst die Bestimmung der Philosophie als Disziplin zweiter Ordnung,

Bisherige Verwendungsweisen des Begriffs Metaphilosophie

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welche die widersprüchlichen prototheoretischen Ansichten einer Zeit in einen kohärenten Zusammenhang bringen soll. Denn es scheint keineswegs zwingend, Philosophie als metatheoretische Disziplin zu interpretieren; Philosophie kann genauso gut als Wissensquelle oder Wissensart angesehen werden, welche sich nicht durch ihren reflexiven Standort, sondern durch inhaltliche Merkmale – etwa durch einen spezifischen Wahrheitsanspruch – von anderen Wissensquellen bzw. Daten unterscheidet. Reschers Verständnis von Philosophie überzeugt insofern nicht ohne weiteres als alternativloses Konzept von Philosophie: es scheint leicht in Konkurrenz geraten zu können mit traditionellen Philosophievorstellungen, nach denen alles Wissen, also auch das philosophische, unmittelbar auf einen theorieunabhängigen Gegenstandsbereich bezogen ist. Als problematischer noch kann der zirkuläre Charakter der Behauptung, die Widersprüchlichkeit philosophischer Theorien sei Ausdruck der Widersprüchlichkeit der diesen Theorien zugrundeliegenden prototheoretischen Datenvielfalt, angesehen werden. Denn auf diese Weise wiederholt sich das Problem der Widersprüchlichkeit auf der Ebene der Daten, wo sich abermals die Alternative ergibt, die Ursache für diese Widersprüchlichkeit entweder in der theorieinternen Widersprüchlichkeit der Daten oder aber in datenexternen Umständen aufzusuchen. Die Reschersche Theorie scheint also entweder in der barocken Ontologie einer widersprüchlich verfassten Realität Zuflucht suchen oder aber in einer theoretischen Null-Situation enden zu müssen, in der das zu erklärende Problem auf die Ebene der Daten verschoben wird, welche implizit als eine sich widersprechende Menge von philosophischen Prototheorien aufgefasst werden, deren Widersprüchlichkeit dann abermals zur Erklärung aussteht. Diese und weitere mit Reschers Metaphilosophiebegriff verbundenen Probleme50 machen ihn m. E. als Instrument zur Identifizierung und Analyse metaphilosophischer Theorien in der Geschichte der Philosophie ungeeignet. Trotz seiner Intention, eine deskriptive Metaphilosophie zu entwickeln, welche die Philosophie ausschließlich als faktisches Phänomen thematisiert,

50

Weitere Probleme betreffen u. a. Reschers Beschreibung der Wissensquellen im Einzelnen, den Status des Rescherschen Theoriestandpunktes bezüglich Metaphilosophie und Reschers wissenschaftsphilosophische Annahmen über die Struktur philosophischer Theorien, z. B. seine kohärenztheoretischen Annahmen und seine Deutung der Philosophie als normative (›value relative‹) und der Einzelwissenschaften als wertneutrale (›value free‹) Argumentationsform; vgl. dazu Susan Haacks Rezension der Strife of Systems (Haack 1987).

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Zur argumentativen Funktion metaphilosophischer Überlegungen

gehen in seine deskriptiv-metaphilosophische Theorie von Anfang an normative Elemente ein.51 Diese Probleme hängen m. E. zusammen mit Reschers Unterscheidung von deskriptiver und normativer Metaphilosophie. Anders als seinem Begriff von Philosophie52 legt Rescher seinem Begriff von Metaphilosophie nicht das Selbstverständnis des jeweiligen metaphilosophischen Theoretikers zugrunde, sondern nimmt an, dass sich »objektiv« (Rescher 1985, 262) ein faktischer Gegenstandsbereich »Philosophie« identifizieren lässt, bezüglich dessen metaphilosophischer Identifikation und Beschreibung nicht mit Dissens zu rechnen ist und welcher gleichermaßen von allen metaphilosophischen Theorien zum Gegenstand gemacht wird. Auch aus diesem Grund wird in dieser Arbeit bei der Frage, wie »metaphilosophische Theorie« zu bestimmen sei, für eine Historisierung des Metaphilosophiebegriffs optiert: Anders als Rescher soll bei der Bestimmung dessen, was jeweils metaphilosophische Theorie ist, von dem Selbstverständnis der Theoretiker ausgegangen werden. Das bedeutet insbesondere, dass nicht mehr »objektiv«, von außen zwischen neutral-deskriptiver und philosophisch-normativer Metaphilosophie unterschieden werden kann, sondern auch bei dieser Frage von dem Selbstverständnis der Theoretiker auszugehen ist; Metaphilosophie wird also nur dann deskriptiv aufgefasst werden können, wenn sie vom jeweiligen Theoretiker auch als solche verstanden wurde. Auch kann die Begründungsrelevanz oder der – wie Rescher formuliert – präskriptive Charakter metaphilosophischer Behauptungen für das, was als Philosophie gilt, nun nicht mehr davon abhängig gemacht werden, ob tatsächlich – d. h. nach unserer Einschätzung – Begründungsrelevanz vorliegt, sondern hier wird ebenfalls der Einschätzung des jeweiligen Theoretikers gefolgt werden müssen.

51

Auch Reschers hier nicht thematisierte normative metaphilosophische Theorie ist mit Schwierigkeiten verbunden. Es kann insbesondere der Einwand vorgebracht werden, dass Reschers normativ-metaphilosophische Theorie des Pluralismus kognitiver Werte, der zufolge die Vielfalt philosophischer Theorien letztlich auf nicht weiter reduzierbaren kognitiven Werten beruht und die damit einen metaphilosophischen Relativismus zu implizieren scheint, nur schwer vereinbar ist mit seiner Intention, zugleich die Berechtigung nicht-relativistischer Standpunkte auf philosophischer Ebene verständlich zu machen; vgl. Rescher 1985, 116 ff., 159 ff. und 173 ff. Siehe zu diesem Einwand Smith 1985, 217–219, Schick 1997, 496–497 (dort in Bezug auf Rescher 1994b) und ausführlich Triplett 1999, 222–230. Diese Schwierigkeiten resultieren m. E. aus der Abhängigkeit der Rescherschen normativ-metaphilosophischen von seiner deskriptiv-metaphilosophischen Theorie, welcher letzteren, wie dargelegt, selbst normative Elemente zugrundeliegen. 52 Vgl. Rescher 1985, 262–3, Fußnote 5.

3. Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung

In diesem Kapitel wird in groben Zügen vorgeführt, welches Problemverständnis metaphilosophischen Theoriebildungen zugrundeliegt und wie in Reaktion auf dieses Problemverständnis metaphilosophische Theoriebildung entstehen konnte. Zunächst wird mehr systematisch ausgeführt, was als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung angesehen werden kann: das Problem faktischer und struktureller Isosthenie philosophischer Theorien (3.1). Im nächsten Abschnitt wird anhand einiger historischer Beispiele verdeutlicht, was ein metaphilosophisches, faktisch-strukturelles Isosthenieverständnis im Unterschied zu einem philosophischen genauer beinhaltet (3.2). Es wird zuerst das philosophische Isosthenieverständnis des Sextus Empiricus (3.2.1), dann, im Kontrast dazu, das faktische (und z. T. auch strukturelle) Isosthenieverständnis einiger neuzeitlichen Autoren (3.2.2) dargestellt. Schließlich wird anhand dreier Indizien für das historische Vorliegen metaphilosophischer Theoriebildung typologisch beschrieben, wie diese entstehen konnte (3.3); es werden nacheinander Aristoteles (3.3.1), Descartes (3.3.2) und Kant (3.3.3) behandelt.

3.1 Das faktisch-strukturelle Isosthenieverständnis metaphilosophischer Theorieüberlegungen Als das aller metaphilosophischen Reflexion gemeinsame Grundproblem kann das Problem der Philosophie als solcher, d. h. die Frage »Was ist Philosophie?« angesehen werden. Metaphilosophische Überlegungen werden also angestellt, wenn nicht das, was traditionellerweise Objekt philosophischer Theorien ist – z. B. die Natur oder das Schöne –, sondern die Philosophie selbst problematisiert wird. Je nachdem aber, ob metaphilosophische Überlegungen lediglich das Selbstverständnis der von ihnen reflektierten philosophischen Theorie artikulieren oder eine argumentativ selbständige Funktion für diese Theorie erfüllen, hat das Problem der Philosophie einen unterschiedlichen Stellenwert. In philosophieimmanenten metaphilosophischen Überlegungen wird das Problem der Philosophie als eines verstanden, das unproblematisch mit philosophischen Mitteln – nämlich mit Hilfe der Argumentationsmittel der Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung

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Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung

reflektierten Objekttheorie – bearbeitet werden kann; das Problem der Philosophie gilt hier also als eines, das nicht die Möglichkeit von Philosophie selbst in Frage stellt. Die Gründe, welche in diesen Überlegungen für den Problemcharakter der Philosophie verantwortlich gemacht werden, hängen dementsprechend mit der Gegenstandsebene philosophischer Theorien zusammen, z. B. mit dem fehlenden Praxisbezug der Philosophie oder mit der Konkurrenzposition philosophischer Theorien zu nicht-philosophischen Orientierungsformen. In metaphilosophischen Theorieüberlegungen wird das Problem der Philosophie dagegen als Problem verstanden, das nicht mit philosophischen Mitteln angegangen werden kann – diese gelten ja als mangelhaft – und daher die Möglichkeit von Philosophie grundsätzlich in Frage stellt. Nur solchen Überlegungen liegt also ein spezifisch metaphilosophisches Problemverständnis zugrunde: nur hier werden metaphilosophische, mit der Struktur philosophischer Theorien zusammenhängende und nicht objektphilosophische, mit der Verfassung theorieexterner Sachverhalte zusammenhängende Gründe für den Problemcharakter der Philosophie verantwortlich gemacht. Anders gesagt: Nicht alle metaphilosophischen Überlegungen rekurrieren auf ein metaphilosophisches Problemverständnis. Als das Problem, das metaphilosophische Theoriemittel notwendig macht, kann das Problem faktischer und struktureller Isosthenie philosophischer Theorien angesehen werden. Mit »Isosthenie« wird in dieser Arbeit das argumentative Gleichwertig- oder Gleichkräftig-Erscheinen von Theorien oder theoretischen Ansichten bezeichnet, die (dem Isosthenie Konstatierenden) in argumentativer Hinsicht als einander entgegengesetzt gelten.1 Wird Isosthenie als »Problem« verstanden, so heißt dies, dass in irgendeiner Form eine faktisch gegebene2 isosthene Vielfalt von philosophischen Theorien oder Ansichten angenommen wird. Isosthenie kann auch im Rahmen philosophieimmanenter metaphilosophischer Überlegungen und d. h. 1

Der Terminus »Isosthenie« geht auf Sextus Empiricus zurück und meint auch bei ihm zunächst »gleichkräftiges Widerstreiten (machestai)« in einem unspezifischen Sinne; vgl. dazu 3.2.1. Es sei jedoch betont, dass in dieser Arbeit mit dem Terminus nicht auch Sextus’ näheres (philosophisches) Isosthenieverständnis übernommen werden soll. Vielmehr soll durch den Terminus grundsätzlich offengelassen werden, welche Art von Unverträglichkeit bzw. Widersprüchlichkeit im Einzelnen gemeint ist, worauf diese bezogen ist, und ob sie dabei als faktisch gegeben oder als philosophische These verstanden wird. Vgl. zum Begriff der Isosthenie näher 3.2. 2 Der Begriff der »faktischen Gegebenheit« soll in dieser Arbeit keine theorieexterne (z. B. raumzeitliche) Gegebenheit implizieren. Er soll lediglich zum Ausdruck bringen, dass etwas nicht als Resultat oder Folge von etwas anderem, etwa einer philosophischen Überlegung, angesehen wird.

Faktisch-strukturelle Isosthenie

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vor dem Hintergrund eines philosophischen Problemverständnisses Rechnung getragen werden. Im Rahmen solcher Überlegungen wird argumentativ zurückgegriffen auf das, was als Philosophie gilt, d. h. auf eigene philosophische Ansichten. Isosthenie wird dann gar nicht als Problem, sondern als ein philosophisches Theorem verstanden: »Isosthenie« bezieht sich nicht auf eine faktisch gegebene Vielfalt von Ansichten, die sich zu widerstreiten scheinen, sondern die Beurteilung von Ansichten als »isosthen« wird als etwas verstanden, das Resultat philosophischer Argumentation ist. In diesem Fall soll von einem philosophischen Isosthenieverständnis gesprochen werden. Ein philosophisches Isosthenieverständnis ist immer akzidentell: ihm zufolge betrifft Isosthenie nur einzelne Theorien oder Ansichten und setzt zudem philosophische Mittel voraus, die nicht selbst isosthen sein können. Meinungsverschiedenheit ist zwar auch in philosophieimmanenten metaphilosophischen Überlegungen ein wichtiger Problemtopos, wird im Rahmen eines philosophischen Problemverständnisses aber nicht als etwas verstanden, das mit philosophischer Theoriebildung selbst zusammenhängt; insofern handelt es sich hier nicht um das Problem isosthener Meinungsverschiedenheit philosophischer Theorien. Solange die Frage, was Philosophie ist, aus philosophieimmanenter Perspektive betrachtet wird, muss die historisch-faktische Dimension der Philosophie und die hier gegebene Vielfalt für die metaphilosophische Reflexion argumentativ bedeutungslos bleiben: Es wird zuerst und unabhängig von philosophiehistorischer Empirie eine Antwort auf die Frage »Was ist Philosophie?« formuliert und anschließend die Vielfalt der Systeme an diesem vorher formulierten Begriff gemessen. Diese Vielfalt gilt von vornherein als unwesentlicher Ausdruck dessen, was Philosophie eigentlich ist. Deshalb können philosophische Theorien im Rahmen eines philosophischen Problemverständnisses gar nicht eigentlich als isosthen erscheinen.3 Charakteristisch für ein metaphilosophisches Problemverständnis ist dagegen ein faktisches und strukturelles Isosthenieverständnis philosophischer Theorien. Isosthenie wird im Rahmen eines metaphilosophischen Problemverständnisses per definitionem als faktisches Phänomen verstanden, das Merkmal philosophischer Theoriebildung ist. Die Gleichwertigkeit von miteinander unverträglichen philosophischen Theorien wird nicht als These ver3

Falls hier überhaupt von faktischer Isosthenie die Rede ist, dann betrifft sie keine Isosthenie von philosophischen Theorien, sondern lediglich von Ansichten oder »Meinungen« (doxai, placita) über das, was Philosophie ist. Dieser (nicht-philosophischen) Isosthenie kann unproblematisch mit den eigenen philosophischen Mitteln, die ja selbst von vornherein als nicht-isosthen gelten, Rechnung getragen werden. Vgl. 3.3 (zweites Indiz). Faktisch-strukturelle Isosthenie

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Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung

standen, die das Ergebnis einer philosophischen Überlegung über theorieexterne Gegenstände wäre, sondern als etwas, das unabhängig von philosophischer Interpretation gegeben ist. Würde Isosthenie nicht als faktisches Phänomen verstanden, würden ja keine metaphilosophischen Theoriemittel erforderlich werden; ein metaphilosophisches Problemverständnis impliziert insofern ein faktisches Isosthenieverständnis. Wie im nächsten Abschnitt dargelegt wird, ist ein solches Isosthenieverständnis im Rahmen einer Historisierung des Philosophieverständnisses aufgekommen. Ein faktisches Isosthenieverständnis bedeutet allerdings noch nicht, dass bereits ein metaphilosophisches Problemverständnis vollständig realisiert ist. Dass die Philosophie faktisch als isosthen gegeben ist – und d. h. in der jeweils aktuellen Situation keine nicht-isosthenen philosophischen Mittel zur Verfügung stehen –, impliziert nicht, dass nicht-isosthene philosophische Mittel grundsätzlich ausgeschlossen sind: es wäre in dieser Situation immer noch möglich, neue philosophische Mittel zu entwickeln, um die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter zu befreien. Ein vollständig realisiertes metaphilosophisches Problemverständnis liegt daher erst dann vor, wenn faktische Isosthenie als strukturelles Merkmal philosophischer Theoriebildung angesehen wird. Besteht dagegen einzig ein faktisches, aber kein strukturelles Isosthenieverständnis philosophischer Theorien, soll von einem »faktisch-akzidentellen« Isosthenieverständnis gesprochen werden. Nur wenn das Merkmal der Isosthenie auf alle Aspekte philosophischer Theoriebildung zutrifft – philosophische Mittel insofern systemisch mit Isosthenie infiziert sind –, werden ein Rekurs auf selbst nichtisosthene philosophische Mittel zur Auflösung des Problems der Isosthenie in der Problemanalyse als wirklich ausgeschlossen erscheinen und metaphilosophische Mittel für notwendig gehalten werden, um die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter zu befreien, d. h.: durch zusätzliche metaphilosophische Begründung zu bewirken, dass das, was als zu begründende philosophische Theoriebildung gilt, selbst nicht mehr faktisch isosthen gegeben ist.4 Abschließend kann festgehalten werden: ein metaphilosophisches Problemverständnis ist dann (vollständig) gegeben, wenn das isosthene Auftreten philosophischer Theorien – ihr Auftreten als eine Vielfalt von unverträglich, aber gleichfundiert erscheinenden Theorien – als ein faktisches und struktu4

Dabei wird in dieser Arbeit in der Analyse immer strikt getrennt werden zwischen »metaphilosophischem Problemverständnis« einerseits und der hierauf reagierenden »metaphilosophischen Theoriebildung« andererseits. Auch historisch kann beides unabhängig voneinander angetroffen werden: Autoren können beispielsweise eine metaphilosophische Theorie entwickeln, ohne eine explizite Problemanalyse anzubieten.

Philosophisches vs. metaphilosophisches Isosthenieverständnis

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relles Merkmal philosophischer Theoriebildung gilt, das die Möglichkeit von Philosophie grundsätzlich in Frage stellt.5

3.2 Philosophisches vs. metaphilosophisches Isosthenieverständnis 3.2.1 Philosophisches Isosthenieverständnis bei Sextus Empiricus Sextus charakterisiert »Isosthenie« als das »Hauptbeweisprinzip des Skeptizismus«.6 Die Anwendung dieses Prinzips soll die Einsicht in die Gleichwertigkeit oder gleichkräftige Gegebenheit von einander entgegengesetzten Meinungen – sowohl philosophischer als auch alltäglicher Meinungen – ermöglichen, welche so zur Meinungsenthaltung (epochē) bezüglich desjenigen, worauf in diesen Meinungen »behauptend« (doxastōs) Bezug genommen wird, führen soll. Die Handlung der Meinungsenthaltung soll dann für denjenigen, dem sie erfolgreich gelingt, zu einem Zustand der Ungestörtheit oder Seelenruhe (ataraxia) führen.7 Bereits durch diese grobe Charakterisierung mag klar geworden sein, dass der Begriff der Isosthenie für Sextus ein philosophieimmanentes methodisches Instrument bildet, das im Dienste eines praktisch-philosophischen Ideals steht.8 Mit Hilfe dieses Instruments soll eine Haltung bzw. Einstellung angestrebt werden, welche es möglich macht, sich jeglichen – oder zumindest philosophischen – Meinens zu enthalten.9 5

Im weiteren Verlauf der Arbeit ist, auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt wird, immer »faktische Isosthenie« gemeint, wenn unspezifiziert von »Isosthenie« (bzw. dem isosthenen »Auftreten, »Vorliegen« oder »Gegebensein« von Ansichten oder Theorien) die Rede ist. 6 Vgl.: »Das Hauptbeweisprinzip des Skeptizismus (sustaseōs tēs skeptikēs archē malista) dagegen ist, daß jedem Argument ein gleichwertiges entgegensteht (to panti logoi logon ison antikeisthai)« (PH I, 12). 7 Vgl.: »Der Skeptizismus ist die Fähigkeit (dynamis), auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit (isostheneia) der entgegengesetzten Sachen (pragmata) und Argumente (logoi) zuerst zur Zurückhaltung (epochē), danach zur Seelenruhe (ataraxia) gelangen« (PH I, 8). 8 Der pyrrhonistische Skeptizismus wird von Sextus zwar im Vergleich mit Positionen, die er der akademischen und dogmatischen Schule zuordnet, ebenfalls als Reaktion auf das epistemologische Problem der Erkennbarkeit oder Begreifbarkeit (katalēpsis) von Gegenständen präsentiert (vgl. PH I, 1–4), die Eigenart des Pyrrhonismus soll aber gerade darin bestehen, dass dieser nicht theoretisch-philosophisch, d. h. mit der Aufstellung von philosophischen Meinungen, auf dieses Problem reagiert; vgl. PH I, 12. 9 Vgl. PH I, 12. Darüber, dass der pyrrhonistische Skeptizismus sich gegen philosophische Überzeugungen bezüglich nicht-sinnlicher Sachverhalte richtet, besteht weitPhilosophisches vs. metaphilosophisches Isosthenieverständnis

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Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung

Das Ideal des guten Lebens als eines Lebens ohne (zumindest) philosophische Überzeugungen kann durchaus nach den im zweiten Kapitel festgelegten Kriterien als metaphilosophische Vorstellung gelten; es handelt sich ja um eine Überlegung über den Status philosophischer Überzeugungen. Es liegt bei Sextus jedoch weder ein spezifisch metaphilosophisches Problemverständnis noch metaphilosophische Theoriebildung vor. Dies wird deutlich, wenn die Weise, wie diese praktisch-philosophische Vorstellung argumentativ mit Hilfe des methodischen Instruments der Isosthenie realisiert werden soll, näher in Augenschein genommen wird. Isosthenie wird von Sextus bestimmt als ein Zustand, der nicht faktisch gegeben ist, sondern erst durch den Skeptiker aktiv argumentativ hergestellt werden muss und dementsprechend auf einer Fähigkeit beruht, nämlich der Fähigkeit des argumentativen Opponierens (dynamis antithetikē): »Der Skeptizismus (hē skeptikē) ist die Fähigkeit, auf alle mögliche Weise (kath’ oiondēpote tropon; jedem möglichen Tropus bzw. Argumentationsschema10 gemäß) erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen« (PH I, 8).11 Aber auch nachdem Isosthenie mit Hilfe dieser Fähigkeit zustande gebracht worden ist, bedeutet sie für Sextus keinen Zustand argumentativer Gleichwertigkeit, der unabhängig von dem (durch das praktische Ideal der Ataraxie geleiteten) Urteil des Skeptikers bestünde, sondern eine Gleichheit in der Glaubwürdigkeit: »›Gleichwertigkeit‹ (isostheneia) nennen wir die Gleichheit (isotēta) in Glaubwürdigkeit (pistis) und Unglaubwürdigkeit (apis-

gehend Konsens, kontrovers diskutiert wird aber, ob er sich auch gegen alltägliche Ansichten (Burnyeat) oder nur gegen philosophische Überzeugungen (Frede) richtet; vgl. dazu stellvertretend Burnyeat/Frede 1997. Diese Kontroverse kann hier vernachlässigt werden. 10 Mit Barnes verstehe ich Tropen als »argument-forms« (Barnes 1990, 16; vgl. PH I, 36), d. h. als Argumentationsmuster, mit denen jeweils bestimmte argumentative Strategien für bestimmte argumentative Situationen schematisch beschrieben werden. Sie können konkreter (»Die zehn Tropen des Aenesidemus«: PH I, 36–163) oder abstrakter (»Die fünf Tropen des Agrippa«: PH I, 164–177) formuliert sein und entsprechend auf eine engere oder weitere Klasse von Einzelsituationen zutreffen; das argumentative Ziel ist aber immer die Herstellung von »Isosthenie«. Vgl. insgesamt Barnes 1990, insbesondere 1–35 und 113–144. 11 Auch hier betont Sextus, dass diese Bestimmungen »nicht in irgendeinem ausgeklügelten Sinne (kata to periergon)« (PH I, 9) aufgefasst werden sollten; so sei beispielsweise mit Entgegensetzen kein Verneinen und Bejahen in einem philosophisch-technischen Sinne, sondern schlicht Streiten, Konfligieren (machesthai) gemeint. Vgl. PH I, 9–10. Wie Heidemann in Bezug auf diese Stelle bemerkt, scheint hier also keine kontradiktorische Gegensätzlichkeit von Aussagen, sondern die »inhaltliche Unverträglichkeit von Argumenten« gemeint zu sein; vgl. Heidemann 2007, 19. Zum Begriff der Isosthenie bei Sextus vgl. auch Vogt 1998, 178–185.

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tia), so daß keines der unverträglichen Argumente (machomenoi logoi) das andere als glaubwürdiger (pistoteros) überragt« (PH I, 10).12 Damit kann das pyrrhonistische Isosthenieverständnis als ein (praktisch-) philosophisches charakterisiert werden: Isosthenie ist für Sextus kein faktisch vorliegender Zustand, der prinzipiell und von vornherein auf philosophische Argumentation zutrifft, sondern das immer wieder im Einzelfall zu realisierende Resultat einer Aktivität des argumentativen Entgegensetzens, das nur praktische Relevanz hat für denjenigen, der die Fähigkeit dazu besitzt.13 Es liegt bei Sextus also weder eine metaphilosophische Theorie noch ein metaphilosophisches Problemverständnis vor: Es handelt sich beim Begriff der Isosthenie um ein philosophisches Theorieelement, das nicht argumentativ unabhängig von dem praktisch-philosophischen Ideal ist, zu dessen Realisierung es beitragen soll; und Sextus verbindet mit dem Begriff der Isosthenie auch kein Problembewusstsein, das die Möglichkeit philosophischer Argumentation angesichts der isosthenen Vielfalt philosophischer Systeme als solcher in Frage gestellt sieht. Zwar spielt auch Meinungsvielfalt (diaphōnia: Meinungsverschiedenheit, Widerstreit, Dissens) bei Sextus eine wichtige argumentative Rolle,14 aber für ihn ist die faktische Gegebenheit von Meinungsvielfalt anders als später für beispielsweise Kant und Hegel nicht auch bereits mit Isosthenie verbunden. Vielmehr scheint für Sextus nur diaphōnia anepikritos – solcher Widerstreit, der durch die argumentative Aktivität des Skeptikers in argumentativen Einzelsituationen, also mit philosophischen Mitteln, als (aktuell) unentschieden bzw. unentscheidbar ausgewiesen werden kann – auch zur Isosthenie und damit zur Meinungsenthaltung zu führen.15 12

In einer alternativen Formulierung präzisiert Sextus noch einmal, dass er mit Glaubwürdigkeit dasjenige meint, was dem Skeptiker glaubwürdig zu sein scheint: »Dabei nennen wir ›Gleichwertigkeit‹ die Gleichheit dessen, was uns glaubhaft (pithanos) erscheint (kata to phainomenon)« (PH I, 190). 13 Vgl. Hankinson 1995, 27 ff. 14 Insbesondere als Ausgangstropus im System der fünf Tropen; vgl. Barnes 1990, 113–144. 15 Wie Jonathan Barnes dargelegt hat, kann diaphōnia anepikritos (vgl. PH I, 164–165, 170) auf dreierlei Weise übersetzt werden: (i) noch nicht entschiedener Widerstreit, (ii) im Moment unentscheidbarer Widerstreit und (iii) prinzipiell unentscheidbarer Widerstreit; vgl. Barnes 1990, 17 ff. Insofern wäre es aufgrund des Wortlauts des Textes auch möglich, diaphōnia anepikritos als prinzipielle Unentscheidbarkeit zu interpretieren, die vom Skeptiker ohne argumentative Anstrengungen als faktisch gegebener Zustand vorgefunden wird. Diese Deutung kann aber aus mehreren Gründen als unplausibel zurückgewiesen werden. Zunächst wäre die Deutung der Diaphonie als prinzipiell unentscheidbar nur schwer in Einklang zu bringen mit dem nicht-assertorischen Charakter des skeptischen Meinens und der Forderung, jede Behauptung durch die »hōs phainetai«-Klausel

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3.2.2 Metaphilosophisches Isosthenieverständnis in der Neuzeit In der Neuzeit wird Isosthenie dagegen oftmals als historisches Faktum angesehen. So spricht Descartes im Discours von den »Verschiedenheiten […], die zu allen Zeiten zwischen den Meinungen der Gelehrten bestanden haben (différences qui ont été de tout temps entre les opinions des plus doctes)« (AT 6, 16; II, 4). Ähnlich heißt es bei David Hume in der Introduction zum Treatise concerning Human Nature: »There is nothing which is not the subject of debate, and in which men of learning are not of contrary opinions. The most trivial question escapes not our controversy […]. Disputes are multiplied, as if every thing was uncertain« (Treatise, 305–6).16 Während allerdings vor Kant faktisch vorliegende Isosthenie meistens als etwas verstanden wird, das nur auf die bisherigen philosophischen Mitteln zutrifft, werden seit Kant die philosophischen Mittel oft als prinzipiell und strukturell isosthen angesehen; erst hier ist also ein metaphilosophisches Problemverständnis vollständig historisch realisiert. So haben die »Streitigkei»wie es mir (er)scheint« einzuklammern (vgl. PH I, 135, 190, 198 und 200). Ferner wird der argumentative Vorgang, durch den sich unentscheidbare Meinungsverschiedenheit auffinden lassen soll, von Sextus als Tropus »aus dem Widerstreit« (apo tēs diaphōnias) bezeichnet (vgl. PH I, 164–165); die Charakterisierung dieses Vorgangs als Tropus, d. h. Argumentationsform, scheint die Vorstellung zu implizieren, dass der isosthene Charakter bzw. die Unentscheidbarkeit der vorgefundenen Meinungen erst nach einer bestimmten argumentativen Bearbeitung dieser Meinungen aus diesen konfligierenden Meinungen (apo tēs diaphōnias) hervorgeht. Diese These kann weiter erhärtet werden, indem auf den doxographisch-peripatetischen Hintergrund des Diaphonie-Begriffs hingewiesen wird; die Kategorie der Diaphonie wurde in dieser Tradition als rhetorisch-dialektische Kategorie zur Ordnung überlieferter Meinungen (doxai, placita) verstanden, welche den Einsatz solcher Meinungen in systematischen Diskussionen vorbereiten sollte; vgl. dazu Mansfeld 1990a (zu Sextus 3161 ff.). Es ergibt sich im Kontext dieser Tradition für Sextus folgendes Bild: Die Vielfalt gegebener oder überlieferter Meinungen wird so sortiert, dass jeder Meinung eine Meinung an die Seite gestellt wird, die dem so sortierenden Skeptiker als ihr opponierend erscheint, mit dem Ziel, einen Zustand der Meinungsenthaltung (epochē) und dadurch Ungestörtheit (ataraxia) zu erreichen. Der durch das methodische Mittel der Isosthenie bzw. der dynamis antithetikē (Fähigkeit des argumentativen Opponierens) angeleitete Tropus der Diaphonie – möglicherweise im Zusammenhang mit den anderen Tropen Agrippas (vgl. Barnes 1990, 1–35 und 113–144) – kann als der argumentative Mechanismus angesehen werden, welcher diese Ordnungsaktivität reguliert. Der Tropus der Diaphonie ist so verstanden eine methodische Struktur, welche die Realisierung eines praktisch-philosophischen Ziels erlaubt. Insgesamt scheint es damit berechtigt, diaphōnia anepikritos als das immer wieder zu realisierende Produkt dieser argumentativen Ordnungsaktivität zu interpretieren und mit Barnes (laut Barnes: in den meisten Fällen) diesen Ausdruck als »aktuell noch nicht entschiedenen Widerstreit«, als »undecided dispute« (Barnes 1990, 19), zu übersetzen. 16 Als weiteres Beispiel sei Bacon genannt; vgl. im Novum Organum die Idolenlehre: Buch I, Aphorismus 38–69; hier insbesondere die idola theatri). Vgl. zu Descartes 3.3.2.

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ten« in der (erfahrungsübersteigenden) Metaphysik für Kant einen »endlosen« (KrV, A viii) Charakter.17 Fichte führt in der Ersten Einleitung von 1797 die gesamte Vielfalt philosophischer Theorien auf zwei miteinander unverträgliche Systeme – Idealismus und Dogmatismus – zurück, für die gilt, dass sie »beide […] von gleichem Werthe zu seyn scheinen, beide nicht beisammen stehen, aber auch keines von beiden etwas gegen das andere ausrichten kann« (W I, 431).18 Und auch Hegels Phänomenologie liegt, wie im fünften Kapitel deutlich werden wird, ein solches Isosthenieverständnis zugrunde. Das Isosthenieverständnis dieser neuzeitlichen Autoren ist vom pyrrhonistischen spezifisch verschieden. »Isosthenie« meint nicht mehr einen Zustand, in dem einzelne Argumente für den jeweiligen philosophischen Theoretiker als gleichwertig erscheinen infolge von durch ihn unternommene argumentative Anstrengungen, diese Argumente mit philosophischen Mitteln als argumentativ gleichkräftig auszuweisen. Der Begriff bezieht sich vielmehr nun auf eine historische Situation, in der philosophische Positionen gleichwertig fundiert erscheinen angesichts des aporetischen Verlaufs einer Philosophiegeschichte, in der sich noch nie eine bestimmte Position gegen andere (dauerhaft) faktisch durchzusetzen vermocht hat. Pointiert gesagt: Während im antiken Pyrrhonismus erst aus dem Vorliegen von mit philosophischen Mitteln bewirkter Isosthenie auf (aktuell) unentscheidbare Diaphonie bzw. Meinungsverschiedenheit geschlossen wird, wird bei diesen Autoren als unentscheidbar geltende Diaphonie umgekehrt gerade als Indiz für den isosthenen Charakter dessen, was faktisch diaphon vorliegt, angesehen. Dass ein historisches Isosthenieverständnis erst in der Neuzeit regulär angetroffen werden kann oder sogar typisch für dieses Zeitalter ist, kann an dieser Stelle nicht nachgewiesen werden. Auch die Frage, welche Gründe dazu geführt haben, dass ein philosophisches Isosthenieverständnis ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr allgemein überzeugt hat bzw. überzeugen konnte, würde eine ausführlichere Untersuchung erfordern.19 Soweit es aber zur weiteren Verdeutlichung des Isosthenieverständnisses der Phänomenologie beitragen kann, sei zumindest kurz auf einige historische Voraussetzun-

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Vgl. dazu 3.3.3. Die Vorstellung eines nicht-schlichtbaren Widerstreits von konträren Theoriestandpunkten findet man in der nachkantischen Philosophie häufig; vgl. z. B. Jacobis David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch und den fünften Brief von Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus (SW I/1, 300–307). Für das Motiv der Isosthenie generell vgl. u. a. Reinhold: TVV, 32, 46, 73 f.; Beyträge zur Berichtigung I, 3 ff., 93 f. und 341 ff.; Fichte: W I, 3, 29, 86, 119–122, 419 ff., 505 ff.; Schelling: SW I/1, 281 ff., 343 ff., 456 f. 19 Ich hoffe, in Zukunft eine solche Untersuchung vorlegen zu können. 18

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gen für das Aufkommen eines faktischen Isosthenieverständnisses eingegangen und damit angedeutet, in welche Richtung eine Erklärung gehen könnte. Erkenntnisformen, die im traditionellen Verständnis als Wissensformen gelten, welche das unmittelbar Gegebene nicht mit (diesem nicht entlehnten) begrifflichen Mitteln ordnen, sondern dieses unmittelbar Gegebene augenzeugenmäßig berichten, wurden seit Aristoteles mit dem Begriff der historia bezeichnet. Da das, was von diesen Wissensformen unmittelbar beschrieben wird, als mit (diesem nicht entlehnten, metaphysisch-philosophischen) begrifflichen Mitteln angemessener – weil mehr das Wesen des Beschriebenen betreffend – beschreibbar galt, konnten diese Wissensformen als die am wenigsten wahrheitsfähigen und in der Hierarchie des Wissens zuunterst angesiedelten interpretiert werden.20 Seit der Neuzeit kann dagegen eine Tendenz zur Aufwertung desjenigen, was traditionell Gegenstand historischer Wissensformen war – also des Faktischen –, festgestellt werden. Die faktische Beschreibung wird zunehmend als etwas verstanden, das über einen eigenen Gegenstandsbereich – den der »Geschichte« – verfügt, der nicht mit nicht-historischen Mitteln beschreibbar ist.21 Von den vielen Möglichkeiten, diesen Vorgang theoretisch zu erklären,22 sei hier diejenige Reinhart Kosellecks hervorgehoben, da sie am ehesten geeignet zu sein scheint, jenen Vorgang in Bezug auf die Philosophie verständlich zu machen. Koselleck betrachtet die genannte Aufwertungstendenz als Ausdruck eines (realen) Beschleunigungsprozesses historischen Wandels, wodurch die historische Realität zunehmend als solche erfahrbar wurde. Besonders seit der Zeit um 1800 – der sogenannten »Sattelzeit« – seien historische Veränderungen nicht mehr nur aus der Forscherperspektive zugänglich gewesen, sondern hätten sich in einer solchen Geschwindigkeit vollzogen, dass sie auch innerhalb der Zeitspanne eines Menschenlebens als 20

Anders formuliert, die Geschichte eines Gegenstandes betraf nicht diesen selbst, sondern bloß seine äußeren Akzidenzien; der Gegenstand als solcher wurde ahistorisch vorgestellt und galt daher auch angemessener als nicht-historisch beschreibbar. Vgl. dazu Koselleck 1979a, 38 ff., Koselleck 1975, 647 ff., Muhlack 1991, 67 ff., Seifert 1976 und die Ausführungen von Horst Günther in Koselleck 1975, 638 ff. Vgl. für die Verwendung des Terminus bei Aristoteles Zoepffel 1975, insbesondere 8–17, und für seine Verwendung in der Antike allgemein Meier 1975. 21 Vgl. dazu Koselleck 1975, 647 ff. und Troeltsch 1922. Zum disziplinären Aufstieg der Wissensform Geschichte vgl. Hardtwig 1990. Vgl. auch die in den nächsten Anmerkungen angeführten Werke. 22 Stellvertretend seien die klassischen Untersuchungen von Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke (vgl. Troeltsch 1922 und Meinecke 1959), für die Gegenwart Muhlack 1991 und Küttler/Rüsen/Schulin 1994 genannt.

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Realität erfahrbar geworden seien.23 Dies habe sich semantisch in der ontologischen Aufladung des Geschichtsbegriffs niedergeschlagen.24 Der Kosellecksche Erfahrungsbegriff scheint im besonderen Maße geeignet, auch für den Spezialfall der Philosophie den Aufwertungsprozess ihrer faktisch-historischen Dimension verständlich zu machen. Denn er kann erklären, wie historische Vorgänge unterschiedlicher Provenienz – sowohl auf individueller Ebene als auch in überindividuellen Begriffsbildungsprozessen – ideengeschichtlich transformiert und so zu intellektuellen Motiven werden.25 Während Koselleck im Rahmen seiner im Bereich der allgemeinen Geschichte angesiedelten Untersuchungen diese neue historische Erfahrung von Geschichtlichkeit auf Wandlungsprozesse der politisch-sozialen Welt bezieht, scheint es plausibel, die für die Philosophie relevanten Erfahrungen von Historizität auf diejenigen Wandlungsprozesse zu beziehen, welche für sie spezifisch sind: d. h. auf den Bereich der »Philosophiegeschichte«. 23

Vgl. Koselleck 1975, 647 ff. und Koselleck 1979a, 130–158 und 211 ff. Diese Entwicklung äußert sich laut Koselleck zunächst wortgeschichtlich darin, dass der Terminus »Geschichte« sich von einem Plurale tantum (»die Geschichte sind«) in einen Kollektivsingular (»die Geschichte ist«) wandelt und »Historie« und »Geschichte«, d. h. Darstellungsebene (historia rerum gestarum) und Ereignisebene (res gestae) kontaminieren. Statt von den vielen Geschichten, welche jeweils auf einzelne ahistorisch gedachte Gegenstände bzw. Einzelereignisse bezogen sind, sei seit etwa 1770 von der Geschichte schlechthin die Rede, welche ihr eigenes Subjekt und Objekt ist. Damit einher gehe die Transzendentalisierung, Enttheologisierung und Entnaturalisierung des Geschichtsbegriffs – Subjekt der Geschichte ist nicht länger eine ahistorisch gedachte göttliche oder natürlich-rationale Instanz, sondern die Geschichte selbst –, in dessen Rahmen der Geschichte als autonomer Instanz ein »intensivere[r] Realitätsgehalt« und Wahrheitsgehalt zuwachse (vgl. Koselleck, 1979a, 52). Dabei führt diese Entwicklung laut Koselleck nicht nur zu einer ontologischen Aufladung des Geschichtsbegriffs, sondern auch zu einer Historisierung des Geschichtsbegriffs, dessen Gegenstandsseite erst jetzt historisch oder geschichtlich gedacht werde; zwar sei vor dieser Entwicklung auch bereits von der Geschichte als Gegenstand die Rede gewesen – etwa die historia ipsa in Augustins De civitate dei –, aber dieser Begriff habe sich zu dieser Zeit noch auf einen ahistorischen Gegenstand bezogen – im Falle Augustins auf ein metaphysisches Heilsgeschehen –, welches als mit nicht-historischen Mitteln angemessener beschreibbar galt. Vgl. insgesamt Koselleck 1975, 647 ff. und Koselleck 1979a, 38–66. 25 Dies ist für die hier interessierenden Vorgänge deshalb von Vorteil, da einerseits diese nur schwer aus explizit formulierten intellektuellen Motiven einsichtig gemacht werden können, andererseits eine Erklärung durch realhistorische Vorgänge der politischen Geschichte oder Kulturgeschichte – etwa der »Französischen Revolution« oder der »Historisierung des Weltbildes« – für wissenschaftstheoretische Vorgänge nur wenig Erklärungskraft besitzt, soweit diese aus spezifisch wissenschaftshistorischer – in diesem Fall: philosophiehistorischer – Perspektive verständlich gemacht werden sollen. Vgl. zu den methodischen Aspekten der Koselleckschen Variante von Begriffsgeschichte Koselleck 1979a, 107 ff. und Koselleck 1979b. 24

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Als ein erster möglicher Aspekt, auf den sich solche Erfahrungen beziehen konnten, sei die mit dem Fortschreiten der Zeit immer größere Zahl sich immer schneller abwechselnder philosophischer Systeme angeführt. Dabei wird man das, was Koselleck für realhistorische Wandlungsprozesse annimmt, auch für philosophiehistorische geltend machen können: Erst als die Abfolge der Systeme (oder gar ganzer intellektueller Bewegungen oder Denkschulen) sich in einer solchen Geschwindigkeit vollzog, dass sie innerhalb der Zeitspanne eines einzelnen Menschenlebens wahrnehmbar und erlebbar wurden – als Bewusstsein der Tatsache, dass das eigene Zeitalter eine große »Menge philosophischer Systeme […] als eine Vergangenheit hinter sich liegen hat« (Differenzschrift, GW 4, 9) –, konnte Isosthenie in der Philosophie als philosophiehistorisches und d. h. faktisches Phänomen historisch erfahrbar werden. Man wird annehmen dürfen, dass diese Erfahrung zu einer Zunahme des philosophiehistorischen Interesses führte – sich u. a. in philologischer Editionsarbeit und philosophiehistorischen Untersuchungen äußernd –, welches wiederum jene Erfahrung immer stärker ins Bewusstsein der Philosophierenden rückte.26 Diese erste, nur auf die Vergangenheit bezogene Erfahrung zwingt allerdings noch nicht zu einem strukturellen Isosthenieverständnis philosophischer Systeme: deren Vergangensein lässt es ja weiterhin zu, sie als akzidentelle Ausdrucksformen – etwa als methodisch mangelhafte Realisierungen27 – der (nicht-isosthenen) philosophischen Ansichten der Gegenwart zu deuten. Man wird aber annehmen dürfen, dass im Zuge einer weiteren (gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden) Beschleunigung der philosophiehistorischen Wandlungsprozesse und der dadurch bewirkten zunehmenden Ausrichtung des philosophiehistorischen Blicks auf die jüngere Vergangenheit, eine zweite Erfahrung möglich wurde, die nunmehr zu einem faktischen und strukturellen Isosthenieverständnis führte: die Erfahrung, dass einander widersprechende philosophische Systeme nicht nur in der Vergangenheit angetroffen werden können, sondern auch, dass die Gegenwart selbst durch eine Vielzahl von sich widersprechenden und in ihrem Wahrheitsanspruch bekämpfenden philosophischen Systeme ausgezeichnet ist. Man könnte dies in Abwandlung einer Koselleckschen Formel die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Widerstreitenden nennen. Dass die eigene Zeit in dieser Hinsicht besonders ausgezeichnet sei, war man sich zu Beginn des Kantischen Zeitalters durchaus bewusst. So heißt es 26

Vgl. dazu insbesondere Schneider 1990. Vgl. auch Guéroult 1984, Braun 1990 und Santinello 1993. 27 So die cartesische Strategie; vgl. 3.3.2.

Philosophisches vs. metaphilosophisches Isosthenieverständnis

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1790 im ersten der Reinholdschen Briefe über die Kantische Philosophie, welche einen großen Einfluss auf das Zustandekommen der anfänglichen Phase der nachkantischen idealistischen Philosophie ausgeübt haben: »Das auffallendste und eigenthümlichste Merkmal von dem Geiste unsers Zeitalters ist eine Erschütterung aller bisher bekannten Systeme, Theorien und Vorstellungsarten, von deren Umfang und Tiefe die Geschichte des menschlichen Geistes kein Beyspiel aufzuweisen hat«.28 Reinhold fordert daher ein – von ihm zwischen 1789 und 1792 »Grundlage«, »Grundsatz« oder »Fundament« genanntes – Grundlegungsprinzip, das nicht nur »allgemeingültig«, sondern auch »allgemeingeltend« ist: das nicht nur wahr ist, sondern auch als solches allgemein anerkannt wird bzw. faktisch unbestritten bleibt.29 Bei den nachfolgenden Protagonisten des Deutschen Idealismus, dessen früher Verlauf (1789–1796) von Henrich mit der »Explosion einer Supernova« verglichen worden ist,30 dürfte die Erfahrung faktisch-struktureller Isosthenie sich sogar noch intensiviert haben. So stellt Niethammer 1795 fest, es gelte auch für die »Bekenner der kritischen Philosophie«, »daß sie selbst da, wo sie einig sind – bei der Forderung einen obersten Grundsatz alles Wissens aufzustellen und darauf die Philosophie als Wissenschaft zu gründen – gerade in der Hauptsache, in der Bestimmung dieses Grundsatzes, völlig von einander abweichen«.31 28

Briefe über die Kantische Philosophie 1790, 12–13; GS 2/1, 16–17. Für Reinhold ist die Kultur seines Zeitalters generell durch die Gleichzeitigkeit des Isosthenen gekennzeichnet, vor allem auch auf dem Gebiet der Religion. Vgl. in Bezug auf die Wissenschaft: »Wir haben in keinem einzigen Fache ein herrschendes System, dem der allgemeine Beyfall den Stempel der wirklichen oder eingebildeten Vollendung aufgedrückt hätte. […] Mit den neuen Berichtigungen und Entdeckungen vervielfältigen sich die neuen einander entgegen gesetzten Theorien, wovon jede vergebens als ganz unhaltbar angefochten, und vergebens als allgemeingültig vertheidigt wird« (Briefe über die Kantische Philosophie 1790, 18; GS 2/1, 19). Vgl. auch die stark abweichende Fassung des ersten Briefes im Teutschen Merkur (Der Teutsche Merkur: Nr. 8 (1786), 99–127). 29 Vgl.: »Das allgemeingeltende Princip in der Philosophie unterscheidet sich von dem allgemeingültigen dadurch, daß es nicht nur, wie dieses, von jedem der es versteht als wahr befunden, sondern auch von jedem gesunden und philosophirenden Kopfe wirklich verstanden wird« (TVV, 71–72). Während also die allgemeine Gültigkeit einer Theorie ihren Wahrheitsgehalt betrifft, bezieht sich die allgemeine Geltung einer Theorie auf das faktisch-empirische Maß ihrer Akzeptanz. Vgl. dazu Bondeli 1995a, 102–107 und Ameriks 2000, 96 ff. 30 Vgl. Henrich 1991, 217 f. und Henrich 1992, 17–23 (Der rapide Gang des Denkens nach Kant als Problem). 31 Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 1 (1795), Vorbericht, ohne Seitenangabe. Ähnlich stellt Maimon 1797 rückblickend auf die (bisherige) nachkantische Entwicklung fest, »daß nach der […] von dem Königsberger Philosophen bewirkten Revolution in der Philosophie« die Nachkantianer »bis jetzt nicht einmal in dem

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Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung

3.3 Typologischer Abriss der Entstehung metaphilosophischer Theoriebildung Als Nächstes soll nun dargelegt werden, wie in Reaktion auf das durch die Erfahrung faktisch-struktureller Isosthenie ermöglichte metaphilosophische Problembewusstsein metaphilosophische Theoriebildung entstehen konnte. Zunächst seien drei Indizien für die Entstehung bzw. – bei vollständiger Realisierung dessen, was von den Indizien thematisiert wird – das historische Vorliegen metaphilosophischer Theoriebildung angeführt: 1. Als erstes Indiz die Tatsache, dass dem Problem historisch-faktischer und struktureller Isosthenie philosophischer Theorien seit der Neuzeit zunehmend theoretisch Rechnung getragen wird, kulminierend in metaphilosophischer Theoriebildung wie sie im zweiten Kapitel definiert wurde. Isosthenie wird, wie oben dargelegt, vor der Neuzeit oft als Problem verstanden, das die Möglichkeit philosophischer Theoriebildung nicht in Frage stellt und daher unproblematisch mit Mitteln der eigenen philosophischen Position bearbeitet werden kann. Ihr wird demnach durch Faktoren theoretisch Rechnung getragen, welche die Gegenstandsebene philosophischer Theorien betreffen und daher unproblematisch mit philosophischen Mitteln beschrieben werden können: seien es subjektive Faktoren wie böswillige Intentionen oder argumentative Unterlegenheit von Konkurrenten, seien es objektive Faktoren wie der irrtumsbewirkende Charakter sinnlicher Erkenntnis oder die Beschränktheit unseres Erkenntnisapparats. Seit der frühen Neuzeit wird Isosthenie dagegen zunehmend als faktisches Problem verstanden, das strukturell mit den bisher gebrauchten philosophischen Mitteln zusammenhängt. Während zunächst noch eine Revolutionierung der philosophischen Methode für möglich gehalten wird, wird ab Kant verstärkt eine spezifisch metaphilosophische Theorieform für erforderlich gehalten, um diesem Problem adäquat theoretisch Rechnung tragen zu können. Mit Hegels Phänomenologie wird dann die erste metaphilosophische Theorie vorliegen, die sich exklusiv mit dem Problem des isosthenen Auftretens philosophischer Theorien beschäftigt.32 2. Als zweites Indiz die im 18. Jahrhundert stattfindende Transformation der Doxographie33 zur (meta)philosophischen PhilosophiegeschichBegriffe von Philosophie unter einander einig geworden sind« (Pragmatische Geschichte des Begriffs von Philosophie, 150). 32 Vgl. dazu 5.3. 33 Als charakteristisch für »Doxographie« sehe ich folgende drei Merkmale an: (i) das Studium von fremden Meinungen in der Vergangenheit ist kein Selbstzweck; (ii) die zeitliche Abfolge von fremden Meinungen wird nicht mittels spezifisch historischer Gründe,

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te.34 Eine Philosophiegeschichte, die nicht länger bloß anekdotischen Charakters ist, sondern von der Philosophie selbst handelt, setzt voraus, dass diese als historisch veränderlich angesehen wird. Eine solche Auffassung impliziert oder begünstigt doch zumindest, dass die Eigenschaft der Philosophie, historisch als zeitliche Abfolge isosthener Theorien gegeben zu sein, nicht länger als ihr äußerliche Begebenheit, sondern als ihr strukturell inhärent begriffen wird. Die im 18. Jahrhundert entstehende Philosophiegeschichte kann als der Versuch verstanden werden, die ihrer Auffassung zufolge bestehende Tatsache, dass die Philosophie wesentlich als isosthener Verlauf zu denken ist, auf eine spezifisch philosophiehistorische Weise zu erklären. Soweit diese Erklärungen einerseits als solche verstanden werden, die als philosophiehistorische mit Mitteln arbeiten, die von philosophischen spezifisch verschieden sind, und andererseits als solche, die es mit der strukturellen Beschaffenheit philosophischer Theoriebildung zu tun haben, kann auch das Aufkommen der Philosophiegeschichte als Indiz für die Entstehung metaphilosophischer Theoriebildung gewertet werden.35 Der erste, der eine metaphilosophische Theorie aufstellte, Kant, war bezeichnenderweise auch der erste, der eine solche Philosophiegeschichte konzipierte.36

sondern unmittelbar unter Zuhilfenahme von Theoremen aus der eigenen philosophischen Position erklärt; (iii) es gibt keine spezifische Disziplin, welche sich mit fremden Meinungen beschäftigt. Der Terminus »Doxographie«, der das Bestehen einer solchen Disziplin suggeriert, ist ein neologistischer Terminus, der auf Hermann Diels’ Doxographi Graeci von 1879 zurückgeht (vgl. Runia 1999 und Mansfeld/Runia 2010); daher soll mit »Doxographie« hier die Praxis des Umgangs mit fremden Meinungen vor der Entstehung der eigentlichen Philosophiegeschichte gemeint sein. 34 Vgl. dazu allgemein Guéroult 1984, Braun 1990, Schneider 1990 und Santinello 1993 und mehr speziell für den Deutschen Idealismus Geldsetzer 1968 und Kolmer 1998. 35 Viele Konzeptionen von Philosophiegeschichte können sogar als (implizite) Form von metaphilosophischer Theorie angesehen werden. Dies ist dann der Fall, wenn das, was jeweils unter »Philosophiegeschichte« verstanden wird, erstens von philosophischen Theorien handelt, zweitens als philosophiehistorische Erklärung argumentativ unabhängig von dem ist bzw. sein soll, was erklärt wird, und drittens als begründungsrelevant für das, was als Philosophie gilt, angesehen wird; zum metaphilosophischen Status philosophiehistorischer (bzw. philosophiegeschichtsphilosophischer) Überlegungen vgl. ausführlich Geldsetzer 1968. Zum Problem der argumentativen Funktion der Philosophiegeschichte seien stellvertretend Hartmann 1955, Lübbe 1962, Sass 1972, Rorty/Schneewind/Skinner 1984, Mittelstraß 1976, Mittelstraß 1991, Mittelstraß 1995a und Gutmann 1996 genannt; für einen allgemeinen Überblick über den historischen Umgang mit diesem Problem sei auf Hösle 1984, 17 ff. und Kang 1998 verwiesen, für Kant und die nachkantische Philosophie auf Geldsetzer 1968 und Kolmer 1998. 36 Vgl. dazu 3.3.3 unten. Typologischer Abriss der Entstehung metaphilosophischer Theoriebildung

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3. Als drittes Indiz schließlich die Ausdifferenzierung einer selbständigen metaphilosophischen Theoriedisziplin. Disziplingeschichtlich kommt dies in der Verselbständigung der »Topik« zum Ausdruck. Die »Topik« war im traditionellen Kanon philosophiemethodologischer Disziplinen, dem aristotelischen Organon, diejenige Disziplin, die sich mit irrtümlicher Erkenntnis beschäftigte. Sie galt nicht als argumentativ selbständige Disziplin; in ihr wurden vielmehr Regeln für die Anwendung von philosophischmethodologischem Wissen auf konkrete Argumentationssituationen aufgestellt. Hinsichtlich dieses Wissens selbst wurde nicht mit Meinungsverschiedenheit gerechnet und es konnte daher unproblematisch aus den anderen, philosophisch-methodologischen Disziplinen des Organons importiert werden. Wenn nun seit dem 18. Jahrhundert diejenigen Disziplinen, die sich in der Nachfolge der »Topik« mit irrtümlicher Erkenntnis beschäftigten – beispielhaft genannt seien Lamberts Phänomenologie, Kants transzendentale Dialektik und Hegels Phänomenologie –, zunehmend als argumentativ selbständige Disziplinen konzipiert wurden, die Topik sich in dieser Weise also zu einer autonomen Theoriedisziplin transformierte, so zeigt dies, dass man diese Disziplinen nicht mehr auf unbestreitbare Prinzipien gründen zu können meinte, sondern auch in Hinsicht auf sie prinzipiell mit isosthener Meinungsverschiedenheit rechnete. Dies bedeutete wiederum, dass man diese Disziplinen nicht länger als methodologische Disziplinen innerhalb der Philosophie ansehen konnte – also als Disziplinen, in denen philosophieimmanent eine methodologische Selbstanwendung philosophischer Prinzipien praktiziert wird –, sondern sie als eigenständige metaphilosophische Disziplinen konzipieren musste. Diesen historischen Zusammenhängen kann in dieser Arbeit nicht ausführlich nachgegangen werden. Dennoch ist ein allgemeines Verständnis der Entstehung metaphilosophischer Theoriebildung hilfreich für das Verständnis von Hegels metaphilosophischer Lösungsstrategie in der Phänomenologie. Daher soll in diesem Kapitel besagter Entstehungsprozess vor allem bezüglich des ersten, wichtigsten Indizes in groben Zügen typologisch beschrieben werden, indem vorgeführt wird, wie Aristoteles, Descartes und Kant jeweils dem Problem der Isosthenie theoretisch Rechnung getragen haben.

3.3.1 Aristoteles In der Antike spielten fremde Meinungen in der Philosophie durchaus eine wichtige Rolle, man denke an die Bedeutung dessen, was von verschiedenen Theoretikern jeweils unter »Dialektik« verstanden wurde. Bei Aristoteles

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scheinen fremde Meinungen sogar eine besonders große Rolle gespielt zu haben.37 Dennoch sieht auch Aristoteles die Vielfalt philosophischer Theorien nicht als ein Problem an, das die Möglichkeit seiner Theorie in Frage stellen könnte. Um dies deutlich werden zu lassen, wird im Folgenden zunächst auf den methodischen Stellenwert von fremden Meinungen (endoxa) bei Aristoteles eingegangen und anschließend Aristoteles’ Umgang mit den Ansichten seiner Vorgänger im ersten Buch der Metaphysik – Buch Alpha – analysiert. Methodologische Überlegungen hat Aristoteles vor allem in den sechs Schriften angestellt, welche später als Organon bekannt geworden sind. In diesen Schriften können zwei argumentative Zentren ausgemacht werden.38 In den Analytiken findet sich das klassische Bild der aristotelischen Beweistheorie, in deren Mittelpunkt das apodiktische Beweisverfahren steht. In diesem Beweisverfahren soll durch die logisch gültige Ableitung von Konklusionen aus apodiktisch gewissen Prämissen apodiktisch gewisse Erkenntnis generiert werden. In der Topik steht dagegen das dialektische Beweisverfahren im Vordergrund. Dieses Verfahren ist für Aristoteles zwar nicht mit der gleichen Sicherheit wie das apodiktische Verfahren verbunden, gilt ihm aber dennoch als relativ sicher.39 Das dialektische Verfahren stellt für Aristoteles ebenfalls eine gültige Form von Deduktion dar, nimmt aber anders als das apodiktische Beweisverfahren seinen Ausgang von bloß wahrscheinlichen Prämissen und generiert daher bloß wahrscheinliche Erkenntnis. In welchem Verhältnis beide Beweisverfahren zueinander stehen und welches der beiden für Aristoteles wichtiger ist, bleibt unklar und kann an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben.40 Vielmehr soll nur kurz auf das dialektische 37

So meint Myles Burnyeat: »Aristotle is unique [!] among ancient philosophers in his respect for people’s opinions: both the opinions of other philosophers and the opinions of the ordinary man. He does not defend a ›common sense‹ philosohpy in the manner of G. E Moore, but if something is believed by absolutely everyone, then, he holds, it must be true. Aristotle also does something that a 20th-century philosopher like Moore could never have dared. He establishes science on the basis of the opinions of ›the majority‹ and of ›the wise‹« (Burnyeat 1986). 38 Vgl. die in Anm. 40 aufgeführte Literatur. 39 Vgl. dazu und zum Folgenden das erste Buch der Topik, insbesondere Topik I, 1: 100a18–101a24. 40 Während in der Forschung lange Zeit das apodiktische Verfahren als Aristoteles’ primäres Beweisverfahren galt, findet sich in der neueren Forschung oft auch die Ansicht, dass das dialektische Verfahren als dasjenige Beweisverfahren anzusehen ist, das von Aristoteles selbst in seinen Schriften überwiegend praktiziert oder gar von ihm selbst als sein wichtigstes Beweisverfahren angesehen wurde. Als Vertreter dieser Lesart seien stellvertretend genannt: Owen 1961, Owen 1968, Evans 1977, Barnes 1980, Nussbaum 1986, 240– 263, Irwin 1988, Sim 1999 und bedingt auch Bolton 1990; vgl. kritisch dazu Hamlyn 1990.

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Verfahren eingegangen werden, welches am ehesten den Verdacht aufkommen lässt, dass metaphilosophische Argumentation bei Aristoteles eine Rolle spielen könnte. Denn während im apodiktischen Beweisverfahren fremde Meinungen keine Rolle spielen, nehmen dialektische Schlüsse ihren Ausgang von Prämissen, die auf endoxa, fremden Meinungen, basieren.41 Die dialektische Argumentationsform kann im Groben als Verfahren charakterisiert werden, mittels der argumentativ-deliberativen Prüfung von herrschenden und allgemein akzeptierten Ansichten über einen Sachverhalt – von Aristoteles endoxa oder hypolepseis genannt42 – zu einer begründeten Ansicht über diesen Sachverhalt zu gelangen. Man kann sich nun fragen, ob dieses Verfahren nicht als eine metaphilosophische Argumentationsform verstanden werden kann. Denn der Reflexion auf andere Ansichten scheint hier eine selbständige argumentative Funktion für die Generierung und Rechtfertigung von philosophischen Ansichten zuzukommen; es scheint demnach im dialektischen Verfahren eine Abhängigkeit philosophischer von metaphilosophischen Überlegungen zu bestehen. Dies ist m. E. aber nicht der Fall. Denn endoxa werden von Aristoteles in der Regel nicht so sehr als konkurrierende Theorien bzw. Prototheorien zu eigenen philosophischen Positionen, sondern vielmehr als primäre epistemische Quellen angesehen, welche erst das Material für die Untersuchung eines bestimmten theorieexternen Sachverhalts liefern. Endoxa bilden daher oft den Ausgangspunkt für eine Diskussion von Einzelproblemen.43 Es interessiert an ihnen also nicht primär ihr Meinungscharakter, sondern der Sachverhalt, über den sie jeweils informieren. Anders als später Kant oder Hegel unterscheidet Aristoteles insofern nicht zwischen einer philosophischen und einer metaphilosophischen Theorieebene. Auch rechnet er anders als sie nicht mit isosthener Meinungsverschiedenheit bezüglich der Frage, wie die allgemeine Akzeptanz von Überzeugungen überhaupt festgestellt werden kann. Metaphilosophische Argumentation im engeren Sinne liegt also bei Aristoteles nicht vor. Eine Ausnahme scheint das erste Buch der Metaphysik zu bilden, in dem fremde Ansichten dem Anschein nach nicht als epistemische Quellen für die Generierung von eigenen Ansichten dienen, sondern als konkurrierende Theorien zu Aristoteles’ eigener philosophischen Theorie thematisiert werden. Da die hier angestellten metaphilosophischen Überlegungen 41

Vgl. 100a18 ff. Allgemein akzeptierte Überzeugungen von allen, der meisten oder der Spezialisten, »reputable things« (Barnes 1980, 498 f.); vgl. 100b21–23 und 104a8 ff. 43 So beispielsweise in De Anima I, 2–4 (403b20 ff.; vgl. dazu Baltussen 1996) und in der Nikomachischen Ethik VII, 1 (1145b1 ff.). 42

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von Aristoteles als »förderlich« für eine nähere Bestimmung seiner philosophischen Theorie charakterisiert werden,44 könnte hier tatsächlich der Eindruck entstehen, es handle sich um metaphilosophische Theorieüberlegungen. Bei näherem Hinsehen wird aber klar, dass die kritische Analyse der Vorgängertheorien für Aristoteles keine argumentativ selbständige Begründungsrelevanz besitzt, d .h. keine Begründungsrelevanz, die argumentativ unabhängig von eigenen philosophischen Ansichten ist. Vielmehr legt Aristoteles dieser Analyse von vornherein seine eigene Vierursachentheorie zugrunde. So nimmt er eine genetische Abfolge in der Kenntnis von Ursachentypen an: Die ersten Philosophen – Thales, Anaximenes und andere – hätten nur die Stoffursache gekannt (Ursache als hylē bzw. hypokeimenon), die zu geringe Erklärungskraft dieses Ursachentyps habe dann bei Anaxagoras und Empodokles zur Annahme einer zweiten Art von Ursache geführt, der Bewegungsursache (Ursache als kinēsis). Der dritte und vierte Ursachentyp seien laut Aristoteles vor seiner eigenen Philosophie nicht vollkommen explizit erfasst worden: die Pythagoräer hätten die Ursache als Wesen (ousia) und Sosein (to ti ēn einai) bloß unvollkommen als Zahlen begriffen und Empodokles und Anaxagoras Bewegungs- und Zweckursache (Ursache als to hou heneka) verwechselt.45 Dieser Abfolge von Ursachentypen liegt für Aristoteles ein teleologischer Prozess in der Realität zugrunde,46 der zu einem Fortschritt in der Wahrheit geführt habe,47 aber den Theorieproduzenten selbst verborgen geblieben sei.48 Der defiziente Charakter der Ansichten seiner Vorgänger wird von Aristoteles also nicht mit der Struktur philosophischer Theoriebil44

Sie seien »förderlich« (prougros) für eine nähere Bestimmung der Sophia. Die sophia, die in den ersten beiden Kapiteln von Buch Alpha als »Wissenschaft von den ersten Ursachen (aitia) und von den Prinzipien (archai)« (981b28–29) bestimmt wird, fungiert im Kontext dieses Buches als grundlegendste Wissenskategorie, an der in der Folge auch die Theorien der Vorgänger gemessen werden. 45 Vgl. den zusammenfassenden Passus 988a23–b16. 46 Hierfür spricht u. a. die allgegenwärtige Wachstumsmetaphorik; vgl. z. B. 993a11–17. Vgl. zum teleologischen Charakter der Meinungsabfolge Nightingale 2004, 26–29 und Barney 2012, 97 f. 47 Vgl. z. B. 984a18 ff. 48 Vgl. z. B. 985a4 ff. An dieser Stelle unterscheidet Aristoteles in Bezug auf Empedokles zwischen der eigentlichen Bedeutung (pros tēn dianoian, 985a4–5) und dem unvollkommenen Ausdruck (pros ha psellizetai, 985a5) seiner Ansichten. Nightingale (Nightingale 2004, 27, Fußnote 66) merkt an, dass Plato und Aristoteles mit dem Verb psellizesthai die unvollkommene Sprechweise von Kindern bezeichnen (»baby talk«); so beispielsweise Problemata 902b22. Dieser Unterscheidung scheint somit ebenfalls eine teleologische Sichtweise zugrundezuliegen. Vgl. auch Mansfeld 1990b, 42 ff.

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dung in Verbindung gebracht, sondern hängt für ihn mit einem realen Prozess, d. h. mit einem theorieexternen Faktor zusammen, welcher entsprechend philosophieimmanent mit den Mitteln der eigenen Kausalitätstheorie erklärt werden kann. Wenn man annimmt, dass Aristoteles im Rahmen von Buch Alpha auch die Entstehung der eigenen Kausalitätstheorie mitthematisiert, indem er diese (zumindest implizit) als das teleologische Resultat des besagten Prozesses versteht,49 läge darüber hinaus eine Selbstanwendung dieser Theorie vor: seine Kausalitätstheorie, die er in der Physik zunächst entwickelt hatte,50 um theorieexterne Sachverhalte zu beschreiben, würde er nun anwenden, um die Entstehung eben dieser Theorie zu erklären. Die Ausführungen im Buch Alpha werden manchmal als eine frühe Form von Philosophiegeschichte aufgefasst.51 Es dürfte aber klar geworden sein, dass Aristoteles nicht an einer unparteiischen Darstellung von philosophischen Theorien interessiert ist, sondern dass es ihm lediglich darum geht, die Vorzüge der eigenen Vierursachentheorie herauszustellen.52 So heißt es am Ende von Buch Alpha: »Daß wir also die Zahl und die Art der Ursachen richtig bestimmt haben, dafür scheinen auch [neben den philosophischen Erörterungen in der Physik] diese alle [die dargestellten Theoretiker] Zeugnis zu geben (martyrein), da sie keine andere Ursache berühren konnten« (988b16–18). Insofern ist der Umgang mit fremden Meinungen hier nicht strukturell verschieden von Aristoteles’ Umgang mit Endoxa an anderen Stellen.53 Nur bilden hier die Endoxa nicht den Ausgangspunkt einer Sachdiskussion, sondern werden nachträglich mit den Ergebnissen einer solchen Sachdiskussion verglichen, um die Überlegenheit dieser Ergebnisse gegenüber den Aus49

Dies wird in Buch Alpha zwar nicht explizit ausgeführt, scheint aber von Aristoteles’ teleologischer Sichtweise auf den Verlauf der Meinungsentwicklung seiner Vorgänger durchaus nahegelegt. 50 Aristoteles selbst verweist in Buch Alpha auf die Physik: vgl. 983a33–983b1. 51 So etwa Guthrie 1953, Long 2006 und Zhmud 2006, 117 ff. Vgl. gegen Guthrie Stevenson 1974. 52 Aristoteles’ Darstellung wird überwiegend als parteiisch beurteilt. So meint Harold Cherniss: »Aristotle is not, in any of the works we have, attempting to give a historical account of earlier philosophy. He is using these theories as interlocutors in the artificial debates which he sets up to lead ›inevitably‹ to his own solutions« (Cherniss 1935, xii); genannt seien ferner stellvertretend A. Taylor 1907, 30 ff., Braun 1990, 18 ff., Mansfeld 1990b, 28–45, Mansfeld 1990c, Collobert 2002 und Nightingale 2004, 26–29. 53 Vgl. Cherniss 1935, 320, Mansfeld 1990b, 28–45 und Baltussen 2000, 31 ff., der in diesem Zusammenhang treffend von »Endoxographie« (Baltussen 2000, 41 f.) spricht. Vgl. zum »dialektischen« Charakter der antiken Doxographie generell und deren Abhängigkeit von Aristoteles Mansfeld 1990a (insbesondere 3060 ff., 3122 ff. und 3193 ff.).

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gangsmeinungen deutlich hervortreten zu lassen. Es handelt sich also nicht um philosophiehistorische Überlegungen im eigentlichen Sinne, sondern bloß um »the most historical of Aristotle’s dialectical surveys« (Mansfeld 1990b, 45).54 Schließlich dürfte auch klar geworden sein, dass es bei Aristoteles keine spezielle metaphilosophische Theoriedisziplin gibt. Das in der Topik thematisierte dialektische Verfahren ist nicht eingeschränkt auf metaphilosophische Theorieüberlegungen, und Überlegungen zu Endoxa finden sich entsprechend nicht an einem spezifischen, eingegrenzten Ort im Corpus Aristotelicum. Auch die Überlegungen im ersten Buch der Metaphysik werden nicht in einem spezifisch metaphilosophischen Theoriekontext angestellt, sondern folgen unmittelbar auf eine philosophische Überlegung über die sophia als »Wissenschaft von den ersten Ursachen (aitia) und von den Prinzipien (archai)« (981b28–29) in den ersten beiden Kapiteln von Buch Alpha. 3.3.2 Descartes Bei Descartes nimmt das Problem der Isosthenie einen größeren Stellenwert ein. Im ersten Teil des Discours beschreibt Descartes, wie er bereits in seiner Jugend die Erfahrung gemacht habe, dass es unschlichtbaren, isosthenen Widerstreit in der Philosophie gibt: »Von der Philosophie werde ich nichts weiter sagen, nur dies: Ich sah, dass sie von den hervorragendsten Geistern, die über mehrere Jahrhunderte hinweg gelebt haben, gepflegt worden ist und dass es in ihr dennoch nicht eine Sache gibt, über die man nicht mehr streiten würde (dont on ne dispute) und die folglich [!] nicht zweifelhaft wäre« (AT 6, 8; I, 12). Wie man sieht, führt Descartes für die generelle Zweifelhaftigkeit philosophischer Erkenntnis keine philosophischen Gründe wie etwa außenweltskeptizistische Argumente an, sondern das historische Faktum der Uneinigkeit und des Streits unter den Philosophen.55 Isosthene Meinungsverschiedenheit ist für Descartes kein sekundäres Merkmal philosophischer Theoriebildung – etwa ein Phänomen, das durch 54

In eine z. T. ähnliche Richtung scheint mir auch Rachel Barney zu gehen; vgl. Barney 2012, insbesondere 99 ff. Laut Barney handelt es sich bei den Überlegungen in Metaphysik Alpha um eine spezielle Form von dialektischer Argumentation, die sie als »clarification-dialectic« (Barney 2012, 101) bezeichnet; die Überlegungen in Metaphysik A3 seien »a unique exercise in ›negative corroborative dialectic‹« (Barney 2012, 70). Sie ist allerdings zugleich der Meinung, dass diese Überlegungen in bedingter Hinsicht als eine Form von Philosophiegeschichte verstanden werden können; vgl. Barney 2012, 103 f. 55 Zum Isosthenie-Motiv bei Descartes vgl. Forster 1998, 189–190.

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die psychologische Unterlegenheit der bisherigen Theoretiker zu erklären wäre – sondern etwas, das strukturell mit den bisher verwendeten philosophischen Mitteln zusammenhängt.56 Daher könne sich den bisherigen philosophischen Theorien keine strukturell ähnliche Theorie anschließen – auch sie würde durch isosthenes Opponieren in Frage gestellt werden können –; vielmehr sei ein methodischer Neuanfang notwendig.57 Dennoch hält Descartes keine spezifisch metaphilosophische Theorie für erforderlich, um die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter zu befreien, sondern glaubt einen methodischen Neuanfang innerhalb der Philosophie wagen zu können. Zur Stützung dieser These sei kurz auf Descartes’ Methodenkonzeption eingegangen. Das Zentrum dieser Konzeption bilden vier methodische Regeln oder Vorschriften (préceptes). Die erste Regel schreibt vor, ausschließlich von dem auszugehen, was aufgrund unmittelbarer Evidenz als wahr einleuchtet, »niemals irgendeine Sache als wahr zu akzeptieren, die ich nicht evidentermaßen als solche erkenne« (AT 6, 18; II, 7). Die übrigen Regeln betreffen die formalen Prinzipien, welche die methodisch korrekte Ableitung komplexer Sachverhalte aus dem unmittelbar Evidenten ermöglichen sollen: die Prinzipien der Analysis, der logischen Ordnung und der Vollständigkeit.58 Die Methode schreibt also nichts weiter vor, als dass erstens von dem unmittelbar Evidenten ausgegangen werden soll und zweitens bei der Ableitung von weiteren Sachverhalten aus diesen ›einfachsten Wahrheiten‹ (AT 6, 19; II, 11) bestimmte Regeln befolgt werden müssen. Dass es aber überhaupt solche ersten Sachverhalte gibt, die durch bloße Evidenz ihre Wahrheit garantieren, und dass bei der Frage, welche diese wahren Sachverhalte sind, nicht mit isosthener Meinungsverschiedenheit gerechnet werden muss, setzt Descartes als unproblematisch voraus. Die methodischen Regeln schützen also nur insoweit vor Meinungsverschiedenheit, als diese zurückführbar ist auf einen methodisch fehlerhaften Umgang mit den als unmittelbar wahr einleuchtenden Sachverhalten, nicht jedoch gegen ein isosthenes Auftreten dieser vermeintlich wahren Sachver-

56

Vgl.: »[D]ie Verschiedenheit unserer Meinungen (la diversité de nos opinions) [rührt] nicht daher […], dass die einen vernünftiger sind (plus raisonnables) als die anderen, sondern nur daher, dass wir unsere Gedanken auf verschiedenen Wegen verfolgen und nicht die gleichen Dinge berücksichtigen. Denn es genügt nicht, einen gesunden Geist (l’esprit bon) zu haben, vielmehr ist es die Hauptsache, ihn richtig anzuwenden« (Discours AT 6, 2; I, 1). 57 Vgl. AT 6, 16; II, 4. 58 Vgl. AT 6, 18–20; II, 7–11.

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halte selbst.59 Der cartesianischen Methodenkonzeption liegt insofern letztlich doch ein Philosophieverständnis zugrunde, dem zufolge das Faktum der Isosthenie philosophischer Positionen als ein nicht-substanzielles Merkmal der Philosophie anzusehen ist, das sich nicht auf die Wahrheit selbst erstreckt, sondern lediglich auf einen methodisch fehlerhaften und insofern vermeidbaren Umgang mit ihr. Descartes nimmt auf diese Weise eine typologische Zwischenstellung in der Geschichte des Umgangs mit dem Problem der Vielfalt philosophischer Positionen ein. Einerseits ist sein Interesse, sich mit dem Phänomen der Vielfalt philosophischer Positionen zu beschäftigen, anders als bei Aristoteles nicht lediglich durch den Nutzen geleitet, die eigene Theorie im Rahmen einer philosophisch-sachbezogenen Auseinandersetzung mit alternativen Theorien als diesen überlegen präsentieren zu können, sondern die Tatsache, dass es in der Philosophie vor ihm eine solche Vielzahl unterschiedlicher und sich widersprechender Theorien gegeben hat, stellt sich ihm als ein genuines Problem dar. Andererseits meint Descartes auf eine die philosophische Theorie vorbereitende metaphilosophische Theorie verzichten und das Problem der Diversität philosophischer Theorien letztlich mit philosophischen Mitteln lösen zu können. Kurz: bei Descartes liegt zwar ein (fast vollständig realisiertes) metaphilosophisches Problemverständnis vor, nicht aber metaphilosophische Theoriebildung. Während sich für eine besondere Bedeutung der Philosophiegeschichte bei Descartes nur wenige Anhaltspunkte finden,60 scheint er in Bezug auf das dritte Indiz ebenfalls eine Zwischenstellung einzunehmen. Metaphilosophische Überlegungen werden nicht wie bei Aristoteles im gesamten Werk angestellt, sondern finden verstärkt ihren spezifischen Ort in Methodenschriften.61 So sei das eigentliche Beweisziel des Discours »nicht, hier die Methode zu lehren [d. h. zu praktizieren]« (AT 6, 4; I, 5), sondern der metaphilosophische Aufweis der intellektuellen Wege, welche sie erforderlich gemacht

59

Bereits Gassendi macht in der Fünften der den Meditationes beigegebenen objectiones den pyrrhonistisch inspirierten Einwand, dass im Rahmen der cartesianischen Philosophie kein Kriterium zur Verfügung steht, zu wissen, ob eine sich als wahr präsentierende Vorstellung wirklich klar und deutlich ist oder lediglich so erscheint, und ob insofern auch bezüglich der sich als klar und deutlich präsentierenden Vorstellungen mit Isosthenie zu rechnen ist; vgl. AT 7, 277–279 und dazu AT 7, 361–362. 60 Descartes scheint eine eher ablehnende Haltung zur Philosophiegeschichte zu haben; vgl. z. B. AT 10, 367, 497 f. Dies wohl vor allem deshalb, weil ein radikaler Neuanfang innerhalb der Philosophie nicht gut verträglich ist mit der Historizität der Philosophie. Vgl. Braun 1990, 64 ff. und Santinello 2011, 3 ff. 61 Neben dem Discours seien die Regulae genannt.

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haben.62 Allerdings kann leicht festgestellt werden, dass diese Methodenschriften sich nicht exklusiv mit dem Problem der Isosthenie beschäftigen, sondern in ihnen auch (objekt-)philosophische Überlegungen angestellt werden.63 3.3.3 Kant Bei Kant können sowohl ein metaphilosophisches Problemverständnis als auch metaphilosophische Theoriebildung angetroffen werden. Die Kritik der reinen Vernunft reagiert auf das Problem der Isosthenie, indem sie als metaphilosophische Theorie – als »Metaphysik von der Metaphysik« (AA 10, 269) – die Möglichkeit der Metaphysik64 metatheoretisch untersucht. Allerdings muss zugestanden werden, dass Kant noch schwankt zwischen der Auffassung seiner kritischen Theorie als metaphilosophischer Theorie und als metaphysischer Theorie, die als reformierte erfahrungsbasierte Metaphysik an die Stelle der bisherigen metaphysischen Theorien tritt.65 Die nachfolgende Darstellung wird nur die erste Auflage der KrV berücksichtigen, die am stärksten für die metaphilosophische Lesart spricht. Für Kant ist die bisherige Philosophie durch eine faktisch-strukturelle Isosthenie von metaphysischen Geltungsansprüchen charakterisiert: sie biete sich als ein »Kampfplatz« von »endlosen [!] Streitigkeiten« (KrV, A viii) zwischen dogmatischen und skeptizistischen Positionen dar.66 Diese Situation prinzipieller Isosthenie mache es unmöglich, in Form von dogmatischem oder skeptizistischem Philosophieren die bisherige Metaphysik fortzusetzen. Daher sei eine Kritik der reinen Vernunft erforderlich, eine Kritik »des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung 62

Vgl. AT 6, 3–4; I, 3–5. Vgl. z. B. den vierten und fünften Teil des Discours AT 6, 31–40. 64 Wie hier nicht im Einzelnen nachgewiesen werden kann, ist die »Metaphysik« für Kant diejenige Theorie, die von der Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte handelt; vgl. dazu das Architektonikkapitel, insbesondere A 841 ff. Kant identifiziert dort die »Metaphysik« mit dem »System der reinen Vernunft« und grenzt sie von der »Kritik« ab, welche als Propädeutik das Vermögen der Vernunft (wie unten deutlich wird: metaphilosophisch) untersucht. Das, was Kant »Metaphysik« nennt, kann also nach 2.1 (i) als dasjenige angesehen werden, was Kant als philosophische Theorie gilt. Vgl. auch A xx f. und A 11 ff. 65 Vgl. Förster 1998, insbesondere 50 ff. und Erdmann 1878. Auch Zeitgenossen ist diese Ambivalenz aufgefallen, vgl. beispielsweise Fichte, W I, 33 und Wilhelm Traugott Krug, Entwurf eines neuen Organon’s der Philosophie, Vorrede, xii f. 66 Vgl. A vii–xii. Vgl. zum Isosthenie-Motiv bei Kant Forster 2005a, Forster 2005b und Forster 2008b. 63

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der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben« (A xii). Die kritische Theorie, wie sie hier bestimmt wird, kann als ein Fall von metaphilosophischer Theoriebildung interpretiert werden. Denn die kritische Theorie soll nicht aus der Problemlage philosophischer Isosthenie herausführen, indem eine weitere metaphysische Theorie aufgestellt wird, sondern indem zuallererst metaphilosophisch die Möglichkeit untersucht wird, ob metaphysische Theorie überhaupt möglich ist.67 Anders als bei Descartes kann innerhalb der KrV in Gestalt der transzendentalen Dialektik auch eine Disziplin namhaft gemacht werden, deren konzeptuelle Verfasstheit den Anforderungen auf spezifische Weise Rechnung trägt, welche mit einem metaphilosophischen Problemverständnis verbunden sind. In Übereinstimmung mit einem solchen Problemverständnis kann die transzendentale Dialektik als eine Theorie verstanden werden, welche die Möglichkeit philosophischer Theorie klären soll, ohne selbst bereits – ihrer Intention nach – die gleiche Art von Mitteln in Anspruch zu nehmen, deren Möglichkeit es allererst zu klären gilt. Hier liegt freilich der Einwand nahe, dass Kants Theorie der Dialektik auf einer in der transzendentalen Analytik entwickelten philosophischen Theorie der Erfahrung aufbaut und insofern indirekt doch die Möglichkeit desjenigen voraussetzt, was es erst zu prüfen gilt. Ohne diese Fragen hier ausführlich erörtern zu können, kann für eine metaphilosophische Interpretation der kritischen Konzeption die Tatsache angeführt werden, dass nach Kantischem Verständnis – vor allem in der ersten Auflage der KrV – die in der transzendentalen Analytik entwickelten theoretischen Mittel als metatheoretisches Instrumentarium zum Einsatz kommen sollen, mit dem Ziel, eine philosophisch unparteiische Klärung der Möglichkeit von Metaphysik in der transzendentalen Dialektik möglich zu machen. Zwar finden sich keine direkten Belege für eine solche Interpretation, aber zur Plausibilisierung kann doch dreierlei angeführt werden. Zum ersten ist das Ausgangsproblem der Kritik gemäß der Vorrede zur ersten Auflage nicht die Möglichkeit empirischer Erkenntnis, sondern die Widersprüchlichkeit metaphysischer Vernunfterkenntnis; das primäre – metaphilosophische – Ziel der Kritik sei daher die »Abstellung aller Irrungen« (A xii), »das Blendwerk, das aus Mißdeutung entsprang, aufzuheben« (A xiii). Zum zweiten ist Kant der Meinung, dass empirischer Verstandesgebrauch als solcher nicht 67

Vgl. Förster 2011, 15.

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Isosthenie als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung

auf eine kritische Analyse angewiesen ist, sondern solche Analyse nur für die Aufklärung des erfahrungsübersteigenden Vernunftgebrauchs erforderlich ist.68 Zum dritten kann auch der reflexiv-metatheoretische Charakter der transzendental-logischen Analysemittel insgesamt,69 – der transzendentaldialektischen wie der transzendental-analytischen – als Argument für die These angeführt werden, dass mit ihnen nicht die Generierung selbständiger Erkenntnis, sondern die Aufstellung epistemischer Kriterien beabsichtigt wird, auf deren Grundlage die metaphilosophische Frage nach der Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis in der transzendentalen Dialektik entschieden werden soll. Der spezifisch metaphilosophische Charakter dieser transzendental-logischen Analysemittel kann darin gesehen werden, dass mit diesen Mitteln nicht wie im Falle der allgemeinen Logik eine bloße Deskription der formalen Strukturen von gegebenen Inhalten angestrebt wird, sondern dass diese Mittel auch eine spezifische Rechtfertigungsfunktion für die von ihnen reflektierten Inhalte wahrnehmen sollen: es soll nicht die Form des Denkens von Inhalten überhaupt, sondern nur die Form des Denkens apriorischer Gegenstände reflektiert und – das sei an dieser Stelle nur programmatisch angedeutet – auf diese Weise die Durchführung der normativen Frage nach der Möglichkeit solcher Inhalte ermöglicht werden. 68

Vgl.: »Wenn wir also durch diese [transzendentalanalytische] kritische Untersuchung nichts mehreres lernen, als was wir im blos empirischen Gebrauche des Verstandes auch ohne so subtile Nachforschung von selbst wohl würden ausgeübt haben, so scheint es, sei der Vortheil, den man aus ihr zieht, den Aufwand und die Zurüstung nicht werth« (A 237); vgl. auch AA 20, 260. 69 Zum Status dieser Analysemittel vgl. A 11/12, A 56, A 260 f. (Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe). Auch die traditionellen Disziplinen des aristotelischen Organons verhalten sich in gewisser Weise reflexiv zu den anderen Bereichen dessen, was traditionellerweise als Philosophie gilt. Denn auch sie beziehen sich nicht auf die theorieexternen Gegenstände philosophischer Theorie, sondern stellen Regeln für das philosophische Denken auf und können insofern als der traditionelle Ort philosophischer Methodologie angesehen werden. Charakteristisch für die traditionelle Interpretation dieser Disziplinen ist aber, dass bis Kant mit solchen reflexiven Disziplinen nicht die Möglichkeit oder Rechtfertigung der reflektierten philosophischen Theorien thematisiert wurde und daher bei der Festlegung von Denkregeln auch unproblematisch Theoreme in Anspruch genommen werden konnten, welche erst in den reflektierten Theorien ihre Begründung erfuhren. Die »transzendentale Logik« wird von Kant nun als ein Konkurrenzprojekt zu diesen – von ihm »allgemeine Logik« genannten – Disziplinen konzipiert, welche es im Unterschied zu ihnen spezifisch mit der Möglichkeit metaphysischer bzw. synthetisch-apriorischer Erkenntnis zu tun hat. Als »Organon« (A 52), welches spezifisch die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis untersucht, kann sie, anders als die traditionellen logischen Disziplinen, nicht die philosophischen Erkenntnisse voraussetzen, deren Möglichkeit es erst kritisch zu untersuchen gilt. Vgl. zum metatheoretischen Status transzendentaler Erkenntnis z. B. Tonelli 1994 und Förster 2011, 15 ff., 114 ff.

Typologischer Abriss der Entstehung metaphilosophischer Theoriebildung

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Insgesamt liegt also nach den im zweiten Kapitel aufgestellten Kriterien eine metaphilosophische Theorie vor: Es handelt sich um Theorieüberlegungen, die sich dem Selbstverständnis nach (i) reflexiv zu dem verhalten, was ihnen als philosophische Theorie gilt, (ii) argumentativ unabhängig von der und (iii) begründungsrelevant für die reflektierte Theorieform, hier: für die (erfahrungsübersteigende) Metaphysik, sind. Die Anerkennung des widersprüchlich-isosthenen Charakters (erfahrungsübersteigender) metaphysischer Erkenntnis und des ihr zugrundeliegenden Erkenntnisvermögens, der Vernunft, setzt Kant in die Lage, die Philosophie geschichtlicher zu fassen als die Philosophen vor ihm.70 Historischer Wandel in der Philosophie betrifft nun nicht mehr lediglich den fehlerhaften Umgang mit philosophischer Erkenntnis, die in ihrer eigentlichen Beschaffenheit als unveränderlich gilt, sondern deren intrinsische Struktur. Entsprechend bezeichnet Kant im letzten Kapitel der KrV diejenige Theoriedisziplin, die sich mit dem historischen Wandel in der Philosophie beschäftigen soll, als »Geschichte der reinen Vernunft« (A 852), d. h. als Geschichte, die mit der Struktur der Vernunft selbst zusammenhängt. In den Losen Blättern wird er diese Disziplin als »apriorische Philosophiegeschichte« ausarbeiten.71 Schließlich handelt es sich bei der KrV um eine eigenständige metaphilosophische Theoriedisziplin. Die kritische Theorie ist für Kant entsprechend keine traditionelle Disziplin der Philosophie, sondern – gemäß den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik – »eine ganz neue Wissenschaft […], von welcher niemand auch nur den Gedanken vorher gefaßt hatte, wovon selbst die bloße Idee unbekannt war« (AA 4, 262). Die Aufgabe dieser neuen Disziplin besteht darin, im Sinne einer propädeutischen Theorie das »System der reinen Vernunft« oder die »Metaphysik« als die eigentliche Darstellung der durch die Kritik ermöglichten philosophischen Resultate argumentativ vorzubereiten:72 Die »transzendentale Kritik« habe nicht »die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern nur die Berichtigung derselben zur Absicht« und soll so »den Probirstein des Werths oder Unwerths aller Erkenntnisse a priori« abgeben. Demnach sei die Kritik »Vorbereitung«, und erst nach solcher Vorbereitung werde »allenfalls der70

Vgl. zu Kants »Philosophiegeschichtsphilosophie« und deren Verhältnis zur transzendentalen Dialektik Lübbe 1962. 71 Vgl.: »Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch sondern rational d. i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.« (AA 20, 341). Vgl. insgesamt Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik (AA 20, 333–351). 72 Vgl. A 11 und A 841; vgl. auch A xx f.

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einst das vollständige System der Philosophie der reinen Vernunft, es mag nun in Erweiterung oder bloßer Begrenzung ihrer Erkenntniß bestehen« dargestellt werden können (A 12).73 Die »Kritik« verhält sich also nach Kantischem Verständnis metaphilosophisch zum »System«, sie soll nicht selbst erweiternde Erkenntnis aus reiner Vernunft generieren, sondern die Tauglichkeit des Vernunftvermögens als eigenständige Erkenntnisquelle allererst metaphilosophisch beurteilen.74 Dennoch wird nicht Kants gesamte kritische Theorie ohne weiteres als metaphilosophische Irrtumslehre verstanden werden können. Die KrV ist zwar insgesamt eine Propädeutik, aber in dieser Propädeutik erfüllt nur die transzendentale Dialektik eindeutig metaphilosophische Aufgaben. Wie gezeigt, sind diese Aufgaben argumentativ abhängig von den übrigen Theoriedisziplinen der KrV. Insofern ist die KrV noch nicht in jeder Hinsicht eine metaphilosophische Theorie. Erst mit Hegels Phänomenologie wird (auf eindeutige Weise) eine vollständig ausdifferenzierte metaphilosophische Theorie vorliegen, die als propädeutisch-metaphilosophische Theoriedisziplin nicht mehr von anderen (propädeutisch-)philosophischen Disziplinen abhängt, sondern als metaphilosophische Irrtumslehre völlig autonom ist.75

73

Vgl.: da »es noch dahin steht, ob auch überhaupt eine solche Erweiterung unserer Erkenntniß und in welchen Fällen sie möglich sei: so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen« (A 11). 74 Es soll nicht verschwiegen werden, dass sich in der ersten Auflage der KrV auch Stellen finden, welche eher gegen die Annahme sprechen, dass es sich bei der »Kritik« und dem »System« – zumindest dem Teil des Systems, welchen Kant als TranszendentalPhilosophie bezeichnet – um Disziplinen handelt, die sich qua methodischem Standpunkt und Gegenstandsbereich unterscheiden; vgl. z. B. A 13–14. 75 Vgl. dazu 7.2.2.

teil iii hegels phänomenologie als metaphilosophische theorie

4. Metaphilosophisches Problemverständnis und Theoriebildung vor der Phänomenologie?

In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, inwiefern bei Hegel schon vor der Zeit der Phänomenologie ein metaphilosophisches Problemverständnis und eine darauf reagierende metaphilosophische Theoriebildung angetroffen werden können. Genauer: es wird untersucht, erstens, ob Hegel faktische Isosthenie bereits in der frühen Jenaer Zeit (1801–1803) als ein Problem verstand und, zweitens, ob (und gegebenenfalls wie) er diesem Problem zu dieser Zeit auch schon theoretisch Rechnung trug.1 Die Analyse wird sich konzentrieren auf diejenigen Schriften, in denen (faktische) Isosthenie explizit thematisiert wird und die daher am meisten zur Aufklärung des metaphilosophischen Problem- und Theorieverständnisses der Phänomenologie beitragen können: die Differenzschrift (4.1) und der Skeptizismus-Aufsatz (4.2).2 Abschließend folgt ein Exkurs, in dem Michael Forsters pyrrhonistische Interpretation der Phänomenologie einer kritischen Analyse unterzogen wird (4.3).

4.1 Die Differenzschrift Als eines der Hauptprobleme, welche den frühen Hegel beschäftigten, kann das Problem der endlichen Gegebenheit der Wirklichkeit angesehen werden: die Tatsache, dass unser Denken und die Wirklichkeit uns zunächst nur auf 1

Auf eine Darstellung der späten Jenaer Zeit (1803–1806), in der insbesondere der Jenaer Systementwurf II bzw. die im dortigen Logikteil ausgeführte logische Einleitungskonzeption für die hier verfolgte Frage von Interesse wäre, werde ich verzichten, einerseits der schlechten Quellenlage wegen – u. a. ist die Anfangspartie des Logikteils des Jenaer Systementwurfs II, wo Hegel sich dazu geäußert haben dürfte, inwiefern die (damals eine Einleitungsfunktion wahrnehmende) »Logik« auf das Problem der Isosthenie reagiert, nicht überliefert –, andererseits der Komplexität eines Vergleichs der logischen (1804/5) mit der phänomenologischen Einleitungskonzeption wegen, der nur in einer selbständigen Arbeit zu bewältigen wäre. Vgl. zur logischen Einleitungsdisziplin von 1804/5 1.2 (Mitte) und die dort aufgeführte Literatur. Vgl. für eine ausführliche entwicklungsgeschichtliche Darstellung der gesamten Jenaer Zeit Düsing 1976 und Schäfer 2001. 2 In der frühen »Logik« von 1801/2 wird das Problem faktischer Isosthenie nicht explizit thematisiert. Im Übrigen scheint mir die im dritten Teil dieser »Logik« (nur) programmatisch ausgeführte Konzeption, die für die Einleitungsproblematik am ehesten relevant ist, verwandt zu sein mit Hegels unten dargestellter Antinomienkonzeption. Vgl. zur »Logik« von 1801/2 1.2 und die dort aufgeführte Literatur. Metaphilosophie vor der Phänomenologie?

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Metaphilosophie vor der Phänomenologie?

eine widersprüchliche Weise gegeben sind, so dass wahre und d. h. für Hegel absolute Erkenntnis unmöglich ist. Die vielfältigen theoretischen Aspekte, die für Hegel mit diesem Problem verbunden sind, finden sich zusammengeführt im ersten Kapitel der Differenzschrift, mit welcher sich Hegel bekanntlich zum ersten Mal der philosophischen Öffentlichkeit präsentierte. Das explizite Ziel dieser Schrift kann durchaus als metaphilosophisch charakterisiert werden, geht es in ihr doch zunächst nicht um die Aufstellung eines eigenen Standpunktes, sondern um die Frage, ob das Fichtesche und das Schellingsche System der Philosophie identisch oder verschieden seien, sowie um die Frage des »spekulativen«, und das heißt für Hegel, des Wahrheitsgehalts dieser Systeme.3 Zu diesem Zweck werden im ersten Kapitel Betrachtungen über Philosophie – das erste Kapitel ist überschrieben: »Mancherlei Formen, die bey dem jetzigen Philosophiren vorkommen« (GW 4, 9) – angestellt, in deren Rahmen ein Philosophiebegriff entwickelt wird, der es ermöglichen soll, den spekulativen Gehalt philosophischer Systeme zu beurteilen. Diese Schrift scheint daher besonders für die Analyse von Hegels frühem Umgang mit metaphilosophischen Problemen geeignet. Allerdings kann leicht festgestellt werden, dass in der Differenzschrift den verschiedenen Aspekten des endlichen Denkens primär philosophisch und nicht metaphilosophisch Rechnung getragen wird: durch eine ontologische Theorie von einem uns entzogenen Absoluten, durch eine epistemologische Theorie der dualistischen Gegebenheit dieses Absoluten und der Bedingungen seiner philosophischen Erkenntnis, sowie durch eine genetische Theorie der Entstehung einer dualistisch gegebenen Wirklichkeit – Theorien, die in ihrem Zusammenhang nicht leicht verständlich zu machen sind. Nichtsdestoweniger gilt es hier, selektiv das metaphilosophische Problemverständnis, wie es am Anfang des ersten Kapitels der Differenzschrift angetroffen werden kann, zum Gegenstand der Analyse zu machen.4 Zugleich soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Elemente der philosophischen Konzeption der Differenzschrift als Antwort auf diese metaphilosophische Problemanalyse verstanden werden können. Direkt zu Beginn der Differenzschrift – in dem ersten Abschnitt mit der Überschrift: »Geschichtliche Ansicht philosophischer Systeme« (GW 4, 9) – wird das endliche Auftreten philosophischer Theorie durch ihren geschicht3

Als »spekulativ« bezeichnet Hegel mindestens seit der Differenzschrift immer diejenigen Ansichten, die ihm als philosophisch wahr gelten (vgl. GW 4, 29 und GW 20, 49, 118–120; § 9, §§ 79–82); auch in dieser Arbeit soll der Terminus sich immer auf Überlegungen beziehen, die aus Hegels eigener philosophischer Perspektive angestellt werden. 4 Für eine ausführliche Analyse der Differenzschrift vgl. Zimmerli 1974 und Baum 1989, 93 ff.

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lichen und isosthenen Charakter bestimmt: der geschichtlichen Ansicht erscheine die Philosophie als »blosse Mannigfaltigkeit verständiger Begriffe und Meynungen« (GW 4, 12). Diese geschichtliche Ansicht ist für Hegel Ausdruck eines späten Zeitalters, das durch die Erfahrung ausgezeichnet ist, eine große »Menge philosophischer Systeme […] als eine Vergangenheit hinter sich liegen« (GW 4, 9) zu haben – also durch die Erfahrung faktischer Isosthenie5 –, und aufgrund dieser Erfahrung zur Indifferenz bezüglich des Wahrheitsgehalts dieser Meinungen gelangt ist: »es kann philosophischen Systemen kein anderes Verhältniß zu sich geben, als daß sie Meynungen sind; und solche Accidenzien, wie Meynungen können ihm nichts anhaben, es hat nicht erkannt, daß es Wahrheit gibt« (GW 4, 10). Dieser geschichtlichen Ansicht setzt Hegel ein spekulatives Verständnis der Vielfalt philosophischer Systeme entgegen, das diese als in ihrem Wesen identische Instanzen der »einen« Philosophie begreift: »Wenn aber das Absolute, wie seine Erscheinung die Vernunft, ewig ein und dasselbe ist, wie es denn ist; so hat jede Vernunft, die sich auf sich selbst gerichtet und sich erkannt hat, eine wahre Philosophie producirt, und sich die Aufgabe gelöst, welche, wie ihre Auflösung, zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil in der Philosophie die Vernunft, die sich selbst erkennt, es nur mit sich zu thun hat, so liegt auch in ihr selbst ihr ganzes Werk wie ihre Thätigkeit, und in Rücksicht aufs innre Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger noch Nachgänger« (GW 4, 10). Es gibt daher nicht eigentlich eine isosthene Pluralität von Philosophien – das »Wesen« der Philosophie bleibt von Isosthenie vielmehr unbetroffen –, sondern nur eine Pluralität von Systemen als äußerlichen Erscheinungsformen dessen, was Philosophie im Wesen ist: »Was einer Philosophie eigenthümlich ist, kann eben darum, weil es eigenthümlich ist, nur zur Form des Systems nicht zum Wesen der Philosophie gehören« (ebd.). Es ist nicht leicht zu sehen, wie Elemente von Isosthenie in diese Konzeption strukturell eingehen oder aufgenommen werden können sollen. Vielmehr scheint es sich hier um eine Auffassung von Philosophie als philosophia perennis zu handeln, in der die Vielfalt philosophischer Theorien – oder vielmehr die Vielfalt von Ansichten über Philosophie – platonisch als Erscheinung einer selbst differenzlosen Idee von Philosophie vorgestellt wird; eine Auffassung somit, welche dem vorcartesianischen Umgang mit philosophischer Diversität zugeordnet werden müsste.6

5

Nachfolgend ist explizit die Rede von einer Vielfalt isosthener Prinzipien –»Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freyheit und Nothwendigkeit u. s. w.« (GW 4, 13). 6 Vgl. zu philosophia perennis Schneider 1989 und Santinello 1993, insbesondere 14 ff. Die Differenzschrift

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Dennoch können in der im weiteren Verlauf des ersten Kapitels näher ausgeführten Konzeption zwei Elemente identifiziert werden, welche in spezifischer Weise dem Problem der Isosthenie strukturell Rechnung tragen. Erstens kann auf die ontologischen Hintergründe von Hegels damaliger Auffassung von Philosophiegeschichte hingewiesen werden. Obwohl ihm das Absolute als »ewig ein und dasselbe« gilt, deutet Hegel die Vielfalt philosophischer Systeme gleichwohl nicht als völlig zufällige Begebenheit; sie gilt ihm vielmehr als Ausdruck einer Art Verfallsgeschichte des Absoluten, welche zur Entzweiung der Realität geführt hat und überhaupt erst das Bedürfnis nach einer sie vereinigenden Philosophie hat aufkommen lassen: »Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie« (GW 4, 14). Ein wichtiger Faktor in diesem von Hegel auch als »Bildung« bezeichneten Entzweiungsprozess ist der dualistische Strukturen abbildende und fixierende Verstand – die »Kraft des Beschränkens« (GW 4, 12) –, der getrieben vom Absoluten ebenfalls eine Totalität anstrebt, aber aufgrund der reflexiven Verfassung seiner Erkenntnismittel die durch Entgegensetzungen entzweite Realität nur verselbständigt und reproduziert. Auch die Philosophiegeschichte – oder vielmehr Systemgeschichte – ist für Hegel Ausdruck dieses Entzweiungsprozesses. Die Vielfalt entgegengesetzter philosophischer Prinzipien – »Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freyheit und Nothwendigkeit u. s. w.« (GW 4, 13) – ist für ihn insofern nicht etwas völlig Akzidentelles, sondern Ausdruck einer ontologischen Verfallsgeschichte dessen, was anfangs in ursprünglicher Einheit vorlag. An dieser Stelle eine Anmerkung zu Hegels Terminologie. Wie eben dargelegt, wird die geschichtliche Ansicht der Philosophie – d. h. diejenige Ansicht, in der sie als isosthene Vielfalt von Positionen erscheint – von Hegel terminologisch nicht auf die Philosophie selbst, sondern nur auf ihr endliches, vielfältiges Auftreten als reflexives Denken bezogen. Dadurch könnte zu Unrecht der Eindruck entstehen, dass für Hegel die isosthene Vielfalt philosophischer Positionen kein wichtiges Problem in der frühen Jenaer Zeit dargestellt hätte. Es handelt sich hier aber um eine terminologisch eigentümliche, normative Verwendung des Philosophiebegriffs: Diejenige Philosophie, die Hegel als »ewig ein und dasselbe« bezeichnet, meint nicht dasjenige, was faktisch auf unterschiedliche Weise unter Philosophie verstanden wurde, sondern bildet für ihn eine normative Bezeichnung für wahres Wissen oder wahre Philosophie. Das Problem faktischer Isosthenie war für Hegel also sehr wohl

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ein wichtiges Problem,7 allerdings nicht als faktisch-strukturelles, sondern als faktisch-akzidentelles; denn nicht die Philosophie selbst, sondern nur die endlichen Erscheinungsformen der Philosophie, die »philosophischen Systeme«, fasst er als von Isosthenie betroffen auf.8 Nichtsdestoweniger scheint mir, dass sich Hegels Isosthenieverständnis einem strukturellen annähert: abgesehen von Hegels eigener Theorie, sind »Systeme«, d. h. andere philosophische Theorien, grundsätzlich isosthen.9 Als ein weiteres Theorie-Element der Differenzschrift, das dem Phänomen der Isosthenie auf spezifische Weise strukturell Rechnung trägt, kann – zweitens – Hegels Konzeption antinomischer Erkenntnis angesehen werden.10 Die eigentliche Instanz, die das Absolute erkennen kann, ist für Hegel nicht der Verstand, der aufgrund seiner reflexiven Verfassung das Absolute nicht rein zu erkennen vermag, sondern die von solcher Verstandesentstellung freie und das Absolute rein darstellende Vernunft. Da aber der Vernunft Konkurrenz gemacht wird vom Verstand, welcher die Vernunft nachahmt und ebenfalls vorgibt, Totalität(en) zu produzieren, ist es für Hegel erforderlich, dass »der Verstand […] auch unmittelbar auf seinem Gebiete durch die Vernunft angegriffen« (GW 4, 15) wird. Hieraus ergibt sich für Hegel die Aufgabe, neben der direkten Erkenntnis des Absoluten durch die Vernunft eine zweite, rein negative Erkenntnisform 7

Die Situation verkompliziert sich noch, wenn man die Zeit vor Jena miteinbezieht. So scheint Hegel im Systementwurf von 1801 (Theologische Jugendschriften, 345–351) Philosophie selbst als reflexive Denkform zu bestimmen und ihr die Religion als nichtreflexive, absolute Dimension der Indifferenz gegenüberzustellen; vgl. auch Theologische Jugendschriften, 378 ff. und 382 ff. Vgl. dazu Düsing 1976, 38 ff. Trotz dieser terminologischen Verschiebungen kann aber festgestellt werden, dass die Problembeschreibung als solche – das endliche Denken ist durch Isosthenie ausgezeichnet – im Wesentlichen unverändert bleibt. Dies gilt allerdings nicht für die Weise, wie Hegel Isosthenie in seinen eigenen philosophischen Konzeptionen strukturell berücksichtigt. Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass Hegel die Dimension des Absoluten, welche er vor 1801 mit Termini wie »Sein«, »Religion« und »Leben«, danach auch als »Philosophie« bezeichnete, mindestens bis zum Ende der frühen Jenaer Zeit nicht als isosthene und reflexiv strukturierte Dimension auffasste, dann aber zwischen 1803 und 1806 den isosthenen Charakter philosophischer Theorien zunehmend und dauerhaft in die eigene Konzeption des Absoluten integrierte. 8 In neuerer Zeit haben vor allem Forster (vgl. Forster 1989 und Forster 1998) und Vieweg (vgl. Vieweg 1999) das Problem der Isosthenie für Hegel und den Deutschen Idealismus fruchtbar gemacht. Beide differenzieren m. E. allerdings nicht genügend zwischen einem pyrrhonistischen und einem neuzeitlichen, historischen Isosthenieverständnis (vgl. dazu 3.2). Zu Forster vgl. 4.3. 9 Zudem verwendet Hegel selbst (inkonsequenterweise) in einigen Fällen die Pluralbildung »Philosophien« (vgl. GW 4, 14 und 31); neben dem normativen kommt also auch schon ein faktischer Philosophiebegriff vor. 10 Vgl. dazu insbesondere GW 4, 15–20.

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zu konzipieren, welche das Verstandesdenken destruiert und so das Absolute indirekt sichtbar bzw. erkennbar macht. Durch den Aufweis des antinomischen Charakters reflexiver Erkenntnis – d. h. der Tatsache, dass im Bereich des Verstandes jede (gegebene) Erkenntnis durch eine ihr entgegengesetzte (gegebene) Erkenntnis »aufgehoben«, d. h. für den frühen Jenaer Hegel: in ihrem Geltungsanspruch neutralisiert wird11 – soll diese Erkenntnisform der reflexiv verfassten Erkenntnis des Verstandes ihre Nichtigkeit vor Augen führen und so eine indirekte Erkenntnis des Absoluten für den Verstand ermöglichen: »Soll das Princip der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen werden« (GW 4, 24), so sei »die Antinomie, der sich selbst aufhebende Widerspruch, der höchste formelle Ausdruck des Wissens und der Wahrheit« (GW 4, 26). Die rein negative Erkenntnisform, die diesen Aufweis erbringt, stellt also selbst keine Antinomien her, sondern zeigt lediglich dem Verstandesdenken den faktisch widersprüchlich-antinomischen und d. h. faktisch isosthenen Charakter seiner Erkenntnisprodukte auf, die es in einem (historischen) Entzweiungsprozess selbst hervorgebracht hat. Diese rein negative, faktisch gegebene Antinomien aufzeigende Erkenntnisform soll hier die »antinomische« genannt werden.12 Trotz dieser beiden Isosthenie integrierenden Theorie-Elemente wird die Konzeption des ersten Kapitels der Differenzschrift aber insgesamt als eine Konzeption beurteilt werden müssen, in welcher faktischer Isosthenie nicht als strukturellem Merkmal von Philosophie Rechnung getragen wird. Denn erstens wird das Absolute von Hegel zu diesem Zeitpunkt noch als ein Sachverhalt gedacht, der strukturell von der Bildungsgeschichte seiner Entzwei11

Der »aufhebende« Charakter von Widersprüchen wird vom frühen Hegel (in Bezug auf die antinomische Erkenntnis bzw. die »Dialektik«) noch in einem rein destruktiven bzw. negativen Sinne verstanden; vgl. dazu Düsing 1976, 93 ff. 12 An dieser Stelle kann die (in der Sekundärliteratur vielfach diskutierte) Frage offengelassen werden, ob die antinomische Erkenntnis, die Einsicht in den widersprüchlichantinomischen Charakter endlicher Verstandeserkenntnis ermöglicht, (i) für Hegel selbst eine Form von reflexiv-endlicher Verstandeserkenntnis ist, (ii) eine Form von philosophischer Reflexion ist, die sich von der Reflexion endlicher Verstandeserkenntnis unterscheidet, oder (iii) bloß reflexive Erkenntnis zu ihrem Gegenstand hat, selbst aber keine Form von reflexiver Erkenntnis ist. Es scheint mir allerdings wenig plausibel, dass für Hegel die Erkenntnis, die Einsicht in die Nichtigkeit bzw. den isosthenen Charakter reflexiver Erkenntnis zu ermöglichen hat, selbst reflexiv bzw. isosthen verfasst sei; insofern scheint mir die dritte Option am wahrscheinlichsten. So verstanden wäre die antinomische eine Art Erkenntnis ex negativo: eine Erkenntnisart, die lediglich in dem Bewusstsein eines Nichterkannthabens (nämlich: der von der reflexiv-endlichen Erkenntnis thematisierten Sachverhalte) besteht. Vgl. zu diesen Fragen Zimmerli 1974, 95 ff. und 122 ff., Baum 1989, 93 ff., Jaeschke 1978, insbesondere 96 ff. und Schäfer 2001, 41 ff.

Die Differenzschrift

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ung unberührt bleibt. Die Bildungsgeschichte der verständigen Welt der Entzweiung wird nicht als die intrinsische Entwicklungsgeschichte des Absoluten selbst gedacht, sondern betrifft nur die äußeren Schicksale des reflexiven Umgangs mit dem Absoluten durch den Verstand.13 Dementsprechend unterscheidet Hegel die Weise, wie das Absolute von der Philosophie und der Vernunft erfasst wird, nicht von der Weise, wie das Absolute vor bzw. unabhängig von der Geschichte seiner Entzweiung existiert bzw. existierte: »es [das Absolute] ist das Ziel, das [von der Philosophie] gesucht wird; es ist schon vorhanden, wie könnte es sonst gesucht werden? die Vernunft producirt es nur, indem sie das Bewußtseyn von den Beschränkungen befreyt, dieß Aufheben der Beschränkungen ist bedingt durch die vorausgesetzte Unbeschränktheit« (GW 4, 15). Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Hegel zu diesem Zeitpunkt die »geschichtliche Ansicht philosophischer Systeme« (GW 4, 9) vordergründig negativ beurteilt und ihr keine spekulative Ansicht eines organischen Zusammenhangs der geschichtlichen Vielfalt der Systeme entgegensetzt; er vertritt vielmehr die These, dass Philosophien in prinzipieller Hinsicht identisch sind und lediglich danach beurteilt werden sollten, inwiefern sich in ihnen ein immer gleicher spekulativer Gehalt ausgedrückt hat.14 Ein weiteres Element, das von Isosthenie strukturell unberührt bleibt, stellt zweitens Hegels Konzeption der eigentlichen Erkenntnis des Absoluten durch die transzendentale Anschauung dar. Diese Konzeption kann als die nähere Ausarbeitung der Weise verstanden werden, wie philosophische Erkenntnis des Absoluten nicht unter den Bedingungen der Verstandeserkenntnis, sondern unmittelbar durch die Vernunft selbst möglich sein soll. Während die destruktiv-antinomische Erkenntnisform für Hegel rein negativ ist und

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Vgl. zur unterschiedlichen Bewertung von »Bildung« in der frühen Jenaer Zeit und der Zeit der Phänomenologie Kapitel 6, Anm. 13. 14 Die spezielle Aufgabe der Philosophiegeschichte sei es, diesen spekulativen Gehalt auch in solchen Theorien zu identifizieren, in deren Systemform sich das Absolute nur unvollkommen ausgesprochen hat: »die wahre Spekulation kann sich in den verschiedensten sich gegenseitig als Dogmatismen und Geistesverirrungen verschreyenden Philosophieen finden. Die Geschichte der Philosophie hat allein Werth und Interesse, wenn sie diesen Gesichtspunkt festhält; sonst giebt sie nicht die Geschichte der in unendlich mannichfaltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft; sondern nichts als eine Erzählung zufälliger Begebenheiten« (GW 4, 31); vgl. GW 4, 21–22. Hegel bezieht sich also bereits in der Differenzschrift terminologisch durchaus positiv auf die Philosophiegeschichte, versteht diese aber noch als die Darstellung des immer gleichen spekulativen Gehalts in verschiedenen Erscheinungsformen, ohne in diesen Erscheinungsformen eine Entwicklung des Gehalts anzunehmen. Vgl. zu diesen Fragen Kimmerle 1970, 301 ff., Düsing 1983, 13 ff. und Beuthan 2002.

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das Absolute nur indirekt für den Verstand sichtbar macht,15 versteht er die transzendentale Anschauung als Erkenntnisform, die negative und positive Elemente »vereinigt« (GW 4, 27) und so eine vollständig adäquate Erkenntnis des Absoluten für die Vernunft ermöglicht.16 An dieser Stelle soll nicht die komplexe Frage diskutiert werden, ob die transzendentale Anschauung für Hegel eine völlig alternative Erkenntnisform darstellt, welche von jeglichem Bezug auf Verstandeserkenntnis frei ist, oder eine Erkenntnisform, die Elemente der antinomischen Erkenntnisform integriert17 – eine Schwierigkeit, die auch mit der Frage zusammenhängt, wie sich das Absolute strukturell zu den in der entzweiten Welt gegebenen Dichotomien genauer verhält.18 Klar scheint aber, dass dasjenige in dieser 15

Dem entspricht, dass die von der antinomischen Erkenntnisform thematisierten antinomischen Sachverhalte nicht das Absolute selbst, sondern nur dessen endliches Erscheinen für den Verstand erfassen. Diese Auffassung steht in einem auffälligen Kontrast zu Hegels späterer Position. So heißt es in der zweiten Stellung des Gedankens zur Objektivität der Berliner Enzyklopädie anlässlich einer Kritik der Kantischen Antinomienkonzeption, dass alle Gegenstände der Philosophie antinomischen Charakters seien: »Die Hauptsache, die zu bemerken ist, ist, daß nicht nur in den vier besondern, aus der [Kantischen] Kosmologie genommenen Gegenständen die Antinomie sich befindet, sondern vielmehr in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Diß zu wissen und die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen gehört zum Wesentlichen der philosophischen Betrachtung« (GW 20, 85; § 48, Anm.). 16 Vgl. GW 4, 27–28. 17 Wenn man davon ausgeht, dass reflexive Elemente in der Vernunfterkenntnis des Absoluten eine Rolle spielen, scheint man zumindest annehmen zu müssen, dass es sich um eine Form von »philosophischer Reflexion« handelt, die nicht selbst eine Form von endlicher Verstandeserkenntnis ist. Im Anschluss hieran stellt sich dann die Frage, ob die philosophische Reflexion wie die antinomische Erkenntnis lediglich die Nichtigkeit endlicher Verstandeserkenntnis aufzeigt – also rein negativ an der Erkenntnis des Absoluten beteiligt ist – oder in (struktureller) Zusammenarbeit mit dem, was Hegel die positive Erkenntnis des Absoluten nennt, das Absolute so erkennbar macht, wie es wahrhaft beschaffen ist. In beiden Fällen werden die antinomische Erkenntnisform und die direkte Erkenntnis des Absoluten durch die Vernunft als Erkenntnisformen verstanden werden müssen, die nichts miteinander gemein haben: Ist die philosophische Reflexion rein negativ, wird die eigentliche bzw. direkte Erkenntnis des Absoluten vollständig durch die positive Erkenntnis des Absoluten geleistet, die Hegel mit der Anschauungskomponente der »transzendentalen Anschauung« identifiziert (vgl. GW 4, 27–28); ist dagegen die philosophische Reflexion selbst an der direkten Erkenntnis des Absoluten beteiligt, wird sie selbst als etwas gedacht werden müssen, das sich von der antinomischen Erkenntnisform strukturell völlig unterscheidet. Vgl. zu diesen Fragen Zimmerli 1974, 171 ff. und Baum 1989, 183 ff. 18 Es scheint mir am plausibelsten, anzunehmen, dass Hegel bereits zu dieser Zeit das Absolute als eine organische Ganzheit interner Differenziertheit gedacht hat (vgl. GW 4, 13, 19 und 23), die defizienten Erkenntnisprodukte des Verstandes – die Weisen, wie die ursprünglich im Absoluten vereinigt vorliegenden Entzweiungen vom Verstand erkannt und fixiert werden – aber noch nicht als intrinsischen Bestandteil des Absoluten und sei-

Die Differenzschrift

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Erkenntnisform, was eine direkte Erkenntnis des immer gleichen Absoluten möglich macht, nicht strukturell von widersprüchlicher Verstandeserkenntnis und d. h. Isosthenie berührt sein kann. Klar scheint auch, dass die transzendentale Anschauung, insofern sie unmittelbare, adäquate Erkenntnis des Absoluten möglich macht, der antinomischen Erkenntnisform, die durch die endlich-reflexive Verfassung der von ihr thematisierten antinomischen Sachverhalte beeinträchtigt ist, überlegen ist. Es stellt sich damit die Frage, worin die argumentative Funktion der antinomischen Erkenntnisform eigentlich bestehen soll. Insofern die transzendentale Anschauung als eigentliche Erkenntnis des Absoluten tatsächlich nicht von der antinomischen Erkenntnisform argumentativ abhängig ist, liegt es m. E. nahe, diese nicht als Erkenntnisform zu interpretieren, die ein konstitutives Moment der Erkenntnis des Absoluten bildet oder der gar eine Rechtfertigungsfunktion für diese Erkenntnis zukommt, sondern als Erkenntnisform, die bloß didaktische Aufgaben für das Verstandesdenken erfüllt. In diesem Sinne kann auch eine Bemerkung interpretiert werden, in der es über diese Erkenntnisform heißt: »die Versuche, durch die Reflexion selbst [anstatt durch die Vernunft], die Entzweyung und somit seine [des Verstandes] Absolutheit zu vernichten, können eher verstanden [d. h. durch den Verstand erfasst] werden« (GW 4, 15). Insgesamt kann die durch die antinomische Erkenntnisform zu vollziehende Destruktion des Verstandesdenkens als erstes, implizites Auftreten der phänomenologischen Destruktionsaufgabe verstanden werden.19 Allerdings muss man aus der späteren Perspektive feststellen, dass – ähnlich wie in den etwas späteren Vorlesungsfragmenten von 1801/220 – zwischen einer solchen Destruktionsaufgabe und der Funktion dieser Erkenntnisform als indirekter Erkenntnis des Absoluten noch keine klare Trennung vollzogen wurde. Vielmehr scheint die antinomische Erkenntnisform gerade in und durch die ner Entwicklung verstanden, sondern bloß ein strukturelles Entsprechungsverhältnis zwischen dem Absoluten und dem es nachahmenden und abbildenden Verstand angenommen hat. 19 Vgl. Düsing 1976, 92. Hegel differenziert m. E. in der frühen Jenaer Zeit nicht zwischen metaphilosophischen und philosophischen Konzeptionen. Betrachtet man diese Zeit jedoch im Rückblick, stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Die Antinomienkonzeption (im Skeptizismus-Aufsatz: der pyrrhonistische Skeptizismus; vgl. dazu 4.2 unten) entspricht Hegels späteren metaphilosophischen Konzeptionen – der Phänomenologie und den Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität –, Hegels Konzeption der eigentlichen Erkenntnis des Absoluten (in der Differenzschrift: die transzendentale Anschauung, im Skeptizismus-Aufsatz: die Dogmatismus und Skeptizismus vereinigende Philosophie) dem (damaligen und späteren; vgl. 1.1 und 1.2) System. 20 Vgl. dazu 1.2.

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Metaphilosophie vor der Phänomenologie?

Destruktion der endlichen Erkenntnisformen eine (didaktische) Erkenntnis des Absoluten ermöglichen zu sollen und diese nicht erst argumentativ vorzubereiten. Insofern scheint hier noch keine Konzeption einer eigenständigen metaphilosophischen Disziplin vorzuliegen, welche eine argumentativ selbständige Rechtfertigungsfunktion erfüllt.

4.2 Der Skeptizismus-Aufsatz Während in der Differenzschrift die Aspekte, die für Hegel mit dem Problem des endlichen Denkens verbunden sind, in ihrer Gesamtheit thematisiert werden, können viele der Schriften, welche er anschließend im Kritischen Journal veröffentlicht, als das Ergebnis der eingehenderen Beschäftigung mit jeweils einem der in der Differenzschrift thematisierten Aspekte verstanden werden. So konzentriert sich beispielsweise die Diskussion in Glauben und Wissen auf den reflexiv-dualistischen Charakter des endlichen Denkens als defizienten Erkenntnismodus.21 Von diesen Schriften kann der Skeptizismus-Aufsatz als diejenige angesehen werden, in welcher der isosthene Charakter des endlichen Denkens am eingehendsten thematisiert wird. In dieser Schrift kontrastiert Hegel den neuesten Skeptizismus, dessen wichtigster Repräsentant für ihn Kant darstellt und dem er auch Schulze zuordnet, mit dem antiken Skeptizismus, dessen älteste und zustimmungswürdigste »Modification« er mit Pyrrhon in Verbindung bringt und durch die zehn Tropen des Aenesidemus repräsentiert sieht. Während Hegel den neuesten Skeptizismus als eine Form von Skeptizismus deutet, die ausschließlich gegen die Philosophie gerichtet ist und der die 21

Dass der Aspekt der Vielfalt isosthener Theorien für Hegel in seinen Jenaer Schriften insgesamt ein besonders wichtiges Problem dargestellt hat, geht daraus hervor, dass dieses Problem in dem Aufsatz, der von Hegel unter Mitarbeit von Schelling als programmatischer Einleitungsaufsatz zum Kritischen Journal verfasst wurde – Ueber das Wesen philosophischer Kritik (GW 4, 117–128) –, als das zentrale Problem verstanden wird, welches eine Kritik philosophischer Schriften erforderlich macht; vgl. GW 4, 117 f. Während der reflexive Standort der metaphilosophischen Aufgabe, zu beurteilen, ob und in welchem Maße in den historisch gegebenen philosophischen Systemen die »Idee der Philosophie« realisiert worden sei, in der Differenzschrift unbestimmt blieb, wird nun mit dem Begriff der »Kritik« dieser metaphilosophische Standort auch terminologisch explizit gemacht: »Wo aber die Idee der Philosophie wirklich vorhanden ist, da ist es Geschäft der Kritik, die Art und den Grad, in welchem sie frey und klar hervortritt, so wie den Umfang, in welchem sie sich zu einem wissenschaftlichen System der Philosophie herausgearbeitet hat, deutlich zu machen« (GW 4, 119). Da allerdings im weiteren Verlauf des Aufsatzes der methodische Status dieser kritischen Aufgabe nicht näher bestimmt wird, kann hier auf eine genauere Analyse verzichtet werden.

Der Skeptizismus-Aufsatz

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Alltagserfahrung und die auf ihr basierenden Wissenschaften als unbezweifelbar gewiss gelten, versteht er dessen älteste Modifikation als eine Form von Skeptizismus, die nicht gegen die Philosophie, sondern ausschließlich gegen die Alltagserfahrung – d. h. für Hegel, das endliche Denken des gemeinen Menschenverstandes – gerichtet ist. Erstere Form des Skeptizismus sei abzulehnen,22 dem pyrrhonistischen Skeptizismus dagegen zuzustimmen. Denn dieser sei nicht gegen die Philosophie, sondern lediglich gegen den »Dogmatismus des gemeinen Bewußtseyns« (GW 4, 214) gerichtet, gegen dasjenige also, was Hegel später in der Phänomenologie das »natürliche Bewusstsein« nennen wird.23 Eine genauere Betrachtung der zehn Tropen zeigt laut Hegel, dass sie nicht die Vernunfterkenntnis betreffen, sondern dass in ihnen in Bezug auf unterschiedliche Aspekte – beispielsweise in Bezug auf die Verschiedenheit der Tiere, der Menschen und der Sinnesorganisation – die widersprüchliche Gegebenheit des Endlichen dargetan wird. So kann in Bezug auf Sinnesobjekte Gegenteiliges mit gleichem Recht gesagt werden, beispielsweise »der Honig ist süß« und »der Honig ist bitter«.24 Diese Möglichkeit des Opponierens bringt Hegel auch explizit mit Sextus’ Bestimmung der Isosthenie – des »Princip[s] des Skepticismus: panti logoi logos isos antikeitai [jedem Argument steht ein gleichwertiges entgegen]« (GW 4, 208)25 – in Verbindung. Während allerdings »Isosthenie« bei Sextus, wie in 3.2.1 gesehen, ein philosophieimmanentes methodisches Instrument war, bezieht Hegel den Begriff auf die faktisch widersprüchliche Gegebenheit der endlichen Erkenntnis. Sextus’ philosophisches Isosthenieverständnis wird also in ein faktisches uminterpretiert. Die argumentative Funktion der aenesidemischen Tropen sieht Hegel darin, dass sie auf »populäre Weise gegen den gemeinen Menschenverstand oder das gemeine Bewußtseyn« (GW 4, 215) gerichtet sind. Sie zeigen diesem die Ungewissheit alles Endlichen »auf eine Art, welche […] dem gemeinen Bewußtseyn nahe liegt« (ebd.). Die Aufgabe, den widersprüchlichen Cha22

Abzulehnen deshalb, weil diesem Skeptizismus Hegel zufolge eine dualistische Konzeption von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand zugrundeliegt; vgl. insbesondere GW 4, 223–225. Eine Darstellung der Hegelschen Kritik an Schulze ist für Hegels Isosthenieverständnis nicht unmittelbar relevant und kann hier unterbleiben; vgl. dazu Forster 1989, 9 ff., Forster 1998, 132 ff., Engstler 1996 und Csikós 2002. 23 Ich gehe hier nur auf Hegels Interpretation des pyrrhonistischen Skeptizismus ein, dem Hegels spätere metaphilosophische Konzeptionen entsprechen; Hegels Konzeption der eigentlichen Erkenntnis des Absoluten, dem sein System entspricht, scheint mir im Verhältnis zur Differenzschrift im Wesentlichen gleich zu bleiben; vgl. dazu Anm. 30. 24 Vgl. GW 4, 203–6. 25 Hegel zitiert PH I, 202; vgl. auch PH I, 12. Der Skeptizismus-Aufsatz

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rakter endlicher Erkenntnis und d. h. die »Unwahrheit desselben [des Endlichen]« (ebd.) aufzuzeigen, die in der Differenzschrift von der antinomischen Erkenntnisform wahrgenommen wurde, wird nun dem aenesidemischen Skeptizismus übertragen: Dieser soll aus der Verschiedenheit der Erscheinungen sowie »dem gleichen Rechte aller [verschiedenen Erscheinungen] sich geltend zu machen«, d. h. aufgrund ihres isosthenen Charakters, die »in dem Endlichen selbst zu erkennende[…] Antinomie« (ebd.) sichtbar machen. Diese Inanspruchnahme des pyrrhonistischen Skeptizismus als destruktive Disziplin könnte als eine erste Spur der phänomenologischen Konzeption des sich vollbringenden Skeptizismus interpretiert werden. Dafür spricht zunächst, dass die Aufgabe der Destruktion der endlichen Erkenntnis nicht nur auf eine Art erfolgen soll, »welche […] dem gemeinen Bewußtseyn nahe liegt« (GW 4, 215), sondern auch, ähnlich wie im Falle des sich vollbringenden Skeptizismus der Phänomenologie, zur »Erhebung über die Wahrheit […], welche das gemeine Bewußtseyn gibt« (GW 4, 216) führen soll.26 Die Charakterisierung der destruktiven Aufgabe des Skeptizismus als »erste Stuffe zur Philosophie« und »Anfang der Philosophie« (GW 4, 215–6) könnte dann als frühes Indiz für eine disziplinäre Ausdifferenzierung einer eigenständigen Einleitungsdisziplin interpretiert und mit der Einleitungsaufgabe der frühen Logik in Verbindung gebracht werden.27 Dieser Deutung, welche Hegels Skeptizismus-Konzeption als eine Fortentwicklung gegenüber der Differenzschrift interpretiert, die sich bereits der phänomenologischen Prüfungskonzeption annähert, kann allerdings entgegengehalten werden, dass Hegel die destruktive Aufgabe des Skeptizismus auf eine sehr ähnliche Weise wie die antinomische Erkenntnisform der Differenzschrift beschreibt: nämlich als eine rein negative Erkenntnisform, welche die faktisch gegebene Widersprüchlichkeit endlicher Erkenntnisstrukturen sichtbar macht. Auch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Hegel bereits zu diesem Zeitpunkt über ein Konzept wie dasjenige der bestimmten Negation verfügt hat, welches ihm erlaubt hätte, das negative Resultat des Aufweises der antinomischen Struktur endlicher Erkenntnis für die Erklärung der Genese der sich über das gemeine Bewusstsein erhebenden Wissensformen 26

In beiden Fällen scheint also die Aufgabe des Skeptizismus darin zu bestehen, dem natürlichen Bewusstsein bzw. dem gemeinen Bewusstsein von seinem Standpunkt aus und mit seinen eigenen begrifflichen Mitteln die Unwahrheit seines Standpunktes vor Augen zu führen. 27 So ist laut Düsing die Funktion des Skeptizismus mit der Funktion der frühen Logik vergleichbar: »Der wahre Skeptizismus […] ›zerstört‹ die Wahrheit der endlichen Bestimmungen durch den Aufweis, daß sie einander widersprechen. […] Der Skeptizismus hat also offenbar auch die Funktion einer Einleitung in die Philosophie wie Hegels frühe Logik« (Düsing 1976, 100); zur frühen Logik vgl. 1.2.

Der Skeptizismus-Aufsatz

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methodisch fruchtbar zu machen, so dass diesem Aufweis eine eigenständige argumentative Funktion hätte abgewonnen werden können.28 Damit scheint die Feststellung erlaubt, dass gegenüber der Differenzschrift keine völlig neue Konzeption, sondern eher eine Ausarbeitung ihrer Antinomienkonzeption vorliegt.29 Und wie für die antinomische Erkenntnisform in der Differenzschrift geltend gemacht wurde, scheint die Funktion der pyrrhonistischen Erkenntnisform darin zu bestehen, dem Verstandesdenken auf eine für dieses Denken besonders verständliche, »populäre Weise« (GW 4, 215) seinen antinomischen Charakter und d. h. seine Nichtigkeit vor Augen zu führen. Insofern scheint man abschließend auch in Bezug auf diese Erkenntnisform festhalten zu dürfen, dass sie für Hegel keine selbständige Rechtfertigungsfunktion innehat, sondern bloß didaktische Aufgaben für das Verstandesdenken erfüllen soll.30 Zurückkommend auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels, inwiefern vor der Phänomenologie ein metaphilosophisches Problemverständnis und eine darauf reagierende metaphilosophische Theoriebildung angetroffen werden können, kann für die frühe Jenaer Zeit (1801–1803) folgendes Ergebnis festgehalten werden: Das Problem faktischer Isosthenie spielt in den frühen Jenaer Schriften durchaus eine wichtige Rolle, bleibt aber noch einem akzidentellen Isosthenieverständnis verhaftet, auch wenn es sich einem strukturellen annähert. Ein metaphilosophisches Problemverständnis liegt insofern also in fast vollständig realisierter Form vor. Von metaphilosophischer Theoriebildung im eigentlichen Sinne kann dagegen trotz einiger auf das faktischakzidentelle Isosthenieverständnis reagierenden Theorieelemente noch nicht die Rede sein.

28

Ähnlich urteilt Düsing in Düsing 1976, 106, vgl. auch 179 ff.; desweiteren Baum 1989, 191 f., Schäfer 2001, 41 f. und Hofweber 2006, 23 ff. 29 Anders dagegen Heidemann 2007, 140. 30 Wie hier nicht thematisiert werden kann, bezieht sich Hegel im Skeptizismus-Aufsatz auch noch auf andere Weise affirmativ auf den Skeptizismus: Dogmatismus und Skeptizismus gelten ihm nicht nur als isolierte Erkenntnisformen, sondern zugleich als konstitutive Bestandteile »jeder wahren Philosophie« (GW 4, 206); vgl. insgesamt GW 4, 206 ff. Auch hier scheint mir keine konzeptuelle Weiterentwicklung gegenüber der Differenzschrift stattgefunden zu haben. Vielmehr scheint man generell sagen zu können, dass der Skeptizismus als destruktive Erkenntnisform sich auf ähnliche Weise zur eigentlichen – Dogmatismus und Skeptizismus vereinigenden – Philosophie verhält wie in der Differenzschrift die rein negative antinomische Erkenntnisform zur eigentlichen – positive und negative Erkenntniselemente vereinigenden – Vernunfterkenntnis in Gestalt der transzendentalen Anschauung. Dabei bleibt auch im Skeptizismus-Aufsatz das genaue funktionale Verhältnis der negativen und positiven bzw. skeptizistischen und dogmatistischen Seite der Philosophie relativ unbestimmt.

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Metaphilosophie vor der Phänomenologie?

4.3 Exkurs: Michael Forsters pyrrhonistische Deutung der Phänomenologie Wie in 3.2 dargelegt, ist das philosophische Isosthenieverständnis des Sextus Empiricus spezifisch verschieden von einem metaphilosophischen Isosthenieverständnis, wie es in der Neuzeit vielfach angetroffen werden kann. Im nächsten Kapitel wird deutlich werden, dass auch der Phänomenologie kein pyrrhonistisch-philosophisches, sondern ein metaphilosophisches Isosthenieverständnis zugrundeliegt. Hegel selbst bezieht sich allerdings im Skeptizismus-Aufsatz durchaus positiv auf den pyrrhonistischen Isostheniebegriff. Dies hat zu Interpretationen Anlass gegeben, welche auch die Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie als Antwort auf ein pyrrhonistisches Problemverständnis zu explizieren versuchen. Um deutlich werden zu lassen, dass dies nicht der Fall ist, sollen in diesem Exkurs in kritischer Auseinandersetzung mit einem der einflussreichsten Vertreter der pyrrhonistischen Hegeldeutung, Michael Forster, die Gründe dargetan werden, welche gegen eine pyrrhonistische Interpretation der Phänomenologie sprechen. Forster unterscheidet in seinem Buch Hegel’s Idea of a Phenomenology of Spirit in Bezug auf Hegels Phänomenologie zwischen einer pädagogischen, einer epistemologischen und einer metaphysischen Aufgabe,31 von denen im Rahmen der hier verfolgten Fragestellung nach der systemexternen Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie nur die epistemologische Aufgabe interessiert. Diese epistemologische Aufgabe ist für Forster mit drei Teilaspekten verbunden, deren erster das Problem der Isosthenie oder – synonym – der Equipollenz betrifft. Da es vor allem dieses Problem ist, auf das in Forsters Analyse die systemexterne Rechtfertigungsaufgabe der Phänomenologie reagiert, wird die nachfolgende Darstellung sich auf diesen Aspekt konzentrieren.32 Laut Forster gilt Hegel die pyrrhonistische »method of equipollence« (Forster 1998, 129) dem neuesten Skeptizismus deswegen als überlegen, weil 31

Vgl. Forster 1998, 13 f. Der zweite Aspekt betrifft das Problem der Begriffsrealisierung (»concept-instantiation«; vgl. Forster 1998, 174–177), der dritte Aspekt das Problem, den nicht-Hegelschen Positionen den (bereits aufgezeigten) isosthenieresistenten Charakter der Hegelschen Position zu vermitteln (vgl. Forster 1998, 177–184). Der zweite Aspekt scheint mir ein systeminternes Problem zu betreffen, insofern er die Vorstellung impliziert, dass in der Phänomenologie bereits positive Erkenntnisresultate generiert werden, der dritte Aspekt dagegen ein didaktisches Problem. Dass Forster auch ein systemexternes Rechtfertigungsverständnis mit der Phänomenologie verbindet, geht insbesondere aus Forster 1998, 270 ff. hervor. 32

Forsters Deutung der Phänomenologie

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sie im Gegensatz zu diesem eine skeptizistische Infragestellung von Überzeugungen möglich macht, die nicht dazu verpflichtet ist, sich auf dogmatisch in Anspruch genommene Überzeugungen – seien es auch die »own mental states« – zu basieren.33 Wie für andere Positionen drohe nun aber in Hegels Augen auch für die Position der eigenen Wissenschaft die Gefahr, durch die Methode der Equipollenz in Frage gestellt zu werden; denn diese sei in der Lage, ohne Inanspruchnahme von externen Überzeugungen zu zeigen, dass der Hegelschen Wissenschaft eine gleichüberzeugende ihr widersprechende Position entgegengesetzt werden könne. Hegel habe darum schon früh die Vernunft als etwas konzipiert, das kein Gegenteil hat, sondern jedes Andere miteinschließt. Um die Vernunft als eine solche alle Alternativen integrierende Position ausweisen zu können, habe Hegel sowohl mit der frühen Logik als auch mit der Phänomenologie Rechtfertigungsdisziplinen konzipiert, welche durch den Aufweis der Inkonsistenz aller zur Hegelschen Position in einem isosthenen Verhältnis stehenden Positionen die Hegelsche rechtfertigen sollen: »the alternative viewpoints which seem to create equipollence difficulties for Hegelian Science will turn out not in fact to do so because they will all prove to be implicitly self-contradictory. The Phenomenology, like the early Logic before it, has the job of demonstrating these self-contradictions within each non-Hegelian viewpoint« (Forster 1998, 169). Hegel bezieht sich in der Tat im Skeptizismus-Aufsatz affirmativ auf den pyrrhonistischen Skeptizismus und die Strategie der zehn Tropen, mit dem Mittel der Isosthenie – laut Hegel dem »Princip des Skepticismus« (GW 4, 208) – und aus der konfligierenden Verschiedenheit der alltäglichen Meinungen die »Unwahrheit« (GW 4, 215) des Endlichen aufzuzeigen. Dies muss aber noch nicht heißen, dass Hegel sich auch tatsächlich durch ein pyrrhonistisches Problemverständnis leiten lässt. Es ist genauso gut möglich, dass es sich bei dieser Bezugnahme um eine philosophische Konstruktion dessen, was ihm im Rahmen seines spekulativen Philosophiegeschichtsverständnisses bloß als »Pyrrhonismus« gilt, handelt. Im Skeptizismus-Aufsatz scheint nun in der Tat Letzteres der Fall zu sein. Denn Hegel legt seiner Interpretation des Skeptizismus eine spekulative Auffassung von Philosophiegeschichte zugrunde, in der wie in der Differenzschrift die »Dieselbigkeit der Philosophie« (GW 4, 217) den Ausgangspunkt bildet und philosophische Systeme als (mehr oder weniger defiziente)

33

Vgl. Forster 1998, 129 f. und Forster 1989, 10 f.

Forsters Deutung der Phänomenologie

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Metaphilosophie vor der Phänomenologie?

Erscheinungsformen dieser immer gleichen »Idee der Philosophie« (GW 4, 206) betrachtet werden. Die spekulative Ausgangsbestimmung des Skeptizismus-Aufsatzes besteht genauer in der Festlegung, dass Skeptizismus die negative Seite aller wahren Philosophie darstelle und auch in allem dogmatischen Philosophieren anwesend sei.34 Ausgehend von dieser Bestimmung beurteilt Hegel die verschiedenen historischen Modifikationen des Skeptizismus nach dem Maße, in dem sie der »immergleichen« Philosophie als deren Erscheinungsformen gerecht werden. Auf diese Weise ergibt sich für Hegel eine Verfallsgeschichte des Skeptizismus. Der »alte ächte« (GW 4, 213) pyrrhonistische Skeptizismus habe sich zwar von der Philosophie abgesondert, sei aber nicht gegen diese gerichtet gewesen, sondern bloß gegen den Dogmatismus, d. h. gegen die endlichen Ansichten des gemeinen Bewusstseins. Der spätere antike, von Sextus überlieferte Skeptizismus, welchen Hegel durch die fünf Tropen des Agrippa repräsentiert sieht, sei dagegen sowohl gegen die Philosophie als auch gegen den Dogmatismus gerichtet gewesen, während der neuere Skeptizismus sich nur noch gegen die Philosophie richte.35 Man könnte nun meinen, dass zwar diese Rahmenerzählung und bestimmte Elemente36 von Hegels Skeptizismus-Interpretation spekulativen Charakters sind, nicht aber Hegels Interpretation des aenesidemischen Pyrrhonismus.37 Aber auch ohne sich auf eine inhaltliche Prüfung von Hegels Skeptizismusdeutung einzulassen, können in Hegels Interpretation des aenesidemischen Skeptizismus der zehn Tropen leicht spekulative Elemente identifiziert werden, welche Hegel selbst nicht textinterpretatorisch ausweist, sondern aus seiner spekulativen Philosophieauffassung ableitet. Als Beispiele solcher spekulativer Interventionen seien kursorisch genannt: Hegels Absonderung der zehn Tropen aus dem Gesamtkorpus der Grundzüge des Pyrrhonismus mit dem Argument, dass diese der ursprünglichen 34

Vgl. GW 4, 206 ff. Vgl. GW 4, 213–214, 217–8, 222; vgl. dazu Engstler 1996, 98 ff. 36 So etwa die Identifikation der »einen Philosophie« mit dem akademischen Skeptizismus (vgl. GW 4, 209–211) und die Deutung von Platons Parmenides als das exemplarische »Dokument und System des ächten Skepticismus« (GW 4, 207). 37 So meint Forster, dass Hegels Interpretation in den Hauptpunkten philologisch überzeuge, und verweist auf auffällige Übereinstimmungen zwischen Hegels Interpretation und derjenigen Myles Burnyeats; vgl. Forster 1998, 130 f., insbesondere Fußnote 12, die achtseitige Fußnote 58 in Forster 1989, 200–207 und Forster 2005a. Allerdings ist auch Forster der Meinung, dass viele »puzzling features« von Hegels Interpretation des antiken Skeptizismus Ausdruck des »complex ideal of his own ›skeptical‹ discipline« sind (Forster 1989, 36; vgl. 36–43). 35

Forsters Deutung der Phänomenologie

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Idee der Philosophie am nächsten stünden; Hegels Interpretation der zehn Tropen als Form von »partiellem Skeptizismus«38, der lediglich gegen die Alltagsmeinungen gerichtet sei; schließlich Hegels Interpretation der Funktion der zehn Tropen als destruktive Erkenntnisform bzw. Disziplin, welche die faktisch isosthene Gegebenheit des endlichen Denkens aufzeige und durch diesen Aufweis dessen Nichtigkeit sichtbar mache. Diese Deutungsmomente scheinen nicht bloß textinterpretatorisch problematisch, sie werden von Hegel auch gar nicht philologisch, sondern philosophisch gerechtfertigt.39 Wie bereits in 4.2 dargelegt, ist es insbesondere Hegels Konzeption antinomischer Erkenntnis aus der Differenzschrift, die ihn bei der Interpretation der zehn Tropen leitet. So scheint Hegel die Tropen deswegen als destruktiv zu interpretieren, weil sie nur so die Funktion erfüllen können, die Nichtigkeit des Endlichen dem endlichen Verstandesdenken vor Augen zu führen, und als nur partiell skeptizistisch, damit sie sich nicht gegen die Möglichkeit von Philosophie überhaupt richten oder als Form von dogmatischem Skeptizismus und d. h. als Position dogmatischer Philosophie in Konkurrenz geraten zu Hegels eigener philosophischer Position. Insgesamt scheint es sich also auch hier um eine Anwendung des spekulativen philosophiehistorischen Verfahrens der frühen Jenaer Zeit zu handeln, in philosophiehistorischen Phänomenen Erscheinungsformen von Elementen der eigenen philosophischen Konzeption zu identifizieren, welche konzeptuell diesen Phänomenen nicht entlehnt werden und zudem in Hegels damaliger Ansicht auch nicht als spezifische Entwicklungsresultate dieser Phänomene verstanden werden. Insofern ist es m. E. plausibler, Hegels positiven Bezug auf den pyrrhonistischen Begriff der Isosthenie letztlich als eine Illustration seiner Antinomienkonzeption zu interpretieren. Hegels Lösungsansatz in Bezug auf die Isosthenieproblematik besteht nach Forster im Skeptizismus-Aufsatz darin, das Absolute selbst als Sachverhalt zu konzipieren, der alle alternativen Positionen integriert. Wie er selbst feststellt,40 verfügt Hegel zu dieser Zeit allerdings noch nicht über die Mittel, die es ermöglicht hätten, diese Konzeption gegenüber alternativen Positionen auf eine voraussetzungs- bzw. alternativlose Weise zu begründen, und damit also verhindert hätten, dass auch die eigene Konzeption durch die »Methode der Equipollenz« argumentativ entkräftet werde. 38

So Dietmar Heidemann, vgl. Heidemann 2002, 71 und Heidemann 2007, 161 f.; vgl. auch Heidemann 2007, 136 ff. 39 Für die Abhängigkeit der Hegelschen Interpretation des Skeptizismus von seiner metaphysischen Konzeption dieser Zeit vgl. Heidemann 2002, 76–82, Heidemann 2007, 180 ff. und Forster 1989, 36–43. 40 Forster 1998, 180 f.

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Metaphilosophie vor der Phänomenologie?

Nichtsdestoweniger hält Forster die Meinung aufrecht, das pyrrhonistische Problemverständnis des Skeptizismus-Aufsatzes liege auch der Phänomenologie zugrunde. Diese These führt Forster dazu, die methodische Umsetzung der Rechtfertigungsaufgabe in der Phänomenologie so zu interpretieren, dass diese nicht mehr gut als systemexterne Rechtfertigung des Systems im strengen Sinne verständlich gemacht werden kann. Forster zufolge ist es die »dialectical method« (Forster 1998, 171), die bei Hegel die spezifisch phänomenologische Rechtfertigungsfunktion wahrnehme, den nicht-Hegelschen Positionen ihre Inkonsistenz vor Augen zu führen.41 Problematisch ist nun aber, dass Forster nicht näher ausführt, wie Hegel berechtigt sein kann, die dialektische Methode als systemexterne Begründungsressource in Anspruch zu nehmen. Da Forster darüber hinaus nicht explizit differenziert zwischen einer Methode der Phänomenologie und einer des Systems, kann er m. E. die Beweisfunktion der Phänomenologie im Rahmen seiner Deutung nur noch dann verständlich machen, wenn er voraussetzt, dass Hegel in seiner Phänomenologie (dialektische) Begründungsmittel aus dem System in Anspruch nimmt. (Begründungsmittel, die der Phänomenologie und dem System gemein sind, können eo ipso keine »systemexterne« sein; ob nun die Phänomenologie oder das System als primäre Grundlegungsdisziplin fungiert, die beiden Theorien gemeinsamen Begründungsmittel werden in beiden Fällen als solche der primären Grundlegungsdisziplin und somit der eigentlichen philosophischen »Systemdisziplin« verstanden werden müssen.) Auf diese Weise wird man die Phänomenologie nicht mehr als systemexterne Begründungsleistung verständlich machen können, sondern sie, ähnlich wie die pyrrhonistische Erkenntnisform im Skeptizismus-Aufsatz, als eine Begründungsleistung ansehen müssen, die argumentativ abhängig ist von derjenigen Disziplin, in die sie einleiten soll.42

41

Vgl. Forster 1998, 184–5: »The viability of this [epistemological] project – as well as of the Phenomenology’s pedagogical and metaphysical projects – depends essentially and above all on the cogency of the work’s dialectic«; vgl. auch Forster 1989, 171–180. 42 Vgl. zu Forster auch 1.5.2 und 1.6.

5. Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

In diesem Kapitel soll das metaphilosophische Problemverständnis, das der Phänomenologie zugrundeliegt, untersucht werden. Die Darstellung in diesem wie den nächsten Kapiteln wird sich auf die Einleitung und die Vorrede zur Phänomenologie konzentrieren, wo sich die meisten Bemerkungen zum Problemverständnis und zur Begründungsfunktion der Phänomenologie finden. Da die Problembeschreibung in der Einleitung sehr viel ausführlicher und für die hier verfolgte Frage informativer ist, wird sich die Darstellung an der Struktur der philosophiekritischen Überlegungen in den ersten vier Absätzen der Einleitung orientieren und erst im Zuge der Thematisierung von Hegels kritischer Analyse der Wissenschaft, welche im vierten Absatz der Einleitung an die Kritik der natürlichen Prüfungsvorstellung anschließt, die Überlegungen aus der Vorrede mitthematisieren.

5.1 Hegels Typologie von Begründungsstrategien Wie in der frühen Jenaer Zeit spielt die Kritik an Theorien, die Erkenntnis reflexiv und dualistisch konzipieren und als solche keine einheitliche, d. h. für Hegel absolute Erkenntnis der Wirklichkeit ermöglichen, auch in den methodologischen Textpassagen der Phänomenologie eine große Rolle, und auch hier ist das reflexive Wissen durch die Eigenschaft der Isosthenie ausgezeichnet. Als neu kann jedoch angesehen werden, dass die Isosthenie philosophischer Theorien nicht mehr nur als Problem verstanden wird, das lediglich mit der Dimension des reflexiv-endlichen Denkens zusammenhängt, sondern als ein solches, das die Philosophie selbst in Frage stellt: Es sind jetzt nicht mehr nur die reflexiv verfassten Theorien, welche als »Erscheinung« der Philosophie verstanden werden, sondern sowohl das unwahre Wissen als auch die Wissenschaft selbst werden als erscheinend, als neben anderem Wissen auftretendes Wissen, charakterisiert. Es liegt nun also nicht länger ein faktischakzidentelles Isosthenieverständnis, sondern ein faktisch-strukturelles vor. Es sei vorab ausdrücklich festgehalten, dass die Isosthenie von reflexivem und philosophischem bzw. wissenschaftlichem Wissen sowohl der Vorrede als auch der Einleitung zufolge das Hauptproblem der Phänomenologie ist. Wenn diese generelle These auch als eher unkontrovers angesehen werden Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

162

Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

darf, bestehen doch erhebliche Interpretationsprobleme hinsichtlich der in beiden Texten von Hegel durchgeführten Problemanalysen im Einzelnen. Insbesondere die philosophiekritischen Überlegungen am Anfang der Einleitung sind in ihrem argumentativen Aufbau nicht leicht durchschaubar zu machen. Denn während in der Vorrede die Isosthenie von Wissenschaft und reflexivem Wissen als das einzige Problem präsentiert wird, das eine phänomenologische Destruktion nicht-Hegelscher Positionen notwendig macht, trifft man in der Einleitung auch noch eine längere, die ersten drei Absätze dominierende, kritische Betrachtung einer Vorstellung von Erkenntniskritik an, die mehr auf Kant bezogen zu sein scheint als auf reflexiv-dualistisches Denken im Allgemeinen. Es wird nicht ohne weiteres ersichtlich, warum Hegel an dieser Stelle so ausführlich eine scheinbar sehr spezifische Vorstellung von reflexivem Denken thematisiert und nicht wie in der Vorrede von vornherein von einer allgemeinen Isosthenie von reflexivem und philosophischem Denken ausgeht. Im nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, dass Hegel mit dieser Vorstellung in Wahrheit nicht nur eine bestimmte Form von Erkenntniskritik thematisiert, sondern diese zugleich als nähere Explikation von reflexivem Wissen überhaupt auffasst, welche er bei der Erörterung des Isosthenieproblems im vierten Absatz mit dem Begriff des unwahren Wissens wieder aufnimmt. Außerdem lässt sich diese erkenntniskritische Vorstellung, ähnlich wie die Hegelsche »Darstellung des erscheinenden Wissens« (GW 9, 55), als spezifische Antwort auf die Isosthenieproblematik verständlich machen, die in dieser Hinsicht ein metaphilosophisches Konkurrenzmodell zu der phänomenologischen Konzeption von Kritik bildet. Ein weiteres Problem hängt mit Hegels näherer Beschreibung der Wissenschaft zusammen. Zunächst ist unklar, worum es sich bei der »Wissenschaft« überhaupt handelt: um eine Bezeichnung für Philosophie überhaupt, um eine fremde philosophische Position oder um Hegels eigene philosophische Position, d. h. die der »Hegelschen Wissenschaft« oder einer ihrer Teildisziplinen. Darüber hinaus ist in der Einleitung von nicht weniger als drei Formen von Wissenschaft die Rede – einer unausgeführt-erscheinenden, einer in ihrer Wahrheit ausgeführten, und einer phänomenologischen Wissenschaft1 –, hinsichtlich derer unklar ist, ob es sich um unterschiedliche wissenschaftli-

1

Ich verwende den Begriff der »phänomenologischen Wissenschaft« in diesem Kapitel als unspezifischen Terminus für Hegels wissenschaftliche »Darstellung des erscheinenden Wissens«. Zur näheren terminologischen Explikation dieser Wissenschaft als »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« (in der Einleitung) und »Phänomenologie des Geistes« (in der Vorrede) vgl. 7.2.1.

Hegels Typologie von Begründungsstrategien

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che Disziplinen oder um unterschiedliche Weisen des Auftretens derselben Wissenschaft handelt. In der Folge soll gezeigt werden, dass es am plausibelsten ist, die »Wissenschaft« weder mit einer fremden noch mit Hegels eigener philosophischen Position zu identifizieren, sondern »Wissenschaft« und »natürliche Prüfungsvorstellung« als generelle Bezeichnungen für Typen übergeordneter Begründungsverfahren zu interpretieren, die am Anfang der Einleitung den Gegenstand einer kritischen Analyse bilden, die ihrer Intention nach neutral – d. h. nicht aus der Perspektive der Hegelschen Wissenschaft heraus – verfahren soll.2 Beide Begründungsverfahren können folgendermaßen charakterisiert werden: Die Wissenschaft ist gekennzeichnet durch die Vorstellung, der Gegenstand der Philosophie – von Hegel »das Absolute« genannt – könne direkt, ohne vorhergehende Prüfung erkannt werden. Die natürliche Prüfungsvorstellung ist im Gegenzug dazu durch die Vorstellung gekennzeichnet, dass solche wissenschaftliche Erkenntnis des Absoluten nur nach einer propädeutischen metatheoretisch-erkenntniskritischen Prüfung der Möglichkeit solcher Erkenntnis realisierbar sei. Die »Wissenschaft« ist so verstanden ein generischer Terminus für philosophische Begründung überhaupt, die »natürliche Prüfungsvorstellung« ein Terminus für eine bestimmte metaphilosophische Begründungsstrategie, die, wie sich zeigen wird, auf dualistischen Voraussetzungen basiert. Der argumentative Aufbau der philosophiekritischen Überlegungen am Anfang der Einleitung kann nun vor diesem Hintergrund als eine Kritik der beiden logisch komplementären Begründungsstrategien verständlich gemacht werden, welche eine alternative (metaphilosophische), phänomenologische Begründungskonzeption erforderlich macht, die nicht mit den Problemen dieser beiden Begründungsstrategien behaftet ist. In diesem Kapitel wird Hegels Kritik an beiden Begründungsverfahren dargestellt, die alternative phänomenologische Begründungskonzeption wird den Gegenstand der nächsten beiden Kapitel bilden.

2

In eine ähnliche Richtung scheinen mir Westphal (K. Westphal 1989, 1 f., 6 ff.) und Forster (Forster 1998, 126 ff.) zu gehen, auch wenn beide die argumentativen Strategien inhaltlich anders charakterisieren; vgl. auch Siep 2000, 75 und Beuthan 2008, 81. Hegels Typologie von Begründungsstrategien

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

5.2 Die natürliche Prüfungsvorstellung 5.2.1 Die natürliche Prüfungsvorstellung als Begründungsstrategie Die natürliche Prüfungsvorstellung wird von Hegel in Hinblick auf eine Bestimmung von Philosophie erläutert, welche als die Ausgangsbestimmung seiner kritischen Analyse der reflexiv-erkenntniskritischen und der wissenschaftlichen Konzeption von Philosophiebegründung angesehen werden kann. Diese Ausgangsbestimmung findet sich gleich zu Anfang der Einleitung, wo Philosophie als etwas charakterisiert wird, dem es um die »Sache selbst«, d. h. um das »wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist« (GW 9, 53), zu tun ist. Da die Bezeichnungen des »Absoluten«, der »Wahrheit« und »desjenigen, das in Wahrheit ist« funktional äquivalent verwendet werden,3 ist man wohl berechtigt, den Ausdruck »Erkennen dessen, was in Wahrheit ist« als Synonym für den Ausdruck »Erkenntnis des Absoluten« zu interpretieren. Philosophie ist so verstanden also für Hegel diejenige Tätigkeit, in der eine Erkenntnis des Absoluten angestrebt wird. Da diese Bestimmung auch Bestandteil der Beschreibung der natürlichen Prüfungsvorstellung ist, sollte sie m. E. nicht als Teil von Hegels eigener Konzeption des Absoluten,4 sondern als Terminus für das, was innerhalb philosophischer Positionen jeweils als Absolutes angesehen wird, interpretiert werden. So verstanden fungiert der Terminus des Absoluten an dieser Stelle also als eine neutrale Bezeichnung für dasjenige, was innerhalb einer philosophischen Position jeweils als letztlich wahr und seiend gilt. 3

Im ersten Absatz der Einleitung können die Ausdrücke »das, was in Wahrheit ist« (vgl. GW 9, 53, Zeile 2), das »Absolute« (Zeile 4, 14, 26), die »Wahrheit« (Zeile 2, 10, 19), das »Wahre« (Zeile 27) und »dasjenige, was An-sich ist« (Zeile 12) als funktionale Äquivalente verstanden werden, da sie in allen Fällen auf den Gegenstand der natürlichen Prüfungsvorstellung – d. h. die zu prüfende philosophische Erkenntnis – verweisen. So auch Kesselring 1984, 74 und Sedgwick 2008, 95, Fußnote 3. 4 Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass es sich bei der natürlichen Vorstellung um eine Gegenthese handelt, die kein Bestandteil von Hegels eigener Begründungskonzeption ist. Einige Interpreten sind allerdings der Meinung, dass Hegel diese Gegenthese mit Hilfe von Mitteln beschreibt, welche er seiner eigenen Konzeption des Absoluten entlehnt: so Fink 1977, 36, Aschenberg 1976, 219 f., Heidegger 1980, 124–127, M. Theunissen 1978, 337 f. und Lauer 1993, 27–29; vgl. kritisch dazu Graeser 1988, 27–29 und 55–56. Diese Deutung scheint mir nur schwer in Einklang zu bringen mit dem im weiteren Verlauf der Einleitung explizit aufgestellten Ziel, nicht-Hegelschen Positionen mit den eigenen begrifflichen Mitteln und aus ihrer eigenen Erfahrungsperspektive ihre Inkonsistenz vor Augen zu führen; der Begriff der Wahrheit wird denn auch von Hegel in der Folge als ein Begriff für dasjenige bestimmt, was innerhalb der jeweiligen zu kritisierenden Position als Wahrheit interpretiert wird; vgl. GW 9, 58 und dazu 6.2.2.

Die natürliche Prüfungsvorstellung

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Hegel erläutert die natürliche Prüfungsvorstellung in Bezug auf diese Ausgangsbestimmung als diejenige Begründungsvorstellung, der zufolge vor der Erkenntnis des Absoluten – und d. h. gemäß der Ausgangsbestimmung: vor der Philosophie selbst – zunächst eine Prüfung der Möglichkeit solcher Erkenntnis notwendig sei; als die Vorstellung, »daß, eh in der Philosophie an die Sache selbst, nemlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es nothwendig sey, vorher über das Erkennen sich zu verständigen« (GW 9, 53). Wie nachfolgend gezeigt wird, kann die wissenschaftliche Erkenntniskonzeption demgegenüber als diejenige Begründungsvorstellung verstanden werden, der zufolge auf eine solche metaphilosophische Prüfung verzichtet werden und unmittelbar mit philosophischen Erkenntnisversuchen angefangen werden könne. Als ferner spezifisch für die von Hegel kritisierte natürliche Prüfungsvorstellung kann eine instrumentalistische Erkenntnisauffassung angesehen werden. Die Erkenntnis, deren Möglichkeit propädeutisch untersucht werden soll, wird von dieser Prüfungsvorstellung als Instrument – von Hegel als »Werkzeug« oder »Medium« bezeichnet – aufgefasst, das bezüglich seiner epistemischen Leistungsfähigkeit, philosophische Erkenntnis des Absoluten zu realisieren, untersucht werden soll.5 Die natürliche Prüfungsvorstellung kann also durch zwei unterschiedliche Elemente charakterisiert werden. Zunächst durch die eher allgemeine erkenntniskritische Vorstellung, dass der Philosophie eine Erkenntnisprüfung vorangehen solle, welche die Möglichkeit philosophischer Erkenntnis propädeutisch zu untersuchen habe; dann durch eine instrumentalistische Erkenntnisauffassung, welche als die nähere inhaltliche Bestimmung dieser allgemeinen Prüfungsvorstellung verstanden werden kann und sie mit der spezifisch neuzeitlichen bzw. Kantischen Vorstellung von Erkenntniskritik identifizierbar macht.6 Es wird sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit 5

Vgl. GW 9, 53, Zeile 3–5, 19. Für den Kantischen Charakter dieser Vorstellung sprechen die für sie spezifische Auffassung von Erkenntnis als einem »Vermögen von bestimmter Art und Umfange« und die ihres Erkenntnisziels als »genauere[r] Bestimmung seiner [des Erkennens] Natur und Gräntze« (GW 9, 53, Zeile 8–10); auch die Begriffe des Werkzeugs und des Mediums können als Hinweise auf Kantische Vorstellungen – wohl die Spontaneität der Begriffe und Rezeptivität der Eindrücke (vgl. KrV, A 50) – gedeutet werden. In Vorlesungsnachschriften und in den frühen Jenaer Schriften finden sich allerdings zahlreiche Stellen, wo Hegel ähnliche Formulierungen verwendet, um erkenntniskritische Vorstellungen von u. a. Locke, Hume und Reinhold zu charakterisieren; für einen Überblick dieser Stellen sei auf den Kommentar von Graeser verwiesen (Graeser 1988, 25–51, insbesondere 26–35); vgl. auch Solomon 1983, 295 ff., Forster 1998, 126 f., 155 ff., Schick 2006, 75 f., Sedgwick 2008, 97 ff. sowie GW 9, 494. Aus diesem Grund scheint es mir plausibel, mit Graeser anzuneh6

Die natürliche Prüfungsvorstellung

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

zeigen, dass Hegel nicht so sehr die Vorstellung von Erkenntniskritik überhaupt ablehnt – vielmehr kann auch die phänomenologische Wissenschaft als eine Form von Erkenntniskritik, als »Prüffung der Realität des Erkennens« (GW 9, 58), verstanden werden –, sondern lediglich die spezifisch Kantische, auf dualistischen Annahmen aufbauende Form von Erkenntniskritik.7 Es kann gefragt werden, aus welchem Grund die natürliche Prüfungsvorstellung von Hegel so ausführlich thematisiert wird, wenn das Hauptproblem der Phänomenologie – wie nach der hier vorgelegten Deutung – die Isosthenie philosophischer Positionen darstellen soll. Die Antwort liegt m. E. darin, dass auch dieser Vorstellung implizit ein Problemverständnis zugrundeliegt, das mit der Isosthenie philosophischer Positionen zusammenhängt. Dies geht aus Hegels näherer Beschreibung der natürlichen Prüfungsvorstellung hervor, in der diese Vorstellung als Folge einer skeptizistisch motivierten Besorgnis, bezüglich der Erkenntnis des Absoluten zu irren – nur »Wolken des Irrthums statt des Himmels der Wahrheit« zu erfassen – charakterisiert wird. Diese Besorgnis ist für Hegel Ausdruck der Befürchtung, dass unter verschiedenen möglichen Erkenntnisarten zur Erfassung des Absoluten eine falsche Auswahl getroffen werden könnte: »daß es verschiedene Arten der Erkenntniß geben, und darunter eine geschickter als eine andere zur Erreichung dieses Endzwecks [der erfolgreichen Erkenntnis des Absoluten] seyn möchte, hiemit durch falsche Wahl unter ihnen […] Wolken des Irrthums statt des Himmels der Wahrheit erfaßt werden« (GW 9, 53). Auch wenn diese Vorstellung der Vielfalt von Erkenntnisarten nicht unmittelbar mit der der isosthenen Vielfalt philosophischer Positionen identisch ist, kann sie als eine Variante dieses Problems angesehen werden, als eine epistemologisch schematisierte Fassung des Problems der Isosthenie: men, dass es sich hier um »gemeinsame Elemente des neuzeitlichen Philosophieverständnisses« (Graeser 1988, 30) handelt. 7 Ähnlich charakterisiert Sally Sedgwick Hegels Phänomenologie als »Hegels eigene Version einer meta-kritischen Untersuchung über die Bedingungen menschlichen Wissens«, in der es wie in Kants KrV darum gehe, »eine Reihe von anhaltenden philosophischen Illusionen in Bezug auf die Natur des Wissens aufzudecken« (Sedgwick 2008, 108); mit dem Unterschied, dass diese Untersuchung im Falle der Phänomenologie nicht das »Resultat der externen Reflexion irgendeines Philosophen« (Sedgwick 2008, 110), sondern das Resultat einer kritischen Bewegung innerhalb des Bewusstseins selbst bilden soll; vgl. Sedgwick 2008, 108–110. Auch Habermas interpretiert Hegels Phänomenologie als Radikalisierung der (Kantischen) Erkenntniskritik (vgl. Habermas 1973, insbesondere 17 f., 29 f.), meint aber zugleich, dass Hegel in dieser Beziehung inkonsequent ist, da er von vornherein seine eigene Auffassung des Absoluten voraussetzen würde.

Die natürliche Prüfungsvorstellung

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Statt von einem isosthenen Widerstreit philosophischer Theorien ist die Rede von einer Isosthenie verschiedener Erkenntnisarten, die bezüglich ihrer epistemischen Leistungsfähigkeit, das Absolute zu erfassen, miteinander konkurrieren. Es ist diese Situation epistemischer Isosthenie, welche in Hegels Augen für die Anhänger der natürlichen Erkenntnisvorstellung eine metaphilosophische Prüfung erforderlich macht, durch die entschieden werden können soll, welche von diesen Erkenntnisarten am besten in der Lage ist, wahre Erkenntnis des Absoluten zu ermöglichen. Die genannte Situation der Vielfalt von Erkenntnisarten erinnert an die vermögenspsychologische Vorstellung einer Vielfalt von Erkenntnisvermögen, die bezüglich ihrer epistemischen Leistungsfähigkeit – als einzelne Erkenntnisvermögen und in Kombination – unterschiedlich beurteilt werden und insofern leicht auf eine Vielfalt unterschiedlicher Positionen – etwa empiristische, rationalistische oder diese kombinierende – abgebildet werden können. Gerade diese vermögenspsychologische Vorstellung eines »Sack[s] voll Vermögen« (GW 4, 237) hat Hegel mehrmals in Bezug auf Kant kritisiert.8 Die Funktion der Kritik der natürlichen Prüfungsvorstellung in der Einleitung kann insofern darin gesehen werden, dass hier eine Konzeption kritisiert wird, die ähnlich wie die phänomenologische Prüfungskonzeption mit einer metatheoretischen Prüfung »philosophischer« Erkenntnisarten auf das Problem der Vielfalt philosophischer Positionen reagiert und in dieser Hinsicht eine konkurrierende metaphilosophische Theorie darstellt. Wenn Hegel in seiner kritischen Analyse der natürlichen Prüfungsvorstellung zeigen kann, dass diese aufgrund dualistischer Voraussetzungen als metaphilosophische Theorie inkonsistent ist und die verfolgten Prüfungsziele nicht erreichen kann, darf die phänomenologische Prüfungskonzeption als metaphilosophische Theorie, welche nicht auf solchen problematischen Voraussetzungen aufbaut, (in Bezug auf Kant) als indirekt gerechtfertigt gelten. In der nachfolgenden Darstellung dieser Kritik soll zunächst dargelegt werden, was Hegel zufolge die Hauptvoraussetzung der natürlichen Prüfungsvorstellung ausmacht, um anschließend Hegels Argumente gegen verschiedene Implikationen dieser Hauptvoraussetzung darzustellen: gegen die skeptizistischen Implikationen einerseits, welche mit der instrumentalistischen Erkenntnisvorstellung verbunden sind, und gegen die interne Inkonsistenz der Prüfungsvorstellung als Folge der Tatsache, dass die natürliche 8

Vgl. z. B. die Ausführungen im Kant-Teil von Glauben und Wissen (GW 4, 325–346); vgl. auch Jenaer Systementwurf I: GW 6, 290 ff.

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

Prüfungsvorstellung aufgrund ihres dualistischen Charakters mit Zirkularitätsproblemen behaftet ist, andererseits.

5.2.2 Hegels Kritik an der natürlichen Prüfungsvorstellung Als die Hauptvoraussetzung der natürlichen Prüfungsvorstellung, aus der sich als »Consequenz« (GW 9, 54) die kritischen Argumente gegen diese Vorstellung ergeben, sieht Hegel die dualistische Annahme an, dass »das Absolute allein wahr, oder das Wahre allein absolut ist« (ebd.) und also »das Absolute auf einer Seite stehe, und das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten« (ebd.). Diese Annahme – so das erste Argument – führt im Zusammenhang mit einer instrumentalistischen Erkenntnisauffassung dazu, dass das Absolute nicht als das, was es nach dieser dualistischen Auffassung an sich sein soll, nämlich etwas von jeglicher epistemischen Interpretation Unabhängiges, erkannt werden kann. Denn wenn das Absolute einerseits als getrennt von den verschiedenen sich auf es beziehenden Erkenntnisarten vorgestellt, andererseits aber aufgrund ihres instrumentalistischen Charakters eine Ordnungs- bzw. Bearbeitungsleistung dieser Erkenntnisarten angenommen werden muss, die das Erkenntnisobjekt gemäß einer für die jeweilige Erkenntnisart spezifischen Bearbeitungsoperation auf bestimmte Weise »formiert«, dann folgt zwangsläufig, dass das Absolute nicht als ein von der jeweiligen Erkenntnisbearbeitung unabhängiger Gegenstand erkannt werden kann: »ist das Erkennen das Werkzeug, sich des absoluten Wesens zu bemächtigen, so fällt sogleich auf, daß die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache, sie vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formirung und Veränderung mit ihr vornimmt« (GW 9, 53).9 9

Man kann sich fragen, ob die Hegelsche Kritik an der natürlichen Prüfungsvorstellung von Annahmen abhängig ist, die nicht zwangsläufig mit dieser Prüfungsvorstellung verbunden sein müssen. So scheint es nicht nur willkürlich, einer erkenntniskritischen Konzeption, sei diese auch dualistischer Art, eine instrumentalistische Erkenntnisauffassung zu unterstellen, sondern auch, anzunehmen, die Anwendung solcher Erkenntnismittel führe zu einer Formation oder Veränderung des Erkenntnisgegenstandes. Auch wenn Hegel dies hier nicht explizit begründet – ähnlich urteilt Schick in Schick 2006, 79 (vgl. allerdings GW 9, 54, Zeile 30–34) –, kann doch relativ leicht verständlich gemacht werden, dass eine solche instrumentalistische Erkenntnisauffassung in der Tat aus der Annahme einer Verschiedenheit von in ihrer Wahrheitsfähigkeit gleichwertig erscheinenden Erkenntnisarten folgt, welche alle auf ein von ihnen getrennt gedachtes Absolutes bezogen sind. Denn wenn einerseits das Absolute als von seiner Erkenntnis unabhängig seiend gilt, andererseits verschiedene Erkenntnisarten angenommen werden, zwischen deren Wahrheitsfähigkeit nicht entschieden werden kann, dann muss zwangsläufig eine für die jewei-

Die natürliche Prüfungsvorstellung

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Als Konsequenz der instrumentalistischen Erkenntnisauffassung ergibt sich die gänzliche Unerkennbarkeit des Absoluten als eines von jeder Erkenntnisbearbeitung unabhängigen Gegenstandes: die »Ueberzeugung […], daß das ganze Beginnen, dasjenige, was An-sich ist, durch das Erkennen dem Bewußtseyn zu erwerben, in seinem Begriffe widersinnig sey, und zwischen das Erkennen und das Absolute eine sie schlechthin scheidende Gräntze falle« (GW 9, 53). Da im Begriff des Erkenntnismittels selbst schon angelegt ist, dass ein erkannter Gegenstand nicht so erkannt wird, wie er unabhängig von jeder Erkenntnisbearbeitung erscheinen würde, kann über diese Erkenntnismethode, sofern mit ihr eine solche Erkenntnis angestrebt wird, geurteilt werden: »Wir gebrauchen […] ein Mittel, welches unmittelbar das Gegentheil seines Zwecks hervorbringt; oder das Widersinnige ist vielmehr, daß wir uns überhaupt eines Mittels bedienen« (GW 9, 53).10 Als Fazit dieses ersten Arguments lässt sich die natürliche Prüfungsvorstellung als inkonsistent charakterisieren, da sie zu skeptizistischen Konsequenzen führt, die das genaue Gegenteil zum mit ihr ursprünglich verfolgten Ziel darstellen. Hegels zweites Argument gegen die natürliche Prüfungsvorstellung kann als Zirkularitätsargument verstanden werden, das sich spezifisch gegen die allgemeine Vorstellung von Erkenntniskritik richtet, welche oben als die erste Komponente der natürlichen Prüfungsvorstellung herausgearbeitet wurde. Es können laut Hegel verschiedene dualistische Annahmen identifiziert werden, welche der natürlichen Prüfungsvorstellung selbst ungeprüft zugrundeliegen, so dass die Vorstellung, dass alle ungeprüften Annahmen vorher einer Prüfung unterzogen werden sollen, zu einer zirkulären Vorstellige Erkenntnisart spezifische Ordnungsleistung oder Formierungsleistung – beispielsweise raumzeitlicher (als Medium) oder begrifflich-kategorialer (als Werkzeug) Art – angenommen werden, welche verständlich macht, wie die Erkenntnisprodukte in einer Weise unterschiedlich sein können, die mit der unterschiedlichen Verfassung der jeweiligen Erkenntnisarten und nicht mit dem Absoluten selbst, das aufgrund seiner angenommenen Unabhängigkeit für die Erklärung der Verschiedenheit der Erkenntnisarten nicht herangezogen werden kann, zusammenhängt. Vgl. zu diesen Fragen Schick 2006, 79 f. 10 Hegel unterscheidet zwei Arten von Erkenntnismitteln, Werkzeug und Medium, und widerlegt beide Fälle instrumentalistischen Erkenntnisgebrauchs einzeln. Da Hegel allerdings das strukturell gleiche Argument gegen sie ins Feld führt, soll hier auf eine genauere Analyse verzichtet werden. Aus dem gleichen Grund sollen die im weiteren Verlauf des ersten Absatzes der Einleitung beschriebene Möglichkeit der Zurückweisung der Hegelschen Kritik und Hegels Replik auf diese Zurückweisung – die Strategie der Subtraktion der Zutat der Erkenntnismittel vom Absoluten und Hegels Erwiderung, dass eine solche Strategie wieder zur Ausgangssituation eines unerkannten Absoluten zurückführt (vgl. GW 9, 53, Zeile 23 ff.) – hier ebenfalls unberücksichtigt bleiben. Vgl. aber Kapitel 7, Anm. 69.

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

lung wird: sie [die natürliche Prüfungsvorstellung bzw. die sie motivierende Irrtumsbesorgnis] »setzt […] etwas und zwar manches als Wahrheit voraus, und stützt darauf ihre Bedenklichkeiten und Consequenzen, was selbst vorher zu prüffen ist, ob es Wahrheit sey« (GW 9, 54). Diese ungeprüften Annahmen betreffen im Einzelnen die Annahme der Trennung von geprüfter Erkenntnis und ihrem Erkenntnisgegenstand, dem Absoluten, damit zusammenhängend die Auffassung von Erkenntnis als Erkenntnisinstrument, und, drittens, die Annahme einer Trennung von prüfender und geprüfter Erkenntnis.11 Aus dem zirkulären Charakter der natürlichen Prüfungsvorstellung folgt, dass auch die für sie charakteristische Vorstellung, der zufolge jede unkritische Erkenntnisbemühung, welche meint, das Absolute unmittelbar erkennen zu können – und welche Hegel »Wissenschaft« nennt12 –, vorher einer Prüfung unterzogen werden sollte, selbst vorher einer Prüfung unterzogen werden muss: »wenn die Besorgniß in Irrthum zu gerathen, ein Mißtrauen [hier: die Vorstellung, vorher prüfen zu müssen] in die Wissenschaft setzt, welche ohne dergleichen Bedenklichkeiten ans Werk selbst geht und wirklich erkennt, so ist nicht abzusehen, warum nicht umgekehrt ein Mißtrauen in diß Mißtrauen [d. h. in die natürliche Prüfungsvorstellung selbst] gesetzt, und besorgt werden soll, daß diese Furcht zu irren schon der Irrthum selbst ist« (GW 9, 54). Man könnte sagen: die »metakritische Selbstanwendung des Erkenntnisbegriffs der kritischen Philosophie auf diese selbst« (Röttges 1987, 36) ist in diesem Begriff selbst angelegt. Die Inkonsistenz der natürlichen Prüfungsvorstellung ergibt sich für Hegel unabhängig von der Tatsache, dass ihr überhaupt Voraussetzungen zugrundeliegen, auch unmittelbar aus der dualistischen Annahme der Trennung von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand. Denn einerseits gilt nach dieser Annahme das Absolute als allein wahr, andererseits wird das Erkennen »doch [als] etwas reelles« gesetzt. Wenn aber das Erkennen »getrennt« ist vom Absoluten, könne das Absolute nicht zugleich epistemisch zugänglich sein: es widerspreche sich, »daß das Erkennen, welches, indem es außer dem Absoluten, wohl auch außer der Wahrheit ist, doch wahrhaft sey« (GW 9, 54).13 11

Vgl. GW 9, 54, Zeile 13 ff. Siehe dazu 5.3.1 unten. 13 Man kann sich fragen, ob die Zirkularität der natürlichen Prüfungsvorstellung aufgrund des spezifischen Inhalts der genannten Voraussetzungen entsteht (so Habermas 1973, 15 ff.; Hiltscher 1998, 240 und K. Westphal 1989, 6–10) oder durch die Tatsache, dass der natürlichen Prüfungsvorstellung überhaupt ungeprüfte Annahmen zugrundeliegen (so Stern 2002, 38, Norman 1976, 12 und Forster 1998, 157, Fußnote 74). Mir scheint, dass 12

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Die Art von Inkonsistenz, welche sich aus der Zirkularitätskritik an der natürlichen Prüfungsvorstellung ergibt, kann anders als das vom ersten Argument thematisierte kritische Resultat als Form interner Inkonsistenz charakterisiert werden; sie betrifft die Inkonsistenz einer Konzeption, der zufolge alles einer Prüfung unterzogen werden soll, der dabei aber selbst ungeprüfte Voraussetzungen zugrundeliegen, die gemäß eben dieser Konzeption selbst der Prüfung bedürftig wären. Die Art von Inkonsistenz, welche vom ersten Argument thematisiert wurde und sich gegen den instrumentalistischen Charakter der natürlichen Prüfungsvorstellung richtete, betraf dagegen den Umstand, dass sie aufgrund ihrer dualistischen Verfasstheit ihr ursprüngliches Ziel – die Erkenntnis des Absoluten – nicht mehr realisieren konnte. Man könnte diese Form von Inkonsistenz, die dazu führt, dass die natürliche Prüfungsvorstellung ihre metaphilosophische Prüfungsfunktion nicht mehr wahrnehmen kann, im Unterschied zur internen Inkonsistenz als funktionale Inkonsistenz bezeichnen. Die skeptizistische Konsequenz stellt hier deswegen eine Widerlegung der natürlichen Prüfungsvorstellung dar, weil sie klar macht, dass die natürliche Prüfungsvorstellung, die mit dem Anspruch auftritt, eine Vielfalt von isosthenen Wissenspositionen oder Wissensarten einer Prüfung zu unterziehen, selbst eine ungeprüfte, dogmatische Wissensposition darstellt, die zu demjenigen gehört, dessen kritische Prüfung sie ermöglichen soll. Diese Unterscheidung mag unnötig subtil erscheinen; jedoch kann mit ihrer Hilfe der ansonsten schwer verständlich zu machende doppelte kritische Umgang mit der natürlichen Prüfungsvorstellung im weiteren Verlauf der philosophiekritischen Überlegungen aufgehellt werden. Die Prüfungsvorstellung scheint im vierten Absatz der Einleitung zunächst – als leere Erscheinung, welche aufgrund ihrer Inkonsistenz vor der auftretenden Wissenschaft unmittelbar verschwindet – als widerlegt zu gelten, dann aber und scheinbar in Widerspruch dazu als zur Wissenschaft gleichberechtigte Alternative verstanden zu werden, welche trotz ihrer Inkonsistenz in ein isosthenes Verhältnis zur Wissenschaft tritt. beide Interpretationen in unterschiedlicher Hinsicht zutreffen. Hegels Hauptargument scheint in der Tat die Tatsache darzustellen, dass der natürlichen Prüfungsvorstellung überhaupt ungeprüfte Voraussetzungen zugrundeliegen; dafür spricht zunächst, dass die Voraussetzungen bloß aufgelistet werden und der eigentliche Zirkularitätsvorwurf nicht explizit aus dem Inhalt dieser Voraussetzungen hergeleitet wird. In Bezug auf die erste Voraussetzung – die Trennung von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand – wird dann aber in der dargelegten Weise auch unabhängig von der so charakterisierten Zirkularitätskritik ein Argument gegen die natürliche Prüfungsvorstellung entwickelt, welches spezifisch auf einer der dualistischen Voraussetzungen basiert.

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

Diese doppelte, scheinbar widersprüchliche Bewertung der natürlichen Prüfungsvorstellung wird verständlich, wenn sie auf die unterschiedlichen kritischen Resultate der beiden Argumente bezogen wird, deren Kritik jeweils unterschiedliche Aspekte der natürlichen Prüfungsvorstellung betrifft.14 Die Bewertung der natürlichen Prüfungsvorstellung als leere Erscheinung kann auf das kritische Ergebnis des Zirkularitätsarguments bezogen werden, welches die interne Inkonsistenz der Prüfungsvorstellung konstatiert und sich gegen ihren allgemeinen propädeutisch-erkenntniskritischen Charakter richtet. Insofern durch diese Zirkularitätskritik die irreparable Selbstwidersprüchlichkeit der natürlichen Prüfungsvorstellung bezüglich ihrer erkenntniskritischen Komponente aufgezeigt wird, kann die natürliche Prüfungsvorstellung als »leere Erscheinung« gelten, von der als Prüfungsvorstellung die Wissenschaft keine »Notiz« zu nehmen hat, und die daher auch kein metaphilosophisches Konkurrenzprojekt zu Hegels phänomenologischer Prüfungskonzeption darstellt.15 Im Unterschied dazu scheint es mir plausibel, die Bewertung der natürlichen Prüfungsvorstellung als erscheinendes, unwahres Wissen, das in ein isosthenes Verhältnis zur Wissenschaft tritt, nicht auf ihren Prüfungscharakter, sondern auf die im ersten Argument thematisierten dualistischen Voraussetzungen der instrumentalistischen Erkenntnisauffassung zu beziehen, aufgrund derer die natürliche Prüfungsvorstellung trotz ihres metaphilosophischen Anspruchs als dogmatisch-skeptizistische Position gelten muss. Es scheint nahezuliegen, die natürliche Prüfungsvorstellung nur unter diesem Aspekt mit dem »unwahren Wissen« zu identifizieren, das sowohl nach der Einleitung als auch nach der Vorrede dasjenige paradigmatische Wissen darstellt, das als gleichwertige philosophische Position zur Wissenschaft in ein isosthenes Verhältnis tritt. Auch die phänomenologische Wissenschaft wird von Hegel im weiteren Verlauf der Einleitung als eine Form von Skeptizismus charakterisiert – als »sich vollbringender Skeptizismus« –; dieser Skeptizismus kann aber im Unterschied zum Skeptizismus der natürlichen Prüfungsvorstellung als eine

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In eine z. T. ähnliche Richtung scheint mir Röttges in Röttges 1987, 36 f. zu gehen. Auch Claesges und Graeser beziehen den Ausdruck »leere Erscheinung« auf die interne Unfundiertheit der natürlichen Prüfungsvorstellung und unterscheiden diese interne Unfundiertheit der natürlichen Prüfungsvorstellung von ihrem nachfolgend thematisierten nicht-leeren, gehaltvollen Erscheinungscharakter als unwahrem Wissen, das in ein isosthenes Verhältnis zur Wissenschaft tritt. Vgl. Claesges 1981, 47–53 und Graeser 1988, 61 f. 15

Die »Wissenschaft«

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Form von Skeptizismus charakterisiert werden, dem nach Hegels Selbstverständnis keine ungeprüften Annahmen zugrundeliegen.16 Durch diese Interpretation der natürlichen Prüfungsvorstellung als eine Vorstellung, der ungeprüfte Voraussetzungen zugrundeliegen und die insofern als eine dogmatische Position, eine Position dogmatischen Skeptizismus’, gelten kann, wird also einsichtig, aus welchem Grund sie im weiteren Verlauf der philosophiekritischen Überlegungen der Einleitung als unwahres Wissen charakterisiert wird, das mit der Wissenschaft – die, wie jetzt anschließend gezeigt wird, Hegel (unter dem Titel »erscheinende Wissenschaft«) als Inbegriff dogmatischen Philosophierens gilt –, in einen isosthenen Widerstreit tritt: als Prüfungsvorstellung und d. h. als metaphilosophische Theorie braucht die Wissenschaft überhaupt keine Notiz von ihr zu nehmen, aber als eine dogmatische Wissensposition bildet sie eine – ihrem metaphilosophischen Selbstverständnis zum Trotz – gleichwertige Alternative zur Wissenschaft und exemplifiziert so dasjenige Problem, welches als das Ausgangsproblem der Phänomenologie angesehen werden kann: das Problem der (faktischen) Isosthenie philosophischer Wahrheitsansprüche.

5.3 Die »Wissenschaft« 5.3.1 Die »Wissenschaft« als Begründungsstrategie Da die natürliche Prüfungsvorstellung und die mit ihr verbundene metaphilosophische Forderung nach einer der Philosophie vorangehenden erkenntniskritischen Prüfung sich als inkonsistent erwiesen – sie können laut Hegel »als zufällige und willkührliche Vorstellungen geradezu verworfen« und »sogar als Betrug angesehen werden« (GW 9, 55) –, bleibt scheinbar nur die Alternative, unmittelbar mit der Philosophie anzufangen: unmittelbar »an die Sache selbst, nemlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist« zu gehen (GW 9, 53). Da metaphilosophische Philosophiebegründung sich als inkonsistent erwiesen hat, scheint man wieder auf philosophische Philosophiebegründung zurückgeworfen zu sein. Bereits bei der Formulierung der Zirkularitätskritik hatte Hegel die Wissenschaft eingeführt als Begründungsform, welche im Gegensatz zur natürlichen Prüfungsvorstellung »ohne dergleichen Bedenklichkeiten [der natürlichen Prüfungsvorstellung] ans Werk selbst geht und wirklich erkennt« (GW 9, 54). Da einerseits die »Wissenschaft« und die »Philosophie« ähn16

Vgl. dazu 6.1. Die »Wissenschaft«

174

Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

lich charakterisiert werden, nämlich als Unterfangen, denen es im Gegensatz zu erkenntniskritischen Konzeptionen um unmittelbares und wirkliches Erkennen des Absoluten geht, und da andererseits auch dasjenige, auf das die kritischen Anstrengungen der natürlichen Prüfungsvorstellung gerichtet sind, abwechselnd als Philosophie und als Wissenschaft bestimmt wird,17 ist es m. E. berechtigt, die Wissenschaft als einen Fall von Philosophie bzw. philosophischer Begründung zu interpretieren oder sogar mit dem, was Hegel im Rahmen seiner Begründungstypologie unter philosophischer Begründung versteht, zu identifizieren, mithin »Wissenschaft« im Rahmen der Einleitung als einen alternativen Terminus für Philosophie zu betrachten. Bevor aber die Frage angegangen wird, wie die Wissenschaft sich zu dem verhält, was Hegel unter Philosophie versteht, soll zunächst untersucht werden, was genauer mit »Wissenschaft« gemeint ist. Im Hegelschen Text ist die Rede von drei verschiedenen Formen von Wissenschaft: von einer unausgeführten, welche »darin, dass sie auftritt […] selbst eine Erscheinung« (GW 9, 55) ist (i), einer in ihrer Wahrheit ausgeführten und von diesem erscheinenden Charakter befreiten Wissenschaft (ii), und schließlich einer Wissenschaft, welche diese Befreiungsaufgabe durchführt (iii). Dass es sich bei letzterer Form von Wissenschaft um Hegels phänomenologische Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins handelt – die »Darstellung des erscheinenden Wissens« (GW 9, 55) –, welche eine Prüfung von Wissenspositionen durchführen soll, kann als relativ unkontrovers angesehen werden; worum es sich aber bei den ersteren beiden Formen von Wissenschaft handeln soll, ist weniger klar. Zunächst fragt es sich, ob diese beiden Wissenschaftsformen mit einer oder mehreren von Hegels wissenschaftlichen Disziplinen in Verbindung gebracht werden können, ob sie auf fremde Positionen bezogen werden sollen oder ob es sich bei der Wissenschaftsbezeichnung um einen generischen Terminus für philosophische Begründung überhaupt handelt, bezüglich derer verschiedene Instanziierungen oder Weisen des Auftretens unterschieden werden können. Was die Interpretation von (i) und (ii) als Hegelsche Disziplin oder Disziplinen betrifft, verdienen zwei Lesarten, hervorgehoben zu werden. Laut Fulda 17

In GW 9, 53, Zeile 1–5 ist es das »wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist« – die »Sache selbst« der Philosophie –, auf das sich die natürliche Prüfungsvorstellung erkenntniskritisch richtet; in GW 9, 54, Zeile 7–11 ist es die »Wissenschaft, […] welche ohne dergleichen Bedenklichkeiten ans Werk selbst geht und wirklich erkennt« – also eine im Vergleich mit der zuerst zitierten Bestimmung ähnlich anmutende Bestimmung von Philosophie –, welche den Gegenstand des »Misstrauens« der natürlichen Prüfungsvorstellung bildet.

Die »Wissenschaft«

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handelt es sich bei der unausgeführten, erscheinenden Wissenschaft und der in ihrer Wahrheit ausgeführten, nicht-erscheinenden Wissenschaft um die vom Gehalt her gleiche Hegelsche Wissenschaft, die sich lediglich hinsichtlich der Weise ihres situationellen Auftretens unterscheidet: als unausgeführte Wissenschaft tritt sie neben anderem, den Wahrheitsanspruch der Hegelschen Wissenschaft nicht anerkennenden Wissen auf, als ausgeführte Wissenschaft dagegen als singuläre Position, die in ihrem Wahrheitsanspruch faktisch unbestritten bleibt. Die Bezeichnungen »Unausgeführtheit« und »Ausgeführtheit« beziehen sich nach dieser Lesart also nicht auf intrinsisch unterschiedliche Gegebenheitsweisen – beispielsweise unterschiedliche Entwicklungsstufen – der Hegelschen Wissenschaft oder auf unterschiedliche Hegelsche Disziplinen, sondern auf verschiedene Kontexte oder Situationen des äußerlichen Auftretens derselben Wissenschaft.18 Laut Puntel handelt es sich dagegen bei unausgeführter und ausgeführter Wissenschaft um unterschiedliche Entwicklungsstufen der Hegelschen Wissenschaft, denen unterschiedliche Hegelsche Disziplinen entsprechen: einerseits um die anfängliche Erscheinungsform der Hegelschen Wissenschaft, welche als unausgeführte Wissenschaft noch unwahres Wissen darstellt und mit dem Entwicklungsstadium der Wissenschaft am Anfang der Phänomenologie identifiziert werden kann, andererseits um die Vollgestalt der Hegelschen Wissenschaft, die den Standpunkt der Logik erreicht hat und die als ausgeführte Wissenschaft das Resultat der phänomenologischen Darstellung des erscheinenden Wissens bildet. Die Bezeichnungen der unausgeführt-erscheinenden und der ausgeführt-wahren Wissenschaft beziehen sich in dieser Lesart also nicht auf äußerliche Kontexte des Auftretens derselben Wissenschaft, sondern auf intrinsisch verschiedene Erscheinungs-

18

Vgl.: »Die erwähnte Stelle [GW 9, 55, Zeile 12–16: die auftretende Wissenschaft stellt selbst eine Erscheinung dar, da ihr Auftreten noch nicht ihr Ausgeführtsein ist; sie kann auch deshalb Erscheinung genannt werden, da sie neben anderem Wissen auftritt] trägt diesem Gesichtspunkt Rechnung; denn sie redet genau besehen gar nicht von der Erscheinung, die der Wissenschaft deshalb anhaftet, weil sie Resultat der objektiven Entwicklung des Geistes ist […]; sondern von derjenigen, die sie ist, weil sie neben unwahrem Wissen auftritt. Denn dieses versichert ebensogut seine Wahrheit wie die Wissenschaft die ihre. So viel wie ein Versichern würde es für das unwahre Wissen auch sein, wenn die Wissenschaft sich bloß für sich selbst ihre Wahrheit bewiese. Es ist daher eigentlich nicht die Unausgeführtheit der Wissenschaft, die die Darstellung des erscheinenden Wissens notwendig macht, sondern der unbedingte Wahrheitsanspruch, der jedem Wissen innewohnt und erfordert, dass es in ihm selbst seiner Unwahrheit überführt wird. Die Wissenschaft hat für ein unwahres Wissen den Anschein, nur eine Erscheinung zu sein. Sie muß sich davon befreien und kann es nur, indem sie sich gegen ihn wendet« (Fulda 1975, 298–9). Vgl. für eine ähnliche Deutung auch Heinrichs 1974, 10 f.

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

formen von Wissenschaft, denen unterschiedliche Hegelsche Disziplinen entsprechen.19 20 Beide Deutungen sind mit Schwierigkeiten verbunden. Um dies deutlich werden zu lassen, sei zunächst die relevante Hegelsche Textstelle zitiert: Aber die Wissenschaft darin, dass sie auftritt, ist sie selbst eine Erscheinung; ihr Auftreten ist noch nicht sie in ihrer Wahrheit ausgeführt und ausgebreitet. Es ist hiebey gleichgültig, sich vorzustellen, daß sie die Erscheinung ist, weil sie neben anderem auftritt, oder jenes andere unwahre Wissen ihr Erscheinen zu nennen (GW 9, 55, Zeile 12–16). Der Begriff der Erscheinung impliziert die Unterscheidung von etwas selbst Nicht-Erscheinendem, einem Erscheinungsgrund oder -Subjekt, das in einer oder mehreren Erscheinungen auf inadäquate Weise repräsentiert wird, und diesen seinen inadäquaten Erscheinungsformen; in diesem Sinne stellt Hegel am Ende der Einleitung den Begriff der Erscheinung dem des »Wesen[s]« (GW 9, 62) gegenüber.21 Als Kandidaten für das Erscheinungssubjekt der »erscheinenden Wissenschaft« bieten sich im Hegelschen Text die »Wissenschaft« und das »unwahre Wissen« an. Da allerdings von zwei Thematisierungsformen der »Wissenschaft« und nicht des »unwahren Wissens« die Rede ist – nämlich von der unausgeführten einerseits und der in ihrer Wahrheit ausgeführten Wissenschaft andererseits –, scheint es berechtigt, mit Fulda und Puntel die »Wissenschaft« als das Erscheinungssubjekt der »erscheinenden Wissenschaft« anzusehen. Da der erscheinende Charakter der Wissenschaft von Hegel explizit durch die Tatsache erläutert wird, dass sie noch unausgeführt ist, scheint es ferner berechtigt, wie Fulda und Puntel die durch den Ausfüh19

Vgl.: »Als Erscheinung ist die Wissenschaft unausgeführt, und dies bedeutet: sie ist noch unwahres Wissen. Sagt man aber [wie Fulda], daß die Wissenschaft selbst als Erscheinung neben dem unwahren Wissen auftritt, so ist diese Ausdrucksweise inadäquat, denn hier wird die Wissenschaft nur antizipierend angesprochen, d. h. sie wird als noch nicht ausgeführt und damit als noch nicht wirkliche Wissenschaft vorgestellt; wird sie aber ausgeführt, so bedeutet dies gerade, daß sie das Moment des unwahren Wissens als ihr eigenes Moment erweist und es damit in seiner Unwahrheit aufhebt« (Puntel 1973, 311). Diese Bemerkung erfolgt im Rahmen einer ausführlichen Kritik der Fuldaschen Deutung der Phänomenologie als systemexterner Rechtfertigung; vgl. Puntel 1973, 308–322. 20 Ich folge hier weitgehend der Darstellung dieser »Kontroverse« (Claesges 1981, 50) durch Claesges (vgl. Claesges 1981, 50 f.), der eine dritte Position in Bezug auf Fulda und Puntel vertritt, bezüglich der hier thematisierten Differenz aber, wie mir scheint, der Position Puntels zugeordnet werden kann. 21 Vgl. zum Verhältnis von Erscheinung und Wesen auch GW 9, 12, 29–30, 34–5, 42; vgl. zum Begriff des Wesens GW 9, 9, 14, 16, 19, 44.

Die »Wissenschaft«

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rungsbegriff implizierten Gegebenheitsweisen der Wissenschaft auf die durch den Erscheinungsbegriff implizierte Unterscheidung des Wesens einer Sache und ihrer Erscheinungsformen zu beziehen.22 Demnach handelt es sich beim erscheinenden Auftreten der »Wissenschaft« um eine oder mehrere Erscheinungsformen von »Wissenschaft«, die als solche einen Fall von »unausgeführter Wissenschaft« bilden. Die eigentliche interpretatorische Schwierigkeit stellt nun aber die Frage dar, warum die erscheinende Wissenschaft als Erscheinungsfall von »Wissenschaft« für Hegel einen unausgeführten Charakter hat. Puntel und Fulda können diese Schwierigkeit m. E. nicht befriedigend lösen. Nach der Deutung von Puntel besteht die Unausgeführtheit der Wissenschaft nicht in der Weise ihres Auftretens neben anderem Wissen, sondern in ihrer inhaltlichen Unausgeführtheit, der Tatsache, dass sie als anfängliche Stufe der Hegelschen Wissenschaft aufgrund ihrer mangelhaften Verfassung noch nicht als wahres Wissen qualifiziert werden kann. Diese Deutung ist nicht leicht mit dem Wortlaut des Hegelschen Textes in Einklang zu bringen, denn dort wird auf relativ eindeutige Weise die Tatsache, dass sie neben anderem Wissen auftritt – »daß sie die Erscheinung ist, weil sie neben anderem [Wissen] auftritt« (GW 9, 55) – für den defizienten, erscheinenden Charakter der Wissenschaft verantwortlich gemacht.23 Die Puntelsche Lesart ist auch systematisch problematisch, denn sie impliziert, dass als Gegenstand der Phänomenologie nicht mehr die Vielfalt nichtHegelscher Positionen, sondern die phänomenologische Wissenschaft selbst – die phänomenologische Wissenschaft in ihrem anfänglichen Stadium, die sich in der Darstellung des erscheinenden Wissens als kritische Selbstdarstellung gegen sich selbst als unwahres Wissen kehrt – angesehen werden muss. Dies ist aber unplausibel, da es für Hegel ja gerade das Charakteristikum der »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« ist, dass sie, anders 22

Vgl. dazu die Verwendung von »Erscheinung« und »Wesen« GW 9, 29 f. und 62. Auch die zweite der von Hegel im obenzitierten Satz (GW 9, 55, Zeile 14–16) angegebenen Erklärungen für den erscheinenden Charakter der Wissenschaft – »das unwahre Wissen ihr Erscheinen zu nennen« – kann m. E. in dem Sinne interpretiert werden, dass das (isosthene) Auftreten neben anderem Wissen – hier: das unwahre Wissen neben dem wissenschaftlichen –, für die Tatsache, dass es als solches einen bloßen ›Erscheinungsfall von Wissenschaft‹ darstellt, verantwortlich gemacht wird. Denn der symmetrische Aufbau des Satzes berechtigt, die zweite Satzhälfte als eine elliptische Formulierung zu interpretieren; so interpretiert würde der Satz vollständig lauten: ›Es ist hierbei gleichgültig sich vorzustellen, dass die Wissenschaft ein Erscheinungsfall von (wahrer) Wissenschaft ist, weil sie neben anderem Wissen auftritt, oder sich vorzustellen, dass das unwahre Wissen einen Erscheinungsfall von Wissenschaft darstellt, weil es neben der Wissenschaft, d. h. seinerseits neben anderem Wissen, auftritt‹. 23

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

als die eigentliche Wissenschaft, nicht sich selbst, sondern fremdes Wissen zum Gegenstand machen soll.24 Für Fulda ist der unausgeführte Charakter der erscheinenden Wissenschaft dagegen Folge der Tatsache, dass sie neben anderem Wissen auftritt. Obwohl die Fuldasche Lesart damit einem wichtigen Aspekt des Hegelschen Textes gerecht wird, scheint es mir jedoch unplausibel, die Rede von einer unausgeführten und einer in ihrer Wahrheit ausgeführten Wissenschaft – Termini, die stark prozessual konnotiert sind – nicht auch mit einer Entwicklung des Gehalts der Wissenschaft selbst in Verbindung zu bringen. Dazu ist es auch systematisch nicht unproblematisch, den erscheinenden Charakter der Wissenschaft ausschließlich auf ihre Konkurrenzposition zu anderem Wissen zu beziehen. Auf diese Weise kann als Resultat der Phänomenologie nicht mehr die Wissenschaft selbst angesehen werden – diese wäre ja als erscheinendes Wissen ihrem Gehalt nach schon präsent –, vielmehr könnte dieses Resultat nur noch in der Destruktion des mit ihr konkurrierenden Wissens bestehen. Durch diese Destruktion wäre die unabhängig von dieser Destruktion schon bestehende Wissenschaft indirekt als »in ihrer Wahrheit ausgeführte Wissenschaft« gerechtfertigt. Die Phänomenologie wäre in diesem Fall also nicht mehr eigentlich die Genese der Wissenschaft selbst, sondern bloß die Genese ihres alternativlosen Charakters.25 Eine solche Deutung würde zurückführen zu einer – besonders starken – didaktischen Lesart, insofern in einer solchen Lesart nicht die Wissenschaft selbst durch die Phänomenologie gerechtfertigt würde, sondern bloß ihre Alternativlosigkeit für den Leser.26 Wenn dagegen die »Wissenschaft« überhaupt nicht mit einer Hegelschen Disziplin in Verbindung gebracht wird, sondern als generische Bezeichnung für philosophische Begründung schlechthin verstanden wird,27 kann einerseits mit Fulda an der These festgehalten werden, dass der Grund für den erscheinenden Charakter der »erscheinenden Wissenschaft« ihr isosthenes Auftreten ist, und andererseits mit Puntel der Erscheinungsbegriff mit der durch den Ausführungsgedanken implizierten Möglichkeit einer Entwick-

24

Vgl. GW 9, 61–62. Vgl. dazu ausführlich 7.2.1.1. Für die »Phänomenologie des Geistes« in der Vorrede gilt Ähnliches; vgl. dazu 7.2.1.2. 25 Obwohl Fulda diese Schlussfolgerung aus seiner Interpretation des »Grund[es] der Notwendigkeit der Einleitung« (Fulda 1975, 273–301; vgl. insbesondere 298 ff.) selbst nicht zieht, scheint sie mir durchaus aus seiner Interpretation zu folgen. 26 Vgl. zu diesem Punkt die Kritik in Bubner 1969, 149 f. 27 In eine ähnliche Richtung scheinen mir Graeser (vgl. Graeser 1988, 56) und Forster (vgl. Forster 1998, 157 f.) zu gehen. Vgl. auch Heideggers Bemerkungen zum Hegelschen Wissenschaftsbegriff (Vorlesungsnachschrift 1930/1, Heidegger 1988, 14 ff.).

Die »Wissenschaft«

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lung des Erscheinenden, d. h. der »erscheinenden Wissenschaft«, zusammengedacht werden. Zunächst zum ersten Aspekt. Wird »Wissenschaft« als eine unspezifische Bezeichnung für philosophische Begründung, oder schlicht: »Philosophie«, verstanden, ist Hegels Erklärung für das Erscheinen der »Wissenschaft« – die Tatsache, dass sie als Wissen neben anderem Wissen auftritt – so zu interpretieren, dass sie auf das isosthene Auftreten bzw. das isosthene Vorliegen von »philosophischer Begründung« generell abzielt. So verstanden ist »erscheinende Wissenschaft« (i) also eine Bezeichnung für philosophische Begründung im Zustand der Isosthenie; solche isosthen auftretende Philosophie soll hier »dogmatische Philosophie« heißen. Es liegt nahe, die nicht-erscheinende »wahre Wissenschaft« (ii) demgegenüber als solche philosophische Begründung aufzufassen, die nicht isosthen, sondern konkurrenzlos gegeben ist. Nun zum zweiten Aspekt. Wenn »Wissenschaft« eine generische Bezeichnung für philosophische Begründung ist, dann muss man nicht, anders als in Fuldas Deutung, das, was isosthen, und das, was nicht-isosthen vorliegt, miteinander identifizieren; es kann sich um unterschiedliche Fälle von »philosophischer Begründung« handeln. Dies erlaubt, die »Unausgeführtheit« der »erscheinenden Wissenschaft« und die »Ausgeführtheit« der »wahren Wissenschaft« sowohl auf von ihrem Gehalt her unterschiedliche Instanziierungen von »philosophischer Begründung« zu beziehen als auch einen Entwicklungszusammenhang zwischen diesen Instanziierungen anzunehmen. Die Opposition von »Erscheinung« und »Wesen« legt dabei nahe, das, was in seinem »Wesen« ausgeführt ist, als Entwicklungsresultat dessen zu verstehen, was unausgeführt als »Erscheinung(en)« vorliegt. So ist auch sichergestellt, dass das, was als Fall von »wahrer Wissenschaft« konkurrenzlos gegeben ist, nur eine einzelne Position sein kann. Bei dem, was als »erscheinende Wissenschaft« unausgeführt vorliegt, scheint mir dagegen die Möglichkeit gegeben sein zu müssen, dass es sich um eine Vielzahl von Positionen oder »Erscheinungen« handelt, die in einem isosthenen Verhältnis zueinander stehen. Wie gleich ausführlicher dargelegt wird, lässt der Begriff der »erscheinenden Wissenschaft« an sich zwar offen, ob die »erscheinende Wissenschaft« von einer einzelnen oder mehreren Positionen instanziiert wird, aber als problembeschreibender Begriff muss er auf jeden Fall der von Hegel in der Phänomenologie anvisierten Situation Rechnung tragen können, dass eine Vielzahl isosthener nicht-Hegelscher Positionen als »Erscheinungen« Hegels philosophischer Position als »Wesen«, seinem System als einzigem Fall von »wahrer Wissenschaft«, gegenübersteht. Es liegt im Rahmen dieser Deutung nahe, die phänomenologische Wissenschaft (iii) schließlich im Verhältnis zu (i) und (ii) als metaphilosophische

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

Wissenschaft zu bestimmen. Die Aufgabe der phänomenologischen Wissenschaft besteht laut Hegel darin, die »Wissenschaft […] von diesem Scheine [zu] befreyen« (GW 9, 55), indem sie sich »gegen ihn [den Schein] wendet. Der »Schein« betrifft in der hier vertretenen Deutung das isosthene Auftreten der Philosophie, ihr Auftreten als eben »erscheinende Wissenschaft«. Die phänomenologische Wissenschaft soll sich also gegen den isosthenen Zustand der Philosophie als solchen richten und dadurch bewirken, dass die Philosophie nicht mehr isosthen, sondern konkurrenzlos auftritt, d. h. nicht mehr »erscheinende«, sondern »wahre Wissenschaft« ist.28 Insofern die phänomenologische Wissenschaft das isosthene Auftreten der Philosophie thematisiert, verhält sie sich metaphilosophisch zu ihrem Gegenstand. Am Ende der Phänomenologie heißt es in diesem Sinne explizit, die Phänomenologie sei die »Wissenschaft des erscheinenden Wissens« (GW 9, 434). Da Hegel »erscheinendes Wissen« und »erscheinende Wissenschaft« m. E. synonym verwendet,29 ist sie diesem Ausdruck zufolge eine »Wissenschaft von der Wissenschaft«. Ihr Gegenstand ist zwar zunächst die »erscheinende Wissenschaft«, d. h. dogmatische Philosophie; insofern sie aber zeigt, wie die »erscheinende Wissenschaft« sich zur »wahren« entwickelt (bzw. wie die »wahre Wissenschaft« in der »erscheinenden« bereits als deren Resultat enthalten ist), wird von ihr letztere Wissenschaft mitthematisiert. Die Phänomenologie ist für Hegel also weder dogmatische noch wahre Philosophie, sondern soll als metaphilosophische Wissenschaft beide kritisch zu ihrem Gegenstand machen. Das Verhältnis der drei Wissenschaften (i–iii) kann nun folgendermaßen bestimmt werden. Durch die metaphilosophische Darstellung der Phänomenologie soll sich einerseits zeigen, welche philosophischen Positionen als »Erscheinungen von Philosophie« noch (isosthen auftretende) »Philosophie« in einem unentwickelten Zustand sind, und andererseits, welche singuläre philosophische Position dagegen als Entwicklungsresultat dieser »Erscheinungen von Philosophie« (konkurrenzlos auftretende) »Philosophie« in ihrer vollständig entwickelten Gestalt ist: d. h. »wahre Philosophie«, mit der »die Erscheinung dem Wesen gleich wird« (GW 9, 62). Dabei sei betont, dass die Termini »erscheinende« und »wahre« Wissenschaft« offenlassen, um welche Positionen es sich handelt. Am Anfang der phänomenologischen Darstellung steht ja noch nicht fest, welche Positionen »Erscheinungen von Wis-

28

Wie sie dies bewirken soll, ist Gegenstand des nächsten Kapitels. Vgl. etwa folgende Formulierung in der Vorrede: »Diß Werden der Wissenschaft überhaupt, oder [!] des Wissens, ist es, was diese Phänomenologie des Geistes […] darstellt« (GW 9, 24); vgl. auch GW 9, 55, 56. 29

Die »Wissenschaft«

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senschaft« sind und welche Position »wahre Wissenschaft« ist; erst nach der Durchführung der phänomenologischen Darstellung soll feststehen: bei der »erscheinenden Wissenschaft« handelt es sich um nicht-Hegelsche Positionen, beim »Wesen der Wissenschaft« um die Position der Hegelschen Philosophie. Diese Interpretation gilt es nun in Bezug auf drei Einzelaspekte näher zu präzisieren. (a) Als erstes sei kurz auf die insbesondere im Rahmen einer systeminternen Lesart der Phänomenologie naheliegende Interpretationsmöglichkeit eingegangen, dass es sich bei den von der Phänomenologie thematisierten »Erscheinungen« gar nicht um philosophische Theorien, sondern um theorieexterne Sachverhalte, etwa psychologische oder realhistorische Sachverhalte, handelt.30 Diese Lesart ist aus mehreren Gründen unplausibel. Dasjenige, dessen »Erscheinungen« in der Phänomenologie thematisiert werden, ist für Hegel offenkundig kein theorieexterner Gegenstand, sondern »Wissenschaft« bzw. »Wissen«. Insbesondere die im nächsten Kapitel ausführlich darzustellende Tatsache, dass bezüglich dieser »Wissenschaft« bzw. diesem »Wissen« verschiedene Gestalten unterschieden werden, die jeweils durch die Eigenschaft ausgezeichnet sind, Wahrheitsansprüche zu erheben, spricht sehr dafür, dass die Phänomenologie philosophische Positionen und nicht theorieexterne Gegenstände zu ihrem Gegenstand hat.31 Am Anfang der Vorrede ist sogar explizit die Rede davon, dass die Phänomenologie von »Philosophie« handelt. Durch die »Darstellung der Philosophie« soll diese »dem Ziele, ihren Nahmen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu seyn« näher gebracht werden und so zur »Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft« führen (GW 9, 11). Es ist klar, dass der Terminus »Philosophie« an dieser Stelle nicht Hegels eigene philosophische Position meint – diese ist eben nicht mehr »Philosophie«, sondern »Wissenschaft« –, sondern dass es die dort kurz vorher erwähnte »Verschiedenheit philosophischer Systeme« (GW 9, 10) ist, die als »Philosophie« noch nicht die »Form der Wissenschaft« (GW 9, 11) besitzt.32 Da der Begriff der 30

Vgl. dazu 6.2.2, 7.2.1.2 und 8.2. Damit sei nicht gesagt, dass nicht auch übersubjektive Sachverhalte wie politische Prozesse oder gesellschaftliche Strukturen als Bewusstseinsgestalt auftreten können, jedoch betont, dass in der Phänomenologie solche Strukturen immer bezüglich ihrer (impliziten) philosophischen Voraussetzungen, d. h. als philosophische Theorien, thematisiert werden. Vgl. 8.2 und 7.1.2. Vgl. zur Kritik einer »geschichtlichen« Deutung des Hegelschen Bewusstseins Aschenberg 1976, 226 und Graeser 1988, 77. 32 Vgl. insgesamt GW 9, 9–12. 31

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

»erscheinenden Wissenschaft« in der Einleitung sich offenkundig analog zu dem der »Philosophie« am Anfang der Vorrede verhält – in beiden Fällen soll sich eine defiziente Theorieform zur eigentlichen Wissenschaft erheben –, scheint es gerechtfertigt, auch ihn als unspezifische Bezeichnung für Philosophie zu interpretieren.33 (b) Als Nächstes kann gefragt werden, ob es sich bei der »erscheinenden Wissenschaft« wirklich um eine Bezeichnung handelt, die eine Vielzahl von Instanziierungen zulässt. Denn in der oben angeführten Textstelle, wo Hegel diesen Terminus einführt, ist nicht die Rede von einer Vielzahl von philosophischen Positionen, sondern von einem Widerstreit anscheinend singulärer Positionen: der »erscheinenden Wissenschaft« und des »unwahren Wissens«. Im weiteren Verlauf der Einleitung wird jedoch klar, dass von der Phänomenologie als »Darstellung des erscheinenden Wissens« (GW 9, 55) eine Vielzahl von Positionen, die »ganze Folge der Gestalten des Bewußtseyns« (GW 9, 61), thematisiert werden soll. Auch in der Selbstanzeige ist in diesem Sinne von mehreren »Erscheinungen« (GW 9, 446) als Gegenstand der Phänomenologie die Rede. Es scheint mir aus diesem Grund plausibel, Hegels Beschreibung an der angeführten Stelle als eine schematisierte zu interpretieren, in der die »erscheinende Wissenschaft« und das »unwahre Wissen« jeweils als Inbegriff von isosthen auftretender »Wissenschaft« und »unwahrem Wissen« gelten, deren Widerstreit den Widerstreit solcher Theorien typologisch exemplifiziert. Der Terminus des »unwahren Wissens« scheint mir dabei zurückzuverweisen auf die natürliche Prüfungsvorstellung, die, wie am Ende des vorigen Abschnitts gesehen, selbst als dogmatische Wissensposition anzusehen ist, insofern sie auf ungeprüften dualistischen Voraussetzungen beruht. So verstanden handelt es sich sowohl bei der »erscheinenden Wissenschaft« als auch beim »unwahren Wissen« um Bezeichnungen für dogmatische Philosophie.34 33

Vgl. auch die Verwendung des Erscheinungsbegriffs in dem Manuskript zur Einleitung in die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von 1820, wo Hegel sich mit diesem Begriff explizit auf das historische Auftreten der Philosophie als Vielfalt von Positionen bezieht: die »Reihe der philosophischen Systeme«, sofern diese als »Reihe von blossen Meynungen, Irrthümern, Gedankenspielen« (GW 18, 50–51) vorgestellt wird, sei die »empirische[…] Gestalt und Erscheinung, in der die Philosophie geschichtlich auftritt« (GW 18, 50) und stehe als Erscheinung der Philosophie ihrer »Idee« (ebd.) gegenüber. Vgl. auch in der Heidelberger und Berliner Enzyklopädie die Rede von den »verschieden erscheinenden Philosophien« (GW 13, 19; § 8; GW 20, 55; § 13). 34 Hierfür spricht auch die Tatsache, dass Hegel einerseits von der Phänomenologie als »Darstellung« (GW 9, 55) oder »Wissenschaft des erscheinenden Wissens (GW 9, 434) spricht, andererseits die Phänomenologie als die Darstellung aller Gestalten des auf dua-

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Wie am Ende dieses Kapitels näher ausgeführt wird, betrifft der Unterschied zwischen beiden dogmatischen Theorietypen lediglich eine Differenz im Selbstverständnis: die »erscheinende Wissenschaft« sind solche dogmatische Theorien, die sich ihrem Selbstverständnis nach nicht auf dualistische Voraussetzungen basieren, das »unwahre Wissen« dagegen solche, die sich selbst explizit als dualistische Position begreifen. So verstanden meint die Hegelsche Beschreibung den Widerstreit zwischen dem, was sich jeweils explizit als Position monistisch-dogmatischer Philosophie interpretiert, und demjenigen, was sich ihr gegenüber jeweils als dualistische Position versteht (aber in Wahrheit ebenfalls eine Position dogmatischer Philosophie ist). Die Darstellung des erscheinenden Wissens kann im Verhältnis hierzu als die vollständige Darstellung aller möglichen Fälle eines solchen hier schematisch beschriebenen Widerstreits verstanden werden. (c) Schließlich ist noch auf eine letzte Schwierigkeit einzugehen: Der Interpretation der »Wissenschaft« als generische Bezeichnung für philosophische Begründung scheint zu widersprechen, dass der Terminus »Wissenschaft« für Hegel auch zur Zeit der Phänomenologie normativ konnotiert ist; so verwendet er den Terminus auch als normativen Titel für die eigenen philosophischen Disziplinen. Der Terminus scheint dementsprechend nur auf »wahres Wissen« bezogen werden zu können. Fraglich scheint auch, ob diese normative Verwendungsweise noch mit einer systemexternen Lesart der Phänomenologie in Einklang zu bringen ist. Die normative Konnotiertheit des Wissenschaftsbegriffs macht es in der Tat schwierig, den Wissenschaftsterminus ausschließlich auf fremde Positionen zu beziehen, erlaubt aber sehr wohl, den Wissenschaftsbegriff als Bezeichnung für philosophische Begründung schlechthin oder Fälle solcher Begründung zu interpretieren. Denn so verstanden lässt diese Bezeichnung offen, ob es sich bei dem jeweiligen Begründungsversuch um eine fremde Position, die als solche eine unvollkommene Instanziierung von »Philosophie« darstellt, oder um die (wahre) Hegelsche Position handelt. Wie dies im Einzelnen zu denken sei, kann am besten anhand eines Vergleiches des Philosophiebegriffs der Phänomenologie mit demjenigen der frühen Jenaer Zeit verständlich gemacht werden. In der frühen Jenaer Zeit hat Hegel, wie im vierten Kapitel dargelegt, die »Philosophie« bzw. die »Idee der Philosophie« als normative Bezeichnung listischen Voraussetzungen basierenden »natürlichen Bewusstseins« begreift (vgl. GW 9, 22–23, 56–57). Beides ist für Hegel offenbar synonym; einmal spricht er sogar vom »erscheinenden Bewußtseyn[…]« (GW 9, 56).

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

für wahre Philosophie verstanden und ihr als solcher ihre konkreten Erscheinungsformen, die sie in unterschiedlichem Ausmaß realisieren, gegenübergestellt. Das Verhältnis der nun (überwiegend) »Wissenschaft« genannten Philosophie35 zu ihren »Erscheinungen« wird aber in der Phänomenologie in dreierlei Hinsicht anders bestimmt. Der erste Unterschied betrifft die Erscheinungsseite. Der Erscheinungsbegriff bezieht sich in der frühen Jenaer Zeit in erster Linie auf die interne Defizienz von Positionen, welche aufgrund ihrer reflexiven bzw. dualistischen Verfassung kein unverstelltes Bild vom Absoluten ermöglichen und insofern als »Erscheinung« der Philosophie bzw. der »Idee der Philosophie« gelten müssen. Die Differenz von »Erscheinung« und »Idee« während der frühen Jenaer Zeit kann insofern als metaphysische Unterscheidung aufgefasst werden: eine Theorie oder ein »System« ist für Hegel zu dieser Zeit deswegen eine »Erscheinung« von »Philosophie«, weil sie in ontologischer Hinsicht eine mangelhafte Realisierung des »Wesens der Philosophie« darstellt. In der Phänomenologie bezieht sich der Erscheinungscharakter der Philosophie, d. h. der »Wissenschaft«, dagegen nicht mehr primär auf die interne Adäquatheit von Theorien gegenüber ihrem Erscheinungsgrund, sondern auf die faktischen, sich zueinander isosthen verhaltenden Auffassungen dessen, was Wissenschaft bzw. Philosophie wesentlich ist. (Die Einsicht in die Defizienz von Theorien soll das Resultat der phänomenologischen Darstellung bilden, nicht mehr unbegründet vorausgesetzt werden.36)

35

Es dürfte klar geworden sein, dass der Begriff der »Wissenschaft« der zentrale Philosophiebegriff der Phänomenologie ist. Nachfolgend werde ich daher den Begriff der »Wissenschaft« als den Philosophiebegriff der Phänomenologie betrachten und ihn als solchen mit dem Begriff der »Philosophie« als dem Philosophiebegriff der frühen Jenaer Zeit kontrastieren. Den Terminus »Philosophie« verwendet Hegel in der Phänomenologie zwar auch noch, aber während er sich mit ihm früher normativ auf die eigene Position bezog (so noch im Jenaer Systementwurf II von 1804/5; vgl. Horstmann 1982, XXVIII, Fußnote 45), gebraucht er den Terminus in der Phänomenologie nur noch in einer untergeordneten Rolle als neutrale Bezeichnung für das faktisch-historische Auftreten von Philosophie, also: als Synonym für »erscheinende Wissenschaft«. (In der Einleitung wird der Terminus nur ein einziges Mal, nämlich im ersten Satz (vgl. GW 9, 53, Zeile 1), verwendet; dort offenkundig als neutrale Bezeichnung für das »Geschäft der Philosophie im Allgemeinen«, vgl. 5.2.1. Auch in der Vorrede meint der Terminus überwiegend das faktische Auftreten der Philosophie; so etwa, wenn die Rede ist von der »Philosophie neuerer Zeit« (GW 9, 17). Aufschlussreich ist auch, dass Hegel seit 1806 den Ausdruck »System der Wissenschaft« anstelle von »System der Philosophie« verwendet.) 36 Wie in der frühen Jenaer Zeit wird Hegel also auch an der zweiten Bedeutung von Erscheinung als interner Inkonsistenz einer Position festhalten; wie in 6.2.2 dargelegt wird, wird er diese im weiteren Verlauf der Einleitung näher als die Differenz ihres Wahrheitsmoments – d. h. desjenigen, was die jeweilige Theorie als wahr interpretiert – von

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Der zweite Unterschied betrifft vor allem die Wissenschaftsseite. Während Hegel das Verhältnis der Philosophie zu ihren Erscheinungsformen in der frühen Jenaer Zeit als statisches Verhältnis konzipierte, in dem die Philosophie als Erscheinungsgrund von ihren Erscheinungen strukturell unberührt bleibt, denkt Hegel dieses Verhältnis in der Phänomenologie als Entwicklungszusammenhang: die »wahre Wissenschaft« ist das Resultat eines Entwicklungsganges, dessen Stadien oder »Stationen« (GW 9, 55, 446) die »Erscheinungen der Wissenschaft« sind.37 Während Hegel in der frühen Jenaer Zeit die Erscheinungen von ihrem Wesen her bestimmte, bestimmt er nun also das Wesen von ihren Erscheinungen her: Das, was das »Wesen der Wissenschaft« ist, determiniert sich erst im Laufe eines Entwicklungsprozesses. Dies erlaubt ihm, sowohl die »Erscheinungen der Wissenschaft« als auch die »wahre Wissenschaft« als Leerstellen zu denken: Wenn nicht von vornherein feststeht, was die »Erscheinungen« der phänomenologischen Darstellung sind, und die »wahre Wissenschaft« das Resultat der Entwicklung dieser Erscheinungen ist, ist am Anfang der phänomenologischen Darstellung ebenfalls offen, was dieses Resultat beinhalten wird; auch für den Begriff der »wahren Wissenschaft« können also prinzipiell unterschiedliche Theorien stehen, wenn auch am Ende der phänomenologischen Darstellung nur ein einziger Inhalt sich als wahr bewähren wird. Pointiert gesagt: Der Wandel des frühen Jenaer Philosophiebegriffs zu einem Begriff, der nunmehr prozessual bestimmt ist, erlaubt es Hegel, den Begriff der Philosophie historischer zu denken. Der dritte Unterschied betrifft das Vorhandensein einer eigenständigen metaphilosophischen Wissenschaft. Zwar kennt Hegel in der frühen Jenaer Zeit bereits die Aufgabe – er bezeichnet sie im Einleitungsaufsatz als die der »Kritik« (GW 4, 119)38 –, zu beurteilen, ob und in welchem Ausmaß die vorhandenen philosophischen Systeme die »Idee der Philosophie« realisieren. Diese Aufgabe soll aber noch nicht – zumindest ist hiervon nicht explizit die Rede – durch eine eigenständige Wissenschaft wahrgenommen werden.39 Da Hegel in der frühen Jenaer Zeit das, was Philosophie im Wesen ist – die »Idee der Philosophie« –, voraussetzt und die Erscheinungen ihm von vornherein als defiziente Formen dieser »Idee« gelten, ist Hegel bei der Durchihrem Wissensmoment – d. h. den begrifflich-reflexiven Mitteln, mit denen die jeweilige Theorie ihre Wahrheitsinterpretation realisiert – bestimmen. 37 Dieser Unterschied kommt auch in der unterschiedlichen Rolle des Bildungskonzepts in der frühen Jenaer Zeit und in der Phänomenologie zum Ausdruck; vgl. dazu 6.1, Anm. 13. 38 Vgl. GW 4, 117 ff.; vgl. dazu 4.2, Anm. 21. 39 Vgl. 1.2, 4.1 und 4.2.

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

führung dieser Aufgabe noch nicht auf eine selbständige Wissenschaft angewiesen; ihm scheinen zu dieser Zeit vielmehr die eigenen metaphysischen Einsichten in das, was Philosophie im Wesen ist, bei der Beurteilung fremder Ansichten noch unproblematisch in Anspruch genommen werden zu können. Will man das, was Philosophie ist, jedoch von ihren Erscheinungen her bestimmen, wird eine selbständige Wissenschaft erforderlich, die keine solchen Einsichten voraussetzen darf; denn das, was Philosophie ist, muss nun erst durch eine kritische Analyse der Erscheinungsformen von Philosophie gezeigt werden. Hegel muss also seine kritische Disziplin von 1806/7, die phänomenologische Darstellung, als eigenständige Wissenschaft konzipieren. Nimmt man die drei Unterschiede zusammen, ergibt sich in terminologischer Hinsicht folgendes Bild: War der Philosophiebegriff der frühen Jenaer Zeit (»Philosophie«) ein normativer Begriff für wahre Philosophie, handelt es sich beim Philosophiebegriff der Phänomenologie (»Wissenschaft«) um einen generischen Terminus für philosophische Begründung überhaupt, der als »wahre«, »erscheinende« oder »phänomenologische Wissenschaft« in einer normativ-philosophischen, einer faktischen oder einer normativmetaphilosophischen Bedeutung verwendet werden kann. Der Begriff der »wahren Wissenschaft« – die Wissenschaft, die »in ihrer Wahrheit ausgeführt und ausgebreitet« (GW 9, 55) ist – ist eine normative Bezeichnung – normativ, insofern Hegel selbst mit ihr einen philosophischen (und d. h. für ihn: systeminternen) Begründungsanspruch verbindet – für wahre philosophische Begründung. Der Begriff der »erscheinenden Wissenschaft« meint die faktischen Auffassungen von »Wissenschaft«, d. h. die faktische Vielfalt philosophischer Begründungskonzeptionen: die Vielfalt von faktischen Auffassungen darüber, was eine wahre philosophische Begründung beinhaltet. Der Begriff der »phänomenologischen Wissenschaft« schließlich ist eine normative Bezeichnung – normativ, insofern Hegel mit ihr einen metaphilosophischen (und d. h. für ihn: systemexternen) Rechtfertigungsanspruch verbindet – für eine metaphilosophische »Wissenschaft der Wissenschaft«, welche philosophische Begründungskonzeptionen kritisch zu ihrem Gegenstand macht.40 40

Ist »Wissenschaft« eine Bezeichnung für »Philosophie« bzw. philosophische Begründung, ist die phänomenologische Wissenschaft also eine Form von »Philosophie der Philosophie«. Der Ausdruck »Philosophie der Philosophie« ist zwar terminologisch unbefriedigend, insofern er nicht erlaubt, strukturell zwischen einer metaphilosophischen Subjekt- und einer philosophischen Objektdisziplin zu differenzieren. Aber nichtsdestoweniger scheint mir gerade Hegels (implizite) Charakterisierung der phänomenologischen Wissenschaft als »Philosophie der Philosophie« ein starkes Argument für die Deu-

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Es dürfte auch klar geworden sein, dass im Rahmen dieser Interpretation unproblematisch an einer systemexternen Lesart der Phänomenologie festgehalten werden kann: Durch die Auffassung der »erscheinenden« und der »wahren Wissenschaft« als Variablen, für die unterschiedliche Inhalte eingesetzt werden können, müssen der Bestimmung dieser Inhalte anders als in der frühen Jenaer Zeit keine philosophischen Annahmen über das Wesen philosophischer Theorien mehr zugrundegelegt werden, sondern es kann vom Selbstverständnis der dargestellten philosophischen Theorien, d. h. von dem, was innerhalb dieser Theorien jeweils unter Wahrheit verstanden wird, ausgegangen werden.

5.3.2 Hegels Kritik an der »Wissenschaft« Nach der Analyse dessen, was für Hegel »Wissenschaft« heißt, soll nun Hegels Kritik an der »Wissenschaft, an ihrem Auftreten als »erscheinende Wissenschaft«, mehr im Detail betrachtet werden. Als Hauptgrund für den erscheinenden Charakter der Wissenschaft kann, wie eben dargelegt, ihr Auftreten als isosthene Begründungsform angesehen werden. Es ist dieser Grund, der für Hegel eine phänomenologische Wissenschaft erforderlich macht, die die Wissenschaft von ihrem erscheinenden Charakter befreien soll. Die Notwendigkeit einer solchen phänomenologischen Destruktion des erscheinenden Charakters der Wissenschaft wird in der Einleitung indirekt begründet, indem zwei implizite Strategien der Wissenschaft, mit dem Problem der Isosthenie mit philosophischen Mitteln umzugehen, kritisiert werden. Die erste Strategie besteht darin, sich gegenüber konkurrierenden Theorien auf dasjenige zu berufen, was innerhalb der eigenen Position als wahr gilt: anderes Wissen »als eine gemeine Ansicht der Dinge nur [zu] verwerfen, und [zu] versichern, daß sie eine ganz andere Erkenntniß, und jenes Wissen für sie [die Wissenschaft] gar nichts ist« (GW 9, 55).41 Da mit der Berufung auf den eigenen Wahrheitsanspruch eine Widerlegung anderer Positionen – tung der Phänomenologie als metaphilosophische Theorie zu sein. So reden auch Kant von der »Metaphysik von der Metaphysik« (AA 10, 269) und Schlegel von der »Philosophie der Philosophie« (vgl. z. B. KFSA 12, 91–105) und meinen, der Identität der Termini zum Trotz, mit der metatheoretischen Disziplin ebenfalls eine Disziplin, die von der Objektdisziplin strukturell verschieden ist. 41 Es ist hier zwar nicht explizit vom Erheben eines Wahrheitsanspruchs die Rede, da aber die Philosophie als »Erkennen dessen, was in Wahrheit ist« (GW 9, 53, Zeile 2) eingeführt wurde und im weiteren Verlauf der Einleitung Wissenspositionen durch die Eigenschaft charakterisiert werden, jeweils über eine eigene Wahrheitsinterpretation zu verfügen (vgl. GW 9, 58, Zeile 25–31), ist es wohl berechtigt, anzunehmen, dass die Berufung

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

denen als anderen Positionen eine alternative Wahrheitsauffassung unterstellt werden kann – angestrebt wird, scheint es berechtigt, anzunehmen, dass dem jeweiligen Wahrheitsanspruch laut Hegel ein allgemeingeltender Charakter zukommen soll, der als solcher unverträglich ist mit alternativen philosophischen Wahrheitsauffassungen.42 Diese erste Strategie scheitert an dem Problem der Isosthenie; an der Tatsache, dass auch das andere Wissen sich auf die eigene Position – auf sein »Seyn« – beruft, d. h. auf das, was ihm seinerseits als letztlich wahr und seiend gilt: »Durch jene Versicherung [der Unwahrheit des anderen Wissens] erklärte sie [die Wissenschaft] ihr Seyn für ihre Krafft [!]; aber das unwahre Wissen berufft sich eben so darauf, daß es ist, und versichert, daß ihm die Wissenschaft nichts ist« (GW 9, 55). Beide Wahrheitsansprüche können insofern als in ihrem Begründungsanspruch strukturell gleichwertig oder gleichkräftig angesehen werden und vermögen sich als solche gegenseitig nicht zu widerlegen: »ein trockenes Versichern gilt […] gerade so viel als ein anderes« (ebd.).43 Damit findet sich die These ein weiteres Mal bestätigt, dass der Widerstreit der Wissenschaft und des unwahren Wissens für Hegel an erster Stelle den Umstand betrifft, dass beide in ihrem Begründungsverhalten gleichermaßen als dogmatische Wissensformen angesehen werden können, welche sich auf eine bestimmte ungeprüft vorausgesetzte Wahrheitsauffassung berufen, und deren Widerstreit daher unentschieden bleiben muss. Hegels Isosthenieverständnis an dieser Stelle sollte m. E. als ein faktischstrukturelles verstanden werden: im Hegelschen Text ist ja nicht nur davon die Rede, dass der Wahrheitsanspruch des anderen, unwahren Wissens, sondern auch derjenige der Wissenschaft selbst durch den Wahrheitsanspruch des gegenteiligen Wissens in Frage gestellt wird. Die Möglichkeit des gegenteiligen Versicherns ist insofern prinzipiell bei jeder philosophischen Position gegeben; jede kann sich gegenüber anderen Positionen bloß auf den eigenen Wahrheitsanspruch – darauf, »daß es ist« – berufen. Hegel versteht die Tatsache, dass die Philosophie faktisch als isosthene Vielfalt von Theorien gegeben ist, also als ein strukturelles Merkmal philosophischer Theoriebildung, auf die eigene Position – »darauf, daß es ist« (GW 9, 55, Zeile 23) – im Rahmen der Einleitung die Berufung auf die Wahrheit der eigenen Position impliziert. 42 Zur näheren Begründung dieser Annahme vgl. 9.2.1. 43 Vgl. dazu folgenden Passus aus Hegels Manuskript von 1820 zur Einleitung in die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in dem explizit von einem Widerstreit von Wahrheitsansprüchen die Rede ist: »es [ist] allerdings genug gegründete Thatsache, daß es verschiedene Philosophieen gibt und gegeben hat. Die Wahrheit aber ist Eine […]. Also kann auch nur Eine Philosophie die wahre seyn […]. Aber jene Eine zu seyn, versichert, begründet, beweist eine von sich« (GW 18, 43).

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das die Möglichkeit philosophischer Begründung grundsätzlich in Frage stellt. Damit darf ab hier festgehalten werden: Der Phänomenologie liegt ein faktisch-strukturelles Isosthenieverständnis zugrunde.44 Mit diesem Isosthenieverständnis ist der systematische Hauptgrund für die metaphilosophische Interpretation der systemexternen Rechtfertigungsaufgabe der Phänomenologie gegeben: Wenn philosophische Argumentationsmittel prinzipiell und systemisch mit Isosthenie infiziert sind, dann kann eine systemexterne Rechtfertigungsdisziplin die Philosophie nur dann und insoweit von ihrem isosthenen Charakter befreien – bewirken, dass sie nicht mehr isosthen gegeben ist –, wenn und als sie selbst nicht durch isosthene Annahmen in Frage gestellt werden kann. Das heißt, dass diese Rechtfertigungsdisziplin als metaphilosophische Theorie konzipiert werden muss. Denn als philosophische Disziplin oder als eine solche, welche in irgendeiner Hinsicht philosophische Annahmen aus dem System – Hegels philosophischer Theorie – voraussetzt, würde sie nicht mehr gegen das Problem der Isosthenie ausrichten können als das System selbst und wäre folglich in der Rolle einer selbständigen Begründungsdisziplin funktional überflüssig; auch sie könnte ja als philosophische Disziplin durch gegenteiliges Versichern in Frage gestellt werden. Die zweite Strategie der erscheinenden Wissenschaft, mit fremden Positionen umzugehen, besteht darin, das andere, konkurrierende Wissen als Erscheinung der Wissenschaft aufzufassen – »jenes andere unwahre Wissen ihr Erscheinen zu nennen« (GW 9, 55) – und sich dabei auf die latente Präsenz oder unvollkommene Realisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis in diesem anderen Wissen zu berufen, sich »auf die Ahndung eines bessern [Wissens] in ihm [dem anderen Wissen] selbst [zu] beruffen« (GW 9, 55).45

44

Wenn nicht anders erwähnt, ist im weiteren Verlauf dieser Arbeit daher immer »faktisch-strukturelle Isosthenie philosophischer Theorien« gemeint, wenn unspezifiziert von »Isosthenie« bzw. dem isosthenen »Auftreten«, »Vorliegen« oder »Gegebensein« von philosophischen Theorien die Rede ist. 45 Vgl. GW 9, 55, Zeile 24–26; vgl. auch GW 9, 36. Die Herausgeber von GW 9 beziehen die Kritik am ahnenden Wissen auf Jacobi, Görres und Eschenmayer (GW 9, 489–9; vgl. auch Graeser 1988, 72), Forster dagegen auf Hegels Konzeption von »Kritik« in der frühen Jenaer Zeit; vgl. Forster 1998, 157 f. Der Begriff der Ahndung spielt auch eine große Rolle in der 1805 – also kurz vor der Phänomenologie – erschienenen Schrift Wissen, Glaube und Ahndung von Hegels damaligem Jenaer Kollegen und Konkurrenten Jakob Friedrich Fries. Alle genannten Vorschläge scheinen plausibel. Wiederum scheint Hegel aber nicht ohne Grund auf sehr unspezifische Weise zu formulieren: Wie im Falle der natürlichen Prüfungsvorstellung scheint nicht so sehr eine einzelne Position gemeint zu sein, sondern eher eine generelle Begründungsstrategie, für die sich unterschiedlichste Beispiele finden mögen; vgl. Graeser 1988, 43.

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

Auch diese Strategie kann zurückgewiesen werden, da sie, indem sie sich auf die unvollkommene Weise beruft, wie sie als wissenschaftliche Theorie in dem konkurrierenden Wissen präsent ist, wiederum die Wahrheitsauffassung der eigenen Position voraussetzt – sie »berieffe […] sich ebenso wieder auf ein Seyn« (GW 9, 55) –, die von der alternativen Theorie, als ihrer eigenen Wahrheitsauffassung gleichwertig, nicht akzeptiert werden muss.46 Auch hier wird also Isosthenie als strukturelles Merkmal philosophischer Theoriebildung verstanden. Hegels Thematisierung dieser zweiten Strategie ist interessant, da diese einer Form des Umgangs mit dem Problem der Vielfalt philosophischer Theorien zugeordnet werden kann, welche im dritten Kapitel anhand von Aristoteles’ Umgang mit seinen Vorgängern in Metaphysik Alpha dargestellt wurde, und zudem einen Umgang mit philosophischen Theorien betrifft, der Hegel selbst oft zum Vorwurf gemacht wird. Die für diese Strategie charakteristische Methode der Widerlegung besteht nicht in der offenen Opposition, sondern in dem Versuch des Aufweises, dass fremde Theorien die Ansichten der eigenen Theorie bloß auf eine defiziente Weise vertreten haben und insofern in Wahrheit gar keine anderen Theorien, sondern bloß unvollkommene Vorstufen der eigenen Theorie darstellen. Hegels Kritik an dieser zweiten Strategie macht darauf aufmerksam, dass er sich den Problemen eines aristotelisch-teleologischen Umgangs mit fremden Theorien durchaus bewusst gewesen ist und die phänomenologische Wissenschaft von einem solchen Verfahren ausdrücklich unterschieden wissen wollte. In der Vorrede spielt nur die erste Strategie des Umgangs mit anderen Positionen eine Rolle. Auch hier wird das prinzipiell-isosthene Verhältnis von entgegengesetzten philosophischen Standpunkten, denen der jeweils andere Standpunkt als das »Verkehrte der Wahrheit« erscheint, als das Ausgangsproblem der Phänomenologie präsentiert: »Wenn der Standpunkt des [natürlichen] Bewußtseyns […] der Wissenschafft als das Andre gilt, […] so ist ihm [dem natürlichen Bewusstsein] dagegen das Element der Wissenschaft eine jenseitige Ferne, worin es nicht mehr sich selbst besitzt. Jeder von diesen beyden Theilen scheint für den andern das Verkehrte der Wahrheit zu seyn« (GW 9, 23).47

46

Vgl.: »[sie] berieffe […] sich ebenso wieder auf ein Seyn; anderntheils aber auf sich, als auf die Weise, wie sie im nicht wahrhafften Erkennen ist, das heißt, auf eine schlechte Weise ihres Seyns, und auf ihre Erscheinung vielmehr, als darauf, wie sie an und für sich ist« (GW 9, 55, Zeile 27–30). 47 Eine eindrucksvolle Formulierung des Isostheniemotivs findet sich auch am Anfang der Vorrede; vgl. GW 9, 10.

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In der Darstellung des isosthenen Verhältnisses der Wissenschaft zum anderen, unwahren Wissen wird in der Vorrede ein Aspekt dieses Verhältnisses explizit thematisiert, von welchem in der Einleitung nur beiläufig die Rede ist: der dualistische Charakter des mit der Wissenschaft konkurrierenden Wissens, dessen Standpunkt Hegel durch das »Bewußtseyn, von gegenständlichen Dingen im Gegensatze gegen sich selbst, und von sich selbst im Gegensatze gegen sie zu wißen« (GW 9, 23) charakterisiert. Da die Wissenschaft als ein gegenüber diesem unwahren Wissen »Verkehrtes« (ebd.) sich darstellt, liegt es nahe, die Wissenschaft als das Gegenteil einer dualistischen, also als eine monistische Position, zu interpretieren. Es stellt sich hiermit die Frage, wie Hegel die isosthene Ausgangslage der Phänomenologie eigentlich versteht: so, dass immer monistische und dualistische Positionen einander widerstreiten, oder so, dass ein unspezifischer Widerstreit philosophischer Theorien generell besteht. Daraus ergibt sich die weitere Frage, ob durch die phänomenologische Wissenschaft lediglich der Monismus im Allgemeinen gerechtfertigt werden soll, dessen nähere Ausarbeitung als Hegelsche Position erst durch die Systemdisziplinen zu leisten ist, oder die Hegelsche Systemposition selbst. Mit der ersteren Lesart wäre allerdings ein Problem verbunden, da sich in diesem Fall die Frage auftut, ob nicht, wie im Falle der logischen Einleitungskonzeption von 1804/5,48 eine Disjunktion von monistischen und – exemplarisch durch Kant repräsentierten, auch mit Kantischen Mitteln beschriebenen – dualistischen Positionen angenommen werde, die einerseits voraussetzt, dass nur die Hegelsche Position den einzig wahren Fall einer monistischen Theorie darstellt, und die andererseits ein spezifisch Kantisches Bild von Dualismus zugrundelegt, in dem sich viele dualistischen Positionen – insbesondere solche, welche nicht von einer ähnlich strikten Trennung von Erscheinung und Ding-an-sich ausgehen – nicht wiedererkennen würden. Abgesehen von den methodischen Problemen, welche mit einer so voraussetzungsvoll interpretierten phänomenologischen Konzeption verbunden wären, scheint eine solche Deutung schon deshalb unplausibel, weil auf diese Weise nicht eigentlich die Position der Hegelschen Wissenschaft, sondern lediglich der Standpunkt des Monismus generell gerechtfertigt wäre. In diesem Fall könnte nur noch an der Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie festgehalten werden, indem entweder als unstrittig vorausgesetzt wird, dass es sich nur bei der Hegelschen Position um eine wahrhaft monistische Position handele und andere Positionen – wie beispielsweise neuplatonische, spinozistische oder auch materialistische –, die sich selbst als monistische 48

Siehe dazu 1.2.

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Metaphilosophisches Problemverständnis in der Phänomenologie

Positionen interpretieren, in Wahrheit dualistische Positionen darstellten, oder indem angenommen wird, dass der isosthene Widerstreit des Hegelschen Monismus mit alternativen monistischen Theorien erst innerhalb des Systems entschieden wird. Beide Optionen wären problematisch. Im ersten Fall würde nicht vom Selbstverständnis der konkurrierenden Theorien ausgegangen und wäre folglich nicht einzusehen, warum diese Theorien die phänomenologische Kritik nicht einfach als Position, die sich als dogmatische Theorie ebenfalls bloß auf »ihr Seyn« beriefe, ignorieren könnten. Im zweiten Falle würden dagegen die gleichen Isosthenieprobleme sich innerhalb des Systemkontextes neu stellen, und es wäre hier noch weniger klar, auf welche Weise die Wissenschaft systemexterne kritische Ressourcen gegen diese alternativen Formen von Monismus mobilisieren könnte. Allerdings ist einzugestehen, dass die Hegelsche Beschreibung – besonders in der Vorrede – so spezifisch ist, dass die Disjunktion von Dualismus und Monismus nicht einfach übergangen werden kann. Aus diesem Grund scheint es mir am plausibelsten, die Hegelsche Beschreibung in Vorrede und Einleitung so zu interpretieren, dass andere Positionen einerseits aus Hegelscher Perspektive als dualistisch strukturiert angesehen werden können – dies wird auch das Ergebnis der phänomenologischen Darstellung sein –, ohne dass diese Positionen andererseits von vornherein als Positionen gelten dürfen, die sich selbst dualistisch interpretieren, d. h. die ihrem Selbstverständnis nach dualistische Positionen sind. So verstanden ist die Phänomenologie nicht die kritische Darstellung von Positionen, die sich selbst als dualistische Positionen begreifen, mit dem Ziel, durch ihre Destruktion solche Positionen zu rechtfertigen, welche sich als monistische Positionen begreifen, sondern eine kritische Darstellung aller nicht-Hegelschen Theorien – sowohl solcher, die sich als monistische, als auch solcher, die sich als dualistische Theorien interpretieren –, mit dem Ziel, diesen Positionen durch den Aufweis ihrer dualistischen Verfasstheit – die Differenz ihres Wahrheits- und Wissensmoments – ihre Inkonsistenz vor Augen zu führen und so die eigene Hegelsche Position als einzig konsistente Form von Monismus zu rechtfertigen. Die genauere Beschaffenheit dieser kritisch-phänomenologischen Darstellung wird den Gegenstand der nächsten Kapitel bilden.

6. Hegels phänomenologische Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

In den nächsten beiden Kapiteln wird auf textinterpretatorischer Basis gezeigt, dass auf Hegels Phänomenologie die im dritten Kapitel genannten Indizien für das historische Vorliegen1 metaphilosophischer Theoriebildung zutreffen: sie kann (i) als metaphilosophische Theorie, die dem Problem der Isosthenie strukturell Rechnung trägt (Kapitel 6), (ii) als Form von Philosophiegeschichte (7.1) und (iii) als vollständig ausdifferenzierte metaphilosophische Theoriedisziplin (7.2) verstanden werden. Im letzten, neunten Kapitel wird dann auf eine mehr systematische Weise dargelegt, dass Hegels Phänomenologie die im zweiten Kapitel erörterten systematischen Kriterien metaphilosophischer Theoriebildung erfüllt. Zunächst wird nun aber Hegels phänomenologische Darstellungskonzeption als metaphilosophische Konzeption rekonstruiert (6.1), um anschließend auszuführen, wie die bewusstseinstheoretische Explikation dieser Konzeption im Einzelnen als metaphilosophische Theorie verständlich gemacht werden kann (6.2).

6.1 Die phänomenologische Darstellungskonzeption Wie im letzten Kapitel gezeigt, kann der isosthene Charakter der Philosophie als dasjenige Problem angesehen werden, das für Hegel eine metaphilosophische Theorie erforderlich macht: wenn philosophisches Wissen faktisch und strukturell isosthen ist, kann nur eine metaphilosophische Theorie die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter befreien. In diesem Kapitel wird deutlich werden, dass Hegels »Darstellung des erscheinenden Wissens« (GW 9, 55) als Antwort auf diese Problemlage, d. h. als Hegels Konzeption einer metaphilosophischen Theorie aufgefasst werden kann. In seiner »Darstellung«2 soll das isosthen auftretende philosophische Wissen sich zum einen als ein positiver Entwicklungsprozess präsentieren, durch 1

Von »Vorliegen« kann nun die Rede sein, weil das von den Indizien Thematisierte in der Phänomenologie vollständig realisiert ist und insofern der Entstehungsprozess metaphilosophischer Theoriebildung mit ihr als abgeschlossen gelten kann. 2 Hegels Explikation dessen, was er als »Darstellung« bezeichnet, weicht offenkundig von dem ab, was gemeinhin unter »Darstellung« verstanden wird bzw. zur damaligen Zeit verstanden wurde. Wie den Einleitungs-, Bewusstseins- und Erfahrungsbegriff (vgl. 1.5.1, Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

den es sich als eigentliche Wissenschaft realisiert. Hegel charakterisiert die »Darstellung« in dieser Hinsicht als den »Weg des natürlichen Bewußtseyns, das zum wahren Wissen dringt« (GW 9, 55): »Die Reihe seiner Gestaltungen, welche das Bewußtseyn auf diesem Wege [seiner Entwicklung] durchläufft, ist […] die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseyns selbst zur [eigentlichen] Wissenschafft« (GW 9, 56). Die »Darstellung« soll aber nicht nur diese positiv-genetische Realisierungsfunktion, sondern – zum andern – auch eine negativ-kritische Rechtfertigungsfunktion für die eigentliche Wissenschaft erfüllen. Der Entwicklungsweg des philosophischen Wissens wird von Hegel dementsprechend zugleich als die Destruktion der sich auf diesem Wege darstellenden philosophischen Positionen konzipiert: »es [das erscheinende Wissen bzw. das natürliche Bewusstsein] verliert auf diesem Wege seine Wahrheit« (GW 9, 56). Als kritische Rechtfertigung soll dieser Entwicklungsweg nicht nur einen destruktiven Charakter haben, sondern auch mit der Einsicht in diese Destruktion verbunden sein: »er [der Wissensweg] ist die bewußte Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens« (GW 9, 56). Was »Darstellung« dabei genauer heißen soll, bleibt im Hegelschen Text zunächst unklar. Klar scheint aufgrund der am Anfang der Einleitung vorgebrachten Kritik an alternativen Begründungskonzeptionen nur, dass mit ihr weder ein kritischer Eingriff, welcher an das philosophische Wissen extern herangetragen wird, noch die bloße Reproduktion des erscheinenden Wissens als isosthenen Wissens gemeint sein kann. Wohl aus diesem Grund konzipiert Hegel die Darstellung des erscheinenden Wissens nicht als eine kritische Disziplin, die den Weg des erscheinenden Wissens metatheoretisch zum Gegenstand hat, sondern identifiziert die Darstellung mit diesem Weg.3 Dies scheint in Anbetracht der im fünften Kapitel angestellten kritischen Überlegungen auch folgerichtig, da eine Form von Kritik, die sich als isolierte Metaebene zum Kritisierten verhält, genau der Kritik anheim fiele, die Hegel an erkenntniskritischen Begründungsverfahren geübt hatte: sie würde selbst

6.2.2.2, Ende, und 6.2.4.2) scheint Hegel auch diesen Begriff revisionär zu verwenden. Ich werde daher im Folgenden seine Bedeutung ausschließlich von Hegels Text her erschließen und mich nicht von traditionellen Konnotationen leiten lassen. 3 Diese Gleichsetzung wird man nicht als Textungenauigkeit wegerklären können, da im Hegelschen Text der Weg des erscheinenden Wissens und die Entwicklungsreihe seiner Positionen immer wieder mit der Darstellung gleichgesetzt wird; vgl. z. B. GW 9, 55, Zeile 32–36, GW 9, 56, Zeile 18–21 und GW 9, 57, Zeile 2–3. Ähnlich urteilt Ulrich Claesges; vgl. Claesges 1981, 56 ff. Als Gegenstand der Darstellung fungiert dagegen das erscheinende Wissen bzw. das Bewusstsein (vgl. GW 9, 55, Zeile 32).

Die phänomenologische Darstellungskonzeption

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Annahmen machen müssen, die nicht in Bezug auf das Kritisierte legitimatorisch ausgewiesen werden können.4 Die Gleichsetzung der Darstellung mit dem Entwicklungsweg des erscheinenden Wissens macht auch verständlich, warum Hegel am Ende der Einleitung den Weg des Wissens selbst, und nicht bloß seine Darstellung als Wissenschaft bezeichnen kann: »dieser Weg zur Wissenschaft [ist] selbst schon Wissenschaft« (GW 9, 61). Der Doppelcharakter der Darstellung als Weg und (wissenschaftliche) Erzählung dieses Weges kommt auch in der Explikation der Darstellung als »ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseyns selbst zur Wissenschafft« (GW 9, 56) zum Ausdruck, mit der ebenfalls sowohl die materiale Bildungsgeschichte des Wissens als auch die Erzählung dieser Geschichte gemeint zu sein scheinen. Wie bei der Entwicklung des Absoluten im System scheint es sich insofern auch bei der Entwicklung des erscheinenden Wissens um eine Selbstdarstellung oder Selbstexplikation dieses Wissens zu handeln, in dessen materialer Entwicklung zugleich das Wissen um diese Entwicklung impliziert ist.5 4

Hierin kann auch der Grund dafür gesehen werden, dass Hegel diese immanente Form von Kritik als »sich [!] vollbringende[n] Skepticismus« (GW 9, 56) charakterisiert und als solche einer – wohl auf die natürliche Prüfungsvorstellung zurückverweisenden – skeptizistisch motivierten Form von Kritik gegenüberstellt, deren Legitimität auf erkenntniskritischen Annahmen beruht, die nicht dem geprüften Wissen, sondern dem unkritisch in Anspruch genommenen »Vorsatze, […] alles selbst zu prüffen und nur der eigenen Ueberzeugung zu folgen« (GW 9, 56), entlehnt werden; vgl. GW 9, 56, Zeile 21–35. 5 Wird die Darstellung als etwas verstanden, das sich nicht extern zum dargestellten Wissen verhält, insofern sie nichts anderes als die Selbstexplikation dieses Wissens ist, liegt es nahe, den Begriff der »Geschichte der Bildung des Bewusstseins« sowohl auf die Erzählung des dargestellten Bildungsprozesses als auch auf den Bildungsprozess selbst zu beziehen; so verstanden meint der Begriff der Geschichte in diesem Ausdruck sowohl die historia rerum gestarum (die Darstellung des Wissensweges) als auch die res gestae (den Wissensweg des erscheinenden Wissens) selbst. Berechtigt scheint mir diese Deutung auch, weil Hegel selbst in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte den inneren Zusammenhang von »Geschichte« als historia rerum gestarum und res gestae hervorhebt; vgl. Werke 9, 59 f.; TWA 12, 83. Anders dagegen Claesges: »Auch die Bildung selbst ist ein Weg, aber nicht der Weg, der ›Geschichte der Bildung‹ genannt werden kann; die res gestae sind unabhängig von der historia rerum gestarum vorhanden« (Claesges 1981, 58). Dadurch wird m. E. der Grund für die Gleichsetzung von »Darstellung« und »Wissensweg des erscheinenden Wissens« (die auch Claesges betont; vgl. Claesges 1981, 56 ff.) wieder unterlaufen: die »Darstellung« muss nun wieder als etwas begriffen werden, das sich extern zum Dargestellten verhält. Das Zusammenfallen von historia rerum gestarum und res gestae scheint mir im Übrigen genau dasjenige zu sein, was Hegels Konzeption von Bewusstseinsgeschichte im Gegensatz zu denjenigen Fichtes und Schellings zu einer spezifisch genealogischen bzw. geschichtlichen macht: »Geschichte« meint bei ihnen ja noch »ein architektonisch gedachtes, statisches Ordnungsgefüge, das nur vom Berichterstatter in Form einer Abfolge präsentiert wird« (Jaeschke 2009, 18) und sich entsprechend nicht auf die Ebene der res gestae bezieht. Vgl. dazu Pöggeler 1966, 65 ff., Pöggeler 1993, 353 f. Die phänomenologische Darstellungskonzeption

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

Die phänomenologische Kritik wird also nicht als externe Metaebene verstanden werden können. Ebensowenig aber wird man die Möglichkeit dieser Kritik unmittelbar aus der isosthenen Dimension des erscheinenden Wissens heraus verständlich machen können. Würde man die phänomenologische Kritik ausschließlich von dieser Dimension her konzeptuell erschließen wollen, ergäbe sich nur eine Reproduktion der isosthenen Ausgangslage des erscheinenden Wissens. In der Darstellung des erscheinenden Wissens müssen vielmehr sowohl die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens als auch eine kritische Analyseebene repräsentiert sein; die Analyseebene wird sich einerseits nicht extern zur Dimension des erscheinenden Wissens verhalten dürfen, wird ihr aber andererseits als Analyseebene epistemisch überlegen sein müssen. Aus diesem Grund konzipiert Hegel m. E. die »Darstellung des erscheinenden Wissens« als eine besondere Form der Selbstexplikation dieses Wissens: als eine, in der das sich explizierende Wissen, anders als im Falle des Systems, nicht über ein eigenes Wissen um diese Explikation verfügt. Die »Darstellung« denkt er entsprechend als Explikationsvorgang, in dem der wissenschaftlichen Analyseebene und der isosthenen Dimension des erscheinenden Wissens zwei verschiedene, epistemisch ungleiche Interpretationsperspektiven entsprechen. Die erste Perspektive, die der wissenschaftlichen Analyseebene korrespondiert und von Hegel mit dem Ausdruck »für uns« markiert (GW 9, 61) wird, soll hier die »wissenschaftliche Interpretationsperspektive« genannt werden; die zweite Perspektive, die als Selbstinterpretationsperspektive des erscheinenden Wissens fungiert und von Hegel mit dem Ausdruck »für es« (ebd.) belegt wird, soll hier die »natürliche Interpretationsperspektive« heißen. In der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive wird die Darstellung – die Selbstexplikation des erscheinenden Wissens als destruktiv-positiver Entwicklungsweg, der zum wahren Wissen hinführt – vollkommen epistemisch transparent, in der natürlichen Interpretationsperspektive bleibt sie dagegen vollkommen epistemisch opak: Wie im weiteren Verlauf näher ausgeführt wird, sind die isosthenen philosophischen Positionen, die das erscheinende Wissen ausmachen, vollständig in ihre Wahrheitsauffassungen oder -inhalte versunken; der Weg des Wissens, die Transition von Position zu Position, bleibt diesen Positionen epistemisch vollständig verborgen.6 Die Identifikaund Jaeschke 2009, 17–20. Vgl. auch Dilthey 1961, Düsing 1993, Sandkaulen 2009, Hindrichs 2009, 50–61, Stolzenberg 2009 und Förster 2011, 299 ff. sowie Kapitel 1, Anm. 84. 6 Diese »intentionalistische« Lesart wird in 6.2.2 begründet; gegen eine selbstreflexive Lesart vgl. insbesondere 6.2.2.1. Allerdings kann in komplexeren Positionen, die auf dem weiteren Wissensweg angesiedelt sind (und denen spätere Theorien der Philosophie-

Die phänomenologische Darstellungskonzeption

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tion der Darstellung mit dem Entwicklungsweg des erscheinenden Wissens garantiert dabei, dass beide Interpretationsperspektiven sich nicht extern zueinander verhalten, sondern als unterschiedliche epistemische Modi desselben Darstellungsvorgangs fungieren. Die beiden Aspekte der Darstellung werden von Hegel auch als unterschiedliche Formen von Skeptizismus erläutert: von der wissenschaftlichen Analyseebene her besehen kann die Darstellung als »sich vollbringende[r] Skepticismus« (GW 9, 56) charakterisiert werden: als struktureller Zusammenhang von Positionen, in dem jede Position das Widerlegungsresultat einer logisch weniger komplexen Position ist: »Indem […] das Resultat [der Widerlegung einer Position], wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen, und in der Negation der Uebergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt« (GW 9, 57).7 Unter dem Aspekt der Isosthenie betrachtet ist die Darstellung dagegen eine »bloß negative Bewegung« (GW 9, 57): ein »Skepticismus, der in dem Resultate nur immer das reine Nichts sieht, und davon abstrahirt, daß diß Nichts, bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultirt« (ebd.).8 Da diese rein destruktive Form von Skeptizismus auf strukturell ähnliche Weise im Skeptizismus-Aufsatz als Pyrrhonismus beschrieben wird, kann man die Darstellung unter diesem Aspekt auch als (im Hegelschen Sinne) »pyrrhonistisch« bezeichnen.9 Die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens kann als die legitimatorische Basis von Hegels Darstellungskonzeption verstanden werden: geschichte entsprechen; vgl. 7.1.2), ein Konzept von der Transitionsbewegung als Inhalt dieser Positionen gegeben sein. In diesem Fall besteht aber ein defizientes Bild von der Transitionsbewegung, die in ihrer wahrhaften Verfassung opak bleibt: sie präsentiert sich in diesen Positionen nicht als Realisierung der Wissenschaft, sondern bloß als »Verlust seiner [des natürlichen Bewusstseins, d. h. des erscheinenden Wissens] selbst« (GW 9, 56). 7 Zur bestimmten Negation vgl. 6.2.4.1 und 9.2.2. 8 Da es sich bei dieser rein destruktiven Charakterisierung der Darstellung (als isolierte Bezeichnung) um eine defiziente Charakterisierung handelt, kann sie, wie in Anm. 6 ausgeführt, auch als (Teil des) Inhalt(s) von Positionen des erscheinenden Wissens (z. B. der Position des »Skeptizismus«) gegeben sein. 9 Während allerdings dieser Skeptizismus im Skeptizismus-Aufsatz als selbständige negative Erkenntnisform – oder, wenn man will, als selbständige Einleitungsdisziplin – verstanden wurde (vgl. 4.2), wird er nun ausschließlich als Charakterisierung für die Dimension des erscheinenden Wissens in Anspruch genommen. Dennoch gilt er – anders als der erkenntniskritisch-prüfende Skeptizismus, dem im Skeptizismus-Aufsatz der moderne, Kantisch-Schulzesche Skeptizismus entspricht – als legitimer Ausdruck der isosthenen Dimension des erscheinenden Wissens, und kann in dieser Hinsicht als integraler Bestandteil von Hegels phänomenologischer Darstellungskonzeption angesehen werden.

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

Sofern die wissenschaftliche Analyseebene auf diese Dimension legitimatorisch abgebildet10 werden kann, kann die »Darstellung« als metaphilosophische Theorie verstanden werden, die nicht auf philosophische Annahmen – Annahmen über theorieexterne Sachverhalte – angewiesen ist.11 Das bloße Vorhandensein beider Aspekte gibt allerdings noch keinen Aufschluss, wie dieses Abbildungsverhältnis genauer beschaffen ist. Zu diesem Zweck ist ein Konzept erforderlich, in das beide Perspektiven strukturell integriert sind und so verständlich macht, wie sie sich legitimatorisch zueinander verhalten. Als dieses Konzept kann Hegels Begriff der Bewusstseinsgeschichte, der »Geschichte der Bildung des Bewußtseyns« (GW 9, 56) angesehen werden. Dieser Begriff macht es einerseits möglich, die Darstellung des erscheinenden Wissens als Entwicklungsgeschichte eines singulären Sachverhalts zu denken, der als kritisches Subjekt dieser Geschichte zugleich mit seiner Entwicklung zusammenfällt und so nicht als externe kritische Instanz an seine historischen Erscheinungsformen bzw. an seine Geschichte herangetragen werden muss. Er erlaubt andererseits, den Weg des erscheinenden Wissens als Prozess verständlich zu machen, der durch das erscheinende Wissen selbst vollzogen wird, aber nur dem phänomenologischen ›Historiker‹ vollständig in seinem strukturellen Zusammenhang durchsichtig wird. Wird das »erscheinende Wissen« als Terminus für faktisch isosthen auftretende Philosophie interpretiert, wird es sich bei dem, was als Subjekt dieser Geschichte zugrundeliegt, dem »Bewusstsein«, um etwas handeln müssen, das sich als singuläre Struktur bzw. Entität in der Vielzahl von isosthenen philosophischen Theorien artikuliert, die das erscheinende Wissen ausmachen; die Erscheinungsformen, die »Gestalten« (GW 9, 57, 61) dieser Struktur werden entsprechend als für diese Theorien stehend angesehen werden müssen.12 Wenn die Phänomenologie als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin verstanden wird, ist es m. E. wenig naheliegend, diese Entität als psychologische oder realhistorische Größe aufzufassen. Vielmehr scheint der Begriff dieser Entität im Rahmen einer metaphilosophischen Deutung der Phänomenologie als formale Charakterisierung der Struktur philosophischer 10

Unter einem »legitimatorischen Abbildungsverhältnis« verstehe ich die Möglichkeit, einen Sachverhalt durch Rekurs auf einen zweiten dadurch zu begründen, dass eine Strukturgleichheit bzw. –analogie zwischen ihren Elementen (etwa relationale Strukturen, intentionale Inhalte usw.) aufgezeigt wird. Dabei soll folgende Festlegung gelten: Wenn sich die Elemente a, b, c, d eines Sachverhalts P so zueinander verhalten wie die Elemente e, f, g, h des Sachverhalts Q, und Q als begründet gilt, dann ist auch P begründet. 11 Zur Frage, inwiefern die Annahme einer isosthenen Vielfalt von philosophischen Positionen selbst eine philosophische Annahme darstellt, vgl. 9.2.1. 12 Der Begriff der »Bewusstseinsgestalt« – synonym zu »Wissensposition« – wird in dieser Arbeit demgemäß als Ausdruck für »philosophische Theorie« interpretiert.

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Theorien expliziert werden zu müssen, die nicht mit bestimmten philosophischen bzw. systemimmanenten Annahmen verbunden ist; d. h. als Sachverhalt, der nicht als Objekt philosophischer Theorien interpretierbar ist. Ferner erfordert die Deutung dieser Entität als kritische Instanz, die nicht extern an das zu kritisierende erscheinende Wissen herangetragen wird, dass sie als Strukturprinzip einer genealogischen Entwicklung gedacht werden muss, die durch das erscheinende Wissen selbst vollzogen wird.13 Damit dies gewährleistet ist, wird im Bewusstseinsbegriff die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens und die für sie charakteristische natürliche Interpretationsperspektive so integriert sein müssen, dass in Bezug auf sie alle konzeptuellen Elemente dieser kritisch-genealogischen Konzeption legitimiert werden können.14 Wie Hegels phänomenologische Bewusstseinstheorie so verstanden 13

So verstanden verhält sich der phänomenologische Bewusstseinsbegriff analog zu dem, was Hegel in der frühen Jenaer Zeit die »Idee der Philosophie« nannte. Während er allerdings damals das Artikulationsverhältnis der »Philosophie« zu ihren Erscheinungsformen noch statisch dachte, konzipiert er dieses Verhältnis nun genealogisch; vgl. 4.1 und 5.3.1, (c). Dieser Unterschied wird besonders deutlich, wenn man die veränderte Rolle des Bildungskonzepts in Betracht zieht. Wie Birgit Sandkaulen im Einzelnen ausführt, zielt dieses Konzept zwar zu beiden Zeiten auf den gleichen Sachverhalt – den Prozess reflexiver Entzweiung –, nimmt aber unterschiedliche Funktionen wahr: Während der Begriff in der frühen Jenaer Zeit »pejorativ« verwendet und das mit ihm Bezeichnete von Hegel grundsätzlich abgelehnt wird, ist es zur Zeit der Phänomenologie »justament die Bildung […], die auf dem Weg einer […] Geschichte zur ›wahren Philosophie‹« (Sandkaulen 2009, 191) führt; damit wird »das, was früher der kritischen Verachtung preisgegeben war, nunmehr zum Operator der genealogischen Bewegung umgedeutet« (Sandkaulen 2009, 199); vgl. Sandkaulen 2009, 189 ff. und 197 ff. Allerdings möchte ich (stärker als Sandkaulen) betonen, dass auch 1807 dasjenige, was Gegenstand der »Bildung« ist, nicht (qua bewusstseinshistorisch Thematisiertes) in die eigene philosophische Position integriert wird, sondern weiterhin Gegenstand einer kritischen Betrachtung bleibt. Der Unterschied zur frühen Jenaer Zeit besteht m. E. an erster Stelle darin, dass dem Bildungsprozess eine selbständige Rechtfertigungsfunktion (und insofern nicht nur eine negative, sondern auch eine positive Funktion) für die eigene philosophische Position abgewonnen wird. 14 In eine z. T. ähnliche Richtung scheint mir Gunnar Hindrichs zu gehen, wenn er betont, dass die Phänomenologie als Darstellung von »Geltungsreflexion« zu »dieser [Geltungsreflexion] in kein Begründungsverhältnis« tritt, sondern als »Genealogie den Vollzug der Geltungsreflexion ab[bildet] nach Art dessen, wie der Graph eine mathematische Funktion abbildet« (Hindrichs 2009, 54); vgl. Hindrichs 2009, 50–55. Während allerdings in Hindrichs Interpretation die genealogische Darstellung der geltungsreflexiven Schritte zur Legitimation der reflektierten Positionen führt, indem diese am Ende der Darstellung als »Erscheinungen eines Ganzen« (Hindrichs 59) ausgewiesen werden (vgl. Hindrichs 57 ff.), strebt Hegel gemäß meiner Interpretation eine vollständige Delegitimierung des in der Phänomenologie Dargestellten an; nur so kann m. E. ihrem strikt systemexternen Charakter Rechnung getragen werden. (Man könnte die genealogische Begründungsstrategie der Phänomenologie insofern als Form von »negativer Genealogie« bezeichnen: es soll die eigene Position legitimiert werden durch den genealogischen Nachweis der Unrechtmäßigkeit aller anderer Positionen.)

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werden kann, dass sie all diesen Anforderungen gerecht wird, ist Thema des nächsten Abschnitts.

6.2 Die bewusstseinstheoretische Explikation der Darstellungskonzeption In Bezug auf Hegels in der zweiten Hälfte der Einleitung dargelegte bewusstseinstheoretische Überlegungen können drei Grundtheoreme unterschieden werden, die hier mit Heidegger15 als Hegels drei »Sätze des Bewusstseins« bezeichnet werden. Als Ausgangsbestimmung kann der erste Satz des Bewusstseins angesehen werden: »Das Bewusstsein ist für sich sein Begriff und dadurch unmittelbar das Hinausgehen über sich selbst«. Ihm zufolge ist das Bewusstsein eine Selbstbeziehung anstrebende Aktivitätsstruktur, welche sich solange in Wissenspositionen ausdifferenziert, bis sie sich selbst epistemisch erfasst hat (6.2.1). Die beiden folgenden Bestimmungen können als nähere Explikationen unterschiedlicher Aspekte dieser Grundbestimmung begriffen werden. Der zweite Satz des Bewusstseins – »das Bewusstsein unterscheidet etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht« – erlaubt es, an jeder Wissensposition ein Wahrheits- und ein Wissensmoment zu unterscheiden, und ermöglicht so eine Bestimmung der individuellen Struktur von Wissenspositionen (6.2.2). Der dritte Satz des Bewusstseins – »Das Bewusstsein prüft sich selbst« – ermöglicht, den sich als Reihe von Wissenspositionen artikulierenden Weg des erscheinenden Wissens als einheitliche Bewegung verständlich zu machen, indem diese Bewegung als Resultat der immer gleichen singulären Prüfungsaktivität des Bewusstseins aufgefasst wird, welche solange neue Wissenspositionen als Prüfungsprodukte generiert, bis eine Wissensposition erzeugt ist, in der Gegenstand und Begriff – Wahrheits- und Wissensmoment – zusammenfallen (6.2.3). Nur der dritte Satz ermöglicht eine Beschreibung, in der die phänomenologische Darstellung als kritische Rechtfertigung einer letzten Position, der der Hegelschen Wissenschaft, fungiert; in der Beschreibung des zweiten Satzes präsentiert die Darstellung sich lediglich als isosthene Vielfalt von Wissenspositionen. Es sind jedoch beide Bewusstseinssätze notwendig, um den ersten Bewusstseinssatz zu explizieren, weil die Darstellung, wie in 6.1 dargelegt wurde, für Hegel eben zwei Aspekte hat: die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens und die wissenschaftliche Analyseebene. Das 15

Vgl. Heidegger 1980, 156 f., 165, 168, 176.

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erscheinende Wissen fungiert als die legitimatorische Basis der Darstellung, hat jedoch kein Wissen von sich als isosthene Vielfalt von Positionen, sondern ist in seine Inhalte versunken. In der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive ist die Darstellung dagegen vollständig epistemisch transparent. Da die Darstellung zwei Aspekte hat, müssen auch beide Aspekte in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive epistemisch transparent sein, d. h. auch die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens und die für sie charakteristische Selbstinterpretationsperspektive (die ja ebenfalls ein Teil der Darstellung ist) müssen in der wissenschaftlichen Analyseebene repräsentiert sein. Dies leistet der zweite Satz des Bewusstseins, indem er aus der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive beschreibt, was sich aufgrund der heterogenen Selbstinterpretationen des erscheinenden Wissens herausbildet: eine isosthene Vielfalt von Wahrheitsinterpretationen oder -inhalten. Erst diese Repräsentationsleistung des zweiten Satzes erlaubt, die durch den dritten Satz zu leistende kritische Beschreibung legitimatorisch auf die Dimension des erscheinenden Wissens als zu dieser Beschreibung nichtexterne Ebene abzubilden. Hegels bewusstseinstheoretische Überlegungen kulminieren schließlich in einer Überlegung, die die drei Sätze des Bewusstseins zu einer metaphilosophischen Erfahrungstheorie des Bewusstseins zusammenführt. Sie macht im Einzelnen verständlich, wie der dritte Bewusstseinssatz durch den zweiten legitimatorisch ausgewiesen werden kann, indem sie zeigt, wie die durch beide Bewusstseinssätze beschriebenen Aspekte der phänomenologischen Darstellung in eine »Erfahrung« genannte Struktur integriert werden können, welche einerseits als Prüfungsstruktur beschreibbar ist und andererseits der isosthenen Dimension des erscheinenden Wissens und der ihr korrespondierenden natürlichen Interpretationsperspektive Rechnung trägt (6.2.4). Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Beweisstruktur: Während, wie im Folgenden deutlich zu machen sein wird, die im zweiten und dritten Satz geleisteten Explikationen vollständig aus dem ersten Satz hergeleitet werden können, wird der erste Satz nicht weiter gerechtfertigt, sondern schlicht vorausgesetzt. Er kann insofern als die nicht weiter herleitbare Grundvoraussetzung von Hegels phänomenologischer Darstellungskonzeption angesehen werden.16 In diesem Kapitel soll textinterpretatorisch gezeigt werden, wie der erste Bewusstseinssatz verständlich gemacht werden kann und der zweite

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In eine ähnliche Richtung – zumindest bezüglich der These der nicht weiter begründeten Inanspruchnahme dieser Bestimmung – scheinen mir auch Dudeck (Dudeck 1981, 50), Hiltscher (Hiltscher 1998, 245 f.) und Stern (Stern 2002, 28 f.) zu gehen; vgl. kritisch zu Hegels Inanspruchnahme dieser Grundbestimmung K. Westphal 1989, 133 f. Die bewusstseinstheoretische Explikation der Darstellungskonzeption

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und dritte Bewusstseinssatz aus ihm ohne Inanspruchnahme weiterer Voraussetzungen hergeleitet werden können. Im letzten, neunten Kapitel dieser Arbeit soll dann die Frage beantwortet werden, was Hegel dazu berechtigt, die Bestimmungen des ersten Bewusstseinssatzes als die Grundbestimmungen seiner metaphilosophischen Theorie in Anspruch zu nehmen. Da Hegel hierüber selbst keine expliziten Angaben macht, wird in diesem letzten Kapitel systematisch vorgegangen werden müssen.

6.2.1 Hegels erster Satz des Bewusstseins Als das zentrale Theorem von Hegels bewusstseinstheoretischer Explikation seiner metaphilosophischen Darstellungskonzeption kann folgende Bestimmung angesehen werden: Das Bewußtseyn […] ist für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das hinausgehen über das Beschränkte, und, da ihm diß Beschränkte angehört, über sich selbst (GW 9, 57). Diese Bestimmung soll, wie gesagt, »Hegels erster Satz des Bewusstseins« genannt werden. Hegel charakterisiert das Bewusstsein als Struktur, die einerseits »für sich ihr Begriff« ist, andererseits »unmittelbar über sich hinausgeht«, insofern (»dadurch, dass«) sie für sich ihr Begriff ist. Sieht man zunächst von einer Bestimmung dessen ab, was für das Bewusstsein ist (nämlich: es selbst), besagt der Satz Folgendes: Das Bewusstsein ist eine Struktur, für die einerseits etwas epistemisch gegeben ist (die »einen Begriff von etwas hat«), und die andererseits über das, was für sie epistemisch gegeben ist, »hinausgeht«, insofern dieses für sie epistemisch gegeben ist. Epistemisches Gegebensein und das »Hinausgehen« über das, was epistemisch gegeben ist, hängen für Hegel also unmittelbar zusammen. Dies und die im »Hinausgehen« enthaltene Rede eines »Transzendierens« legen es nahe, das »Hinausgehen über etwas« im Sinne von »etwas in einem reflexiven Beziehungsakt zum Zwecke seiner epistemischen Erfassung transzendieren« zu interpretieren. So verstanden ist das Bewusstsein eine Struktur, die über das, was für sie ist, in einem reflexiven Beziehungsakt hinausgeht bzw. es transzendiert, um es epistemisch zu erfassen. Dieser Lesart zufolge ist in Hegels Satz also von zweierlei die Rede: von etwas, was epistemisch gegeben ist, – von Hegel auch das »Beschränkte« genannt –, und von etwas, was in einem reflexiven Beziehungsakt über dieses Gegebene hinausgeht bzw. es transzendiert, um es epistemisch zu erfassen, – d. h. wohl dasjenige, was

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die Beschränkung vornimmt. Das, was reflektiert wird, wird von Hegel auch »Gegenstand«, und das Reflektierende »Begriff« genannt.17 Nun ist in Hegels Formulierung weiter die Rede davon, dass es das Bewusstsein selbst ist, das für sich sein Begriff ist und über sich hinausgeht. Die Tatsache, dass in dieser Formulierung zweimal das Reflexivpronomen »sich« verwendet wird, scheint zunächst eine Lesart nahezulegen, der zufolge sich das Bewusstsein immer schon erfolgreich auf sich selbst bezieht, d. h. sich sowohl als Gegenstand als auch als über diesen Gegenstand reflexiv Hinausgehendes epistemisch erfasst. Wenn die Bewusstseinsstruktur definitorisch dadurch ausgezeichnet ist, dass sie sich epistemisch erfasst, scheint sie sich ja auch als Sichtranszendierendes epistemisch erfassen zu müssen. Dies scheint von Hegel jedoch nicht gemeint zu sein. Das Ziel des sich phänomenologisch darstellenden Wissens ist laut Hegel »da [erreicht], wo es nicht mehr über sich selbst hinaus zu gehen nöthig hat, wo es sich selbst findet, und der Begriff dem Gegenstande, der Gegenstand dem Begriffe entspricht« (GW 9, 57). Hegel sieht also ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass das »Hinausgehen« nicht zur Selbsterfassung: nicht zu einer Situation, »wo es sich selbst findet«, führt. Diese Annahme ist für die phänomenologische Konzeption von großer Bedeutung. Denn wären das, über das hinausgegangen wird, und das darüber Hinausgehende von vornherein identisch, könnte das Bewusstsein nicht als generatives bzw. genealogisches Strukturprinzip verstanden werden, das verständlich macht, wie eine Vielzahl von Wissenspositionen oder »Bewusstseinsgestalten« zustandekommt. Das Bewusstsein wird also als Struktur gedacht werden müssen, die definitorisch einerseits durch Selbstbezüglichkeit, andererseits durch die Möglichkeit des verfehlten Selbstbezugs gekennzeichnet ist. Will man diesen Anforderungen Rechnung tragen, wird man die in Hegels erstem Satz geleistete Bestimmung nicht als Strukturbestimmung einzelner Bewusstseinsgestalten interpretieren können; eine einzelne Bewusstseinsgestalt kann ja nicht zugleich selbstbezüglich sein und sich in ihrem Selbstbezug verfehlen. Man wird sie vielmehr als Bestimmung einer übergeordneten generativen Struktur verstehen müssen, bezüglich der einzelne Instanziierungen, d. h. Bewusstseinsgestalten unterschieden werden können. Den beiden Anforderungen der Selbstbezüglichkeit und der Möglichkeit des verfehlten Selbstbezugs kann nun Rechnung getragen werden, indem man das Bewusstsein im Sinne einer solchen übergeordneten Struktur als 17

Vgl. GW 9, 57, Zeile 18–21; der Gegenstand wird von Hegel im weiteren Verlauf der Einleitung auch »Wahrheit« oder »An-sich«, der Begriff auch »Wissen« oder »Für-es« genannt; vgl. dazu 6.2.2.

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eine Selbstbeziehung anstrebende Struktur bestimmt: als Struktur, die sich in ihren reflexiven Beziehungsakten als das zu erfassen versucht, was sie als relationale Struktur wirklich ist, sich aber in diesen Versuchen verfehlen kann, indem sie sich zwar so erfasst, wie sie vor dem Versuch der reflexiven Selbsterfassung beschaffen war, nicht aber so, wie sie nach diesem Versuch ist; denn eben im bzw. durch den Versuch der Selbsterfassung kann sie sich relational verändern. Diese Charakterisierung lässt erstens in Bezug auf einzelne Bewusstseinsinstanziierungen offen, ob das jeweilige Selbstbeziehungsstreben in einen gelungenen oder misslungenen Selbstbezug resultiert: wenn das, was über eine gegebene Bewusstseinsinstanziierung reflexiv hinausgeht, identisch mit der gegebenen Instanziierung ist – wenn das Hinausgehen nicht zu einer Veränderung der Bewusstseinsstruktur führt, wenn also das Hinausgehen gewissermaßen innerhalb dieser Instanziierung selbst stattfindet –, dann ist der Selbstbezug gelungen; ist das Hinausgehende dagegen nicht identisch mit dem, was als gegebene Bewusstseinsinstanziierung vorliegt – bringt die Bewusstseinsstruktur sich in ihrem Hinausgehen als neue Beziehungsstruktur hervor, die von der vorhandenen verschieden ist –, ist der Selbstbezug misslungen. Zweitens kommt dem Bewusstsein als übergeordneter generativer Struktur gemäß dieser Bestimmung jederzeit Selbstbezüglichkeit zu: das Bewusstsein bezieht sich in seinen reflexiven Selbsterfassungsversuchen niemals auf etwas, das kein Fall von »Bewusstsein« ist; offen bleibt lediglich, ob es sich beim Verhältnis zwischen epistemischem Beziehungsakt und seinem Gegenstand um ein Verhältnis innerhalb einer einzelnen Bewusstseinsgestalt oder um ein Verhältnis zwischen Bewusstseinsgestalten handelt. Das Bewusstsein ist für Hegel auch noch aus einem anderen Grund selbstbezüglich: das reflexive »Hinausgehen«, mittels dem das Bewusstsein epistemische Selbsterfassung anstrebt, ist eine Aktivität, die vom Bewusstsein selbst ausgeht: »Das Bewußtseyn leidet […] diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung [hier: die durch die beschränkende bzw. bestimmende Handlung eines epistemischen Bezugsaktes zustandegekommene Kenntnis vom Bezugsgegenstand, ohne Kenntnis des epistemischen Bezugsaktes] zu verderben, von ihm selbst« (GW 9, 57). Das Bewusstsein ist für Hegel also eine selbstgenerative Struktur. Man wird aufgrund dessen annehmen dürfen, dass das, was über eine gegebene Bewusstseinsinstanziierung hinausgeht, jeweils von dieser Instanziierung selbst hervorgebracht wird. Das Bewusstsein ist für Hegel insofern eine selbstreproduktive Struktur. Obwohl nicht gänzlich explizit ausgeführt, ist in Hegels Formulierung m. E. auch enthalten oder doch zumindest angelegt, dass das Bewusstsein als Struktur interner Selbstdifferenzierung zu denken ist. Zumindest die Rede von der »Beschränkung« in Hegels Formulierung des ersten Bewusstseins-

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satzes scheint nahezulegen, dass Hegel die Reproduktion als einen Prozess versteht, der mit einer inhaltlich-qualitativen Bestimmung dessen, worauf sich die hinausgehenden bzw. reproduzierten Relationen als ihren epistemischen Bezugsgegenstand jeweils beziehen, einhergeht. Hegel scheint also anzunehmen, dass in den Fällen, wo Reflektierendes und Reflektiertes nicht identisch sind, das Bewusstsein sich als etwas reproduziert, das qualitativ verschieden von dem ist, was es vor diesem Reproduktionsakt war. Da Hegel diese reproduktiven Akte als vom Bewusstsein selbst vollzogen denkt und sie im Rahmen eines Bezugs auf das, was als Gegenstand, d. h. als Bewusstseinsinstanziierung gegeben ist, verständlich zu machen hat, wird man ferner annehmen dürfen, dass das Bewusstsein sich Hegel zufolge durch einen negativen Bezug auf die vorhergehende Instanziierung als »Anderes seiner selbst« hervorbringt, und zwar als etwas, das qualitativ verschieden ist von der vorhergehenden Instanziierung. Der Prozess des Übersichhinausgehens scheint von Hegel also als Prozess der internen Selbstdifferenzierung gedacht zu werden, in der das Bewusstsein sich durch negative Selbstbezüge jeweils als qualitativ Anderes reproduziert.18

6.2.2 Hegels zweiter Satz des Bewusstseins Der zweite Bewusstseinssatz konkretisiert die Bestimmungen des ersten Bewusstseinssatzes in Bezug auf die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens. Die Einführung dieses Satzes erfolgt entsprechend im Rahmen einer Diskussion der Frage, ob die Darstellung des erscheinenden Wissens – vorgestellt als eine »Prüffung der Realität des Erkennens« (GW 9, 58) – über ein wissensinternes Prüfungskriterium verfügt. Diese Frage ist für Hegel deshalb von Interesse, weil ein externer Prüfungsmaßstab vom erscheinenden Wissen, d. h. von den jeweils geprüften philosophischen Theorien nicht anerkannt werden müsste. Ein externer Maßstab wäre mit einer Wahrheitsauffassung verbunden, die von derjenigen des geprüften Wissens verschieden wäre, und würde in die Problemsituation des isosthenen Widerstreits von 18

Wie dies genauer zu denken ist, wird in 6.2.3 und 6.2.4 ausgeführt. Hegels Formulierung des ersten Bewusstseinssatzes lässt für sich betrachtet offen, ob das Hinausgehen im Sinne einer bloß numerischen Reproduktion oder einer qualitativen Selbstdifferenzierung zu denken ist. Im Kontext der Einleitung scheint mir letztere Deutungsoption aber wahrscheinlicher: Hegels Bewusstseinskonzeption reagiert ja auf eine Problemsituation, in der eine isosthene Vielfalt von Theorien mit qualitativ verschiedenen Wahrheitsauffassungen gegeben ist. Sollen Hegels bewusstseinstheoretischen Überlegungen erklären, wie diese Vielfalt zustandekommt, wird die Bewusstseinsstruktur nicht als bloß numerischer Reproduktionsmechanismus verstanden werden können; vgl. dazu im Einzelnen 9.2.2.

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Wahrheitsauffassungen zurückführen: »was wir als sein Wesen [d. h. hier: Prüfungsmaßstab] behaupten würden, [wäre] […] nicht seine Wahrheit, sondern nur unser Wissen von ihm. Das Wesen oder der Maßstab fiele in uns, und dasjenige [Wissen], was mit ihm verglichen, und über welches durch diese Vergleichung entschieden werden sollte, hätte ihn nicht nothwendig anzuerkennen« (GW 9, 58–59). Es ergibt sich damit die Aufgabe, die Struktur der einzelnen Positionen der Wissensreihe so verständlich zu machen, dass innerhalb ihrer ein Prüfungsmaßstab zur Verfügung steht. Zu diesem Zweck stellt Hegel den zweiten Satz des Bewusstseins auf: Dieses [das Bewusstsein] unterscheidet […] etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht (GW 9, 58). Die Distinktion einer Unterscheidungs- und einer Beziehungsaktivität des Bewusstseins erlaubt, an jeder Wissensposition ein Moment der Wahrheit – von Hegel auch »Gegenstand«19 oder »An-sich« (GW 9, 57–58) genannt – und ein Moment des Wissens – von Hegel auch »Begriff« oder »Für-es« (ebd.) genannt – zu unterscheiden: das, was jeweils von einer Position als »Gegenständlichkeit« (GW 9, 29) für wahr gehalten wird, und die begrifflichen Mittel, mit denen in einer Wissensposition eine solche Wahrheitsinterpretation epistemisch realisiert wird. Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass es sich bei »Unterscheiden« und »Beziehen« nicht um Ausdrücke für zwei verschiedene Relationen handelt, sondern um Ausdrücke für ein und dieselbe Relation, die aus unterschiedlichen Interpretationsperspektiven beschrieben wird. Die Darstellung des erscheinenden Wissens kann mit Hilfe des zweiten Bewusstseinssatzes als Prüfung dieses Wissens verständlich gemacht werden, ohne dass ein wissensexterner Maßstab benötigt wird. Denn die Prüfung kann nun so konzipiert werden, dass als Prüfungsmaßstab dasjenige fungiert, was innerhalb einer einzelnen philosophischen Theorie jeweils als Wahrheitsmoment auftritt. Die jeweilige Theorie kann folglich gemessen werden an dem, was ihr selbst als wahr gilt: »An dem also, was das Bewußtseyn innerhalb seiner für das an sich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen« (GW 9, 59). 19

Hegel verwendet vor allem den Gegenstandsbegriff oft als Synonym für das Moment der Wahrheit, d. h. für das, was als wahr gilt. Hierbei sollte im Auge behalten werden, dass mit dem Gegenstandsbegriff in der Einleitung niemals Einzelsachverhalte gemeint sind, sondern immer dasjenige, was in einer philosophischen Theorie überhaupt als wahr oder als Bereich der Gegenständlichkeit überhaupt anzusehen ist. Ähnlich Puntel 1973, 292.

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Die von Hegel im Rahmen der Explikation des ersten Bewusstseinssatzes eingeführten Bestimmungen des Begriffs und des Gegenstandes des Bewusstseins können nun als interne Momente einer Wissensposition verständlich gemacht werden: »Nennen wir das Wissen den Begriff, das Wesen oder das Wahre aber, das Seyende oder den Gegenstand, so besteht die Prüffung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht« (GW 9, 59).20 Wie Hegels zweiter Satz des Bewusstseins – seit Konrad Cramer oft auch schlicht als »Hegels Satz des Bewusstseins« bezeichnet21 – genauer zu verstehen ist, wird von Hegel nicht weiter ausgeführt. Nichtsdestoweniger ist für ein genaueres Verständnis von Hegels phänomenologischer Konzeption gerade der zweite Satz des Bewusstseins von entscheidender Bedeutung, da von seiner Interpretation in erheblichem Maße abhängt, ob die Phänomenologie als metaphysische, epistemologische oder metaphilosophische Theorie zu verstehen ist; d. h., ob es um eine Theorie geht, die von bewusstseinsunabhängigen Gegenständen handelt, von epistemischen Gegenstandskonzeptionen eines erkennenden, oft als mentaler Sachverhalt aufgefassten Subjekts, 20

In der Hegelforschung wurde bisher kontrovers diskutiert, ob dieser Übereinstimmungsvorstellung eine korrespondenztheoretische oder – mit Blick auf die gleich im Anschluss erfolgende alternative Formulierung dieser Vorstellung (vgl. GW 9, 59, Zeile 16–19) – eine spekulative bzw. ontologische Wahrheitsauffassung zugrundeliegt (vgl. beispielsweise Aschenberg 1976, 220 ff., M. Theunissen 1978, 332 ff. und Baum 1983, 241 ff.). Diese Diskussion ist m. E. im Rahmen einer metaphilosophischen Deutung der Phänomenologie nicht relevant: Wird die Phänomenologie im strengen Sinne als systemexternrechtfertigende Prüfung von Hegels philosophischen Ansichten interpretiert, wird man sie nicht so verstehen dürfen, dass ihr ungeprüfte wahrheitstheoretische Vorstellungen zugrundeliegen. Vielmehr wird angenommen werden müssen, dass auch bei wahrheitstheoretischen Fragen vom Selbstverständnis der geprüften Positionen auszugehen ist, deren vielfältige Antworten auf diese Fragen in der Phänomenologie zum Gegenstand der kritischen Analyse gemacht werden. Ähnlich urteilt Konrad Utz: Die Phänomenologie könne als wissensinterne Prüfung »auf keine ontologische, erkenntnistheoretische […] oder auch nur wahrheitstheoretische Grundannahmen rekurrieren« (Utz 2006, 157). Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit auch insgesamt auf eine Analyse von Hegels eigener Wahrheitskonzeption verzichtet; es handelt sich nach der hier verteidigten metaphilosophischen Lesart um eine Konzeption, die erst im System relevant werden kann. Zu Hegels Wahrheitskonzeption vgl. Halbig 2002, 181–217 und Baum 1983. Im Übrigen unterscheidet Hegel selbst in den Erläuternden Diktaten zur Heidelberger Enzyklopädie (GW 13, 581 ff.) zwischen vier verschiedenen Wahrheitsauffassungen: einer (i) empirischsinnlichen, (ii) poetischen, (iii) prädikativen und (iv) philosophischen; vgl. die Erläuterung zu § 5 GW 13, 582. Würde man der Struktur des phänomenologischen Bewusstseins einseitig eine bestimmte Wahrheitsauffassung zugrundelegen, würden somit – unter der Voraussetzung, dass Hegel diese (System-)Ansicht aus der Heidelberger Zeit 1807 bereits vertreten hat – auch nach Hegelschem Selbstverständnis nicht mehr alle Wissenspositionen von der phänomenologischen Kritik betroffen sein können. 21 Vgl. Cramer 1978, 367.

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oder von philosophischen Theorien, denen auf systemexterne Weise eine Struktur namens Bewusstsein zugrundeliegt. Um Hegels Ausführungen zum zweiten Bewusstseinssatz genauer zu untersuchen, sei zunächst die relevante Textstelle vollständig zitiert: Dieser Widerspruch [des oben dargestellten Maßstabproblems] und seine Wegräumung wird sich bestimmter ergeben, wenn zuerst an die abstracten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit erinnert wird, wie sie an dem Bewußtseyn vorkommen. Dieses unterscheidet nemlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie diß ausgedrückt wird, es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens, oder des Seyns von Etwas für ein Bewußtseyn ist das Wissen. Von diesem Seyn für ein anderes, unterscheiden wir aber, das an sich seyn; das auf das Wissen bezogene wird eben so von ihm unterschieden, und gesetzt als seyend auch ausser dieser Beziehung; die Seite dieses an sich heißt Wahrheit (GW 9, 58). Das Bewusstsein erscheint hier als eine Struktur, die ausgezeichnet ist durch eine Aktivität des Unterscheidens und Beziehens. Unklar ist, ob es sich beim Unterscheiden und Beziehen um verschiedene Aktivitäten handelt, die beide »an dem Bewußtseyn« vorkommen, oder um verschiedene Beschreibungsaspekte derselben Aktivität bzw. Beschreibungsperspektiven auf dieselbe Aktivität. Anders formuliert: unklar ist, ob es sich beim Unterscheiden und Beziehen um zwei unterschiedliche Relationen handelt, oder um ein und dieselbe Relation, deren Verhältnis zu ihrem Gegenstand einmal dadurch beschrieben werden kann, dass es sich von diesem unterscheidet bzw. sich diesem gegenüberstellt, und einmal dadurch, dass es sich auf diesen bezieht. Die letztere Lesart schafft nicht nur bessere Bedingungen, um die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie verständlich zu machen, sie ist auch besser mit dem Hegelschen Text in Einklang zu bringen. Sie ist zunächst systematisch plausibler: Sollen durch den zweiten Bewusstseinssatz die Wahrheitsauffassungen nicht-Hegelscher Positionen – ihre Auffassungen darüber, was letztlich wahr und seiend ist – möglichst voraussetzungsfrei charakterisierbar sein, ist es wenig plausibel, anzunehmen, dass das Bewusstsein diesem Satz zufolge von vornherein weiß, dass das, was ihm epistemisch gegeben ist, (z. T.) relationaler Natur ist. Vielmehr wird man den Satz so verstehen wollen, dass durch ihn offengelassen wird, wie das, was dem Bewusstsein epistemisch gegeben ist, näher beschaffen ist. Diese Anforderung ist nun offenkundig leichter zu realisieren, wenn »Unterscheiden« und »Beziehen« nicht als verschiedene relationale Strukturen gedeutet werden.

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Textinterpretatorisch spricht für diese Lesart die an den zweiten Satz des Bewusstseins unmittelbar anschließende, alternative Formulierung dieses Satzes: »oder, wie diß ausgedrückt wird, es ist etwas für dasselbe«. Hier ist offenbar nicht von zwei Relationen, sondern nur von der einen Relation des ›Seins von etwas für ein Bewusstsein‹ die Rede. Dementsprechend werden das Wahrheits- und das Wissensmoment als weitere Bestimmungen dieser Relation charakterisiert, nicht etwa nur das Wissensmoment mit dieser Relation identifiziert: das Wissensmoment bildet die »bestimmte Seite« der Relation des »Seyns von Etwas für ein Bewußtseyn«, das Wahrheitsmoment – so kann geschlossen werden – die ›unbestimmte Seite‹ dieser Relation, nämlich dasjenige, was in dieser Relation als Etwas oder Gegenstand gegeben ist. So verstanden ist es also dieselbe Relation, die sowohl das Wissensmoment – die gesamte Relation in ihrer eigentlichen Beschaffenheit – als auch das in dieser Relation gegebene Wahrheitsmoment – das, was in dieser Relation als wahr gegeben ist – zu verantworten hat.22 Vorteilhaft ist schließlich, dass im Rahmen dieser Deutung der zweite Bewusstseinssatz unmittelbar aus dem ersten hergeleitet werden kann. Die im ersten Bewusstseinssatz gemachte Unterscheidung von etwas, das epistemisch gegeben ist, und etwas, das sich auf das epistemisch Gegebene bezieht, berechtigt ja unmittelbar zur Annahme von etwas, das als »Wahrheit« epistemisch gegeben ist, und einer Beziehungsrelation, in der die »Wahrheit« epistemisch gegeben ist. Dadurch, dass nur die »Wahrheit« für das Bewusstsein epistemisch gegeben ist, kann zudem der Anforderung Rechnung getragen werden, dass das Bewusstsein als »Selbstbeziehung anstrebende Struktur« sich auch epistemisch verfehlen können muss. Insgesamt scheint mir damit die Annahme berechtigt, dass dem zweiten Bewusstseinssatz zufolge nur das Wahrheitsmoment ›für ein Bewusstsein‹ ist. So verstanden ist »Wahrheit« eine Bezeichnung für das, was das Bewusst22

Das Wahrheits- und das Wissensmoment werden oft als Objekt- und Subjektpol interpretiert. Es scheint mir aber, dass Hegel die Begriffe »Subjekt« und »Objekt« in seinem zweiten Bewusstseinssatz nicht ohne Grund vermeidet. Denn diese Begriffe scheinen nur als von der Bewusstseinsrelation strukturell verschiedene Elemente verstanden werden zu können, welche seinen Satz mit zusätzlichen Annahmen belasten würden. Auffällig ist jedenfalls, dass Hegels zweiter Satz als eine fast wörtliche Paraphrase des Reinholdschen Satzes des Bewusstseins – »Im Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beyde bezogen«, Beyträge zur Berichtigung I, 167 – erscheint, aus der die subjekttheoretische Terminologie – Subjekt, Objekt, Vorstellung – entfernt worden ist: statt des Subjekts ist es das Bewusstsein selbst, das unterscheidet und bezieht, und es tut dies nicht in Bezug auf ein Objekt und in einer Vorstellung, sondern in Bezug auf und in sich selbst. Vgl. dazu Cramer 1978, 386, Graeser 1988, 101 f., Bondeli 1995a, 330–334, Bondeli 1995b, 73–78, Karásek 2006, 148–152 und Koch 2006, 23 f.

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sein für wahr hält, d. h. eine Bezeichnung für dasjenige, was in der jeweiligen Bewusstseinsrelation vom Typ ›Sein von etwas für ein Bewusstsein‹ jeweils als dieses Etwas auftritt bzw. epistemisch gegeben oder transparent ist; »Wissen« dagegen eine Bezeichnung für das, was die Bewusstseinsrelation – das ›Sein von etwas für ein Bewusstsein‹ – eigentlich bzw. in Wahrheit23 ist und nur »für uns« in der Beschreibung des zweiten Bewusstseinssatzes epistemisch gegeben ist. In Bezug auf die beiden in 6.1 eingeführten Interpretationsperspektiven als epistemische Modi der »Darstellung« heißt dies: für das Bewusstsein, d. h. in der natürlichen Interpretationsperspektive oder der Selbstinterpretationsperspektive des erscheinenden Wissens, ist nur das jeweilige Wahrheitsmoment, in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive – spezifischer: in der wissenschaftlichen Beschreibung, die mittels des zweiten Bewusstseinssatzes vorgenommen wird – sind sowohl das Wissensmoment als auch das in der Wissensrelation mitgegebene Wahrheitsmoment epistemisch gegeben. Nach dieser Lesart ist also nur das Wahrheitsmoment Inhalt der Bewusstseinsrelation, nicht aber das Wissensmoment, das nur metatheoretisch gegeben ist. Charakteristisch für das Bewusstsein ist insofern, dass ihm seine eigene relationale Struktur – die Bewusstseinsrelation in ihrer eigentlichen Beschaffenheit – im Laufe der phänomenologischen Darstellung nie bewusst bzw. transparent wird. Die hier dargelegte Lesart von Hegels zweitem Satz des Bewusstseins kann präzisiert werden, indem sie zu derjenigen Lesart in Beziehung gesetzt wird, die Cramer als die »radikale Fassung der Intentionalitätstheorie des Bewußtseins« (Cramer 1978, 375) kritisiert und mit Husserls Position in den Logischen Untersuchungen in Zusammenhang bringt.24 Da Cramer diese Lesart auf besonders erhellende Weise charakterisiert, sei es an dieser Stelle erlaubt, diese Charakterisierung großzügig zu zitieren: Wird dem […] Bewußtsein die formal-invariante Struktur ›Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas‹ zugeschrieben, so kann es zugleich als ein Sachverhalt charakterisiert werden, dem die es definierende Struktur des ›Wovon-Seins‹ gerade völlig unbekannt ist, und zwar deswegen, weil es als Bewußtsein von etwas ganz in das versunken ist, wovon es Bewußtsein ist. In dieser Versunkenheit ist es gerade nicht bewußte Beziehung auf sich. 23

Es sei betont, dass mit dem Ausdruck »in Wahrheit« (oder synonym: »an sich« bzw. »eigentlich«) hier und im Folgenden nicht dasjenige gemeint ist, was Hegel als Wahrheitsmoment bzw. »Wahrheit« bezeichnet – in meiner Interpretation das, was das Bewusstsein selbst für wahr hält –, sondern immer etwas, das sich jeweils metatheoretisch in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive in seiner eigentlichen Beschaffenheit darbietet. 24 Vgl. Cramer 1978, 390, Fußnote 12.

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Die Intentionalitätstheorie des Bewußtseins läßt sich radikal so fassen: Kein Fall von Bewußtsein, der ex definitione Bewußtsein von etwas ist, ist auch Bewußtsein davon, daß er ein solcher Fall ist. ›Bewußt‹ ist exklusiv ein Prädikat, das dem zukommt, wovon Bewußtsein vorliegt. […] Zwar muß auch das Bewußtsein selbst zu Bewußtsein gebracht werden können. Dies geschieht jedoch durch besonders strukturierte Fälle von Bewußtsein, deren ›Wovon‹ eben selbst Fälle von Bewußtsein sind. In keinem dieser Fälle tritt so etwas wie eine bewußte Beziehung eines Falles von Bewußtsein auf sich selbst auf. […] Nach ihr [der intentionalistischen Bewusstseinstheorie] ist kein Fall von Bewußtsein außer auf seinen intentionalen ›Gegenstand‹ oder ›Inhalt‹ auch noch auf sich selbst intentional, das heißt in der Weise eines Bewußtseins von sich, bezogen. Jeder Fall von Bewußtsein ist vielmehr qua Bewußtsein sich selbst prinzipiell anonym. Aus ihrer Anonymität können Fälle von Bewußtsein nur durch besondere ›Akte‹ der freilich immer möglichen ›Reflexion‹ gezogen werden, die dann ihrerseits wiederum sich selbst anonym sind (Cramer 1978, 375–376). Die hier vertretene Deutung von Hegels zweitem Satz des Bewusstseins teilt wesentliche Momente mit dieser Lesart und kann bezüglich dieser Aspekte insofern ebenfalls als »intentionalistisch« bezeichnet werden: auch oben wurde das, worauf die Wissensstruktur intentional bezogen ist, das Wahrheitsmoment, als der einzige Inhalt bestimmt, wovon Bewusstsein besteht – oder genauer: als der einzige Inhalt, der in der Bewusstseinsstruktur in epistemischer Transparenz vorliegt. Das Wissensmoment wurde dagegen interpretiert als die nur metatheoretisch beschreibbare intentionale Beziehungsstruktur – auch diese Annahme kann laut Cramer mit einer intentionalistischen Lesart in Verbindung gebracht werden25 –, wie sie sich in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive in ihrer eigentlichen relationalen Verfasstheit als schlichte Struktur der ›Beziehung auf Etwas‹ darbietet. Man könnte die Bewusstseinsstruktur insofern auch als bloße »Gegebenheit von …« – oder »Beziehung-auf …« – Struktur charakterisieren. Eine phänomenologische Bewusstseinsgestalt oder Wissensposition besteht so verstanden nicht aus unterschiedlichen Relationen, die zusammen eine komplexe Struktur bilden, sondern jeder Wissensposition entspricht eine einzelne einstellige Wissensrelation. Als »einstellige Wissensrelationen« können phänomenologische Wissenspositionen deshalb charakterisiert werden, weil nur das Wahrheitsmoment, das »Etwas«, Inhalt oder Glied dieser Relation ist. Das Wissensmoment ist dagegen kein Inhalt dieser Relation, sondern die Weise, wie die Relation sich metatheoretisch in der wissenschaft25

Vgl. 6.2.2.2.

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

lichen Interpretationsperspektive darbietet.26 Eine phänomenologische Wissensposition besteht also nur aus einem Wahrheitsinhalt und der Relation selbst; diese Momente fallen erst zusammen, wenn am Ende der phänomenologischen Darstellung die Struktur des Bewusstseins überwunden ist.27 Dabei sei unterstrichen, dass die intentionalistische Lesart hier nicht wie im Falle Husserls in Bezug auf die Bewusstseinsgegebenheit von raumzeitlichen Gegenständen – Gegenständen, bezüglich derer »Abschattungen« unterschieden werden können –, sondern in Bezug auf die Gegebenheit philosophischer Ansichten vertreten wird. Aus diesem Grund wird hier auch ein intentionalistisches Begriffsvokabular gewählt, das, anders als dasjenige Husserls, nicht über vielfältige terminologische Differenzierungsmöglichkeiten verfügt, sondern lediglich die – für die hier verfolgten metaphilosophischen Beschreibungszwecke ausreichend präzisen – Begriffe des intentionalen Inhalts bzw. Gegenstandes28 und des intentionalen Beziehungsaktes enthält. Eine intentionalistische Lesart ist sicherlich nicht plausibel, wenn das phänomenologische Bewusstsein als mentales Phänomen aufgefasst wird, auf das philosophische Geltungsansprüche abgebildet werden können sollen. In diesem Fall scheint zwingend ein selbstreflexives Moment, das dem Bewusstsein zumindest partiell in epistemischer Transparenz gegeben ist, angenommen werden zu müssen, wie gleich ausführlicher anhand von Cramers Interpretation von Hegels zweitem Bewusstseinssatz dargelegt wird. Wenn aber Hegels 26

Zum Verhältnis von »Wissensposition« und »Wissensrelation« sei Folgendes angemerkt: Der Begriff der Wissensposition ist eine Bezeichnung für »philosophische Theorie«; der Begriff der »Wissensrelation« steht für das, was einer »Wissensposition« als relationale Struktur zugrundeliegt. Da in der hier vertretenen Deutung, anders als in einer komplex-relationalistischen Lesart (vgl. 6.2.2.1), jeder Wissensposition eine einzelne einstellige Wissensrelation zugrundeliegt, können die Begriffe im Rahmen dieser Arbeit weitgehend austauschbar verwendet werden. (Sie sind allerdings nicht synonym: der Begriff der Wissensrelation verhält sich explikativ zu dem der Wissensposition.) 27 Konrad Utz, der ebenfalls eine intentionalistische Lesart vertritt – auch er lehnt Cramers propositionale Deutung des Hegelschen Bewusstseinssatzes ab (vgl. Utz 2006, 158, Fußnote 3) –, scheint mir in eine z. T. ähnliche Richtung zu gehen. Utz nimmt allerdings an, dass das phänomenologische Bewusstsein durch zwei Beziehungsstrukturen charakterisierbar ist: neben einer Struktur, die als »reine Bezüglichkeit-auf« in der Bezogenheit auf einen intentionalen Inhalt besteht (vgl. Utz 2006, 158 ff.), noch zusätzlich eine Struktur, die als »(ungesättigte) Selbstreflexion« (Utz 2006, 165) in dem Bewusstsein von der Angewiesenheit des Bewusstseins auf Etwas besteht. Die Annahme zweier (unterschiedliche Aufgaben wahrnehmender) Relationen scheint mir gerade im Rahmen einer intentionalistischen Lesart problematisch, weil in dieser Lesart keine Ressourcen zur Verfügung stehen, um beide Relationen als strukturell verschiedene verständlich zu machen; vgl. dazu 6.2.2.1 unten. 28 Die Begriffe »intentionaler Inhalt« und »intentionaler Gegenstand« werden in dieser Arbeit synonym verwendet.

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phänomenologischer Bewusstseinsbegriff von vornherein als metaphilosophische Explikation des isosthen auftretenden erscheinenden Wissens interpretiert wird – als stipulative Festlegung der methodischen Struktur dessen, was es faktisch heißt, philosophische Geltungsansprüche zu erheben –, wird eine intentionalistische Lesart zur attraktiven Alternative. Mit »mentalen Sachverhalten« sind hier Sachverhalte gemeint, die zu Hegels Zeit in der rationalen und empirischen Psychologie als theorieexterne Sachverhalte zum Gegenstand der philosophischen Analyse gemacht wurden, also Sachverhalte wie personales Bewusstsein oder Selbstbewusstsein, die Seele oder das empirische Ich. »Mentalistisch« sollen dabei alle Deutungen heißen, welche in ihrer Interpretation des phänomenologischen Bewusstseins in irgendeiner Form der Anforderung Rechnung tragen, dass dieses Bewusstsein auch als mentaler Sachverhalt verständlich gemacht werden können soll, sei es auch, dass sie dieses Bewusstsein vordergründig als methodische Begründungsstruktur interpretieren. Wenn die methodische Grundstruktur der Phänomenologie als Struktur verstanden wird, welche systemexterne Begründungsleistungen erbringen soll, dann ist es m. E. nicht sehr naheliegend, diese von Hegel »Bewusstsein« genannte Grundstruktur mentalistisch zu interpretieren.29 Auch in der Selbstanzeige heißt es in diesem Sinne ausdrücklich: »Die Phänomenologie des Geistes soll an die Stelle der psychologischen Erklärungen […] über die Begründung des Wissens treten« und als solche eine »neue […] Wissenschaft der Philosophie« bilden (GW 9, 446). Die hier vertretene, kontraintuitive und revisionäre Deutung des Bewusstseins ist insofern interpretatorisch zwingender, als es zunächst den Anschein hat: Wenn die Phänomenologie als ein völlig neuartiger metaphilosophischer Theorietyp verständlich gemacht werden soll, als »neue Wissenschaft«, die es nicht mit theorieexternen Sachverhalten, etwa raumzeitlich gegebenen Objekten in der Welt, sondern mit Theorien über solche Sachverhalte zu tun hat, kann sie nicht länger im Sinne einer traditionellen Bewusstseinstheorie interpretiert werden. Würde man einer metaphilosophischen Theorie, die von philosophischen Konzeptionen handelt, einen mentalistischen Bewusstseinsbegriff zugrundelegen, würde dieser Begriff aufgrund der philosophischen Annahmen, die zwangsläufig in ihn eingehen,30 strukturell gar nicht mehr in der Lage sein, die ihm in einer metaphilosophischen Theorie

29

Betont sei, dass diese These nur für die Phänomenologie geltend gemacht wird. Es wird offengelassen, ob Hegel im System (dort wohl am ehesten in der Philosophie des subjektiven Geistes) eine Theorie über personales (Selbst)Bewusstsein entwickelt hat. 30 Vgl. dazu 9.1.

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

zugemutete methodische Rolle zu erfüllen. Hegels phänomenologisch-metaphilosophischer Theorie darf insofern kein philosophisch-mentalistischer, sondern muss ein metaphilosophisch-methodischer Bewusstseinsbegriff31 zugrundegelegt werden. Hat die phänomenologische Theorie es mit einer völlig anderen Art von Objekten zu tun als traditionelle Bewusstseinstheorien, nämlich mit philosophischen Theorien, muss sie auch mit einer völlig anderen Art von methodischen Mitteln operieren. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird deutlich werden, dass Hegels Bewusstseinstheorie auf überzeugende Weise als philosophisch voraussetzungslose Begründungsleistung verstanden werden kann, wenn man sie nicht mentalistisch, sondern metaphilosophisch interpretiert. Bevor dies aber im Einzelnen ausgeführt wird, soll zunächst die intentionalistische Interpretation von Hegels zweitem Satz des Bewusstseins näher plausibilisiert werden, indem zuerst die Schwierigkeiten einer komplex-relationalistischen Deutung der Hegelschen Explikation dieses Satzes dargelegt (6.2.2.1) und anschließend Cramers Argumente gegen eine intentionalistische Deutung zurückgewiesen werden (6.2.2.2).

6.2.2.1 Zur Kritik der komplex-relationalistischen Lesart Der zweite Satz des Bewusstseins wird oft im Sinne eines Verhältnisses zweier Relationen interpretiert, die mit dem Wahrheits- und dem Wissensmoment einerseits und den Handlungen des Unterscheidens und Beziehens als unterschiedlichen Aktivitäten andererseits identifiziert werden können: das Wahrheitsmoment als (unterscheidendes) Bewusstsein eines Etwas oder Gegenstandes, d. h. als intentionales Bewusstsein; das Wissensmoment als (selbstbezügliches) Bewusstsein von diesem Gegenstandsbewusstsein, d. h. als reflexives Wissen von der die Gegenstandsseite thematisierenden Bewusstseinsrelation. Diese komplex-relationalistische Lesart ist m. E. mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Zunächst ist sie nicht leicht mit der Hegelschen Explikation des zweiten Satzes des Bewusstseins in Einklang zu bringen, denn hier ist nur von einer einzigen Relation die Rede, dem Sein von Etwas für ein Bewusstsein, nicht aber von einer weiteren, reflexiven Beziehung – einem Sein dieses ›Seins von Etwas für ein Bewusstsein‹ für ein weiteres Bewusstsein –, welche die erste Relation ihrerseits zum Gegenstand machte. Zudem wird im weiteren Verlauf der Einleitung das Wissen von dem Für-es-Sein des Gegen31

Vgl. ebd.

Die bewusstseinstheoretische Explikation der Darstellungskonzeption

215

standes als das Resultat der Bewusstseinsprüfung präsentiert – ein Resultat, mit dem unmittelbar ein neuer Gegenstand sowie eine neue Wissensposition entsprungen sein soll; das Wissen vom Für-es-Sein ist also für Hegel nichts von vornherein Gegebenes, sondern entsteht erst im Laufe der Prüfungsbewegung. Ein solcher Prüfungsschritt wäre überflüssig, wenn in der geprüften Bewusstseinsgestalt immer schon ein reflexives Wissen von dem Für-es des Gegenstandes vorliegen würde.32 Das Hauptproblem dieser Lesart bildet aber die Schwierigkeit, beide Relationen als strukturell verschiedene Relationen verständlich zu machen. Gelingt dies nicht, droht folgendes Dilemma: die beiden Relationen werden entweder beide als Fälle von Gegenstandsbewusstsein, d. h. als Relationen aufgefasst werden müssen, die sich nur durch unterschiedliche Gegenstände, also allein durch ihr jeweiliges Wahrheitsmoment unterscheiden, oder als identisch, so dass jede Bewusstseinsgestalt von vornherein als ein gelungener Fall von Selbstbezüglichkeit gelten muss. Im ersten Fall wäre genau die Situation gegeben, welche Hegel im weiteren Verlauf der Einleitung als spezifisch für die Entstehung einer neuen Bewusstseinsgestalt oder Wissensposition ansieht: die Situation, »daß das Bewußtseyn itzt [nach dem Stattfinden der Prüfung] zwey Gegenstände hat« (GW 9, 60). Damit könnte nicht mehr an der These festgehalten werden, dass beide Relationen innerhalb einer Wissensposition gegeben sind; vielmehr müsste angenommen werden, dass jede Wissensposition in weitere Wissenspositionen zerfällt. Im zweiten Fall dagegen wären die phänomenologische Darstellung und die kritische Destruktion alternativer Positionen überflüssig: wenn das Bewusstsein vom Gegenstandsbewusstsein als reflexives Wissen von diesem Bewusstsein mit diesem von vornherein identisch wäre, würde das Bewusstsein vollständig für sich sein Begriff sein und Wahrheit und Wissen immer schon zusammenfallen – es wäre dann also in jeder Wissensposition das Ziel des Wissens bereits erreicht. Diese Schwierigkeit kann auch auf folgende Weise formuliert werden. Das Wahrheitsmoment besteht der komplex-relationalistischen Lesart zufolge in einer Bewusstseinsrelation, welche auf einen Gegenstand bezogen ist, einem Bewusstsein von Etwas; das Wissensmoment in einer sich auf diese Relation beziehenden Bewusstseinsrelation, also einem Bewusstsein von einem Bewusstsein von Etwas. Wenn nun beide Relationen sich strukturell gar nicht unterscheiden, sondern gleichermaßen intentionaler Natur sind, scheinen sie sich auch bezüglich der Art, wie ihr intentionales Objekt thematisiert wird, nicht unterscheiden zu können; folglich wird das Wissensmoment auch nicht 32

Vgl. 6.2.3 und 6.2.4.

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

als spezifisch reflexive Wissensform im Unterschied zu einer intentionalen verständlich gemacht werden können. Wenn beide Relationen im Rahmen dieser Lesart als strukturell verschiedene Relationen verständlich gemacht werden sollen, dann wird also entweder ein unterscheidendes Element auf der Ebene des intentionalen Objekts – eine intrinsische Verschiedenheit der intentionalen Inhalte, auf welche das Bewusstsein innerhalb der gleichen Bewusstseinsgestalt jeweils bezogen ist –, oder aber auf relationaler Ebene – eine intrinsische Verschiedenheit von Bewusstseinsrelationen, welche sich jeweils innerhalb der gleichen Bewusstseinsgestalt auf das intentionale Objekt beziehen – zusätzlich eingeführt werden müssen, um das genannte Dilemma – nämlich entweder die beiden strukturell gleichen Relationen als zwei verschiedene Wissenspositionen interpretieren oder von vornherein die Identität der beiden Relationen annehmen zu müssen – zu vermeiden. Das heißt, die Vertreter der komplex-relationalistischen Lesart33 werden einen qualitativen Unterschied entweder in der Art der Gegenstände, wovon Bewusstsein besteht, oder in der Weise der Bewusstseinsgegebenheit des Gegenstandes annehmen müssen, um die beiden Relationen als verschiedene: als intentionales und als reflexives Bewusstsein verständlich machen zu können. Im ersten Fall wird die Differenz von reflexivem und intentionalem Bewusstsein durch die Annahme eines qualitativen Unterschiedes der intentionalen Inhalte verständlich gemacht werden müssen. Die Verschiedenheit der Inhalte kann in diesem Fall nicht durch die Struktur der Bewusstseinsrelation selbst erklärt werden und nötigt so zur Annahme Differenzierung bewirkender Elemente auf der Gegenstandsseite, die unabhängig von der Bewusstseinsrelation bestünden. Die Annahme solcher bewusstseinsunabhängiger Elemente ist aber einerseits nur schwer mit dem Wortlaut des Hegelschen Textes in Einklang zu bringen, andererseits systematisch unplausibel angesichts der am Anfang der Einleitung geübten Kritik an dualistischen Positionen, die sich gerade gegen die Annahme solcher bewusstseinsunabhängiger Sachverhalte richtete. Im zweiten Fall wird dagegen die Differenz von reflexivem und intentionalem Bewusstsein durch die Annahme eines qualitativen Unterschiedes in der Bewusstseinsgegebenheit der Inhalte verständlich gemacht werden müssen. Zu diesem Zweck kann beispielsweise zwischen einem direkten (»Wissen«) 33

Es seien stellvertretend genannt: Cramer 1978, Schlösser 1996, Hiltscher 1998, 247 ff., Dove 1993, 20, Kreß 1996, 30 f., K. Westphal 1989, 103 ff. und Claesges 1981, 70 ff.; vgl. auch die Beiträge in Karásek/Kuneš/Landa 2006.

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und indirekten (»Wahrheit«)34 oder einem thematischen (»Wissen«) und unthematischen (»Wahrheit«) Bewusstsein35 vom intentionalen Gegenstand unterschieden werden. Problematisch an dieser Strategie ist, dass die Hegelsche Konzeption kaum die begrifflichen Ressourcen bereitstellt, welche diese Unterscheidung zu treffen erlauben. Das einzige textgestützte Argument, das diese Interpreten anführen können, ist die Unterscheidung von »für das Bewußtseyn« und »dem Bewußtseyn«, mit der Hegel angeblich unterschiedliche Gegebenheitsweisen innerhalb einer Wissensposition hätte markieren wollen. Aber nicht nur, dass Hegel diese Ausdrücke im Sinne einer solchen Unterscheidung inkonsequent verwendet;36 die Unterscheidung führt auch zu Problemen bezüglich der Interpretation von Hegels Selbstprüfungsthese, wie in 6.2.3 und 6.2.4 deutlich werden wird.37

6.2.2.2 Cramers Kritik an der intentionalistischen Lesart Die intentionalistische Lesart von Hegels zweitem Satz des Bewusstseins wird oft als problematisch angesehen, seit sie durch Konrad Cramer in Frage gestellt wurde. Cramer interpretiert Hegels zweiten Satz des Bewusstseins als analytische Explikation38 dessen, was im etablierten Gebrauch der (dama34

So beispielsweise Puntel 1973, 289 f. So beispielsweise Aschenberg 1976, 233, Hiltscher 1998, 250 ff. und K. Westphal 1989, 104 ff.; auf ähnliche Weise scheinen auch Michael Theunissen zwischen Thema und Horizont (M. Theunissen 1978, 327 ff.) und Werner Marx zwischen Gegenstand und Gegenständlichkeit (Marx 1971, 82 ff.) zu unterscheiden. Für einen Überblick vgl. Graeser 1988, 121 f. Zur Kritik dieser Unterscheidungsstrategie vgl. Claesges 1981, 79 ff. 36 So heißt es beispielsweise GW 9, 59, Zeile 33, dass sowohl die Wahrheit als das Wissen »beyde für dasselbe [das Bewusstsein] sind«. Um trotzdem an dieser Unterscheidung festhalten zu können, bleibt diesen Interpreten keine andere Möglichkeit, als Hegel einen Fehler bzw. Ungenauigkeit zu unterstellen; so beispielsweise Aschenberg: »Diese [Hegelsche] Formulierung [dass Wahrheit und Wissen beide für das Bewusstsein sind] kann man indes nicht akzeptieren, denn sie verletzt nicht nur die sonst durchgehaltene Distinktion von ›für das Bewußtsein‹ (ausschließlich Wissen) und ›dem Bewußtsein‹ (Wissen und Ansich), sondern sie zerstört auch den sachlichen Sinn der übrigen Ausführungen« (Aschenberg 1976, 233, Fußnote 11). Vgl. auch M. Theunissen 1978, 328 f. 37 Sie wäre insbesondere schwer mit der These in Einklang zu bringen, dass dadurch, dass dem Bewusstsein sein Wissen selbst Gegenstand wird, eben damit ein neuer Gegenstand entsprungen sei; vgl. dazu 6.2.3.3. 38 Hegels zweiter Satz des Bewusstseins kann Cramer zufolge nicht als Explikation synthetisch-gehaltvoller Vorstellungen – weder in der Form empirischer Hypothesen noch apriorisch-synthetischer Prinzipien – verstanden werden, wenn dieser Satz eine Einleitungsfunktion wahrnehmen können soll; denn solche Vorstellungen würden vom einzuleitenden Bewusstsein nicht als Explikation seines Selbstverständnisses akzeptiert werden müssen; vgl. Cramer 1978, 369–373. 35

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ligen) Theoriediskussion unter »Bewusstsein« verstanden wurde.39 Wenn durch diesen Satz die Einleitungsfunktion der Phänomenologie verständlich gemacht werden solle, sei es erforderlich, die in diesem Satz geleistete Explikation als den formal-invarianten Operator des Verfahrens der phänomenologischen Kritik aufzufassen, durch die alle zu kritisierenden Wissenspositionen charakterisierbar seien.40 Unter der Voraussetzung, dass es sich bei Hegels Satz des Bewusstseins um die Explikation des traditionellen Bewusstseinsbegriffs als mentalen Sachverhalts handelt,41 formuliert Cramer zwei Argumente gegen die intentionalistische Lesart. Zum ersten bringt er vor, dass die Verwendung des Reflexionsausdrucks ›sich‹ in Hegels Bewusstseinssatz ›Das Bewusstsein unterscheidet etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht‹ eigentlich nur so verstanden werden kann, dass das Bewusstsein bezogen ist auf etwas, das Bestandteil seiner eigenen Struktur ist, und ihm in diesem Sinne Selbstbezüglichkeit zugesprochen werden muss.42 Diese These soll hier gar nicht bestritten werden, wenn auch Selbstbezüglichkeit, wie genauer im nächsten Abschnitt darzulegen ist, gemäß unserer Deutung erst für das vom dritten Bewusstseinssatz thematisierte Prüfungsverhältnis von Bewusstseinsgestalten zueinander geltend gemacht werden kann. Nun können aber, so Cramer, Vertreter einer intentionalistischen Lesart auf eine metatheoretische Interpretation des Reflexionsausdrucks ›sich‹ ausweichen, der zufolge die Charakterisierung des Bewusstseins als selbstbezügliche Struktur »erst in der von Bewußtsein von Bewußtsein bereitgestellten Metasprache einer Theorie vom Bewußtsein auftritt« (Cramer 1978, 377). In Bezug auf diese auch in dieser Arbeit vertretene Option bringt Cramer sein zweites Argument gegen die intentionalistische Lesart vor: seines Erachtens kann man die Einleitungsfunktion der Phänomenologie nur dann verständlich machen, wenn man das in Hegels zweitem Satz thematisierte Bewusstsein des unterschiedenen Gegenstandes als ein solches auffasst, in dem der Gegenstand als Unterschiedener, als »gesetzt als seyend auch ausser dieser Beziehung« (GW 9, 58), bewusst wird.43 Ein solches Bewusstsein sei aber nicht konzipierbar, ohne anzunehmen, dass in der Beziehung auf den 39

Vgl.: »Es ist […] gewiß so, daß sich Hegels Satz auf einen wenn schon nicht umgangssprachlich, dann doch in Theoriebildungen etablierten Gebrauch des Ausdrucks bezieht« (Cramer 1978, 372). Dabei denkt Cramer vor allem an den im Kantischen Zeitalter etablierten Gebrauch; vgl. Cramer 1978, 385 ff. 40 Vgl. Cramer 1978, 367 ff. und 387 ff. 41 Vgl. Cramers Formalisierungen 1978, 391, Fußnote 14 und 18, in denen vom »Bewußtseinszustand einer Person A« die Rede ist. Vgl. auch Cramer 1978, 173 ff. 42 Vgl. Cramer 1978, 376 f. 43 Vgl. Cramer 1978, 377 f.

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Gegenstand zugleich Bewusstsein davon bestehe, dass eine Beziehung auf den Gegenstand vorliege; denn nur so kann das Bewusstsein sich des Gegenstands als eines von sich selbst Unterschiedenen bewusst sein.44 Nur wenn beide Seiten in das zu prüfende Bewusstsein selbst fallen, kann laut Cramer die Phänomenologie als Form der Kritik verständlich gemacht werden, welche vom erfahrenden Bewusstsein selbst vollzogen wird.45 Hieraus folgert Cramer seine bekannte These von der Propositionalität des phänomenologischen Bewusstseins: Als für die phänomenologische Wissenschaft relevantes Bewusstsein soll nur »dasjenige ›mentale Ereignis‹ gelten, das kognitiv, propositional und darin selbstreferenziell« (Cramer 1978, 384) ist;46 denn nur mit diesem Bewusstseinsbegriff würden Theorien, in denen Geltungsansprüche erhoben werden, auf das Bewusstsein als formalinvariante Struktur des phänomenologischen Verfahrens der Kritik abgebildet werden können.47 Diese Kritik ist, wie bereits erwähnt, überzeugend, wenn Hegels Überlegungen mentalistisch interpretiert werden, jedoch keineswegs zwingend, wenn Hegels Satz nicht als Explikation eines »mentalen Zustandes«, sondern als metaphilosophische Explikation der Philosophie als isosthen auftretender Theorieform interpretiert wird. Wird Hegels zweiter Satz in diesem Sinne genommen, kann einerseits mit Cramer an der Eigenschaft des Bewusstseins, Geltungsansprüche zu erheben, festgehalten und andererseits »Bewusstsein« 44

Vgl. ebd. Zu meiner Deutung des Ausdrucks »gesetzt als seiend außer dieser Beziehung« vgl. 6.2.3.2, Anm. 60. 45 Vgl. Cramer 1978, 379 f. Schlösser geht noch einen Schritt weiter und moniert, dass das Wissens- und Wahrheitsmoment – von ihm ähnlich komplex als Bewusstsein des Wissens und Bewusstsein des Gegenstandes als unabhängig Gesetzten interpretiert – auch noch in ihrem Verhältnis zueinander dem Bewusstsein gegeben sein müssen, wenn die Prüfungsstruktur der Phänomenologie so verständlich gemacht werden soll, dass das Bewusstsein selbst als das Subjekt seiner Prüfung soll auftreten können. Dadurch entsteht ein komplexes Bild des Prüfungsverlaufs in »vier Phasen«; vgl. Schlösser 1996, 454 ff., Schlösser 2006, 187 ff. Auch für diese zusätzliche Annahme gilt, dass sie unter der Voraussetzung eines mentalistisch interpretierten Bewusstseins – auch Schlösser schränkt Hegels Bewusstseinsbegriff auf eine spezielle Klasse von mentalen Phänomenen ein (vgl. Schlösser 1996, 452, Schlösser 2006, 181 f.) – plausibel erscheint. Schlössers Deutung macht darauf aufmerksam, dass eine mentalistische Deutung konsistent nur unter der Annahme weiterer Strukturen innerhalb der Bewusstseinsstruktur vertreten werden kann, welche das Prüfungsverfahren auf diese Weise mit zusätzlichen Voraussetzungen belasten. 46 Vgl.: »Bewußtsein ist demnach ein mentales Ereignis oder ein mentaler Zustand, in dem der kognitive Anspruch erhoben wird, auf ein Objekt Bezug zu nehmen, das mit dem subjektiven mentalen Ereignis […], in dem und vermöge dessen auf es Bezug genommen wird, nicht identisch ist. […] Bewußtsein ist, weil dem Anspruch nach kognitiv, auch propositional« (Cramer 1978, 381). 47 Vgl. Cramer 1978, 381 ff.

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als schlichter Begriff für Gegebenheit überhaupt verständlich gemacht werden. Die metaphilosophische Explikation kann dadurch nicht nur besser mit Hegels wohl absichtlich unterkomplexer Beschreibung48 des Prüfungsvorgangs in der Einleitung in Einklang gebracht werden, sie macht es auch nicht mehr erforderlich, die Bewusstseinsstruktur mit einer komplexen Struktur der Selbstreferenzialität – im Sinne einer (zumindest partiellen) selbstreflexiven Transparenz des Bewusstseins innerhalb jeder zu kritisierenden Wissensposition – zu belasten, welche nicht ohne weiteres von vornherein als Erfahrungsinhalt der zu kritisierenden Positionen vorausgesetzt werden zu können scheint. Durch die metaphilosophische Interpretation des zweiten Bewusstseinssatzes kann auch noch eine weitere unbefriedigende Konsequenz der Cramerschen Deutung vermieden werden. Würde Hegel nämlich nur solche mentalen Zustände thematisieren, welche »auf objektive Gültigkeit Anspruch« (Cramer 1978, 382) erheben, könnte sich Hegels zweiter Satz des Bewusstseins nicht auf mentale Sachverhalte überhaupt, sondern nur auf die restriktive Klasse solcher Sachverhalte beziehen, welche kognitiven und propositionalen Charakters sind. Wenn der Satz des Bewusstseins aber tatsächlich eine analytische Explikation dessen, was im etablierten Theoriegebrauch unter »Bewusstsein« verstanden wird, sein soll, ist eine solche Restriktion zumindest unbefriedigend. Wird dagegen das Bewusstsein als stipulative Definition – in Cramers Worten als »›Worterklärung‹«, die »in Konkurrenz zu schon etablierten treten soll« (Cramer 1978, 372) – verstanden, scheint es tatsächlich berechtigt, den Satz des Bewusstseins als vollständige Explikation philosophischer Theorieansprüche zu interpretieren. Einerseits ist nun die Annahme selbstreflexiver Transparenz innerhalb jeder zu kritisierenden Wissensposition nicht mehr erforderlich, andererseits stehen mehr Mittel zur Verfügung, um Hegels Explikation des Bewusstseins verständlich zu machen: die sich aus der Tatsache der Gegebenheit einer isosthenen Vielzahl von philosophischen Theorien herleitenden Annahmen einer numerischen Vielzahl von Theorien (i), welche normativ bezogen sind (ii) auf qualitativ verschiedene Inhalte (iii).49 Wie in 6.2.3 gezeigt wird, kann das Bewusstsein aufgrund dieser Annahmen nicht nur Hegels zweitem Bewusstseinssatz gemäß als schlichte einstellige »Beziehung-auf …«- oder »Gegebenheit von …«-Struktur verständlich gemacht werden (ii), Hegel ist außerdem berechtigt, von vornherein 48

Ähnlich Utz 2006, vgl. insbesondere 158, Fußnote 3; Utz gibt allerdings die Eigenschaft des Erhebens von Geltungsansprüchen gänzlich auf. 49 Vgl. dazu im Einzelnen 9.2.2.

Die bewusstseinstheoretische Explikation der Darstellungskonzeption

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eine Vielzahl von Instanziierungen solcher »Gegebenheit von …«-Strukturen anzunehmen (i), die dem dritten Bewusstseinssatz gemäß in einem prüfend-kritischen Verhältnis zueinander stehen und als solche auf eine übergeordnete selbstbezügliche Prüfungsstruktur zurückgeführt werden können (iii). Wie dann in 6.2.4 gezeigt wird, steht der metaphilosophischen Deutung insbesondere mit der Annahme von mehreren qualitativ verschiedenen Inhalten eine philosophisch voraussetzungslose50 Annahme zur Verfügung, welche das Problem zu lösen erlaubt, wie Hegel berechtigt sein kann, ein anscheinend spekulatives Negationskonzept für die methodische Struktur seiner phänomenologischen Wissenschaft in Anspruch zu nehmen. Die revisionäre Deutung eines Begriffs ist im Allgemeinen wohl nur dann berechtigt, wenn starke Gründe vorliegen, welche gegen seine nicht-revisionäre Deutung sprechen. Diese scheinen im Falle des phänomenologischen Bewusstseinsbegriffs, soweit durch ihn die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie verständlich gemacht werden soll, durchaus gegeben. Denn die Explikation dieses Begriffs ist im Rahmen der Phänomenologie von besonderen Akzeptanzbedingungen abhängig, die erfüllt sein müssen, wenn die durch ihn charakterisierten Positionen erfolgreich in das Hegelsche System eingeleitet werden können sollen. Deutungen, welche aufgrund einer mentalistischen Interpretation des Bewusstseinsbegriffs annehmen, dass die im zweiten Satz des Bewusstseins vorgenommene Explikation auch für das durch ihn charakterisierte Wissen selbst explizit gegeben ist, scheinen darauf verpflichtet, nicht nur den Bewusstseinssatz selbst als (analytische) Explikation eines bestimmten (und gegebenenfalls nicht-etablierten) Bewusstseinsbegriffs auszuweisen, sondern auch noch zu zeigen, dass allgemeine Akzeptanz bezüglich dieses Begriffs selbst vorherrscht. Würde der Satz des Bewusstseins nur als analytische Explikation eines bestimmten, nicht aber eines etablierten und allgemein akzeptierten Bewusstseinsbegriffs überzeugen, müsste diese Explikation nicht von den einzuleitenden Positionen als Beschreibung ihres normativen Objektivitätsverständnisses akzeptiert werden. Dies heißt in Bezug auf Cramers Deutung: Nur wenn die einzuleitenden Positionen die Annahme akzeptieren, dass es sich beim phänomenologischen Bewusstsein um propositionales, kognitives und zumindest partiell in selbstreflexiver Transparenz vorliegendes Bewusstsein handelt, wird eine Kritik dieser Positionen, die von den durch diesen Begriff ermöglichten kritischen Mitteln abhängt, von den kritisierten Positionen selbst auch als verbindlich akzeptiert werden können.

50

Dazu vgl. 9.2.1.

222

Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

In einer metaphilosophischen Deutung dagegen, welche die im Satz des Bewusstseins geleistete Explikation als nur metatheoretisch relevante Beschreibung interpretiert, ist die phänomenologische Kritik nicht davon abhängig, dass die kritischen Mittel auch noch für das kritisierte Wissen selbst vollständig explizit gegeben sind. Nun ist es nicht mehr erforderlich, dass der Bewusstseinsbegriff von allen kritisierten Positionen selbst akzeptiert wird, sondern nur noch, ihn als alternativlose metatheoretische Festlegung zu rechtfertigen, die ohne Inanspruchnahme philosophisch gehaltvoller Thesen als methodische Grundstruktur der phänomenologischen Wissenschaft aufgefasst werden kann. Wie im letzten Kapitel dieser Arbeit gezeigt werden soll, ist dafür lediglich die unproblematisch aus der Tatsache der isosthenen Gegebenheit philosophischer Theorien herleitbare Annahme erforderlich, dass die kritisierten Wissenspositionen akzeptieren, dass überhaupt etwas als (allein) wahr gegeben ist. Cramers These, dass der phänomenologische Bewusstseinsbegriff dadurch als alternativlos ausgewiesen werden kann, dass seine begriffliche Explikation von allen einzuleitenden Positionen explizit als alternativlos akzeptiert wird, scheint mir dagegen äußerst schwer verteidigt werden zu können. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn man mit Hegel annimmt, dass philosophische Theorien strukturell isosthen sind. In diesem Fall muss ja davon ausgegangen werden, dass in der Philosophie auch über die Frage, was »Bewusstsein« ist, Isosthenie vorherrscht und wird man folglich keine auch noch so minimale Definition von »Bewusstsein« anbieten können, die von allen einzuleitenden philosophischen Theorien (explizit) akzeptiert wird.51 Schließlich kann für eine revisionäre Deutung des Bewusstseinsbegriffs ins Feld geführt werden, dass Hegel selbst seit der frühen Jenaer Zeit eine Revision der »natürlichen« Begriffssprache anstrebte und daher Begriffe im allge-

51

Dieses Argument ist dann zwingend, wenn man davon ausgeht, dass tatsächlich philosophische Positionen und nicht »Personen« bzw. »empirische Subjekte«, welche solche Positionen empirisch vertreten, in Hegels Philosophie eingeleitet werden sollen. Setzt man dagegen (als alternativlos) voraus, dass »Personen« als Träger von philosophischen Theorien angesehen werden müssen oder gar der Begriff der philosophischen Theorie nicht unabhängig von dem der »Person« explizierbar ist, dann dürfte es wohl möglich sein, eine Definition von Bewusstsein für das personale (Selbst)Bewusstsein als alternativlos auszuweisen. Aber eben die Voraussetzung, dass »Personen« Träger philosophischer Theorien sind, ist mit philosophischen Annahmen verbunden (beispielsweise die, dass es überhaupt »Personen« gibt, dass sie bestimmte Beschaffenheiten haben, dass sie in einem bestimmten Verhältnis zur »Welt« stehen, usw.), die selbst nicht alternativlos sind und entsprechend nicht von allen einzuleitenden (z. B. nicht von skeptizistischen oder materialistischen) Positionen akzeptiert werden müssten. Vgl. auch den ersten Zusatz am Ende von 6.2.3.3.

Die bewusstseinstheoretische Explikation der Darstellungskonzeption

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meinen stark revisionär verwendete.52 Dies gilt gerade auch für Hegels Verwendung des Bewusstseinsbegriffs. Genannt seien aus der Zeit vor der Phänomenologie: Hegels Begriff des »gemeinen Bewusstseins« in der frühen Jenaer Zeit und Hegels spekulativer Bewusstseinsbegriff im Jenaer Systementwurf I (1803). Ersterer Begriff bezieht sich auf die endlich-defizienten Ansichten des natürlichen Menschenverstandes,53 bei letzterem handelt es sich um eine revisionäre Bezeichnung für ein komplexes relationales Gebilde, in dem sowohl Momente der Identität als auch der Nicht-Identität eine Rolle spielen.54 Der phänomenologische Bewusstseinsbegriff kann im Verhältnis zu diesen Bewusstseinsbegriffen so beschrieben werden, dass er den spekulativen Bewusstseinsbegriff von 1803 so modifiziert, dass in diesen die durch den Bewusstseinsbegriff der frühen Jenaer Zeit markierte endliche Erfahrungsperspektive integriert werden kann. Wie für den phänomenologischen Erfahrungsbegriff auf ähnliche Weise unten ausgeführt wird,55 kann der phänomenologische Bewusstseinsbegriff auf diese Weise als eine Bestimmung aufgefasst werden, die einerseits revisionär ist, andererseits aber zugleich die naive Sicht auf das revisionär Bestimmte als irrtümliche und zu destruierende Ansicht integriert.

6.2.3 Hegels dritter Satz des Bewusstseins 6.2.3.1 Hegels Prüfungsbeschreibung Hegels dritter Satz des Bewusstseins konkretisiert den ersten Satz in Bezug auf die wissenschaftliche Dimension der Darstellung, indem er die Darstellung als einen einheitlichen Zusammenhang von Wissenspositionen zu bestimmen erlaubt. Er enthält die These von der Selbstprüfung des Bewusstseins: »das Bewußtseyn […] prüfft [sich selbst]« (GW 9, 59). Diese These wird von Hegel auf folgende Weise beschrieben: Aber nicht nur nach dieser Seite, daß Begriff und Gegenstand, der Maßstab und das zu Prüffende, in dem Bewußtseyn selbst vorhanden sind, wird eine Zuthat von uns überflüssig, sondern wir werden auch der Mühe der Vergleichung beyder, und der eigentlichen Prüffung überhoben, so daß indem das Bewußtseyn sich selbst prüfft, uns auch von dieser Seite nur das reine 52 53 54 55

Vgl. Horstmann 2004, 17 f. und Henrich 1982b,141 ff. Vgl. GW 4, 20–23 und 215 f. Vgl. GW 6, 273 ff. Vgl. 6.2.4.2.

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Zusehen bleibt. Denn das Bewußtseyn ist einerseits Bewußtseyn des Gegenstandes, anderseits Bewußtseyn seiner selbst; Bewußtseyn dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewußtseyn seines Wissens davon. Indem beyde für dasselbe sind, ist es selbst ihre Vergleichung; es wird für dasselbe, ob sein Wissen von dem Gegenstande diesem entspricht oder nicht (GW 9, 59). Diese Beschreibung scheint zunächst der im letzten Abschnitt vertretenen Lesart zu widersprechen, ist hier doch nicht mehr von einer einzigen Relation ›Sein von etwas für das Bewusstsein‹ die Rede, sondern davon, dass sowohl die Wahrheit als auch das Wissen Gegenstand des Bewusstseins – »beyde für dasselbe« (ebd.) – sind. Dies ist nicht nur überraschend in Anbetracht der Tatsache, dass vorher nur von einem einzigen Sachverhalt (dem Etwas bzw. dem Gegenstand), der für das Bewusstsein ist, die Rede war; der Umstand, dass auch das Wissen von dem, was dem Bewusstsein als wahr gilt, für das Bewusstsein gegeben sein soll, macht es zudem schwierig, noch zwischen »Wahrheit« und »Wissen« strukturell zu differenzieren – zumindest solange die Bestimmung an dieser Stelle als Beschreibung der Struktur einer individuellen Wissensposition verstanden wird. Denn als solche Beschreibung verstanden wären beide Momente durch die Eigenschaft, für das Bewusstsein zu sein, ausgezeichnet, so dass beide hinsichtlich ihrer funktionalen Stellung als »Gegenstände« gelten müssten. Dann wäre es aber nicht mehr möglich, Wahrheits- und Wissensmoment strukturell zu unterscheiden, ohne gegen Hegels Intention einen ursprünglich gegebenen Sachverhalt auf der Gegenstands- oder der Wissensseite anzunehmen, d. h. einen Sachverhalt, der nicht das Ergebnis der Aktivität des Bewusstseins wäre. Aus diesem Grund ist es m. E. plausibler, Hegels Beschreibung der Selbstprüfung des Bewusstseins nicht als Beschreibung der internen Struktur einer individuellen Bewusstseinsgestalt oder Wissensposition, sondern als eine Beschreibung des Verhältnisses von Bewusstseinsgestalten bzw. Wissenspositionen zueinander zu interpretieren: das, was Hegel das »Bewußtseyn des Gegenstandes« bzw. das »Bewußtseyn dessen, was ihm das Wahre ist« nennt, als eine einzelne Bewusstseinsgestalt, und das, was er als das »Bewußtseyn seines Wissens davon« (ebd.) bezeichnet, als eine von ersterer verschiedene Bewusstseinsgestalt zu interpretieren, die zu ihr in einem prüfenden Verhältnis steht. So verstanden betrifft die Prüfungssituation also von vornherein – im Falle der Nicht-Identität des Wahrheits- und des Wissensmoments – ein Verhältnis von zwei Wissenspositionen zueinander. Auf diese Weise wird verständlich, warum für Hegel bloß aufgrund der Tatsache, dass sowohl die Wahrheit als auch das Wissen für das Bewusstsein sind, schon eine Vergleichung beider Momente gegeben sein kann: »Indem

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beyde [Wahrheit und Wissen] für dasselbe [das Bewusstsein] sind, ist es selbst ihre Vergleichung« (ebd.). Dasjenige Bewusstsein, für das Wahrheit und Wissen sind, ist der hier vertretenen Lesart zufolge nicht ein einziges Bewusstsein; dadurch, dass »Wahrheit« und »Wissen« jeweils für ein Bewusstsein gegeben sind, hat man es schon mit zwei verschiedenen Bewusstseinsinstanziierungen zu tun, die in einem prüfenden Verhältnis zueinander stehen. Bezieht sich Hegels Prüfungsbeschreibung von vornherein auf ein Verhältnis verschiedener Positionen, kann sie unter Vermeidung der Probleme der komplex-relationalistischen Lesart56 so interpretiert werden, dass es sich bei den beiden Elementen, zwischen denen die prüfende Vergleichung stattfindet, (bei Nicht-Identität des Wahrheits- und Wissensmoments) um zwei strukturell gleiche Bewusstseinsgestalten handelt, die beide einstellige intentionale Beziehungsakte sind: um das, was Hegel das »Bewusstsein des Wissens« nennt, als die prüfende Relation, deren intentionaler Gegenstand das »Wissen« ist, und um das, was Hegel das »Bewusstsein des Wahren« nennt, als die geprüfte Relation, deren intentionaler Gegenstand die »Wahrheit« ist. Im Rahmen dieser Interpretation liegt es nahe, die unterschiedliche Bezeichnung beider Relationen dadurch zu erklären, dass beide Relationen eine unterschiedliche Rolle im Prüfungsprozess erfüllen: Die geprüfte Relation wird deshalb als »Bewusstsein des Wahren« bezeichnet, weil es sich um eine auf dem phänomenologischen Wissensweg als »Erscheinung« vorgegebene philosophische Theorie handelt, in der etwas als letztlich wahr und seiend gegeben ist. Die prüfende Relation heißt dagegen »Bewusstsein des Wissens«, weil es sich um eine philosophische Theorie handelt, die in funktionaler Hinsicht durch die Besonderheit ausgezeichnet ist, dass das, was hier für letztlich wahr und seiend gehalten wird, eben das vorhergehende »Bewusstsein des Wahren«, d. h. die vorhergehende Theorie ist, die nun als erscheinendes »Wissen« von der prüfenden Relation zum Gegenstand gemacht bzw. »dargestellt« wird.

6.2.3.2 Zum Verhältnis des zweiten und dritten Bewusstseinssatzes Will man Hegels im dritten Bewusstseinssatz geleistete Prüfungsbeschreibung so interpretieren, dass sie sich auf strukturell gleiche Wissenspositionen bzw. -relationen57 bezieht, wird man sie, anders als die im zweiten Bewusstseinssatz geleistete, als Beschreibung explizieren müssen, die dem Bewusst56 57

Vgl. 6.2.2.1. Zum Verhältnis von »Wissensposition« und »Wissensrelation« vgl. Anm. 26.

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sein in dessen natürlicher Interpretationsperspektive gänzlich opak bleibt: In einer intentionalistischen Lesart darf ja nicht davon ausgegangen werden, dass in der natürlichen Interpretationsperspektive des Bewusstseins das »Wissen« in irgendeiner Hinsicht während der Prüfung explizit als epistemische Größe transparent wird. Das »Wissen«, von dem in Hegels Prüfungsbeschreibung die Rede ist, muss folglich als intentionaler Inhalt verständlich gemacht werden können, der in der natürlichen Interpretationsperspektive des prüfenden Bewusstseins auf gleiche Weise als Wahrheitsinhalt gegeben ist wie die »Wahrheit« für das geprüfte Bewusstsein. Es muss also angenommen werden, dass in Hegels Prüfungsbeschreibung von »Wissen« lediglich metatheoretisch die Rede ist, dem prüfenden Bewusstsein dagegen dasjenige, was metatheoretisch gesehen »Wissen« ist, ausschließlich als »Wahrheit« bewusst bzw. epistemisch transparent wird.58 Diese Anforderungen können eingelöst werden, indem man die mittels des zweiten und dritten Bewusstseinssatzes geleisteten Beschreibungen als alternative Beschreibungen desselben Sachverhalts auffasst. So verstanden beschreiben der zweite und dritte Satz dieselben relationalen Strukturen auf unterschiedliche Weise: Das, was Hegel in der Beschreibung des dritten Satzes »Bewusstsein des Gegenstandes« und »Bewusstsein des Wissens davon« nennt und als geprüfte und prüfende Wissensposition begreift, sind in der Beschreibung des zweiten Satzes zwei individuelle Wissenspositionen – zwei Fälle von »Bewusstsein von Etwas« –, die sich isosthen zueinander verhalten; das, was Hegel in der Beschreibung des dritten Satzes das »Bewusstsein des Gegenstandes« nennt, ist in der Beschreibung des zweiten Satzes eine einstellige Relation, die auf einen Wahrheitsinhalt (das in der Prüfungsbeschreibung »Gegenstand« Genannte) bezogen ist; das, was Hegel in der Beschreibung des dritten Satzes als »Bewusstsein des Wissens davon« bezeichnet, ist in der Beschreibung des zweiten Satzes ebenfalls eine einstellige Relation, die auf gleiche Weise auf ihren (sich isosthen zum ersteren verhaltenden) Wahrheitsinhalt (das in der Prüfungsbeschreibung »Wissen davon« Genannte) bezogen ist. Betrachtet sei nun die zweite Relation, das »Bewusstsein des Wissens davon«. Die Elemente dieser Relation können einerseits nach dem zwei58

Der Ausdruck »Bewußtseyn seines Wissens davon« (GW 9, 59) wird hier also nicht so interpretiert, dass dem Bewusstsein dieses Wissen in der nächsten Bewusstseinsgestalt als Wissen bewusst bzw. transparent wird, sondern so, dass dieses Wissen dem Bewusstsein als »Gegenstand« gegeben wird, der metatheoretisch gesehen »Wissen« ist. Diese Interpretation ist sicherlich sehr unplausibel, wenn Hegels Bewusstseinsbegriff mentalistisch aufgefasst, nicht jedoch, wenn dieser Begriff metaphilosophisch als Bezeichnung für Gegebenheit überhaupt verstanden wird.

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ten Satz als Bestandteile einer einzelnen Wissensposition beschrieben werden: deren Wissensmoment ist das »Bewusstsein des Wissens davon«, deren Wahrheitsmoment das »Wissen davon«. (Dabei wird natürlich das, was in Hegels Prüfungsbeschreibung »Wissen davon« heißt, in der Beschreibung des zweiten Satzes als »Wahrheit« bezeichnet.) Die Elemente dieser Relation können andererseits nach dem dritten Satz auch als ganze Wissenspositionen beschrieben werden: »Bewusstsein des Wissens davon« steht für die prüfende Wissensposition, die sich prüfend auf das »Wissen davon« bezieht; »Wissen davon« steht für die geprüfte Wissensposition, d. h. für das »Bewusstsein des Gegenstandes«. Um terminologisch besser zwischen beiden Beschreibungen differenzieren zu können, soll das »Bewusstsein des Wissens davon«, wie es mittels des dritten Satzes beschrieben wird, als »prüfende (Wissens-) Relation«, und wie es mittels des zweiten Satzes beschrieben wird, als »fürwahrhaltende (Wissens-)Relation« bezeichnet werden. Der intentionale Gegenstand des »Bewusstseins des Wissens davon« soll weiterhin der Beschreibung des zweiten Satzes gemäß als »Wahrheit«, der Beschreibung des dritten Satzes gemäß als »Wissen« bezeichnet werden. Betrachtet sei nun die erste Relation in Hegels Prüfungsbeschreibung: das »Bewusstsein des Gegenstandes«. Sie ist in Hegels Prüfungsbeschreibung das Examinandum der Prüfung: die vorgegebene, zu prüfende individuelle Wissensposition, die durch ein Wissensmoment (das »Bewusstsein des Gegenstandes«) und ein Wahrheitsmoment (den »Gegenstand«) charakterisiert ist. In Bezug auf die zu prüfende Bewusstseinsgestalt stimmen die Beschreibungen des zweiten und dritten Satzes also überein: Die zu prüfende Wissensposition ist ja eine vorgegebene philosophische Theorie, in der etwas für letztlich wahr und seiend gehalten wird; insofern ist die zu prüfende Wissensposition in beiden Beschreibungen eine fürwahrhaltende Relation. Nun ist Hegels Prüfungsbeschreibung eine schematische, in der exemplarisch die Prüfung einer einzelnen Position beschrieben wird und die sich entsprechend nur auf zwei Wissenspositionen bezieht. Hegel konzipiert die phänomenologische Darstellung aber insgesamt als eine Reihe von Prüfungsschritten, die in ihrer Abfolge einen Wissensweg bilden: als Entwicklungsreihe einer Vielzahl von aufeinander aufbauenden Wissenspositionen, die in einem prüfenden Verhältnis zueinander stehen. Sieht man vom Anfang und Ende des phänomenologischen Wissensweges ab, gibt es also zu jeder geprüften und prüfenden Wissensposition vorhergehende und nachfolgende Wissenspositionen. Stellt man sich vor, dass der geprüften Relation in Hegels Prüfungsbeschreibung – dem »Bewusstsein des Gegenstandes« – Wissensrelationen vorhergehen, kann auch diese Relation in zweifacher Hinsicht beschrieben werden.

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

Betrachtet man den vorhergehenden Prüfungsschritt, kann sie dem dritten Bewusstseinssatz gemäß ihrerseits als prüfende Wissensrelation beschrieben werden, die auf eine ihr auf dem phänomenologischen Wissensweg vorhergehende Wissensrelation bezogen ist. Stellt man sich umgekehrt vor, dass der prüfenden Relation in Hegels Prüfungsbeschreibung – das »Bewusstsein des Wissens davon« – weitere Relationen auf dem Wissensweg nachfolgen und betrachtet den nächsten Prüfungsschritt, kann sie dem dritten Satz gemäß ihrerseits als geprüfte Wissensrelation beschrieben werden, auf die sich prüfend eine nachfolgende Wissensrelation, ein nachfolgendes »Bewusstsein des Wissens davon«, bezieht. Abgesehen von der ersten und letzten Relation der phänomenologischen Darstellung kann so jede einstellige Relation – jedes »Bewusstsein von Etwas« – in zweifacher Hinsicht beschrieben werden: Dasjenige, was in der Beschreibung des dritten Satzes jeweils eine prüfende Relation ist, die auf eine ihr auf dem phänomenologischen Wissensweg vorhergehende Wissensrelation bezogen ist, ist in der Beschreibung des zweiten Satzes eine fürwahrhaltende Relation, der die vorhergehende Wissensrelation als Wahrheitsinhalt gegeben ist.59 Umgekehrt formuliert: Das, was mittels des zweiten Satzes als fürwahrhaltendes Bewusstsein eines Gegenstandes (und d. h. als individuelle Wissensposition) beschrieben werden kann, kann jeweils mittels des dritten Satzes als prüfendes Bewusstsein einer von ihm unterschiedenen, ihm auf dem Wissensweg vorhergehenden Wissensrelation (und d. h. als Verhältnis von Wissenspositionen) beschrieben werden.60 59

Die mit den beiden Bewusstseinssätzen beschriebenen Aspekte der Darstellung verhalten sich insofern nicht komplementär zueinander, sondern betreffen zwei (der natürlichen und der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive analoge) perspektivische Gegebenheitsweisen der Darstellung: Diejenigen Elemente, die nach dem zweiten Bewusstseinssatz das Wahrheits- und Wissensmoment einer Wissensposition bzw. -relation ausmachen, bilden in der Beschreibung des dritten Satzes zwei Wissenspositionen bzw. -relationen: eine geprüfte und eine prüfende. Es handelt sich insofern nicht um Beschreibungen zweier verschiedener Sachverhalte, die in derselben Beschreibungsperspektive oder -dimension zu einem vollständigen Bild zusammengesetzt werden könnten, sondern um alternative Beschreibungen desselben Sachverhalts, die zusammen eine vollständige Erfassung dieses Sachverhalts als wesentlich perspektivisch bzw. narrativ janusköpfig erlauben. 60 So kann auch erklärt werden, was der Ursprung des »Etwas« im zweiten Bewusstseinssatz (›das Bewusstsein unterscheidet etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht‹) ist: das, was dem zweiten Satz gemäß ein Etwas, ein Wahrheitsinhalt ist, ist dem dritten Satz gemäß die vorhergehende Wissensrelation. Das »Etwas« ist also nichts, das unabhängig vom Bewusstsein bestünde (zur Kritik dieser Auffassung vgl. 6.2.2.1), sondern etwas vom Bewusstsein Hervorgebrachtes, eben »Wissen«. Für diese Interpretation spricht auch die Tatsache, dass Hegel bei der Explikation des zweiten Bewusstseinssatzes das Wahrheitsmoment nicht als »seiend auch außer dieser Beziehung«, sondern als »gesetzt [!] als

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In der Beschreibung des dritten Satzes präsentiert sich die phänomenologische Darstellung, anders als in der Beschreibung des zweiten Satzes, nicht als Reihe von individuellen, isosthenen Wissenspositionen, sondern als zusammenhängender Wissensweg, auf dem jede nachfolgende Wissensposition sich kritisch auf die vorhergehende bezieht. Dadurch aber, dass sich die Beschreibungen des zweiten und dritten Satzes auf dieselben relationalen Strukturen beziehen, kann der dritte Satz vollständig auf die durch den zweiten Satz repräsentierte isosthene Dimension der Darstellung legitimatorisch abgebildet werden.61 Wie deutlich geworden sein mag, sind die Beschreibungen des zweiten und dritten Satzes allerdings »verschoben«: Dasjenige, was dem dritten Satz zufolge eine prüfende Relation ist, bezieht sich nicht kritisch auf sich als fürwahrhaltende Relation, als die es dem zweiten Satz gemäß beschrieben werden kann, sondern auf die vorhergehende fürwahrhaltende Relation, die mit der prüfenden Relation nicht identisch ist, sondern ihr vorausgeht. Konzipierte man das Verhältnis beider Beschreibungen so, dass sie nicht verschoben sind, könnte man Hegels Prüfungsbeschreibung nicht auf ein Verhältnis von verschiedenen Positionen beziehen: die prüfende Relation müsste nun so gedacht werden, dass sie sich innerhalb einer Wissensposition auf die fürwahrhaltende Relation bezieht. Dies hätte erstens zur Folge, dass eine prüfende Relation nicht mehr legitimatorisch auf eine fürwahrhaltende abgebildet werden könnte; die phänomenologische Prüfung könnte nun also nicht mehr legitimatorisch durch das erscheinende Wissen ausgewiesen werden. Zweitens müsste man die Prüfung nun so konzipieren, dass sie zumindest partiell dem Bewusstsein epistemisch transparent wird: das Wissen und damit auch die Wissensveränderung müsste ja nun als etwas gedacht werden, das für das Bewusstsein innerhalb einer Wissensposition gegeben ist. Damit müsste man unterstellen, dass jede Wissensposition (zumindest teilweise) über ein explizites kritisches Wissen um die eigene Inkonsistenz verfügt. Dies scheint mir unplausibel. Denn man wird kaum ohne philosophische Annahmen voraussetzen können, dass alle nicht-Hegelsche Positionen über ein solches Wissen verfügen.

seyend auch ausser dieser Beziehung« (GW 9, 58) charakterisiert hatte; vgl. Cramer 1978, 381–382. In der hier vertretenen Deutung ist diese »Setzung« als (metatheoretisch beschriebener) Vorgang zu interpretieren – er wird unten als »Reifizierung« näher bestimmt werden –, aufgrund dessen dem Bewusstsein etwas als ein intentionaler Wahrheitsinhalt gegeben wird, der nicht mehr als relationale Struktur durchsichtig ist; vgl. dazu die Ausführungen zur Reifizierung in 6.2.3.3. 61 Wie dieses Abbildungsverhältnis genauer beschaffen ist, wird in 6.2.4 ausgeführt.

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

6.2.3.3 Hegels Prüfungserklärung Nachdem nun das Verhältnis des dritten zum zweiten Satz geklärt ist, muss Hegels Prüfungsthese genauer untersucht werden. Denn noch ist ungeklärt, wie es überhaupt zur Prüfung kommt, d. h. warum einer bestimmten Position überhaupt eine weitere Position nachfolgt, die sich dem dritten Satz gemäß auf sie als prüfende bezieht. Hegel erklärt das Zustandekommen der Prüfung folgendermaßen: Entspricht sich in dieser Vergleichung [der Prüfung] beydes [das Wahrheits- und das Wissensmoment der geprüften Wissensposition] nicht, so scheint das Bewußtseyn sein Wissen ändern zu müssen, um es dem Gegenstande gemäß zu machen, aber in der Veränderung des Wissens ändert sich ihm in der That auch der Gegenstand selbst; denn das vorhandene Wissen war wesentlich ein Wissen von dem Gegenstande; mit dem Wissen wird auch er ein anderer, denn er gehörte wesentlich diesem Wissen an. Es wird hiemit dem Bewußtseyn, daß dasjenige, was ihm vorher das an sich war, nicht an sich ist, oder daß es nur für es an sich war (GW 9, 60). In dem mit »scheint« eingeleiteten Teilsatz wird m. E. – wie in der Einleitung meistens im Falle von mit »scheint« eingeleiteten (Teil-)Sätzen62 – eine irrtümliche Ansicht des Bewusstseins beschrieben, nämlich eine (im Vergleich zu Hegels eigener Prüfungskonzeption alternative) defiziente Prüfungskonzeption, wie diese als (Teil des) Wahrheitsinhalt(s) in einer oder mehreren Bewusstseinsgestalten in der natürlichen Interpretationsperspektive des Bewusstseins gegeben ist.63 Hegel geht in seiner Erklärung des Prüfungsprozesses von einer Situation aus, in der das Wahrheits- und das Wissensmoment einer geprüften Wissensposition sich nicht entsprechen und folglich mit einem negativen Prüfungsre62

Vgl. M. Theunissen 1978, 329 f. und Heidegger 1993, 79. Die hier beschriebene Ansicht scheint mir genauer zurückzuverweisen auf die von Hegel am Anfang der Einleitung beschriebene neuzeitlich-kantische Prüfungskonzeption: die in 5.2 analysierte »natürliche Prüfungskonzeption«, die dort (hinsichtlich ihrer Prüfungskomponente) als zu Hegels metaphilosophischer Konzeption der Phänomenologie alternative, defiziente metaphilosophische Konzeption charakterisiert wurde. Bezogen auf die Ausführungen im ersten Absatz der Einleitung kann das, was Hegel hier (im dreizehnten Absatz) defizienten Prüfungskonzeptionen als eigene Prüfungskonzeption entgegensetzt, folgendermaßen formuliert werden: bereits dadurch, dass man das Absolute mittels einer anderen philosophischen Erkenntnisart zu erfassen versucht, hat sich das Absolute geändert; es ist eben nicht als etwas zu verstehen, das unabhängig von unserer Erkenntnis gegeben ist. Deshalb gilt es, jeweils das Verhältnis von Erkenntnisart und Absolutem – die Wissensrelation und das, was in dieser Relation als »Wahrheit« gegeben ist – zu prüfen. 63

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sultat zu rechnen ist. Der defizienten Ansicht zufolge hat die Prüfung in dieser Situation darin zu bestehen, dass das Bewusstsein seine Wissensstruktur so ändert, dass sie identisch wird mit dem, was ihm in dieser Wissensstruktur epistemisch gegeben ist, d. h. mit dem »Gegenstand« der geprüften Wissensposition. Hegel setzt dem entgegen: Bereits durch die Wissensveränderung ändert sich (in dem vorausgesetzten Fall der Nicht-Identität von Wahrheitsund Wissensmoment der geprüften Position) auch das, was dem Bewusstsein als Inhalt gegeben ist: durch die Wissensveränderung ist ihm nicht mehr das »Ansich«, d. h. der »Gegenstand« der geprüften Wissensposition, sondern das »Für-es-Sein des Ansich«, d. h. das »Bewusstsein des Gegenstandes«: die geprüfte Position selbst, gegeben. Demgegenüber wird man annehmen dürfen, dass keine Wissensveränderung stattfindet, wenn Wahrheits- und Wissensmoment identisch sind. Dem »Für-es-Sein des Ansich« entspricht m. E. in Hegels Prüfungsbeschreibung das »Wissen davon« in der prüfenden »Bewusstsein des Wissens davon«-Relation. So verstanden besteht die Prüfung, d. h. die Wissens- und Inhaltsveränderung, schlicht darin, dass überhaupt eine prüfende Wissensrelation entsteht, die einer geprüften Wissensposition, einem »Bewusstsein des Gegenstandes«, als »Bewusstsein des Wissens davon«, welches Bewusstsein die geprüfte Wissensposition zu seinem Inhalt macht, nachfolgt. Ändert sich das Wissen, ist das Bewusstsein also der hier vertretenen Deutung zufolge schon in eine neue Wissensposition übergegangen. Mit dieser Änderung ist unmittelbar (in der neuen Wissensposition) auch das Prüfungsresultat gegeben: es ist nichts anderes als das »Für-es-Sein des Ansich«. Beschreibt man die Wissens- und die Inhaltsveränderung aus der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive des dritten Bewusstseinssatzes, bieten sie sich folgendermaßen dar: Die Wissensveränderung besteht darin, dass das »Bewusstsein des Gegenstandes« sich (in einer neuen Wissensposition) in ein »Bewusstsein des Wissens davon«, d. h. in ein Bewusstsein des »Bewusstseins des Gegenstandes« verwandelt oder, anders formuliert, das Bewusstsein des »Ansich« sich in ein Bewusstsein des »Für-es-Seins des Ansich« ändert. Mit der Wissensveränderung geht unmittelbar eine Inhaltsveränderung einher: durch die Wissensveränderung ist dem Bewusstsein (in einer neuen Wissensposition) nicht mehr der »Gegenstand«, sondern das »Wissen des Gegenstandes«, nicht mehr das »Ansich«, sondern das »Für-esSein des Ansich« als Inhalt gegeben. Wie in 6.2.3.2 dargelegt wurde, kann das, was dem dritten Bewusstseinssatz gemäß »Wissen« ist, dem zweiten Satz gemäß als Wahrheitsinhalt oder »Gegenstand« beschrieben werden. Bezogen auf Hegels Prüfungserklärung heißt dies: das »Für-es-Sein des Ansich« ist dem dritten Satz gemäß eine

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

geprüfte Wissensposition, die zum Inhalt einer prüfenden Wissensrelation geworden ist, dem zweiten Satz gemäß ist es ein neuer Wahrheitsinhalt oder »Gegenstand«, der Inhalt einer (neuen) fürwahrhaltenden Wissensrelation, eben der prüfenden Relation in alternativer Beschreibung, ist; das Für-esSein des Ansich und der neue Gegenstand einerseits und die prüfende und die (neue) fürwahrhaltende Wissensrelation andererseits sind also identische relationale Strukturen, die lediglich unterschiedlich beschrieben werden. Insofern dem Bewusstsein das »Für-es-Sein des Ansich«, d. h. das Prüfungsresultat, (in einer neuen Wissensposition) nur als »Gegenstand« epistemisch transparent wird, kann man die durch die Wissensveränderung bewirkte Inhaltsveränderung auch als »Gegenstandsveränderung« bezeichnen. Dass das »Für-es-Sein des Ansich« und der neue »Gegenstand« identisch sind (und mit ersterem also bereits das Prüfungsresultat vorliegt), wird im weiteren Verlauf der Einleitung von Hegel mehrmals bestätigt. So heißt es: »Wir sehen, daß das Bewußtseyn itzt [nach Ablauf der Prüfung] zwey Gegenstände hat, den einen [in der geprüften Wissensposition] das erste an sich, den zweyten [in der prüfenden Wissensposition], das für es seyn dieses an sich« (GW 9, 60); der zweite, neue Gegenstand ist für Hegel also das »Für-esSein des Ansich«.64 Auch die These, dass das »Für-es-Sein des Ansich« dem Bewusstsein nur als »Gegenstand« epistemisch transparent wird, lässt sich aufgrund des Hegelschen Textes leicht erhärten: Der »Inhalt […] dessen, was uns [in der Prüfung] entsteht [d. h. das »Für-es-Sein des Ansich«], ist für es [das Bewusstsein]«; aber nur »wir begreiffen […] das formelle desselben, oder sein reines Entstehen; für es ist diß entstandene nur als Gegenstand« (GW 9, 61). Das »Für-es-Sein des Ansich« ist also nur »für uns« in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive als relationale Struktur durchsichtig, »für es«, d. h. in der natürlichen Interpretationsperspektive des Bewusstseins, wird »diß entstandene«, d. h. der durch die Prüfungsbewegung entstandene neue Inhalt: das »Für-es-Sein des Ansich«, nur als »Gegenstand« epistemisch transparent.65 Hegel sagt schließlich explizit, dass dieser neu entstandene Gegenstand dem Bewusstsein in einer neuen Wissensposition gegeben ist: mit dem neuen Gegenstand »[tritt] eine neue Gestalt des Bewußtseyns auf[…], welcher etwas anderes das Wesen [d. h. der Gegenstand] ist, als der [auf dem phänomenologischen Wissensweg] vorhergehenden« (GW 9, 61). Die Deutung der Bewusstseinsgegebenheit des »Für-es-Seins des Ansich« als reflexive Einsicht des Bewusstseins in das »Für-es-Sein des Ansich« wird von Hegel dagegen ausdrücklich als irrtümliche Prüfungskonzeption des 64 65

Vgl. auch GW 9, 60, Zeile 37–39 und GW 9, 61, Zeile 14–18. Vgl. GW 9, 61, Zeile 3–7 und 19–27; vgl. auch 6.2.4.2.

Die bewusstseinstheoretische Explikation der Darstellungskonzeption

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natürlichen Bewusstseins (in einer seiner Gestalten) zurückgewiesen: dieser irrtümlichen Ansicht scheint es, dass das »Für-es-Sein des Ansich« die »Reflexion des Bewußtseyns in sich selbst […], ein Vorstellen, nicht eines [neuen] Gegenstandes, sondern nur seines Wissens von jenem ersten« (GW 9, 60) ist, aber bereits dadurch, dass das »Für-es-Sein des Ansich« dem Bewusstsein gegeben ist, ist auch schon ein neuer Gegenstand gegeben.66 Der Hegelsche Text scheint mir insofern auch keine Anhaltspunkte für die Interpretationsthese zu bieten, dass die Prüfung ein komplexer Vorgang sei, der in mehreren Phasen ablaufe:67 bereits dadurch, dass das Wissen sich ändert, ist (in einer neuen Wissensposition) ein Prüfungsresultat gegeben und die Prüfung zum Abschluss gelangt. Die Prüfung fällt also vollständig mit der Wissensveränderung und der durch sie unmittelbar bewirkten Gegenstandsveränderung zusammen. Die Annahme, dass das Wissen sich ändert und durch diese Veränderung unmittelbar eine Gegenstandsveränderung bewirkt, – d. h. in der hier vertretenen Deutung: eine neue prüfende Wissensrelation mitsamt neuem Inhalt entsteht –, wenn das Wahrheits- und das Wissensmoment einer geprüften Wissensposition nicht identisch sind, wird von Hegel allerdings nicht weiter begründet.68 Wissens- und Gegenstandsveränderung werden aber verständlich, wenn angenommen wird, dass Hegel an dieser Stelle seinen ersten Bewusstseinssatz voraussetzt, dem zufolge das Bewusstsein eine Struktur ist, die über die intrinsische Eigenschaft verfügt, sich jeweils neu auszudifferenzieren, wenn sie sich nicht erfolgreich auf das bezieht, was sie als relationale Struktur eigentlich ist: wenn das, was dem Bewusstsein (in einer seiner Instanziierungen) epistemisch gegeben ist, und die Beziehungsstruktur, in der es ihm epistemisch gegeben ist, nicht übereinstimmen, differenziert es sich (in einer neuen Bewusstseinsinstanziierung bzw. Wissensposition) als neue 66

Vgl. GW 9, 60, Zeile 25–30. In den Deutungen, die (in Bezug auf einzelne Wissenspositionen bzw. Bewusstseinsgestalten) ein mehrphasiges Prüfungsmodell ansetzen, variiert die Anzahl der angenommenen Schritte. Als Beispiel eines zweiphasigen Modells sei Claesges 1981, 83 ff. genannt (der allerdings diese Unterscheidung im weiteren Verlauf seiner Ausführungen z. T. wieder zurücknimmt), als Beispiel eines dreiphasigen Modells Iber 2006, 131 ff. und als Beispiel eines vierphasigen Modells Schlösser 1996, 454 ff.; vgl. auch K. Westphal 1989, 115 ff. und Graeser 1988, 139 ff. 68 Nimmt man (im Rahmen eines mehrphasigen Prüfungsmodells) an, dass das, was in dem mit »scheint« eingeleiteten Teilsatz dargelegt wird, Teil ist von Hegels eigener Prüfungskonzeption, geht der Wissensveränderung noch ein Feststellen der Nichtübereinstimmung von »Wahrheit« und »Wissen« seitens des Bewusstseins voraus. Hierdurch verschiebt sich jedoch lediglich das Problem, denn auch im Rahmen dieser Lesart wird eine mit diesem Feststellen korrelierende Veränderung der Wissensstruktur angenommen werden müssen, bezüglich der wiederum fraglich ist, wie sie zustandekommt. 67

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

Beziehungsstruktur aus, mittels der es »sich« – d. h. das, was es als beziehende Struktur wirklich ist – epistemisch zu erfassen versucht. Wenn ihm dabei im Rahmen dieses Selbsterfassungsversuchs zwar der erfolgreiche Bezug auf das gelingt, was es als Beziehungsstruktur war, es aber durch seine Selbstdifferenzierung erneut eine Differenz zu dem erzeugt, was ihm nun epistemisch gegeben ist, geht es erneut »über sich hinaus« – differenziert es sich erneut in einer neuen Wissensposition aus, und dies solange, bis es sich als das erfasst, was es als relationale Struktur wirklich ist. In Rekurs auf die Bestimmungen des ersten Satzes kann Hegels dritter Satz nun folgendermaßen verständlich gemacht werden: Wenn das Wahrheitsund das Wissensmoment einer geprüften Wissensrelation – eines »Bewusstseins des Gegenstandes« – nicht übereinstimmen, besteht die Prüfung schlicht darin, dass sich das Bewusstsein als neue einstellige prüfende Wissensrelation – als »Bewusstsein des Wissens davon« – ausdifferenziert, deren Inhalt die dem Bewusstsein als »Gegenstand« gegebene alte Wissensrelation (das »Bewusstsein des Gegenstandes« oder »Für-es-Sein des Ansich«) mitsamt ihrem Inhalt ist. Erzeugt es durch diesen Selbstdifferenzierungsschritt, d. h. durch seine Ausdifferenzierung als neue prüfende Relation (erneut) eine qualitative Differenz zwischen dem, was Inhalt der prüfenden Relation ist (das »Bewusstsein des Gegenstandes« bzw. das »Für-es-Sein des Ansich«), und der prüfenden Relation (das Bewusstsein des »Für-es-Seins des Ansich«), und d. h. dem zweiten Bewusstseinssatz gemäß: stimmen das Wahrheitsund Wissensmoment dieser (zweiten) Relation wiederum nicht überein, wiederholt sich der Prüfungsvorgang: das Bewusstsein differenziert sich in einem nachfolgenden Prüfungsschritt erneut als (dritte) einstellige prüfende Wissensrelation aus, zu deren Inhalt die vorhergehende (zweite) Relation wird, d. h. die vorhergehende prüfende Relation, die nun als »Bewusstsein des Gegenstandes« die Rolle der geprüften Relation innehat. Auf diese Weise geht das Bewusstsein in immer neuen Prüfungsschritten »über sich hinaus« – differenziert es sich immer erneut als prüfende Relation aus –, bis es durch seine Selbstdifferenzierung keine Differenz zu seinem Inhalt mehr erzeugt. Diese Deutung gilt es nun zu präzisieren, indem hinsichtlich des (sich selbst epistemisch verfehlenden) prüfenden Bewusstseins zwei Funktionsmomente unterschieden werden, die zusammen die »Prüfungsaktivität« des Bewusstseins ausmachen: eine Selbstdifferenzierungsfunktion und eine Reifizierungsfunktion; erstere Funktion erklärt, wie die Wissensveränderung, letztere, wie die Gegenstandsveränderung zustandekommt.69 Dabei sei betont, dass beide Funktionen vom prüfenden Bewusstsein nicht unabhängig 69

Zur Berechtigung der Annahme dieser Funktionen vgl. 6.2.4, insbesondere 6.2.4.3.

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voneinander ausgeübt werden können: es handelt sich um eine analytische Unterscheidung. Wie in 6.2.1 ausgeführt wurde, denkt Hegel den Prozess des »Übersichhinausgehens des Bewusstseins«, d. h. in Bezug auf den dritten Bewusstseinssatz: den Prozess der Ausdifferenzierung in immer neue prüfende Relationen, als Prozess der internen Selbstdifferenzierung des Bewusstseins, im Zuge dessen sich das Bewusstsein durch negative Selbstbezüge jeweils als qualitativ Anderes reproduziert. Die Selbstdifferenzierungsfunktion des Bewusstseins kann aufgrund dieser Bestimmung nun folgendermaßen verständlich gemacht werden: sie besteht darin, dass sich das Bewusstsein jeweils dann, wenn das Wahrheits- und das Wissensmoment einer vorgegebenen, geprüften Relation nicht übereinstimmen, als neue einstellige prüfende Wissensrelation ausdifferenziert, mittels derer es sich dem, was Inhalt dieser neuen Relation ist, d. h. der geprüften Relation, als Anderes seiner selbst – als Gegenteil der geprüften Relation, als »für es« oder »nicht« die geprüfte Relation – entgegensetzt. Durch diese Selbstdifferenzierungsoperation erzeugt das Bewusstsein eine qualitative Differenz zwischen der prüfenden Relation und ihrem Inhalt, der geprüften Relation. Beschreibt man die prüfende Relation dem zweiten Satz gemäß als fürwahrhaltende Relation, kann man auch sagen: das Bewusstsein erzeugt aufgrund seiner Selbstdifferenzierungsfunktion eine NichtIdentität zwischen dem Wahrheits- und dem Wissensmoment dieser neuen (der geprüften fürwahrhaltenden Relation nachfolgenden) fürwahrhaltenden Relation.70 Auf diese Weise erzeugt die Selbstdifferenzierungsfunktion des Bewusstseins immer neue Wissenspositionen oder -relationen, deren Wahrheits- und Wissensmoment nicht identisch sind. Die im ersten Bewusstseinssatz gemachte Annahme, dass das Bewusstsein sich im Zuge seiner Ausdifferenzierung nicht bloß als numerisch, sondern als qualitativ verschiedene Struktur reproduziert, wird von Hegel nicht weiter begründet, sondern, wie bereits in 6.2.1 erwähnt, schlicht vorausgesetzt. Wie im Einzelnen in 9.2 ausgeführt wird, ist diese Annahme jedoch berechtigt, wenn aufgrund der gleichen singulären Prüfungsaktivität einer »Bewusstsein« genannten metaphilosophischen Struktur verständlich gemacht werden soll, wie eine qualitative Verschiedenheit von isosthenen Wahrheitsauffassungen zustandekommt. 70

Die Begriffe der »Nicht-Identität«, der »(qualitativen) Differenz« und des »widersprüchlichen Verhältnisses« verwende ich in dieser Arbeit synonym: Sie alle bezeichnen die Differenz zwischen einer (einstelligen) Relation und ihrem Inhalt. Diese Differenz ist dem zweiten Bewusstseinssatz gemäß die qualitative Differenz zwischen dem Wissensmoment und dem Wahrheitsmoment einer einzelnen Wissensposition bzw. -relation, dem dritten Satz gemäß die qualitative Differenz zwischen einer prüfenden und einer geprüften Wissensposition bzw. -relation.

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Hegels Bewusstseinstheorie als metaphilosophische Theorie

Die Selbstdifferenzierungsfunktion des prüfenden Bewusstseins ist für die Transition von Bewusstseinsinstanziierung zu Bewusstseinsinstanziierung, d. h. von Wissensposition zu Wissensposition, und die Erzeugung von qualitativer Differenz verantwortlich. Ein weiterer Aspekt von Hegels Prüfungsthese kann durch die Selbstdifferenzierungsfunktion jedoch nicht erklärt werden: die Tatsache, dass eine prüfende Relation zugleich immer auch als fürwahrhaltende Relation, d. h. als intentionaler Beziehungsakt beschreibbar sein soll. Soll diesem Aspekt Rechnung getragen werden, müssen insbesondere zwei Anforderungen erfüllt sein: Eine prüfende Relation darf sich erstens nicht auf die eigene relationale Beziehungsstruktur beziehen, sondern muss auf eine »fremde«, von ihr verschiedene relationale Struktur bezogen sein; nur dann ist sie, wie am Ende von 6.2.3.2 ausgeführt wurde, sowohl als prüfende als auch als fürwahrhaltende Relation beschreibbar. (Die Beschreibungen des zweiten und dritten Bewusstseinssatzes müssen zu diesem Zweck »verschoben« sein.) Der prüfenden Relation darf diese »fremde« relationale Struktur zweitens nicht als relationale Struktur epistemisch transparent werden, sondern sie muss ihr epistemisch opak bleiben; als intentionaler Beziehungsakt muss eine fürwahrhaltende Relation ja als bloße »Gegebenheit-von…«Struktur beschreibbar sein, bezüglich der offen bleibt, wie das, was für wahr gehalten wird, näher beschaffen ist. Das heißt im Rahmen der bisherigen Ausführungen: Man wird erstens annehmen müssen, dass das Bewusstsein das, was es durch Selbstdifferenzierung jeweils hervorbringt, im Selbstverfehlungsfall nicht in der (prüfenden) Relation erfasst, zu der es sich aktuell ausdifferenziert hat, sondern immer erst in einer nachfolgenden, von der aktuellen verschiedenen (prüfenden) Relation, die es durch eine erneute Selbstdifferenzierungsoperation hervorbringt. Und man wird zweitens annehmen müssen, dass das, was es in der jeweils nachfolgenden Relation erfasst, ihm als relationale Struktur opak bleibt. Beiden Anforderungen trägt Hegel durch das zweite Funktionsmoment, die Reifizierungsfunktion des prüfenden Bewusstseins, Rechnung: Der ersten Anforderung durch die Annahme, dass eine prüfende Relation diese Funktion nicht auf diejenige qualitative Differenz ausübt, die sie kraft ihrer Selbstdifferenzierungsfunktion aktuell erzeugt (hat) – d. h. die Differenz zwischen der prüfenden Relation und ihrem Inhalt –, sondern auf dasjenige, was durch die Ausübung dieser Funktion zum Inhalt der prüfenden Relation wird bzw. geworden ist: die qualitative Differenz, die eine vorhergehende prüfende Relation in einem vorhergehenden Prüfungsschritt und im Rahmen einer vorhergehenden Selbstdifferenzierungsoperation zwischen sich und ihrem

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Inhalt (der vorhergehenden geprüften Relation) erzeugt hat. Die durch das Bewusstsein erzeugten qualitativen Differenzen, das jeweilige »Für-es-Sein des Ansich«, werden dem Bewusstsein also immer erst ›verspätet‹ bekannt. Der zweiten Anforderung genügt Hegel mit der Annahme, dass die qualitative Differenz zwischen einer vorhergehenden Relation und ihrem Inhalt durch ihre Reifizierung dem (aktuell prüfenden) Bewusstsein nicht als das epistemisch transparent wird, was sie als relationale Struktur eigentlich ist, sondern ihm in verstellter Form als »Gegenstand« ›bekannt‹ wird. Durch die Reifizierung ist die vorhergehende prüfende Relation (mitsamt ihrem Inhalt) dem aktuell prüfenden Bewusstsein so gegeben, dass sie als intentionaler Wahrheitsinhalt beschreibbar ist, der für die unterschiedlichsten Wahrheitsinterpretationen stehen kann: ein Wahrheitsinhalt, in den das Bewusstsein vollständig versunken ist und von dem insofern nur metatheoretisch gesagt werden kann, dass er im Verhältnis zur alten Wissensrelation »neu« ist.71 Kurz: Die vorhergehende prüfende Relation ist dem zweiten Satz gemäß als fürwahrhaltende Relation beschreibbar. Der reifizierte Inhalt wird in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive, also dem dritten Satz gemäß, dagegen als relationaler Zusammenhang durchsichtig. Auch in dieser Perspektive ist die Differenz zwischen der vorhergehenden prüfenden Relation und ihrem Inhalt, das »Für-es-Sein des Ansich«, ein neuer Sachverhalt: Indem die vorhergehende Relation nicht isoliert gegeben ist, sondern in Zusammenhang mit dem, was ihr als Wahrheitsinhalt gegeben war – genauer: als (im Falle der Selbstverfehlung) »Nicht-Sein des Ansich« – bietet sie sich als neuer relationaler Sachverhalt dar, in dem »Wahrheit« und »Wissen« der vorhergehenden Wissensposition in integrierter Form vorliegen. Nimmt man beide Funktionen zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Wenn das Wahrheits- und das Wissensmoment einer geprüften Relation (das »Bewusstsein des Gegenstandes«) nicht identisch sind, entsteht eine neue prüfende Relation (ein »Bewusstsein des Wissens davon«), welche (i) kraft ihrer Selbstdifferenzierungsfunktion zwischen sich und ihrem Inhalt, also zwischen der prüfenden und der geprüften Relation, eine (neue) qualitative Differenz erzeugt, und (ii) kraft ihrer Reifizierungsfunktion die (bereits 71

Ein »Gegenstand« ist in der hier vertretenen Deutung ein terminus technicus für das, was in einer philosophischen Wissensposition jeweils für letztlich wahr und seiend gehalten wird. Das, was für wahr und seiend gehalten wird, kann auch etwas sein – so etwa in den im Selbstbewusstseinskapitel thematisierten Positionen –, das (u. a. auch) relationale Aspekte hat. Solche Aspekte, die sich in der natürlichen Interpretationsperspektive des Bewusstseins als relational präsentieren, dürfen aber nicht verwechselt werden mit dem, was einer Wissensposition als relationale Struktur zugrundeliegt: diese Struktur bleibt den dargestellten Positionen bis ans Ende der Phänomenologie verborgen.

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bestehende, in einem vorhergehenden Prüfungsschritt erzeugte) qualitative Differenz zwischen der geprüften Relation und ihrem Inhalt reifiziert. Die qualitative Differenz zwischen der aktuell prüfenden (zweiten) Relation und ihrem Inhalt (der ersten Relation mitsamt ihrem Inhalt) wird erst in einer nachfolgenden prüfenden (dritten) Relation reifiziert. Auch für diese nachfolgende (dritte) Relation gilt: sie erzeugt (i) (kraft ihrer Selbstdifferenzierungsfunktion) eine Differenz zwischen sich und ihrem Inhalt (d. h. zwischen der dritten und zweiten Relation) und vergegenständlicht (ii) (kraft ihrer Reifizierungsfunktion) die vorhergehende Relation (= die zweite Relation mitsamt ihrem Inhalt). In der Beschreibung des dritten Satzes präsentiert sich die phänomenologische Darstellung nun wie folgt: Das Bewusstsein erzeugt kraft seiner Selbstdifferenzierungsfunktion immer neue widersprüchliche Verhältnisse zwischen prüfenden Relationen und ihren Inhalten; diese widersprüchlichen Verhältnisse werden dann jeweils im nächsten Prüfungsschritt reifiziert. Während die Darstellung auf der Wissensseite so unverändert bleibt bzw. zu bleiben scheint – das Bewusstsein differenziert sich immer wieder als einstellige Relation aus, als schlichte »Gegebenheit-von…«-Struktur –, präsentiert sich ihre Wahrheitsseite als etwas, das im Laufe der phänomenologischen Wissensentwicklung relational immer komplexer wird, indem immer neue einstellige Relationen in das bisher ausdifferenzierte relationale Gefüge integriert werden. Es sei an dieser Stelle betont, dass die Reifizierung und ihre wissenschaftliche Betrachtung, die Hegel im weiteren Verlauf der Einleitung mittels des Konzepts der bestimmten Negation näher erörtern wird,72 in der hier vertreten Deutung einen nicht-produktiven Charakter hat; mittels ihrer werden ja nur bereits vorhandene Differenzen konstatiert. Die Aufgabe, qualitativ neue relationale Sachverhalte – das jeweilige »Für-es-Sein des Ansich« als bestimmtes Gegenteil des »Ansich« – zu erzeugen, obliegt der Selbstdifferenzierungsfunktion. Sie also trägt in Hegels Prüfungsbeschreibung die eigentliche Beweislast.73 Wie deutlich geworden sein mag, wird in der hier vorgelegten Deutung weder eine Prüfungsbewegung angenommen, die unabhängig von der neuen einstelligen prüfenden Relation, noch ein Prüfungsresultat, das unabhängig von dem neuen Inhalt dieser Relation sichtbar oder beschreibbar wäre; die Prüfung besteht schlicht darin, dass das Bewusstsein sich als neue prüfende Relation ausdifferenziert, deren Inhalt die geprüfte Relation ist. Die Prüfung, und d. h. die kritische Darstellung, wird zwar vom Bewusstsein selbst vollzo72 73

Vgl. dazu den nächsten Abschnitt. Vgl. dazu näher 6.2.4 und 9.2.2.

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gen bzw. geleistet, bleibt ihm aber gleichzeitig vollständig verborgen:74 Sie beinhaltet kein explizites kritisches Urteil seitens des prüfenden Bewusstseins, diesem wird die Prüfung bzw. das Prüfungsresultat ausschließlich als Wahrheitsinhalt bekannt. Entsteht ein neuer Inhalt bzw. Gegenstand und d. h.: hat das Bewusstsein in seiner ihm selbst unbewusst bleibenden darstellerischen Prüfungsaktivität etwas anderes als »Wahrheit« zu Tage gefördert als das, was das dargestellte Wissen für wahr gehalten hat, hat die Prüfung zu einem negativen Ergebnis geführt; nun wird in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive deutlich, dass die vorhergehende (prüfende) Wissensrelation eine Differenz zu ihrem Inhalt erzeugt hat. Entsteht dagegen kein neuer Gegenstand und d. h. resultiert die Prüfung nicht in einer neuen Wissensposition, hat sich die Wahrheit der geprüften Position bestätigt; die Selbstdifferenzierung des Wissens als prüfende Relation hat in diesem Fall keine Differenz zu ihrem Inhalt erzeugt und es liegt insofern keine »Wissensveränderung« vor: das Wissen hat sich als das erfasst, was es als relationale Struktur eigentlich ist. Zusätze (a) Die Frage, ob man am Ende der phänomenologischen Prüfung bzw. Darstellung »Wissensveränderung(en)« annimmt, die nicht zur Gegenstandsveränderung führen, oder in diesem Fall gar nicht mehr von »Wissensveränderung« sprechen will, ist in der hier vertretenen Deutung von rein terminologischem Interesse; in beiden Fällen wird man eine Selbstdifferenzierung des Wissens annehmen müssen, die keine Gegenstandsveränderung mehr bewirkt. Obwohl hier das Ende der Phänomenologie und der Übergang zur Logik nicht ausführlich und unter Einbeziehung der relevanten Texte analysiert werden können, sei doch kurz angedeutet, wie beides genauer zu denken sei. Wenn das Wahrheits- und das Wissensmoment einer geprüften Wissensposition nicht identisch sind und die Prüfung folglich zu einem negativen Resultat führen muss, wird dies erst »verspätet« in einer nachfolgenden Wissensposition konstatiert. Das Ende der phänomenologischen Prüfung wird man daher nicht so denken können, dass auf eine Wissensposition, deren Wahrheits- und Wissensmoment nicht übereinstimmen, unmittelbar eine prüfende Wissensposition mit positivem Prüfungsresultat folgt, die sich in74

In eine (in Bezug auf diesen Aspekt) z. T. ähnliche Richtung scheinen mir Reinhold Aschenberg (vgl. Aschenberg 1976, 233 ff.) und Dina Emundts zu gehen. Laut Emundts wird »der Wechsel von Positionen in der Phänomenologie nicht oder zumindest sehr oft nicht als Resultat eines Begreifens von Seiten des Bewusstseins angesehen« (Emundts 2012, 81); vgl. Emundts 2012, 62.

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sofern vollständig epistemisch erfasst. Es muss ja in der prüfenden Relation noch die der vorhergehenden Relation zugrundeliegende qualitative Differenz konstatiert werden können. Da der Inhalt der zweiten, prüfenden Relation vom Inhalt der ersten, geprüften Relation verschieden ist – dies macht ja den negativen Charakter des Prüfungsresultats aus – gilt hier noch: es findet Inhaltsveränderung statt. Erzeugt die zweite, prüfende Relation nun ihrerseits keine qualitative Differenz zu ihrem Inhalt, wird man diese Inhaltsveränderung nicht im gleichen Sinne wie im bisherigen Verlauf der Phänomenologie als »Gegenstandsveränderung« verstehen können: Da die zweite, prüfende Relation sich in diesem Fall nicht in dem Sinne ausdifferenziert, dass sie sich ihrem Inhalt (der ersten Relation) entgegensetzt und sich insofern von ihm unterscheidet, erfasst sie das vorhergehende Wissen als das, was es als relationale Struktur wirklich ist, nämlich als etwas, das sich auf seinen Wahrheitsinhalt bezieht und im Rahmen dieses Bezugs durch negative Entgegensetzung selbst hervorgebracht hat. Hiermit ist aber nur die Unwahrheit der letzten inkonsistenten (und d. h. »regulären«) Position der Phänomenologie (nun: explizit) erkannt, noch ist die phänomenologische Prüfung nicht abgeschlossen. Die letzte Prüfungshandlung besteht in einer weiteren Selbstdifferenzierung des Wissens als einstellige prüfende Relation, die sich auf die zweite, prüfende Relation – die, die noch Nicht-Identität feststellte, selbst aber keine Differenz mehr erzeugte –, bezieht und dabei ebenfalls keine Differenz zwischen sich und ihrem Inhalt (der zweiten Relation) erzeugt. Erst diese dritte Relation bewirkt auch keine Inhaltsveränderung mehr, indem sie vorher erzeugte, aber bisher unerkannt gebliebene Inhaltsveränderung konstatiert. Erst sie führt also zu einem positiven Prüfungsresultat: sie ist nichts anderes als die zweite prüfende Relation, die sich im Zuge ihrer Selbstdifferenzierung als das erfasst, was sie wirklich ist, d. h. als Relation, die sich auf das bezieht, was das erscheinende Wissen wirklich ist. (Die letzte inkonsistente Position, d. h. die letzte Position des erscheinenden Wissens, enthält das Maximum an phänomenologischer Ausdifferenzierung, in ihr sind insofern alle dargestellten Positionen repräsentiert; in der zweiten Relation wird das Verhältnis von »Wissen« zu »Wahrheit«, wie es in dieser letzten Position realisiert war, und damit die dort erzeugte Ausdifferenzierung reflexiv (das Verhältnis liegt nicht mehr in reifizierter Form vor); in der allerletzten Position, die eigentlich keine phänomenologische, sondern eine logische ist, wird dieses Reflexivgewordensein schließlich explizit erkannt.) Ab der zweiten bzw. dritten Relation ändert sich das Wissen nicht mehr in dem für die phänomenologische Prüfungssituation konstitutiven Sinne, dass es im Zuge weiterer Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung etwas völlig anderes als Wahrheit erfasst. Das heißt für Hegel aber nicht, dass die Wissensstruktur keiner

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weiteren relationalen Ausdifferenzierung mehr fähig ist: Wie in 9.3. ausführlicher dargelegt wird, konzipiert Hegel dasjenige, was im System als Resultat der phänomenologischen Entwicklung zu thematisieren ist, vielmehr als etwas, das sich seinerseits in einem Entwicklungsprozess relational ausdifferenziert. Die postphänomenologische Ausdifferenzierung des (nun nicht mehr »erscheinenden«, sondern »absoluten« bzw. »reinen«) Wissens erzeugt aber keine Differenz mehr zu dem, als was sich das sich ausdifferenzierende Wissen weiß; man könnte aus phänomenologischer Sicht sagen: der Ausdifferenzierungsprozess findet innerhalb des (nun ja mit dem Wissensmoment identischen) Wahrheitsmoments statt; dasjenige, das sich ausdifferenziert, weiß jederzeit um seine Ausdifferenzierung(saktivität). Dadurch, dass das Wissen um seine eigene Entwicklung weiß, fällt es zudem nicht mehr in verschiedene Wissenspositionen auseinander, sondern bildet eine einzige Wissensposition, die in sich differenziert ist bzw. dadurch ausgezeichnet ist, dass sie sich ausdifferenziert. Insofern findet hier keine »Wissensveränderung« im phänomenologischen Sinne mehr statt, sondern das am Ende der Phänomenologie vorliegende Wissen ist vielmehr ein solches, das die invariante Eigenschaft hat, »relational veränderlich« zu sein. (b) In der hier vertretenen Deutung wird das Prüfungsresultat, d. h. die Inkonsistenz einer Position, nicht innerhalb der geprüften, sondern immer erst in der nachfolgenden, prüfenden Position bekannt. Die phänomenologische Prüfung kann also nicht in dem Sinne als »immanente« Form von Kritik verstanden werden, dass Positionen oder Vertreter von Positionen mit den Mitteln, die innerhalb dieser Positionen zur Verfügung stehen, von der Inkonsistenz dieser Positionen überzeugt werden sollen. Eine solche »positionsinterne« Lesart immanenter Kritik wird zwar oft vertreten – so etwa von Konrad Cramer oder Michael Forster –, es kann aber m. E. im Rahmen dieser Lesart nicht verständlich gemacht werden, wie es aufgrund (des expliziten Vortrags) dieser Kritik zur Transition zu einer neuen Position kommt. Es ist sicherlich möglich, mit den Mitteln einer Position kritische Argumente für deren Inkonsistenz zu formulieren und an diese Position heranzutragen. Definiert man aber mit Hegel eine Position dadurch, dass Bestimmtes für wahr gehalten wird, können diese Argumente nur dann tatsächlich überzeugend sein, d. h. nur dann eine Veränderung der bisherigen Überzeugungen darüber, was wahr ist, bewirken, wenn nicht mehr in jeder Hinsicht das, was in dieser Position für wahr gehalten wurde, für wahr gehalten wird und nach Hegelscher Terminologie diese Position sensu strictu also bereits zugunsten einer anderen aufgegeben wurde. Man kann demnach von der Inkonsistenz einer Position nur dann überzeugt sein, wenn man bereits eine an-

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dere Position einnimmt. Hegel nimmt folgerichtig an: ändert sich im Zuge der Prüfung die Struktur des Wissens, hat damit auch schon das, was in der Wissensstruktur als Wahrheitsinhalt gegeben ist, sich geändert, und das Wissen die Transition zu einer neuen Position bereits vollzogen. So wird man nach Hegelschem Verständnis einem Kantianer, der eine nicht-monistische Ontologie auf bestimmte Annahmen bezüglich der Distinktion von »Dingan-sich« und »Erscheinung« basiert, nicht von der Inkonsistenz dieser Annahmen überzeugen können, ohne dass er zuvor seine Position geändert hat; hält er das, was er vertritt, oder vielmehr: gerade noch vertreten hat, für inkonsistent, kann er eo ipso nicht mehr von diesen Annahmen überzeugt sein und muss nun also bereits eine andere Position vertreten, beispielsweise eine monistische Ontologie. Die phänomenologische Prüfung sollte m. E. daher in dem Sinne als »immanente« Form von Kritik verstanden werden, dass es die (dogmatische) Philosophie als übergeordnete Instanz (d. h. für Hegel: die »erscheinende Wissenschaft«) ist, die sich im Laufe ihrer Entwicklung bzw. genealogischen Ausdifferenzierung in immer neue Positionen kritisch auf vorhergehende bezieht. »Immanent« ist diese kritische, den Positionen selbst verborgen bleibende »Überzeugungsarbeit«, weil in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive deutlich wird, dass es dieselbe singuläre Struktur ist, die sich in immer neuen Instanziierungen, d. h. philosophischen Positionen bzw. Theorien kritisch auf sich selbst (die jeweils vorhergehende Instanziierung) bezieht. (Wiederum gilt: diese Deutung ist dann zwingend, wenn das Bewusstsein nicht-mentalistisch als metaphilosophische Bezeichnung für Philosophie interpretiert wird: Adressat der phänomenologischen Kritik sind in diesem Fall ja nicht empirische Subjekte, sondern faktisch (und d. h. für Hegel, wie in 7.1 dargelegt wird, philosophiehistorisch) vorliegende Theorien, von denen gezeigt werden soll, dass sie sich in einem destruktiven Prozess zur Hegelschen Philosophie hin entwickeln.)

6.2.3.4 Resümee Zusammenfassend kann festgehalten werden: Jede Wissensrelation kann insgesamt in drei funktionalen Rollen auftreten bzw. beschrieben werden: (i) als (dem dritten Satz gemäß) prüfende Wissensrelation, die sich prüfend auf eine ihr auf dem Wissensweg vorhergehende fürwahrhaltende Wissensrelation bezieht, (ii) als (dem zweiten Satz gemäß) fürwahrhaltende Wissensrelation, in der die vorhergehende Wissensrelation in reifizierter Form als Wahrheitsinhalt, d. h. als »Gegenstand« gegeben ist, und (iii) als reifizierte Wissensrelation, als welche sie – nun nicht mehr isoliert, sondern in relatio-

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nalem Zusammenhang mit den bisherigen Relationen des phänomenologischen Wissensweges – (dem dritten Satz gemäß) das Examinandum der Prüfung bzw. (dem zweiten Satz gemäß) den Wahrheitsinhalt oder einen Teil des Wahrheitsinhalts einer nachfolgenden fürwahrhaltenden Wissensrelation bildet. Es ergibt sich damit für die wissenschaftliche Perspektive folgendes Gesamtbild von dem sich als Selbstprüfung des Bewusstseins präsentierenden Darstellungsverlauf: Das Bewusstsein ist eine selbstbezüglichproduktive Struktur, die ihre intentionalen Inhalte in produktiven Akten, die ihr verborgen bleiben, selbst hervorbringt, indem sie sich jeweils auf denjenigen intentional-produktiven Beziehungsakt als ihren intentionalen Gegenstand bezieht, der ihr vorherging. Als »produktiv« können die Beziehungsakte bezeichnet werden, da die vorhergehenden Beziehungsakte in der neuen Relation nicht als Beziehungsakte zu Bewusstsein gelangen, sondern in reifizierter Form als neue intentionale Gegenstände epistemisch gegeben sind. Nur in diesem Sinne wird in dieser Arbeit die These von der Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins vertreten: das Bewusstsein ist nicht in dem Sinne selbstbezüglich oder selbstreferenziell, dass für es selbst innerhalb einer einzelnen Bewusstseinsgestalt oder eines einzelnen Beziehungsaktes eine bestimmte Form von selbstreflexiver Transparenz bestünde,75 sondern in dem Sinne, dass das Bewusstsein in immer neuen Beziehungsakten intentionale Selbsterfassung anstrebt. So verstanden ist »Selbstbezüglichkeit« kein Merkmal, das individuellen Bewusstseinsgestalten zugeschrieben werden kann, sondern etwas, das nur dem Bewusstsein als übergeordneter Prüfungsstruktur zukommt. Gelingt es dem Bewusstsein, sich innerhalb eines einzelnen Beziehungsaktes bzw. einer einzelnen Bewusstseinsgestalt korrekt zu erfassen, ist die Struktur des phänomenologischen Bewusstseins bereits überwunden: es ist nach Hegelschem Verständnis nicht mehr »Bewusstsein«, sondern »Geist«.76 Auch in Bezug auf Hegels dritten Bewusstseinssatz wird in dieser Arbeit also konsequent eine intentionalistische Lesart vertreten: Bewusstsein vom intentionalen Beziehungsakt ist nicht innerhalb dieses Beziehungsaktes selbst möglich, sondern erfordert einen neuen Fall von Bewusstsein, der sich selbst wiederum anonym sein wird. Es ergibt sich so eine Reihe von Beziehungsakten, in welcher der intentionale Gegenstand, auf den ein intentionaler Beziehungsakt jeweils bezogen ist, der vorhergehende intentionale Bezie75 76

Zur Kritik dieser Auffassung vgl. 6.2.2.1 und 6.2.2.2. Vgl. 7.2.1.1.

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hungsakt ist, der in dem nachfolgenden Beziehungsakt (in reifizierter Form) als intentionaler Inhalt zu Bewusstsein gebracht wird. Von der intentionalen Beziehung als solcher besteht in diesen Beziehungsakten selbst zu keinem Zeitpunkt Bewusstsein. Genau diese fehlende Bekanntschaft des Bewusstseins mit sich selbst gewährleistet den generativen Charakter des phänomenologischen Prüfungsprozesses: Dadurch, dass das Bewusstsein sich jeweils nicht als die relationale Struktur erfasst, die es eigentlich oder in Wahrheit ist, ist es genötigt, in immer neuen Beziehungsakten über sich hinauszugehen, bis es den Punkt erreicht, wo intentionaler Inhalt und Beziehungsakt – Wahrheit und Wissen – zusammenfallen und es sich endlich als eben das erfasst, was es in Wahrheit ist. Man könnte insofern sagen, das phänomenologische Prüfungsverfahren ist konstitutiv dadurch ermöglicht, dass der intentionale Inhalt im phänomenologischen Bewusstsein jeweils verspätet ist gegenüber dem selbstbezüglichen Beziehungsakt, mittels dem das Bewusstsein intentionale Selbsterfassung anstrebt: das phänomenologische Bewusstsein erfasst sich nie als die relationale Struktur, die es aktuell ist, sondern immer nur als diejenige Struktur, die es vor dem jeweiligen erneuten Versuch der Selbsterfassung war. Diese Deutung des Prüfungsverlaufs hat nicht nur den Vorzug, dass die individuellen Bewusstseinsgestalten als schlichte einstellige Relationen verständlich gemacht werden können; sie ist auch nicht zu der Alternative gezwungen, entweder die Prüfungsstruktur in die bereits als komplex und voraussetzungsvoll interpretierte Bewusstseinsstruktur einer einzelnen Wissensposition zu integrieren77 – eine Lösung, die, wie dargelegt, nicht leicht mit dem Wortlaut des Hegelschen Textes in Einklang zu bringen und auch mit systematischen Problemen verbunden ist –, oder aber die Prüfungshandlung als »unsere Zuthat« (GW 9, 61) gänzlich aus der Struktur des geprüften, erscheinenden Wissens auszugliedern und einer extern intervenierenden Prüfungsinstanz zu übertragen78 – eine Lösung, die sich in den offenen Widerspruch zu Hegels These von der Selbstprüfung des Bewusstseins begeben würde. Wird die Prüfungsbeschreibung dagegen auf das Verhältnis von einer prüfenden zu einer geprüften Bewusstseinsgestalt bezogen, kann die Prüfungsaktivität des Bewusstseins unmittelbar aus dem ersten Satz des Bewusstseins heraus verständlich gemacht werden: Stimmt das, was das Bewusstsein als

77

Vgl. etwa Claesges 1981, 77–79 und Hiltscher 1998, 253–256. Vgl. dazu K. Westphal 1989, 115–129. 78 So beispielsweise Claesges 1981, 83–85, 91–96, Heidegger 1980, 183 f. und Norman 1976, 22.

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relationale Struktur in Wahrheit ist, nicht mit dem, wie es sich epistemisch gegeben ist, überein, geht es unmittelbar prüfend über sich hinaus – d. h.: differenziert es sich unmittelbar als neue einstellige prüfende Wissensrelation aus, deren Inhalt die reifizierte vorhergehende prüfende Wissensrelation ist. Stimmt die Relation wieder nicht überein mit dem, was in dieser Relation dem Bewusstsein als Wahrheitsinhalt gegeben ist, kommt erneut die intrinsische Eigenschaft des Bewusstseins zum Tragen, sich im Falle der NichtÜbereinstimmung von Bezugsstruktur und Bezugsgegenstand weiter auszudifferenzieren. Auf diese Weise generiert die prüfende Aktivität des Bewusstseins immer neue Wissenspositionen, bis eine Position erreicht wird, deren Wahrheits- und Wissensmoment identisch sind.

6.2.4 Hegels metaphilosophische Erfahrungstheorie Hegels bewusstseinstheoretische Überlegungen kulminieren in einer Theorie der Erfahrung, in der die bisherigen Bestimmungen so zusammengeführt werden, dass die Darstellung des erscheinenden Wissens als die »Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns« (GW 9, 61) konzipierbar wird. Während sich die Darstellung in der Beschreibung des zweiten Bewusstseinssatzes als heterogene Reihe von individuellen Wissenspositionen, denen eine Vielfalt isosthener Wahrheitskonzeptionen entspricht, darbietet, so in der Beschreibung des dritten Bewusstseinssatzes als einheitlicher Zusammenhang von sich selbst widerlegenden philosophischen Positionen, die aus der singulären Prüfungsaktivität des Bewusstseins resultieren, das sich solange in neuen (die jeweils vorhergehende Theorie strukturell integrierenden) philosophischen Theorien ausdifferenziert, bis eine konsistente Theorie generiert ist. Die Charakterisierung der Prüfungsbewegung als »Erfahrung« erlaubt nun eine integrierende Beschreibung, in der beide Beschreibungen in ihrem Verhältnis zueinander expliziert werden können. Im Folgenden wird zunächst gezeigt, wie sich beide Beschreibungen je gesondert zur Erfahrungsstruktur verhalten. Anschließend wird dargelegt, wie diese Struktur eine Integration der durch beide Bewusstseinssätze Rechnung getragenen Aspekte der Darstellung möglich macht (6.2.4.1, 6.2.4.2) und wie durch diese Integration die wissenschaftliche Analyseebene durch die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens legitimiert werden kann (6.2.4.3). Vorab sei Hegels Ausgangsbestimmung der Erfahrung zitiert: Diese dialektische Bewegung [der Prüfung], welche das Bewußtseyn an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt,

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in sofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird (GW 9, 60). Hegel setzt hier »Erfahrung« nicht mit der Prüfungsbewegung des Bewusstseins schlechthin, sondern nur unter dem Aspekt des negativen Prüfungsresultats, nur »in sofern ihm der neue, wahre Gegenstand daraus entspringt«, gleich. »Erfahrung« ist für ihn also eine Bezeichnung für den Prüfungsvorgang, insoweit dieser einen negativen Ausgang hat. Hieraus scheint zu folgen: Wenn das Bewusstsein sich im Rahmen seiner Prüfung erfolgreich als das erfasst, was es in Wahrheit ist, mithin kein neuer Gegenstand entspringt, liegt kein Fall von »Erfahrung«, sondern von »(Selbst)Erkenntnis« vor. In diesem Sinne hatte Hegel bereits vorher die Erfahrung als defiziente Erkenntnisform von der Selbsterkenntnis des Bewusstseins bzw. der »Seele« abgegrenzt: das Bewusstsein bzw. die »Seele« soll durch die »vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntniß desjenigen« gelangen, »was sie an sich selbst ist [d. h. zur Selbsterkenntnis]« (GW 9, 55). Aus dem Zitat geht auch hervor, dass Hegel mit »Erfahrung« keinen rein negativen, rein destruktiven Prüfungsvorgang meint, sondern mit ihm auch den produktiven Aspekt verbindet, dass der negative Prüfungsausgang zu einer neuen philosophischen Wahrheitsauffassung führt, die ihrerseits wiederum der Prüfung bedarf. Allerdings wird im weiteren Verlauf von Hegels Ausführungen zur Bewusstseinserfahrung klar, dass die Erfahrung als defiziente Erkenntnisform gerade dadurch konstitutiv bestimmt ist, dass der eigentliche Prüfungsprozess in seinem produktiven Charakter dem erfahrenden Bewusstsein selbst verborgen bleibt und nur in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive epistemisch sichtbar wird. Zuerst ist nun auf das Verhältnis der letzteren zur Erfahrungsstruktur einzugehen.

6.2.4.1 Die wissenschaftliche Interpretationsperspektive Wie in 6.2.3 dargelegt wurde, ist unmittelbar dadurch, dass sich das Bewusstsein (in einer neuen Wissensposition) auf das »Für-es-Sein des Ansich« bezieht, in der natürlichen Interpretationsperspektive ein neuer Gegenstand gegeben. Nur in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive präsentiert sich dieser Gegenstand als das »Für-es-Sein« des alten Ansich, das nicht identisch ist mit diesem Ansich, sondern dadurch bestimmt ist, dass es in einem widersprüchlichen Verhältnis zu ihm steht und insofern die »Nichtigkeit«, d. h. das »Nicht-Sein« des Ansich ist.

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Diese »Nichtigkeit« enthält nun laut Hegel die »über ihn [den alten Gegenstand] gemachte Erfahrung« (GW 9, 60). Es gilt nun zu untersuchen, wie durch die wissenschaftliche Explikation der Prüfungsbewegung als »Erfahrung« verständlich gemacht werden kann, wie der bloße Bezug des Bewusstseins auf das »Für-es-Sein des Ansich« zur Reifizierung dieses Für-es-Seins führen kann, so dass es dem Bewusstsein nicht mehr als relationale Struktur durchsichtig ist. Hegel bietet als metatheoretische Erklärung für diesen Reifizierungsvorgang das Konzept der bestimmten Negation an. Schon vorher hatte Hegel die Einsicht in das Für-es-Sein des Ansich identifiziert mit der Ansicht, dass »dasjenige, was ihm [dem Bewusstsein] vorher [d. h. in der vorhergehenden Wissensposition] das an sich war, nicht an sich ist« (GW 9, 60). Hegel hatte diese Identifikation nicht mit dem Argument begründet, dass das ›nicht an sich sein‹ vom erfahrenden Bewusstsein epistemisch festgestellt würde, sondern sie aus der Nicht-Identität von Wahrheits- und Wissensmoment hergeleitet: »Auf dieser Unterscheidung, welche vorhanden ist, beruht die Prüffung« (ebd.). Der Interpretation des Für-es-Seins des Ansich als negative Bezogenheit auf dieses Ansich scheint folgende Überlegung zugrundezuliegen: Wenn eine intentionale Beziehung nicht mit ihrem Wahrheitsinhalt identisch ist, kann in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive angenommen werden, dass eine auf dem Wissensweg nachfolgende Wissensrelation, welche diese intentionale Beziehung als ihren Wahrheitsinhalt zum Gegenstand macht, zugleich (indirekt) negativ bezogen ist auf den Inhalt dieser alten Wissensbeziehung. »Negation« impliziert an dieser Stelle also zunächst nichts Weiteres als die Nicht-Übereinstimmung von Relationen oder Inhalten, schließt demnach keine bestimmte ontologische Interpretation ein. Hiermit ist aber noch nicht verständlich gemacht, wie das Für-es-Sein des Gegenstandes sich zu einem neuen Gegenstand reifizieren kann. Der eigentliche Reifizierungsvorgang wird von Hegel durch die Überlegung expliziert, dass die Bezogenheit der neuen Wissensrelation auf das Nicht-an-sich-Sein des alten Ansich nicht als unspezifische Einsicht in dessen Nichtigkeit, sondern als Einsicht in das Unwahrsein dieses spezifischen Inhalts aufgefasst werden sollte, »daß nemlich das jedesmahlige Resultat, welches sich an einem nicht wahrhafften Wissen ergibt, nicht in ein leeres Nichts zusammenlauffen dürfe, sondern nothwendig als Nichts desjenigen, dessen Resultat es ist, aufgefaßt werden müsse« (GW 9, 61). Hegels Überlegung scheint zu sein, dass aus dem Unwahrsein des alten Inhalts auf das kompatible Gegenteil dieses Inhalts als neue Wahrheitskonzeption geschlossen werden kann, welche als neues »Resultat […] das enthält, was das vorhergehende Wissen Wahres an ihm hat« (ebd.).

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Indem so ein jeweils negatives Prüfungsresultat als spezifisches Gegenteil des alten Inhalts – als »Kompatibilitätsrest« (Emundts/Horstmann 2002, 59) – aufgefasst wird, kann durch dieselbe, sich immer reproduzierende Prüfungsaktivität des Bewusstseins das Zustandekommen der gesamten Reihe von Wissenspositionen verständlich gemacht werden: »Diß bietet sich hier so dar, daß, indem das, was zuerst [d. h. in der geprüften Wissensposition] als der Gegenstand erschien, dem Bewußtseyn zu einem Wissen von ihm herabsinkt, und das an sich, zu einem: für das Bewußtseyn seyn des an sich wird, diß der neue Gegenstand ist, womit auch eine neue Gestalt des Bewußtseyns [d. h. eine neue Wissensposition] auftritt, welcher etwas anderes das Wesen ist, als der vorhergehenden. Dieser Umstand ist es, welcher die ganze Folge der Gestalten des Bewußtseyns in ihrer Nothwendigkeit leitet« (GW 9, 61). Ersichtlich wird so auch, dass sich im Fortschreiten der phänomenologischen Darstellung eine Zunahme der relationalen Komplexität der Wahrheitsinhalte ergibt: Dadurch, dass in dem jeweils neuen Wahrheitsinhalt die vorhergehende Wissensrelation in ihrer negativen Bezogenheit auf das, was ihr Wahrheitsinhalt war, zum Gegenstand gemacht wird, werden alle bisher auf dem phänomenologischen Wissensweg aufgetretenen relationalen Strukturen in diesen neuen Wahrheitsinhalt integriert. Es könnte den Anschein haben, dass es sich bei der Weise, wie nach Hegelschem Verständnis in der Phänomenologie von dem Prinzip der bestimmten Negation methodischer Gebrauch gemacht werden soll, um die aus der Logik bekannte ontologische Verwendung von Negationsoperationen handelt, durch die das Unwahrsein eines Inhalts sich in das Wahrsein des kompatiblen Gegenteils dieses Inhalts transformieren soll. So verstanden würde durch die vom Bewusstsein in epistemischer Transparenz bewirkte Reifizierung seiner Negationshandlungen zu gegenteiligen Inhalten – durch die Reifizierung der jeweils verneinten Aussage zu einem ontologisch eigenständigen Nichtseienden –, die Generierung von neuen Wahrheitskonzeptionen verständlich gemacht werden können. Wie Hegel zu diesem aus konventionell-formallogischer Sicht problematischen Schritt, der – das sei hier sehr unspezifisch formuliert – eine ontologische Deutung des Negationsoperators im Rahmen einer stark revisionären Metaphysik zu erfordern scheint, gerade vor dem Hintergrund einer systemexternen Einleitungskonzeption berechtigt sein könnte, bliebe allerdings rätselhaft. Es gilt daher, entgegen dem ersten Anschein näher zuzusehen. Auffällig an Hegels Explikation der phänomenologischen Konzeption von Negation ist gerade, dass sich das Wissen im prüfenden Reflexionsakt nicht negativ auf sich selbst – auf die Relation, die es im Prüfungsakt aktuell bildet –, sondern auf die ihm auf dem Wissensweg vorhergehende Wissensrelation beziehen

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soll; und zwar auf diese als eine Relation, die nicht identisch ist mit ihrem intentionalen Inhalt, so dass von ihr gesagt werden kann, dass sie negativ auf ihren Inhalt bezogen ist. Der Fortgang der Prüfung beruht insofern nicht wie in der Logik auf der negativen Selbstbeziehung des Wissens, sondern auf den jeweils vorgegebenen Verhältnissen von Wahrheits- und Wissensmoment – Verhältnisse, die eben bereits »vorhanden« (GW 9, 60, Zeile 2) sind –, sofern diese Verhältnisse sich in der Darstellung des erscheinenden Wissens als nicht-identische bzw. widersprüchliche erweisen. Dies bedeutet, dass die reifizierende Anwendung des Negationsoperators in der Phänomenologie nicht wie in der Logik als »autonomisiert« und »selbstreferenziell«79 aufgefasst werden kann, sondern davon abhängig ist, dass das prüfende, phänomenologische Bewusstsein sich im Laufe der Darstellung des isosthen auftretenden erscheinenden Wissens tatsächlich in seinem selbstbezüglich-reflexiven Übersichhinausgehen nicht als das erfasst, was es in Wahrheit ist, und so jeweils die nicht-identischen Verhältnisse, auf denen die Anwendung der bestimmten Negation in der Phänomenologie beruht, (vor ihrer Reifizierung) durch Selbstdifferenzierung erst hervorbringt.80 So verstanden basiert die Verwendung der Negation in der Phänomenologie anders als in der Logik nicht auf einer für das Bewusstsein sichtbaren reifizierenden Negationsoperation, sondern auf der ihm selbst verborgen bleibenden und seiner Reifizierungsfunktion vorausgehenden Selbstdifferenzierungsfunktion des Bewusstseins, wie sie in 6.2.3.3 beschrieben wurde: der Eigenschaft des Bewusstseins, sich in intentionalen Selbstbeziehungsversuchen nicht als das zu erfassen, was es in Wahrheit ist, sondern sich jeweils in diesen Erfassungsversuchen als neue Relation auszudifferenzieren, die qualitativ verschieden ist von dem, was es vorher war. Die »bestimmte Negation« ist in der Phänomenologie insofern ein Konzept, das einerseits für das Bewusstsein epistemisch opak bleibt, andererseits aber vollständig auf die Struktur des Bewusstseins abgebildet werden kann. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Auch die Rede von der »Umkehrung des Bewußtseyns« (GW 9, 61) scheint als eine Bezeichnung für diesen sozusagen indirekt negativen Reflexionsvorgang interpretiert werden zu können: nicht handelt es sich um eine für das 79

Vgl. Henrich 1976b, 213 ff. Ich setze hier voraus, dass die Verwendung des Negationsoperators in der Logik nicht, wie in der Phänomenologie, auf vorhandenen oder gegebenen Widersprüchen aufbaut, sondern dass durch ihn Widersprüche in einem autonomisierten Prozess der Selbstbeziehung generiert werden sollen: Nur dann können beide Disziplinen als methodisch selbständige Theorien verstanden werden und ist die Phänomenologie in ihrer Rolle als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin nicht begründungsfunktional überflüssig. 80

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Bewusstsein sichtbare selbstbezügliche Selbstverkehrung des Bewusstseins, sondern darum, dass sich das Bewusstsein von dem, was gleichsam vor ihm steht als sein intentionaler Inhalt, weg- und umwendet zu dem hin, was bisher verborgen »hinter seinem Rücken« (GW 9, 61) lag: zu seiner eigentlich relationalen Struktur. Das Bewusstsein wendet sich also einem Teil der eigenen Beziehungsstruktur zu, der als solcher schon vorhanden bzw. ausdifferenziert war, nicht erst durch es hervorgebracht wird. Allerdings bringt das Bewusstsein im Umkehren zugleich (durch weitere Ausdifferenzierung) eine neue intentionale Beziehungsstruktur hervor, die ihm aufs Neue verborgen im Rücken liegt. Auch Interpretationen, in denen die Reifizierung des Für-es-Seins des Ansich als eigenständiger Schritt im Prüfungsprozess von der bewussten Einsicht in den Wissenscharakter dieses Für-es-Seins unterschieden wird, werden nicht besser verständlich machen können, was Hegel zur Annahme einer solchen Reifizierungsfunktion berechtigt. Der Nachweis dieser Berechtigung wird in diesem Fall sogar noch erheblich erschwert, weil dadurch, dass beide Vorgänge nicht als identisch angesehen werden, die reifizierende Negationsoperation nicht mehr als metatheoretisch-wissenschaftliche Beschreibung des Für-es-Seins des Ansich legitimatorisch auf dieses abgebildet werden kann, sondern ihr eine selbständige Rolle im Prüfungsprozess eingeräumt werden muss. Das aber hieße, dass der Prüfungsprozess nicht mehr als ausschließlich durch das erfahrende Bewusstsein vollzogen angesehen werden könnte, sondern in Bezug auf diesen eine Involviertheit der wissenschaftlichen Darstellungsebene angenommen werden müsste.81 Hegel betont aber ausdrücklich, dass nicht die Umkehrung des Bewusstseins selbst, sondern nur deren wissenschaftliche Beschreibung, nur die metatheoretische »Betrachtung der Sache […] unsere Zuthat« (GW 9, 61) ist. Dies nicht ohne Grund. Denn wäre das phänomenologische Destruktionsprogramm abhängig von der Annahme, dass den einzuleitenden Positionen durch die wissenschaftliche Darstellungsebene ein spekulatives Negationsverständnis zur Verfügung gestellt wird, dessen Rechtfertigung erst in der Logik erfolgen kann, könnte die Phänomenologie schwerlich noch als systemexterne Rechtfertigung der Logik bzw. des Systems angesehen werden. Aber auch wenn das Bewusstsein des Für-es-Seins nicht als eigenständiger Schritt verstanden wird, sondern mit diesem reflexiven Bewusstsein unmittelbar die Reifizierung des Für-es-Seins verbunden sein soll, ist zugegebenermaßen noch unklar, was Hegel im Rahmen seiner systemexternen Erfah81

So Röttges 1981, 114 f. und Claesges 1981, 88. Dagegen z. B. Aschenberg 1976, 239; vgl. auch Iber 2006, 133–134.

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rungswissenschaft dazu berechtigt, den Prüfungsvorgang metatheoretisch mit Hilfe des anscheinend spekulativen Konzepts der bestimmten Negation zu explizieren. Diesbezüglich soll im Weiteren folgende These vertreten werden: Bei der Weise, wie Hegel zufolge von dem Konzept der bestimmten Negation in der Phänomenologie Gebrauch gemacht werden soll, handelt es sich um eine nicht-spekulative, systemexterne Verwendungsweise dieses Konzepts, das in der Phänomenologie trotz seines metatheoretisch-wissenschaftlichen Charakters gerade bezüglich seiner reifizierenden Funktion vollständig auf die natürliche Interpretationsperspektive des erfahrenden Bewusstseins legitimatorisch abgebildet werden kann. Bevor dies aber im Einzelnen ausgeführt werden kann, muss erst Hegels Erörterung der Erfahrungsstruktur aus der Selbstinterpretationsperspektive des erscheinenden Wissens erörtert werden.

6.2.4.2 Die Selbstinterpretationsperspektive des erscheinenden Wissens Die Prüfungsbewegung, in deren Rahmen neue Gegenstände, d. h. philosophische Wahrheitskonzeptionen entstehen, ist laut Hegel etwas, »welches nicht für das Bewußtseyn, das in der Erfahrung selbst begriffen ist, sich darstellt« (GW 9, 61). Während sich in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive die im Verlauf der Prüfungsbewegung sich bildenden neuen Gegenstände »als geworden, durch eine Umkehrung des Bewußtseyns selbst« (ebd.) zeigen, bleibt die Prüfungsbewegung dem erfahrenden Bewusstsein in ihrem strukturellen Zusammenhang verborgen: »die Entstehung des neuen Gegenstandes, der dem Bewußtseyn, ohne zu wissen [!], wie ihm geschieht, sich darbietet, ist es, was für uns gleichsam hinter seinem Rücken vorgeht« (ebd.); »für es ist diß entstandene nur als Gegenstand, für uns zugleich als Bewegung und Werden« (ebd.). Dem erfahrenden Bewusstsein präsentieren sich also lediglich immer neue philosophische Gegenstands- bzw. Wahrheitskonzeptionen, die sich, wie in der mittels des zweiten Bewusstseinssatzes vorgenommenen Beschreibung deutlich wird, isosthen zueinander verhalten. Ähnlich heißt es in der Vorrede: das »Bewußtseyn weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist« (GW 9, 29); dass das Erfahrene in der Erfahrung gegeben oder gar Produkt der Erfahrung, d. h. seiner eigenen Prüfungsaktivität ist, weiß und begreift das Bewusstsein also nicht. Hegels phänomenologischer Erfahrungsbegriff bietet sich auf diese Weise einerseits als vollkommen revisionäre Bestimmung des Erfahrungsbegriffs dar, welcher sich im Sinne einer produktiv-reflexiven Struktur nicht auf dasjenige bezieht, »was unter der Erfahrung verstanden zu werden pflegt«

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(GW 9, 60), sondern vielmehr als ein Terminus für defiziente, sich selbst in ihrer Struktur nicht durchsichtige philosophische Erkenntnis fungiert.82 Andererseits werden in ihn zugleich die rezeptiven Aspekte des traditionellen Erfahrungsbegriffs in dem Sinne integriert, dass die produktiv-reflexiven Leistungen in der Selbstinterpretationsperspektive des Bewusstseins als Formen rezeptiv-sinnlicher Gegenstandserfahrung ›erlebt‹ werden.83 Wesentlich ist dabei, dass die rezeptiven Elemente nicht in das integriert werden, was Erfahrung als selbstdestruktive Prüfungsbewegung für Hegel »eigentlich«84 ist, sondern vielmehr gerade dasjenige ausmachen, was die Ansichten des erfahrenden Bewusstseins zu irrtümlichen, sich isosthen zueinander verhaltenden Ansichten macht und was als solches den Gegenstand dieser destruktiven Prüfungsbewegung bildet.85 Die Erfahrung ist so für Hegel eine 82

Vgl. Kroners Charakterisierung dieser Erfahrung als »transzendentale[…] Erfahrung« (Kroner 1924, 366); ihm stimmt Aschenberg zu, wenn er m. E. zurecht darauf hinweist, dass es angesichts der mit der phänomenologischen Wissenschaft verfolgten Ziele »völlig sinnlos ist, Hegels ›Theorie der Erfahrung‹ zur Erklärung irgendeiner wirklichen (lebensweltlichen, wissenschaftlichen, religiösen etc.) Erfahrung heranzuziehen. Die Erfahrung, um die es Hegel geht, ist nicht wirkliche, sondern, wie es R. Kroner sehr gut ausgedrückt hat, ›transzendentale‹ Erfahrung« (Aschenberg 1976, 247); vgl. dazu auch Graeser 1988, 157 f. Ähnlich auch Beuthan in Beuthan 2008, dem zufolge die methodische Grundstruktur der phänomenologischen Erfahrung als »ein Prozeß der Selbstkritik« oder der »Autodestruktion« zu verstehen sei, der »nicht durch eine empirische Falsifikation, sondern allein durch eine begriffliche Reflexion vorangetrieben wird« (Beuthan 2008, 82). Dina Emundts ist dagegen der Meinung, dass »Hegel […] in der Phänomenologie klar am alltäglichen Erfahrungsbegriff an[knüpft]« (Emundts 2012, 37): Ähnlich wie der alltägliche Erfahrungsbegriff (vgl. dazu Emundts 2012, 27 ff.) sei der phänomenologische Erfahrungsbegriff durch »Intentionalität«, »Lernen von etwas Neuem« (und insofern Beziehung auf etwas Anderes, das »widerständig« ist) und »Erlebnisgehalt« (vgl. Emundts 2012, 37 ff.) ausgezeichnet. Zudem sei wie im Falle der alltäglichen Erfahrung das Subjekt der Erfahrung in der Phänomenologie immer ein konkretes Individuum (vgl. Emundts 2012, 37, 68 f.) und der Gegenstand der Erfahrung immer ein konkreter raumzeitlicher Gegenstand, der wirklich existiert (vgl. Emundts 2012, 69 ff.). Die Phänomenologie wird von Emundts entsprechend als eine Theorie interpretiert, die Hegels Position nicht argumentativ, sondern in Rekurs auf wirkliche Erfahrung rechtfertigt; vgl. Kapitel 1, Anm. 154. 83 Vgl. dazu Schnädelbach 1999, 49 ff. 84 Vgl. die am Anfang von 6.2.4 zitierte Ausgangsbestimmung der Erfahrung GW 9, 60, Zeile 15–18. 85 Ralf Beuthan in Beuthan 2009 charakterisiert die Struktur der phänomenologischen Erfahrung z. T. ähnlich wie hier als produktiv-generative Struktur, die sich selbst verborgen bleibt und in die auf diese Weise rezeptive Elemente integriert werden. Das, was in dieser Arbeit »natürliche« und »wissenschaftliche Interpretationsperspektive« genannt wird, bezeichnet Beuthan als »stationäre« und als »methodische« Erfahrung: Erfahrung im Plural aufgefasst als die Erfahrungen der Bewusstseinsgestalten und Erfahrung im Singular aufgefasst als die übergeordnete Struktur des generativen Prüfungsprozesses (vgl. Beuthan 2009, 59–61). Beuthan scheint allerdings nur die stationäre Erfahrung als selbstdestruktiv aufzufassen, die methodische Erfahrung dagegen (in Rekurs auf den Begriff der »wahr-

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Erkenntnisform, die konstitutiv dadurch ausgezeichnet ist, dass sie sich nicht als das erfasst oder »erfährt«, was sie in Wahrheit ist: eine Aktivität, die das Bewusstsein selbst vollzieht – eine »Bewegung, welche das Bewußtseyn an ihm selbst […] ausübt [!]« (GW 9, 60) –, zugleich aber eine Aktivität, von der es qua Aktivität gerade kein Wissen hat: nur »für uns« ist das, was als neuer Gegenstand in bzw. durch die Erfahrung entsteht, »zugleich als Bewegung und Werden« (GW 9, 61). Der phänomenologische Erfahrungsbegriff kann so in doppelter Hinsicht sowohl hinsichtlich des isosthenen Charakters des erscheinenden Wissens, als auch hinsichtlich der strukturellen Verfassung desjenigen, was Erfahrung »eigentlich« ist, als destruktiver Begriff charakterisiert werden: Erfahrung ist einerseits jeweils das Ergebnis eines negativ-isosthenen Prüfungsverlaufs, der sich in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive als Einsicht in die Unwahrheit der geprüften Theorie präsentiert, andererseits insgesamt eine Struktur, die es als strukturell defiziente Erkenntnisart zu destruieren und überwinden gilt. Durch diese auch für seine Zeit kontraintuitive und revisionäre Bezeichnung defizienter philosophischer Reflexion als »Erfahrung« vermag es Hegel, den isosthenen Charakter des erscheinenden philosophischen Wissens in die wissenschaftliche Analyseebene strukturell zu integrieren: Durch die Charakterisierung der Prüfungsbewegung als »Erfahrung« kann diejenige relationale Struktur, die allen nicht-Hegelschen philosophischen Theorien gemeinsam zugrundeliegt, einerseits an die durch den zweiten Bewusstseinssatz beschriebene isosthene Selbstinterpretationsperspektive dieser Positionen zurückgebunden, andererseits aber als reflexiv-destruktive Prüfungsrehafften Erfahrung« (GW 7, 347; vgl. 50 f.) aus dem Jenaer Systementwurf II) als affirmative Struktur zu verstehen: sie bilde das positive Resultat der Phänomenologie, in welche alle stationären Erfahrungen integriert würden und mit der so ein Vernunftwissen generiert werde, »in dem Erfahrung ein intrinsisches Merkmal der Vernunft ist« (Beuthan 2009, 54; vgl. 68–70). Insgesamt gelte so für den phänomenologischen Erfahrungsbegriff, dass er, obwohl er »im Kern dem Common Sense widerspricht, […] dennoch geeignet [ist,] einige Intuitionen [affirmativ] in sich aufzunehmen, ohne welche man bei dieser Beziehungsstruktur wohl kaum von Erfahrung sprechen wollte« (Beuthan 2009, 55). Wird die methodische Erfahrung auf diese Weise als affirmative Struktur in Anspruch genommen, kann die Phänomenologie m. E. nicht mehr als systemexterne Rechtfertigungsdisziplin im strengen Sinne verständlich gemacht werden (was Beuthan allerdings auch nicht anzustreben scheint; vgl. Beuthan 2009, 56, 68); sie scheint als affirmative Struktur ja zwangsläufig von theorieexternen Sachverhalten handeln zu müssen. Eine systemexterne Deutung scheint mir dagegen zu erfordern, dass die Erfahrung insgesamt als selbstdestruktiv interpretiert wird und sinnlich-rezeptive Elemente in dem Sinne integriert werden, dass ihre vollständige Widerlegung zu einem Resultat führt, das selbst nicht mehr als Erfahrung charakterisiert werden kann; so auch Cramer 1978, 387–389.

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lation verständlich gemacht werden, die dem erfahrenden Bewusstsein als reflexive »Umkehrung des Bewußtseyns« verborgen bleibt und »gleichsam hinter seinem Rücken vorgeht« (GW 9, 61). Wie nun zum Abschluss gezeigt wird, kann auf diese Weise die wissenschaftliche durch die natürliche Interpretationsperspektive, die Selbstinterpretationsperspektive des erscheinenden Wissens, legitimiert werden.

6.2.4.3 Isosthenie als legitimatorische Basis von Hegels Erfahrungstheorie Wird ein solches Legitimationsverhältnis angenommen, stellt sich insbesondere die Frage, wie Hegel das Konzept der bestimmten Negation als produktiv-generativer Struktur in Anspruch nehmen kann, die erst zu der Annahme berechtigt, dass die bloße Bezugnahme des Wissens auf das Für-es-Sein des alten Gegenstandes zur Reifizierung dieses relationalen Gebildes führt. Wird das Bewusstsein im Rahmen einer mentalistischen Deutung als Struktur interpretiert, in der die Wissensstruktur von vornherein in selbstreflexiver Transparenz vorliegt, wird dieser Reifizierungsvorgang nur sehr schwer auf die Selbstinterpretationsperspektive des erscheinenden Wissens abgebildet werden können. Denn in diesem Fall wird angenommen werden müssen, dass das Wissen strukturell immer schon mit einem Wissen davon ausgestattet ist, dass sein jeweiliger Gegenstand für-es ist, ohne dass sich dadurch schon dieser Gegenstand innerhalb dieser Wissensposition in einen neuen Gegenstand verwandelt. Genau dieses macht ja den Charakter selbstreflexiver Transparenz aus: das Für-es-Sein wird als Für-es-Sein dem Bewusstsein transparent, ohne dass sich dieses Für-es-Sein bereits in diesem selbstreflexiven Akt für das Bewusstsein reifiziert.86 Dies bedeutet aber, dass der Reifizierungsvorgang nicht allein durch eine Bewegung der Selbstreflexion verständlich gemacht werden kann: Wenn der Begriff der selbstreflexiven Bezugnahme so festgelegt wird, dass durch diese Bezugnahme das reflektierte intentionale Bewusstsein in selbstreflexive Transparenz versetzt wird, kann die gleiche Art von reflexiver Bezugnahme nicht zugleich konzeptuell so in Anspruch genommen werden, dass sie zur Reifizierung von reflexiven Strukturen führt, die als reifizierte gerade dadurch ausgezeichnet sein müssten, dass der intentionale Inhalt in seiner reflexiven Struktur dem beziehenden Bewusstsein opak bleibt. Innerhalb einer mentalistischen Deutung kann also weder die Operation der bestimmten Negation 86

Vgl. dazu und zum Folgenden Utz 2006, 176 ff., insbesondere 178. Zum Reifizierungsproblem generell vgl. auch Röttges 1981, 114 ff.

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als metatheoretische Beschreibung der negativen Beziehung des Bewusstseins auf seinen Gegenstand legitimatorisch in Bezug auf die Erfahrung des Bewusstseins ausgewiesen, noch eine produktive Transformation von Wissenspositionen allein aufgrund der negativen Selbstbeziehung angenommen werden. Die einzige Option, die der mentalistischen Lesart nun noch bleibt, ist die Annahme, das Bewusstsein verfüge auch in der natürlichen Interpretationsperspektive über den Operator der bestimmten Negation. Genau diese Annahme wird aber von Hegel aus den in 6.2.4.1 angeführten Gründen strikt abgelehnt. Wird das phänomenologische Bewusstsein dagegen im Rahmen einer metaphilosophischen Interpretation der Phänomenologie als metaphilosophischer Sachverhalt87 aufgefasst, welcher die Dimension der isosthenen Gegebenheit philosophischer Theorien strukturell verständlich macht, stehen weitere Ressourcen zur Verfügung, um die Berechtigung der Inanspruchnahme des Theorems der bestimmten Negation verständlich zu machen. Denn im Rahmen einer solchen Interpretation kann, wie bereits mehrfach erwähnt, unproblematisch angenommen werden, dass die Darstellung des erscheinenden Wissens explikativ auf die Philosophie als numerische Vielzahl von qualitativ verschiedenen Wahrheitskonzeptionen, die in einem isosthenen Verhältnis zueinander stehen, bezogen ist. Das Bewusstsein muss hier nicht als mentaler Sachverhalt strukturell so verständlich gemacht werden, dass auf es philosophische Geltungsansprüche abgebildet werden können, sondern ist so verstanden nichts anderes als eine (metatheoretische) Bezeichnung für das, was es faktisch heißt, philosophische Geltungsansprüche zu erheben. Die begriffliche Explikation dieser Struktur kann sich nun vollständig danach richten, was mit dem isosthenen Auftreten des Erhebens von philosophischen Geltungsansprüchen faktisch verbunden ist. Wenn der phänomenologische Bewusstseinsbegriff explikativ auf die faktische Gegebenheit der Vielfalt philosophischer Theorien bezogen ist, ist man dazu berechtigt, die verschiedenen, relational immer komplexer strukturierten Wahrheitskonzeptionen auf der Gegenstandsseite der Wissenspositionen auf die mit dem erscheinenden Wissen gegebene Vielzahl philosophischer Wahrheitsauffassungen abzubilden, die Hegel wohl bereits zur Zeit der Abfassung der Phänomenologie – im Jenaischen Heft – philosophiehistorisch zu sichten und zu sortieren angefangen hatte, und denen im Haupttext der Phänomenologie eine strukturelle Ordnung historischer Theoriekonstellationen zu entsprechen scheint.88 87 88

Vgl. dazu 9.1. Vgl. dazu im Einzelnen 7.1 und 8.2.

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Auf diese Weise wird allerdings nur die Wahrheitsseite, die von relational immer komplexeren Gebilden besetzt wird und der hier vorgelegten Interpretation gemäß als einziges Element in der natürlichen Interpretationsperspektive des Bewusstseins explizit gegeben ist, auf die faktisch gegebene Vielfalt philosophischer Wahrheitsauffassungen abgebildet werden können, nicht aber die sich jeweils als neue einstellige Relation ausdifferenzierende prüfende Wissensstruktur, die bis zu ihrer strukturellen Integration in die Wahrheitsseite am Ende der Phänomenologie auf formal-invariante Weise als bloße »Gegebenheit von …«-Struktur auftritt. Für die Prüfungsaktivität des Bewusstseins heißt dies, dass diese bezüglich ihrer Reifizierungsfunktion, d. h. bezüglich der einzelnen von ihr hervorgebrachten Reifizierungsprodukte, durch die in der natürlichen Interpretationsperspektive des Bewusstseins zur Verfügung stehenden Wahrheitsauffassungen legitimatorisch ausgewiesen werden kann, nicht aber bezüglich ihrer Selbstdifferenzierungsfunktion, d. h. bezüglich des Aspekts, dass es dieselbe formal-invariante, Selbstbeziehung anstrebende Aktivitätsstruktur des Bewusstseins ist, welche die diese Reifizierungen ermöglichenden, nichtidentischen Verhältnisse des Wahrheits- und Wissensmoments durch Selbstdifferenzierungsoperationen erst hervorbringt. Dieses interpretatorische Ergebnis entspricht genau der Weise, wie Hegel die »Erfahrung des Bewusstseins« beschreibt: die Umkehrung des Bewusstseins ist in ihrem vollständigen Zusammenhang nur metatheoretisch beschreibbar, dem Bewusstsein, das »in der Erfahrung selbst begriffen ist« (GW 9, 61), ist dagegen nur eine isosthene Verschiedenheit von Wahrheitsauffassungen gegeben. Obwohl so die generative Struktur des Bewusstseins als nur metatheoretisch beschreibbare Struktur nicht unmittelbar in Bezug auf diejenigen Inhalte, die in der natürlichen Interpretationsperspektive als Wahrheitskonzeptionen auftreten, gerechtfertigt werden kann, kann sie doch in Bezug auf das isosthene Auftreten der Philosophie generell als alternativlose Bestimmung ausgewiesen werden. Wie im letzten Kapitel dieser Arbeit näher ausgeführt wird,89 ist es zwingend, eine solche selbstbezüglich-reproduktive, durch Selbstdifferenzierung widersprüchliche Verhältnisse hervorbringende Struktur anzunehmen, wenn das phänomenologische Rechtfertigungsprogramm allein und ohne die Inanspruchnahme philosophisch gehaltvoller Thesen aus der unproblematischen (generellen) Annahme der faktischen Gegebenheit von konfligierenden philosophischen Theorien hergeleitet werden können soll.

89

Vgl. 9.2.2.

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Es scheint vielleicht unbefriedigend, die methodische Verwendung der Negation in der Phänomenologie so zu explizieren, dass die Berechtigung ihrer Anwendung legitimatorisch von einer Vielzahl bereits gegebener, durch das erscheinende Wissen zur Verfügung gestellter Inhalte abhängt. Diese scheinbar nachteilige Explikation erweist sich aber als Vorteil, denn durch sie kann der Unterschied zur methodischen Verwendung der Negation in der Logik gut verständlich gemacht und so der Einwand entkräftet werden, das phänomenologische Negationsverständnis setze bereits spekulative Negationskonzepte aus der Logik voraus. Wie in 6.2.4.1 dargelegt wurde, kann als spezifisch für die Verwendungsweise der Negation in der Logik angesehen werden, dass sie in »autonomisierter« und »selbstreferenzieller« Form auftritt, während für die Phänomenologie dagegen charakteristisch ist, dass ihrer Verwendung kein Modell der negativen Selbstbeziehung, sondern ein konventionelles Reflexionsmodell zugrundeliegt: Die Reifizierung ist hier nicht ein Produkt der wissenden Beziehung des Wissens auf sich als Anderes seiner selbst, sondern das (In-verstellter-Form-)Reflexivwerden eines Verhältnisses, das dem Wissen bereits als negatives zur Verfügung steht, des »Gegensatz[es]« des »Wissens und der dem Wissen negativen Gegenständlichkeit« (GW 9, 29). Ein Modell der negativen Selbstbeziehung ist für die phänomenologische Darstellung auch gar nicht erforderlich: charakteristisch für sie ist ja, dass hier die Reifizierung an defiziente Bewusstseinsgestalten gebunden werden kann, die bereits durch ein negatives bzw. widersprüchliches Verhältnis des Wissens zu seinem Gegenstand ausgezeichnet sind, ein Verhältnis, das bereits durch die Selbstdifferenzierungsaktivität des Bewusstseins hervorgebracht und insofern schon »vorhanden« (GW 9, 60, Zeile 2) ist. In der Phänomenologie würden zudem gar keine Ressourcen für die Annahme einer solchen negativen Selbstbeziehung zur Verfügung stehen; denn die für eine solche selbstbezügliche Negationsoperation erforderliche spekulative Bestimmung des Wissensgegenstandes als selbst widersprüchlich strukturierter Sachverhalt müsste vom erfahrenden Bewusstsein gar nicht akzeptiert werden. Man könnte sagen, die beiden Aufgaben, die in der Logik durch die selbstbezügliche Negation wahrgenommen werden – die Herstellung negativer Verhältnisse einerseits und die Reifizierung dieser Verhältnisse zu neuen Gegenständen bzw. relationalen Strukturen andererseits –, werden in der Phänomenologie aufgeteilt, so dass die mit ihnen verbundene Beweislast auf verschiedene Funktionsmomente der phänomenologischen Darstellung übertragen werden kann: das Bewusstsein stellt als selbstbezügliche Struktur im Zuge seiner Selbstdifferenzierung zunächst in (prüfenden) Beziehungsak-

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ten widersprüchliche Verhältnisse her – das jeweilige Verhältnis zwischen der neuen, prüfenden Relation und der alten Wissensrelation (nun Wahrheitsmoment) –; diese Verhältnisse werden dann erst in dem jeweiligen darauf folgenden (prüfenden) Beziehungsakt – d. h in dem Moment, wo das widersprüchliche Verhältnis seinerseits als Wahrheitsinhalt ›für das (erfahrende) Bewusstsein‹ wird – durch das Bewusstsein zu neuen Gegenständen reifiziert. Beide Aktivitäten bleiben dem erfahrenden Bewusstsein, wie dargelegt, verborgen. Das erste Moment ist argumentativ abgedeckt durch das isosthene Auftreten des erscheinenden Wissens generell, das zweite Moment durch die qualitativ verschiedenen Wahrheitsauffassungen, die hier auftreten. Man könnte insofern abschließend sagen: Nicht die negative Selbstbeziehung des Wissens ist das methodische Bewegungsprinzip der Phänomenologie, sondern das negativ-isosthene Verhältnis faktisch gegebener philosophischer Theorien zueinander.90 Insgesamt kann am Ende der bewusstseinstheoretischen Überlegungen der Einleitung folgendes Ergebnis bezüglich des Zusammenhangs von Hegels drei Sätzen des Bewusstseins festgehalten werden. Im ersten Bewusstseinssatz – das Bewusstsein ist für sich sein Begriff und dadurch unmittelbar das Hinausgehen über sich selbst – bestimmt Hegel das Bewusstsein als Selbstbeziehung anstrebende Aktivitätsstruktur, die sich solange in neuen Wissenspositionen ausdifferenziert, bis das, was epistemisch gegeben ist, und das, was sich auf dieses Gegebene relational bezieht, in einer einzelnen Wissensposition zusammenfallen. Im zweiten Bewusstseinssatz konkretisiert Hegel diese Bestimmung in Bezug auf das erscheinende Wissen: In Bezug auf jede philosophische Theorie bzw. Wissensposition kann zwischen einem Wahrheitsmoment – das, was als Wahrheitsauffassung oder »Gegenstand« in einer philosophischen Position epistemisch gegeben ist – und einem Wissensmoment – diejenigen epis90

Hiermit scheint vielleicht nicht viel gewonnen, denn auch die Herstellung von Nicht-Identitäten durch das Selbsterfassung anstrebende selbstbezügliche Bewusstsein scheint zuletzt auf einen Selbstdifferenzierung bewirkenden Mechanismus der Entgegensetzung und damit auf eine Negationsoperation angewiesen zu sein. In der Tat wird angenommen werden müssen, dass das Bewusstsein die Nicht-Identität dessen, was ihm epistemisch gegeben ist, und die Relation, mittels der es sich auf dieses Gegebene bezieht, durch negative Entgegensetzung selbst erzeugt. Diese Annahme ist nun aber nicht mehr von der (in der Phänomenologie) problematischen Annahme abhängig, dass das Wissen selbst diese negativen Verhältnisse in bewusster Transparenz herstellt und sie anschließend auch selbst reifiziert, sondern diese Annahme kann nun unmittelbar aus der Annahme der relationalen Selbstdifferenzierung des Bewusstseins hergeleitet werden, wie in 9.2.2 näher dargelegt wird.

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temischen Mittel, mit denen die jeweilige Wahrheitsinterpretation realisiert wird – unterschieden werden. Im dritten Bewusstseinssatz – das Bewusstsein prüft sich selbst – konkretisiert Hegel jene Bestimmung im Sinne einer Beschreibung der Darstellung als zusammenhängender Destruktionsweg nicht-Hegelscher Positionen, welche durch ihre Autodestruktion Hegels Position als einzig konsistente legitimieren. Das, was als »Wahrheit« und »Wissen« dem zweiten Bewusstseinssatz gemäß Elemente einer einzelnen Wissensposition sind, bilden in der Beschreibung des dritten Satzes zwei Wissenspositionen: das »Wissen« eine Wissensposition, die sich prüfend auf eine ihr auf dem phänomenologischen Wissensweg vorhergehende defiziente Wissensposition bezieht, welche sich dem prüfenden Bewusstsein als neuer Gegenstand, d. h. als »Wahrheit« präsentiert. Durch die Charakterisierung der destruktiven Prüfungsbewegung als Bewusstseinserfahrung kann schließlich die Beschreibung der Darstellung durch den zweiten Bewusstseinssatz in diejenige, die mittels des dritten Satzes vorgenommen wird, integriert werden. Diese Integration erlaubt es, die kritische Beschreibung nicht-Hegelscher Theorien, wie sie durch den dritten Satz ermöglicht wird, legitimatorisch auf die durch den zweiten Bewusstseinssatz beschriebene isosthene Dimension des erscheinenden Wissens – auf die hier gegebene Vielzahl von isosthenen Wahrheitsinhalten – abzubilden. Damit ist gezeigt, wie Hegels zweiter und dritter Bewusstseinssatz den ersten Satz explizieren. Noch ist aber nicht verständlich gemacht, was Hegel dazu berechtigt, den ersten Satz des Bewusstseins als Grundbestimmung seiner systemexternen Rechtfertigungskonzeption in Anspruch zu nehmen. Dieser Frage wird im letzten Kapitel dieser Arbeit nachgegangen.

7. Hegels Phänomenologie als Philosophiegeschichte und als metaphilosophische Theoriedisziplin

In diesem Kapitel wird dargelegt, dass auf Hegels Phänomenologie auch die anderen beiden der im dritten Kapitel genannten Indizien für das historische Vorliegen metaphilosophischer Theoriebildung zutreffen: sie kann als eine Form von Philosophiegeschichte verstanden werden (7.1) und sie ist eine spezifisch metaphilosophische Theoriedisziplin (7.2).

7.1 Die Phänomenologie als Philosophiegeschichte Hegel hat niemals explizit die These vertreten, dass es sich bei der Phänomenologie um eine Form von Philosophiegeschichte handelt. Dass sich dennoch drei Argumente für diese These anführen lassen, wird in 7.1.1 aufgewiesen. In 7.1.2 wird zunächst in Thesenform ausgeführt, wie die Phänomenologie als phänomenologische Form von Philosophiegeschichte verständlich gemacht werden kann, um dann zu zeigen, wie durch ihre philosophiehistorische Deutung die im vorigen Kapitel dargelegte metaphilosophische Interpretation der Phänomenologie zusätzlich plausibilisiert werden kann.

7.1.1 Drei Argumente für die Deutung der Phänomenologie als Philosophiegeschichte Das erste Argument folgt aus dem, was in dieser Arbeit über das »erscheinende Wissen« und die »Geschichte der Bildung des Bewusstseins« vorgetragen wurde: Wenn es sich, wie in 5.3 dargelegt, beim erscheinenden Wissen um philosophisches Wissen handelt, das als isosthene Vielfalt von Theorien auftritt, und die phänomenologische Wissenschaft, wie in 6.1 ausgeführt, für Hegel die Entwicklungsgeschichte dieses philosophischen Wissens, die »Geschichte der Bildung des Bewußtseyns« (GW 9, 56) ist, dann muss die wissenschaftliche Geschichte des erscheinenden Wissens eine eigentümliche Form von Philosophiegeschichte sein.1

1

Schon Haym hat die These vertreten, dass die Phänomenologie auch als eine Form Phänomenologie als historische und metaphilosophische Theoriedisziplin

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Als zweites Argument kann angeführt werden, dass Hegel zur Zeit der Phänomenologie Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie abhielt, die mit ihr in einem thematischen und funktionalen Zusammenhang standen. Es handelt sich dabei um Vorlesungen, die Hegel im Wintersemester 1805/6 – d. h. mitten in der Abfassungszeit der Phänomenologie2 – zum ersten Mal vortrug und laut Gabler »wohl selbst erst damals unter dem fleißigsten und anhaltendsten Quellenstudium ausarbeitete« (Dokumente, 69–70).3 Obwohl keine Primärquellen zu diesen Vorlesungen mehr erhalten sind, können mehrere Indizien angeführt werden, welche eine thematische und funktionale Verwandtschaft mit der Phänomenologie wahrscheinlich machen.4 Zunächst legt das, was Gabler und Rosenkranz über diese Vorlesungen berichten, eine thematische Verwandtschaft mit der Phänomenologie nahe. So hat Hegel laut Rosenkranz die letzte Vorlesung mit der Bemerkung beschlossen, »daß es dem Weltgeiste jetzt gelungen ist, alles fremde, gegenständliche Wesen sich abzuthun und endlich sich als absoluten Geist zu erfassen, und, was ihm gegenständlich wird, aus sich zu erzeugen« (Hegel’s Leben, 202); und Gabler berichtet, dass Hegel die Geschichte der Philosophie in diesen Vorlesungen als die »dialektische Fortführung von System zu System« (Dokumente, 70) dargestellt habe.5 Auch in diesen Vorlesungen scheint Hegel also die Geschichte der Philosophie als eine (erfahrungs-)dialektische Bewegung

von Philosophiegeschichte verstanden werden kann; vgl. Haym 1857, 234. Vgl. in neuerer Zeit z. B. Flay 1974. 2 Vgl. Anm. 21. 3 Vgl. Dokumente, 55 und Hegel’s Leben, 201. 4 Die These eines thematischen Zusammenhangs wird oft vertreten. So bemerkt Jaeschke in Bezug auf die Vorlesung über Philosophiegeschichte von 1805/6: »Auch wenn wir von dieser Vorlesung […] keine gesicherten Quellen […] haben: An der inhaltlichen Verschränkung dieser beiden Gebiete [Phänomenologie und Philosophiegeschichte] kann kein Zweifel bestehen. Noch Hegels Manuskript zur Geschichte der Philosophie aus dem Jahre 1823 weist ja Spuren der Diktion der Vorrede zur Phänomenologie auf. Es ist deshalb keine gewagte These, daß diejenige Einsicht, die für die spezifische Gestaltung der Einleitungsfunktion der Phänomenologie verantwortlich ist, sich Hegels philosophiegeschichtlichen Studien des Winters 1805/6 verdanke« (Jaeschke 2009, 25). Jaeschke vertritt allerdings nicht die These eines funktionalen Zusammenhangs, sondern ist der Meinung, dass die Problematik der Geschichtlichkeit »nicht aus dem Umkreis der Einleitungsproblematik [stammt]« (ebd.). Vgl. zu diesen Fragen auch Förster 2011, 295 ff. 5 Laut Michelet fand sich in weiten Teilen des heute nicht mehr vorliegenden Jenaischen Hefts – vgl. dazu unten – eine »Terminologie«, wie sie »Theils für sich, Theils im Uebergange zur Terminologie der Phänomenologie begriffen ist« (Michelet 1833, X). Vgl. auch den Abschnitt E. Das Resultat (in: Werke 15, 684–692; TWA 20, 454–462) aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Edition Michelets, das vermutlich in weiten Teilen auf das Jenaische Heft zurückgeht; vgl. Jaeschke 1993, XII. Vgl. auch 8.2. Die Phänomenologie als Philosophiegeschichte

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von Gestalten dargestellt zu haben, welche am Ende zur Überwindung dualistischer Gegensätze führt. Es stellt sich nun die Frage, ob auch eine funktionale Verwandtschaft mit der Phänomenologie vorliegt, d. h. ob die Vorlesungen von 1805/6 ebenfalls in einem propädeutischen Einleitungskontext gestanden haben. Möglich scheint auch, dass Hegel sie in einem Systemkontext entwickelt hat, genauer: im Kontext seiner »Realphilosophie«, zu der er in diesem Semester ebenfalls Vorlesungen abhielt.6 Diese Fragen werden aufgrund der schlechten Quellenlage nicht mit Sicherheit entschieden werden können, m. E. ist aber erstere Möglichkeit wahrscheinlicher.7 Denn auch Hegels spätere Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie scheinen für ihn eine Einleitungsfunktion gehabt zu haben. So heißt es in einem Manuskript, das Hegel 1820 zu diesen späteren Vorlesungen verfasst hat, dass die Philosophiegeschichte das »Werden unserer Wissenschaft darstellt« (GW 18, 38). Die Verwendung dieser Formulierung scheint eine funktionale Kontinuität mit der Phänomenologie zu suggerieren, denn in der Vorrede zur Phänomenologie heißt es in einer sehr ähnlichen Formulierung: »Diß Werden der Wissenschaft überhaupt […] ist es, was diese Phänomenologie des Geistes […] darstellt« (GW 9, 24).8 Bestätigt wird diese Sicht durch zwei Randbemerkungen in dem Manuskript von 1820, in denen es jeweils, wohl in Bezug auf die argumentative Funktion seiner philosophiehistorischen Ausführungen, heißt: »Einleitung in die Philosophie selbst« (GW 18, 38, 39).9 Wenn dagegen angenommen wird, dass die von den (späteren) Vorlesungen thematisierte Philosophiegeschichte für Hegel einen Teil des Systems bildet, spricht am meisten dafür, sie der realphilosophischen Disziplin der 6

Vgl. Dokumente, 55. Auch Düsing (vgl. Düsing 1983, 21 ff.) und Förster (vgl. Förster 2011, 298 f.) nehmen an, dass die Vorlesungen von 1805/6 eine Einleitungsfunktion hatten, meinen aber, dass diese didaktisch war. 8 Hegel hat den Anfangsteil seiner Vorlesungen zwar später modifiziert – vgl. dazu weiter unten –, man wird aber davon ausgehen können, dass die Bemerkungen, die in funktionaler Kontinuität mit der Phänomenologie stehen, davon nicht betroffen gewesen sind, da Hegel ja zwischen 1812 und 1817 seine phänomenologische Einleitungskonzeption aufgegeben bzw. sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr aktiv vertreten hat (vgl. dazu 1.4). Die Bemerkungen, die durch die Phänomenologie beeinflusst sind bzw. mit ihr in funktionaler Kontinuität stehen, werden also bereits in den früheren Vorlesungen enthalten gewesen sein. Es gibt sogar Indizien dafür, dass die zuletzt geschriebene Vorrede (zwischen Oktober 1806 und Januar 1807; vgl. Bonsiepen 1988, XXIII) durch Formulierungen aus den Vorlesungen von 1805/6 beeinflusst ist; vgl. dazu 8.2. 9 Vgl. dazu Düsing 1983, 21. Vgl. auch die Vorlesungsankündigung für das WS 1817/18: »Geschichte der Philosophie […], zur Einleitung in die Philosophie« (Hegel als Professor, 97). 7

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Philosophie des Geistes und dort spezifischer dem Philosophieabschnitt des absoluten Geistes zuzuordnen.10 Diese Annahme ist m. E. allerdings insgesamt unplausibel, denn Hegel betont in dem Manuskript von 1820 mehrmals, dass die Vorlesungen nicht von der Philosophie in ihrer wissenschaftlichen Form, d. h. von der Philosophie in Systemform, sondern von der »empirischen Gestalt und Erscheinung, in der die Philosophie geschichtlich auftritt« (GW 18, 50) handeln. Auch ist die Geschichte der Philosophie, anders als die Philosophie der Weltgeschichte, für Hegel keine enzyklopädische Systemdisziplin; in der Philosophie des absoluten Geistes wird sie kein einziges Mal erwähnt. Vielmehr betont Hegel in der Einleitung zur Berliner Enzyklopädie, dass die »Philosophiegeschichte« und das »System« unterschiedliche Thematisierungsformen von »Philosophie« darstellen. Erstere handele von den Erscheinungsformen der Philosophie, den »erscheinenden Philosophieen«: »In der eigenthümlichen Gestalt äußerlicher Geschichte wird die Entstehung und Entwickelung der Philosophie als Geschichte dieser Wissenschaft vorgestellt. Diese Gestalt gibt den Entwickelungs-Stufen der Idee die Form von zufälliger Aufeinanderfolge und etwa von bloßer Verschiedenheit der Principien und ihrer Ausführungen in ihren Philosophieen« (GW 20, 54–55; § 13). Das »System« handele dagegen von dem, was Philosophie eigentlich sei: »Dieselbe Entwickelung des Denkens, welche in der Geschichte der Philosophie dargestellt wird, wird in der Philosophie selbst dargestellt, aber befreit von jener geschichtlichen Aeußerlichkeit, rein im Elemente des Denkens. […] Die Wissenschaft desselben [des Absoluten als freien Gedanke in seiner ganzen Allgemeinheit] ist wesentlich System« (GW 20, 56; § 14). Die Philosophiegeschichte, die, wie die Phänomenologie vorher, die Philosophie als erscheinendes Wissen thematisiert,11 scheint von Hegel also nicht als Teil seines Systems angesehen zu werden. Obwohl es also plausible Gründe für die Annahme gibt, dass sowohl die früheren als auch die späteren Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in einem propädeutischen Einleitungskontext entstanden sind, wird man nicht davon ausgehen können, dass diesen Vorlesungen das gleiche Einleitungsverständnis zugrundegelegen hat. Die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von 1805/6 sind zwar nicht überliefert, dem Herausgeber der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Freundesvereinsaus10

Vgl. in der Heidelberger Enzyklopädie GW 13, 245–247; §§ 472–477 und in der Berliner Enzyklopädie GW 20, 554–571; §§ 572–577. In diese Richtung gehen teilweise Fulda (vgl. Fulda 1975, 194–232) und Düsing (vgl. Düsing 1983, 7 und 21 ff.), der für die Vorlesungen zugleich eine didaktische Einleitungsfunktion annimmt. 11 Vgl. Pöggeler 1993, 226 f.

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gabe12 – Karl Ludwig Michelet – hat aber noch ein Hegelsches Manuskript zu den Vorlesungen von 1805/6 vorgelegen, das er als »Jenaisches Heft«13 bezeichnet. Laut Michelet hat dieses Jenaische Heft das ursprüngliche »Knochengerüst« (Michelet 1833, XIII; GW 18, 340) dieser Vorlesungen gebildet, das Hegel in späteren Vorlesungen nur materialiter ausgeweitet habe. Eine Ausnahme macht Michelet aber bei den Einleitungspartien: »Die Einleitung zum jenaischen Heft ist später von ihm [Hegel] selbst nie gebraucht worden, und war in der That für den Herausgeber [Michelet] bis auf einzelne Stellen unbrauchbar« (Michelet 1833, VII; GW 18, 339). Den einleitenden Anfangsteil des Jenaischen Hefts, in dem Hegel Begriff, Zweck und Methode der Philosophiegeschichte bestimmt haben wird, scheint Hegel also in späteren Jahren grundsätzlich umgearbeitet zu haben.14 Für diese These finden sich weitere Anhaltspunkte. So ist auffällig, dass nach dem Manuskript von 1820 das empirische Material der Philosophiehistorie von vornherein mithilfe von logischen Kategorien so geordnet werden soll, dass die Philosophiegeschichte als eine Entwicklung dargestellt werden kann, die der Entwicklung der logischen Momente in der Logik entspricht.15 Da in dem Manuskript zudem das argumentative Primat der logischen Perspektive gilt,16 scheint man schlussfolgern zu dürfen, dass hier mit der philosophiehistorischen Darstellung kein selbständiger Beweischarakter (mehr) verbun12

Es handelt sich hierbei um eine Kompilation von (z. T. heute nicht mehr vorliegenden) Hegelschen Manuskripten und fremden Nachschriften dieser Vorlesung aus verschiedenen Zeiten. Vgl. die nächsten beiden Anmerkungen. 13 Vgl. Michelet 1833, VI; GW 18, 339. Vgl. zum Folgenden insgesamt Michelets Vorrede zu seiner Edition der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in Bd. 13 der Freundesvereinsausgabe (Michelet 1833), welche auch auszugsweise abgedruckt ist in GW 18, 339–340. 14 Ähnlich urteilt Jaeschke in Jaeschke 1993, XI–XII. Düsing (vgl. Düsing 1983, 18 ff.) und Förster (vgl. Förster 2011, 295 ff., insbesondere 296, Fußnote 42) nehmen dagegen keinen grundsätzlichen Konzeptionswandel an. Erhebliche Differenzen zwischen den früheren und späteren Vorlesungen scheinen mir auch deshalb wahrscheinlich, weil Michelet sich in seiner Edition nicht nach den Prinzipien einer textkritischen Edition richtet, sondern eine Verschmelzung der verschiedenen Hegelschen Manuskripte und der fremden Nachschriften anstrebt – so dass es »scheine, als ob das Ganze, wie mit Einem Gusse, aus dem Geiste des Verfassers [Hegel] hervorgegangen sey« (Michelet 1833, XII); »eine Wortfassung« wählend, »wie sie dem Sinn und Geist des Verstorbenen am entsprechendsten wäre« (Michelet 1833, X). Dass Michelet trotz dieser Intention die Einleitungspartien zum Jenaischen Heft für seine Edition unbrauchbar befand, scheint mir auf grundsätzliche Modifikationen hinzudeuten. 15 Hegel geht hier von der Vorstellung aus, dass »die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee« (GW 18, 49). Vgl. dazu und zum Folgenden Düsing 1983, 26 ff. und Fulda 2007. 16 Vgl.: »um in der empirischen Gestalt und Erscheinung, in der die Philosophie ge-

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den wird, sondern ihr, ähnlich wie den Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität, ein historisch-räsonierendes Einleitungsverständnis zugrundeliegt.17 Wenn man annimmt, dass dem Jenaischen Heft das gleiche Einleitungsverständnis wie der Phänomenologie zugrundegelegen und Hegel zum Zeitpunkt der Abfassung der (ersten Hälfte der) Phänomenologie nicht zwei völlig verschiedene Einleitungskonzeptionen vertreten hat, wird man davon ausgehen können, dass die Bemerkungen in Hegels Manuskript von 1820, denen gemäß die Philosophiegeschichte nach logischen Kategorien geordnet werden soll, eine spätere Zutat darstellen.18 In diesem Fall wäre es in der Tat nicht verwunderlich, dass Michelet das Jenaische Heft in Bezug auf die Einleitungspartien für unbrauchbar gehalten hat. Man hätte es mit zwei Modellen von Philosophiegeschichte zu tun, denen ein jeweils verschiedenes Einleitungsverständnis zugrundeliegt: den früheren Vorlesungen ein phänomenologisch-systemexternes,19 den späteren Vorlesungen ein didaktisches. In ihrer Gesamtheit berechtigen die vorgetragenen Indizien m. E. zu der Annahme, dass zwischen der Phänomenologie und den Vorlesungen von 1805/6 eine starke thematische und funktionale Verwandtschaft bestanden hat. Aufgrund dessen wird man davon ausgehen können, dass eine wechselseitige Beeinflussung stattfand.20 Auffällig ist jedenfalls, dass in den Teilen der Phänomenologie, welche Hegel im Wintersemester 1805/6 geschrieben schichtlich auftritt, ihren Fortgang als Entwicklung der Idee zu erkennen, muß man freylich die [logische] Erkenntniß der Idee schon [!] mitbringen« (GW 18, 50). 17 Zu den Drei Stellungen vgl. 1.4, (c). Ob die späteren Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte dabei eine selbständige Einleitungskonzeption neben den Drei Stellungen darstellen, soll hier nicht entschieden werden. Mir will allerdings scheinen, dass beide Ausdruck eines allgemeineren historischen Einleitungsverständnisses sind, das Hegel während der Berliner Zeit entwickelt hat. So wird auch in den Drei Stellungen explizit Bezug genommen auf Konstellationen der empirischen Philosophiegeschichte, und die Drei Stellungen werden von Hegel ausdrücklich als »historisch[e]« Betrachtung (GW 20, 69; § 25, Anm.) charakterisiert. Sie scheinen also nach den oben zitierten Bestimmungen aus der Einleitung der Berliner Enzyklopädie (GW 20, 54–55; § 13) als ein Fall von Philosophiegeschichte angesehen werden zu müssen. 18 Vgl. Jaeschke 1993, XII. 19 Dabei wird man natürlich auch erhebliche Unterschiede zur Phänomenologie voraussetzen dürfen; so wird Hegel in den Vorlesungen von 1805/6 keine systematischen Titelüberschriften verwendet haben. Von der Grundkonzeption her scheint mir aber eine Verwandtschaft tatsächlich plausibel. Auch in den späteren Vorlesungen handelt es sich bei dem, was als philosophische Theorie zum Gegenstand gemacht wird, immer noch um übergeordnete theoretische Konstellationen; man denke nur an die Interpretation von Descartes als Begründer der neuzeitlichen Philosophie (vgl. TWA 20, 120 ff.). Vgl. auch Anm. 25. 20 Vgl. dazu im Einzelnen 8.2.

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haben dürfte – den späteren Partien der ersten Hälfte der Phänomenologie21 – konkrete philosophiehistorische Konstellationen wie Stoizismus, Skeptizismus usw.22 eine große Rolle spielen. Als drittes und letztes Argument für die Deutung der Phänomenologie als Form von Philosophiegeschichte kann schließlich angeführt werden, dass zu Hegels Zeit eine Verbindung von Metaphilosophie und Philosophiegeschichte keineswegs ein singulär Hegelscher Gedanke war.23 So vertritt Friedrich Schlegel im ersten Buch seiner Vorlesungen über Die Entwicklung der Philosophie von 1804/5 eine Einleitungskonzeption, in der ebenfalls mit dem, was er als »Philosophiegeschichte« begreift, metaphilosophische Aufgaben verbunden werden. In Abgrenzung von herkömmlichen Einleitungsstrategien24 bestimmt Schlegel hier als Aufgabe der Einleitung in die Philosophie »die Kritik aller vorhergegangenen Philosophien […], welche zugleich auch das Verhältnis der eigenen zu den andern schon bestehenden Philosophien aufstellt« (KFSA 12, 110). Diese Kritik könne nicht auf der Grundlage eines bestimmten Systems erfolgen. Da »die Philosophien eine zusammenhängende Kette bilden« und »ein philosophisches System sich auf das andere stützt«, sei vielmehr »zur Verständigung des einen [Systems] immer wieder die Kenntnis des andern vorhergehenden erforderlich« (KFSA 12, 111). Dies bedeutet für Schlegel, dass die einleitende Kritik als »historische[…] Kritik« 21

Wie Förster erneut plausibel gemacht hat, wird Hegel um Februar 1806 den Text für den Druck der ersten 21 Bogen (= 336 Seiten) bei Göbhardt abgeliefert haben; erst im Februar/März dürfte Hegel dann mit der Abfassung der zweiten Hälfte der Phänomenologie angefangen haben; zu den näheren Details vgl. 8.1. Wenn man davon ausgeht, dass Hegel mit der Abfassung der ersten Hälfte der Phänomenologie Ende 1804/5 anfing (vgl. Hegel’s Leben, 214), ist zu vermuten, dass er während der Ausarbeitung der Vorlesungen über Philosophiegeschichte im WS 1805/6 gleichzeitig an den späteren Partien der ersten Hälfte – d. h. wohl vor allem an der Freyheit des Selbstbewusstseyns (S. 129–161 der Originalausgabe) und der Gewissheit und Wahrheit der Vernunft (S. 162 ff. in der Originalausgabe) – gearbeitet habe. Unwahrscheinlich scheint mir dagegen, dass Hegel die Phänomenologie erst nach Beginn der Vorlesungen angefangen hat; denn in diesem Fall müsste man annehmen, dass er die erste Hälfte der Phänomenologie in weniger als 4 Monaten verfasst hat (vgl. dazu 8.2). 22 Vgl. GW 9, 116 ff. 23 Vgl. Geldsetzer 1968 und Kolmer 1998; vgl. auch 3.3. 24 Laut Schlegel wurden in der Philosophie bisher drei Einleitungsstrategien verfolgt, die er als rhetorische – »Vergleichung des Lebens mit der Philosophie« –, enzyklopädische – »Vergleichung der Wissenschaften mit der Philosophie« – und logische – diese erhebt »einen wissenschaftlichen Anspruch« – bezeichnet; vgl. KFSA 12, 109 f. Alle drei Strategien werden von Schlegel mit dem gleichen Argument abgelehnt, das auch Hegel gegen die herkömmlichen Strategien zur Einleitung in die Philosophie richtet (vgl. dazu 1.5.1): sie setzen als Formen von vorläufigem Philosophieren bereits eine Bekanntschaft mit demjenigen, in das sie einleiten sollen, voraus; vgl. KFSA 12, 110.

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(KFSA 12, 112) konzipiert werden muss und »notwendig zur Geschichte der gesamten Philosophie« (KFSA 12, 111) führt. Man sieht, dass zu Hegels Zeit auch auf ganz explizite Weise eine metaphilosophische Funktion mit »Philosophiegeschichte« verbunden werden konnte. Die vorgetragenen Argumente haben hoffentlich deutlich werden lassen, dass es sich für Hegel bei der Phänomenologie in einer bestimmten Hinsicht tatsächlich um eine Form von Philosophiegeschichte gehandelt hat. Man wird aufgrund dieser Argumente aber zumindest zugeben müssen, dass die Phänomenologie für Hegel eng mit dem verwandt war, was er und andere zu dieser Zeit als »Philosophiegeschichte« ansahen.

7.1.2 Die Phänomenologie als Philosophiegeschichte und die metaphilosophische Interpretation So gute Gründe es also gibt, die Phänomenologie als eine Form von Philosophiegeschichte zu betrachten, so wenig plausibel ist es, sie als eine philologisch-kritische Form von Philosophiegeschichte zu verstehen, die durch das Bestreben nach größtmöglicher chronologischer und philologischer Korrektheit bei der Darstellung philosophischer Theorien ausgezeichnet wäre – die Phänomenologie ist für Hegel ja kein doxographischer Bericht über die empirischen Bedingungen, unter denen philosophische Ansichten vertreten wurden, sondern eine metaphilosophische Geschichte von Bewusstseinsgestalten. Es ist daher naheliegender, sie als eine strukturale Form von Philosophiegeschichte zu begreifen. Als Charakteristika der Phänomenologie im Sinne einer strukturalen Philosophiegeschichte können zwei Eigenschaften angesehen werden. Erstens ein strukturaler Theoriebegriff. Hegel erstrebt wie die Vertreter einer philologisch-kritisch verfahrenden Philosophiegeschichte eine Darstellung aller faktisch vertretenen philosophischen Ansichten, ordnet diese jedoch nicht nach empirischen, sondern (metaphilosophisch-)systematischen Gesichtspunkten an.25 Es ergibt sich so eine begrenzte Anzahl von »Theorien«, die jeweils für 25

Ich verstehe unter »empirischer« bzw. »philologisch-kritischer« Philosophiegeschichte einerseits und »strukturaler« Philosophiegeschichte andererseits zwei Weisen, aufgrund faktisch gegebener Ansichten den Ereignisverlauf dessen, was jeweils als »Philosophiegeschichte« gilt, zu rekonstruieren. In einer »empirischen« Philosophiegeschichte wird dieser Verlauf ausschließlich aufgrund empirisch-historisch gegebener Quellen und mit den philologischen Methoden der kritischen Geschichtswissenschaft rekonstruiert; in einer »strukturalen« Philosophiegeschichte werden dagegen nicht-empirische: philosophische oder metaphilosophische Mittel bei der Rekonstruktion verwendet. Auch das, was in materialer Hinsicht als »Philosophiegeschichte« verstanden wird, kann in beiden

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eine bestimmte Menge von faktisch vertretenen philosophischen Ansichten stehen, die nach einem bestimmten systematischen Merkmal zusammenhängen bzw. über ein solches Merkmal definierbar sind. Diese »Theorien« können entweder – so etwa »die sinnliche Gewissheit« (Sensualismus) und »die Wahrnehmung« (Ding-Eigenschaft-Dualismus) – sehr weit gefasst oder – so etwa »der Stoizismus« und »der Skeptizismus« – stärker an herkömmliche Kategorien der empirischen Philosophiegeschichte angelehnt sein. So kann z. B. »die sinnliche Gewissheit« als Theorie verstanden werden, die für verschiedene faktisch gegebene Formen von Sensualismus steht und sich dabei sowohl auf faktisch gegebene Gesamttheorien als auch auf sensualistische Teiltheoreme solcher Theorien (etwa Kants transzendentale Ästhetik) bezieht.26 Während diese verschiedenen Formen in herkömmlicher empirisch-philosophiehistorischer Rekonstruktion als eigenständige Theorien, etwa als von ihrem Gehalt her unterschiedliche »antike« und »neuzeitliche« Formen von Sensualismus angesehen werden, gelten sie dem phänomenologischen Historiker als Instanziierungen derselben theoretischen Ansicht darüber, was letztlich wahr und seiend ist: der (früh)antike Sensualismus als ursprüngliche Instanziierung, die späteren Formen als derivative Instanziierungen dieser Ansicht, also als Wiederholungen des antiken Sensualismus. Formen der Philosophiegeschichte völlig Unterschiedliches sein. Der Unterschied beider Rekonstruktionsweisen sei kurz anhand der Frage illustriert, ob und wann seit der Antike von qualitativ neuen Theorien gesprochen werden kann. Der empirische Philosophiehistoriker wird diese Frage ausschließlich aufgrund der überlieferten Quellen beantworten. Er könnte sie beispielsweise mit dem Argument bejahen, dass ab dem 14. Jahrhundert viele Autoren der italienischen Renaissance, so etwa Petrarca oder Ficino, sich in ihren Texten explizit als »neuzeitliche Philosophen« präsentiert haben. Der strukturale Philosophiehistoriker würde diese Frage dagegen aufgrund nicht-empirischer Kriterien entscheiden. Er könnte beispielsweise anführen, dass die erste qualitativ neue philosophische Theorie seit der Antike diejenige ist, in der Subjektivität eine argumentativ eigenständige Rolle spielt; auf welche philosophische Position dieses Kriterium aber zutreffen soll – auf diejenige etwa Kants, Descartes’ oder Augustins – ist eine theoretische Entscheidung des strukturalen Philosophiehistorikers. (Selbstverständlich sind auch Mischformen beider Formen von Philosophiegeschichte möglich. Die philosophiehistorischen Vorlesungen von 1805/6 dürften im Verhältnis zur Phänomenologie eine weniger reine Form von strukturaler Philosophiegeschichte, die späteren Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie im Verhältnis zur früheren Vorlesungen eine Mischform mit einem noch größeren Anteil empirisch-philosophiehistorischer Elemente gewesen sein. Auch letztere Vorlesungen bleiben aber m. E. überwiegend eine strukturale Form von Philosophiegeschichte; der Verlauf der Philosophiegeschichte soll ja nach Kategorien der Logik rekonstruiert werden.) 26 Vgl. zur philosophiehistorischen Zuordnung dieser in der sinnlichen Gewissheit (GW 9, 63–70) ausgeführten »Theorie« Bowman 2003, der eine große Anzahl von Positionen von Platon bis Krug und Schulze anführt, und (für die Antike) Purpus 1908. Für eine etwas ausführlichere Illustration, wie eine Bewusstseinsgestalt als philosophische Theorie interpretiert werden kann, vgl. 8.2 (Ende).

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Als zweites Charakteristikum kann die Tatsache angesehen werden, dass Hegel in der Phänomenologie metaphilosophisch-strukturelle Gründe für den historischen Verlauf der Philosophie verantwortlich macht, die den dargestellten Positionen verborgen bleiben können. Mit diesen Gründen sind die Inkonsistenzen gemeint, die nach Hegels metaphilosophischer Bewusstseinstheorie für den Übergang von Bewusstseinsgestalt zu Bewusstseinsgestalt, d. h. von »Theorie« zu »Theorie« verantwortlich sind. Diese Inkonsistenzen bestehen, wie im sechsten Kapitel gezeigt, in der Nicht-Identität von dem, was in einer Theorie jeweils für wahr gehalten wird, und den relationalen Mitteln, mit denen eine solche Wahrheitsauffassung jeweils realisiert wird. Obwohl der Grund für den Übergang in eine nachfolgende Theorie innerhalb dieser nachfolgenden Theorie epistemisch opak bleibt, kann er doch legitimatorisch auf die vorhergehende abgebildet werden, insofern die nachfolgende Theorie als aus der Prüfungsaktivität der vorhergehenden resultierend, als deren Selbstdifferenzierungsprodukt begriffen werden kann.27 Im Rahmen einer derartigen metaphilosophischen Strukturgeschichte muss die Folge der »Theorien« nicht der (zeitlichen) Abfolge entsprechen, in denen diese Theorien als »Ansichten« oder »Meinungen« empirisch vertreten wurden. Hegel ist insofern nicht an die Chronologie der empirischen Philosophiegeschichte gebunden.28 Wichtig für die metaphilosophische Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie ist vielmehr zweierlei: Erstens muss eine strukturale Betrachtung garantieren können, dass alle theoretischen Positionen, welche sich von der Hegelschen unterscheiden, vollständig dargestellt werden.29 Dafür ist (in Bezug auf die bisher vertretenen Meinungen) 27

Vgl. dazu 6.2.3 und 6.2.4. Die schwierige Frage, inwiefern Hegels phänomenologische (und spätere) Philosophiegeschichte in die Zeit fällt, soll an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Es sei aber angedeutet, wie eine mögliche Lösung aussehen könnte. Die phänomenologische Darstellung hat für Hegel zwei Aspekte: eine wissenschaftliche Analyseebene und die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens; vgl. dazu 6.1. Mir scheint, dass die phänomenologische Geschichte von ihrer wissenschaftlichen Seite aus besehen nicht in die Zeit (zumindest nicht in eine »theorieexterne«) fällt, sondern eine (im nicht-Hegelschen Sinne) »logische Geschichte« ist (wenn Hegel diese auch im Verhältnis zu Fichte und Schelling dynamisierter bzw. historisierter konzipiert): Wenn die Phänomenologie eine metaphilosophische Theorie ist, die nicht von theorieexternen Sachverhalten handelt, darf das, was von ihr thematisiert wird, ja als solches nichts Realzeitliches sein. Obwohl die phänomenologischen Wissenspositionen also als solche nicht in die (reale) Zeit fallen, scheinen sie mir dennoch auch zeitlich instanziiert zu sein. So verstanden gilt für das Verhältnis der Bewusstseinsgestalten zu ihrer zeitlichen Instanziierung in der Phänomenologie Ähnliches wie für das Verhältnis der logischen Kategorien zu ihrer zeitlichen Instanziierung in Hegels späteren Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. 29 Ihrem Anspruch nach werden von der Phänomenologie alle möglichen systematischen Alternativen zu Hegels philosophischer Theorie vollständig dargestellt und kriti28

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zunächst nur erforderlich, dass in den von der Phänomenologie dargestellten Theorien alle Ansichten, welche bis zum Erscheinen der Phänomenologie faktisch vertreten wurden, repräsentiert sind. Zweitens muss die strukturale Betrachtung eine kritisch-destruktive Funktion in Bezug auf die dargestellten Theorien (und d. h. indirekt: auf alle faktisch vertretenen Ansichten) erfüllen können; und diese Funktion muss einerseits legitimatorisch auf diese Theorien abgebildet werden, andererseits ihnen aber opak bleiben können. Dafür ist nur erforderlich, dass die Theorien in einem genealogischen Abfolgeverhältnis30 auseinander hervorgehen, in welchem komplexere (und insofern spätere) Theorien auf weniger komplexe (und insofern früheren) folgen.31 Hegel führt nirgendwo explizit aus, dass und wie es sich bei der Phänomenologie um eine Form von Philosophiegeschichte handelt. Der Grund dafür dürfte mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Philosophiegeschichte damals noch nicht als eigenständige Disziplin galt; als solche sollte sie sich vielmehr erst (u. a.) aufgrund von Hegels Anstrengungen auf diesem Gebiet siert. Sie bezieht sich von ihrem Selbstverständnis her also auch auf zukünftige Positionen, genauer: auf zukünftige Vertreter von den in der Phänomenologie dargestellten Positionen. Anders formuliert: die Philosophiegeschichte ist laut Hegel mit ihm zu ihrem Ende gekommen; es kann nur noch eine Wiederholung schon bestehender Ansichten geben. Die Position der »sinnlichen Gewissheit« würde aufgrund dieses Anspruchs also auch z. B. Feuerbachs sensualistische Position mitdarstellen. 30 Vgl. dazu 6.1. 31 Betrachtet man den Haupttext der Phänomenologie, scheint mir nichtsdestoweniger in der Grobstruktur eine chronologische Entsprechung zur Philosophiegeschichte, wie sie sich nach herkömmlicher Rekonstruktion empirisch-historisch präsentiert, angenommen werden zu können. Meines Erachtens liegt es nahe, das Bewusstseinskapitel auf antike, das Selbstbewusstseinskapitel auf hellenistische (»Stoizismus« und »Skeptizismus«) bis frühneuzeitliche und das Vernunftkapitel auf frühneuzeitliche bis zeitgenössische Positionen zu beziehen. (In der ursprünglich nicht vorgesehenen zweiten Hälfte der Phänomenologie scheinen mir dagegen vor allem (für Hegel) gegenwärtige Positionen des historischen Denkens thematisiert zu werden; vgl. dazu 8.2.). Ähnlich Michael Forster in Forster 1998, 296–359, der diese Entsprechung allerdings auch für die reale Geschichte geltend macht; vgl. insbesondere den Überblick möglicher historischer Zuordnungen in Forster 1998, 352 (»Table 1«) und Forsters Zurückweisung von Argumenten gegen eine chronologische Zuordnung in Forster 1998, 353 ff. Der strukturale Charakter von Hegels phänomenologischer Philosophiegeschichte kommt m. E. u. a. darin zum Ausdruck, dass in jedem Hauptkapitel ein bestimmtes Problem im Mittelpunkt steht; so etwa im Bewusstseinskapitel die Möglichkeit des externen Gegenstandsbezuges bzw. objektiver Erkenntnis. Innerhalb dieses Kapitels ergeben sich dann drei (historische) Paradigmata des Umgangs mit dem Problem objektiver Erkenntnis: ein früh-antikes präsentistisches (»die sinnliche Gewissheit«), ein aristotelisch-mittelalterliches substanzdualistisches (»die Wahrnehmung«) und ein (früh)hellenistisches, das mit »Kräften« arbeitet (»Kraft und Verstand«). Im Selbstbewusstseinskapitel steht dann das Problem der Subjektivität zentral, in Bezug auf das hellenistische bis (früh)neuzeitliche Positionen dargestellt werden.

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etablieren. Daher konnte im vorigen Kapitel die These, dass es sich bei der Phänomenologie um eine bestimmte Form von Philosophiegeschichte handelt, nicht unmittelbar bei der rekonstruktiven Interpretation von Hegels phänomenologischer Bewusstseinstheorie in Anspruch genommen werden. Dafür erlaubt sie aber, die metaphilosophische Deutung der Phänomenologie zusätzlich zu plausibilisieren. Zunächst trägt die philosophiehistorische Deutung der Phänomenologie zur Plausibilität der These bei, dass ihr ein faktisch-historisches Isosthenieverständnis zugrundeliegt. Sie macht die Annahme, dass die Gegebenheit der Philosophie als erscheinendes Wissen, d. h. als isosthene Vielfalt von philosophischen Theorien, für Hegel keine philosophische These, sondern ein Faktum ist, erst recht plausibel; diese Gegebenheit kann ja nun als (im phänomenologischen Sinne) philosophiehistorisches Faktum verstanden werden.32 Aber auch die metaphilosophische Interpretation der auf das Problem der Isosthenie reagierenden phänomenologischen Darstellungskonzeption kann durch deren Deutung als Form von Philosophiegeschichte zusätzlich plausibilisiert werden. Die Darstellung des erscheinenden Wissens wurde interpretiert als kritische Darstellung der faktisch als isosthene Vielfalt von Theorien gegebenen Philosophie; diese kritische Darstellung wurde nicht als externe Prüfung verstanden, sondern als Entwicklungsprozess, der vom erscheinenden Wissen selbst vollzogen wird.33 Es fällt schwer, diesen den geprüften Positionen verborgenen Entwicklungsprozess als etwas zu verstehen, das unabhängig von philosophischer Beschreibung faktisch gegeben ist. Wird die Darstellung aber als Form von Philosophiegeschichte verstanden, gewinnt auch diese These an Überzeugungskraft. Denn in dem, was üblicherweise als »Philosophiegeschichte« angesehen wird, ist nicht nur eine historische Vielfalt von Theorien faktisch gegeben, sondern auch eine logisch zusammenhängende Abfolge von Positionen, in der jede nachfolgende Position kritisch auf die Unzulänglichkeiten der vorhergehenden reagiert; in Schlegels Worten, eine Abfolge, in der »ein philosophisches System sich auf das andere stützt« (KFSA 12, 111).34 Und auch die bewusstseinstheoretische Ausarbeitung von Hegels metaphilosophischer Konzeption kann schließlich durch ihre philosophiehistorische Deutung zusätzlich plausibilisiert werden. Das Bewusstsein wurde als Struktur interpretiert, welche nur über ein Wissen von ihren jeweiligen Wahrheits-

32

Vgl. 5.3 Vgl. 6.1. 34 Vgl. in Hegels Vorlesungen (Edition Michelet): »Jede Philosophie ist […] Glied in der ganzen Kette der geistigen Entwicklung« (Werke 13, 60; TWA 18, 65). 33

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Die Phänomenologie als historische und metaphilosophische Disziplin

inhalten verfügt, die prüfende Transitionsbewegung von Inhalt zu Inhalt aber in völliger Unwissenheit vollzieht; das, was Hegel »Erfahrung« nennt, wurde als Bezeichnung für diese transitorische Aktivität interpretiert, die als defiziente Struktur dasjenige, was sie als transitorische Aktivität in Wahrheit ist, gerade nicht erfasst bzw. »erfährt«.35 Wird diese transitorische Bewegung als philosophiehistorischer Prozess verstanden, gewinnen auch diese Bestimmungen an Plausibilität. Denn auch in der Philosophiegeschichte hat man es mit Theorien zu tun, welche durch eine bestimmte Wahrheitsauffassung charakterisiert sind, aber nicht zwangsläufig über eine reflexive Einsicht bezüglich ihrer Stellung in der Philosophiegeschichte verfügen; vielmehr wird oft nur der Historiker über ein explizites Wissen von diesen Zusammenhängen verfügen. Und auch in der Philosophiegeschichte wird mit »Erfahrungen« gerechnet werden können, welche das Ergebnis vergangener Interpretationsarbeit sind, aber den gegenwärtigen Theoretikern nicht mehr als vergangene Theorieanstrengungen durchsichtig sind, sondern als durch die Realität selbst vorgegeben erscheinen.

7.2 Die Phänomenologie als metaphilosophische Theoriedisziplin Nachdem dargelegt worden ist, dass Hegels Phänomenologie als eine Form von Philosophiegeschichte verstanden werden kann, soll nun gezeigt werden, dass sie auch das dritte Indiz für das historische Vorliegen metaphilosophischer Theoriebildung erfüllt. Zunächst wird anhand einer Analyse von Hegels Bestimmung des Verhältnisses von einleitender und eigentlicher Wissenschaft in Einleitung und Vorrede ausgeführt, dass sowohl die »Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns« (GW 9, 61) (Einleitung) als auch die »Phänomenologie des Geistes« (GW 9, 24) (Vorrede) als Bezeichnungen für spezifisch metaphilosophische Theoriedisziplinen verstanden werden können (7.2.1). Anschließend wird durch einen Vergleich mit ähnlichen Disziplinen bei Lambert, Kant und Reinhold die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Disziplin herausgearbeitet (7.2.2).

35

Vgl. 6.2.

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273

7.2.1 Zum Verhältnis von einleitender und eigentlicher Wissenschaft Die Frage, inwiefern die Bezeichnungen für die phänomenologische Wissenschaft36 in Einleitung und Vorrede als Bezeichnungen für spezifisch metaphilosophische Theoriedisziplinen fungieren, kann am besten beantwortet werden, indem untersucht wird, wie Hegel das Verhältnis von einleitender und eigentlicher Wissenschaft in beiden Texten bestimmt; nur so kann beurteilt werden, ob erstere Wissenschaft für Hegel eine Disziplin ist, die sich metaphilosophisch zu einer nachfolgenden, philosophischen Disziplin verhält, oder beide Wissenschaften für ihn philosophischen Charakters sind. Zunächst wird die Einleitung (7.2.1.1), wo Hegel diese Verhältnisbestimmung eher aus systemexterner Perspektive vornimmt, anschließend die Vorrede (7.2.1.2) untersucht, wo er dieses Verhältnis eher aus systeminterner Perspektive bestimmt.37 Der Unterschied zwischen den beiden Wissenschaften wird in beiden Texten mittels dreier Oppositionen beschrieben: der Opposition von (i) »Erfahrung« und »Selbsterkenntnis«, von (ii) »Bewusstsein« und »Geist« sowie von (iii) »Erscheinung« und »Wesen«. In der Einleitung dominieren die ersten beiden Oppositionen: hier wird die einleitende Wissenschaft als die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins, die eigentliche Wissenschaft als die Wissenschaft von der Selbsterkenntnis des Geistes bestimmt.38 In der Vorrede liegt dagegen der Schwerpunkt auf der dritten Opposition: die einleitende Wissenschaft gilt hier an erster Stelle als die Phänomenologie des Geistes, d. h. als die Wissenschaft von den Erscheinungen des Geistes, die eigentliche Wissenschaft als die Wissenschaft vom Wesen des Geistes.39 Im Folgenden wird sich zeigen, dass die Weise, wie Hegel das Verhältnis der opponierenden Begriffe jeweils bestimmt, in allen drei Fällen, wenn auch im dritten Fall weniger eindeutig, dafür spricht, die einleitende Wissenschaft als metaphilosophische Disziplin, die eigentliche Wissenschaft dagegen als philosophische Disziplin zu interpretieren. Die Oppositionen betonen dabei die verschiedenen Aspekte, welche für Hegel mit der Distinktion bei36

Zum Wissenschaftsstatus der phänomenologischen Darstellung generell vgl. 5.3.1. Ähnlich urteilen über die unterschiedlichen Beschreibungsperspektiven beider Texte Cramer 1978, 370 f., 389–390, Fußnote 7, M. Theunissen 1978, 331 und Siep 2000, 63. 38 Die dritte Opposition spielt in der Einleitung nur bei der Problemexposition in den ersten vier Absätzen, den in 5.3 analysierten Ausführungen zum Problem der »erscheinenden Wissenschaft«, eine Rolle, nicht jedoch bei der nachfolgenden Erörterung der phänomenologischen Darstellungskonzeption. (Sie wird im letzten Satz der Einleitung noch einmal aufgenommen, hat dort aber keine eigenständige explikative Funktion.) 39 Vgl. Anm. 53. 37

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der Wissenschaften verbunden sind, unterschiedlich stark: die erste Opposition betont vor allem den unterschiedlichen epistemischen Status der von beiden Wissenschaften thematisierten Erkenntnisweisen (defizient vs. nichtdefizient), die zweite Opposition den unterschiedlichen Theoriestatus beider Wissenschaften (metaphilosophisch vs. philosophisch), die dritte Opposition schließlich den unterschiedlichen Konkurrenzstatus der von beiden Wissenschaften thematisierten Erkenntnisweisen (isosthen vs. nicht-isosthen). Es wird allerdings klar werden, dass die Aspekte nicht unabhängig voneinander explizierbar sind.

7.2.1.1 Die Einleitung Die Weise, wie Hegel in der Einleitung von der ersten Opposition Gebrauch macht, wird gut greifbar in dem programmatischen Satz, mit dem er die Exposition der phänomenologischen Darstellungskonzeption eröffnet: Die »Darstellung«, die »das erscheinende Wissen zum Gegenstande hat«, ist nicht die »freye, in ihrer eigenthümlichen Gestalt sich bewegende« eigentliche Wissenschaft, sondern »der Weg des natürlichen Bewußtseyns, das zum wahren Wissen dringt […] oder der Weg der Seele [hier offenkundig synonym für das Bewusstsein], welche die Reihe ihrer Gestaltungen […] durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntniß desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist« (GW 9, 55). Der Unterschied zwischen phänomenologischer und eigentlicher Wissenschaft besteht nach diesem Satz darin, dass das Bewusstsein erst in der eigentlichen Wissenschaft zur Kenntnis dessen gelangt, was es in Wahrheit ist, d. h. zur Selbsterkenntnis, als Gegenstand der phänomenologischen Wissenschaft dagegen im Modus der Erfahrung bloß über ein unvollkommenes Wissen von sich verfügt. Wird, wie am Anfang von 6.2.4 ausgeführt, »Erfahrung« als Bezeichnung für defizientes und »Selbsterkenntnis« als Bezeichnung für wahres, konsistentes philosophisches Wissen verstanden, dann betrifft der Unterschied von einleitender und eigentlicher Wissenschaft also eine Differenz im epistemischen Status der Erkenntnisweisen, die von beiden Wissenschaften thematisiert werden. Im Kontext der Einleitung ist klar, dass die Defizienz sich näher auf den epistemischen Status sich isosthen zueinander verhaltender nicht-Hegelscher philosophischer Theorien, die NichtDefizienz dagegen auf den Erkenntnisstatus von Hegels eigener, konkurrenzlos auftretenden philosophischen Position bezieht.

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Die zweite Opposition betont dagegen vor allem den unterschiedlichen Theoriestatus beider Wissenschaften. Dies wird deutlich im letzten Satz der Einleitung: Indem es [das Bewusstsein] zu seiner wahren Existenz sich forttreibt, wird es einen Punkt erreichen, auf welchem es seinen Schein ablegt, mit fremdartigem, das nur für es und als ein anderes ist, behafftet zu seyn, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird, seine Darstellung hiemit mit eben diesem Punkte der eigentlichen Wissenschafft des Geistes zusammenfällt, und endlich, indem es selbst diß sein Wesen erfaßt, wird es die Natur des absoluten Wissens selbst bezeichnen (GW 9, 61–62). Das von der Phänomenologie dargestellte Bewusstsein wird nach diesem Passus erst dann zum Gegenstand der eigentlichen Wissenschaft, wenn es einen Punkt erreicht hat, wo es zum Geist geworden ist. Man wird also diesen Punkt als den Übergang der einleitenden zur eigentlichen Wissenschaft verstehen dürfen. Ferner heißt es, dass das Bewusstsein, wenn es diesen Punkt erreicht hat und also zum Geist geworden ist, mit seiner wissenschaftlichen Darstellung in der »eigentlichen Wissenschafft des Geistes« zusammenfällt. Bevor es diesen Punkt erreicht hat, fällt es also noch nicht mit seiner wissenschaftlichen Thematisierung – d. h. mit der phänomenologischen Darstellung – zusammen. Die einleitende Wissenschaft verhält sich insofern metatheoretisch zu ihrem Gegenstand – dem »mit fremdartigem, das nur für es […] als ein anderes ist, behafftet[en]« Bewusstsein –, die eigentliche Wissenschaft fällt mit ihrem Gegenstand – dem zum Geist gewordenen Bewusstsein, das »sein Wesen erfaßt« – zusammen.40 Wird »Bewusstsein« in dem im vorigen Kapitel dargelegten Sinne als metaphilosophische Bezeichnung für das, was der Entwicklung der Philosophie als Erscheinungssubjekt zugrundeliegt, verstanden,41 dann liegt es nahe, das »Fremdartige« auf eine isosthene Verschiedenheit von philosophischen Wahrheitsauffassungen zu beziehen, die in Wahrheit durch das Bewusstsein hervorgebracht sind, diesem aber als »anderes« erscheinen – d. h. als eigene (Reifizierungs-)Produkte opak bleiben. Was 40

Der unterschiedliche Theoriestatus beider Wissenschaften geht implizit auch aus dem zuerst zitierten Satz hervor: die phänomenologische Darstellung wird dort nicht selbst als eine Form von Erfahrung verstanden, sondern hat lediglich die Erfahrung des Bewusstseins zum Gegenstand; sie verhält sich also metatheoretisch zu dieser. Dagegen legt die Rede davon, dass das zum Geist gewordene Bewusstsein über ein vollständiges Wissen von sich verfüge, nahe, die Selbsterkenntnis des Geistes mit der wissenschaftlichen Thematisierung dieser Selbsterkenntnis zu identifizieren; sie fällt also mit ihrem Gegenstand zusammen. 41 Vgl. 6.1 und 6.2.3; vgl. auch 9.1.

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»Geist« genauer heißt, bleibt in der Einleitung dagegen unklar. Da der Geist als der Gegenstand der eigentlichen »Wissenschaft des Geistes« fungiert und durch die Eigenschaft ausgezeichnet ist, sein eigenes Wesen zu erfassen, ist es m. E. plausibel, »Geist« als Begriff für das Absolute (generell) anzusehen; d. h. als Begriff für dasjenige, was Hegel zufolge letztlich wahr und seiend ist.42 So verstanden ist die einleitende Wissenschaft des Bewusstseins also eine metaphilosophische, die eigentliche Wissenschaft des Geistes eine philosophische Wissenschaft. Betrachtet man die ersten beiden Oppositionen zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Die einleitende Wissenschaft ist als »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« die Wissenschaft von den defizienten Erkenntnisversuchen sich isosthen zueinander verhaltender philosophischer Positionen, die eigentliche Wissenschaft als »Wissenschaft der Selbsterkenntnis des Geistes« die Wissenschaft davon, wie der Geist – d. h. das Absolute: das, was für Hegel letztlich wahr und seiend ist – wahrhaft beschaffen ist und sich als solches vollständig epistemisch erfasst. Die einleitende Wissenschaft ist also eine metaphilosophische Disziplin – sie stellt philosophische Theorien dar, ist selbst aber keine philosophische Theorie –, die eigentliche Wissenschaft dagegen eine philosophische: sie ist mit der epistemischen Selbsterfassung des Geistes zu identifizieren und als solche nichts anderes als die Weise, wie das Absolute sich selbst wissenschaftlich (nun also: philosophisch) erfasst. Zusatz Es besteht eine Kontroverse über die Frage, ob Hegel in dem letzten Satz der Einleitung differenziert zwischen einem »Punkt« im phänomenologischen Darstellungsverlauf, an dem die phänomenologische Darstellung mit der eigentlichen Wissenschaft des Geistes (bzw. als deren Gegenstände das 42

In der Einleitung kann mit dem »Geist« als Gegenstand der »eigentlichen Wissenschaft des Geistes« entweder das Absolute generell als Gegenstand des gesamten Systems bzw. der »Logik« oder aber der realphilosophische Sachverhalt des Geistes als Gegenstand nur des dritten Teils des Systems, der realphilosophischen Disziplin der »Philosophie des Geistes«, gemeint sein. Die zweite Deutungsoption scheint mir jedoch sehr unplausibel. In diesem Fall hätte Hegel die Phänomenologie als eine Rechtfertigung nur des dritten Teils des Systems konzipiert. Es würde sich dann also die schwer zu beantwortende Frage stellen, warum Hegel der Meinung war, dass nur der dritte Teil seines Systems einer systemexternen Rechtfertigung bedürftig sei. Unplausibel wäre diese Deutungsoption auch, weil in der Vorrede auf die Phänomenologie nicht die realphilosophische »Wissenschaft des Geistes«, sondern die »Logik oder speculative Philosophie« (GW 9, 30) folgt; der »Geist« scheint dort für Hegel entsprechend ein Ausdruck für das Absolute generell zu sein; vgl. dazu den nächsten Abschnitt.

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Bewusstsein mit dem Geist) lediglich zusammenfällt – diskutierte Kandidaten sind vor allem das Selbstbewusstseinskapitel und das Geistkapitel –, und einem späteren »Punkt« – beispielsweise das Geistkapitel oder das absolute Wissen –, an dem dieses Zusammenfallen (auch vom dargestellten Wissen selbst) erkannt wird.43 Die Annahme eines solchen Zwischenschritts scheint mir unplausibel. Erstens impliziert ein Zusammenfallen von phänomenologischer und eigentlicher Wissenschaft, dass das, was von diesem Punkt an thematisiert wird, Gegenstand von Hegels eigentlicher philosophischer Theorie, der Wissenschaft des Geistes, ist; die Phänomenologie müsste also bis zu diesem Punkt als Einleitungsdisziplin, ab diesem Punkt als Systemdisziplin verstanden werden. Hegel hätte dann die Phänomenologie (bzw. bereits deren erste Hälfte, da die Einleitung sich programmatisch wohl nur auf die ursprüngliche Fassung der Phänomenologie bezieht, die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, die nur bis zum Vernunftkapitel reichen sollte) zugleich als Einleitungs- und Systemdisziplin konzipiert. Dies scheint mir, wie in 8.1 näher ausgeführt wird, unplausibel. Zweitens müsste angenommen werden, dass für Hegel ab einem bestimmten Punkt der phänomenologischen Darstellung nicht mehr Bewusstseinsgestalten, sondern Geistgestalten thematisiert werden. Dafür scheinen mir ebenfalls keine Indizien vorzuliegen. Auch im erstzitierten Satz hieß es, dass das Bewusstsein erst dann zum Geist wird, sich ›zum Geist läutert‹, wenn es den vollständigen Erfahrungsweg zurückgelegt hat, somit vor dem Zurücklegen dieses Weges noch nicht Geist, sondern bloßes Bewusstsein ist. Drittens scheint es mir generell unplausibel, dass Hegel sich im Rahmen seiner allgemeinen methodologischen Überlegungen in der Einleitung an dieser Stelle in relativ impliziter Weise auf einen Punkt innerhalb des phänomenologischen Darstellungsverlaufs beziehen sollte, an dem er das Ziel dieses Verlaufs beschriebe. Auch vorher differenziert Hegel nicht zwischen einem bloßen Zusammenfallen und dem Erkennen dieses Zusammenfallens, sondern beschreibt das Ziel der phänomenologischen Darstellung schlicht als Zusammenfallen von Gegenstand und Begriff,44 d. h. von Wahrheits- und Wissensmoment. Überdies scheint das Erkennen des Zusammenfallens im Falle der phänomenologischen Darstellung im Zusammenfallen als solchem bereits impliziert zu sein: das Zusammenfallen des Wahrheitsmoments mit dem Wissensmoment scheint eo ipso ein Wissen von der Wahrheit, mit der es zusammenfällt, zu beinhalten.

43

Stellvertretend genannt seien Pöggeler 1993, 212 ff., 261 ff. und Fulda 1975, 130 ff.,

147. 44

Vgl. GW 9, 57, Zeile 18–21.

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7.2.1.2 Die Vorrede In der Vorrede steht dagegen die dritte Opposition, die von »Erscheinung« und »Wesen«, im Mittelpunkt. Das Verhältnis von einleitender zu eigentlicher Wissenschaft besteht nach ihr darin, dass beide auf unterschiedliche Weise den Geist thematisieren: die Phänomenologie als »erste[r] Theil der Wissenschaft« (GW 9, 29) die »Erscheinung« (GW 9, 30) – nach der wenig später verfassten Selbstanzeige: die »Erscheinungen« (GW 9, 446) –, die »Logik oder speculative Philosophie« (GW 9, 30) als zweiter Teil der Wissenschaft das »Wesen« (ebd.) des Geistes. Mit dem Begriff des Geistes bezieht sich Hegel in der Vorrede offenkundig nicht auf diejenigen Sachverhalte, die später den Gegenstand seiner realphilosophischen Theorie des Geistes, d. h. des dritten Teils des enzyklopädischen Systems und innerhalb desselben der enzyklopädischen Phänomenologie, bilden werden, sondern er scheint ihn als Ausdruck für dasjenige zu verstehen, was als Absolutes den gemeinsamen Gegenstand sowohl der »Phänomenologie« als auch des »Systems« bzw. der »Logik« bildet.45 Ähnlich bezog sich bereits in der Einleitung die »eigentliche[…] Wissenschafft des Geistes« (GW 9, 62) nicht auf die realphilosophische Disziplin des Geistes, sondern auf die Wissenschaft, die in der Vorrede »Logik oder speculative Philosophie« (GW 9, 30) heißt. Da der Unterschied von Erscheinung und Wesen des Geistes, d. h. des Absoluten, zunächst eine metaphysische Distinktion zu betreffen scheint – beide beziehen sich auf den metaphysischen Begriff des Geistes –, scheint es zunächst nahezuliegen, die phänomenologische Wissenschaft und die Wissenschaft des Geistes beide als metaphysische Disziplinen zu interpretieren, die theorieexterne Sachverhalte zum Gegenstand haben. Beide Wissenschaften haben es für Hegel jedoch an erster Stelle mit unterschiedlichen epistemischen Gegebenheitsweisen zu tun: die phänomenologische Wissenschaft hat diejenige Gegebenheitsweise des Geistes zum Gegenstand, in der die Inhalte des Geistes auf dualistische Weise gegeben sind, die eigentliche Wissenschaft 45

So ist klarerweise von dem Absoluten generell – dem Absoluten als Gegenstand des gesamten Systems – die Rede, wenn es am Ende von Hegels allgemeiner Systemskizze heißt: »daß die Substanz wesentlich Subject ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht« (GW 9, 22); vgl. dazu 1.1.1. Die Wissenschaft, welche dasjenige zum Gegenstand machen soll, was in der Vorrede mit »Geist« gemeint ist, ist entsprechend nicht die realphilosophische Wissenschaft des Geistes, sondern die »Logik oder speculative Philosophie« (GW 9, 30); vgl. GW 9, 29–30; die realphilosophische »Wissenschaft[…] […] des Geistes« (GW 9, 447) folgt der wenig später verfassten Selbstanzeige zufolge dagegen auf die »Logik«; sie ist neben der »Wissenschaft[…] der Natur« eine der »zwey übrigen Theile der Philosophie« (ebd.).

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diejenige Gegebenheitsweise des Geistes, in der diese dualistische Gegebenheitsweise zugunsten einer monistischen überwunden ist. Die anfängliche Struktur des Geistes als die »Ungleichheit des Ichs zum Gegenstand«, welche sich durch die Momente »des Wissens und der dem Wissen negativen Gegenständlichkeit« (GW 9, 29) artikuliert, wird im Laufe der phänomenologischen Darstellung in das, was Inhalt des Wissens ist, inkorporiert, so dass diese dualistische Gegebenheitsweise als die »Ungleichheit der Substanz zu sich selbst« (ebd.) selber zu einem Inhalt des Geistes herabsinkt. Bei der Unterscheidung von Erscheinungs- und Wesensdimension des Geistes handelt es sich insofern primär nicht um eine ontologische Unterscheidung zwischen zwei Seinsweisen einer absoluten Instanz, sondern um die Unterscheidung zwischen zwei epistemischen Gegebenheitsweisen ihrer Inhalte. Während vor der phänomenologischen Destruktion des erscheinenden Auftretens des Geistes seine Inhalte als unabhängig von ihm gegeben erscheinen, soll am Ende dieser Destruktionsbewegung diese dualistische Erkenntnisweise zerstört sein und seine Inhalte als selbstbewirkt erscheinen: »Was ausser ihr [der Substanz, hier synonym für »Geist«] vorzugehen, eine Thätigkeit gegen sie zu seyn scheint [d. h. schien], ist ihr eigenes Thun und sie zeigt sich wesentlich Subject zu seyn« (GW 9, 29). Erst durch diese Überwindung seiner dualistischen Erkenntnisweise vermag der Geist sich als das zu erfassen, was er im Wesen ist: »Indem sie diß vollkommen gezeigt, hat der Geist sein Daseyn seinem Wesen gleich gemacht; er ist sich Gegenstand, wie er ist, und das abstracte Element der Unmittelbarkeit und der Trennung des Wissens und der Wahrheit ist überwunden. […] Hiermit beschließt sich die Phänomenologie des Geistes« (GW 9, 29–30). Mit der phänomenologischen Destruktion der dualistischen Erscheinungsdimension des Geistes ist die Aufgabe der Phänomenologie vollendet und an ihrer Stelle soll die eigentliche Wissenschaft, die »Logik oder spekulative Philosophie«, treten, welche die durch die phänomenologische Destruktion ermöglichte subjektivitätsmonistische Wesensdimension des Geistes zum Gegenstand hat.46 Man wird kaum bestreiten können, dass Hegel den Gegenstand der Phänomenologie hier, anders als in der Einleitung, mit metaphysischen Mitteln 46

Vgl.: »Was er [der Geist] in ihr [der Phänomenologie des Geistes] sich bereitet, ist das Element des Wissens. In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Einfachheit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst weiß. Sie fallen nicht mehr in den Gegensatz des Seyns und Wissens auseinander, sondern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisirt, ist die Logik oder speculative Philosophie« (GW 9, 30).

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beschreibt; so z. B. mit dem Begriff einer durch Negativität gekennzeichneten Ungleichheit der Substanz mit sich.47 Es dürfte jedoch klar geworden sein, dass es sich bei dem, was hier mit metaphysischen Mitteln beschrieben wird, wie in der Einleitung um eine defiziente, dualistische Gegebenheitsweise von Ansichten handelt: um den »Standpunkt des Bewußtseyns«, das »von gegenständlichen Dingen im Gegensatze gegen sich selbst, und von sich selbst im Gegensatze gegen sie« weiß (GW 9, 23). Dass es sich bei diesen Ansichten, d. h. bei den von der Phänomenologie darzustellenden »Erscheinungen« für Hegel weiterhin um eine isosthene Vielfalt von philosophischen Theorien handelt, wird im Gesamtkontext der Vorrede ebenfalls klar. So charakterisiert er am Anfang der Vorrede dasjenige Wissen, das zur wahren Wissenschaft erhoben werden soll, als »Verschiedenheit philosophischer Systeme«, die sich zunächst als »unverträglich mit einander« (GW 9, 10) zu verdrängen scheinen.48 Schließlich hält Hegel in der Vorrede auch an der Ansicht fest, dass die einleitende Wissenschaft sich metatheoretisch zu ihrem Gegenstand verhält, die eigentliche Wissenschaft dagegen mit diesem identisch ist. Die Tatsache, dass auch in der Vorrede mehrmals zwischen den Erscheinungen des Geistes und ihrer wissenschaftlichen Darstellung begrifflich unterschieden wird,49 legt es nahe, die »Phänomenologie des Geistes« als die Wissenschaft von den Erscheinungen des Geistes aufzufassen, und insofern das Genitivverhältnis in diesem Ausdruck im Sinne eines Genitivus objectivus zu interpretieren.50 Im Falle der »Logik« verhält es sich anders: die Wesensdimension des Geistes ist laut Hegel auch inhaltlich dadurch ausgezeichnet, dass sie selbst Wissen47

Vgl. insgesamt das offenkundig metaphysische Vokabular in GW 9, 23–36. Dies hängt sicherlich mit der Tatsache zusammen, dass die Vorrede von Hegel nicht nur als Vorrede zur Phänomenologie, sondern zu Phänomenologie und System gemeinsam konzipiert worden ist; vgl. 1.5.2. 48 Vgl. 5.3.1 (a). 49 Vgl. GW 9, 24–25 und 29–30; vgl. auch im letzten Kapitel der Phänomenologie GW 9, 434 (»Wissenschaft des erscheinenden Wissens«) und in der Selbstanzeige GW 9, 446. 50 Die Deutung dieses Verhältnisses im Sinne eines Genitivus subjectivus, die Deutung der »Phänomenologie des Geistes« als selbst erscheinende Wissenschaft im Gegensatz zur nicht-erscheinenden, eigentlichen Wissenschaft des Geistes (so etwa Puntel 1973, 308 ff.), scheint mir unplausibel: als selbst erscheinend wäre der wissenschaftliche Status der Phänomenologie von vornherein untergraben; als bloßes »Abbild« der eigentlichen Wissenschaft könnte sie schwerlich noch als begründungsfunktional autonome Wissenschaft verstanden werden, die unabhängig von der eigentlichen Wissenschaft in der Lage ist, anderes Wissen von seinem erscheinenden Charakter zu befreien. (Diese Probleme treten auch dann auf, wenn man das Genitivverhältnis im Sinne beider Optionen interpretiert; so etwa Forster 1998, 259 ff.) In der Einleitung charakterisiert Hegel folgerichtig nicht die phänomenologische Wissenschaft selbst, sondern lediglich das fremde Wissen, das durch die Phänomenologie von seinem erscheinenden Charakter befreit werden soll, als erscheinend; vgl. 5.3.

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schaft ist, und fällt insofern mit der Wissenschaft zusammen: »Der Geist, der sich so als Geist weiß, ist die Wissenschaft. Sie [d. h. die Wissenschaft selbst] ist seine Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut« (GW 9, 22). Man wird also den Genitiv in dem Ausdruck »Wissenschaft des Geistes« sowohl im Sinne eines Genitivus objectivus als auch eines Genitivus subjectivus verstehen müssen: es ist der Geist selbst, der sich in seiner Wissenschaft zum Gegenstand macht. Die eigentliche Wissenschaft des Geistes verhält sich insofern nicht metatheoretisch zu ihrem Gegenstand, sondern ist mit diesem identisch.51 Dieses unterschiedliche Verhältnis beider Wissenschaften zu ihrem Gegenstand erlaubt, den Unterschied beider Wissenschaften auch in der Vorrede als eine Differenz nicht von philosophischen Wissenschaften, sondern von metaphilosophischer und philosophischer Wissenschaft zu interpretieren. Dabei wird der isosthene Charakter des Gegenstands der einleitenden Wissenschaft und der nicht-isosthene Charakter des von der eigentlichen Wissenschaft Thematisierten in den Vordergrund gerückt: Da der Geist für Hegel identisch mit seiner (eigentlichen) Wissenschaft ist, kann die »Phänomenologie« als Wissenschaft von den Erscheinungen des Geistes so interpretiert werden, dass sie die metatheoretische Wissenschaft von den isosthenen »Theorie-Erscheinungen« der Wissenschaft, d. h. die metaphilosophische Wissenschaft von der als isosthene »Verschiedenheit philosophischer Systeme« (GW 9, 10) erscheinenden Philosophie ist.52 Demgegenüber kann die 51

Die eigentliche Wissenschaft, die »Logik«, ist für Hegel allerdings wohl nur in »materialer Hinsicht« mit ihrem Gegenstand identisch: nicht mit dem »an sich seyende[n]« Geist, der »allein […] das Wirkliche [ist]«, sondern nur mit dem »Geist, der sich […] als Geist weiß« (vgl. GW 9, 22, Zeile 3–20), d. h. wohl: nicht mit dem Absoluten generell, wie es in der »Logik« zum Gegenstand gemacht wird, sondern nur mit dem Absoluten im Zustand seiner endgültigen Ausdifferenzierung: mit dem realphilosophischen Sachverhalt des (sich selbst epistemisch erfassenden) Geistes. (Verschieden von diesem mit der »Logik« identischen Sachverhalt ist wiederum die spezielle Wissenschaft von diesem Sachverhalt: die realphilosophische Disziplin des Geistes; diese scheint mir in der Vorrede gar keine Rolle zu spielen.) Dass der realphilosophische Sachverhalt des Geistes material identisch ist mit dem Absoluten generell folgt aus Hegels genealogischem Systemmodell: diesem zufolge ist jener Sachverhalt das gesamte Absolute, das sich lediglich im besonderen Zustand seiner endgültigen Ausdifferenzierung befindet. 52 Insofern der Geist (d. h. das Absolute) bzw. das Wesen des Geistes mit seiner (eigentlichen) Wissenschaft, d. h. dem System, zusammenfällt, kann mit »Erscheinungen des Geistes« in der Vorrede prinzipiell zweierlei gemeint sein: entweder (systemexterne) »Theorie-Erscheinungen« des Systems oder (systeminterne) Erscheinungen der theorieexternen Sachverhalte, die den Gegenstand des Systems bilden. Im letzteren Fall würde man die Phänomenologie gar nicht mehr als systemexterne Disziplin verstehen können, auch nicht als eine mit systeminternen Mitteln beschriebene: auch sie würde ja wie das System von theorieexternen Sachverhalte handeln, und sei es auch, dass diese sich als on-

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»Logik«, die Wissenschaft vom Wesen des Geistes, als die nicht-isosthene Wissenschaft davon, was der Geist wirklich ist, d. h. im Kontext der Vorrede: als die konkurrenzlos auftretende philosophische Wissenschaft davon, was letztlich wahr und seiend ist, verstanden werden. Obwohl insgesamt zugestanden werden muss, dass das Verhältnis von einleitender und eigentlicher Wissenschaft in der Vorrede, anders als in der Einleitung, z. T. mit systeminternen Mitteln bestimmt wird, dürfte doch deutlich geworden sein, dass hinsichtlich dieser Verhältnisbestimmung keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Einleitung und Vorrede bestehen. Für sich genommen wäre es sicherlich möglich, den Unterschied beider Wissenschaften bzw. ihrer Gegenstände in der Vorrede ausschließlich metaphysisch zu interpretieren. Besieht man die metaphysische Lesart im Gesamtkontext der Phänomenologie, ist sie jedoch unplausibel: Nicht nur bestünde in diesem Fall ein Konflikt zwischen den Überlegungen in der Einleitung und in der Vorrede, sondern es könnte auch die Vorrede nicht mehr als kohärenter Text verstanden werden. Denn auch in ihr wird, wenn auch weniger ausdrücklich als in der Einleitung, zur Beschreibung des Verhältnisses beider Wissenschaften auf die ersten beiden Oppositionen zurückgegriffen,53 die eindeutiger als die dritte Opposition dafür sprechen, das Verhältnis beider Wissenschaften als Verhältnis von metaphilosophischer und philosophischer Wissenschaft zu interpretieren.

7.2.2 Hegels Phänomenologie als verselbständigte Topik Das erste Element des endgültigen Titelbegriffs, der Begriff der »Phänomenologie«, war zu Hegels Zeiten ein geläufiger Terminus. Unter ihm wurde damals keine deskriptive Theorie der Analyse von Bewusstseinsphänometologisch defizitäre »Abbilder« zu den im System thematisierten verhielten. Man hätte es dann also in Einleitung (zum Erscheinungsbegriff der Einleitung vgl. 5.3.1) und Vorrede mit zwei völlig verschiedenen Erscheinungsbegriffen zu tun. Diese Lesart von »Erscheinungen des Geistes« scheint mir daher unplausibel. 53 Auch in der Vorrede wird die phänomenologisch-einleitende Wissenschaft als »Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtseyn macht« (GW 9, 29) charakterisiert, die als »Vorbereitung« (GW 9, 28) und »Weg« (GW 9, 24, 28, 29) zum »eigentlichen Wissen« (GW 9, 24) hinführt: zur »Logik oder speculative[n] Philosophie« (GW 9, 30) als »Wissenschaft des Wahren, das in der Gestalt des Wahren ist« (ebd.). Und ähnlich wie in der Einleitung »weiß und begreift« das von der einleitenden Wissenschaft thematisierte Bewusstsein »nichts, als was in seiner Erfahrung ist« (GW 9, 29), während der von der »Logik« thematisierte Geist sich als »Gegenstand seines Selbsts« (ebd.) (in seiner Wissenschaft) vollständig epistemisch erfasst. Von diesen Charakterisierungen wird allerdings anders als in der Einleitung kein explikativer Gebrauch gemacht. Vgl. insgesamt GW 9, 24 f., 29 f.

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nen54 verstanden, sondern eine propädeutische normative Irrtumslehre in der Tradition der aristotelischen Topik.55 Auch die disziplingeschichtlichen Hintergründe sprechen also für eine metaphilosophische Interpretation von Hegels Phänomenologie. Zeitgenossen dürfte bereits aufgrund dieses Titels klar gewesen sein, dass es sich bei Hegels Phänomenologie nicht um eine metaphysische Theorie, sondern um eine propädeutische Irrtumslehre handelt, die in eine solche Theorie einleitet; aus diesem Grund wird der Terminus von Hegel wohl auch nicht explizit erläutert.56 Die Verwendungsweise des Terminus in diesem Sinne dürfte vor allem auf Lambert zurückgehen.57 An ihn knüpfen neben Hegel u. a. Kant58, Reinhold und Fichte an. Allerdings kann nur Hegels Phänomenologie als eine vollständig ausdifferenzierte, nicht von anderen Disziplinen argumentativ abhängige metaphilosophische Disziplin verstanden werden. Bei Lambert ist die Phänomenologie Teil des Neuen Organons (1764), das als propädeutische Theorie in seine Anlage zur Architectonic (1771), seine »aufs neue vorgenommene Untersuchung der metaphysischen Grundlehren« (Architectonic, Vorrede, III), einleitet. Das Neue Organon besteht aus vier Teildisziplinen, von denen nur die »Phänomenologie«, die »Theorie des Scheins und seines Einflusses in die Richtigkeit und Unrichtigkeit der menschlichen Erkenntniß« (Neues Organon II, 218), eindeutig metaphilosophische Theorieaufgaben wahrnimmt. Diese phänomenologische Disziplin findet sich an dem Ort des nach dem aristotelischen Organon bzw. der deutscharistotelischen Vernunftlehre modellierten Neuen Organons – Lamberts Organon enthält bereits im Titel 54

Diese Bedeutung sollte erst unter Einfluss von Husserl und anderen BrentanoSchülern die Rezeptionsgeschichte des Terminus dominieren, vgl. dazu Schuhmann 1984. 55 Die meisten, die den Terminus »Phänomenologie« zu dieser Zeit verwenden, verstehen hierunter im weitesten Sinne eine (propädeutische) Scheinlehre, die einer metaphysischen Disziplin entweder vorangeht oder nachfolgt. Wichtigste Ausnahme scheint Kants Verwendung des Terminus in den Metaphysischen Anfangsgründen zu sein; vgl. AA 4, 477, 554 ff. Vgl. zur Geschichte des Begriffs »Phänomenologie« Hoffmeister 1952, Schuhmann 1984, Bonsiepen 1988, IX–XVI und Krouglov 2008. 56 Der Begriff der Phänomenologie wird insgesamt vier Mal erwähnt, einmal als Titelbegriff (GW 9, 1–3), zweimal in der Vorrede (GW 9, 24, 30), in der zwar die Funktion des Werkes, nicht aber der Terminus der Phänomenologie selbst erläutert wird, und schließlich am Ende der Phänomenologie, in einem für diese Frage ebenfalls nicht informativen Kontext (GW 9, 432). Dies scheint zu bestätigen, dass es sich bei diesem Terminus um einen damals in philosophischen Kreisen weitverbreiteten Begriff gehandelt hat, der nicht der expliziten Erläuterung bedurfte. Vgl. Hoffmeister 1952, XI f., Schuhmann 1984, 37 f. und Bonsiepen 1988, XV. 57 Vgl. Krouglov 2008, 13. 58 Im Briefwechsel mit Lambert, nicht in den Metaphysischen Anfangsgründen; vgl. Anm. 60 und 66.

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den Anspruch einer Erneuerung des traditionellen Organons –, an dem traditionellerweise die Lehre vom Wahrscheinlichen, die »Topik«, abgehandelt wurde. In den anderen Disziplinen wird dagegen abgehandelt, was in den Vernunftlehren der Aufklärung als Begriffs-, Urteils- und Schlusslehre galt. Man kann leicht feststellen, dass Lamberts Phänomenologie nicht argumentativ selbständig ist, sondern von den ihr vorhergehenden philosophischpropädeutischen Disziplinen des Neuen Organons abhängig ist.59 Im Falle von Kants Kritik der reinen Vernunft verhält es sich ähnlich. Auch hier ist diejenige Disziplin, die eindeutig metaphilosophische Theorieaufgaben wahrnimmt, argumentativ abhängig von den anderen Teildisziplinen derjenigen propädeutischen Theorie, deren Bestandteil sie bildet. Wie bereits in 3.3.3 dargelegt, handelt es sich bei dieser metaphilosophischen Disziplin um die »transzendentale Dialektik«60, bei derjenigen Disziplin, von deren Bestimmungen sie vor allem abhängig ist, um die »transzendentale Analytik«. Da es zu Kants Zeiten allgemein üblich war, die ersten drei Disziplinen des aristotelischen Organons als »Analytik«, die letzteren drei als »Dialektik« zu bezeichnen,61 ist klar, dass es sich auch hier noch um eine dialektischtopische Disziplin handelt, die von den ersteren, mehr philosophischen Disziplinen des Organons abhängig ist. Bei Reinhold schließlich ist die Phänomenologie ebenfalls eine propädeutische Disziplin, die auf eine metaphysische Grundlegungswissenschaft vorbereitet; diese Grundlegungsdisziplin wird von ihm »Ontologie« oder »Logik« genannt.62 Und auch bei Reinhold ist die Phänomenologie nicht argumentativ selbständig; in Reinholds Fall ist sie allerdings nicht abhängig von anderen propädeutischen Disziplinen, sondern von der metaphysischen Theorie, in die sie einleiten soll.63 Hegels Phänomenologie ist dagegen eine propädeutische Disziplin, die weder von anderen propädeutischen Disziplinen noch von derjenigen Theo59

Vgl. dazu im Allgemeinen Krouglov 2008, 16 ff. Kant nennt diese Disziplin zwar nicht »Phänomenologie«, aber sie ist als »Kritik des dialektischen Scheins« ebenfalls eine metaphilosophische Scheinlehre und wurde von ihm noch 1770 in einem Brief an Lambert (wohl in Anknüpfung an ihn) als »phaenom[en]ologia generalis« bezeichnet: »Es scheinet eine ganz besondere, obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomologia generalis) vor der Metaphysic vorher gehen zu müssen, darinn denen principien der Sinnlichkeit ihre Gültigkeit und Schranken bestimmt werden, damit sie nicht die Urtheile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren, wie bis daher fast immer geschehen ist« (AA 10, 98); vgl. AA 10, 129. (Die Schreibweise »phaenomologia« statt »phaenomenologia« deute ich als Schreib- bzw. Druckfehler.) 61 Vgl. Tonelli 1962 und Tonelli 1994. 62 Vgl. Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 3, V und Elemente der Phänomenologie, 109. 63 Vgl. Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 4, IV. 60

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rie, die sie propädeutisch vorbereiten soll, argumentativ abhängig ist. Um dies deutlich zu machen, wird im Folgenden Hegels Konzeption von Phänomenologie mit derjenigen Reinholds verglichen, welche dieser in den Elementen der Phänomenologie von 1802 niedergelegt hat. Es wird diese Schrift als Vergleichsgröße herangezogen, weil vermutlich sie es war, die Hegel dazu veranlasst hat, seine propädeutische Disziplin »Phänomenologie« zu nennen.64 Auch für Reinhold ist die Phänomenologie eine Wissenschaft von den Erscheinungen, welche diese von ihrem Schein reinigen oder befreien soll. Während aber für Hegel, wie gleich ausführlicher begründet wird, Schein und Erscheinung identisch, Erscheinungen insgesamt scheinhaft sind und die Aufgabe der Phänomenologie in der vollständigen Destruktion der Erscheinungen besteht, unterscheidet Reinhold zwischen wahren Erscheinungen, »Erscheinungen als solchen«, die ausschließlich das Veränderliche zum Inhalt haben, und scheinhaften Erscheinungen, welche auf einer Verwechslung des Veränderlichen mit dem Unveränderlichen, des Sinnlichen mit dem Vernünftigen, beruhen.65 Aufgabe der Phänomenologie ist folglich die Absonderung der wahren von den scheinhaft-falschen Erscheinungen: »von der Erscheinung, als solcher, dem [sic] Schein abzusondern, und sonach auch von dieser deutliche Erkenntniß zu gewinnen« (Elemente der Phänomenologie, 109). Zugleich nimmt Reinhold für (beide Arten von) Erscheinungen auch eine Struktur an, die konstant bleibt, und nennt diese Struktur – hier wohl von Kants Konzeption der Phänomenologie in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft beeinflusst66 – die Erfahrung als solche: »Das Wirkliche, als solches in der Erscheinung, das Gleichförmige am Wechsel der Dinge […] – ist die Erfahrung, als solche« (Elemente der Phänomenologie, 109–110). Als nähere Aufgabe der Phänomenologie ergibt sich damit die Unterscheidung wahrer von falscher Erfahrung: »Die Phänomenologie hat die Erfah64

Vgl. Bubner 1969, 157–159, 136 ff., Bondeli 1995a, 334–339, Bondeli 1995b, 82–87, Krouglov 2008, 23 f., Weckwerth 2000, 97–101, und Bonsiepen 1988, XV f. Hegel war als Verfasser der Differenzschrift und durch seine Mitarbeit am Kritischen Journal, das von ihm und Schelling geradezu als Gegenorgan zu Reinholds Beyträgen zur leichtern Uebersicht konzipiert worden war, sehr gut mit Reinholds (auf Bardili basierender) Position von 1801–1803 vertraut; vgl. dazu Bubner 1969, 136 ff. und Zahn 1998. 65 Vgl.: »Die Erscheinung, als solche, ist das Ausgedehnte und Veränderliche […]. Sie ist, und wird keinesweges Schein, außer in wie ferne sie mit dem Unausgedehnten und Unveränderlichen, mit dem wesentlichen Seyn, mit dem Urbilde, und dem Urwesen vermengt und verwechselt wird« (Elemente der Phänomenologie, 108). Vgl. dazu Bondeli 1995a, 334–335. 66 Vgl. AA 4, 554 ff. und Elemente der Phänomenologie, 106–7.

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rung auf ihren Grund im Wesen zurückzuführen, und dadurch die Criterien der Unterscheidung der wahren von der bloß scheinbaren (eingebildeten, angeblichen) Erfahrung aufzustellen« (Elemente der Phänomenologie, 110). Insofern versteht Reinhold seine Phänomenologie ebenfalls als eine Wissenschaft von der Erfahrung, eine »Philosophie des Empirischen« (ebd.), aber nicht als eine Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins, sondern als eine Wissenschaft von der »Natur« als »Grund und […] Ursache der Erscheinungen« (ebd.).67 Man sieht, dass sich Hegels und Reinholds Erfahrungsbegriff diametral gegenüberstehen: Während sich Reinholds Erfahrungsbegriff positiv auf dasjenige in bzw. an den Erscheinungen bezieht, was wahr ist, so der Hegelsche auf dasjenige, was unwahr ist.68 Und während für Hegel die Erfahrung dasjenige ist, von dem die phänomenologische Kritik vollzogen wird – die durch das erfahrende Bewusstsein zu leistende Destruktion der Erscheinungen ist dadurch legitimiert, dass die Erscheinungen durch das Bewusstsein selbst als unwahr (im Hegelschen Sinne) erfahren werden –, bildet sie für Reinhold bloß den Gegenstand der phänomenologischen Analyse. Reinhold kann daher seine phänomenologische Kritik nicht auf Kriterien basieren, welche dem Kritisierten, d. h. den Erscheinungen, selbst entnommen werden, sondern ist angewiesen auf fremde Begründungsressourcen, die ihm nur durch seine metaphysische Grundlegungswissenschaft, die »Logik«, zur Verfügung gestellt werden können.69 67

Vgl. Elemente der Phänomenologie, 109 f. Möglicherweise ließe sich durch diese Beobachtung das Problem der zwei Titelbegriffe weiter klären. Seit Bubner (Bubner 1969, 157–159) ist oft darauf hingewiesen worden, dass die Titelveränderung unter Einfluss von Reinholds Konzeption der Phänomenologie – Hegel habe sein Werk im Gegenzug zu Reinholds Phänomenologie der Natur in »Phänomenologie des Geistes« umbenannt – zustandegekommen sei. Man scheint aber die gleiche Differenzierungsabsicht auch für den ursprünglichen Titelbegriff geltend machen zu können: so wie der Begriff der »Phänomenologie des Geistes« als Gegenbegriff zu Reinholds »Phänomenologie der Natur«, so kann auch Hegels Begriff der Erfahrung des Bewusstseins als Gegenbegriff zu Reinholds Begriff der Erfahrung der Natur aufgefasst werden. Das würde bestätigen, dass mit der Titelveränderung kein grundsätzlicher Konzeptionswandel einherging; vgl. dazu 8.1, insbesondere Anm. 25. 68 Vgl. 6.2.4. 69 Vgl. Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 4, IV. Im Übrigen scheint sich mir die im ersten Absatz der Einleitung kritisch diskutierte »verbesserte« (vgl. GW 9, 53, Zeile 27) Version der natürlichen Prüfungsvorstellung (vgl. dazu Kapitel 5, Anm. 10) neben Lambert (vgl. Forster 1998, 156, Fußnote 72) vor allem auf Reinhold zu beziehen. Dieser alternativen Version zufolge soll das Absolute dadurch als von subjektiven Erkenntnisleistungen Unabhängiges bzw. Unformiertes erkannt werden können, dass Elemente, die das Absolute formieren (und dadurch »Irrtum« bewirken können), nachträglich wieder »abgezogen« werden; vgl. GW 9, 53, Zeile 23 ff. Reinhold scheint mir nun genau eine solche

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Hegels Phänomenologie ist dagegen nicht auf Unterscheidungskriterien aus fremden Disziplinen angewiesen. Dies deshalb nicht, weil die Aufgabe der Phänomenologie für Hegel nicht in der Unterscheidung zwischen wahren und falschen Elementen im erscheinenden Wissen besteht, sondern in dessen vollständiger Destruktion. Das Wahre, das an den Erscheinungen freigelegt wird, ist für Hegel, wie in 6.2.4 dargelegt, das bestimmte Gegenteil der jeweils destruierten Erscheinungen, das »Negative« dieser Erscheinungen. Dieses Negative stellt für Hegel kein wahres Element in den jeweiligen Erscheinungen dar, so dass bezüglich ihrer zwischen wesenhaften und scheinhaften Elementen unterschieden werden könnte;70 vielmehr denkt Hegel das Verhältnis von Wahrem und Negativem als prozessualen Zusammenhang.71 In diesem Prozess wird das, was wahr in bzw. an einer Erscheinung ist, immer erst in einer neuen Erscheinung, d. h. in einer auf dem phänomenologischen Wissensweg nachfolgenden Position, bewusst bzw. »erfahren«. Dieses Wahre ist nicht etwas, was auch bereits in der vorhergehenden Position für wahr gehalten wurde, sondern gerade das Resultat der (vollständigen) Widerlegung dieser vorhergehenden Wahrheitsauffassung;72 da die auf dem Wissensweg nachrangigen Wissenspositionen sich negativ verhalten zu den vorhergehenden, wird jedes wahre Resultat in der nächsten Position und durch eben diese Position seiner Destruktion zugeführt. Erst in der letzten Position, wenn die Dimension des erscheinenden Wissens bereits überwunden ist, ergibt sich dann ein wahres Resultat, das nicht mehr destruiert werden kann. Auf diese Weise wird es Hegel möglich, der phänomenologischen Autodestruktion von Positionen eine selbständige Rechtfertigungsfunktion zukommen zu lassen und so die Phänomenologie von einer Irrtumslehre, welche abhängig war von anderen Disziplinen und letztlich in der Tradition der aristotelischen Topik stand, zu emanzipieren und sie zu einer selbständigen, metaphilosophischen Rechtfertigungsdisziplin zu erheben.

Konzeption zu vertreten: das »Urwahre« (Elemente der Phänomenologie, 109) soll dadurch erkannt werden können, dass scheinhafte Elemente in der Erfahrung von wahren »abgesondert« werden. 70 So etwa Siep 2000, 64 f. 71 Vgl. GW 9, 30, 34–35. 72 Vollständig deshalb, weil das »bestimmte Gegenteil« für Hegel ein völlig neu generierter Inhalt ist; vgl. 6.2.4. Man kann insofern im »bestimmten Gegenteil« nicht bewahrte, nicht-destruierte »wahrhafte Elemente« einer vorhergehenden Position von neu generierten Elementen absondern; es bildet in toto den Wahrheitsinhalt der nächsten Position.

8. Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

Einen naheliegenden Einwand gegen die Deutung der Phänomenologie als metaphilosophische Theorie, die ausschließlich philosophische Theorien zum Gegenstand hat, stellt die Tatsache dar, dass insbesondere in der zweiten Hälfte der Phänomenologie auch Sachverhalte thematisiert werden, bei denen es sich auf den ersten Blick nicht um philosophische Theorien handelt. Da Hegel diese Sachverhalte (zumindest dem ersten Anschein nach) nicht nur dort, sondern auch in seinem System (in den realphilosophischen Teilen) abgehandelt hat, stellt sich zudem die Frage, ob in Anbetracht der zweiten Hälfte (und einer möglicherweise mit ihr verbundenen Modifikation der ursprünglichen Konzeption der Phänomenologie) noch exklusiv an einem systemexternen Einleitungsverständnis der Phänomenologie festgehalten werden kann, oder nicht zumindest in Bezug auf die zweite Hälfte angenommen werden muss, dass Hegel mit der Phänomenologie zugleich eine eigenständige Systemfunktion verbunden hat. Nach einem kursorischen Überblick über die Deutungsoptionen (8.1) soll im Folgenden die These vertreten werden, dass Hegel bis zuletzt und trotz der Aufgabe seines ursprünglichen Plans zur Umsetzung seiner Einleitungskonzeption insgesamt an einem metaphilosophischen Einleitungsverständnis der Phänomenologie festgehalten hat (8.2).

8.1 Bisherige Interpretationen Im 19. Jahrhundert wurde die Phänomenologie vorwiegend entweder als Einleitung in die Philosophie oder aber als selbständiger philosophischer Theorieentwurf interpretiert. Es waren vor allem Hegel-Schüler und -Nachfolger im Umkreis der Freundesvereinsausgabe, welche die Phänomenologie als Einleitung in Hegels System interpretierten.1 Sie machten schon früh eine Spannung zwischen einem mehr psychologischen und einem mehr historischen Einleitungsverständnis in der Phänomenologie aus. Diese damals weitverbreitete Ansicht2 hat Rudolf Haym in klassischen Formulierungen 1 2

Vgl. Fulda 1975, 57 ff. Vgl. Pöggeler 1993, 172 ff. und Weckwerth 2000, 105 f. Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

Bisherige Interpretationen

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auf den Punkt gebracht. Haym stellt in Bezug auf die Phänomenologie ein »Dickicht« von »Beweismotiven« fest, von denen der »transzendentalpsychologische« und der »historische Beweis« (Haym 1857, 235) am stärksten hervortreten. Für Hegel seien zwar beide Beweisversuche identisch, dies führe aber erst recht zur »Confundirung der psychologischen und der weltgeschichtlichen Entwickelungsstufen« (Haym 1857, 241). Die Phänomenologie werde so »zum Palimpsest: über und zwischen dem ersten Text entdecken wir einen zweiten« (Haym 1857, 238). Bemerkenswert ist dabei, dass Haym trotz seiner polemischen Zielrichtung gegen die Hegelsche Philosophie insgesamt an einem propädeutischen Verständnis der Phänomenologie als »Vorbereitung und Beweisversuch für den Standpunkt des absoluten Wissens« (Haym 1857, 234) festhält. Die Deutung der Phänomenologie als eigenständiger Theorieentwurf scheint dagegen in der linkshegelianischen Tradition aufgekommen zu sein und dürfte auf Karl Marx zurückgehen, der – in größerer systematischer Distanz zu Hegel – in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 die Phänomenologie als eine Theorie der prozessualen »Selbsterzeugung des Menschen« interpretiert, die das »Resultat seiner eignen Arbeit« sei.3 Dieser Interpretationslinie können in späterer Zeit noch Kojève, Lukács und Adorno zugeordnet werden.4 In der Hegel-Forschung haben dann Wilhelm Dilthey, der die Phänomenologie als Theorie des »geschichtlichen« objektiven Geistes interpretiert, und Vertreter der Dilthey-Schule die Phänomenologie als selbständigen Theorieentwurf aufgefasst.5 War die Phänomenologie in dieser Weise bis ins 20. Jahrhundert hinein entweder als Einleitung oder als selbständiger Systementwurf interpretiert worden, so legte Theodor Haering in den 1930er Jahren eine neue Interpretation der Entstehungsgeschichte der Phänomenologie vor, die vor allem zweier Thesen6 wegen von Interesse für die hier verfolgte Fragestellung ist: These 1: Hegel habe die Phänomenologie ursprünglich als Werk geplant, das nur bis zum Vernunftkapitel reichen sollte. Diese These leitet Haering aus heute umstrittenen entwicklungsgeschichtlichen und werkgeschichtlichen Annahmen her.7 3

Vgl. MEW, Ergänzungsbd. I, 574. Die Philosophisch-Ökonomischen Manuskripte wurden bekanntlich erst 1932 veröffentlicht. Vgl. zu Marx’ Deutung der Phänomenologie Weckwerth 2000, 110 ff. und Siep 2000, 261–264. 4 Vgl. Weckwerth 2000, 111–115 und Siep 2000, 264 ff. 5 Vgl. Dilthey 1961, 131 f. Vgl. dazu und zur Dilthey-Rezeption Weckwerth 2000, 115 ff. 6 Vgl. zum Folgenden Haering 1934 und Haering 1938, 479 ff. 7 Vgl. dazu im Einzelnen Pöggeler 1993, 195 ff.

Bisherige Interpretationen

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Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

These 2: Diese ursprünglich als Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins konzipierte ›Urphänomenologie‹ habe Hegel als Einleitung in das System geplant, während der Ausarbeitung und insbesondere in der ursprünglich nicht vorgesehenen zweiten Hälfte sei ihm sein Werk dann aber »unter der Hand« als »Phänomenologie des Geistes« zum selbständigen Systemteil geworden: »Entweder ist die Phänomenologie eine Einleitung oder sie ist ein Stück des Systems selbst. Anfangs sollte sie trotz allem eine Einleitung werden, unter der Hand wurde sie das zweite« (Haering 1934, 133).8 Während noch Haering Einleitungs- und Systemaufgabe für unvereinbar hält – genau dies hatte ihn zu der These bewogen, dass es sich bei der Phänomenologie in Wahrheit um zwei verschiedene Werke handele –, stellt Pöggeler die These auf, dass Hegel die Phänomenologie von Anfang an als Einleitung und Systemteil geplant habe. Pöggeler lehnt also die erste Haering-These ab, hält aber an der zweiten fest. Zwar nimmt auch er einen Konzeptionswandel an, hält aber die Phänomenologie dennoch für kein uneinheitliches Werk, sondern fasst die späteren Partien als eine Nuancierung von Hegels ursprünglicher phänomenologischer Erfahrungskonzeption auf, in der bereits die geschichtliche Konzeption der späteren Partien angelegt gewesen sei. Während der Niederschrift sei Hegel bloß besser bewusst geworden, dass es sich bei der Geschichte der Erfahrung nicht nur um einen transzendentalgenetischen, sondern auch um einen geschichtlich-realhistorischen Prozess handele; charakteristisch für die Phänomenologie sei ja im Gegenzug zu Schellings Konzeption von Bewusstseinsgeschichte gerade die Einheit von transzendentaler und realer Geschichte.9 Die Einleitungsfunktion der Phänomenologie interpretiert Pöggeler didaktisch: Die Phänomenologie »zeigt, wie das Bewußtsein den Gebrauch der Momente der spekulativen Philosophie einübt« (Pöggeler 1993, 272). Es handele sich hierbei um eine »ganz bestimmte Weise des Lernens«: die logischen Kategorien sollen nicht direkt gelehrt, »vielmehr soll das Bewußtsein an exemplarischen Fällen den rechten Umgang […] lernen«, durch »Erfahrungen, die es selber zu machen hat« (Pöggeler 1993, 257). Insofern die hier

8

Vgl. für einen konzisen Überblick über die Rezeption von Haerings »patchwork thesis« Dudley 2008, 134–138. Vgl. auch Forster 1998, 501 ff. 9 Vgl. Pöggeler 1966, 65 ff. und Pöggeler 1993, 353 ff.; eine etwas stärkere Betonung des Konzeptionswandels findet sich in Pöggeler 1993, 221 f. Der geschichtlich-genealogische Charakter von Hegels phänomenologischer Konzeption wird auch von Walter Jaeschke betont: vgl. Jaeschke 2009, 15–20. Jaeschke tendiert allerdings weniger als Pöggeler dazu, die Phänomenologie gleichzeitig als Einleitung und Systemteil zu interpretieren; vgl. Jaeschke 2009, 23 ff.

Bisherige Interpretationen

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zu lernenden Kategorien aus der Logik argumentativ vorausgesetzt werden, sei die Phänomenologie zugleich argumentativer Bestandteil des Systems.10 Pöggeler hat verschiedene Thesen zur Frage aufgestellt, wie die argumentative Abhängigkeit der Phänomenologie vom System genauer zu denken sei.11 Die Diskussion im Anschluss an diese Thesen12 braucht hier nicht weiter thematisiert werden, da sie für ein systemexternes Einleitungsverständnis der Phänomenologie m. E. nicht von unmittelbarem Interesse ist; wäre die Phänomenologie argumentativ abhängig von logischen Kategorien, würde sie nicht als metaphilosophische Rechtfertigung des Systems verständlich gemacht werden können.13 Die erste Haering-These wurde jüngst von Eckart Förster mit neuen Argumenten rehabilitiert, welche sie nun sehr wahrscheinlich machen. Förster zeigt aufgrund von Druckgeschichte und Hegels Korrespondenz mit seinem Freund und Mentor Niethammer, der in dem Streit zwischen Hegel und seinem Verleger Göbhardt vermittelte, überzeugend, dass die Phänomenologie ursprünglich tatsächlich mit dem Vernunftkapitel enden sollte. Das überlieferte Fragment C. Die Wissenschaft14 ist Förster zufolge nicht als eine alternative Version des letzten Kapitels (VIII. Das absolute Wissen.) der endgültigen Phänomenologie anzusehen, sondern als das ursprüngliche Ende der 21 Druckbogen umfassenden ursprünglichen Version der Phänomenologie – der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns –, welche Hegel bereits Februar 1806 seinem Verleger zugeschickt hatte und die Ostern 1806 bereits in gedruckter Form vorlag.15 Diese These ist zunächst aus strukturellen Grün10

Vgl.: »Da die Einübung des Bewußtseins in den Gebrauch der spekulativen Momente die Notwendigkeit jenes Ganges hinter sich hat, auf dem die Logik diese Momente entfaltet, ist die Phänomenologie als Einübung nicht nur Einleitung in das System, sondern zugleich dessen erster Teil und damit selbst schon Teil der spekulativen Philosophie« (Pöggeler 1993, 272). 11 Pöggeler hat 1961 die These vertreten, dass den verschiedenen Bewusstseinsgestalten der Phänomenologie Gestalten des Systems überhaupt entsprechen; vgl. Pöggeler 1993, 218 f. und 212 ff. Diese These hat er 1966 aufgegeben zugunsten der These eines Entsprechungsverhältnisses nur von Phänomenologie und Logik; vgl. Pöggeler 1966, 52 ff., insbesondere Fußnote 33. Vgl. auch Pöggeler 1993, 260 ff. Oben wurde Pöggelers spätere Ansicht dargestellt. 12 Vgl. insbesondere Fulda 1975, 140 ff., Fulda 1966 und Trede 1975. 13 Vgl. dazu 1.5.2, insbesondere Anm. 152, und 9.3. 14 Abgedruckt in GW 9, 438–443. 15 Hegel hatte wahrscheinlich mit dem Verleger Göbhardt einen Vertrag für den Druck eines zweibändigen Werkes abgeschlossen, das in zwei gesonderten Lieferungen abzugeben war. Die erste Lieferung sollte wohl die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns als ersten Teil eines Systems der Wissenschaft (vgl. das ursprüngliche, zu Ostern bereits in gedruckter Form vorliegende Zwischentitelblatt, auf dem es heißt: »Erster Theil. Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns«, GW 9, 444) und die zweite Liefe-

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den plausibel: der Abschnittstitel »C. Die Wissenschaft« schließt im überlieferten Vernunftkapitel nahtlos an den Abschnittstitel »B. Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseyns durch sich selbst« an. Auch inhaltlich ist sie plausibel, denn die eigentliche »Wissenschafft des Geistes« (GW 9, 62) bildet nach der Einleitung in der Tat das anvisierte Ziel der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins.16 Schließlich bestätigt auch die Druckgeschichte die These: der Umfang des Fragments als Abschluss des ursprünglichen Vernunftkapitels passt genau zu den 21 Bogen (im Oktavformat = 21x16, d. h. 336 Seiten), die bereits gedruckt worden waren; Abschnitt B. des überlieferten Vernunftkapitels endet in der Originalausgabe auf Seite 329 und C. Die Wissenschaft dürfte ausgehend vom überlieferten Fragment einen Umfang von etwa 7 Seiten gehabt haben.17 Zwischen Februar und Ostern 1806 hat Hegel Förster zufolge dann seinen ursprünglichen Plan aufgegeben und die Arbeit statt wie ursprünglich geplant am zweiten am ersten Teil seines Systems fortgesetzt, den er nun nicht mehr als ›Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins‹, sondern als ›Phänomenologie des Geistes‹ begriffen habe. Da das ursprüngliche Ende der Phänomenologie nun nicht mehr zu dieser Fortsetzung gepasst habe, habe Hegel C. Die Wissenschaft (und vermutlich einige vorhergehende Seiten des B.-Abschnitts) aus den schon gedruckten 21 Bogen herausschneiden und auf B. stattdessen C. Die Individualität, welche sich an und für sich reell ist folgen lassen.18 rung die Logik als zweiten Teil dieses Systems umfassen. (Letzteres kann in Verbindung mit dem ursprünglichen Zwischentitelblatt indirekt aus der Vorlesungsankündigung für das Sommersemester 1806 erschlossen werden; vgl. Dokumente, 55.) Vgl. dazu Hegels Brief vom 6.8.1806 an Niethammer: »Der Druck ist im Februar angefangen worden; und nach dem ursprünglichen Kontrakt sollte dieser Teil [d. h. der erste Teil des Systems] vor Ostern [d. i. der 6.4.1806] fertig sein« (Briefe I, 113). Karl Hegels Bericht in seiner Ausgabe der Briefe Hegels kann entnommen werden, dass dieser Teil nach Abschluss des Drucks einen Umfang von »21 Bogen« (Briefe von und an Hegel (1887) I, 62) hatte. Vgl. insgesamt Förster 2008, 37 f. und die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte im Editorischen Bericht der GW: GW 9, 456–464, insbesondere 459 ff. 16 Vgl. GW 9, 62 und GW 9, 55, Zeile 33–34. 17 Vgl. Förster 2008, 49–53 und Förster 2011, 347–353; zur Druckgeschichte generell vgl. Nicolin 1967. Eine kleine Schwachstelle dieser Interpretation ist allerdings, dass die Schnittstelle sich nicht genau identifizieren lässt. Förster begründet dies mit der Vermutung, dass Hegel auch einige Seiten des vorhergehenden Kapitels wegschneiden ließ und neugeschrieben hat, um einen besseren Anschluss an den neuen C-Abschnitt zu gewährleisten. Insgesamt scheinen mir die Indizien aber sehr für die Richtigkeit der ersten Haering-These zu sprechen. 18 Vgl. Förster 2008, 53 ff. und Förster 2011, 357 ff. Auch die Auseinandersetzungen zwischen Göbhardt und Hegel sowie die Weigerung Göbhardts, Hegel das für die erste Manuskriptlieferung vereinbarte Honorar auszuzahlen, werden verständlich, wenn Hegel

Bisherige Interpretationen

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Während es Förster auf diese Weise überzeugend gelungen ist, Haerings erste These neu zu plausibilisieren, scheinen mir die Gründe, welche seiner Meinung nach Hegel dazu bewogen haben, dem bereits vollständig fertig gestellten Werk eine ebenso umfangreiche zweite Hälfte folgen zu lassen, weniger zwingend. Förster scheint in diesem Zusammenhang Haerings zweite These zu vertreten:19 bei der zweiten Hälfte handele es sich nicht mehr um eine systemexterne Einleitung in das System, sondern um ein »Hineinarbeiten konkreter Teile des Systems der Wissenschaft in seine nun Phänomenologie des Geistes genannte Einleitung« (Förster 2011, 361).20 Es ist m. E. allerdings schon auf den ersten Blick wenig plausibel und zudem unnötig, aufgrund der sicherlich bestehenden Spannung zwischen mehr epistemischen und mehr historischen Bewusstseinsgestalten anzunachträglich seine Zustimmung zur Veröffentlichung der bereits gedruckt vorliegenden 21 Bogen als erster Hälfte des Systems – so wie es vertraglich vereinbart worden war – zurückgezogen hätte; vgl. Förster 2008, 37 f. 19 Förster hält zwar nominell an der Bezeichnung »Einleitung« fest – statt Einleitung in die Logik konzipiere Hegel die Phänomenologie nun als Einleitung in das gesamte System (vgl. Förster 2011, 361) –, seine Interpretation kann aber strukturell durchaus der zweiten Haering-These zugerechnet werden: in der zweiten Hälfte der Phänomenologie bzw. der als »Phänomenologie des Geistes« neu konzipierten Phänomenologie gehe es nicht mehr darum, das natürliche Bewusstsein zum Standpunkt der Wissenschaft hinzuführen, sondern darum, »diesen Standpunkt inhaltlich auszufüllen […] und das System ›wirklichen Wissens‹ aufzustellen« (Förster 2011, 361; Förster spricht an dieser Stelle von verschiedenen Aufgaben der Geschichte der Philosophie, die in diesem Kontext aber bezogen sind auf die ursprüngliche und neu interpretierte Aufgabe der Phänomenologie). Vgl. Förster 2011, 360–362, vgl. auch 357 f. Auch Michael Forster scheint beide Haering-Thesen zu vertreten: Forster unterscheidet neben einem »official project« der Phänomenologie als Einleitung in die »Hegelian Science« ein realphilosophisch-geschichtliches Projekt, das Hegel vor allem in der zweiten Hälfte seines Werkes verfolgt habe. Vgl. die ausführliche Beschreibung dieses Projekts im dritten Teil seiner Idea of a Phenomenology: Forster 1998, 291–497. Vgl. auch Forster 1998, 501–510. 20 Hauptmotiv für die Aufgabe des ursprünglichen Plans ist Förster zufolge Hegels Kenntnisnahme von Goethes phänomenologischer Konzeption der Farbenlehre (vgl. FA 23/1 und 23/2) gewesen, und hier insbesondere der Vorstellung, dass einem genealogischen Aufstieg der Idee ein Abstieg zu folgen habe, welcher die Konkretisierung bzw. Realisierung dieser Idee zeigt; vgl. Förster 2011, 353–356 (Historischer Exkurs). Diese These scheint mir aus zwei Gründen unplausibel. Zunächst wirft diese These zwar ein interessantes Licht auf die Entwicklung von Hegels Systemkonzeption, sie scheint als These über eine philosophische bzw. metaphysische Theorie aber gerade nicht imstande zu sein, die Probleme in Hegels ursprünglicher Einleitungskonzeption, welche ihn allererst zur Aufgabe oder Erweiterung seines Einleitungsversuchs bewogen haben könnten, verständlich zu machen. Zum zweiten scheint Hegels Modell genealogischer Begründung nicht verschiedene Realisierungsvorgänge innerhalb des gleichen Begründungsgangs – einen genealogischen Aufstieg und einen konkretisierenden Abstieg innerhalb des gleichen Begründungsganges – zu erlauben; vielmehr gilt in Hegels Modell für jeden Sachverhalt, dass er »erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist« (GW 9, 19).

294

Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

nehmen, dass Hegel in der Mitte seines Werks den Versuch einer systemexternen Rechtfertigung ohne klare Markierung abgebrochen und mit einem völlig andersartigen, mit ersterem nicht kompatiblen realphilosophischen Begründungsversuch fortgefahren hätte. Ohne sehr starke Gründe für diese These anzuführen, scheint es interpretatorisch ungerecht, Hegel anstelle einer Inkonsequenz bloß in der Weise der Umsetzung der Einleitungsidee den weit gravierenderen Fehler einer Inkonsistenz zuzuschreiben, nämlich der, dem gleichen phänomenologischen Argumentationsgang völlig verschiedene Begründungskonzeptionen zugrundegelegt zu haben. Im Haupttext der Phänomenologie finden sich abgesehen von kleinen terminologischen Verschiebungen wie der Rede von »Gestalten einer Welt« (GW 9, 240)21 auch keine Indizien für diese These. Vielmehr hält Hegel auch noch im letzten Kapitel der Phänomenologie eindeutig an einem Verständnis der Phänomenologie als Vorbereitung zur eigentlichen Wissenschaft fest: »In dem [reinen] Wissen [d. h. der reinen, eigentlichen Wissenschaft] hat also der Geist die Bewegung seines Gestaltens beschlossen, insofern dasselbe mit dem unüberwundnen Unterschiede des Bewußtseyns behaftet ist« (GW 9, 431–432).22 Seinen ursprünglichen Plan, auf die Phänomenologie als Einleitung in die Wissenschaft die eigentliche Wissenschaft folgen zu lassen, scheint Hegel auch nicht aufgegeben zu haben, denn sowohl laut der zuletzt geschriebenen Vorrede als auch in der noch später verfassten Selbstanzeige soll auf die »Phänomenologie« als Einleitung die »Logik« als eigentliche Wissenschaft folgen.23 Die Tatsache, dass nach der Selbstanzeige ein »zweyter Band« neben der »Logik« auch die »zwey übrigen Theile der Philosophie, die Wissenschaften der Natur und des Geistes enthalten« (GW 9, 447) sollte,24 scheint darüber hinaus die These, dass Hegel der Meinung war, bereits in den letzten 21

Es handelt sich bei dieser Redewendung am Anfang des Geistkapitels offenkundig um eine inhaltliche Charakterisierung dessen, was als Inhalt des Bewusstseins im Geistkapitel auftreten wird. Die Rede davon, dass die »bisherigen [!] Gestalten des Bewußseyns […] Abstractionen desselben [des Geistes]« (GW 9, 239) waren, macht klar, dass auch die nun folgenden, im Geistkapitel zu thematisierenden konkreten Gestalten von Hegel insgesamt als Bewusstseinsgestalten verstanden werden. Vgl. insgesamt GW 9, 238–240. Dafür, dass Hegel zumindest in den ersten Jahren nach der Veröffentlichung der Phänomenologie noch an dieser These festgehalten hat, spricht folgende Formulierung aus der Logik von 1812: »In der Phänomenologie des Geistes […] habe ich das Bewußtseyn in seiner Fortbewegung von dem ersten unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstands bis zum absoluten Wissen dargestellt. Dieser Weg geht durch alle [!] Formen des Verhältnisses des Bewußtseyns zum Objecte durch« (GW 11, 20); vgl. dazu Dudley 2008, 137 f. 22 Vgl. insgesamt GW 9, 431–434. 23 Vgl. GW 9, 30 und GW 9, 447. Zur Vorrede vgl. 7.2.1.2. 24 Vgl. auch GW 9, 433.

Die zweite Hälfte der Phänomenologie als materiale Ausweitung

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Teilen der Phänomenologie realphilosophische Aufgaben bewältigt zu haben, nicht sehr wahrscheinlich zu machen. Auch die Umbenennung des ursprünglichen Titels in »Phänomenologie des Geistes« schließlich kann m. E. nicht als Argument für einen Konzeptionswandel gewertet werden. Vielmehr darf aufgrund der Ausführungen in 7.2.2 angenommen werden, dass Hegel mit diesem damals geläufigen Terminus für eine propädeutische Einleitungsdisziplin bloß deutlicher markieren wollte, dass es sich bei der Phänomenologie nicht um eine metaphysische, sondern um eine in eine solche Theorie einleitende Disziplin handelt.25

8.2 Die zweite Hälfte der Phänomenologie als materiale Ausweitung der phänomenologischen Einleitungskonzeption Es ist allerdings in der Tat auffällig, dass sehr heterogene Gebilde als Inhalte der phänomenologischen Darstellung auftreten: es werden sowohl epistemische »Situationen« als auch Theoriegebilde unterschiedlicher Art – Stoizismus, Skeptizismus, Schädellehre usw. – thematisiert; sowohl einzelne Positionen als auch übergreifende theoretische Konstellationen, sowohl moralische Vorstellungen als auch kulturelle Gebilde übersubjektiven Charakters: religiöse, ästhetische und realhistorische Konstellationen. Diese Gebilde scheinen wenig gemeinsam zu haben; die Interpretation des Bewusstseins als individualpsychologische Struktur wäre plausibel in Bezug auf einige der am Anfang der Phänomenologie beschriebenen epistemischen Situationen, nicht aber in Bezug auf beispielsweise die Französische Revolution; die Interpretation des Bewusstseins als übersubjektive Struktur wiederum wäre wenig plausibel in Bezug auf die am Anfang beschriebenen epistemischen Situationen.

25

Der ursprüngliche Titel »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns« macht dagegen nicht unmittelbar klar, dass es sich um eine Einleitungsdisziplin handelt. Das wäre unproblematisch gewesen, wenn die Einleitung zeitgleich mit der Metaphysik, in die sie einleiten sollte, im gleichen Buch erschienen wäre, wie Hegel es wohl ursprünglich vorhatte. Als sie dann aber gesondert veröffentlicht wurde, musste Hegel besorgt sein, dass sie für seine Metaphysik angesehen werden könnte, wie es denn auch tatsächlich oft geschehen ist. Der Titel »Phänomenologie« stellt dagegen unmittelbar klar, dass es sich um eine Einleitung handelt: nicht nur handelt es sich um einen damals etablierten Begriff für eine Einleitungsdisziplin im Sinne einer normativen Irrtumslehre (vgl. 7.2.2), der Begriff einer Erscheinungslehre des Geistes impliziert auch, dass einer solchen Lehre noch eine Lehre des Wesens des Geistes – d. h. eine »eigentliche[…] Wissenschafft des Geistes« (GW 9, 62) – zu folgen habe. Vgl. auch Kapitel 7, Anm. 67.

Die zweite Hälfte der Phänomenologie als materiale Ausweitung

296

Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

Die nächstliegende Weise, diesem Problem zu begegnen, bestünde darin, die übergeordnete Bewusstseinsstruktur der Phänomenologie selbst als etwas zu interpretieren, das sich im Laufe des phänomenologischen Entwicklungsprozesses von einer psychologischen Größe zu einer realhistorischen Struktur und zuletzt zum allesumfassenden »Geist« fortbildet. Aber auch in diesem Fall müsste ein diesem Fortbildungsprozess zugrundeliegender Mechanismus der Veränderung angenommen werden, welcher als formal-invariante Struktur selbst konstant bliebe und – falls an einem Einleitungsverständnis festgehalten wird – nur so das Verfahren der phänomenologischen Kritik garantieren könnte. Diese formal-invariante Struktur scheint man aber aufgrund der heterogenen Inhalte, die hier auftreten, nicht selbst wieder als einen psychologischen oder geschichtlichen Sachverhalt interpretieren zu können, der als einer der Inhalte dieser Struktur selber aufträte. Dies schon deshalb nicht, weil nach Hegelschem Verständnis in dem Moment, wo diese Struktur Inhalt ihrer selbst geworden ist, der Gegensatz des Bewusstseins überwunden sein soll; als Inhalt ihrer selbst ist diese Struktur für Hegel nicht mehr mit einer bestimmten Bewusstseinsgestalt identifizierbar, sondern als Reflexivwerden der gesamten Reihe von Bewusstseinsgestalten zu interpretieren: »Das absolute Wissen ist die Wahrheit aller Weisen des Bewußtseyns« (GW 11, 20–21).26 Wird dagegen das Bewusstsein als Struktur der Gegebenheit überhaupt interpretiert, kann es auf konsistente Weise als formal-invariante Struktur verstanden werden, welche (qua Wissensmoment) strukturell von ihren Inhalten unberührt bleibt und daher prinzipiell kompatibel ist mit den unterschiedlichsten Inhalten. Diese Gleichgültigkeit der Bewusstseinsstruktur gegenüber ihren Inhalten erlaubt es, den mit der Aufgabe von Hegels ursprünglichem Plan verbundenen Konzeptionswandel so zu interpretieren, dass dieser nicht das Verfahren der phänomenologischen Kritik, sondern lediglich den Umfang dessen, was Gegenstand dieser Kritik werden soll, betrifft. So verstanden hat Hegel lediglich die Anzahl der kritisierten Positionen revidiert. Diese Revision mag durchaus Konsequenzen für das Resultat der phänomenologischen Darstellung gezeitigt haben: Da die Wahrheitsinhalte der Bewusstseinsstruktur im Laufe der phänomenologischen Darstellung nicht bloß destruiert, sondern die relationalen Strukturen dieser Wahrheitsinhalte in die relationalen Strukturen der ihnen auf dem Wissensweg nachfolgenden Inhalte integriert werden sollen, ist es durchaus möglich, dass die 26

Vgl. auch GW 11, 30, Zeile 18–27.

Die zweite Hälfte der Phänomenologie als materiale Ausweitung

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in der zweiten Hälfte der Phänomenologie hinzugekommenen Inhalte Hegel zu einer Revision auch der relationalen Architektur der Endgestalt der Phänomenologie, d. h. des »absoluten Wissens«, gezwungen haben.27 Aber auch in diesem Fall scheint eine solche Revision zunächst nur die strukturelle Verfassung der eigentlichen Wissenschaft als Resultat der Phänomenologie betreffen zu können, die systemexterne Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie selbst bliebe von einer solchen Revision verschont. Durch die Interpretation des Bewusstseins als Struktur der Gegebenheit überhaupt kann auch dem Einwand begegnet werden, dass es sich bei vielen Bewusstseinsgestalten nicht um philosophische Theorien handle. Wird das Bewusstsein als Gegebenheitsstruktur interpretiert, können alle Bewusstseinsgestalten als »implizite[…] Philosophien« (Siep 2000, 73) interpretiert werden, in denen nicht Sachverhalte in der Welt, sondern die Gegebenheit solcher Sachverhalte, d. h. Auffassungen über solche Sachverhalte, thematisiert werden. So verstanden werden auch in den späteren Partien der Phänomenologie keine realphilosophischen Sachverhalte, sondern Theorien über solche Sachverhalte – in diesem Fall: geschichts- und kulturphilosophische Konstellationen im weitesten Sinne – thematisiert.

27

Anders aber, als man möglicherweise aufgrund der hinzugekommenen Inhalte der zweiten Hälfte der Phänomenologie erwarten würde, scheinen die strukturellen Unterschiede zwischen dem Fragment C. Die Wissenschaft, dem vermutlich ursprünglichen Schlusskapitel, und dem endgültigen Schlusskapitel VIII. Das absolute Wissen, d. h. zwischen der ursprünglichen und der endgültigen Konzeption des Resultats der Phänomenologie, insgesamt eher gering. Aus diesem Grund konnte das Fragment C. Die Wissenschaft wohl auch bis zu Försters Vorschlag, es als ursprüngliches Ende der ersten Hälfte der Phänomenologie zu interpretieren, als alternative Fassung des endgültigen Schlusskapitels verstanden werden (vgl. Förster 2011, 348, Fußnote 1 und den Editorischen Bericht zu C. Die Wissenschaft in GW 9, 467–468). Es spricht also einiges dafür, dass Hegel auch seine Konzeption der eigentlichen Wissenschaft nicht wesentlich geändert, sondern lediglich zusätzliche Bewusstseinsgestalten eingeschoben hat. Einen äußeren Grund für diesen Umstand dürfte die Tatsache darstellen, dass Hegel die Phänomenologie unter großem Zeitdruck vollendete (vgl. Förster 2011, 351–353) und ihm keine Zeit mehr für eine solche Revision blieb; aus diesem Grund, so Fulda, hat das Schlusskapitel auch einen unangemessen kurzen Umfang (vgl. Fulda 2008, 603 ff.). Es kann aber auch ein systematischer Grund angeführt werden: Bis zur Endgestalt wird die Wahrheitsseite im Laufe der phänomenologischen Darstellung relational immer komplexer, während die Wissensstruktur als invariante Struktur gleich bleibt. Am Ende der Darstellung kann keine weitere Integration in die Wahrheitsseite stattfinden, sondern es folgt ein Reflexivwerden des Verhältnisses von invarianter Wissensstruktur zur alle auf dem Wissensweg vorhergehenden Inhalte umfassenden Wahrheitsseite. Wenn in Folge einer Revision der Umfang dessen, was Inhalt der Wahrheitsseite wird, sich ändert, muss dies also keine Konsequenzen für die strukturelle Verfassung des Verhältnisses von Wissens- und Wahrheitsseite nach sich ziehen. Vgl. dazu 9.3 und den ersten Zusatz am Ende von 6.2.3.3.

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Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

Trotz dieser systematischen Kontinuitäten ist es aber nach Försters neuen Argumenten für die erste Haering-These m. E. nicht mehr möglich, wie beispielsweise (in Hauptpunkten) Fulda28 beide Haering-Thesen abzulehnen. Zugleich bleibt es aus den angeführten Gründen unplausibel, Hegel zu unterstellen, in den späteren Partien die Einleitungsfunktion der Phänomenologie gänzlich aufgegeben zu haben, und also wie Förster beide Haering-Thesen zu bejahen. Es stellt sich also die Aufgabe, den Bruch mit der ursprünglichen Konzeption der Phänomenologie als Bruch innerhalb der Hegelschen phänomenologischen Einleitungskonzeption verständlich zu machen – d. h. verständlich zu machen, wie die erste Haering-These bejaht, die zweite aber verneint werden kann. Wenn zudem angenommen wird, dass es sich auch bei den späteren Bewusstseinsgestalten um philosophische Theorien handelt, werden die genaueren Gründe ausfindig gemacht werden müssen, die Hegel mit dem Umfang der kritisierten Theorien in der ursprünglichen Phänomenologie unzufrieden sein ließen.29 Bemerkenswert ist zunächst, dass alle späteren Bewusstseinsgestalten im weitesten Sinne mit kulturellen Gegenständen zu tun haben. Es scheint also nahezuliegen, die ursprünglich fehlenden philosophischen Theorien als Positionen zusammenzufassen, die dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Prozess der Historisierung des Denkens zugeordnet werden können. Zu denken wäre an Theorien, in denen Wahrheitsansprüche durch den Bezug auf Historisches, Ästhetisches oder Religiöses legitimiert werden: geschichtsphilosophische Positionen wie diejenigen Rousseaus und Herders, Positionen der philosophischen Ästhetik und religionsphilosophische Positionen wie diejenigen Jacobis und Schleiermachers. 28

Vgl. Fulda 1975, 115 ff. Ich konzentriere mich in diesem Exkurs auf die Gründe, die für die spezifische Ausgestaltung der zweiten Hälfte der Phänomenologie verantwortlich sein könnten. Es kann auch angenommen werden, dass Hegel die zweite Hälfte nicht primär deswegen geschrieben hat, weil er in Schwierigkeiten geriet mit der Konzeption der ersten Hälfte der heutigen Phänomenologie – der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns –, sondern weil er Schwierigkeiten bekam mit der Ausarbeitung derjenigen Disziplin, die er noch im März 1806 (vgl. Dokumente, 55) als zweiten Teil seines »Systems der Wissenschaft« für die zweite Hälfte seiner Buchpublikation vorgesehen hatte: die Logik. Durch solche Schwierigkeiten mit dem, was Hegel für den zweiten, metaphysischen Teil seines »Systems der Wissenschaft« vorgesehen hatte, wird man allerdings nicht ohne weiteres die (systematischen) Gründe für die Modifikationen dessen, was Hegel ursprünglich für den ersten, einleitenden Teil seines »Systems der Wissenschaft« vorgesehen hatte, aufklären können; für diese Modifikationen scheinen zunächst nur interne Schwierigkeiten mit Hegels ursprünglicher Einleitungskonzeption in Frage zu kommen, und sei es auch, dass man annimmt, sie seien durch Schwierigkeiten mit Hegels damaliger metaphysischer Konzeption äußerlich veranlasst worden. 29

Die zweite Hälfte der Phänomenologie als materiale Ausweitung

299

Warum aber sind es gerade Positionen des historischen Denkens, die Hegel in der zweiten Hälfte kritisiert? Zwei Erklärungen bieten sich an: Zunächst könnte bei Hegel am Ende der Niederschrift des ursprünglichen Vernunftkapitels die Einsicht aufgekommen sein, dass das bis dahin vorliegende Resultat der phänomenologischen Darstellung – d. h. das, was in C. Die Wissenschaft ausgeführt ist – durch weitere konkurrierende Theorien, Theorien des historischen Denkens, in Frage gestellt werden könnte, die bisher noch nicht der Kritik unterzogen wurden und daher für den Geltungsanspruch der eigenen Position bedrohlich wären. Damit zusammenhängend könnte Hegel außerdem befürchtet haben, dass die bisherige Phänomenologie – also die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns – selbst für eine Position des historischen Denkens angesehen werden könnte, so dass er sich genötigt gefühlt haben mochte, sich mittels einer Erweiterung des Werkes vom historischen Denken kritisch abzugrenzen. Zweierlei dürfte Hegel zu diesen Einsichten veranlasst haben. Zunächst die schon im siebten Kapitel30 thematisierte Tatsache, dass Hegel im Wintersemester 1805/6 »zum ersten Mal Geschichte der Philosophie las« (Hegel’s Leben, 201). Wie vorhin dargelegt, hat Hegel die erste Hälfte der Phänomenologie mit C. Die Wissenschaft als ursprünglichem Ende wahrscheinlich im Februar 1806 dem Druck31 übergeben. Man wird davon ausgehen können, dass Hegel diese umfangreiche erste Hälfte nicht in vier Monaten verfasst, sondern geraume Zeit vor Beginn der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie mit ihrer Abfassung angefangen hat; als wahrscheinlich kann ein Zeitpunkt zwischen Ende 1804 und Anfang 1805 angesehen werden.32 Hegel wird die Vorlesungen von 1805/6, die er in seinem Jenaischen Heft auch schriftlich fixierte bzw. ausarbeitete, also während der Abfassungszeit der späteren Partien der ersten Hälfte der Phänomenologie konzipiert haben.33

30

Vgl. 7.1.1. Vgl. Briefe I, 113. 32 Als sicherer terminus post quem kann der 29.9.1804 angesehen werden, denn in dem Brief an Goethe unter diesem Datum berichtet Hegel von einer »rein wissenschaftliche[n] Bearbeitung der Philosophie« (Briefe I, 85), die er noch diesen Winter zu vollenden hoffe; vgl. auch Briefe I, 96 und 99. Da diese Bearbeitung sehr wahrscheinlich mit dem Fragment Logik, Metaphysik, Naturphilosophie in Verbindung steht (vgl. GW 7, 361 f.), in dem die Einleitungsaufgabe noch von der »Logik« wahrgenommen wird, kann man davon ausgehen, dass Hegel erst nachher – im Brief an Goethe ist die Rede davon, dass die »Bearbeitung« noch unvollendet ist – mit der Ausarbeitung der Phänomenologie begonnen hat. Erinnert sei auch daran, dass Hegel noch für das Sommersemester 1805 ein Buch – vermutlich ebenfalls im Zusammenhang mit besagtem Fragment – angekündigt hat; vgl. Dokumente, 54. Vgl. zu diesen Fragen 1.2 (Ende). 33 Vgl. dazu und zum Folgenden 7.1.1. 31

300

Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

Das hieße, dass die eigentliche Entstehung der ursprünglichen Fassung der Phänomenologie nicht durch die Vorlesungen von 1805/6 aufgeklärt werden kann; es scheint vielmehr umgekehrt plausibel, dass die Vorlesungen durch Hegels phänomenologische Konzeption von Bewusstseinsgeschichte ermöglicht wurden und erst die Arbeit an der Phänomenologie bei Hegel ein Interesse an der Philosophiegeschichte hat aufkommen lassen. Aber der spätere Konzeptionswandel kann sehr wohl durch die Vorlesungen von 1805/6 verständlich gemacht werden. Denn aufgrund der Argumente Försters kann als wahrscheinlich gelten, dass Hegel unmittelbar nach Abschluss der Vorlesungen – am Ende des Wintersemesters 1805/6, d. h. im Februar 1806 –, als er die erste Hälfte der späteren Phänomenologie gerade dem Druck übergeben hatte, die Einleitungskonzeption der ursprünglichen Phänomenologie modifizierte. Es ist naheliegend, diesen Konzeptionswandel als durch die Vorlesungen beeinflusst zu denken, die Hegel gerade beendet hatte und auf die er nun in ihrer Gesamtheit zurückblicken konnte. Als Indiz für diese These kann die Tatsache angeführt werden, dass insbesondere die Vorrede zur Phänomenologie durch Formulierungen aus dem Jenaischen Heft beeinflusst zu sein scheint. So heißt es sowohl in der Vorrede zur Phänomenologie als auch in dem Manuskript zur Einleitung in die Philosophiegeschichte von 1820, dass die Phänomenologie respektive die Philosophiegeschichte das »Werden unserer [der Philosophie] Wissenschaft« darstelle.34 Auch im letzten Abschnitt der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Edition Michelets – E. Das Resultat35 –, der vermutlich in weiten Teilen auf das Jenaische Heft zurückgeht,36 finden sich Formulierungen, die verwandt sind mit Formulierungen aus der ersten Hälfte der Vorrede37 und den letzten Abschnitten38 der Phänomenologie. 34

Vgl. GW 9, 24 bzw. GW 18, 38; vgl. in der Einleitung in die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Edition Michelets: Werke 13, 14; TWA 18, 22. Das heute nicht mehr vorliegende Jenaische Heft wurde von Hegel in späteren Jahren zwar grundsätzlich umgearbeitet (vgl. 7.1.1), dennoch wird man davon ausgehen können, dass er viele Formulierungen aus diesem Heft in seinen späteren philosophiehistorischen Vorlesungen und den ihnen entsprechenden Textfassungen übernommen hat; vgl. Jaeschke 1993, XI– XII und Förster 2011, 295 ff. 35 Vgl. Werke 15, 684–692; TWA 20, 454–462. 36 Vgl. Jaeschke 1993, XII und den Editorischen Bericht GW 18, 404. Auf dem Jenaischen Heft basieren dabei vermutlich vor allem Werke 15, 686–690/692; TWA 20, 456– 461/2. 37 Vgl. insbesondere GW 9, 10 ff. und 25 f. 38 Vgl. insbesondere ganz am Ende sowohl der Phänomenologie als auch der Vorlesungen (Edition Michelet) die Rede von dem »wahrhaften Geisterreich«, das alle bisherigen Bewusstseinsgestalten bzw. Philosophien in ihrer Aufeinanderfolge integriert. Vgl. GW 9, 433–434 bzw. Werke 15, 691; TWA 20, 461–462. Dass gerade auch der Schluss der Phäno-

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Den zweiten Anlass, welcher Hegel zur Modifikation seiner ursprünglichen Konzeption der Phänomenologie bewogen haben könnte, dürfte der – womöglich seinerseits durch die Vorlesungen von 1805/6 beeinflusste – Umstand geliefert haben, dass am Ende des ursprünglichen Vernunftkapitels die Kategorie der Individualität, damals ein programmatischer Grundbegriff des historischen Denkens,39 eine große Rolle spielt. Die Beschäftigung mit dem Thema der Geschichtlichkeit sowohl in den Vorlesungen von 1805/6 als auch im letzten Kapitel der ursprünglichen Phänomenologie dürfte bei Hegel zu der Einsicht geführt haben, dass sein phänomenologisches Modell der Genealogie in Konkurrenz zu alternativen Modellen von Genealogie tritt, die er noch nicht der Kritik unterzogen hatte. Da es sich bei dem Begriff der Individualität um einen programmatischen Grundbegriff des historischen Denkens handelte, musste Hegel außerdem befürchten, in seinen Bestrebungen gegen das ›damals herrschende abstrakte Denken‹40 selbst dieser Bewegung des historisch-konkreten Denkens zugerechnet zu werden. So verstanden hätte Hegel die zweite Hälfte der Phänomenologie also aus zwei Gründen geschrieben. Zum einen, um seine philosophische Position durch eine Kritik des historischen Denkens auch gegenüber diesem Denken als alternativlos auszuweisen und systemextern zu rechtfertigen. Zum anderen, um seine Position gegen das historische Denken abzugrenzen und so einem auf die Philosophie des objektiven Geistes verkürzten, einseitig geschichtlichem Verständnis des Systems propädeutisch vorzubeugen. Pointiert gesagt: Hegel hätte die zweite Hälfte der Phänomenologie geschrieben, um seine Position gegen eine zu große Herrschaft des konkreten Denkens zu verteidigen, nachdem er sie in der ersten Hälfte gegen eine zu große Herrschaft des abstrakten Denkens verteidigt hatte. Diese Auffassung bestätigt sich, wenn man diejenigen Textpartien in Augenschein nimmt, die ausgehend von Försters Analyse den Anfang der neu geschriebenen zweiten Hälfte der Phänomenologie ausgemacht haben: Gegenstand der Kritik sind hier eben Positionen der Individualität. Insbesondere mit der im ersten vollständig neu verfassten Teilabschnitt41 ausmenologie und der Vorlesungen (Edition Michelet) teilweise übereinstimmen, scheint zur Vermutung zu berechtigen, dass Hegel bei der Ausarbeitung der zweiten Hälfte der Phänomenologie, die er unter großem Zeitdruck zu vollenden hatte (vgl. Förster 2011, 351–353), das Jenaische Heft als Vorlage verwendet hat. 39 Vgl. dazu stellvertretend Troeltsch 1922 und Meinecke 1959. 40 Vgl. die Überarbeitungsnotiz zur Neuauflage der Phänomenologie GW 9, 448. 41 Es handelt sich um den ersten Teilabschnitt (V.C.a) des C-Abschnitts des Vernunftkapitels, nämlich: Das geistige Thierreich und der Betrug, oder die Sache selbst. (Dieser Teilabschnitt findet sich in der Originalausgabe auf den Seiten 333–358. Nimmt man mit Förster an, dass Hegel die ersten 7–8 Seiten (C. Die Wissenschaft) aus der ursprünglichen,

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Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

geführten Bewusstseinsgestalt, – »dem geistigen Tierreich« –, wird eine Grundvoraussetzung des historischen Denkens zum Gegenstand der Kritik gemacht: die normative und ontologische Gleichwertigkeit von »Individualität« genannten Sachverhalten. Zunächst sei thesenhaft mitgeteilt, wie diese Bewusstseinsgestalt im Rahmen einer metaphilosophischen Deutung der Phänomenologie gelesen werden kann. Es handelt sich um eine theoretische Konstellation, in der als allein wahr »Individualitäten« gegeben sind, welche Hegel in realisierter Form – als »in ein Bestehen hinausgeworfen« (GW 9, 220–221) – »Werke« nennt. Diese »Individualitäten« oder »Werke« sind einer Bewusstseinsstruktur gegeben, die nicht selber in dem, was als wahr gegeben ist, präsent ist. Präsent sind dagegen alle relationalen Strukturen, die im bisherigen Verlauf der Darstellung auf der Wahrheitsseite aufgetreten sind; es können diesen Individualitäten demnach beispielsweise eine bestimmte Form von Subjektivität, eine sie übergreifende Vernunftstruktur und auch normative Verhältnisse zugesprochen werden. Verstanden als das, was als überhaupt wahr auftritt, kann es sich bei diesen Individualitäten nicht primär um Einzelsachverhalte – etwa literarische Werke –,42 sondern muss es sich um solche Sachverhalte handeln, die in dieser Weltsicht als Inbegriff aller Realität gelten. Aufgrund der Gegebenheitsweise der gleichgültigen Vielfalt dieser Individualitätsstrukturen wird sich auch diese Weltsicht als instabil erweisen und zu einer weiteren (historischen) Weltsicht übergegangen werden müssen. Hegel scheint sich bei näherem Zusehen mit dem »geistigen Tierreich« in der Tat relativ eindeutig auf eine Konzeption zu beziehen, in der alle gegebenen Gegenstände durch individuelle Verstehenshandlungen – Aktivitäten, die mit »Fähigkeit, Talent, Charakter u. s. f.« (GW 9, 217) zusammenhängen – zustandekommen; diese Vielfalt von Verstehenshandlungen bildet die »eigenthümliche Tinctur des Geistes« (ebd.), mittels der dieser eine geistige Welt verfasst, in der immer nur das real ist, was Individualitäten als ihr eigenes Tun – sich so als ihr eigenes »Werk« erfassend und realisierend – hervorbringen. Auf diese Weise entsteht eine Welt von nebeneinander bestehen-

336 Seiten umfassenden Phänomenologie hat wegschneiden lassen (vgl. 8.1), ist dieser Teilabschnitt der erste neu verfasste eigenständige Textabschnitt.) 42 Diese Bewusstseinsgestalt wird oft als eine Kritik ästhetischer Autonomievorstellungen und des Kunstbetriebs interpretiert; vgl. Siep 2000, 161 f. Einer metaphilosophischen Lesart zufolge werden hier aber primär solche Positionen kritisiert, in denen Individualitätsvorstellungen zum Prinzip einer allumfassenden philosophischen Weltsicht gemacht werden. Ähnlich urteilt Siep (vgl. Siep 2000, 165 f.), der allerdings diese Position vorrangig handlungstheoretisch bzw. praktisch-philosophisch interpretiert.

Die zweite Hälfte der Phänomenologie als materiale Ausweitung

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den Entitäten, die ontologisch43 und normativ44 autonom und gleichwertig sind. Es fällt nicht schwer, Positionen der damaligen Geschichtstheorie und Hermeneutik zu identifizieren, in der Elemente einer solchen Individualitätskonzeption – statt von »Individualitäten« ist allerdings oft von (individuellen) »Ideen« die Rede – eine große Rolle spielen. Wie Michael Forster im Einzelnen ausführt, dürfte Hegel sich dabei vor allem auf Herder beziehen.45 Nicht unplausibel scheint auch ein Bezug auf Goethe und dessen Farbenlehre.46 Es droht damit im »geistigen Tierreich« genau diejenige theoretische Situation, die am ursprünglichen Ende der Phänomenologie gegeben zu sein scheinen konnte: ein gleichgültiges Nebeneinander von widersprüchlichen philosophischen Prinzipien ohne Integration dieser Prinzipien in eine übergeordnete Struktur, die mehr wäre als die bloße Reproduktion der isosthenen Ausgangslage des erscheinenden Wissens; d. h. eine theoretische Situa43

Vgl. z. B.: »[E]s ist nichts für die Individualität, was nicht durch sie, oder es gibt keine Wirklichkeit, die nicht ihre Natur und ihr Thun, und kein Thun noch Ansich derselben, das nicht wirklich ist« (GW 9, 219–220). 44 Vgl. z. B.: »Was auf die eine oder andere Weise genommen würde, ist auf gleiche Weise ein Thun und Treiben, ein sich Darstellen und Aussprechen einer Individualität; und darum alles gut, und es wäre eigentlich nicht zu sagen, was das Schlechte seyn sollte« (GW 9, 219). 45 Vgl. Forster 1998, 332–345 und Forster 2008a. Forster weist detailliert nach, dass viele Ausdrücke in diesem Abschnitt auf Herdersche Begriffe zurückgeführt werden können. Der Titelbegriff, der Begriff des »geistigen Tierreichs«, verweist laut Forster auf Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784–1791 (vgl. Forster 1998, 332 f., Forster 2008a, 405 f.). Es handelt sich bei Herders Konzeption in der Tat auch im chronologischen Sinne um eine der frühesten Konzeptionen, in der die Geschichte als das Resultat des Wirkens individueller Ideen verstanden wird. Zugleich erscheint die Stellung dieses Abschnitts vor dem eigentlichen Geistkapitel und die Charakterisierung der hier dargestellten Weltsicht als Verbindung von Geistigem (»geistiges«) und AnimalischAnthropologischem (»Tierreich«) zutreffend, denn in den Ideen zur Philosophie der Geschichte werden Geschichte und Natur als Kontinuum verstanden und das Wirken der Ideen in beiden Dimensionen aufgrund eines wohl von Buffon übernommenen dynamisierten – man könnte sagen: historisierten – biologisch-vitalistischen Kraft- und Typusbegriffs verständlich gemacht; vgl. dazu Reill 1990 und Reill 1994. 46 Dies scheint plausibel im Lichte der bereits angeführten Ausführungen Eckart Försters; vgl. Förster 2011, 353–356 (Historischer Exkurs). Wie im Falle von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte handelt es sich auch bei Goethes Farbenlehre um eine Konzeption individueller Ideen, die zugleich einem biologisch-vitalistischen Erklärungsmuster verhaftet bleibt; vgl. FA 23/1 und 23/2. Herder und Goethe werden von Friedrich Meinecke in seiner Entstehung des Historismus dementsprechend als die wichtigsten Vorläufer des Historismus betrachtet (vgl. Meinecke 1959, 355–444 und 445–584). Es ist insofern nachvollziehbar, wenn Hegel diese Individualitätsauffassungen in einer Bewusstseinsgestalt kritisiert, die zwar wesentliche Voraussetzungen von Geistkonzeptionen aufnimmt, aber selbst noch nicht in jeder Hinsicht als solche Konzeption gelten kann.

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Exkurs: Zum Problem der zweiten Hälfte der Phänomenologie

tion, die nur noch Positionen des historisch-konkreten Denkens zu vertreten erlaubt hätte. Es ist dann auch genau die scheinbare strukturelle Unabhängigkeit der »Individualitäten« bzw. »Werke« voneinander und von einer ihnen gemeinsamen Struktur, die am Ende dieser Bewusstseinsgestalt als »Betrug« kritisiert wird.47 Diese Thesen können selbstverständlich nur durch textinterpretatorische Einzelanalysen erhärtet werden. Hier sollte nur gezeigt werden, wie im Rahmen einer metaphilosophischen Interpretation der Phänomenologie plausibel gemacht werden kann, warum Hegel seinen ursprünglichen Plan zur Umsetzung der phänomenologischen Einleitungskonzeption aufgegeben hat.

47

Vgl. GW 9, 227–228. Schlussbetrachtung

9. Schlussbetrachtung: Die argumentative Selbständigkeit und die Begründungsrelevanz von Hegels metaphilosophischer Theorie

Im zweiten Kapitel wurde eine metaphilosophische Theorie definiert als eine Theorie, die zugleich argumentativ unabhängig von demjenigen und begründungsrelevant für dasjenige ist, was ihr als philosophische Theorie gilt. Zum Abschluss dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass und wie diese Kriterien von Hegels phänomenologischer Theorie erfüllt werden. In dieser Absicht wird als erstes vorgeführt, wie Hegels phänomenologische Wissenschaft als Theorie verständlich gemacht werden kann, die von philosophischen Annahmen argumentativ unabhängig ist. Dazu muss aufgewiesen werden, wie die im sechsten Kapitel erörterte, für die Phänomenologie grundlegende Annahme der Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins als argumentativ nicht von philosophischen Voraussetzungen abhängige Annahme rekonstruiert werden kann (9.2). Zur Vorbereitung dieser Rekonstruktion ist es erforderlich, eine erläuternde Vorbetrachtung zum methodischen Charakter des Hegelschen Bewusstseinsbegriffs einzuschalten (9.1). Als zweites soll dann dargelegt werden, wie die argumentative Funktion, d. h. die Begründungsrelevanz von Hegels metaphilosophischer Theorie für Hegels philosophische Theorie genauer bestimmt werden kann (9.3).

9.1 Zum methodischen Charakter des Bewusstseinsbegriffs Die in dieser Arbeit vertretene Interpretation des Hegelschen Bewusstseinsbegriffs als methodische Struktur, welche in keiner Beziehung – weder in der Form expliziten noch impliziten Wissens – über ein Wissen von sich verfügt, mag überraschen, sowohl in Anbetracht der Diskussionen und Debatten im Ausgang von Kants Selbstbewusstseinstheorie im (Früh)Idealismus als auch angesichts der intensiven historischen und systematischen Beschäftigung mit diesen Debatten in der gegenwärtigen (deutschen) Philosophie; denn in beiden wird das Bewusstsein in der Regel (auch) als phänomenaler, mentaler Sachverhalt, d. h. als personales Bewusstsein oder Selbstbewusstsein, verstanden. Es scheint also dem besseren Verständnis des Folgenden förderlich, in dieser Vorbemerkung zwei funktional verschiedene Bewusstseinsbegriffe explizit zu unterscheiden: »Bewusstsein« als theorieexterner, mentaler Sach-

306

Schlussbetrachtung

verhalt, dem Beschreibungsleistungen abgewonnen werden können, und »Bewusstsein« als methodischer Sachverhalt, dem Begründungsleistungen abgewonnen werden können; beide Begriffe können im historischen Einzelfall gesondert oder zusammen vorliegen.1 Es sei betont, dass diesen Bemerkungen nicht mehr als ein erläuternder Charakter zukommen soll; für ihre textinterpretatorische Fundierung bei Hegel sei auf das sechste Kapitel, für ihre systematische Berechtigung auf die beiden nächsten Abschnitte verwiesen. Auch wenn an dieser Stelle kein ausführlicher Überblick über die erwähnten Debatten gegeben werden kann,2 zeichnet das Folgende in grober Vereinfachung ein im Ganzen wohl doch zutreffendes Bild: Als spezifisch für Kant und den Frühidealismus kann die Inanspruchnahme von Bewusstsein, oder allgemeiner: Subjektivität, als Grundlegungsressource angesehen werden, der Begründungsleistungen für den argumentativen Aufbau der jeweiligen philosophischen Gesamttheorie abgewonnen werden. Obwohl im Vergleich zu Descartes und der cartesianisch-leibnizschen Tradition eine weniger starke substanzialistische Deutung subjektiver Sachverhalte erfolgt – diese gelten nicht einfach als eine besondere Klasse von Gegenständen, sondern werden zunehmend überhaupt nicht mehr zu dem gerechnet, was Gegenstand empirischer oder nicht-empirischer (inferenzieller) Erkenntnis werden kann –, bleibt insbesondere bei Kant große Ambivalenz bezüglich der Frage bestehen, ob es sich bei diesen subjektiven Sachverhalten um methodische Grundlegungsprinzipien oder um mentale Sachverhalte handelt, welche ihrer epistemischen Unzugänglichkeit zum Trotz dennoch letztlich als empirisches Ich oder als Seele in einer theorieexternen Gegenstandsdimension zu verorten wären.3 Wie oft bemerkt, kann Kant in diesem Zusammenhang als derjenige angesehen werden, der zum ersten Mal die Subjektivität auch in methodischer Hinsicht und aus ihrer methodischen Dimension heraus als Grundlegungsprinzip, als den »höchste[n] Punkt« seiner Philosophie (KrV, B 134, Fußnote), in Anspruch genommen hat, sich dabei aber über die strukturelle Verfassung dieses für ihn anscheinend nicht weiter erklärungsbedürftigen

1

Vgl. dazu Horstmann 1990, 220–226, Horstmann 2007, 49 f. und Diemer 1971, insbesondere 891 f. Vgl. auch 6.2.2.2 (Ende). 2 Stellvertretend seien genannt: Henrich 1982a, Henrich 1989, Henrich 2003, Frank 1991a, Frank 1991b, Frank 1997 und Düsing 1997. 3 Stellvertretend sei hier nur auf Horstmann 1997 und Kuhne 2007 verwiesen; im letzteren Werk findet sich auch ein rezenter Überblick über die umfangreiche Sekundärliteratur zu diesem Thema.

Zum methodischen Charakter des Bewusstseinsbegriffs

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Sachverhalts keine oder zumindest nicht auf explizite Weise theoretische Rechenschaft abgelegt hat.4 Reinhold stellt in dieser Beziehung wohl den ersten Nachkantianer dar, der mit seinem »Satz des Bewusstseins« auch eine explizite theoretische Erklärung der Struktur von Subjektivität vorlegte und zugleich den Anspruch erhob, das Bewusstsein vor allem als methodische Grundlegungsstruktur zu thematisieren.5 Die schon bald einsetzende Kritik an seinem Bewusstseinssatz – sowohl von Kant-Gegnern (Schulze) als auch von KantAnhängern – machte aber deutlich, dass dieser nicht ohne Inanspruchnahme eines weiteren Sachverhalts verständlich zu machen ist, welcher Sachverhalt wiederum nicht mehr als rein methodische Struktur angesehen werden kann.6 Auch unter dem Einfluss dieser Kritik formulierte Fichte seine Versionen einer Grundlegung aus der Struktur der Subjektivität, von denen hier nur die Wissenschaftslehre von 1794/5 genannt sei. Obwohl Begründung dort ausdrücklich nicht in Abhängigkeit von einem ›Faktum des Bewusstseins‹ erfolgen sollte, bleibt ein spannungsreiches Verhältnis zu diesem Faktum doch bestehen.7 Hegel konzipiert in der Phänomenologie das Bewusstsein dagegen als Begründungsprinzip, das nicht nur von Annahmen über mentale Sachverhalte unabhängig ist, sondern auch prinzipiell mentalistische Interpretationen von (subjektiven) Begründungsprinzipien ausschließt. Hegel erreicht dies dadurch, dass er erstens das phänomenologische Bewusstsein als metaphilosophische Struktur in Anschlag bringt, die jedweder (defizienten) philosophischen Interpretation – einer jeden Interpretation der Gesamtheit theorieexterner Sachverhalte überhaupt – zugrundeliegt. Da diese Struktur insofern auch mentalistischen Deutungen von »Bewusstsein« (»Bewusstsein« als theorieexternem Sachverhalt) zugrundeliegt, kann vom phänomenologischen Bewusstsein in Bezug auf diese Klasse von theorieexternen Sachverhalten gesagt werden: das Bewusstsein ist eine metaphilosophische Struktur, die sich selbst, soweit sie sich als »Bewusstsein« versteht – d. h.: soweit sie das, was wahr und seiend ist, als »Bewusstsein« auffasst – mentalistisch 4

Vgl. dazu z. B. Henrich 1989, 133 ff. und Henrich 2003, 43 f. Vgl. zum Nachfolgenden Henrich 1989, 139 ff. und Stolzenberg 1996, 461–472. 6 Vgl. dazu Frank 1997, 152 ff. – zur Kritik an Reinhold insbesondere: 252 ff. – und Henrich 2003, 136 ff. 7 Es droht eine Abhängigkeit der (Grundsätze aufdeckenden) Analyse von der »abstrahirenden Reflexion« und damit von den »empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns«; vgl. W I, 91 f. Vgl. dazu Horstmann 2004, 79 ff. und Horstmann 2007, insbesondere 61. 5

Zum methodischen Charakter des Bewusstseinsbegriffs

308

Schlussbetrachtung

interpretiert.8 Indem Hegel nun zweitens das Bewusstsein zugleich als eine defiziente Struktur interpretiert, die sich – inklusive jeder mentalistischen Selbstinterpretation – aufgrund ihres autodestruktiven Charakters selbst zerstört, ist es prinzipiell immun gegen jegliche mentalistische Interpretation. Der destruktive Charakter des Bewusstseins und die Tatsache, dass jede mentalistische Auffassung ein Fall von phänomenologischem Bewusstsein ist, erlaubt Hegel, das Bewusstsein als metaphilosophisches Begründungsprinzip in Anspruch zu nehmen, das auf philosophischer Ebene »subjektive« Begründungsprinzipien – metaphysische Grundlegungsprinzipien, denen als ontologischen Strukturen auch das Merkmal der Subjektivität zugesprochen werden kann – ermöglicht, die ihrerseits nicht mentalistisch interpretierbar sind. Das bedeutet allerdings, dass der Hegelsche Begriff des Bewusstseins nun in keiner Weise mehr theoretisch in Anspruch genommen werden kann, um personales Selbstbewusstsein – zumindest, soweit dieses nicht seinerseits, wie im Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie, als defiziente Struktur interpretiert wird9 – verständlich zu machen. Denn Hegel kann dem Bewusstsein nur deswegen Begründungsleistungen abgewinnen, weil er es von vornherein als inhärent defiziente Struktur interpretiert, in deren Begriff als selbstdestruktive Struktur schon ihre Nicht-Existenz impliziert ist. Dem phänomenologischen Bewusstsein kann also von vornherein keinerlei phänomenale Realität zukommen, sondern es vermag ausschließlich als negativmethodische Begründungskategorie zu fungieren.

9.2 Die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Theorie Hegels metaphilosophisch-phänomenologische Konzeption hängt insgesamt von der These ab, dass die Philosophie als eine faktisch gegebene isosthene Vielfalt von sich bestreitenden philosophischen Theorien charakterisiert werden kann. Es stellt sich hiermit die Frage, ob diese These nicht selbst eine philosophisch gehaltvolle Annahme darstellt, der mit gleichem argumentativem Recht eine alternative Annahme entgegengesetzt werden könnte. Nach der 8

Die Kritik mentalistischer Theorien erfolgt vor allem im Selbstbewusstseinskapitel (GW 9, 103 ff.). 9 Damit sei selbstverständlich nicht gesagt, dass Hegels Ausführungen im Selbstbewusstseinskapitel (GW 9, 103 ff.) nicht viele Hinweise zu einer Theorie des personalen Bewusstseins enthalten; die Aufstellung einer solchen Theorie kann aber nicht Hegels Intention in der Phänomenologie sein, soweit diese als systemexterne Begründung von Hegels metaphysischer Theorie verstanden wird.

Die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Theorie

309

Erörterung dieser Frage (9.2.1) wird anschließend gezeigt, wie Hegels metaphilosophische Bewusstseinstheorie aus dieser metaphilosophischen Grundannahme hergeleitet werden kann (9.2.2).

9.2.1 Hegels Grundannahme philosophischer Isosthenie Der Verdacht, Hegels Grundannahme sei philosophisch voraussetzungsvoll, kann mit dem Argument zurückgewiesen werden, dass sie keine philosophische These über die Beschaffenheit philosophieexterner Sachverhalte darstellt, sondern lediglich das Selbstverständnis philosophischer Theorien überhaupt artikuliert, einen allumfassenden – mit Reinhold gesprochen, einen allgemeingültigen und allgemeingeltenden10 – Wahrheitsanspruch zu erheben; sie bewegt sich insofern von vornherein in der metaphilosophischen Dimension der Selbstinterpretation philosophischer Theorien. Es scheint in der Tat eher unproblematisch, philosophischen Theorien als solchen einen exklusiven Wahrheitsanspruch bezüglich desjenigen, was ihnen jeweils als letztlich wahr und seiend gilt, zu unterstellen. Denn anders als Meinungen über Einzelgegenstände, die, solange ihre gegenseitige Unverträglichkeit nicht mit Sicherheit ausgemacht werden kann, miteinander koexistieren können, scheint eine Meinung bezüglich desjenigen, was überhaupt als wahr und seiend gilt, nicht nur die These zu implizieren, dass etwas wahr ist, sondern dass es allein wahr ist.11 An dieser Stelle könnte man allerdings einwenden, dass philosophische Theorien nicht zwangsläufig als Theorien interpretiert werden müssen, welche einen exklusiven Wahrheitsanspruch bezüglich der Totalität dessen, was wahr und seiend ist, erheben; sie können mit gleichem Recht auch als Theorien interpretiert werden, die einander nicht ausschließende Wahrheitsansprüche bezüglich unterschiedlicher Einzelsachverhalte – beispielsweise zur Struktur der Wahrnehmung und zur Verfassung von Kunstgegenständen – erheben.

10

Vgl. TVV, 71 ff. Wenn die Annahme der faktischen Isosthenie philosophischer Positionen immer noch für voraussetzungsvoll gehalten werden sollte, kann sie auch als historische These betrachtet werden. In diesem Fall könnte darauf verwiesen werden, dass es sich um eine Ansicht handelt, die nur von sehr wenigen bestritten wurde oder deren Zurückweisung selber eine gehaltvolle philosophische Position zu implizieren scheint. Zudem kann man geltend machen, dass derjenige, der diese These bestreitet, einen performativen Widerspruch begeht: derjenige, der bestreitet, dass Isosthenie eine grundlegende Struktureigenschaft der Philosophie sei, scheint genau unter Beweis zu stellen, was er bestreitet. 11

Die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Theorie

310

Schlussbetrachtung

Diesem Einwand lässt sich entgegenhalten, dass die Behauptung der Verträglichkeit oder der Unverträglichkeit philosophischer Theorien bezüglich unterschiedlicher Einzelsachverhalte, anders als die Behauptung ihrer Unverträglichkeit bezüglich (ausgemacht) gleicher Sachverhalte, philosophische Annahmen über einen diesen Theorien (vermeintlich) gemeinsam zugrundeliegenden Gegenstandsbereich impliziert, welche verständlich machen, wie solche unterschiedlichen Einzelsachverhalte mitsamt den mit ihrer (Voraus-) Setzung verbundenen philosophischen Implikationen miteinander koexistieren können. Trifft dies zu, ist die Annahme der Unverträglichkeit philosophischer Theorien bezüglich der Gesamtheit dessen, was wahr und seiend ist, metaphilosophisch alternativlos; ihr könnten nur Annahmen über das Verhältnis philosophischer Theorien entgegengesetzt werden, die philosophische Annahmen implizieren und als solche isosthen wären. Es scheint klar, dass sowohl die Behauptung einer Verträglichkeit als auch die Behauptung einer Unverträglichkeit von angenommenen Einzelsachverhalten nur möglich ist, wenn beide Sachverhalte in einem gemeinsamen Gegenstandsbereich situiert werden, aufgrund dessen erst beurteilt oder vielmehr festgelegt werden kann, wie beide Sachverhalte sich inhaltlich und logisch zueinander verhalten. Anders formuliert: es werden weitere Annahmen bezüglich gemeinsamer Eigenschaften beider Einzelsachverhalte als Kriterium benötigt, aufgrund dessen sich deren Verträglichkeit oder Unverträglichkeit beurteilen lässt.12 Eine solche Beurteilung kann aber nicht mehr mittels einer metaphilosophischen und d. h. philosophisch unparteiischen Analyse der Theoriestruktur beider Thesen, sondern nur durch eine philosophische Analyse der Gegenstandsebene beider Theorien erfolgen, durch welche das inhaltliche Verhältnis dessen, was auf der Gegenstandsebene an Sachverhalten gegeben 12

Denn anders als bei Behauptungen über Einzelsachverhalte, welche in Bezug auf eine dem Anspruch nach gemeinsame Alltagswelt erfolgen, scheint man bei philosophischen Theorien nicht von vornherein davon ausgehen zu können, dass unabhängig von der Annahme eines Kontextes geteilter Hintergrundannahmen auch nur der Bedeutungsgehalt solcher Theorien identifizierbar und vergleichbar wäre. Bei Behauptungen über natürliche Artbegriffe – etwa Bäume und Blumen, oder Eicheln und Eichen – werden diese gemeinsamen Annahmen oft relativ unstrittig sein, obwohl auch hier ihre Verträglichkeit die philosophische Annahme einer gemeinsamen deskriptiven Metaphysik (vermeintlich) natürlicher Arten vorauszusetzen scheint, welche keineswegs alternativlos ist. Im Falle von Behauptungen über philosophische Einzelsachverhalte im Rahmen verschiedener philosophischer Theorien wird aber erst recht nicht ohne weitere Annahmen entschieden werden können, wie zwei solcher Behauptungen sich zueinander verhalten. Es ist beispielsweise möglich, bezüglich zweier Thesen, welche prima facie zwei verschiedene Sachverhalte betreffen, nach eingehender Analyse festzustellen, dass sie auf den gleichen Sachverhalt zielen.

Die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Theorie

311

ist, näher bestimmt oder festgelegt wird. Eine Feststellung der Verträglichkeit (oder Unverträglichkeit) philosophischer Einzelthesen würde sich insofern nicht mehr als eine metaphilosophische Analyse zu diesen Thesen verhalten können, sondern nur eine weitere philosophische Theorie darstellen, welche das, was beiden Thesen gemeinsam ist, in eine neue philosophische Theorie überführt. So ist im Falle des angeführten Beispiels – die gleichzeitige Erhebung von Wahrheitsansprüchen in Bezug auf sinnlich-empirische und ästhetische Gegenstände – keineswegs von vornherein klar, wie die beiden angenommenen Gegenstandsklassen sich zueinander verhalten. Vielmehr bedarf es einer näheren philosophischen Analyse, um festzulegen, ob gleichwertige Wahrheitsansprüche bezüglich dieser Gegenstände vertreten werden können. So wäre etwa ein Meinongsches Szenario denkbar, in dem allen Gegenstandsklassen, inklusive sinnlich-empirischen und ästhetischen Gegenständen, ein eigenständiger ontologischer Status zugesprochen wird, ohne dass eine dieser Klassen in ontologischer Hinsicht bevorzugt würde.13 Es können aber auch aufgrund alternativer philosophischer Analysen die sinnlich-empirischen vor den ästhetischen – so beispielsweise in Kants Kritik der Urteilskraft – oder die ästhetischen vor den sinnlich-empirischen Gegenständen ontologisch privilegiert werden.14 Eine metaphilosophisch unparteiische Analyse scheint also nur dort möglich, wo unterschiedliche Theorien bezüglich des gleichen Sachverhalts gegeben sind, denn hier folgt das widersprüchliche Verhältnis beider Theorien allein aus der Tatsache, dass überhaupt Wahrheitsansprüche erhoben werden, und nicht erst aus einer philosophischen Analyse des Verhältnisses der Gegenstände, die als Inhalte dieser Theorien auftreten. Dies gilt zwar sowohl für philosophische Thesen bezüglich (ausgemacht) gleicher Einzelsachverhalte als auch für philosophische Thesen bezüglich dessen, was überhaupt als wahr und seiend gilt; aber nur im letzteren Fall ist sichergestellt, dass es sich auch wirklich um den gleichen Sachverhalt handelt. Denn anders als im ersteren Fall folgt die Annahme, dass es sich hier um Ansprüche bezüglich des gleichen Sachverhalts handelt, nicht erst aus einer inhaltlichen und somit möglicherweise philosophisch voraussetzungsvollen Analyse der vermeintlich gleichen Einzelsachverhalte, sondern aus der formalen Eigenschaft philosophischer Theorien, exklusive und allgemeingültige Wahrheitsansprüche zu erheben. Da ferner nur dann von unterschiedlichen philosophischen Theo13

Vgl. Meinong 1904 und Meinong 1907; vgl. dazu Schuhmann 2001. So beispielsweise in Platons Phaidros (Phaidros 227 ff.) bezüglich des Naturschönen und in Schellings Philosophie der Kunst bezüglicher der Kunst (SW I/5, 353–736). 14

312

Schlussbetrachtung

rien bezüglich dessen, was letztlich wahr und seiend ist, die Rede sein kann, soweit diese auch unterschiedliche Behauptungen bezüglich der für letztlich wahr und seiend gehaltenen Sachverhalte erheben, scheint die Annahme ihrer Unverträglichkeit also in der Tat eine philosophisch voraussetzungslose Annahme darzustellen, welche nicht angewiesen ist auf philosophische Annahmen über die Beschaffenheit der Gegenstände dieser Theorien. Sie ist metaphilosophisch alternativlos.

9.2.2 Herleitung von Hegels Bewusstseinstheorie aus der Annahme der Isosthenie Nun soll gezeigt werden, wie aus der philosophisch voraussetzungs- und alternativlosen Annahme faktischer Isosthenie die verschiedenen Aspekte von Hegels metaphilosophischem Bewusstseinsbegriff hergeleitet werden können: das Bewusstsein als Selbstbeziehung anstrebende, selbstgenerative relationale Aktivitätsstruktur, die solange in kritischer Selbstbeziehung über sich hinausgeht, bis sie mit sich identisch ist. Zu diesem Zweck müssen zunächst bezüglich der Grundannahme der faktischen Gegebenheit einer isosthenen Vielfalt von philosophischen Theorien drei Analysemomente unterschieden werden: Analysemoment (a): es ist eine numerische Vielzahl von philosophischen Theorien gegeben; Analysemoment (b): diese Theorien sind durch qualitativ unterschiedliche Inhalte oder Wahrheitsauffassungen ausgezeichnet; Analysemoment (c): diese Theorien erheben einen Wahrheitsanspruch bezüglich ihrer qualitativ verschiedenen Inhalte und sind insofern normativ auf diese Inhalte bezogen. Es scheint keine sehr gewagte These, dass diese drei Momente im Begriff der »isosthenen Vielfalt philosophischer Theorien« analytisch enthalten sind: »Vielfalt« impliziert eine Vielzahl; »Isosthenie«, d. h. Unverträglichkeit von Sachverhalten, impliziert, dass diese Sachverhalte qualitativ verschieden sind; und im Begriff der »philosophischen Theorie« scheint enthalten, dass etwas für wahr gehalten wird. Falls man diese Analyse nicht akzeptieren will, wird man zumindest zugegeben müssen, dass es sich um Annahmen handelt, die sich relativ leicht aus der Grundannahme philosophischer Isosthenie herleiten lassen: Die Vorstellung einer numerischen Vielzahl von qualitativ verschiedenen Inhalten folgt offenkundig aus der Annahme der isosthenen Gegebenheit von sich wider-

Die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Theorie

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streitenden philosophischen Theorien – d. h. von philosophischen Theorien mit inhaltlich unverträglichen Auffassungen darüber, was letztlich wahr und seiend ist. Denn aus der Gegebenheit einer bloß quantitativen Vielzahl von Theorien, welche sich nur raumzeitlich unterschieden, würde nicht folgen, dass diese Positionen sich auch qualitativ voneinander unterscheiden. Ferner wird man annehmen müssen, dass sich diese Theorien normativ auf dasjenige beziehen, was ihnen jeweils als (allein) wahr und seiend gilt, wenn von einem isosthenen Widerstreit philosophischer Theorien ausgegangen wird, d. h. von Theorien, die sich in Bezug auf miteinander unverträgliche Auffassungen darüber, was allein wahr ist, gegenseitig bestreiten. Hegels metaphilosophischer Bewusstseinsbegriff kann mit Hilfe dieser Analysemomente in zehn Schritten hergeleitet werden: 1. Als erstes kann aufgrund dieser Analysemomente angenommen werden, dass der isosthenen Vielfalt philosophischer Theorien eine singuläre Struktur namens »Bewusstsein« zugrundeliegt. Wenn das Problem der Vielfalt philosophischer Positionen als ein Problem verstanden wird, das die Möglichkeit der Verwendung philosophischer Argumentationsmittel in Frage stellt, wird die isosthene Gegebenheit der Philosophie nicht mehr durch den Rekurs auf Sachverhalte verständlich gemacht werden können, welche traditionellerweise den Gegenstand philosophischer Theorien bilden.15 Es bedarf vielmehr einer metaphilosophischen Theorie. Das heißt, dass die Dimension der Isosthenie – im Rahmen einer metaphilosophischen Theorie – ausschließlich mit Mitteln erklärt werden muss, welche in dieser Dimension selbst zur Verfügung stehen; für eine konsequent metaphilosophische Erklärung philosophischer Isosthenie ist mit anderen Worten gefordert, dass diese ausschließlich aus der Struktur der Philosophie selbst heraus verständlich gemacht wird. Dies bedeutet, dass die Vielfalt philosophischer Positionen und die mit diesen gegebene Vielfalt unverträglicher Wahrheitsinhalte weder durch eine Verschiedenheit mehrerer philosophieexterner Gegenstände noch durch eine die philosophische Vielfalt generierende externe Struktur erklärt werden kann, sondern entweder als ursprünglich innerhalb der metaphilosophischen Dimension gegeben oder aber als das Produkt einer die Verschiedenheit generierenden philosophieinternen Entität angesehen werden muss. Die These einer ursprünglich gegebenen Mannigfaltigkeit philosophischer Theorien scheidet aus. Denn in diesem Fall müsste angenommen werden, dass die Vielzahl inhaltlich unverträglicher Wahrheitsauffassungen nicht in der Struktur der Philosophie beschlossen liegt, sondern aufgrund eines alter15

Vgl. dazu 3.1 und 2.1.

314

Schlussbetrachtung

nativen Sachverhalts zustandekommt, z. B. durch die Gegebenheit von mit den philosophischen Wahrheitsinhalten korrespondierenden philosophieexternen Korrelaten. Solche Sachverhalte könnten aber nicht bloß aufgrund der metaphilosophischen Annahme der Isosthenie eingeführt werden – hier steht nur die Annahme zur Verfügung, dass es sich um philosophische Theorien handelt –, sondern erfordern philosophische Annahmen bezüglich dieser Sachverhalte. Es muss also die zweite These zutreffen, der zufolge die Verschiedenheit philosophischer Theorien das Produkt einer diese Verschiedenheit generierenden philosophieinternen Entität ist. Da eine alternative Erklärung unweigerlich in eine philosophische Erklärung der Vielfalt philosophischer Theorien zurückführen würde, ist eine metaphilosophische Erklärung nur möglich, wenn eine allen verschiedenen Theorien gemeinsame einheitliche Struktur auf metaphilosophischer Ebene angenommen wird, aus der die unterschiedlichen philosophischen Theorien mitsamt den ihnen korrespondierenden Inhalten hergeleitet werden können. Oder anders formuliert: Da auf metaphilosophischer Ebene von vornherein nur eine einzige Struktur als Erklärungsinstrument zur Verfügung steht – nämlich der Sachverhalt der Philosophie selbst, die schlichte Gegebenheit philosophischer Wahrheitsansprüche –, können die isosthenen Inhalte der Philosophie auch nur aus dieser Struktur hergeleitet werden. Noch einmal anders: Da das, was philosophische Theorien metaphilosophisch betrachtet gemeinsam haben, eben dies ist, dass sie philosophische Theorien sind, können sie auch nur als Instanzen von »Philosophie« angesehen werden. Hegels Bewusstseinsbegriff kann vorläufig als Begriff für eine solche singuläre, dem Phänomen der Philosophie zugrundeliegende Struktur auf metaphilosophischer Ebene in Anschlag gebracht werden; mit ihm soll an dieser Stelle also lediglich zum Ausdruck gebracht sein, dass überhaupt etwas als wahr gegeben ist. 2. Da nur diese singuläre Struktur als Erklärungsinstrument zur Verfügung steht, wird auch allein durch sie verständlich gemacht werden müssen, wie aus ihr eine Vielfalt von Positionen hervorgehen kann. Da zudem, wie gesehen, eine ursprüngliche Gegebenheit philosophischer Vielfalt ausgeschlossen werden kann, wird ein Mechanismus der Selbstreproduktion angenommen werden müssen, welcher in dieser Struktur selbst beschlossen liegt. Aus der Annahme der Gegebenheit von Isosthenie und der damit gegebenen Vielzahl von Positionen kann demnach geschlossen werden, dass diesen Positionen eine singuläre Struktur zugrundeliegen muss, die selbstreproduktionsfähig ist. 3. Um dem (aus Analysemoment (c) folgenden) normativen Bezug auf das, was in dieser Vielzahl von Positionen jeweils für wahr gehalten wird, Rechnung tragen zu können, ist die weitere Annahme notwendig, dass es sich

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bei diesem Selbstreproduktionsmechanismus um eine relationale Aktivitätsstruktur handelt; denn nur auf diese Weise kann die Perspektive des Erhebens philosophischer Wahrheitsansprüche in diese Struktur integriert werden. 4. Da außer dieser Struktur relationaler Aktivität in der metaphilosophischen Dimension keine weiteren Erklärungsinstrumente zur Verfügung stehen, wird der Prozess der Selbstreproduktion, soweit durch ihn eine numerische Vielzahl von Theorien zustandekommen soll, nur verständlich gemacht werden können, wenn ferner angenommen wird, dass diese Vielzahl durch selbstbezügliche Aktivität zustandekommt. Die Struktur wird also als selbstbezügliche Aktivitätsstruktur konzipiert werden müssen. 5. Die selbstbezügliche Aktivität dieser Struktur wird man nicht so denken dürfen, dass sie immer schon zu einem gelungenen Selbstbezug führt. In diesem Fall würde man nicht erklären können, wie durch die Aktivität dieser Struktur eine numerische Vielzahl von Positionen zustandekommt, da aufgrund dieser Aktivität nur eine einzelne Instanziierung dieser Struktur gegeben wäre: eine Instanziierung, die sich vollkommen epistemisch erfasst. Will man die selbstbezügliche Aktivitätsstruktur als reproduktiven Mechanismus explikativ in Anspruch nehmen, wird man sie vielmehr als Struktur interpretieren müssen, die Selbstbeziehung erst anstrebt – die eine Selbstbeziehungsaktivität vollzieht, welche nicht immer schon erfolgreich ist, sondern auch misslingen kann, so dass die Generativität dieser Struktur durch die Möglichkeit immer neuer Selbstbeziehungsversuche gewährleistet bleibt. Der der philosophischen Isosthenie zugrundeliegende metaphilosophische Sachverhalt muss also als eine Struktur gedacht werden, welche zwar Selbstbeziehung anstrebt und sich in einer Hinsicht auch tatsächlich auf sich selbst bezieht, zugleich aber durch die Möglichkeit ausgezeichnet ist, sich bei misslingendem Vollzug der Selbstbeziehung als numerisch neue Struktur zu reproduzieren. 6. Wenn nicht nur eine numerische Vielzahl von Inhalten, sondern eine von qualitativ unterschiedlichen Inhalten zustandekommen soll, kann die Selbstbeziehung anstrebende Struktur nicht als bloßer Vervielfältigungsmechanismus – also als eine Art reproduktive Einbildungskraft, welche angewiesen wäre auf die Annahme einer philosophieextern gegebenen Mannigfaltigkeit (soweit qualitativ unterschiedliche Inhalte reproduziert werden sollen) – aufgefasst werden. Man wird vielmehr annehmen müssen, dass diese Struktur über einen Mechanismus reproduktiver Selbstdifferenzierung verfügt, durch den sie in der Lage ist, aufgrund ihrer Selbstbeziehung anstrebenden Aktivität qualitativ unterschiedliche Inhalte zu generieren. 7. Da am Anfang der Selbstdifferenzierungsbewegung nichts als die singuläre Bewusstseinsstruktur gegeben ist, wird das Zustandekommen von qualitativ unterschiedlichen Inhalten nicht verständlich gemacht werden können,

316

Schlussbetrachtung

wenn angenommen wird, dass die beziehende Struktur auf einer bereits vorhandenen Selbstdifferenziertheit aufbaut; es wird vielmehr davon ausgegangen werden müssen, dass solche Selbstdifferenziertheit erst nachträglich im und durch den Versuch, Selbstbeziehung zu vollziehen, generiert wird. Die Selbstdifferenzierung scheint also als etwas gedacht werden zu müssen, das vom Bewusstsein durch aktive Entgegensetzung selbst generiert wird: durch einen negativen Bezug des Bewusstseins auf sich selbst, durch den es sich auf sich selbst, wie es vor diesem reflexiven Selbstbeziehungsakt vorhanden war, als »Anderes seiner selbst« bezieht. 8. Durch die Annahme einer solchen relationalen Selbstdifferenzierungsaktivität, die durch negative Selbstbeziehung qualitativ neue Inhalte generiert, kann auch verständlich gemacht werden, warum Hegel berechtigt ist, auf systemexterne Weise das Konzept der bestimmten Negation für seine phänomenologische Theorie in Anspruch zu nehmen: Wenn die Selbstbeziehungsaktivität des Bewusstseins zu qualitativ verschiedenen Inhalten führen soll, muss angenommen werden, dass Relationen in einem Prozess relationaler Selbstdifferenzierung in der dargelegten Weise negativ auf sich selbst bezogen sind und dadurch Inhalte generieren, welche in der Weise beschrieben bzw. bestimmt werden können, dass sie mit dem Inhalt der in diesem Prozess jeweils vorhergehenden Relation nicht kompatibel sind. Da diese Relationen, wie aus (c) hervorgeht, einen veritativen Charakter haben, heißt dies zugleich: der Inhalt jeder neuen Relation wird als das Unwahrsein des Inhalts der im Selbstdifferenzierungsprozess vorhergehenden Relation und auf diese Weise als die bestimmte Negation des Inhalts dieser vorhergehenden Relation gedacht werden müssen.16 9. Im Modell der relationalen Selbstdifferenzierung liegt auch beschlossen, dass die Inhalte, die im Laufe dieses Selbstdifferenzierungsprozesses erzeugt werden, durch immer größere relationale Komplexität ausgezeichnet sein müssen. Ohne diese Annahme wäre nicht einzusehen, dass die sich isosthen zueinander verhaltenden Wahrheitsinhalte der phänomenologischen Darstellung qualitativ verschiedene Inhalte sind, sondern müsste ihnen die immer gleiche relationale Struktur unterstellt werden. 10. Mit dem Konzept der bestimmten Negation steht ein Instrument auf der metaphilosophischen Ebene zur Verfügung, das erlaubt, die phänomenologische Wissenschaft insgesamt als eine philosophisch alternativlose kri-

16

Hier wird nur ausgeführt, wie Hegel berechtigt sein kann, das Konzept der bestimmten Negation für seinen ersten Bewusstseinssatz (philosophisch voraussetzungslos) in Anspruch zu nehmen. Wie Hegel dieses Konzept im Rahmen seiner phänomenologischen Erfahrungstheorie näher bestimmt bzw. verwendet, wurde in 6.2.4 ausgeführt.

Die argumentative Selbständigkeit von Hegels metaphilosophischer Theorie

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tische Destruktion der Gesamtheit isosthener Wahrheitsauffassungen verständlich zu machen. Denn dadurch, dass es dieselbe singuläre relationale Struktur ist, die jeweils selbst negiert, was sie generiert hat, und sich zugleich auf eigentümliche Weise epistemisch bzw. normativ – nämlich »erfahrend« – auf die negierten Inhalte bezieht, entsteht ein rekursiver Effekt: Es ist die gleiche Struktur, welche sich immer wieder negativ auf sich selbst (als ein anderes) bezieht und in diesen Bezügen jeweils das Unwahrsein dessen, was zuletzt wahr schien, zum Wahrheitsinhalt hat. Diese Struktur kann insofern abschließend als kritische, autodestruktive Struktur bestimmt werden, die zur metaphilosophischen Gegebenheit eines einzigen als wahr gegebenen Inhalts führt: das Unwahrsein der gesamten Reihe isosthener Theorien, die in ihrem relationalen Zusammenhang den so generierten Inhalt der Hegelschen Philosophie bilden. Damit ist das Bewusstsein als selbstbezügliche relationale Aktivitätsstruktur – d. h. »Hegels erster Satz des Bewusstseins« – aus dem faktischen Phänomen philosophischer Isosthenie hergeleitet.17 Wie aus dieser Struktur Hegels weitere Bewusstseinsbestimmungen folgen, wurde im sechsten Kapitel bereits ausführlich dargelegt; hier sollen die Ergebnisse dieses Kapitels noch einmal in systematischer Raffung dargestellt werden. Aufgrund der relational-selbstbezüglichen Tätigkeit des Bewusstseins ergibt sich im Laufe der phänomenologischen Darstellung eine Reihe von aufeinander aufbauenden Wissensrelationen, die am plausibelsten als einstellige Relationen, als schlichte »Gegebenheit von …«-Strukturen18 aufgefasst werden: eine jede Wissensrelation bezieht sich auf eine vorhergehende Wissensrelation, welche in und durch Selbstbeziehungsaktivität jene (nachfolgende) Wissensrelation erzeugt hat. Denn nicht nur stehen in der metaphilosophischen Dimension der Isosthenie keine Ressourcen für die Annahme einer komplexeren Relationsstruktur zur Verfügung; eine komplexere Relationsstruktur würde auch weder erlauben, das Selbstverständnis philosophischer Positionen abzubilden, noch überhaupt als defiziente Struktur verstanden werden können, in der intrinsisch das Streben nach Selbstdestruktion angelegt ist. Wie in 6.2.3 und 6.2.4 ausgeführt wurde, können bezüglich jeder Wissensrelation – mit Ausnahme der ersten und letzten Relation der Wissensreihe – drei Beschreibungsaspekte oder funktionale Rollen unterschieden werden. Erstens kann jede Wissensrelation als prüfende Relation beschrieben werden, welche ihren Ausgang von der jeweiligen ihr auf dem Wissensweg vorherge17 18

Vgl. 6.2.1. Vgl. 6.2.2.

318

Schlussbetrachtung

henden Wissensrelation nimmt. Auf diese Weise kann die kritische Funktion der phänomenologischen Darstellung legitimatorisch auf die interne Struktur der geprüften Wissenspositionen zurückgeführt werden, nämlich indem man diese Positionen als Ausdruck einer singulären und selbstdestruktiven Prüfungsaktivität des Bewusstseins interpretiert. Zweitens kann eine jede Wissensrelation beschrieben werden als fürwahrhaltende Wissensrelation, die auf eine ihr auf dem Wissensweg vorhergehende Wissensrelation als ihren Wahrheitsinhalt bezogen ist. Obwohl es dieselbe Relation ist, welche nach den Beschreibungen des zweiten und dritten Bewusstseinssatzes entweder als fürwahrhaltende oder als prüfende Relation beschreibbar ist, sind diese Beschreibungen – zumindest, soweit es sich um defiziente Relationen handelt – »verschoben«: eine Relation bezieht sich als prüfende (bei Nicht-Identität von »Wahrheit« und »Wissen«) immer auf die ihr vorausgehende fürwahrhaltende Relation.19 Gerade die Tatsache aber, dass das (prüfende) Bewusstsein sich nicht in der (fürwahrhaltenden) Relation, welche es selbst strukturell ist, als diese Relation erfasst, sondern sich auf diese Relation erst in einer nachfolgenden prüfenden Relation bezieht, – eine solche Annahme ist, wie dargelegt, erforderlich, wenn die Generativität des Prüfungsverfahrens gewährleistet sein soll –, ermöglicht die Annahme jener strukturellen Differenz, die die interne Inkonsistenz philosophischer Theorien verständlich machen kann. Wie vorhin aufgewiesen wurde, kann auch für diese Annahme geltend gemacht werden, dass sie in der Interpretationsstruktur des Bewusstseins selbst begründet liegt. Dieselbe Wissensrelation kann drittens auch als reifizierte Relation: als Wahrheitsmoment oder – im Fortschreiten der Darstellung – als relationaler Bestandteil des Wahrheitsmoments beschrieben werden, als das sie den Gegenstand einer auf dem phänomenologischen Wissensweg nachfolgenden (fürwahrhaltenden) Wissensrelation bildet. Die Deutung der phänomenologischen Darstellung als Reihe von isosthenen Wahrheitsauffassungen erlaubt Hegel, die Selbstinterpretationsperspektive philosophischer Theorien in seine metaphilosophische Theorie zu integrieren und diese durch jene zu legitimieren. Insgesamt erfüllt also jede Wissensrelation außer der ersten und letzten in der phänomenologischen Darstellung alle drei funktionalen Rollen des Bewusstseins: (i) als prüfende Relation in Bezug auf die auf dem Wissensweg vorhergehende Wissensrelation, (ii) als fürwahrhaltende Relation in Bezug auf die nun als (relationaler Bestandteil des) Wahrheitsmoment(s) aufgefasste vorhergehende Wissensrelation, und (iii) als reifizierte Rela19

Vgl. 6.2.3.

9.3 Zur Rechtfertigungsfunktion von Hegels metaphilosophischer Theorie

319

tion, die (in relationalem Zusammenhang mit vorhergehenden Relationen) das Wahrheitsmoment einer nachfolgenden fürwahrhaltenden Wissensrelation bildet. Der »verschobene« Charakter der Beschreibungen entspricht jener defizienten Form von erkennendem Selbstbezug, die für Hegel die phänomenologische Erfahrung des Bewusstseins ausmacht, in welcher es dem Wissen nie gelingt, sich erfolgreich auf sich selbst zu beziehen, sondern immer nur auf das, was es war. Gerade dadurch ermöglicht die phänomenologische Erfahrung die strukturelle Differenz auf metaphilosophischer Ebene, welche die isosthene Vielfalt philosophischer Theorien erst verständlich macht.

9.3 Zur Rechtfertigungsfunktion von Hegels metaphilosophischer Theorie Zum Schluss gilt es nun abzuhandeln, welche Begründungsrelevanz die Phänomenologie für Hegels philosophische Theorie besitzen soll. Wie im Laufe dieser Arbeit gezeigt wurde, besteht die argumentative Hauptfunktion von Hegels phänomenologischer Theorie darin, durch den Aufweis der Inkonsistenz aller alternativen philosophischen Theorien eine einzige philosophische Theorie als konsistent zu rechtfertigen. Als metaphilosophische Theorie soll die phänomenologische Wissenschaft diese Rechtfertigungsaufgabe so durchführen, dass sie selbst keine philosophischen Wahrheitsansprüche bezüglich der Gegenstände philosophischer Theorien erhebt, sondern lediglich die Wahrheitsansprüche fremder Theorien bezüglich solcher Gegenstände (philosophisch voraussetzungslos) kritisch beurteilt. Bei dieser Art von Rechtfertigung handelt es sich also nicht um eine Form philosophischer Rechtfertigung – die des Wahrheitsanspruches einer philosophischen Theorie durch die nachprüfende oder nachvollziehende Interpretation der in dieser Theorie für wahr gehaltenen theorieexternen Sachverhalte –, sondern um eine Form metaphilosophischer Rechtfertigung, durch welche im Rahmen einer ausschließlich auf Theorie-Ebene erfolgenden Analyse gezeigt wird, dass nur eine – die Hegelsche – philosophische Position konsistent vertreten werden kann. Die philosophische Begründung dieser Position soll, Hegels disziplinärer Aufgabenverteilung gemäß, ausschließlich innerhalb dieser Position selbst und nur mit den dort zur Verfügung stehenden (philosophischen) Mitteln erfolgen, welche anders als die (metaphilosophischen) methodischen Mittel der phänomenologischen Theorie auch für die Interpretation theorieexterner Sachverhalte geeignet sind. Zur Rechtfertigungsfunktion von Hegels metaphilosophischer Theorie

320

Schlussbetrachtung

Dennoch stellt die phänomenologische Theorie auch strukturelle Anforderungen an diese Position, welche Anforderungen nur Hegels philosophische Theorie, d. h. die spezifisch Hegelsche Version von Monismus, erfüllen können soll. Ohne solche Anforderungen wäre die Hegelsche Position zwar extern gerechtfertigt in Hinblick auf die tatsächlich durch die phänomenologische Darstellung als inkonsistent widerlegten Theorien, sie bliebe aber prinzipiell angreifbar durch neue Theorien. Die erste Anforderung betrifft den materialen Umfang dessen, was als Wahrheitsinhalt von Hegels philosophischer Theorie auftreten kann: Die durch die Phänomenologie gerechtfertigte philosophische Theorie muss als letzte der kritisch dargestellten Positionen die Bedingung erfüllen, alle vorhergehenden Theorien strukturell zu integrieren. Die letzte Position beinhaltet aus phänomenologischer Sicht die »Einsicht« aller Positionen in ihre Unwahrheit. Jede nachfolgende Position wird von Hegel als Prüfung einer vorhergehenden Position verstanden, welche als diese nachfolgende Position die Erfahrung ihrer Unwahrheit macht. Da nun die letzte Position nicht ihrerseits die Erfahrung ihrer Unwahrheit machen kann, bleibt allein der Wahrheitsanspruch dieser Position von allen in der Phänomenologie dargestellten Wahrheitskonzeptionen unwidersprochen. Weil sie strukturell die theoretischen Ansichten aller bisherigen Positionen integriert hat – sie umfasst ja in ihrem Wahrheitsmoment alle relationalen Strukturen, die den verschiedenen epistemischen Interpretationsmodellen der nun widerlegten Positionen zugrundelagen –, kann sie auch damit rechnen, prinzipiell gegen den Widerspruch dieser Positionen immunisiert zu bleiben. Die zweite Anforderung betrifft dagegen die Form des Auftretens dieser Wahrheitsinhalte. Während diese Form in der Phänomenologie »mit dem unüberwundnen Unterschiede des Bewußtseyns behaftet« (GW 9, 431–432) war, soll diese Differenz am Ende der Phänomenologie ›überwunden‹ sein: Wahrheitsinhalt und Wissensgegebenheit dieses Inhalts sollen nicht mehr »in den Gegensatz des Seyns und Wissens auseinander[fallen], sondern […] in der Einfachheit des Wissens« integriert und »ihre Verschiedenheit« nur noch »Verschiedenheit des Inhalts [des Wissens]« (GW 9, 30) sein. Nur unter dieser Bedingung – man beachte die Rede von »voraussetzen« – ist für Hegel wahre Philosophie möglich: »Die reine Wissenschaft setzt […] die Befreyung von dem Gegensatze des Bewußtseyns voraus« (GW 11, 21). Die Wahrheitsinhalte der bisherigen Positionen sollen in der letzten Position also nicht als bloß weiterer Wahrheitsinhalt der phänomenologischen Darstellung, ohne dass sich die Form des Wissens strukturell geändert hätte, thematisiert werden, sondern als Wissen Gegenstand des Wissens sein. Durch die zweite Anforderung ist für die letzte Position nicht nur festgelegt,

Zur Rechtfertigungsfunktion von Hegels metaphilosophischer Theorie

321

dass sie, gegeben ihre spezifischen philosophischen Wissensmittel, auf eine bestimmte Gegenstands- oder Wahrheitskonzeption verpflichtet ist, sondern auch, dass das, was als Inhalt ihrer Wahrheitsauffassung auftreten kann, eben diese philosophischen Mittel selbst sein müssen. Dadurch kann einerseits sichergestellt werden, dass in dieser Position ein explizites Wissen von der Unwahrheit aller bisherigen alternativen Positionen vorliegt, und es kann andererseits aufgrund des spezifisch epistemischen bzw. »philosophischen« Charakters des Gegenstandes dieser Position ausgeschlossen werden, dass zukünftig noch Alternativen zu ihr auftreten können; denn solche Alternativen würden zwangsläufig als philosophische Theorien dem Gegenstandsbereich dieser letzten Theorie angehören müssen. Präziser formuliert: Damit die kritisch-destruktive Leistung der phänomenologischen Darstellung in der durch sie gerechtfertigten philosophischen Theorie erhalten bleibe, müssen die kritisierten Positionen auch nach ihrer Integration in diese philosophische Theorie als widersprüchliche Wahrheitskonzeptionen epistemisch transparent vorliegen. Dies bedeutet zweierlei: (i) sollen in der letzten Position die bisherigen Wahrheitsinhalte als philosophisches Wissen, d. h. in ihrer relationalen Struktur und ihrem widersprüchlichen Verhältnis zueinander, durchsichtig bleiben, und (ii) soll auch die invariante Struktur des Gegensatzes von Wahrheit und Wissen selbst in die Struktur des Wissens integriert werden. Letzteres heißt auch, dass sich diese Totalität der relationalen Strukturen als epistemisches Gebilde auch noch auf sich selbst als solches Gebilde wissend beziehen können soll. Die letzte Position soll sich also nicht in der gleichen strukturellen Weise zu den bisherigen Positionen verhalten, wie diese sich zu der ihnen auf dem Wissensweg jeweils vorangehenden Position verhielten; in ihr sollen vielmehr die bisherigen Positionen reflexiv, soll metatheoretisch die »Wahrheit aller Weisen des Bewußtseyns« (GW 11, 20–21) zum Gegenstand des Wissens werden. Nur so ist gewährleistet, dass in dieser letzten Position und der dort integrierten Einsicht in den defizienten Wissenscharakter alternativer Positionen auch die epistemischen Einstellungen dieser Positionen repräsentiert sind. Wie löst Hegel nun diese Anforderungen ein? Der ersten Anforderung, derjenigen materialer Vollständigkeit, trägt Hegel durch die These der strukturellen Entsprechung von phänomenologischer und eigentlicher Wissenschaft Rechnung: Es »entspricht jedem abstracten Momente der [eigentlichen] Wissenschaft eine Gestalt des erscheinenden Geistes überhaupt« (GW 9, 432).20 Interpretierte man diese These in dem Sinne, als sei jede 20

Vgl. auch die alternative Formulierung dieser These am Ende der Einleitung: GW 9, 61, Zeile 31 ff. Unerheblich für das Verständnis der argumentativen Funktion der

322

Schlussbetrachtung

phänomenologische Bewusstseinsgestalt durch eine ihr entsprechende logische kategoriale Bestimmung argumentativ abzusichern oder zu begründen, d. h. als eine strukturelle Anforderung des Systems an die Phänomenologie, würde man die Phänomenologie nicht mehr als selbständige systemexterne Rechtfertigungsdisziplin verständlich machen können, sondern sie (in dieser Rolle) als begründungsfunktional überflüssig ansehen müssen. Im Rahmen eines systemexternen Rechtfertigungsverständnisses der Phänomenologie ist es vielmehr geboten, diese These als Einlösung einer der Anforderungen zu interpretieren, welche die Phänomenologie an die durch sie gerechtfertigte philosophische Theorie stellt: als Einlösung der Anforderung, dass diese Theorie genau diejenigen Momente enthalten muss bzw. soll, welche die Phänomenologie als intrinsische Bestandteile der kritisierten Theorien bereits aufgezeigt hat. Nur so ist garantiert, dass die Wahrheitsauffassung dieser Theorie nicht durch einen isosthenen Widerstreit mit alternativen Wahrheitsauffassungen in Frage gestellt werden kann.21 Die Weise, wie die zweite, die formale Anforderung eingelöst werden soll, deutet Hegel in der Phänomenologie nur an. Mit der letzten Position soll nicht eine weitere, nun konsistente Bewusstseinsgestalt die bisher defizienten Bewusstseinsgestalten ablösen, sondern das Bewusstsein als intrinsisch defiziente Struktur selbst überwunden worden sein, so dass an die Stelle der dualistischen Bewusstseinsordnung eine monistische Begriffsordnung treten kann: »Wenn in der Phänomenologie des Geistes jedes Moment der Unterschied des Wissens und der Wahrheit, und die Bewegung ist, in welcher er sich aufhebt, [also Bewusstseinsmoment ist] so enthält dagegen die [eigentliche] Wissenschaft diesen Unterschied und dessen Aufheben nicht, sondern Phänomenologie scheint mir, ob nur eine Entsprechung von den Momenten der Phänomenologie und der Logik oder eine von denen der Phänomenologie und dem gesamten System angenommen wird; vgl. Kapitel 1, Anm. 12. Allerdings scheint die Rede von der »Wissenschaft«, die in der Vorrede mit der »Logik oder speculative[n] Philosophie« identifiziert wird (GW 9, 30), für erstere Möglichkeit zu sprechen; auch ist in den letzten Absätzen der Phänomenologie von einer – wohl realphilosophischen – Bewegung der »Entäusserung« (GW 9, 433) dieser Wissenschaft die Rede, was ebenfalls dafür zu sprechen scheint, dass mit der vorher thematisierten Wissenschaft nicht das gesamte System gemeint sein kann. 21 Vgl. die vermutlich um 1805/6 entstandene Formulierung (vgl. Jaeschke 1993, XII) am Ende der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Edition Michelet), in der dies explizit in Bezug auf philosophische Theorien formuliert wird: »Die letzte Philosophie enthält […] die vorhergehenden, faßt alle Stufen in sich, ist Produkt und Resultat aller vorhergehenden« (Werke 15, 690–691; TWA 20, 461). Vgl. auch in der Heidelberger Enzyklopädie: »Unter einem Systeme der Philosophie wird fälschlich nur eine Philosophie von einem bestimmten, von andern unterschiedenen Princip verstanden; es ist im Gegentheil Princip wahrhafter Philosophie alle besondern Principien in sich zu enthalten« (GW 13, 19; § 8).

Zur Rechtfertigungsfunktion von Hegels metaphilosophischer Theorie

323

indem das Moment die Form des Begriffs hat, vereinigt es die gegenständliche Form der Wahrheit und des wissenden Selbsts in unmittelbarer Einheit« (GW 9, 432). Die Momente des Geistes stellen sich in der (eigentlichen) Wissenschaft daher »nicht mehr als bestimmte Gestalten des Bewußtseyns dar, sondern indem der Unterschied desselben in das Selbst zurückgegangen, als bestimmte Begriffe, und als die organisch in sich selbst gegründete Bewegung derselben« (ebd.). Wie diese unmittelbare Einheit durch die Form des Begriffs hergestellt werden können soll, führt Hegel an dieser Stelle allerdings nicht genauer aus.22 Die Frage, wie die beiden Anforderungen der Phänomenologie im Einzelnen in Hegels System und insbesondere in dessen Grundlegungsdisziplin, der Logik, inhaltlich und methodisch realisiert werden, würde eine selbständige Arbeit erfordern. Hervorgehoben sei in Form einer programmatischen Abschlussbemerkung aber noch, dass sich aufgrund dieser Anforderungen nicht eine philosophische Theorie anschließen kann, die die verschiedenen kritisierten Wahrheitsinhalte unmittelbar integrierte. Die materiale Anforderung erfordert, dass alle in der Phänomenologie kritisierten Wahrheitsinhalte in dieser Theorie strukturell integriert vorliegen, die formale Anforderung, dass diese Wahrheitsinhalte dabei als relationale Strukturen durchsichtig bleiben. Will Hegel nun beiden Anforderungen zugleich Rechnung tragen, wird er seine philosophische Theorie als integralen Zusammenhang von relationalen Strukturen denken müssen, in dem diese Strukturen in ihrer relationalen Verfassung erhalten bleiben. Das heißt, dass dieser Zusammenhang als relationales Gefüge gedacht werden muss, das nicht in toto unmittelbar als Gegenstand einer diesem Gefüge externen epis22

Eine etwas detailliertere Beschreibung dieses Integrationsvorgangs findet sich in der Logik von 1812. Dort heißt es, besagte Einheit solle einerseits als Sachverhalt konzipiert werden, in den die dualistische Form des Bewusstseinsgegensatzes aufgenommen werden könne: »Indem […] die Einheit [des Subjektiven und Objektiven] sich bestimmt und entwickelt, so müssen ihre Bestimmungen die Form jener Trennung haben« (GW 11, 30). Andererseits solle aber das, was in der Logik durch diese Form charakterisierbar ist, anders als in der Phänomenologie innerhalb dieser Einheit, d. h. innerhalb des Wissens selbst, thematisiert werden können: »Allein indem das Wissen darin besteht, daß die Wahrheit dieses Unterschiedes in seiner Einigung besteht, so hat er […] nicht mehr die Bedeutung, die er auf seinem [phänomenologischen] Wege hatte […]; sondern er kann nur als eine Bestimmung dieser Einheit, als ein Moment innerhalb ihrer selbst, auftreten« (ebd.). Da innerhalb dieser Einheit das, was für das Wissen als Gegenstand gegeben ist, nur es selbst sein kann – das Wissen ist »die Gewißheit, die dem Gegenstande nicht mehr gegenüber ist, sondern […] ihn als sich selbst weiß« (GW 11, 33) –, kann dasjenige, was als Wahrheitsinhalt der letzten phänomenologischen Position gegeben ist, nicht als ein im Vergleich zu den bisherigen Inhalten strukturell unveränderter Inhalt auftreten, sondern nur als einer, in dem Wahrheits- und Wissensmoment als identisch gegeben sind.

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Schlussbetrachtung

temischen (relationalen) Struktur gegeben sein kann oder gar im Rahmen der Bezugnahme durch eine solche Struktur – sei es in einem Modell der Deduktion, der intellektuellen Anschauung oder des unmittelbaren Wissens – fundiert werden kann. Vielmehr wird angenommen werden müssen, dass das Wissen sich in dieser Theorie in der gleichen komplexen Relationalität zu entwickeln hat, als welches es am Ende der phänomenologischen Darstellung gegeben ist. Hegels philosophische Theorie, sein System, wird daher das Resultat der Phänomenologie nicht unmittelbar als Begründungsressource in Anspruch nehmen können, sondern in seiner Begründungsstruktur durch eine methodische Form ausgezeichnet sein müssen, in der dieses Resultat sich in seiner gesamten relationalen Komplexität genealogisch entfalten kann. Aus der Phänomenologie folgt so nicht nur eine bestimmte alternativlose philosophische Wahrheitsauffassung, sondern auch die Weise, wie diese Wahrheitsauffassung methodisch auftreten muss, wenn sie alternativlos sein soll. Soll diese Wahrheitsauffassung nicht nur faktisch alternativlos sein, sondern ihr auch prinzipiell keine alternative Auffassung mehr entgegengesetzt werden können, wird auch die Begründungsform dieser Auffassung strukturell so beschaffen müssen, dass ihr keine alternativen Begründungsprinzipien entgegengesetzt werden können. Diese Begründungsform wird daher nicht in einer deduktiven Ordnung von Prinzipien bestehen können, in der ein Begründungsprinzip als letztes fundierendes Prinzip auftritt und als solches prinzipiell von nachrangigen oder alternativen Prinzipien in Frage gestellt werden kann. Vielmehr wird sie durch einen relationalen Zusammenhang von Prinzipien ausgezeichnet sein müssen, die sich gegenseitig bedingen – in Hegelscher Terminologie: ›voraussetzen‹ – und ihre Begründungslast so gemeinsam tragen.23 Das heißt für Hegel nun aber nichts anderes, als dass diese Prinzipien als »System« auftreten müssen. Durch die Systemform ist für Hegel einerseits die materiale Vollständigkeit, »alle besondern Principien in sich zu enthalten« (GW 13, 19; § 8), gewährleistet. Andererseits ermöglicht die Systemform in methodischer Hinsicht eine spezifische Integration dieser Prinzipien zu einem Ganzen, das selbst nicht mehr in der gleichen Weise wie die einzelnen Prinzipien als ein Begründungsprinzip verstanden werden kann, das sich als fundierendes Prinzip vom Fundierten unterschiede: »Ein Philosophiren ohne System kann nichts wissenschaftliches seyn«, denn es wäre »seinem Inhalte

23

Vgl. dazu die Kritik deduktiver Begründungsverfahren in dem Fragment Zwei Anmerkungen zum System: GW 7, 343 f.

Zur Rechtfertigungsfunktion von Hegels metaphilosophischer Theorie

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nach zufällig, indem derselbe nur als Moment des Ganzen seine Rechtfertigung, außer demselben aber eine unbegründete Voraussetzung […] hat«.24 Durch die Tatsache, dass sich an die genealogische Theorie der Phänomenologie eine weitere genealogische Theorie anschließt, ist auch die methodische und argumentative Selbständigkeit beider Theorien gewährleistet. Würde sich an die Phänomenologie als metaphilosophische Theorie unmittelbar eine bestimmte philosophische Wahrheitskonzeption anschließen, drohte eine philosophische Abhängigkeit dieser Konzeption von der Phänomenologie; nicht nur die methodische Begründungsform dieser Konzeption, sondern auch die philosophische Interpretation der durch diese Begründungsform fundierten gegenständlichen Sachverhalte müsste als durch die Phänomenologie ermöglicht gedacht werden. Dadurch, dass im System die destruierten und am Ende der phänomenologischen Darstellung im »absoluten Wissen« integrierten Wahrheitsinhalte selbständig entwickelt werden, ist diese Theorie aus phänomenologischer Perspektive nicht auf andere Weise gegeben als andere philosophische Konzeptionen: auch in Bezug auf sie wird aus phänomenologischer Sicht festgestellt, welche philosophischen Wissensmittel zur Verfügung stehen, welche philosophische Wahrheitskonzeption diese Wissensmittel implizieren, und ob jene Wahrheitskonzeption mit diesen Mitteln konsistent realisiert werden kann. Die Anwendung dieser Wissensmittel auf die Gegenstände der Philosophie wird auch hier durch die phänomenologische Wissenschaft bloß metatheoretisch registriert, nicht philosophisch praktiziert; letztere Aufgabe bleibt Hegels eigentlicher philosophischer Theorie, dem System, überlassen.

24

Vgl. Heidelberger Enzyklopädie, GW 13, 19; § 7, Anm.; ähnlich Berliner Enzyklopädie, GW 20, 56; § 14, Anm.

10. Zusammenfassung

In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, Hegels Phänomenologie als metaphilosophische Theorie zu rekonstruieren. Im ersten Teil – Kapitel 1 – wird untersucht, worin Hegel die argumentative Funktion der Phänomenologie sah. Eine Prüfung aller für diese Frage relevanten Textstellen – sie finden sich vor allem in der Phänomenologie und in der Logik – ergibt, dass die Phänomenologie für Hegel einen selbständigen Beweis, eine »Rechtfertigung« (GW 11, 20) seiner Theorie darüber, was letztlich wahr und seiend ist, leisten soll. Diese Theorie hat Hegel sowohl vor als auch nach der Zeit der Phänomenologie als sein System bezeichnet, das für ihn aus einer metaphysischen Grundlegungsdisziplin, ab 1805/6 »Logik« genannt, und zwei realphilosophischen Disziplinen, der »Philosophie der Natur« und des »Geistes«, bestand.1 Die terminologisch eigentümliche Verwendung der Systembezeichnung zur Abfassungszeit der Phänomenologie geht nicht mit einer Neukonzeption des Systems einher. Dass Hegel zu dieser Zeit das, was er davor und danach als sein »System« bezeichnet hat, terminologisch auf den »zweiten Teil des Systems« einschränkte und die »Phänomenologie« diesem zweiten Teil als »erster Teil des Systems« vorangehen ließ, bedeutet nicht, dass Hegel die Phänomenologie als argumentativen Bestandteil des Systems angesehen hat. Eine genaue Analyse ergibt vielmehr, dass die Phänomenologie für Hegel genau in dem Sinne den »ersten Teil des Systems« bildet, als sie die propädeutische Einleitung zu dessen zweitem, metaphysischem Teil ist (1.1). Mag die Interpretation der relevanten Textstellen soweit geklärt haben, dass die argumentative Funktion der Phänomenologie von derjenigen des Systems verschieden ist, bleibt noch unklar, wie genau diese Funktion zu denken ist. Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels werden daher weitere Strategien zur Aufklärung dieser Frage erprobt (1.2–1.6); weil jedoch sowohl entwicklungsgeschichtliche (in Rekurs auf Hegels vor- und nachphänomenologische Einleitungskonzeptionen) als auch gängige systematisch-rekonstruktive Verfahren (die Phänomenologie als transzendentales Argument) nicht vermögen, die spezifisch »externe« Beweisfunktion der Phänomenologie verständlich zu

1

Diese Theorie wird in dieser Arbeit immer als Hegels System bezeichnet; die Kursivschreibung System verweist auf die genannten drei Systemdisziplinen. Zusammenfassung

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machen, wird vorgeschlagen, sie als metaphilosophische Theorie zu rekonstruieren (1.7). Der zweite Teil – Kapitel 2 und 3 – handelt von metaphilosophischer Theoriebildung. Im zweiten Kapitel wird der Begriff der metaphilosophischen Theorie expliziert. Mit diesem Begriff sollen nicht theoretische Überlegungen über Philosophie schlechthin, sondern nur solche theoretischen Überlegungen über Philosophie bezeichnet werden, die als zugleich argumentativ unabhängig von dem und begründungsrelevant für das, was ihnen als philosophische Theorie gilt, angesehen werden (2.1). Diese Festlegung wird anschließend in Bezug gesetzt zu den bisherigen Verwendungen des Begriffs »Metaphilosophie« (2.2); nach einem Überblick (2.2.1) wird kritisch auf Reschers Begriff der Metaphilosophie eingegangen (2.2.2). Im dritten Kapitel wird dargelegt, welches Problemverständnis metaphilosophischen Theorieüberlegungen zugrundeliegt und wie in Reaktion auf dieses Problemverständnis metaphilosophische Theoriebildung entstehen konnte. Zunächst wird mehr systematisch ausgeführt, was als das Grundproblem metaphilosophischer Theoriebildung angesehen werden kann: das Problem faktisch-struktureller Isosthenie philosophischer Theorien. Unter »Isosthenie« wird das argumentative Gleichwertig-Erscheinen von Theorien verstanden, die (dem Isosthenie Konstatierenden) als einander entgegengesetzt gelten. Wenn »Isosthenie« als faktisch gegebenes Phänomen und strukturelles Merkmal philosophischer Theoriebildung gilt, können nicht mehr philosophische Theoriemittel eingesetzt werden, um die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter zu befreien; es werden nun also metaphilosophische Theoriemittel erforderlich (3.1). Im Anschluss wird exemplarisch anhand von Sextus Empiricus und einigen neuzeitlichen Autoren verdeutlicht, was ein faktisch-strukturelles im Unterschied zu einem philosophischen Isosthenieverständnis genauer beinhaltet (3.2). Schließlich wird anhand dreier Indizien typologisch beschrieben, wie in Reaktion auf das Problem faktisch-struktureller Isosthenie metaphilosophische Theoriebildung entstehen konnte. Diese Indizien betreffen: (i) die Tatsache, dass dem Problem der Isosthenie zunehmend theoretisch Rechnung getragen wird, (ii) die Transformation der »Doxographie« zur (meta)philosophischen Philosophiegeschichte und (iii) die Ausdifferenzierung einer selbständigen metaphilosophischen Theoriedisziplin (3.3). Während bei Aristoteles keines der drei Indizien eine Rolle spielt (3.3.1), treffen sie auf Descartes’ Methodologie teilweise (3.3.2) und auf Kants kritische Theorie schließlich alle zu (3.3.3). Im dritten Teil – Kapitel 4 bis 9 – wird gezeigt, wie Hegels Phänomenologie als metaphilosophische Theorie rekonstruktiv verständlich gemacht werden kann. Im vierten Kapitel wird zur Vorbereitung auf diese Rekonstruktion Zusammenfassung

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untersucht, inwiefern schon vor der Zeit der Phänomenologie ein metaphilosophisches Problemverständnis und eine darauf reagierende metaphilosophische Theoriebildung angetroffen werden können. Eine Analyse der Differenzschrift (4.1) und des Skeptizismus-Aufsatzes (4.2) ergibt, dass das Problem der (faktischen, aber noch nicht strukturellen) Isosthenie in beiden Schriften zwar eine wichtige Rolle spielt und Hegel diesem Problem (u. a. durch seine Antinomienkonzeption) auch theoretisch Rechnung trägt, von metaphilosophischer Theoriebildung im eigentlichen Sinne aber noch nicht die Rede sein kann. In einem Exkurs zu Michael Forsters pyrrhonistischer Interpretation der Phänomenologie wird im Gegenzug zu Forster ausgeführt, dass der Phänomenologie ein von Sextus Empiricus abweichendes, metaphilosophisches Isosthenieverständnis zugrundeliegt, das sich primär an dem Problem der historisch-faktischen Vielfalt philosophischer Theorien orientiert (4.3). Im fünften Kapitel wird das metaphilosophische Problemverständnis, auf das Hegel mit seiner Phänomenologie reagiert, genauer analysiert. Die Untersuchung erfolgt vor allem auf der Grundlage der ersten vier Absätze der Einleitung. Die in diesen Absätzen angestellten Überlegungen werden als Kritik an zwei komplementären Begründungsstrategien, der »natürlichen Prüfungsvorstellung« und der »Wissenschaft«, rekonstruiert (5.1). Die (sich vor allem auf Kant beziehende) »natürliche Prüfungsvorstellung« besteht in der Vorstellung, vor dem Erkennen des Absoluten – dem Erkennen dessen, was in einer Theorie jeweils für letztlich wahr und seiend gehalten wird – müsse die Tauglichkeit des Erkenntnisvermögens als ein Erkenntnismittel metatheoretisch untersucht werden (5.2.1). Hegel kritisiert diese Vorstellung als eine alternative Form metaphilosophischer Begründung, die als basierend auf unkritisch in Anspruch genommenen Voraussetzungen qua kritische Konzeption inkonsistent ist, qua alternative Theorie aber, als Wissen neben anderem Wissen, d. h. als (ihrem Selbstverständnis zum Trotz) Position der »Wissenschaft«, der weiteren Kritik bedarf (5.2.2). Die »Wissenschaft« besteht im Gegenzug zur »natürlichen Prüfungsvorstellung« in der Vorstellung, das Absolute könne unmittelbar erkannt werden; sie wird insofern als ein generischer Terminus für »philosophische Begründung« überhaupt gedeutet (5.3.1). Hegels Kritik an der »Wissenschaft« zielt auf ihr Auftreten als »erscheinende Wissenschaft«: auf ihr Auftreten als dogmatische Philosophie, d. h. als faktisch gegebene isosthene Vielfalt von sich gegenseitig bestreitenden Theorien. Es wird plausibel gemacht, dass anders als in der frühen Jenaer Zeit, philosophische Begründungsmittel für Hegel nun strukturell isosthen sind. Daher wird eine (zur »natürlichen Prüfungsvorstellung alternative) metaphilosophische Begründung erforderlich, um die »Wissenschaft« von ihrem isosthenen Charakter zu befreien und dadurch zu bewirken, dass sie

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konkurrenzlos als »wahre Wissenschaft« auftreten kann: eine phänomenologische Form von metaphilosophischer Begründung (5.3.2). Im sechsten Kapitel wird gezeigt, dass das erste und wichtigste der im dritten Kapitel genannten Indizien auf Hegels Phänomenologie zutrifft: Hegels Konzeption phänomenologischer Kritik, die »Darstellung des erscheinenden Wissens« (GW 9, 55), kann als metaphilosophische Konzeption verstanden werden, die dem Problem der Isosthenie auf spezifische Weise theoretisch Rechnung trägt. Hegel konzipiert die »Darstellung des erscheinenden Wissens« im Sinne einer solchen Konzeption als Entwicklungsweg isosthen auftretender Philosophie, der zugleich eine Selbstexplikation der auf diesem Weg sich darstellenden Theorien ist. Die Selbstexplikation hat für Hegel zwei Aspekte, denen zwei epistemische Modi oder Explikationsformen entsprechen: die isosthene Dimension des erscheinenden Wissens und die für sie charakteristische »natürliche Interpretationsperspektive des Bewusstseins« einerseits, die wissenschaftliche Analyseebene und die ihr korrespondierende wissenschaftliche Interpretationsperspektive andererseits. Die isosthene Dimension fungiert als die legitimatorische Basis von Hegels Darstellungskonzeption, die wissenschaftliche Dimension als Ebene der Kritik. Die isosthenen Positionen, die das erscheinende Wissen ausmachen, sind vollständig in ihre Inhalte versunken und ihnen bleibt ihre Entwicklung, die Transition von Position zu Position, insofern vollständig epistemisch opak; in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive werden dagegen alle Aspekte der Darstellung vollständig transparent. Hegels Begriff des »Bewusstseins« bzw. der »Bewusstseinsgeschichte« wird als Konzept verstanden, das beide Interpretationsperspektiven strukturell integriert und so verständlich macht, wie die wissenschaftliche durch die isosthene Dimension der Darstellung legitimiert werden kann. Es wird die These vertreten, dass es im Rahmen einer systemexternen Deutung der Phänomenologie am plausibelsten ist, dieses Bewusstsein nicht mentalistisch als empirisch-psychologische Größe, sondern metaphilosophisch als Bezeichnung für Philosophie zu interpretieren (6.1). Hegel arbeitet seine bewusstseinstheoretisch-metaphilosophische Konzeption näher aus, indem er drei Grundbestimmungen des Bewusstseins – sie werden in dieser Arbeit mit Heidegger als Hegels »drei Sätze des Bewusstseins« bezeichnet – aufstellt, die er am Ende der Einleitung zu einer metaphilosophischen Theorie der Bewusstseinserfahrung zusammenführt. Nach dem ersten Bewusstseinssatz – das »Bewusstsein ist für sich sein Begriff und dadurch unmittelbar das Hinausgehen über sich selbst« – ist das Bewusstsein eine Selbstbeziehung anstrebende Struktur, die dadurch, dass sie sich selbst epistemisch verfehlt, immer neue philosophische Positionen bzw. Theo-

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rien (»Bewusstseinsgestalten«) hervorbringt (6.2.1). Der zweite und dritte Bewusstseinssatz konkretisieren den ersten Satz jeweils in Bezug auf die isosthene und wissenschaftliche Dimension der Darstellung. Der zweite Satz – das »Bewusstsein unterscheidet etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht« – repräsentiert die isosthene Dimension der Darstellung in der wissenschaftlichen Interpretationsperspektive. Er soll erlauben, die Wahrheitskonzeptionen aller nicht-Hegelschen Positionen möglichst voraussetzungsfrei zu charakterisieren. Es wird daher (gegen Konrad Cramer) vorgeschlagen, das Bewusstsein intentionalistisch zu interpretieren: jeder philosophischen Position entspricht eine einstellige Wissensrelation, die aus zwei Elementen besteht: ein Wahrheitsmoment als Inhalt der Relation, der für das steht, was in einer Position jeweils für letztlich wahr und seiend gehalten wird, und ein Wissensmoment, welches die (dem Bewusstsein selbst epistemisch opak bleibende) Beziehungsstruktur der Relation bezeichnet und für die relationalen Mittel steht, mit denen in einer Position eine Wahrheitskonzeption jeweils realisiert wird (6.2.2). Der dritte Bewusstseinssatz soll erlauben, die Vielfalt nicht-Hegelscher Positionen als destruktiv-positive Entwicklungsreihe zu beschreiben, die aus der Prüfungsaktivität eines singulären – »Bewusstsein« genannten – Sachverhalts resultiert. Er ermöglicht eine Beschreibung, durch welche die Position der Hegelschen Philosophie als Resultat der Selbstprüfung aller nicht-Hegelschen Positionen ausgewiesen werden kann (6.2.3). Hegels bewusstseinstheoretische Überlegungen kulminieren schließlich in einer metaphilosophischen Theorie der Erfahrung des Bewusstseins, die verständlich macht, wie die Beschreibung des dritten Bewusstseinssatzes durch die (durch den zweiten Satz repräsentierte) isosthene Dimension der Darstellung legitimatorisch ausgewiesen werden kann. Das, was Hegel »Erfahrung« nennt, wird entsprechend als eine (für philosophische Positionen stehende) Struktur interpretiert, in der beide Aspekte integriert vorliegen. Der phänomenologische Erfahrungsbegriff ist so verstanden einerseits eine Bezeichnung für die Struktur defizienter philosophischer Erkenntnis, die sich im Rahmen ihrer Selbstprüfung zerstört, in ihm werden aber andererseits die rezeptiven Aspekte des traditionellen Erfahrungsbegriffs in dem Sinne integriert, dass diese destruktiven Leistungen in der natürlichen Interpretationsperspektive des Bewusstseins als Formen rezeptiv-sinnlicher Gegenstandserfahrung ›erlebt‹ werden (6.2.4). Im siebten Kapitel wird dargelegt, dass auf Hegels Phänomenologie auch die anderen beiden der im dritten Kapitel aufgeführten Indizien zutreffen. Als Erstes wird gezeigt, dass das zweite Indiz zutrifft. Es werden zunächst drei Argumente für die These angeführt, dass die Phänomenologie für Hegel eine Form von Philosophiegeschichte war (7.1.1), um anschließend zu zei-

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gen, wie sie als Form von Philosophiegeschichte verständlich gemacht werden und wie durch diese Deutung die metaphilosophische Interpretation zusätzlich plausibilisiert werden kann (7.1.2). Dann wird dargelegt, dass das dritte Indiz zutrifft, d. h. dass Hegels phänomenologische Disziplin als vollständig ausdifferenzierte metaphilosophische Theoriedisziplin verstanden werden kann. Zunächst wird ausgeführt, dass Hegel das Verhältnis von einleitender zu eigentlicher Wissenschaft – der »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« bzw. der »Phänomenologie des Geistes« zur »eigentlichen Wissenschaft des Geistes« – sowohl in der Einleitung als auch in der Vorrede als das Verhältnis einer metaphilosophischen zu einer philosophischen Disziplin bestimmt (7.2.1). Anschließend wird durch einen kontrastierenden Vergleich von Hegels phänomenologischer Disziplin mit alternativen propädeutischen Disziplinen bei Lambert, Kant und Reinhold die argumentative Selbständigkeit von Hegels propädeutischer Disziplin hervorgehoben (7.2.2). Im achten Kapitel wird in Form eines Exkurses der Frage nachgegangen, ob Hegel in den späteren Partien der Phänomenologie seine ursprüngliche Einleitungskonzeption modifiziert hat. Zu diesem Zweck werden zwei Thesen geprüft, die auf Theodor Haering zurückgehen: (i) die ursprüngliche Fassung der Phänomenologie – die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns – habe nur bis zum Vernunftkapitel reichen sollen und (ii) Hegel habe die Phänomenologie ursprünglich als Einleitung geplant, während der Ausarbeitung sei sie ihm aber immer mehr zum Systemteil geworden. In Auseinandersetzung mit Eckart Förster wird argumentiert, dass die erste These bejaht, die zweite aber verneint werden muss (8.1). Diese Interpretation wird anschließend näher begründet, indem dargelegt wird, dass Hegel sein ursprüngliches Werk zwar material um Positionen des historischen Denkens ausgeweitet hat – (i) also zutrifft –, die ursprüngliche Einleitungskonzeption der Phänomenologie von dieser Modifikation aber unberührt geblieben ist – (ii) also abzulehnen ist (8.2). Im neunten Kapitel wird schließlich in einer eher systematischen Weise nachgewiesen, dass Hegels phänomenologische Theorie die im zweiten Kapitel dargelegten systematischen Kriterien einer metaphilosophischen Theorie erfüllt. Zunächst wird in einem philosophiehistorischen Vergleich der methodische Charakter von Hegels phänomenologischem Bewusstseinsbegriff herausgestrichen (9.1). Dann wird dargelegt, inwiefern Hegels Theorie argumentativ unabhängig ist von philosophischen Annahmen, indem zuerst gezeigt wird, wie die Annahme der isosthenen Gegebenheit der Philosophie als die einzige Annahme, von der Hegels metaphilosophische Theorie abhängig ist, als eine verständlich gemacht werden kann, die nicht mit Annahmen über die Gegenstandsebene philosophischer Theorien verbunden ist. Danach wird

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Zusammenfassung

vorgeführt, wie aus dieser Annahme Hegels metaphilosophische Bewusstseinstheorie hergeleitet werden kann (9.2). Abschließend wird die Begründungsrelevanz von Hegels metaphilosophischer Theorie beschrieben, indem dargelegt wird, welche strukturellen Anforderungen die Phänomenologie an diejenige Theorie stellt, die durch sie metaphilosophisch gerechtfertigt werden soll, das System: Erstens soll diese Theorie in materialer Hinsicht alle kritisierten Positionen integrieren – in diesem Sinne wird Hegels Entsprechungsthese interpretiert, der zufolge jeder Bewusstseinsgestalt eine Gestalt der eigentlichen Wissenschaft zu entsprechen habe –, und zweitens in formaler Hinsicht garantieren, dass das kritisierte Wissen auch nach seiner erfolgten Integration als Wissen durchsichtig bleibt (9.3).

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