Hearing is Believing: Radio(-Programme) als strategisches Propagandainstrument [1 ed.] 9783737013062, 9783847113065


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Hearing is Believing: Radio(-Programme) als strategisches Propagandainstrument [1 ed.]
 9783737013062, 9783847113065

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Karin Moser (Hg.)

Hearing is Believing Radio(-Programme) als strategisches Propagandainstrument

Mit 14 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Unterstützt durch Fördergelder des Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank (Projektnummer: 18100). Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dekanats der HistorischKulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und des FSP Wirtschaft und Gesellschaft aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Grafik erstellt von Johannes Kaska Lektorat: Gudrun Likar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1306-2

Inhalt

Karin Moser Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Solveig Ottmann Volksempfänger-Effekt: Extrempolitischer Aktivismus im Internet . . . .

17

Philipp Henning Die »Oszillation von Lüge und Wahrheit«: Strategischer Hasstransfer und politisierter Islam in der NS-Rundfunkpropaganda auf Arabisch . . . . .

31

Felix Berge Jenseits von »Tankenden« und »Getankten«: Rundfunkpropaganda und »Gerüchtemacherei« in der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Florian-Jan Ostrowski Zwischen Information und Propaganda. Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege im österreichischen Rundfunk der 1920er- und 1930er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christine Ehardt Hörfilm tut not! (Radio-)Ästhetik als Programm und Propaganda im österreichischen Rundfunk der 1930er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Michael Kuhlmann »Die Macht des Rundfunks«. RIAS Berlin und der Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Kristina Wittkamp Unterhaltung und Musiksendungen auf Radio Majak in den 1960er- und 1970er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Adrian Hänni Ein geheimes Propagandainstrument der Papstkirche: Radio Omegas Sendungen in die Sowjetunion im Kalten Krieg . . . . . . . . . . . . . . . 119 Anton Hubauer »Es war damals 1938«: Die Ausblendung der NS-Zeit in den Radiobeiträgen der USIA/USIS. Ein Erfahrungsbericht aus dem Archiv der Österreichischen Mediathek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Karin Moser Vertraute Stimmen aus der Ferne: Emigrant*innen als US-amerikanische Kulturagent*innen der United States Information Agency (USIA) . . . . . 149 Frank Mehring »My new fellow Americans!« Die amerikanische Einbürgerung als radiophones Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . 171 Cornelia Szabó-Knotik Kriegsgefangene kehren heim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Elias Berner Die Zukunft, Boogie-Woogie und das Wienerlied im Sender Rot-Weiß-Rot: ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Valentin Bardet Musikpropaganda im besetzten Deutschland: Konzeption, Kontinuitäten und Ambivalenz am Beispiel des SWF-Sinfonieorchesters . . . . . . . . . 223 Stephan Summers Amerika-Bilder und Musikkontrolle – Zensur im Musikprogramm der amerikanischen Besatzungssender im Jahr 1946 . . . . . . . . . . . . . . . 235 Wolf Harranth Appendix: Das Dokumentationsarchiv Funk

. . . . . . . . . . . . . . . . 251

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Karin Moser

Editorial

Über Jahrzehnte galt das Radio als die modernste und aktuellste Nachrichtenquelle. Bis sich das Fernsehen in den 1960er-Jahren durchzusetzen begann, verfügte der Hörfunk als Live-Nachrichten-Medium über ein Alleinstellungsmerkmal. In den 1920er-Jahren avancierte das Radio »zum Symbol eines innovativen, modernen und urbanen Lebensgefühls«,1 das den Hörer*innen neue Welten und Tonlandschaften eröffnete. Erstmals drang ein medialer Apparat in die private Sphäre der Menschen ein und vermochte es, über Sprache und akustische Zeichen ganz unmittelbar Botschaften an die Hörer*innen zu übermitteln. Dieses »intime« und sehr »persönliche« Massenmedium,2 dessen Wirkmacht zugleich faszinierte und beunruhigte, sollte durch die Einbindung in staatseigene Institutionen gezähmt und möglichst kontrolliert werden.3 Über Jahrzehnte war es von politisch strategischer Bedeutung, sich des Sprachrohrs Rundfunk zu bedienen. In zahlreichen Ländern war das Radio zentral behördlich reguliert, sollte einen Bildungs- und Kulturauftrag erfüllen sowie zu einer nationalstaatlichen Identitätsbildung beitragen.4 Die Repräsentant*innen verschiedenster politischer Systeme nutzten den Hörfunk zur Konstruktion imaginierter Gemeinschaften und zur Propagierung von Selbst-, Fremd- und Feindbildern. Der Streit um die Vorherrschaft über politische, gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Diskurse wurde auch über Radioprogramme ausgetragen. Politische Vorgaben, Entscheidungen und Handlungen wurden per Radio im Sinne der Regierungskräfte kommentiert und die Bevölkerung entsprechend instruiert, beeinflusst und bisweilen dirigiert. Gerade au1 Christine Ehardt, Radiobilder. Eine Kulturgeschichte des Radios in Österreich, Wien 2017, 64. 2 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Frankfurt am Main 1970, 289. 3 Knut Hieckethier, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 2020, 292. 4 Vgl. Johannes Müske/Golo Föllmer/Walter Leimgruber, Einleitung: Radio und Identitätspolitiken, in: Johannes Müske/Golo Föllmer/Thomas Hengartner/Walter Leimgruber (Hg.), Radio und Identitätspolitiken. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2019, 9–20, 10– 13.

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Karin Moser

toritäre Regime bedienten sich des Hörfunks als ideologisches Dauerbeschallungsinstrument, über welches Programmatiken, Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie Verhaltens- und Handlungsweisen ›von oben‹ verordnet und emotionell aufbereitet wurden. Doch auch oppositionelle Kräfte nutzten den »Äther«, um unterdrückte Informationen zu verbreiten und vor allem in diktatorischen Systemen für Freiheit und Demokratie zu werben. Dabei waren es etwa Emigrant*innen, die während des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit den Alliierten Radioprogramme konzipierten und gestalteten, um die Menschen in NS-Deutschland und in den besetzten Gebieten in deren jeweiligen Sprachen zu erreichen. Viele der im Zweiten Weltkrieg tätigen Exilant*innen setzten ihre Arbeit nach 1945 auf der einen oder anderen Seite des Eisernen Vorhangs fort. Aus Sicht der Westalliierten (allen voran der USA) eignete sich aus damaliger Perspektive kein anderes Medium besser dazu, um (politische) Grenzen zu überwinden. Für die US-Außenpolitik hatte der Rundfunk im Sinne von »Hearing is Believing« eine wichtige Funktion in der Informationspolitik. Ost und West versuchten durch eigens konzipierte Radioformate unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen und für die eigenen gesellschaftspolitischen Ideen zu gewinnen. Bei der Programmkonzeption waren die jeweiligen soziokulturellen Bedürfnisse des Landes und der fokussierten Zielgruppen zu berücksichtigen. Zugleich stellte sich die Frage, wie inhaltliche Schwerpunkte didaktisch, rhetorisch, aber auch emotional und ästhetisch am besten aufbereitet werden sollten, um die Hörer*innen unter Berücksichtigung von deren persönlichen Wünschen und Bedürfnissen anzusprechen und letztlich nachhaltig für das jeweilige beworbene Gesellschaftsmodell zu begeistern. Das »private« und »intime« Medium Radio bot dabei im Speziellen die Möglichkeit, sich als Teil eines Kollektivs zu erfahren. Während das Hören im Rahmen eines familiär-privaten Umfelds zu Hause oder in Gaststätten, Vereinen, Klubs etc. eine offensichtliche persönliche Gemeinschaftserfahrung war, konnte auch das ›einsame‹/alleinige bzw. ›geheime‹ Konsumieren von Hörfunksendungen ein Gefühl von Zugehörigkeit erzeugen. Das Wissen um das Hören spezieller Programmschienen wurde abseits des unmittelbaren gemeinsamen Konsums mit Gleichgesinnten geteilt und verband die Mitglieder dieser ›verschworenen‹ Hörgemeinschaften. Gerade im Bereich des »nation-building«5 wie auch bei der Ausformung persönlicher Identitäten spielte das Radio eine bedeutende Rolle. Selbst- und Fremdwahrnehmungen wurden vom Hörfunk mitbestimmt, der Blick auf Räume, Gesellschaften und Kulturen (etwa über Bildungs-, Musikprogramme, Ma5 Daniel Morat/Hansjakob Ziemer (Hg.), Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, Stuttgart 2018, 355.

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gazine) erweitert. Akustische Zeichen, Stimmen und Töne sind hierbei maßgeblich an der Vermittlung diverser Identitätsangebote beteiligt. Musik kann kulturelle und nationale Grenzen überschreiten und schafft dadurch neue Begegnungszonen.6 Jazz und Rock ’n’ Roll waren etwa für die Jugend in Nachkriegseuropa Ausdruck eines modernen Lebenskonzepts. Als »Soundtrack der Befreiung«7 sind populäre US-amerikanisch inspirierte Lieder schließlich in die Gedenkkultur vieler Nachkriegsgesellschaften eingegangen.8 Stimmen wiederum schaffen über direkte Ansprache, die Verwendung von Dialekten und spezifischen Soziolekten Nähe und Verbundenheit. Gut eingeführten, wiedererkennbaren Sprecher*innen wird tendenziell mehr und bewusster zugehört, sie erscheinen glaubwürdig, da vertraut. Die emotionale Kraft der Stimme kann berühren, aufrütteln, begeistern, Empathie erzeugen, aber auch Ablehnung hervorrufen, provozieren und radikalisieren. Dabei durchleben Gefühle »historische Konjunkturen«, sie aktivieren »soziales Handeln, setzen Menschen individuell und kollektiv in Bewegung, formen Gemeinschaften und zerstören sie, ermöglichen Kommunikation oder brechen sie ab. Sie beeinflussen den Rhythmus und die Dynamik sozialen Handelns.«9 Medien an sich dienen der Zerstreuung, konstituieren und stiften aber auch Sinn und erzeugen Emotionen. Sie verändern die Form, den Ausdruck und die Intensität von Gefühlen, wobei diese sich in bestimmten historischen Phasen und Gesellschaften wandeln und an Bedeutung gewinnen können.10 Dies trifft im Besonderen auf den Kalten Krieg zu, jene Zeit der bipolaren Ordnung, die zwei Blöcke als jeweils eigene emotionale Gemeinschaften schuf. Gefühle wurden bewusst eingesetzt, um sich zu positionieren und potenzielle Zielgruppen für die eigene Sache zu motivieren. Angst und Vertrauen traten als einander entgegengesetzte (Gefühls-)Haltungen auf beiden Seiten der politischen Hemisphäre

6 Frank Mehring, Liberation Songs: Music and the Cultural Memory of the Dutch Summer of 1945, in: Hans Bak/Frank Mehring/Mathilde Roza (Hg.), Politics and Cultures of Liberation. Media, Memory, and Projections of Democracy, Leiden/Boston 2018, 149–176, 151. 7 Hans Bak/Frank Mehring/Mathilde Roza, Introduction: Politics and Cultures of Liberation, in: dies. (Hg.), Politics and Cultures of Liberation, 2018, 1–16, 3f., 6. 8 Frank Mehring konstatiert hierbei zu Recht, dass sich Historiker*innen bislang wenig mit dem »sound« und »soundtrack« der Geschichte auseinandergesetzt haben. Tatsächlich eröffnet sich hier für die historische Forschung noch ein weites und ergiebiges Feld. Siehe auch: Mehring, Liberation Songs, 2018, 150. 9 Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft, 35 (2009), 183–208, 192, 202. 10 Vgl. dazu die Ausführungen des Historikers Frank Bösch: ders., Medien und Emotionen: Zugänge der Geschichtswissenschaft; in: Anne Bartsch/Jens Eder/Kathrin Fahlenbrach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellungen und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote, Köln 2007, 142–155, 142–143.

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auf,11 wobei Radiomeldungen, Reportagen, aber auch Musiksendungen unterschiedliche emotionale Ebenen bespielten. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass die Medienaneignung, also das Hören der Sendungen selbst, den Rahmen für soziale und somit emotionale Erlebnisse schafft12 und eben dieses »Gefühlswissen« immer wieder abrufbar ist. Ein besonderes Augenmerk sollte zudem stets den Gestalter*innen der Sendungen geschenkt werden. Inhalt und Form des Gehörten wird von ihnen grundlegend bestimmt. Sie beziehen mitunter Position, werden von Dynamiken mitgerissen und motivieren durch Themensetzungen und Fragekonstruktionen die interviewten Personen zu gewünschten Statements. Doch auch die Verinnerlichung politischer Vorgaben – bis hin zu eigenständig gesetzten Zensurschritten – hat eine unmittelbare Auswirkung auf die Gestaltung der Sendungen. Die vehemente Resonanz, die manche Radiobeiträge auslösten, überforderte indes mitunter politische Machthaber wie auch die Radiogestalter*innen selbst. Bei der Konzeption der Sendungen greifen Redakteur*innen auf neue und alte Töne zurück, sie verwenden bereits gesendetes Material wieder und geben diesem bisweilen einen neuen Bedeutungszusammenhang. Inwiefern Sendematerialien überhaupt erhalten und gesammelt werden, hängt von Rundfunkanstalten, (Medien-)Archiven, in die Gestaltung involvierten Institutionen (z. B. Parteien, religiöse Dachorganisationen), aber auch von den Radiomacher*innen selbst ab, die bestimmen, welche Quellen in ihre Vor- und Nachlässe Eingang finden.13 Manuskripte, kultur- und medienpolitische Akten, Mitschriften (etwa vom politischen Gegner), Programmzeitschriften, Hörer*innen-Befragungen, Interviews, Ego-Dokumente (Briefe, Tagebücher, Memoiren etc.) sowie die Radiobeiträge selbst geben Aufschluss über zeitgenössische Kontexte. Viele Quellen sind über die Jahrzehnte verloren gegangen, völlig unerwartet finden sich aber auch Materialien in privaten oder politischen Sammlungen, die lange unentdeckt oder unter Verschluss waren. Im Zuge der Digitalisierung sind in den letzten Jahren schließlich immer mehr radiorelevante Quellen für die Forschung zugänglich und abrufbar geworden. Der vorliegende Band greift die eben skizzierten Themenkomplexe auf und beruht auf der Tagung »Hearing is Believing: Radio(-Programme) als strategi11 Siehe hierzu allen voran: Hélène Miard-Delacroix/Andreas Wirsching, Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg, in: dies. (Hg.), Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg, Berlin/Boston 2020, 1–22, 9–10. 12 Bösch, Medien, 2007, 143. 13 Martin Hanni verwies in seinem Vortrag, den er leider nicht in diesem Band veröffentlichen konnte, darauf, dass der Schriftsteller, Dramaturg und Radiopionier Felix Gasbarra Akten zu seiner Person aus den 1930er- und 1940er-Jahren aus seinem Nachlass entfernt hat, wohingegen Gasbarras Tätigkeit aus der Zeit davor sehr gut dokumentierbar ist. Zu Hannis Beitrag siehe: Programm (univie.ac.at), Web_Abstract_Hanni.docx (live.com) (1. 5. 2022).

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sches Propagandainstrument«,14 die im November 2020 an der Universität Wien stattfand. Im Zentrum der Konferenz stand die Auseinandersetzung mit Strategien zur Ausgestaltung und Bewerbung nationaler Selbstbilder und gesellschaftspolitischer Systeme sowie die Inszenierung von Fremd- und Feindbildern im Rundfunk. Wissenschaftler*innen der Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, der Medienwissenschaft sowie der Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft gaben hierbei Einblick in ihre Forschungsarbeiten.15 Die nun vorliegenden Beiträge reflektieren auch den interdisziplinären Austausch und diverse Debatten, die während der Tagung geführt wurden. Im Eröffnungstext erläutert Solveig Ottmann, ausgehend von Marshall McLuhans Konzept des acoustic space, wie die Medienlogik des Radios sich im Internet wiederfindet. Anhand des ›Infokriegs‹ der extrempolitischen, neurechten Identitären Bewegung zeigt sie, wie medientheoretisches Wissen über das Radio zum Verständnis aktueller Kommunikationsformen beitragen kann. Philipp Henning widmet sich vor dem Hintergrund von Siegfried Kracauers Betrachtungen zur »Totalitären Propaganda« der arabischsprachigen Rundfunkpolitik NS-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Ab 1941 kam es hier zu einer Radikalisierung, wobei religiöse Inhalte bewusst instrumentalisiert und missbraucht wurden und das NS-Regime den Versuch unternahm, den Islam zu »nationalsozialisieren«. Felix Berge untersucht Formen der informellen Kommunikation zur Zeit des Nationalsozialismus. Das geheime Hören von Feindsendern war im Verlauf des Kriegs vielen zur Gewohnheit geworden. Daraus gewonnene Informationen und deren Verbreitung verfolgte das NS-Regime in sogenannten ›Heimtücke‹-Verfahren. Welche Dynamiken so erworbenes Wissen entwickeln konnte, zeigt der Autor am Beispiel russischer Sendungen, in welchen die Namen von Kriegsgefangenen verlesen wurden. Wie schnell der Rundfunk zu einem (politischen) Werkzeug umfunktioniert werden konnte, belegen zwei Beiträge, die sich mit der österreichischen RadioVerkehrs-AG (RAVAG) in der Zwischenkriegszeit befassen. Florian-Jan Ostrowski beleuchtet in seinem Artikel die enge mediale Verflechtung von archäologischer Forschung und Rundfunk in den 1920er- und 1930er-Jahren. Radioprogramme dienten zur Vermittlung von archäologischen Inhalten im Sinne der Volksbildung und Unterhaltung, wobei man auf eine national ausgelegte, pädagogisch-didaktische Erzählung setzte. Im Nationalsozialismus wurden im 14 https://hearing-is-believing.univie.ac.at/ (1. 5. 2022). 15 Die Tagung und der vorliegende Band sind im Rahmen des vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderten Projekts »Die Radioberichterstattung der United States Information Agency (USIA) für Österreich 1953–1979: US-amerikanische Selbst- und österreichische Außenansichten« (Projektnummer 18100) entstanden, das von 2019 bis 2022 am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien durchgeführt wird.

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Hörfunk archäologische Erkenntnisse im Sinne einer völkisch-nationalen Mythenbildung umgedeutet und missbraucht. Christine Ehardt hingegen widmet sich in ihrem Text dem Phänomen des »Hörfilms«. Zum einen wurden damit featureartige Beiträge sowie Reportagen benannt. Zum anderen wurde eine ästhetische Kategorisierung von Hörkunstarbeiten vorgenommen. Medientechnisch orientierten sich beide Begriffsverwendungen an der (filmischen) Verfahrensweise der Montage. Ehardt geht den Hörerlebnissen und Live-Sendungsformaten sowie dem Verhältnis von Ästhetik und Programm als Mittel propagandistischer Erlebniskultur nach. Die Rundfunkpolitik der Ost- und Westmächte im ›Kalten Krieg der Emotionen‹ bildet einen weiteren Schwerpunkt des vorliegenden Bands. Den Beginn macht Michael Kuhlmann, der in seinem Beitrag verdeutlicht, welch unglaublich politische Wirkkraft die Radioberichterstattung haben konnte. So spielte der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin) im Verlauf des Volksaufstands in der DDR, am 17. Juni 1953, eine nicht unbedeutende und vor allem aktive Rolle. Die Redakteure zeigten offen ihre Sympathie für die oppositionelle Bewegung, schwenkten aber in der Berichterstattung auf Deeskalation um, als Ostberlin den Ausnahmezustand verkündete. Kristina Wittkamp analysiert in ihrem Artikel die sowjetische Rundfunkpolitik im Kalten Krieg, die von Senderstörungen über Konterpropaganda bis hin zur Erhebung von Programmpräferenzen der Hörer*innen reichte. Mit dem Formatsender Radio Majak wurde bewusst ein inhaltliches und politisches Gegenangebot zu den Westsendern geschaffen. Der Sender diente nicht nur als Nachrichtenquelle, sondern trug mit seiner an westlichen Programmen ausgerichteten Konzeption zu einer spezifischen Identitätsbildung bei und sprach vor allem ein junges Publikum an. Eine dem Osten entgegengesetzte Propagandainitiative untersucht Adrian Hänni wiederum in seinem Text über die Geschichte von Radio Omega, einem Sender, der zwischen 1962 und 1966 religiöse, russischsprachige Kurzwellenprogramme in die Sowjetunion übermittelte. Das Staatssekretariat im Vatikan deckte einen signifikanten Teil der Ausgaben von Radio Omega ab, weshalb man zu einem gewissen Grad von einer verdeckten »Radiofront« des Heiligen Stuhls sprechen kann. Das Programm, das auch auf nicht-christliche Zielgruppen abzielte, sollte den atheistischen Kommunismus bekämpfen und zur Zersetzung des sowjetischen Regimes beitragen. Zwei Autor*innen haben einen umfassenden Originaltonquellenbestand der Radioabteilung Broadcasting Service (IBS) der USIA für Österreich der 1950erbis 1970er-Jahre, der sich in der Österreichischen Mediathek findet, zum Ausgangspunkt ihrer Beiträge gemacht. Anton Hubauer legt seinen Fokus auf das nahezu völlige Ausblenden des Nationalsozialismus in den Radiobeiträgen der USIA/USIS für Österreich. Obwohl die Mehrzahl der Redakteur*innen selbst vor

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dem NS-Terrorregime geflohen war, durften die Mitarbeiter*innen im Zuge ihrer Arbeit für die USIA diese Thematik nicht offen ansprechen. Vielmehr mussten sie wiederholt mit einstigen NSDAP-Mitgliedern, die später für die US-Regierung tätig waren (etwa im Bereich der Raumfahrttechnik), Interviews führen, die in ihrer einstigen Heimat und über den Österreichischen Rundfunk zur Ausstrahlung kommen sollten. Karin Moser macht ebenjene österreichischen Exilant*innen zum Mittelpunkt ihrer Untersuchung, die aufgrund ihrer komplexen, spezifisch emotionalen Verbundenheit zur ›alten‹ und zur ›neuen Heimat‹ von US-Propagandastrategen als Radiomitarbeiter*innen angeworben wurden. Davon ausgehend, dass sich Gefühlsgemeinschaften (emotional communities) durch einen eigenen emotionalen Stil und Ausdrucksnormen auszeichnen und ein auf gemeinsamen Erfahrungen basierendes »Gefühlswissen« abrufbar ist, analysiert sie den Gestaltungsmodus und die Emotionalisierungsstrategien zweier Redakteure anhand ausgewählter Sendungen. Während in den Beiträgen der USIA-Radioabteilung für Österreich die emigrierten Redakteur*innen ihre Entwurzelung ausblendeten und ihre Verbundenheit zur ›alten Heimat‹ demonstrierten, hatten Exilant*innen in der von Frank Mehring untersuchten Radiosendung »I’m an American« ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer neuen Heimat und neuen Identität abzulegen. Mehring erläutert, wie während des Zweiten Weltkriegs die US- Einbürgerungszeremonie vom State Department propagandistisch instrumentalisiert wurde. Nur ausgewählte, als erfolgreich geltende bzw. weithin bekannte Emigrant*innen durften sich in den Dienst der politischen Propaganda stellen und in gut vorbereiteten, emotionalen Stellungnahmen über ihre überbordenden Gefühle in Hinblick auf die Verleihung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft berichten. Emotionale Bekenntnisse und die Inszenierung nationalstaatlicher Gefühlsgemeinschaften zeichnen auch jene Radiosendungen aus, welchen sich Cornelia Szabó-Knotik in ihrem Text nähert. Eine Reportage aus dem Jahr 1953, die sich der Heimkehr österreichischer Kriegsgefangener widmet, bezeugt die identitätsstiftende Bedeutung dieses Ereignisses. Die Rückkehr der einstigen Soldaten symbolisierte mit der Abkehr von der (nicht thematisierten) NS-Vergangenheit zugleich einen Neubeginn der österreichischen Heimat. Die neuerliche Verwendung dieses Sendematerials in historischen Editionen weist auf die Ikonisierung des Heimkehrer-Narrativs (in Literatur, Radio, Film) im Rahmen der österreichischen Erinnerungskultur hin. Dem österreichischen Nachkriegsradio, und hier vor allem der Bedeutung der Musik, wendet sich Elias Berner in seinem Artikel zu. Er verweist auf die Rolle der Musik in den konkurrierenden Sendern Rot-Weiß-Rot und RAVAG, um schließlich anhand einer musikalischen Kabarettnummer der 1950er-Jahre transportierte nationale Stereotypen zu untersuchen. Zugleich zeigt er, wie das

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Karin Moser

Wienerlied über musikalische Einflüsse (z. B. Boogie-Woogie) neu interpretiert wird. Wie sehr Musik sich dazu eignet, kulturelle Brücken zu schlagen und die Außenwahrnehmung zu optimieren, zeigen die Beiträge von Stephan Summers und Valentin Bardet. Stephan Summers widmet sich der Musik- und Manuskriptzensur durch US-Kontrolloffiziere nach dem Zweiten Weltkrieg. Am Beispiel einer Sendung von Radio Stuttgart mit Musik aus dem US-amerikanischen Musical Oklahoma beschreibt er, wie mittels der Zensur Bedeutungsebenen scheinbar gezielt gesteuert wurden. Valentin Bardet analysiert wiederum die Musikpolitik der französischen Kontrollmacht in Deutschland anhand des Südwestfunk-Sinfonieorchesters, das Ende 1945 in Baden-Baden gegründet wurde. Er zeigt dabei die Richtlinien der »Propagande musicale française en Allemagne occupée« auf, die darauf abzielten, das Ansehen Frankreichs in Deutschland zu heben und zugleich das Verhältnis zwischen den beiden Nationen zu verbessern. Den Band beschließt ein Artikel von Wolf Harranth, dem einstigen Leiter des Dokumentationsarchivs Funk. Er hat die dem Band zugrunde liegende Tagung mit seinen Diskussionsbeiträgen und Hinweisen bereichert. Harranth stellt die Sammlungen des Dokumentationsarchivs Funk vor und annotiert einzelne Vorträge durch Informationen zu ergänzenden Quellenbeständen. Wolf Harranth ist im August 2021 überraschend verstorben. Mit der Veröffentlichung seines letzten Textbeitrages soll seiner nochmals gedacht und ihm gedankt werden. An dieser Stelle sei nun auch den fördergebenden Institutionen sowie den an der Tagung und der Entstehung des Bands beteiligten Personen gedankt. Die Abhaltung der Tagung sowie die Veröffentlichung dieser Publikation wurden von der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und dem Forschungsschwerpunkt Wirtschaft und Gesellschaft aus kulturwissenschaftlicher Perspektive der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien finanziell unterstützt. Ausgangspunkt für die Tagung und den vorliegenden Band ist das von der Herausgeberin geleitete und vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderte Projekt »Die Radioberichterstattung der United States Information Agency (USIA) für Österreich 1953–1979: US-amerikanische Selbstund österreichische Außenansichten«. Dem Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank sei hier für die Förderung nochmals großer Dank ausgesprochen. Vorarbeiten in Hinblick auf Tagung und Publikation konnten im Zuge einer von der Herausgeberin wahrgenommenen Gastprofessur für politische Geschichte

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und Mediengeschichte an der Universität Hradec Králové (Tschechische Republik) im Wintersemester 2018/19 geleistet werden.16 Für die tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung der Tagung und der Umsetzung der vorliegenden Publikation gilt mein Dank Stefan Ancuta, Thomas Angerer, Dieter Bacher, Ingrid Böhler, Julia Danielczyk, Franz X. Eder, Alexander Golovlev, Michaela Hafner, Gisela Harranth, Veronika Haydn, Elisa Heinrich, Gregor Holzinger, Clemens Jobst, Monika Kaczek, Johannes Kaska, Barbara Kerb, Kai Knörr, Margareth Lanzinger, Gudrun Likar, Claudia Mohl, Beate Pamperl, Corinna Peres, Philipp Rohrbach, Elisabeth Röhrlich, Annemarie Steidl und Elisabeth Streit. Schließlich sei allen Autor*innen für ihre vielschichtigen und bereichernden Textbeiträge gedankt.17 Die Publikation soll den Anstoß für weitere interdisziplinäre und internationale Radioforschungen und kooperative Zusammenarbeiten geben.

16 Work on this conference proceedings was supported by the Visiting Professorship provided by the Institute of History, Philosophical Faculty of the University of Hradec Králové in the Winter 2018/2019. 17 Ich danke auch allen Vortragenden, die es aus zeitlichen Gründen leider nicht geschafft haben, ihre Beiträge für den Band beizusteuern.

Solveig Ottmann

Volksempfänger-Effekt: Extrempolitischer Aktivismus im Internet

»Hätte es Facebook in den 1930er-Jahren gegeben […], hätte es Hitler für seine Lösung der Judenfrage werben lassen.« Obwohl diese Aussage von Sacha Baron Cohen aus dem Jahr 2019 auf die umstrittene Konzernführung Facebooks abzielt, verweist sie auch auf das politische Potenzial dieser Plattform und sozialer Medien im Allgemeinen. »Es sei die ›größte Propagandamaschine der Geschichte‹, die da eine Handvoll Internetkonzerne mit den sozialen Medien in die Welt gesetzt hätten.«1 Galt in den 1930er-Jahren für Hitler und vor allem für Goebbels noch das Radio als das Propagandamedium, so hat es diesen Status aufgrund offensichtlicher Gegebenheiten mittlerweile weitgehend eingebüßt: Propaganda adressiert die Menschen idealerweise dort, wo sie ›zu Hause‹ sind – kluge Propagandist*innen nutzen das Medium/die Medien, mit dem/denen sie ihr Zielpublikum am unmittelbarsten erreichen und somit am nachhaltigsten beeinflussen können. Dieses ›Zuhause‹ findet sich heute großteils auf Facebook, Twitter, YouTube & Co; entsprechend nutzen politische Bewegungen besonders soziale Medien, um Netzwerke zu knüpfen und die größtmögliche Reichweite für die Verbreitung der eigenen Überzeugungen zu erzielen. Scheint diese strategische Nutzungsweise ›neuer Medien‹ zunächst keine Schnittstelle mit dem Radio der 1930er-Jahre bzw. dem Medium per se aufzuweisen, ändert sich dies, wenn der Blick auf die grundlegende Medienlogik gerichtet wird. Zieht man Marshall McLuhans Konzept des acoustic space heran, kann deutlich gemacht werden, inwiefern die Medienlogik des Internets die Medienlogik des Radios weiterführt. Exemplarisch für eine solche Mediennutzung wird in diesem Beitrag die Identitäre Bewegung (IB) herangezogen. Diese Vereinigung, die sich als extrempolitische, im neurechten Spektrum verortete Jugendbewegung formierte, nutzt das Internet als ›natürliches‹ Habitat für ihren ›Infokrieg‹. Im Folgenden soll dieser Infokrieg deshalb als Fallbeispiel dienen, 1 Sacha Baron Cohen vor der Anti-Defamation League; zit. n. Maik Fielitz/Holger Marcks, Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus, Berlin 2020, 7.

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Solveig Ottmann

um die medialen Wirkmächte herauszuarbeiten und so aufzuzeigen, wie medientheoretisches Wissen über das Radio für das Verständnis aktueller Kommunikationsformen fruchtbar gemacht werden kann.

Identitäre Bewegung: Metapolitische Gegenöffentlichkeit und patriotischer Widerstand 2017 beschreibt Martin Sellner, prominentester Kopf der deutschsprachigen IB2, wie man als junge Aktivist*innengruppe, die noch keine »Partner mit konkreter politischer Macht« hat, vorgehen muss, um Zwischenerfolge zu erzielen. Man müsse vor allem Informationskampagnen führen, »die man sich wie ›Feldzüge im Infokrieg‹ vorstellen kann«.3 Diese Feldzüge erstrecken sich dabei von (Straßen-)Aktionen bis hin zu Online-Kampagnen. Ziel ist es, sich Gehör für die eigenen Themen zu verschaffen, die in der Parteienlandschaft und im öffentlichen Diskurs als marginalisiert empfunden werden. Als (extrempolitische) Aktivist*innengruppe und damit als ›soziale Bewegung‹4 bleibt der IB dafür ausschließlich der Weg der Gegenöffentlichkeit, die über ›alternative Medien‹ etabliert wird. ›Alternative Medien‹ bzw. ein ›alternativer Mediengebrauch‹ definieren sich dabei als »a proclaimed and/or (self-)perceived corrective, opposing the overall tendency of public discourse emanating from what is perceived as the dominant mainstream media in a given system«.5 Die IB positioniert sich in der Außendarstellung als Zusammenschluss junger, intellektueller, rechtskonservativer Patriot*innen, die sich um die Grundwerte der Gesellschaft und der Verfassung sowie die kulturelle Identität sorgen. Es werden also (vermeintlich) demokratie- und gesellschaftsfähige Anliegen verfolgt und allzu belastete Begriffe wie u. a. ›Rasse‹ vermieden.6 Stattdessen wird 2 Die IB unterteilt sich in länderspezifische Gruppierungen. Hier wird die deutschsprachige Bewegung, die die IB Österreich und die IB Deutschland einschließt, zusammengefasst. Ausführlich zu den Strukturen, Inhalten und der Ideologie der IB siehe z. B.: Julian Bruns/ Kathrin Glösel/Natascha Strobl, Die Identitären: Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, 3. Aufl., Münster 2017; Andreas Speit (Hg.), Das Netzwerk der Identitären: Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten, 1. Aufl., Berlin 2018; Judith Goetz/Joseph Maria Sedlacek/Alexander Winkler (Hg.), Untergangster des Abendlandes: Ideologie und Rezeption der rechtsextremen »Identitären«, 2. Aufl., Hamburg 2018. 3 Martin Sellner, Identitär! Geschichte eines Aufbruchs, 3. Aufl., Schnellroda 2017, 190. 4 Vgl. Heiko Beyer/Anette Schnabel, Theorien sozialer Bewegungen: eine Einführung. Frankfurt am Main/New York 2017, 9–16. 5 Kristoffer Holt, Right-Wing Alternative Media, London/New York 2019, 11. 6 Es bestehen Verbindungen zu rechtsextrem(istisch)en Kreisen, es sind rechtsextrem(istisch)e Personen, und es werden extrempolitische bis rechtsextrem(istisch)e Positionen im Kader vertreten. 2014 äußert der österreichische Verfassungsschutz, dass sich »in den Reihen der Bewegungseliten amtsbekannte Neonazis befinden und Kontakte in andere rechtsextremis-

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das Konzept des Ethnopluralismus propagiert, und man beruft sich auf die Theorie der ›kulturellen Hegemonie‹ von Antonio Gramsci; weiterhin wird vor dem ›Großen Austausch‹ gewarnt und zum Kampf gegen diesen aufgerufen.7 Als zentrale Denk- und Handlungsmaxime dient das auf den französischen Theoretiker Alain de Benoist zurückgehende Konzept der Metapolitik,8 bei dem »die Einflussnahme auf den vorpolitischen, zivilgesellschaftlichen Raum« im Mittelpunkt steht, »in den die ›Identitären‹ ihre ›Kulturwerte‹ mit dem Ziel einer langfristigen Veränderung des gesellschaftlichen Denkens einfließen lassen und dadurch grundlegende gesellschaftliche Fragen in ihrem Interesse beantworten wollen«.9 In den Worten Erik Lehnerts im neurechten Magazin Sezession ist Metapolitik »nichts anderes als eine politische Lagebeurteilung, die von der Frage ausgehen muß, wer der Feind ist, wo er steht und mit welchen Mitteln er den Kampf führt«.10 Die Ergebnisse dieser Lagebeurteilung bestimmen das Handlungsrepertoire für den ›patriotischen Widerstand‹ und werden schließlich in einen strategischen Infokrieg überführt. Im Infokrieg werden alle zur Verfügung stehenden Kanäle genutzt und neue Kanäle11 geschaffen, um die eigenen extremkonservativen bzw. ›identitären‹ Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen und den vorpolitischen Raum sowie den gesellschaftlichen Diskurs zu besetzen. Den Stimmen des ›patriotischen Widerstands‹ und damit den »Stimmen, die ein wichtiges Korrektiv darstellen«, soll eine Plattform gegeben werden, wie Sellner am 6. Mai 2020 auf YouTube formulierte.12 Die Auffassung, sich als Korrektiv gegen den ›falschen‹ politischen

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tische Szenebereiche bestehen«. Verfassungsschutzbericht für 2014: 14. Vgl.: https://bvt.bmi.g v.at/401/files/VerfassungsschutzberichtfuerdasJahr2014.pdf (30. 4. 2021). Der deutsche Verfassungsschutz stufte die IBD nach Jahren der Beobachtung Mitte 2019 als gesichert rechtsextremistisch ein. Zum Ethnopluralismus siehe z. B. die szeneeigenen Ausführungen von: Martin Lichtmesz, Ethnopluralismus: Kritik und Verteidigung, Schnellroda 2020; Thor v. Waldstein, Metapolitik: Theorie – Lage – Aktion, Schnellroda 2015. Zur kulturellen Hegemonie siehe z. B.: Lia Becker/Mario Candeias/Janek Niggemann/Anne Steckner (Hg.), Gramsci lesen: Einstiege in die »Gefängnishefte«, Hamburg 2017; Stefan Müller, Strategische Lektüre(n) von Rechts? Die Rezeption gramscianischer Hegemonietheorie durch die »Neue Rechte«, in: Kritische Justiz 53/3 (2020), 335–347. Zum Großen Austausch siehe: Renaud Camus, Revolte gegen den Großen Austausch, Schnellroda 2016. Vgl. Alain de Benoist, Kulturrevolution von Rechts: Gramsci und die Nouvelle Droite, Krefeld 1985. Judith Goetz, »… in die mediale Debatte eindringen« – »Identitäre« Selbstinszenierungen und ihre Rezeption durch österreichische Medien, in: Goetz/Sedlacek/Winkler (Hg.), Untergangster, 2018, 91–112, 104. Erik Lehnert, Metapolitik und Aufklärung, in: Sezession 67 (2015), 18–21, 19. So z. B. die »erste patriotische Nachrichten App« Okzident News. Siehe: https://okzident.ne ws/ (4. 6. 2021). Martin Sellner, Soziale Isolierung lässt uns verkümmern – COMPACT 5/20, in: YouTube.de, 6. 5. 2020, https://www.youtube.com/watch?v=WHoJBAOQafQ (6. 4. 2021).

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Kurs und die ›von oben‹ gesteuerte ›Staatspropaganda‹ in den ›MainstreamMedien‹ zur Wehr setzen zu müssen, mündet in einer allumfassenden Kommunikationsoffensive. Eine Kommunikationsoffensive, die – so soll im Folgenden gezeigt werden – sämtliche Kanäle mit den eigenen Inhalten durchtränken möchte und sich dafür die Funktionsweise des Internets zunutze macht.

Radio und Volksempfänger: The Medium is the Message Was kann uns die Nutzung des Radios für NS-Propagandazwecke über die heutige Kommunikationsweise extrempolitischer Aktivist*innen lehren? Trotz aller Differenzen scheint ein Vergleich möglich, da nicht mediensystematische Bedingtheiten, sondern mit McLuhan »die Eigenart und die Auswirkungen«13 und die kulturelle Wirkmacht14 der Medien in den Blick genommen werden. Das Radio weist eine bewegte Geschichte auf: Seit seiner Einführung sorgte es hinsichtlich seines technischen und daraus resultierenden sozialen, kulturellen, aber vor allem auch politischen (Missbrauchs-)Potenzials gleichermaßen für Faszination und Schrecken. Im Dezember 1924 beschreibt der Hochfrequenztechniker Hans Bredow das Radio nicht nur als »gemeinsamen Sprechsaal«, sondern gar als »liebes Familienmitglied«, das es für »Millionen von Menschen geworden« sei, da es »Freude und Anregung um sich« verbreiten würde.15 Schon wenige Jahre später wird diese Auffassung von Joseph Goebbels pervertiert, wenn er im Jahr 1933 bemerkt: »Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt. Ich bin der Meinung, dass der Rundfunk überhaupt das Volk an allen öffentlichen Angelegenheiten teilhaben lassen muss […].«16 Goebbels lenkte den Blick auf das Medium. Für ihn wird der Rundfunk zum »Sprachrohr der politischen Führung zum deutschen Volke« und das Radiohören selbst zur staatspolitischen Pflicht: »Wer Rundfunk hört, wer am Rundfunk die gewaltigen Willensbekundungen unseres Volkskanzlers Adolf Hitler erlebt, reiht sich ein in die große Schick-

13 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Frankfurt am Main 1970, 287. 14 Vgl. Florian Sprenger, (Be-)gründungen und Figurprobleme. Marshall McLuhans Denken über Medien und seine Folgen, in: Daniela Wentz/André Wendler (Hg.), Die Medien und das Neue, Marburg 2009, 81–95, 82. 15 Hans Bredow, Hans Bredows Bilanz nach dem ersten Rundfunkjahr. Weihnachtsansprache 1924, in: SWR.de, 8. 1. 2019, https://www.swr.de/swr2/wissen/broadcastcontrib-swr-31434. html (25. 4. 2021). 16 Mitteilungen der RRG vom 30. 3. 1933; zit. n. Hans Sarkowicz, »Nur nicht langweilig werden …«. Das Radio im Dienst der nationalsozialistischen Propaganda, in: Bernd Heidenreich/ Sönke Neitzel (Hg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn 2010, 205–234, 209.

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salseinheit des nationalsozialistischen Staates.«17 Das Medium Radio, das Marshall McLuhan rückblickend auf die faschistischen 1930er-Jahre als tribal drum18 beschreibt, wird zum verbindenden Element, zur Stammestrommel, gegen die die »erdhafteren und weniger visuellen Völker Europas« – also v. a. die Deutschen – »nicht gefeit« gewesen seien.19 Ihr »Stammeszauber« sei nicht an ihnen »abgeprallt«, vielmehr sei »unter den Klängen des Faschismus« die alte »Sippenbindung« wieder erwacht.20 Auch McLuhan lenkt den Blick somit auf das Medium selbst. »Sein Anspruch liegt darin, die konstitutive Funktion von Medien hervorzuheben, indem deren Effekte wiederum als Ursachen begriffen werden […]. Indem McLuhan das Augenmerk auf die Vermittlungswege lenkt, kommt die Medialität auch dort zum Vorschein, wo sie verborgen sein mag.«21 Aus dieser Perspektive führt McLuhan die genannte Anfälligkeit für das Radio darauf zurück, dass die Radiohörer*innen, gleichzeitig aber auch die erst im Entstehen befindliche Medienwirkungsforschung unfähig waren, »die Sprache und die Botschaft der Medien als solche zu begreifen«.22 Die Konzentration auf die Inhalte habe den Blick auf die Medien selbst verstellt. Doch sind gerade die Vermittlungswege, also die Medien selbst, zu betrachten. Sie konstituieren die Nachricht. Kurzgefasst: The Medium is the Message.23 Adolf Hitler appellierte an die Emotionen der Menschen, schrie seine Botschaft als Demagoge in die Köpfe und Herzen der Menschen. Dafür brauchte er die anwesende Masse, sprach nicht für das Radiomikrofon, sondern ließ sich damit übertragen.24 Goebbels jedoch agierte persuasiver, strategischer, oft leise und subtil, aber ebenso bestimmt. Zunächst sollte das Radio in den Alltag einziehen, sich dann die Inhalte als geschlossenes ideologisches Weltbild wie ein Mantel über die Einzelnen und die Volksgemeinschaft legen. Ohne Frage waren die Inhalte penibel gewählt und ideologisch perfektioniert. Wichtiger aber scheint, dass Goebbels mittels geschickter Programmstrukturen, der endlosen Wiederholung ideologischer Inhalte – aber besonders durch deren flächendeckende Verbreitung – die Funktionsweise des Mediums zur Beeinflussung aus17 Berliner Lokalanzeiger vom 22. 10. 1933; zit. n. Joseph Wulf, Presse und Funk im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1964, 269. 18 Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man, 1. Aufl., Cambridge, Ma 1994 [1964], 297–307. 19 McLuhan, Die magischen Kanäle, 1970, 286. 20 Ebd., 286f. 21 Sprenger, (Be-)gründungen und Figurprobleme, 2009, 83. 22 McLuhan, Die magischen Kanäle, 1970, 287. 23 Vgl. ebd., 7–21. 24 Vgl. z. B. Cornelia Epping-Jäger, Stimmgewalt: Die NSDAP als Rednerpartei, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.), Stimme: Annäherung an ein Phänomen, 1. Aufl., Frankfurt am Main 2006, 147–171.

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nutzte. Als Massenmedium und auf der medienmaterialistischen Basis des broadcasting-Prinzips – der Rundum-Dissemination von Signalen, die prinzipiell jede*r empfangen kann – schuf Goebbels »die Voraussetzung für die Gesamtbeteiligung aller«. Das Radio weitete das »Zentralnervensystem« der Menschen aus, die »hypnotisiert zur Stammestrommel« tanzten.25 Eine der gängigsten Thesen zur Wirkmacht des Radios ist, dass es »die meisten Menschen […] persönlich [berührt], von Mensch zu Mensch, und […] eine Atmosphäre unausgesprochener Kommunikation zwischen Autor, Sprecher und Hörer« schafft.26 Die Unmittelbarkeit des Mediums wird hier also von McLuhan ins Feld geführt: das Radio als persönliches und intimes Medium. Ein Medium, das »die Macht hat, die Seele und die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln«.27 Eine Echokammer, in der zwar (überwiegend) Einzelne vor dem Apparat sitzen, diese aber doch gleichzeitig zu einem großen Ganzen – im Falle des Nationalsozialismus gar zur Volksgemeinschaft – verschaltet werden. Mit dem Radio sollte auch der letzte Winkel des Deutschen Reiches erreicht werden. »Die ubiquitäre Distanzlosigkeit der Radiostimme, die keine Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem respektiert«,28 sollte die Hörer*innen umgarnen. Der Volksempfänger wurde zum Symbol für diese Strategie: zentralistisch, von oben, »in a top-down fashion«29 wurde die Lebenswelt durchtränkt. Bildlich zusammengefasst findet sich dies im bekannten Werbeplakat der 1930er-Jahre, wenn ein gigantisch großer Volksempfänger VE 301 die ihn umdrängende Volksmenge überragt und von der Parole gerahmt wird: Ganz Deutschland hört den Führer mit dem Volksempfänger.30

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McLuhan, Die magischen Kanäle, 1970, 287. Ebd., 288f. Ebd., 289. Macho Macho, Stimmen ohne Körper: Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme, in: Kolesch/Krämer (Hg.), Stimme, 2006, 130–146, 141. 29 Alicia Wanless/Michael Berk, The Audience is the Amplifier: Participatory Propaganda, in: Paul Baines/Nicholas O’Shaughnessy/Nancy Snow (Hg.), The Sage Handbook of Propaganda, Thousand Oaks, CA 2019, 85–104, 87. 30 Vgl. dazu z. B. Holger Schramm, Musik im Radio, in: Holger Schramm (Hg.), Handbuch Musik und Medien: Interdisziplinärer Überblick über die Mediengeschichte der Musik, Wiesbaden, 41–64, 46, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21899-7_2. Das Plakat findet sich z. B. hier: https://media.springernature.com/original/springer-static/image/chp%3A10.1007 %2F978-3-658-21899-7_2/MediaObjects/464392_2_De_2_Fig1_HTML.jpg (2. 8. 2021).

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Implosion im elektronischen Zeitalter: Medien des reconfigured acoustic space Die nationalsozialistische Instrumentalisierung des Volksempfängers trieb auf die Spitze, was McLuhan generell dem Medium zuschreibt: »Das Radio ließ zum ersten Mal die elektronische Implosion massiv erleben, jene Umkehrung der Tendenz und Bedeutung der alphabetischen westlichen Welt.«31 Diese elektronische Implosion32 soll im Folgenden als das verbindende Element – das die Vermittlungswege in den Fokus rücken und das Internet sowie die vernetzten Medien als Weiterführung des Radios denken lässt – aufgezeigt werden. So begreift McLuhan die Urphase als acoustic age, in dem der Mensch als tribal man – darauf referenziert die tribal drum – lebte. Diese präliterale, prätechnologische Welt des Menschen war – verkürzt gesprochen – von Interaktionen und Kommunikation geprägt, die im unmittelbaren Umfeld stattfanden und mit allen Sinnen erfahrbar waren: dem acoustic space. Die fortschreitende Schriftkultur mit Kommunikationsformen über immer größere räumliche wie zeitliche Distanzen hinweg prägte den sich schrittweise vollziehenden Übergang vom acoustic age zum written age (Gutenberg-Galaxis). Als Meilensteine dieser Entwicklung gelten das phonetische Alphabet, die Schrift, der Bruchdruck bzw. die Druckerpresse und damit das massenhafte Distribuieren von schriftlich fixiertem Wissen, was maßgebliche Transformationen der menschlichen Weltbeziehungen und Kommunikationserfahrungen zeitigte. Dieser nun perspektivische, also visuell geprägte, abstrakte Erfahrungsraum, der visual space, brachte tiefgreifende Veränderungen mit sich. ›Real‹ war nicht mehr nur das, was sinnlich erfahrbar war, sondern was (er)denkbar wurde. Für das 19. Jahrhundert beobachtete McLuhan erneut eine massive Transformation. Die Welt wurde durch Vernetzung zum globalen Dorf, das elektrische Zeitalter begann. Mit den elektrischen Medien entstanden neue Kommunikationsmodi, so z. B. die »secondary orality, the orality of telephones, radio, and television, which depends on writing and print for its existence«.33 Die Linearität, die den visual space prägt, wird durch die einsetzende Gleichzeitigkeit elektrischer Kommunikation ergänzt. Nach Telegrafie und Telefon sollte das Radio der (erste) big player des elektrischen Zeitalters werden und massiven Anteil an der 31 McLuhan, Die magischen Kanäle, 1970, 289. 32 Es handelt sich dabei um eine Hauptthese McLuhans, der die Menschheitsgeschichte in durch (Medien-)Technologien geformte Phasen einteilt. Seine Kernthese(n) ziehen sich durch sein ganzes Werk. Zusätzlich zum Zitierten sei genannt: Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962; Marshall McLuhan/Eric McLuhan, Laws of Media: The new Science, Toronto/Buffalo 1988. 33 Walter J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London/New York 1982, 2.

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Ausbildung des reconfigured acoustic space haben. Medial vermittelte Kommunikation hob raumzeitliche Entfernungen auf und ließ den Kommunikationsraum ›implodieren‹. Trotz der Zwischenschaltung eines Mediums war nun eine (er)denkbare und sinnlich erfahrbare Sphäre entstanden, in der Kommunikationsmodi ohne körperliche Anwesenheit oder Nähe bestimmend sind, die diese aber zu simulieren vermögen. Die zeit- und raumunabhängige Übertragung ermöglichende broadcasting-Technologie entfesselte eine ubiquitäre Adressierbarkeit der Einzelnen als Masse, der nun keine Grenzen mehr gesetzt waren. Entscheidend ist dabei nun gerade nicht, dass es sich beim Radio um ein akustisch-auditives Medium handelt, mit dem Stimmen bzw. Töne ausgesendet werden, um in McLuhans Verständnis als akustisch-taktiles34 Medium zu gelten. Vielmehr ist die Logik von Sinnesmodalitäten und Kommunikationsmodi ausschlaggebend, die McLuhan in den zuvor genannten Menschheits- und Kulturgeschichtsphasen erkennt und im Zeitalter der elektrischen Medien zusammenfallen sieht. Nimmt man diese Gedanken als Denkfigur und Episteme ernst, eröffnet der acoustic space einen alternativen Zugang zum Verständnis der Funktionsweise, Medienlogik und kulturellen Wirkmacht des Internets.

Volksempfänger-Effekt: Der Infokrieg im acoustic space Ihren Ausgangspunkt nahm die Identitäre Bewegung im engeren Sinne in Frankreich mit der Génération Identitaire und deren YouTube-Video Déclaration de guerre im Herbst 2012; fortan breitete sie sich über ganz Europa aus.35 Im Unterschied zu den ›Alten Rechten‹, von denen sich die ›Neuen Rechten‹ aktiv abgrenzen, bezieht die IB ihr ideologisches Repertoire von den konservativen Intellektuellen der Weimarer Zeit, die »das weltanschauliche Grundgerüst des Nationalsozialismus […] geprägt haben«36 – so z. B. Carl Schmitt oder Martin Heidegger. Sie führt die dort angestrebte ›Kulturrevolution von rechts‹ fort und macht diese zu ihrem obersten Ziel. Seit Beginn nutzt die IB dafür »alle Kanäle des Internets und der sozialen Netzwerke sehr geschickt und strategisch geplant«37 für ihre Zwecke und setzt auf ein weitverzweigtes Publikationsnetz und geradezu marketingstrategische Öffentlichkeitsarbeit. Ihre Markenzeichen sind 34 Vgl. dazu besonders: Marshall McLuhan, Playboy Interview: Marshall McLuhan – A Candid Conversation with the High Priest of Popcult and Metaphysician of Media, in: Playboy (1969), 53–72, 158. 35 Vgl. Simone Rafael, Identitäre im Internet. Von Crowdfunding bis Meme Wars, in: Speit (Hg.), Das Netzwerk der Identitären, 2018, 127–141, 127f. 36 Samuel Salzborn, Rechtsextremismus: Erscheinungsformen und Erklärungsansätze, 4. Aufl., Baden-Baden 2020, 79. 37 Ebd., 127.

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»Jugendlichkeit, Aktionismus, Popkultur und die Corporate Identity«,38 die Aktivist*innen sind im Internetzeitalter und mit dem Web groß geworden. Auch das politische und publizistische Umfeld – bestehend aus ›patriotischen‹ Verlagen, Blogs und Zeitschriften, politischen Netzwerken, Thinktanks und Neurechten Zentren – ist enorm.39 Verschiedenste Mechanismen werden genutzt, um mittels des Infokriegs die angestrebte Diskursverschiebung voranzutreiben. Zunächst war der Infokrieg darauf ausgerichtet, sich »Handlungsfreiheit, eigene Plattformen und Sprechorte«40 zu erkämpfen. Um als geschlossene Gruppe auftreten zu können, grenzte man sich von Alt-Nazis ab, sortierte radikal aus und hierarchisierte intern. Sellner kommentiert: »Es bräuchte ein eigenes Buch, den Kampf um die IBD in Stahlgewittern und Kommentarspaltenkämpfen zu erzählen.«41 ›Offizielle‹ Facebook-, YouTube- und Twitter-Kanäle wurden eingerichtet, Memes erstellt und verbreitet, Websites, Webshops etc. etabliert und penibel darauf geachtet, mittels des Lambda-Logos und einer einheitlichen visuellen Handschrift Geschlossenheit auszudrücken.42 Ferner wurden medienwirksam ausschlachtbare Aktionen und Besetzungen des öffentlichen Raums durchgeführt, um Symbolbilder zu kreieren und Größe zu markieren.43 Es gründeten sich Regionalgruppen, Workshops, Sommercamps und Akademien wurden durchgeführt. Kurz: Über die Jahre entstand ein umfassendes, identitärpatriotisches Aktions-, Ideologie- und Kommunikationsnetz, das den meta- und vorpolitischen, also den gesellschaftlichen Diskursraum an möglichst vielen Punkten im eigenen Sinne unterwandern und besetzen soll. So entstand eine Art Kommunikationssphäre in der Kommunikationssphäre, die auf der Idee des broadcasting-Prinzips aufbaut. Durch die Präsenz auf allen Kanälen soll jede*r erreichbar sein; jederzeit, überall soll die metapolitische Arbeit der Aktivist*innen les-, sicht- und hörbar sein: als unverschleierte, ›patriotische‹ Botschaften oder auch weniger offenkundig und in subtilerem Gewand, um Netz-User*innen »weltanschauliche Inhalte subkutan zu verabreichen«.44 Mag es zunächst so erscheinen, als würde dies zu einer Atomisierung der Inhalte führen, da diese auf eine unüberblickbare Fülle an Kanälen verteilt werden und so kaum ein geschlossenes Narrativ im Sinne dessen, was oben als symbolischer Volksempfänger deklariert wurde, erzeugt werden kann, ist das 38 39 40 41 42 43

Bruns/Glösel/Strobl, Die Identitären, 2017, 68. Vgl. ebd., 159–215. Sellner, Identitär!, 2017, 86. Ebd., 177. Vgl. zur visuellen Identität: Bruns/Glösel/Strobl, Die Identitären, 2017, 269f. Vgl. Sellner, Identitär!, 2017, 84. Symbolische Okkupation und ästhetische Interventionen sind hier als maßgebliche Strategien zu nennen. 44 Daniel Hornuff, Die Neue Rechte und ihr Design. Vom ästhetischen Angriff auf die offene Gesellschaft, Bielefeld 2019, 11.

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Gegenteil der Fall: Durch immer »ähnliche Erzählungen von Untergang, Verschwörung und Verrat« und das manipulative und lenkende Einwirken auf den Schwarm wird eine narrative Richtung vorgegeben.45 Maik Fielitz und Holger Marcks legen detailliert dar, wie ein ›rechtes Panikorchester‹46 erschaffen wird, das – sich die Struktur des Internets zunutze machend – dirigiert wird. So wird etwa mit der »Technik des dramatischen Erzählens«47 und mit gezielt eingesetzter Manipulation und Desinformation die »Vermittlung von Angst«48 angestrebt. Die Narrative sind dabei engmaschig gestrickt, konzentrieren sich auf die Etablierung weniger eigener (z. B. ›Großer Austausch‹ oder ›Remigration‹) und das Angreifen gegnerischer (z. B. ›Fachkraft‹ oder ›Einzelfall‹) Begriffe innerhalb von Informationskampagnen, wie Sellner es nennt, die auf akribischer strategischer Planung beruhen.49 Das Web wird mit einheitlichen Diskursen durchzogen. Gleichzeitig greift das narrowcasting-Prinzip, also die Möglichkeit, Inhalte auf bestimmte Empfängerkreise zuzuschneiden oder überhaupt nur diesen zugänglich zu machen.50 Die Filtereffekte greifen: Plattform-Logiken und Algorithmen lenken, was gesehen oder in der Timeline gezeigt wird. Was viele Klicks hat, sehen noch mehr; einmal ein entsprechendes Video gesehen, einem entsprechenden Profil gefolgt, bei Amazon Sellners Buch aufgerufen, sind die Empfehlungsalgorithmen infiziert. »Wer auch nur kurz – und zu unkritisch – entsprechende Nachrichtenkollektionen konsumiert, muss den Eindruck gewinnen, Deutschland versinke im Chaos.«51 Der Volksempfänger-Effekt entfaltet sich: Auf der inhaltlichen Ebene entsteht eine medieninduzierte Echokammer, wie McLuhan sie für Hitlers Radio konstatiert hat: Botschaften werden versendet und hallen ›überall‹ wider. Hervorgerufen durch die Interaktivität der sozialen Medien werden diese nun aber auch aktiv zurückgeworfen. Entscheidend ist somit, dass ein Resonanzraum entsteht. Das Medium ermöglicht Resonanz und verändert die Weltbeziehung, die Berührund Affizierbarkeit der Teilhabenden.52 Die Tatsache, dass die sozialen Medien 45 46 47 48 49 50

Vgl. Fielitz/Marcks, Digitaler Faschismus, 2020, 34, 48. Vgl. ebd., 51. Ebd., 57. Ebd., 72. Vgl. Sellner, Identitär!, 2017, 190. Jorge Goncalves/Vassilis Kostakos/Jayant Venkatanathan, Narrowcasting in Social Media: Effects and Perceptions, in: Proceedings of the 2013 IEEE/ACM International Conference on Advances in Social Networks Analysis and Mining, Niagara Ontario Canada 2013, 502–509, 502, doi: 10.1145/2492517.2492570. 51 Fielitz/Marcks, Digitaler Faschismus, 2020, 82. 52 Vgl. zu Resonanz als Weltbeziehung: Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, 1. Aufl., Berlin 2019; Hilge Landweer, ›Gute‹ und ›schlechte‹ Resonanzen? Ein Vorschlag zur Erweiterung von Harmut Rosas Resonanztheorie, in: Jean-Pierre Wils (Hg.), Resonanz. Im interdisziplinären Gespräch mit Hartmut Rosa, 2018, 57–70, doi: 10.5771/978 3845288734-57.

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den Eindruck von Unmittelbarkeit und Intimität steigern (»Servus Leute, liebe Grüße aus Wien. Herzlich willkommen in meinem Infokriegs-Keller.«53), die digitalen Zurufe verführerischer werden und die Einzelnen nun zu einer – dank Kommentarspalten, Shares und Likes – erfahrbaren Masse werden, lässt die Botschaft realer wirken. Hier greift, was McLuhan zum acoustic space ausführt, den er als Sphäre beschreibt, »that has no center and no margin, unlike strictly visual space […]. Acoustic space is organic and integral, perceived through the simultaneous interplay of all the senses: whereas ›rational‹ or pictorial space is uniform, sequential and continuous and creates a closed world with none of the rich resonance of the tribal echoland.«54

Sah McLuhan dies vor allem im Medium Fernsehen – dem Leitmedium seiner Zeit – erfüllt, kommt er auch auf Entwicklungstrends des Computers zu sprechen und nimmt Einschätzungen zum Cyberspace vorweg. So könnten die folgenden Worte auch diesen beschreiben: »It’s a sphere without fixed boundaries, space made by the thing itself, not space containing the thing. It is not pictorial space, boxed in, but dynamic, always in flux, creating its own dimensions moment by moment.«55 Die Botschaft der IB kommt im Cyberspace nicht ›von oben‹ zu den User*innen. Was Löwenthal 1949 über faschistische Agitation festhielt, zeigt sich hier in Reinkultur: »Der Agitator geht seine Zuhörer nicht von außen her an; vielmehr gibt er sich wie jemand aus ihrer Mitte, der ihre innersten Gedanken formuliert. Er rührt das auf und drückt das in Worten aus, was in ihnen schlummert.«56 Die Agitator*innen der IB geben nicht mehr nur vor, in der Mitte zu sein, sie sind in der Mitte – in der Mitte der Kommunikationssphäre und in den Alltag der User*innen eingewoben, wie es Goebbels mit dem Volksempfänger erreichen wollte. Die Informationen, Posts etc. umfangen die User*innen, rauschen in Timelines, Instagram- und Twitter-Feeds an ihnen vorbei. Und so wie McLuhan konstatiert, dass Hitler nicht zwangsläufig seine Gedanken an das deutsche Volk weitergegeben hat, sondern das Medium die Botschaft war, eskaliert die elektronische Implosion nun vollständig. In der »software world of instant electric communications movement«57 – die im Internet ihre Verwirklichung gefunden hat – ist es erst im zweiten Moment relevant, ob auch die inhaltliche Botschaft verfängt. Entscheidender ist, dass zunächst die ›emotionale Barriere‹ durch-

53 Sellner, Soziale Isolierung, 2020. 54 McLuhan, Playboy Interview, 1969, 59. 55 Edmund Carpenter/Marshall McLuhan, Acoustic Space, in: Edmund Carpenter/Marshall McLuhan (Hg.), Explorations in Communication. An Anthology, Boston 1967, 65–70, 67. 56 Leo Löwenthal, Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, Berlin 2021 [1949], 19. 57 McLuhan, Playboy.Interview, 1969, 72.

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brochen wird, wie Sellner es nennt: Um die Ratio der Menschen zu überwinden und den »Emo-Krieg« zu gewinnen, müsse man den Weg der Fakten verlassen. Starke Bilder, emotionale Botschaften und emotionale Persuasion seien gefordert.58 Der Vermittlungsweg, die Art der Kommunikation und die entstehende Ubiquität der angestrebten Gegenöffentlichkeit und ›alternativer Medienangebote‹ unterstützen dieses Vorhaben. Trotz aller bestehender Differenzen, denen an anderer Stelle nachgegangen werden muss, zeigt sich: Die Medienlogik des Netzes wird hier als umgekehrter Volksempfänger strategisch ausgenutzt; als Bottom-up-Version, die nicht mehr von oben oktroyiert, sondern endgültig aus der Mitte heraus sendet und dennoch ein ideologisch in sich geschlossenes Narrativ zu übermitteln vermag. Die McLuhan’sche These der elektrischen Implosion wird auf die Spitze getrieben: Die Welt ist endgültig zu einem (medientechnologisch verschalteten) Dorf geworden. Das die letzten Monate massiv stattfindende deplatforming verringert zwar die wirtschaftliche Basis und die Reichweite59 des Infokriegs, verstärkt jedoch das, was McLuhan für die »tribal world« als »complex, kaleidoscopic«60 beschreibt: In Telegram-Kanälen und Ähnlichem wird die Kommunikationsform (vermeintlich) intimer, der Kreis noch eingeschworener, und broadcasting sowie narrowcasting fallen zusammen. Die Gleichgesinnten versammeln sich um ein virtuelles Lagerfeuer. Extrempolitische Akteur*innen machen sich dies in ihrem Infokrieg zunutze, der strategische Einsatz von bspw. Desinformation nimmt zu; zusätzlich tragen »die sozialen Medien zur Verwirrung«61 bei. Zwar ist Desinformation als taktisches Mittel keine Erscheinung der Internetära, doch wird sie von der ›acousticness‹ des Internets verstärkt:62 durch die Gleichzeitigkeit der Informationen, die die User*innen von überallher in einem verrauschten und berauschenden Kommunikationsraum adressieren, persönlich, ohne Verzögerung und jederzeit im Nahbereich. Wie Goebbels’ berühmter Tagebucheintrag von 1933 heute formuliert wäre, bleibt Spekulation. Eingeleitet wäre er mutmaßlich mit dem Satz: Ich halte die vernetzten Medien für die allermodernsten und für die allerwichtigsten Massenbeeinflussungsinstrumente, die es überhaupt gibt.

58 Vgl. Sellner, Identitär!, 2017, 217–220. 59 Vgl. Maik Fielitz/Karolin Schwarz, Hate not Found?! Das Deplatforming der extremen Rechten und seine Folgen. Forschungsbericht, Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, 2020, https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/Hate_not_found/WEB_IDZ_FB_Hate _not_Found.pdf (30. 4. 2021). 60 McLuhan, Playboy-Interview, 1969, 59. 61 Vgl. Fielitz/Marcks, Digitaler Faschismus, 2020, 88. 62 Vgl. Bernhard J. Dotzler/Solveig Ottmann, Noisy Internet! Web Journalism as an Epitome of the Internet’s Acousticness, in: Marcus Burkhardt/Mary Shnayien/Katja Grashöfer (Hg.), Explorations in Digital Cultures, Lüneburg 2020, 1–22, doi: 10.25969/mediarep/14852.

Volksempfänger-Effekt: Extrempolitischer Aktivismus im Internet

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Schlussbemerkung Die Auseinandersetzung mit der ideologisch-strategischen Nutzung des Internets durch die Identitäre Bewegung eignet sich, drängende Fragen, die an die ›neuen Medien‹ gestellt werden müssen, explizit zu machen. Das Internet als Fundament der vernetzten Kommunikation muss dabei im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Das Internet ist ein Diffusor, ein Streukörper; seine Funktionsweise befeuert die Durchschlagskraft der emotionalen Affizierbarkeit der User*innen. Die Gleichzeitigkeit und der »›Schlagartig-alles-auf-einmal‹ Charakter der Informationen«63 erschwert das Hinterfragen, Überprüfen und Einordnen der digitalen Zurufe. Das Internet ist noisy, verrauscht und berauschend, es ist ein Unruhestifter, der die gewohnte Ordnung von Informationen durcheinanderwirbelt. Das Internet ist aber auch Anstifter einer neuen, digitalen Ordnung, die es zu verstehen gilt.64 Dies ist nicht nur im Kontext einer ideologisch-strategischen Nutzung relevant. Die Medienlogik des Internets und die kulturelle Wirkmacht der Medien des reconfigured acoustic space sind als kontextunabhängige Mechanismen zu begreifen. Im Internet und in den darin angesiedelten Diensten manifestiert sich die elektrische Implosion: Raum-Zeit-Konstellationen sind aufgehoben, das Internet bedingt eine Kommunikationssphäre, die organic and integral ist, alle Sinne gleichzeitig involviert, keine Grenzen, Anfänge und Enden mehr aufweist, uns eine kaleidoskopartige Welt präsentiert, einerseits fragmentiert und gleichzeitig (vermeintlich) holistisch, uns ganz und gar umfängt. Die kulturelle Wirkmächtigkeit des noisy Internets, das parasitär seine Wirte befällt,65 prägt die gesamte digitale Kultur. Ob die tribal drum also extrempolitische Rhythmen oder solche von z. B. der Werbebranche erklingen lässt, ist zwar für eine detaillierte Betrachtung im Einzelfall entscheidend. Dringlicher ist jedoch zunächst, die Eigenart und die Auswirkungen des Internets zu analysieren, um dieses nicht nur betrachten, sondern seine Wirkmacht verstehen zu können.

63 Marshall McLuhan, The Global Village, in: Martin Baltes/Fritz Böhler/Rainer Höltschl/Jürgen Reuß (Hg.), Medien verstehen. Der McLuhan Reader, Mannheim 1997, 223–235, 223. 64 Vgl. Dotzler/Ottmann, Noisy Internet!, 2020. 65 Vgl. ebd.

Philipp Henning

Die »Oszillation von Lüge und Wahrheit«: Strategischer Hasstransfer und politisierter Islam in der NS-Rundfunkpropaganda auf Arabisch

Das Phänomen antisemitischer Verschwörungserzählungen ist in der jüngsten Vergangenheit wieder vermehrt zutage getreten. Die sozialen Medien und ihre zahllosen dezentralen Plattformen stellten sich dabei als ideale Verbreitungsplattform für Lügen und Hass heraus. Historisch betrachtet kann dies in Kontinuität zum erstmaligen Einsatz eines modernen Massenkommunikationsmittels zur Verbreitung von Antisemitismus gesehen werden. Die Rundfunkpropaganda während des Zweiten Weltkriegs ermöglichte den Transport einer Ideologie frei von physischen Trägern. Dadurch wurde der Weg für einen Hasstransfer in geografisch und kulturell weit entfernte Gebiete bereitet. Die arabischsprachige Rundfunkpropaganda NS-Deutschlands nahm hierbei aufgrund der gemeinsamen Feindbilder – der westlichen Demokratien, des Kommunismus und der Juden sowie der vom NS-Regime postulierten Nähe von Islam und Nationalsozialismus – eine Sonderstellung ein. Sie nutzte die religiöse Sprache des Islams und verwendete Gleichnisse und Prophezeiungen des Korans zur Unterstützung der eigenen Positionen ohne Rücksicht auf die dadurch instrumentalisierten und missbrauchten religiösen Inhalte. Bei der Betrachtung der Radioprogramme steht besonders die Frage im Mittelpunkt, wie Emotionen und Stimmungen gegen die propagierten gemeinsamen Feindbilder evoziert wurden und wie sich dies im Verlauf des Kriegs dynamisierte. Die Propaganda wurde von Intellektuellen für Nichtintellektuelle gemacht. Sie war damit eine Art dunkle Aufklärung. Siegfried Kracauer stellte in seiner Analyse zur totalitären Propaganda klar, dass Wahrheit und Lüge keine Kategorien sind, aus denen sich die NS-Propaganda beurteilen lässt.1 Das einzige Kriterium ist der Erfolg der Sache, der mit allen Mitteln erreicht werden muss. Nach Umberto Eco bestand das Wesen des Faschismus nicht etwa in einer Philosophie oder Ideologie, sondern allein in der Rhetorik. Faschismus sei ein Gefühl, kein Inhalt und keine Form. Deshalb sei das Wort, die Beeinflussung der Gedanken, kurz die Propaganda selbst Wesen und Mittel des Faschismus 1 Vgl. Siegfried Kracauer, Totalitäre Propaganda, Berlin 2013 [entstanden 1936–1938], 59.

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schlechthin.2 Aus diesem Grund waren auch die Sprach- und Übersetzungsschwierigkeiten sowie das rhetorische Talent der arabischen Sprecher entscheidend. Auf die Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage nach dem Konsum und der Wirkung der Sendungen in der arabischen Welt soll abschließend eingegangen werden.

Hasstransfer als strategisches Mittel politischer Interessen Gerade die sogenannte »Kulturpropaganda« sollte, laut Hitler, einen hohen Stellenwert in der Außenpolitik einnehmen und die »geistige Kriegsführung« das herkömmliche Kriegsbild erweitern.3 Die Situation in der arabischen Welt bot dafür eine perfekte Grundlage – noch weit mehr als dies im Ersten Weltkrieg der Fall war. Denn damals war Deutschland mit den Unterdrückern der arabischen Unabhängigkeit, dem Osmanischen Reich, verbündet. Jetzt hingegen konnte sich die Propaganda auf die gemeinsame Empörung über die Verträge von Versailles und Sèvres und auf den damit verbundenen Verrat der Briten an der arabischen Unabhängigkeit berufen. Die offiziellen Sendungen der Orientzone der Reichsrundfunkgesellschaft (RRG) zählten – nach der Definition von Sefton Delmer, dem Koordinator der BBC-Kriegspropaganda – zur »weißen« Propaganda. Eine weitere Sparte waren die Geheimsender, die »schwarze« Propaganda,4 die unter dem Titel »Sender Concordia« liefen. Unter diesen Sendern befand sich auch die »Stimme des freien Arabertums«5 der Sektion Concordia A.6 Die ConcordiaSender nutzten wechselnde Wellenlängen und mobile Sendeeinheiten im besetzten Europa aus. Sie verschleierten ihre deutsche Herkunft, indem sie behaupteten, von oppositionellen Gruppen in den jeweiligen Sendegebieten betrieben zu werden.7 Propaganda, so Kracauer, ist die Überzeugung der Mehrheit zu deren eigenem Nachteil.8 Die Hauptaufgabe der Concordia-Sender war deshalb die Zersetzungs- und Verwirrpropaganda. Die Sprecher und Redakteure setzten sich ab 1941 hauptsächlich aus kriegsgefangenen französischen Soldaten

2 Vgl. Umberto Eco, Der ewige Faschismus, München 2020, 22. 3 Vgl. Peter Longerich, Propagandisten im Krieg. Die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop, München 1987, 71; Paul Rühlmann, Kulturpropaganda, Charlottenburg 1919. 4 Sefton Delmer, Die Deutschen und ich, Hamburg 1963, 606–608. 5 Bundesarchiv (BArch), R 55/20851, Aufstellung über die Concordia Sender und die Sprachfärbungen: Dr. Hetzler an RMVP Dominik, 11. 7. 1942. 6 Vgl. Longerich, Propagandisten im Krieg, 1987, 24f. 7 Vgl. Willi A. Boelcke, Die Macht des Radios. Weltpolitik und Auslandsrundfunk, 1924–1976, Frankfurt am Main 1977, 207f. 8 Kracauer, Totalitäre Propaganda, 2013, 268.

Die »Oszillation von Lüge und Wahrheit«

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aus Nordafrika zusammen.9 Die »Stimme des freien Arabertums« sollte ein »gebildetes Arabisch« verwenden und hatte eine tägliche Sendezeit von 55 Minuten, verteilt vom frühen bis in den späten Abend.10 Die Orientzone beschäftigte 80 Mitarbeiter*innen, inklusive der freiberuflichen Sprecher und Übersetzer.11 Prominente Exilpolitiker, wie der seit 1941 in Berlin lebende »Großmufti« von Jerusalem Amin al-Husseini12 und der gestürzte irakische Ministerpräsident Rashid al-Gailani, traten häufig als Sprecher auf, wobei diese hauptsächlich für die Geheimsender arbeiteten.13 Gerade die Einflussmöglichkeiten des Muftis auf die Inhalte der Rundfunkpropaganda werden dabei in der Literatur häufig überbewertet. Die letzte Entscheidung über das gesendete Material trafen immer die deutschen Redakteure und Orientalisten. Die Orientzone nahm ihren arabischen Sendebetrieb am 25. April 1939 auf.14 Der Hauptsender war Radio Berlin. Geeignete Orientalisten zu finden, stellte sich jedoch als schwierig heraus. Erster Arabist wurde schließlich Gerhard Rott, der Leiter der arabischen Redaktion des »Drahtlosen Dienstes« und ab 1941 Leiter des Concordia-Senders »Stimme des freien Arabertums«.15 Deutsche Orientalisten traten selbst erst ab 1944 als Sprecher auf.16 Ekkehard Ellinger attestierte der deutschen Orientalistik eine besonders starke Identifizierung mit dem Regime. So etwa Hans Heinrich Schaeder, von 1945 bis 1957 Professor für Iranistik

9 BArch, R 55/24024, Abteilung Rundfunk an Abteilung AP, Schwerter, betr.: Betreuung der Mitarbeiter des Büros Concordia, 13. 2. 1942, vgl. Boelcke, Die Macht des Radios, 1977, 207f. 10 BArch, R 55/20851, Aufstellung über die Concordia Sender und die Sprachfärbungen: Dr. Hetzler an RMVP Dominik, 11.7.42; 3 tägliche Sendungen von 19:15–19:35 Uhr, 20:15– 20:35 Uhr und 21:15–21:30 Uhr; R 55/23531 Neue Sendezeiten Concordia A, 18. 3. 1945: tägl. 18:15–18:35 Uhr, 19:15–19:35 Uhr und 20:15–20:35 Uhr. 11 Vgl. ebd., Telefonverzeichnis der RRG, DRA, RRG 2/002. 12 Bei seinem Zusammentreffen mit Hitler am 28. 11. 1941 in Berlin sagte Husseini: »Die Araber seien die natürlichen Freunde Deutschlands, da sie die gleichen Feinde wie Deutschland, nämlich die Engländer, die Juden und die Kommunisten, hätten. Sie seien daher auch bereit, von ganzem Herzen mit Deutschland zusammenzuarbeiten, und stünden zur Teilnahme am Kriege zur Verfügung.« Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP), Ser. D, Bd. XIII.2, Nr. 515, 718f., Aufzeichnungen des Gesandten Schmidt, 30. 11. 1941. 13 Vgl. Werner Schwipps, Wortschlacht im Äther: Der deutsche Auslandsrundfunk im Zweiten Weltkrieg. Geschichte des Kurzwellenrundfunks in Deutschland 1939–1945, Berlin 1971, 58. 14 Mitteilung von Rott an Schwipps, 10. 1. 1971; Schwipps, Wortschlacht im Äther, 1971, 96, Anm. 89. 15 Übersicht über die am 25. 6. 1942 in Betrieb befindlichen Concordia-Sender, Auslandsdirektor Dr. Winkelnkemper, in: Reimund Schnabel (Hg.), Mißbrauchte Mikrofone: Deutsche Rundfunkpropaganda im Zweiten Weltkrieg. Eine Dokumentation, Wien 1967, 94. 16 Vgl. Hans Goldenbaum, Nationalsozialismus als Antikolonialismus. Die deutsche Rundfunkpropaganda für die arabische Welt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 64/3 (2016), 457.

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in Göttingen, der den Platz der Orientalistik in der »Selbstmobilisierung der nationalisierten Wissenschaft und Kollaboration« sah.17 Chefsprecher der hocharabischen Welle war allerdings der Iraker Yunus Bahri.18 Er wurde durch seinen schillernden Lebensstil als der »irakische Reisende« bekannt. Seine Wege führten ihn durch den gesamten Nahen und Mittleren Osten, Nordafrika, Frankreich bis nach Indonesien und Indien. Durch seine Arbeit im Irak wurde Fritz Grobba, der bei der Anwerbung der arabischen Mitarbeiter eine große Rolle spielte, als Gesandter in Bagdad auf ihn aufmerksam.19 Mit seiner Hilfe kam Bahri im April 1939 nach Berlin. Er war charismatisch und rhetorisch begabt, was seine Beliebtheit bei den Hörern steigerte.20 Bahri verkaufte seine propagandistischen Fähigkeiten an verschiedene Mächte. Bei ihm war weder eine Überzeugung vom Islam noch vom Nationalsozialismus ideologisch festzustellen. Er war vielmehr ein gefragter und hochspezialisierter Wanderarbeiter der Propaganda. Vermutlich sah er Berlin nur als Station in seiner globalen Rundfunksprecher-Karriere.21

Quellenbeispiel: Rotts Neu-arabische Stilproben Um die Übersetzungspraxis zu professionalisieren und eine Art Leitfaden zu geben, verfasste Rott im März 1940 die Neu-arabischen Stilproben. Mit dieser kleinen Zusammenstellung von 50 Beispielmeldungen und deren arabischer Übersetzung lieferte er nicht nur eine einzigartige Quelle zu den tatsächlichen Inhalten der Sendungen des ersten Jahres, sondern auch einen sehr aufschlussreichen und kaum beachteten Einblick in die Art und Weise mit der die deutschen Stellen versuchten, die Meldungen überzeugend und glaubhaft ›arabisch‹

17 Ekkehard Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933–45, Edingen-Neckarhausen 2006, 419. 18 Vgl. Jennie Lebel, The Mufti of Jerusalem Haj-Amin El-Husseini and National-Socialism, Belgrad 2007, 138, 151–154, 255; Yu¯nus al Bahrı¯, Huna¯ Berlı¯n! Haiy al-ʿarab! (Hier ist Berlin! ˙ Gehalt von 1.700 ˙ RM im Monat, BArch, R 55/ Heil den Arabern!), Beirut 1955; Bahri bezog ein 230 111, Leiter der Personalabteilung an Herrn Staatssekretär, betr.: Einstellung des türkischen Journalisten Dr. Djelal Esine als Redakteur und Sprecher bei der Orient-Zone der Deutschen Überseesender der Reichsrundfunkgesellschaft, 21. 4. 1943. 19 Vgl. Fritz Grobba, Grobbas schriftliche Aussage vom 5. 3. 1946, unter Punkt 4, http://istmat.in fo/node/21944 (20. 5. 2021). 20 BArch, R 55/20013–3, Vertraulicher Bericht – Aufklärungsausschuß Hamburg-Bremen an RMVP, 30. 11. 1939, 4. 21 Vgl. Nils Riecken, How to read German State Archives Differently. The Case of the »Iraqi Traveller« Yunis Bahri (ca. 1901–1979) in a Global Frame, in: ZMO Working Papers 18 (2017), ˙ https://www.zmo.de/publikationen/WorkingPapers/riecken_2017.pdf, 1–14, (20. 5. 2021), 3, 8; Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), R 104795, 6. 7. 1939.

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zu gestalten.22 Damit sollte, wie Theodor W. Adorno es beschrieb, die existierende Mentalität für die eigenen Zwecke reproduziert werden.23 Der Band bestand aus einem kurzen Vorwort, einer Einleitung, den 50 Stilproben auf Deutsch und Arabisch sowie einem auf die Texte zugeschnittenen arabischen Glossar, damit die Leserschaft ihre Übersetzungsfähigkeiten sogleich trainieren konnte. Rott gab dabei Anleitungen, worauf zu achten sei und welche Schwierigkeiten bei Übersetzungen ins und aus dem Arabischen zu beachten waren.24 Auch die arabischen Mitarbeiter des »Drahtlosen Dienstes« halfen bei der Erstellung des Bandes mit.25 Rott widmete sich auch etwaigen Übersetzungsschwierigkeiten. Er machte dabei auf die Besonderheiten der arabischen Sprache aufmerksam, auf die geachtet werden müsse, um den modernen Pressestil und den Kreis der anvisierten Hörer*innen (in allen Bildungsschichten) zu erreichen. Dabei sollte auf die »blumenreiche« Sprache der klassischen arabischen Dichter verzichtet und stattdessen eine moderne Zeitungssprache mit möglichst geringem Vokabelschatz, der aber in der gesamten arabischen Welt mit all ihren Dialekten verstanden wird, verwendet werden.26 Außerdem wies Rott darauf hin, dass die Übersetzung keine bloße Übertragung der deutschen Texte und Wörter ins Arabische sei, sondern sich dem arabischen Stil, teilweise auch inhaltlich, anpassen müsste. So dürfe kein »deutsch mit arabischen Worten« geschrieben werden.27 Es sollte, wie Kracauer es ausdrückte, durch »die Ästhetisierung« (mithilfe der gekonnten Anwendung der arabischen Sprache) eine »Anästhesierung« der Massen stattfinden.28 Eine vollständige Kontrolle des Gesagten in allen Facetten der Sprache war im Sendebetrieb allerdings unmöglich. Mit den Stilproben wollte Rott jedoch ein Gefühl für den in der Rundfunkpropaganda benötigten Tonfall vermitteln.29 Auch inhaltlich boten die Meldungen interessante Einblicke in die erste Phase der arabischen Rundfunkpropaganda. Denn nur zwei hatten antisemitischen, die Mehrheit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Inhalt. Sie konzentrierte sich vollkommen auf die Zurschaustellung deutscher Überlegenheit in Militär,30 Wirtschaft und Wissenschaft. Besonders viele Berichte widmeten

22 Goldenbaum weist auf das Desiderat einer Betrachtung der Stilproben hin; vgl. Goldenbaum, Nationalsozialismus als Antikolonialismus, 2016, 456. 23 Vgl. Theodor W. Adorno, Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda, in: ders., Soziologische Schriften I, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2018, 408–433, 429. 24 Vgl. Gerhard Rott, Neu-arabische Stilproben, Leipzig 1940, 7. 25 Vgl. ebd. 26 Ebd., 5, 8, 11f. 27 Ebd., 10. 28 Kracauer, Totalitäre Propaganda, 2013, 275. 29 Rott, Neu-arabische Stilproben, 1940, 6. 30 Ebd., Stilprobe Nr. 33, 34, 50.

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sich der deutschen Ingenieurskunst31 sowie der britischen und französischen Schwäche auf den genannten Gebieten.32 Auch auf die Unterdrückung der Araber durch Engländer und Franzosen wurde aufmerksam gemacht. So gab es Meldungen bezüglich Hinrichtungen und Verhaftungen von Arabern, die als willkürliche Strafmaßnahmen der Briten in Palästina ausgewiesen wurden.33 Ein großer Teil der Meldungen befasste sich mit der arabischen Welt, besonders die Konflikte in Palästina und die Unabhängigkeitsbestrebungen der arabischen Länder gegen die Kolonialmächte standen im Mittelpunkt.34 Hier wurde der sogenannte Spiegelreflex angewendet: Die NS-Propaganda warf den Briten das vor, was sie selbst tat oder zu tun gedachte.35 Die restlichen Meldungen hatten neutrale Berichte über alliierte Außenpolitik zum Thema. In keiner einzigen der Stilproben hingegen ließen sich islamische Inhalte erkennen. Die Rundfunkpropaganda bis 1940/1941 hatte demnach noch kaum antisemitischen und gar keinen islamischen Charakter. Die deutschen Erfolge zu Kriegsbeginn ließen in der arabischen Welt ein Bild der Unbesiegbarkeit entstehen. Nachdem der Nimbus der militärischen Stärke der Achse in El-Alamein jedoch gebrochen wurde, nahm auch die arabische Bereitschaft zum Schulterschluss mit der Achse ab. Als im Herbst 1940 eine erste Flaute an militärischen Siegesmeldungen einsetzte, bestand erstmals die Notwendigkeit, auch politische Ziele in den Mittelpunkt der Propaganda zu stellen.36 Zusätzlich erforderte die Anwesenheit deutscher Truppen in Nordafrika neue Propagandakonzepte. Mit Rücksicht auf die kolonialen Interessen Italiens, Vichy-Frankreichs und Spaniens waren die Äußerungen der Propaganda außerdem Beschränkungen unterworfen.37 Die Bedeutung der Feindbilder stieg als Reaktion auf die fehlenden militärischen Erfolgsmeldungen an, was in der arabischen Welt vor allem Angst- und Hetzpropaganda gegen Juden bedeutete.38

31 Ebd., etwa Stilprobe Nr. 11, 14, 25. 32 Ebd., etwa Stilprobe Nr. 18, 43, 46. 33 Ebd., Stilprobe Nr. 8, 16; auch BArch, R 55/1419, Plakat »Wenn Englands Soldaten Araber zusammenknallen«, Dezember 1938. 34 Rott, Neu-arabische Stilproben, 1940, etwa Stilprobe Nr. 17, 36, 38, 45. 35 Kracauer, Totalitäre Propaganda, 2013, 60. 36 Vgl. Longerich, Propagandisten im Krieg, 1987, 77. 37 ADAP, Ser. D, XII,1, Ernst Woermann, Aufzeichnungen zur arabischen Frage, 7. 3. 1941, 193– 200. 38 Vgl. Longerich, Propagandisten im Krieg, 1987, 96; Auswärtiges Amt, Zusammenstellung der Standardthesen und Richtlinien für die deutsche Auslandspropaganda, o. O. 1943, Nr. 20 vom 11. 2. 1942, Nr. 23 vom 19. 5. 1942.

Die »Oszillation von Lüge und Wahrheit«

Abb. 1 + 2: Gerhard Rott, Neu-arabische Stilproben, Leipzig 1940.

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Hetze gegen Juden und die Bedeutung des Islams für die Propaganda Die inhaltlich gesehen wichtigsten Programmpunkte waren (trotz ihrer letztlichen Absetzung 1943) die Gesprächsformate, die sogenannten Talks. Diese setzten sich vor allem mit innerarabischen Fragen auseinander. Auch faktenbasierte Nachrichten wurden mit Übertreibungen angereichert und dramatisiert. Der Palästinakonflikt wurde als Angelpunkt aller antikolonialistischen Bestrebungen und als Ursache für die Lage der arabischen Bevölkerung gesehen.39 Es wurde behauptet, britische Polizisten und Soldaten hätten unschuldige Zivilist*innen ermordet, und islamische Heiligtümer und Moscheen seien von »Negersoldaten« geschändet worden.40 An diesem Beispiel lassen sich die Aussagen Kracauers über die totalitäre Propaganda wie aus dem Lehrbuch nachvollziehen: So müsse die Propaganda »immer mehr auf das Gefühl gerichtet sein und nur sehr bedingt auf den sogenannten Verstand«.41 Weiters schrieb Kracauer: »Dies geschieht nicht in der Erwartung, dass die Lügen geglaubt werden, sondern in der Absicht, Zweifel und Schwanken zu erreichen.« Ziel sei es, »eine Oszillation von Lüge und Wahrheit zu erzeugen«.42 Und gerade in der Auslandspropaganda, wo sich NS-Deutschland gegen viele andere Akteure durchsetzen musste, galt dies besonders. Einen Wendepunkt stellte der Putschversuch gegen die probritische Regierung unter Nuri as-Said in Bagdad durch die achsenfreundlichen irakischen Nationalisten unter Gailani im Mai 1941 dar.43 Erst im Zuge dessen brachte Berlin der arabisch-nationalistischen Bewegung mehr Interesse entgegen und entsandte letztlich gar militärische Berater unter dem ›Sonderstab F‹ nach Bagdad.44 Die regionalen Nachrichten nahmen im Rundfunk nun zu.45 Nachdem die Briten den maßgeblich von Grobba vorbereiteten Putsch der prodeutschen Kräfte unter Gailani am 31. Mai niedergeschlagen hatten, kam es als Reaktion am 1./2. Juni zu

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Vgl. Goldenbaum, Nationalsozialismus als Antikolonialismus, 2016, 467. BArch, R 78/1822, Tagesplan vom 17. 4. 1941. Kracauer, Totalitäre Propaganda, 2013, 83. Ebd., 62. Vgl. Bashir M. Nafi, The Arabs and the Axis. 1933–1940, Arab Studies Quarterly 19 (1997) 2, 1– 24, 12f.; Nafi stellt in seinem Artikel klar, dass die irakischen Offiziere und Nationalisten nicht ideologisch oder religiös motiviert waren, sondern einzig aus politischen Gründen handelten; vgl. Orit Bashkin, Iraqi Shadows, Iraqi Lights. Anti-Fascist and Anti-Nazi Voices in Monarchic Iraq, 1932–1941, in: Israel Gershoni, Arab Responses to Fascism and Nazism. Attraction and Repulsion, Austin 2014, 141–170. 44 ADAP, Ser. D, Bd. XII, 2, 718, Führerweisung 32. Vgl. Wilhelm Kohlhaas, Hitler-Abenteuer im Irak. Ein Erlebnis-Bericht, Freiburg im Breisgau 1989. 45 BArch, R 78/1823, Tagespläne vom 2. 5. 1941.

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einem Pogrom, der Farhud, gegen die Juden Bagdads.46 Der Talk vom 24. Juni 1941 setzte sich mit den britischen Strafmaßnahmen gegen die arabischen Pogromisten auseinander. Bemerkenswert war der radikale und hetzerische antisemitische Ton der Sendungen: »Die Briten haben die […] Regierung des Irak gezwungen, ihre jüdischen Freunde für die im Laufe des irakischen Befreiungskampfes zerstörten Geschäfte zu entschädigen. Mit echt jüdischer Frechheit wurden Entschädigungssummen verlangt, die weit über den Wert der erlittenen Schäden hinausgehen. Das Geld für die Juden wird aus der armen arabischen Bevölkerung mit allen Mitteln herausgepresst. […] Die Juden sind täglich bemüht, ihren britischen Freunden bei der Knebelung der arabischen Bevölkerung teuflische Henkersdienste zu leisten. […] Die Saat, die hier von den Juden gesät wird, wird […] sich in einer furchtbaren Abrechnung gegen das Judenpack entladen.«47

Antikolonialismus und Antisemitismus schienen mittlerweile völlig miteinander verschmolzen zu sein: »Die Briten beweisen […] durch ihre schändlichen Taten immer wieder, […] dass britisch und jüdisch dasselbe ist.«48 Von nun an wurde der Antisemitismus in den Sendungen zunehmend thematisiert.49 Juden wurden als illoyale, gefährliche »Dritte« dargestellt, die nicht zum nationalen Kollektiv gehören.50 Nach der deutschen Eroberung Tobruks 1942 und beflügelt durch eine erhoffte Wende im Afrikakrieg, sendete die »Stimme des freien Arabertums« aus Kairo einen offenen antisemitischen Aufruf – jeder Ägypter sei in der Pflicht, »die Juden und ihren Besitz zu vernichten«.51 Da der Islam nach Überzeugung der NS-Propaganda »nach Ursprung und Wesen eine politische Religion« war, stellt er einen zentralen Bezugspunkt in den Rundfunksendungen dar,52 was sich in der Rezitation von Koranstellen, der Nutzung religiösen Vokabulars oder der Anrede der Zuhörerschaft »als Muslime« äußerte. Die Sendungen konzentrierten sich auf eine Auswahl von (politisch 46 Vgl. Daphne Tsimhoni, Farhud, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Stuttgart 2012, 324–327; zur Farhud auch: Philip Mattar, The Mufti of Jerusalem. Al-Hajj Amin al-Husayni and the Palestinian National Movement, New York 1992, 94; Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2006, 80–82. 47 BArch, R 78/1825, Talk vom 24. 7. 1941. 48 Ebd.; auch R 78/1802, Bericht über Rede Ben Gurions. »Aus dieser Rede des Juden Ben Gurion geht hervor, dass das Weltjudentum den Krieg Englands als einen Krieg der Juden betrachtet«, Talk vom 22. 1. 1940. 49 BArch, R 78/1810, Tagesplan vom 23. 7. 1940. 50 Vgl. Klaus Holz, Die antisemitische Konstruktion des »Dritten« und die nationale Ordnung der Welt, in: Christina von Braun/Eva-Maria Ziege (Hg.), Das »bewegliche« Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, 43–61, 54. 51 Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World, New Haven 2009, 125. 52 Reinhard Hüber, Hadsch Muhammed Amin el-Husaini. Der Mufti von Jerusalem, in: Hans Heinrich Schaeder (Hg.), Arabische Führergestalten, Arabische Welt, Bd. 5, Berlin 1944, 137– 152.

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nutzbaren) religiösen Terminologien, Parolen und Rhetorik.53 Jeffrey Herf sieht im Koran sogar den wichtigsten Text, den das NS-Regime nutzte, um durch eine »selektive Aneignung und Interpretation« einen »kulturellen Zugangspunkt« zu bekommen, über den die eigenen ideologischen und politischen Inhalte dem arabischen Publikum übermittelt werden konnten.54 Von dieser bestimmenden Bedeutung des Korans ist anhand der Sendungspläne und der Stilproben jedoch nicht auszugehen, wurden die islamischen Inhalte anfangs doch eher als Beiprogramm in die Sendungen eingeflochten. Es muss allerdings klargestellt werden, dass die formelhafte Verwendung islamischer Sprache einzig der Islamisierung säkularer Inhalte dienen sollte und keinesfalls aus inhaltlicher Übereinstimmung mit Glaubensinhalten des Islams erfolgte. Vielmehr handelte es sich um eine bewusste Verwendung des Vokabulars, um die islamische Tradition für die Vermittlung eigener nationalsozialistischer Positionen zu nutzen.55 Aufgrund der Auffassung, dass Arabertum und Islam eine »ontologische Wesenseinheit« darstellen, gab es in den Sendungen säkulare und islamisierte Aspekte, die jeweils aufeinander aufbauten.56 So verknüpfte die deutsche Propaganda den Islam mit modernen antisemitischen Mythen und exportierte damit Judenhass europäischer Prägung in die arabische Welt. Am 22. Mai 1943 wurde in der Sendung »Islam und Nationalsozialismus« auf vermeintlich verbindende Werte wie »Ordnung, Disziplin, Arbeit und Stärke« hingewiesen.57 In diesem Zusammenhang wurde auch deutlich, dass die Propagandisten des Auswärtigen Amts sehr darauf bedacht waren, Rezitationen aus der islamischen Welt zu senden, weil sie diese als authentischer betrachteten als jene, die in Deutschland entstanden waren.58 Direkt nach der Besetzung von Tunis wurde deshalb nach Aufnahmen lokaler Imame gesucht.59 Ähnliches galt auch in der für die Hörergewinnung nicht zu vernachlässigenden Unterhaltungssektion. So wurden 1942 aus Paris Schallplatten mit orientalischer Musik besorgt.60

53 BArch, R 901/73039, »Die Propagandamittel im Islam«. 54 Herf, Nazi Propaganda, 2009, 262. 55 Vgl. Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 2003, 21f. 56 David Motadel, Islam and Nazi Germany, London 2014, 35. 57 BArch, R 78/1808, Tagesplan vom 6. 6. 1940; Broadcast Monitoring Script »Voice of Free Arabism: Bolshevism and Islam«, 7. 9. 1942 (recorded), USNA, RG 84, Entry UD 2410, Box 77, zit. n.: Motadel, Islam and Nazi Germany, 2014, 98; vgl. auch: Volker Koop, Hitlers Muslime. Die Geschichte einer unheiligen Allianz, Berlin 2012, 53–64. 58 BArch, R 901/73039, »Das Gedicht als Propagandamittel im Islam«, »Das politische Gedicht im Islam«, Jänner 1941. 59 PA AA, R 27768, Rühle an Rahn, 13. 3. 1943, Berlin; R 27766, Antwort, Rahn an Rühle, 4. 4. 1943, Tunis. 60 Vgl. Schwipps, Wortschlacht im Äther, 1971, 31.

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Emotionalisierende Meldungen, wie etwa über die Zerstörung von Moscheen, wurden als eine Verletzung kultureller Tabus gebrandmarkt, sollten die arabische Bevölkerung gegen Großbritannien aufbringen und die kulturell-religiöse Identität ansprechen.61 Umgekehrt wurden Berichte über den Alltag der islamischen Gemeinde in Berlin sowie über den respektvollen Umgang der Deutschen gegenüber der Gemeinschaft gesendet.62 Wie bereits im Ersten Weltkrieg nutzte man vor allem die islamischen Hochfeste für Propagandazwecke.63 Husseini beklagte zu Maulid an-Nabi die Unterdrückung der gesamten islamischen Welt durch »feindliche Besatzer« und warnte vor der »jüdischen Pest« in Palästina, die das Land »zu verjuden« bezwecke und alle benachbarten arabischen Gebiete bedrohe.64 Als in Vorbereitung eines möglichen Vordringens deutscher Truppen und der damit befürchteten Ausweitung der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung auf den Nahen Osten65 im Juni 1942 die Haganah gegründet wurde, wussten die deutsche Propaganda und besonders Husseini diesen Umstand für sich zu nutzen.66 Am 7. Juli 1942, während der Euphorie durch die deutsche Einnahme Tobruks, sendete die »Stimme des freien Arabertums« eine bis dato noch nicht erreichte Botschaft des Hasses. Der militärische Vorstoß sollte, so Herf, von einer Aufstachelung zum Massenmord begleitet sein und damit den Weg für die Ausweitung der »Endlösung« auf den Nahen Osten und Nordafrika ebnen.67 Die arabischsprachige Propaganda forderte das arabische Hörerpublikum dazu auf, an der »Vernichtung der Juden« aktiv mitzuwirken. In der Zwischenzeit war eine deutsche Präsenz in der Region nicht mehr gegeben. Husseinis 61 BArch, R 78/1822, Tagesplan vom 17. 4. 1941. 62 BArch R 78/1814, Tagespläne vom 18. und 21. 10. 1940; Talk: Islamische Feste: Islamische Gemeinde Berlin feiert Id-al-Fitr. In mehreren Vorträgen wurde auf »das große Verständnis und die Freundschaft des deutschen Volkes für die islamische Welt« hingewiesen. Tagesplan vom 2. 11. 1940. 63 BArch R 78/1814, Talk: Islamische Feste: Islamische Gemeinde Berlin feiert Id-al-Fitr. Tagesplan vom 2. 11. 1940. 64 Muhammad Amı¯n Al-Husainı¯/Gerhard Höpp (Hg.), Mufti-Papiere. Briefe, Memoranden, ˙ und Aufrufe Amı¯n al-Husainı¯s aus dem Exil, 1940–1945, Berlin 2004, Nr. 73, Rede zum Reden ˙ Maulid, 19. 3. 1943, 152f. 65 Im Falle eines deutschen Siegs in Nordafrika stand eine SS-Einheit in Athen unter Walther Rauff bereit. Vgl. Mallmann/Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz, 2006, 137–148. Laut Goldenbaum ging Radio Berlin Ende November 1942 auf den Genozid in Osteuropa ein. Dies stellt einen Widerspruch zu Herf da, der festgehalten hatte, dass es in den arabischsprachigen Rundfunksendungen keinerlei Verweise oder Berichte über die Judenvernichtung gegeben hätte. Vgl. Goldenbaum, Nationalsozialismus als Antikolonialismus, 2016, 472; Jeffrey Herf, Arabischsprachige nationalsozialistische Propaganda während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, in: Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 37/3 (2011), 359–384, 373. 66 Die Haganah (hebr.: die Verteidigung) war eine paramilitärische zionistische Untergrundorganisation und ging 1948 in der israelischen Armee auf. Vgl. Mallmann/Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz, 2006, 137–141, 166. 67 »Kill the Jews before They Kill You«, 21. 7. 1942, in: Herf, Nazi Propaganda, 2009, 125.

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Erfolg in der Propaganda machte letztlich seine Fähigkeit aus, die Mythen, Geschichten und religiösen Gefühle in einer Sprache zu transportieren, die seine religiöse Auslegung verbindlich erscheinen ließ.68 In der Analyse zeigt sich, dass islamische Inhalte zwar (besonders ab 1941) sehr präsent im Programm vertreten waren, es sich aber vielmehr um eine – so Herf –»selektive Aneignung« handelte.69 Die Islamisierung säkularer Inhalte diente als eine Art Botenstoff, als kulturell vertrauter und anerkannter Träger der politischen und ideologischen Botschaften des Nationalsozialismus.70 Es muss konstatiert werden, dass der Islam und die islamisierten Inhalte in der Literatur meist überbewertet wurden.71 Der Islam war zwar – besonders ab 1941 – sehr präsent im Programm vertreten, jedoch stets nur als Mittel zum Zweck und nicht aus religiöser Überzeugung. Die Versuche des Muftis, dem Nationalsozialismus »einen Anstrich von islamischer Seriosität zu verleihen«, überzeugten kaum.72 Auch die Heterogenität in der Zusammensetzung der arabischen Mitarbeiterschaft der Orientzone – Säkulare, Neo-Salafisten, Christen, Panarabisten und arabische Nationalisten – legte starke Differenzen unter den Propaganda-Ausführenden nahe.73 Von einer geschlossenen, für die Ideale und Ziele des Nationalsozialismus kämpfenden arabischen Gruppe konnte nicht gesprochen werden.

Konsum und Wirkung Durch die hohe Analphabetenrate in der arabischen Welt versprach die Radiopropaganda eine höhere Reichweite als gedruckte Medien.74 Allerdings war auch die Zahl der Radiogeräte in der Region gering. Ferner ist zu bedenken, dass die meisten Kurzwellenempfänger in Palästina, Marokko, Algerien, Ägypten und im Irak Juden oder alliierten Soldaten gehörten, die selbstredend nicht im Fokus der deutschen Propaganda standen.75 Jedoch ist zu beachten, dass damals vor allem 68 69 70 71 72 73 74

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Vgl. ebd., 126. Ebd., 262. Vgl. Schulze, Geschichte der islamischen Welt, 2003, 21f. Etwa bei Matthias Küntzel, Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand, Leipzig 2019. Gilbert Achcar, Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen, Hamburg 2012, 149. Vgl. Goldenbaum, Nationalsozialismus als Antikolonialismus, 2016, 477f. Analphabeten in den 1930er-Jahren: Ägypten 79 % Männer, 95 % Frauen; Palästina 85 %; Libanon 54 %; Syrien 63 %, unter den Beduinen Syriens über 99 % Analphabeten. Vgl.: Virginia Vacca, »Ar-Radyo«. Le radio arabe e d’oriente e le loro pubblicazioni, in: Oriente Moderno 20/9 (1940), 444–451, 444. Joel Beinin, Review, in: International Journal of Middle East Studies 42/4 (2010), 689–692, 690.

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in Cafés, Klubs oder Friseursalons gemeinsam Radio gehört wurde. Somit konnte eine ungleich höhere Zahl an Hörer*innen erreicht werden. Zugleich ist von einer Dezentralisierung der Debatte über das Gehörte im öffentlichen Raum auszugehen.76 Es handelte sich um eine Umkehr der zeitgenössischen Hörgewohnheiten in Europa. So meinte dazu Siegfried Kracauer: »Man verwandelt mit Hilfe des Rundfunks die Wohnstube in einen öffentlichen Platz.«77 In der arabischen Welt war es anders. Durch das öffentliche Hören und das Fehlen von privaten Radiogeräten verwandelte der Rundfunk den öffentlichen Platz hier in eine Wohnstube. Während des Zweiten Weltkriegs war etwa in Amman das Radio die einzige Nachrichtenquelle, was die potenzielle Bedeutung der Sender erhöhte.78 Schon 1939 ergriffen Briten und Franzosen Gegenmaßnahmen und verboten das Hören italienischer und deutscher Sender in der Öffentlichkeit. Gleichwohl blieb der Einfluss der Achsensender jedenfalls bis zur Kriegswende 1942 bestehen.79 Schwipps zufolge lag der Grund dafür darin, dass die Propaganda nicht nur für die städtische Bevölkerung, sondern auch »für Menschen fern der Meere« verständlich blieb.80 Diese schichtenabhängige Rezeption wird in der Literatur wenig differenziert; bei Herf findet sie kaum statt,81 einzig Goldenbaum problematisiert sie.82 Eine Aussage über die Wirksamkeit zu treffen ist äußert schwierig, denn Erhebungen zum Hörerverhalten wurden stets von einer Kriegspartei durchgeführt und waren damit parteiisch. Der in der Propaganda formulierte Aufruf zu Aufständen und Gewalt gegen die Kolonialmächte und die Juden blieb jedenfalls – mit Ausnahme des Farhud-Pogroms – erfolglos. Betrachtet man wiederum die Analysen der Alliierten bezüglich der NS-Propaganda, so lässt sich sagen, dass diese deren potenzielle Wirkung durchaus ernst genommen haben.83 76 Vgl. Ulrike Freitag/Israel Gershoni, The Politics of Memory. The Necessity for Historical Investigation into Arab Responses to Fascism and Nazism, in: Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 37/3 (2011), 312–331, 324. 77 Kracauer, Totalitäre Propaganda, 2013, 235. 78 Vgl. Abdar Rahma¯n Munı¯f, Sı¯rat Madı¯na: ʿAmma¯n fı¯ l-ar-baʿı¯na¯t (Biografie einer Stadt. Amman in den˙Vierzigerjahren), Beirut 1994, 140. 79 Vgl. Political Report, Syria. No. 26, 17. 10. 1939, in: Michael Fry/Itamar Rabinovich (Hg.), Despatches from Damascus. Gilbert MacKereth and British Policy in the Levant, 1933–1939, Tel Aviv 1985, 25. 80 Schwipps, Wortschlacht im Äther, 1971, 60; PA AA, R 67484, Botschafter von Papen (Ankara) an AA: »wenn überhaupt« seien nur die »unteren Klassen« durch diese Art Propaganda zu beeinflussen, 3. 5. 1940. 81 Vgl. Herf, Nazi Propaganda, 2009, 20, 62. 82 Vgl. Goldenbaum, Nationalsozialismus als Antikolonialismus, 2016, 483. 83 Analyse Axis Propaganda in the Moslem World, 1941, abgedruckt in: Wolfgang G. Schwanitz, The German Middle Eastern Policy, 1871–1945, in: Wolfgang G. Schwanitz (Hg.), Germany and the Middle East 1871–1945, Princeton 2004, 16f. Die New York Times warnte 1942 vor den deutschen Sendungen. Vgl. C. L. Sulzberger, Axis Radio Blankets Islam. American Aid

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Ohne die Mitarbeit der Exilanten, Kriegsgefangenen und Kollaborateure wäre weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg eine arabischsprachige deutsche Propaganda möglich gewesen. Der Blick auf die Akteure in der zweiten Reihe der arabischen NS-Kollaborateure ermöglicht ein präziseres Bild auf die Kooperation. Bisher wurde meist angenommen, dass Husseini und Gailani hier allein bestimmend gewesen wären.84 Tatsächlich spielt im arabischen Diskurs aber etwa der Iraker Yunus Bahri eine sehr bedeutende Rolle.85 Letztlich hatten die eingesetzten neuen Medien jedoch nicht die Wirkung, die Goebbels sich von ihnen erhoffte. So war das bloße Senden von Inhalten nicht ausreichend, um bei den Empfänger*innen die gewünschte Wirkung zu erzielen. Es kam auf die Interpretation und das Vorwissen der Hörerschaft an.86 Dies wurde von deutscher Seite nicht hinreichend berücksichtigt. Der durch die Stilproben eingeschlagene Weg der durchdachten, unterschwelligen Einflussnahme wurde, mit der sich verschlechternden Kriegslage ab 1941, sukzessive verlassen und endete schließlich in reiner antisemitischer Hasspropaganda. Die oberflächliche Islaminterpretation rief zwar keine vernehmbaren Proteste vonseiten höherer islamischer Religionsgelehrter hervor, die offensichtliche Ignoranz für innerarabische Debatten und das ständige Anpassen der Propaganda entlang von militärischen Entwicklungen führten aber auch nicht zu einer gesteigerten Glaubwürdigkeit.87 Die durch die deutsche Rundfunkpropaganda in der arabisch-islamischen Welt forcierten Antisemitismen sollten jedoch auch nach 1945 in neuer Konstellation in der Region fortleben.

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Needed to Fight Propaganda Aimed at Lands of the Middle East, in: New York Times, 1. 2. 1942. Vgl. Riecken, »Iraqi traveller« Yu¯nis Bahrı¯, 2017, 12. ˙ Notizen des Reisenden Yunus Bahri (arab.), Beirut Vgl- etwa Khaled Abdul Moneim Al-Ani, 2005. Vgl. Bernd Heidenreich, Medien im Nationalsozialismus, Paderborn 2010, 7. Vgl. Francis R. Nicosia, Arab Nationalism and National Socialist Germany, 1933–1939. Ideological and Strategic Incompatibility, in: International Journal of Middle East Studies 12/ 3 (1980), 351–372, 366.

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Jenseits von »Tankenden« und »Getankten«: Rundfunkpropaganda und »Gerüchtemacherei« in der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Zweiten Weltkrieg

Am 15. Juni 1941 reflektierte die Feministin, Schriftstellerin und Sozialdemokratin Anna Haag in ihrem Tagebuch das gemeinsame Radiohören mit Menschen aus dem sozialen Umfeld ihrer Familie. Dabei beschrieb sie das Abhören von illegal gehörten ›Feindsendern‹ sowie die Weitergabe von Informationen, die sich gegen das nationalsozialistische Deutschland richteten. So beginnt der Eintrag: »Heute hatten wir wieder mal ›Tank-Gäste‹. Was ist das? Nun, das sind Leute, die entweder kein Radio haben, oder die in einem Mietshaus wohnen, wo es ganz besonders gefährlich ist, Auslandsender [sic] zu hören, weil die Wände zu dünn sind! Natürlich müssen das verlässliche Menschen sein! Aber da erhebt sich gleich die Frage: ›Wer ist heute verlässlich‹?«1

Die »Tank-Gäste« unterteilte Anna Haag in »Tankende« und »Getankte«. Sie empfing sowohl Freund*innen und Verwandte auf Informationssuche als auch bereits »vollgetankten Besuch«, mit dem sie an diesem Tag Neuigkeiten über die »russische Sache« austauschte.2 Sicher haben historisch arbeitende Sprach- und Kommunikationswissenschaftler*innen deutlich differenziertere Analyseformen erarbeitet, als das von Anna Haag in bipolarer Dichotomie formulierte Verhältnis von »Tankenden« und »Getankten«, welches indirekt auf ein Modell von ›Sender*in versus Empfänger*in‹ schließt.3 Trotzdem ist ihr Eintrag aufschlussreich und verweist nicht nur auf Hörpraktiken und Formen des Informationsaustauschs in der Mehrheitsgesellschaft des Deutschen Reichs in den Kriegsjahren 1939 bis 1945. Anna Haags Beschreibungen werfen weitere Fragen auf: Wie genau gaben Menschen 1 Anna Haag, »Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode«. Tagebuch 1940–1945, hg. von Jennifer Holleis, Ditzingen 2021, 84–85, Eintrag 15. 6. 1941. 2 Die »russische Sache« verweist auf den eine Woche später, am 22. Juni 1941, begonnenen deutschen Überfall auf die Sowjetunion. 3 Für eine programmatische Übersicht zur gegenwärtigen Forschungslage siehe: Stefan Scholl, Für eine Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 59 (2019), 409–444.

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unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft die gesammelten und verarbeiteten Rundfunkinformationen weiter? Welcher Praktiken bedienten sich die »Tankenden« und die »Getankten«? Welche weiteren Formen der Informationsbeschaffung lassen sich ausmachen? Zwar zielte Anna Haag mit dem Aspekt der »Verlässlichkeit« vermutlich primär auf die Bedeutung zwischenmenschlichen Vertrauens im Kontext devianten Radiokonsums, doch drängen sich auch hier weiterführende Fragen auf: Was galt Menschen in Zeiten von Krieg und Krise überhaupt noch als verlässlich? Welche sozialen Funktionen erfüllten alternative Informationen jenseits der Regimepropaganda? Welche Folgen konnte das Informationsverhalten provozieren? Wie und warum wurde ›Hearing‹ zu ›Believing‹? Um diese Fragen an exemplarischen Dynamiken im Kontext der ›Feindsender‹-Angebote zu diskutieren, wird dieser Beitrag zunächst knapp die Bedeutung von informeller Kommunikation und Radiohören jenseits der vom Regime gesetzten Grenzen diskutieren. Schließlich wird das Schicksal deutscher StalingradSoldaten in den Fokus genommen: Angehörige suchten hier nach Informationen, die das Regime nicht bieten konnte. Auf großes Interesse stießen daher russische Propagandasendungen, in welchen die Namen von Kriegsgefangenen verlesen wurden. Diese ›feindlichen Programme‹ konnten auch im Deutschen Reich empfangen werden.

Informelle Kommunikation in der deutschen Mehrheitsgesellschaft In der Alltagskommunikation der deutschen Mehrheitsgesellschaft – die große Gruppe aller nicht aus rassistischen, ordnungspolitischen und/oder heteronormativen Begründungen gesellschaftlich aktiv ausgeschlossenen, verfolgten und/ oder ermordeten Menschen4 – existierte neben den offiziellen Nachrichten des Regimes eine weitere Informationsgrundlage. Menschen konsultierten im Kriegsverlauf zunehmend alternative Quellen jenseits der Regimepropaganda, um sich in unklaren bzw. krisenhaften Situationen zu informieren. So findet sich in

4 Die gesellschaftliche Spannweite dieser Mehrheitsgesellschaft reichte von überzeugten Täter*innen und nationalsozialismusaffinen Personen über unauffällige oder gegenüber den ideologischen und organisatorischen Angeboten des Regimes sogar reservierten Menschen bis hin zu schweigend ablehnenden Individuen. In ihrer inneren Emigration zählte auch Anna Haag, die das Regime und die Nazi-Ideologie zutiefst verabscheute, zu dieser Mehrheitsgesellschaft. Zum aktuellen Vorschlag einer sprachhistorischen Differenzierung als integrierte Gesellschaft, zu der so auch NS-ferne wie dissidente Teile der Bevölkerung gezählt werden können, siehe Heidrun Kämper, Sprachliche Sozialgeschichte 1933 bis 1945 – ein Projektkonzept, in: Heidrun Kämper/Britt-Marie Schuster (Hg.), Sprachliche Sozialgeschichte des Nationalsozialismus, Bremen 2018, 9–25.

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einem Lagebericht des Sicherheitsdienstes (SD) vom 22. Januar 1942 für die Führungsriege des ›Dritten Reichs‹ folgender Vermerk: »Die Volksgenossen hätten das Gefühl, daß bei negativen Vorgängen die öffentlichen Führungsmittel stets ein ›offizielles Gesicht‹ wahrten. Es habe sich deshalb der Zustand herausgebildet, daß in solchen Lagen weite Volkskreise nicht mehr die Presse als die beste Unterrichtungsquelle ansehen, sondern aus Gerüchten, Erzählungen von Soldaten und Leuten mit ›politischen Beziehungen‹, Feldpostbriefen und dergleichen sich ›ihr Bild‹ zusammenbauten, wobei oft die unsinnigsten Gerüchte mit erstaunlicher Kritiklosigkeit übernommen würden.«5

Der SD konstatierte demnach sogar ein gewisses Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der offiziellen Berichterstattung. Gewiss müssen diese Stimmungsberichte des Regimes mit aller Vorsicht und Zurückhaltung interpretiert werden, produzierten sie doch selbst eine bestimmte Form der Wahrnehmung oder fungierten für die Propaganda als eine Art Vorwarnsystem in Hinblick auf Haltungen und Stimmungen in der Bevölkerung.6 Dennoch offenbart der Bericht hier in exemplarischer Verdichtung einen »Zustand«: Neben der offiziellen Propaganda des Regimes ›von oben‹ existierte in der Mehrheitsgesellschaft ein zweites Informationsangebot ›von unten‹.7 Unsicherheiten oder unklare Informationssituationen evozierten in der Mehrheitsgesellschaft ein gesteigertes Bedürfnis nach einerseits gesicherten, andererseits alternativen Informationen. Die Unsicherheiten provozierten dabei mitunter gegenstandslose Gerüchte. Der vom SD nebulös beschriebene »Zustand« lässt sich freilich nicht dichotomisch von dem im Bericht ebenfalls genannten »offiziellen Gesicht« trennen: Informelle Kommunikation stand stets in einem dynamischen, reziproken Verhältnis zu Angeboten des Regimes. Das Verhalten der Menschen war dabei häufig von Kontingenzherstellung und Komplexitätsbewältigung ihres unmittelbaren sozialen Alltags geprägt. Dabei führte der menschliche Drang, die Welt ein Stück unabhängiger zu verstehen, zu einer Distanzierung gegenüber den Angeboten des Regimes und dessen Anspruch auf die Öffentlichkeit als »Wahrheitsregime«.8 NS-Behörden und -Schaltstellen markierten diese Formen 5 Meldungen aus dem Reich, Nr. 253, 22. 1. 1942, in: Heinz Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich 1938–1945: Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Bd. 9: Meldungen aus dem Reich Nr. 247 vom 18. 12. 1941–Nr. 271 vom 26. 3. 1942, Herrsching 1984, 3193–3208. 6 Vgl. Peter Longerich, »Davon haben wir nichts gewusst!«. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006, 38–53. 7 Auch die zeitgenössische Sozialpsychologie erkannte den vom Bericht festgehaltenen Einfluss von Krieg und Krise auf informelle Kommunikation, etwa im Kontext der im SD-Bericht genannten Gerüchte. Vgl. Gordon W. Allport/Leo Postman, The Psychology of Rumor, New York 1947, 14–31; Robert H. Knapp, A Psychology of Rumor, in: Public Opinion Quarterly 8 (1944), 22–37. 8 In Anlehnung an das »régime de verité« bzw. das »regime of truth« nach Michel Foucault, Truth and Power, in: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, New York 1984, 51–75, hier 74.

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der Alltagskommunikation daher als deviant, kriminalisierten das Verhalten der Menschen und verfolgten diese Praktiken. Für das Regime war wichtig, »dass der vernehmbare öffentliche Diskurs nicht von der Programmatik einer homogenen, leistungs- und kampfbereiten ›Volksgemeinschaft‹ abwich«.9 Doch gleichzeitig befanden Akteure des Nationalsozialismus bestimmte Gerüchte selbst als nützlich und schritten nicht gegen deren Verbreitung ein, obwohl die oft gescholtene sogenannte »Gerüchtemacherei« mit ›Heimtücke‹Verfahren streng verfolgt und auch in der Propaganda bekämpft wurde. In einer gewissen Ambivalenz bediente sich das Regime zunehmend informeller Dynamiken, etwa in der Mundpropaganda. Informelle Kommunikation war also über das Verhalten der Bevölkerung hinaus Objekt und Instrument nationalsozialistischer Herrschaft: Sie diente nicht nur der Bevölkerung, sondern genauso den Behörden selbst und artikulierte in der sozialen Praxis somit die wechselseitigen Aneignungen von Handlungsbedingungen.10

›Feindsender‹ hören im Krieg Das Radio nahm im Kontext der informellen Kommunikationspraktiken eine ambivalente Position ein. So haben etwa Adelheid von Saldern, Inge Marßolek, Uta C. Schmidt, Monika Pater und Daniela Münkel auf den »Polyvalenzcharakter der Radiounterhaltung« hingewiesen:11 Auf der einen Seite half der ›Volksempfänger‹ nachhaltig, die nationalsozialistische Ideologie und ihre volksgemeinschaftliche Programmatik ›von oben‹ in die privaten Räume der deutschen Gesellschaft zu senden. Auf der anderen Seite behielt das technische Medium stets ein »anarchisches Potential« (Konrad Dussel), und die Hörpraktiken der Menschen ›von unten‹ konnten sich dem Zugriff des Regimes entziehen,12 vor allem wenn Menschen sich den Informationsangeboten der ›Feindsender‹ zuwendeten.

9 Annemone Christians, Das Private vor Gericht: Verhandlungen des Eigenen in der nationalsozialistischen Rechtspraxis, Göttingen 2020, 278. 10 Vgl. die einleitenden Ausführungen in: Alf Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991; sowie ders., Die Praxis von Herrschaft: Zur Analyse von Hinnehmen und Mitmachen im deutschen Faschismus, in: Werner Röhr/Brigitte Berlekamp (Hg.), Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Die Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, Münster 1995, 226–245. 11 Adelheid von Saldern/Inge Marßolek/Uta C. Schmidt/Monika Pater/Daniela Münkel, Zur politischen und kulturellen Polyvalenz des Radios. Ergebnisse und Ausblicke, in: Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hg.), Zuhören und Gehörtwerden I. Radio im Nationalsozialismus. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998, 361–376. 12 Konrad Dussel, Die nationalsozialistische Diktatur und das anarchische Potential des Rundfunks, in: Historische Mitteilungen 13 (2000), 175–194.

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Das Regime kriminalisierte die Hörgewohnheiten jenseits des ›Volksempfängers‹. Das Abhören und Verbreiten von Informationen aller ausländischen Sender wurde am 1. September 1939 streng verboten. Die verfolgten ›Rundfunkverbrechen‹ machten insgesamt allerdings eine kleine Deliktgruppe an den Sondergerichten aus (zwischen 3 % und 15 %). Durch die vagen Schätzungen, wonach mehrere Millionen Deutsche solche Sender konsumierten, ergibt sich eine relativ niedrige Verfolgungsquote, wie Annemone Christians betont hat.13 Dennoch waren die Radiogeräte nicht nur mit Warnaufklebern versehen. Die Delinquent*innen wurden mitunter hart bestraft, bis hin zur Todesstrafe. Das Regime veröffentlichte Urteile dabei bewusst als Abschreckung. Zwar zeigte die historische Rundfunkforschung, wie schwer etwa quantitative oder empirisch belegbare Aussagen über den Umfang und die Verbreitung des legalen wie illegalen Radiohörens in der Kriegszeit überhaupt zu treffen sind.14 Dennoch spricht vieles dafür, dass das verbotene ›Schwarzhören‹ im Krieg »in großen Teilen der Bevölkerung als Kavaliersdelikt galt« und weitverbreitet war.15 Die Menschen waren beim allabendlichen, oft gemeinsamen und teils ritualisierten Radiohören der nicht-reichsdeutschen Angebote jedoch keinesfalls unbedingt von widerständigen Motiven getrieben; selbst punktuelle Unzufriedenheit kann nicht zwangsläufig unterstellt werden. Vielmehr lockten »Informationshunger« wie auch ein Bedürfnis nach musikalischen Angeboten wie Jazz und Swing, die Hörer*innen zu den illegal empfangenen Sendern.16 So war schon zu Beginn des Kriegs in einem lokalen Stimmungsbericht aus dem NSDAP-Gau Mainfranken zu lesen, dass »es sich ziemlich eingebürgert hatte, neben den deutschen Sendern zum ›Vergleich‹ (wie man schamhaft angab) ausländische Rundfunkmeldungen abzuhören«:17 Dieses Vergleichen der Informationen war verbreitet, half es doch, ein differenziertes Informationsangebot zu erschließen. Mitunter schalteten Menschen aber auch aus profaner Neugier oder sogar aus Versehen Feindsender ein. Viele waren sich des allumfassenden Abhörverbots ab September 1939 zunächst auch oft nicht bewusst. Allerdings hörten viele Menschen im Kriegsverlauf gezielt Feindsender. Gerade für Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, die innerlich das Regime ablehnten, wie etwa Anna Haag es tat, war das Radio eine Möglichkeit, sich bewusst 13 Vgl. Christians, Das Private, 2020, 278. 14 Vgl. Konrad Dussel, Hörfunk in Deutschland. Politik, Programm, Publikum (1923–1960), Potsdam 2002, 66–67 und 178. Vgl. auch Christians, Das Private, 2020, 249. 15 Christians, Das Private, 2020, 278. 16 Vgl. Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007, 194. 17 StA Würzburg, NSDAP-Gau Mainfranken, Nr. 8: Kreisleiter Königshofen-Hofheim an Reichspropagandaamt Mainfranken, Würzburg: Betrifft: »Stimmungsbericht aus dem Kreis«, 2.9. 1939, zum »Abhörverbot für Auslandssender« (3).

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gegen das Informationsmonopol zu stellen, ohne dabei unbedingt Konsequenzen befürchten zu müssen. Das Radiohören von ausländischen Programmen fand in der Regel im privaten Nahraum statt, wie auch Anna Haag ihrem Tagebuch mitteilte: dort, wo die Wände nicht zu dünn und die Menschen verlässlich waren. Hier konnte das Regime, etwa in Gestalt der Geheimen Staatspolizei, oft nur reaktiv tätig werden und war auf Hinweise und Denunziationen aus der Bevölkerung angewiesen.18 Der ›Volksempfänger‹ war also auf verschiedenen Ebenen ›anfällig‹. Das Regime trug dabei sogar eine gewisse Mitschuld, hatte es doch nicht nur eine massenhafte Verbreitung selbstempfangender Rundfunkapparate, sondern sogar die Verbesserung der Empfangsqualität durch Zusatzgeräte gefördert.19 Mit technisch limitierten und aufwendigen Störsendern war den ausländischen Rundfunkwellen nicht beizukommen.20 Einen Großteil der ausländischen Sender konnten die Hörer*innen je nach Wetterlage, technischer Ausstattung ihres Geräts und nicht zuletzt abhängig von ihrer geografischen Position daher relativ problemlos empfangen. Dass deutsche Sender sogar am Abend ihr Programm einstellten, wenn etwa britische Bomber in das Reichsgebiet einflogen, um diesen die Peilung nicht zu erleichtern,21 machte dem ›Feindfunk‹ oft endgültig die Bahn frei. Dies nutzten die alliierten Rundfunkorganisationen in verschiedenen Formen und teils durchaus mit großem Geschick aus. Ihre Unterhaltungsangebote und Propagandaaktivitäten konnten dabei nicht nur von den musikalischen Vorlieben deutscher Hörer*innen profitieren. Gerade in Zeiten militärischer Entscheidungen führte auch das Bedürfnis möglichst umfangreicher Berichterstattung die Menschen zum ›Feindfunk‹. Somit profitierten die ausländischen Radioprogramme von Unsicherheiten oder unklaren Situationen. Dies nahm im Kriegsverlauf noch deutlich zu, denn das Regime ließ sich in der offiziellen Kommunikation – und dies verstärkt nach Stalingrad 1942/43 – zunehmend nicht mehr auf »die Ebene konkreter Tatsachenbehauptungen« ein.22 Stattdessen verwiesen Akteure des Regimes – vom Propagandaleitartikelschreiber bis zum Provinzblockwart – in der Kriegspropaganda verstärkt auf einen abstrakten, von der Bevölkerung zunehmend entfernt wahrgenommenen ›Endsieg‹. Das konnte 18 Vgl. Karl-Heinz Reuband, Denunziationen im Dritten Reich: Die Bedeutung von Systemunterstützung und Gelegenheitsstrukturen, in: Historical Social Research 26/2–3 (2001), 219– 234, hier 226. 19 Vgl. Uta C. Schmidt, Radioaneignung, in: Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hg.), Zuhören und Gehörtwerden I, 1998, 243–360, hier 283–304. 20 Vgl. Dussel, Hörfunk, 2002, 65. 21 Vgl. ebd., 63. 22 Vgl. Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011, 89.

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den menschlichen Informationsdrang in der Mehrheitsgesellschaft allerdings häufig nicht stillen. Auch deshalb wirkten ›Feindsender‹; auch deshalb suchten Menschen in informeller Kommunikation nach alternativen Informationsangeboten. Die deutschsprachigen Programme des British Broadcasting Service (BBC) standen in der millionenfachen illegalen Hörer*innengunst nicht zuletzt durch den Ruf besonderer Verlässlichkeit an erster Stelle.23 Doch im Süden des Reichs schalteten Menschen in großer Regelmäßigkeit auch Radio Beromünster oder den Straßburger Sender ein.24 Ausländische Radioprogramme sendeten teils bewusst auf Nebenwellen der deutschen Sender: So etwa auch der französische Sender in Nizza, der das abendliche Ausschalten des reichsdeutschen Senders Frankfurt zu Kriegsbeginn für Programmschaltungen nutzte. Das führte dazu, dass »zahlreiche [deutsche] Hörer angenommen [hätten], es handele sich um eine Sendung des Frankfurter Senders« und unbewusst eine »aufhetzende Proklamation Frankreichs« hörten, wie es die Geheime Staatspolizeistelle Köln am 4. September 1939 zusammenfasste.25 Ein bekanntes Beispiel der gezielten Informationsvermittlung per Rundfunk waren die Reden Thomas Manns, der mit seinem Diktum ›Ihr wisst es, aber wollt es nicht wissen‹ in der BBC vom Holocaust berichtete und somit das Wissen darum in die deutsche Mehrheitsgesellschaft zurückspielte.26 In Gesprächen und Gerüchten gaben Menschen solche Informationen weiter, provozierten mit diesen Wissensbeständen und ihren Aneignungen – ob nun ex post wahr oder falsch – dabei mitunter neue Dynamiken. Weniger bekannt als Thomas Mann, aber bezüglich der informellen Kommunikation zumindest kurzfristig umso einflussreicher waren Namenslisten kriegsgefangener deutscher Soldaten, die etwa von der BBC, vor allem aber über den Moskauer Sender verlesen wurden.

23 Vgl. Dörner, Holocaust, 2007, 194. 24 Vgl. Dussel, Hörfunk, 2002, 63. 25 Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen (LAV NRW W), S001/Gauleitung Westfalen Nord, Hauptleitung, Nr. 21: Auszug aus dem Bericht der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Köln – Fernschreibestelle, 4. 9. 1939, o. S. 26 So sagte Thomas Mann etwa im November 1941 in einer Rede aus dem kalifornischen Exil in der BBC: »Das Unaussprechliche, das in Rußland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wißt ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte heranwachsenden Haß, der eines Tages, wenn eure Volks- und Maschinenkraft erlahmt, u¨ ber euren Ko¨ pfen zusammenschlagen muß.« In: Thomas Mann, Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland von Thomas Mann, Stockholm 1945, 42–44, hier 44. Insgesamt war der Holocaust in den Reden Manns allerdings ein untergeordnetes Thema.

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Radiopropaganda und das Schicksal der Stalingrad-Soldaten Stalingrad bedeutete nicht nur eine verheerende Niederlage für die deutsche Kriegsführung.27 Die umfassenden Verluste der Wehrmacht und die Einkesselung einer ganzen Armee, die schließlich ab Ende Januar/Anfang Februar 1943 in russische Kriegsgefangenschaft ging, bedingten ein Informationsvakuum an der ›Heimatfront‹: Während das Regime den Angehörigen keine Informationen über das Schicksal der Zehntausenden vermissten Wehrmachtssoldaten zur Verfügung stellen konnte (und es auch nicht wollte), war die Frage, ob ein geliebter Mensch noch am Leben war, für viele Menschen, deren Söhne, Ehemänner, Brüder und Väter, deren Freunde, Nachbarn oder Kollegen nun als vermisst galten, von großer Bedeutung. Schon wenige Tage nach dem öffentlichen Eingeständnis der Niederlage durch die Regimepropaganda deutete die Passage eines SD-Berichts am 8. Februar 1943 dies an: »Im übrigen wird der große Kreis von Volksgenossen, die um einen Angehörigen bangen, der in Stalingrad stand, von den Fragen bewegt, wer ist gefallen, wer ist verwundet, wer ist gefangen und was machen die Russen mit den Gefangenen?«28

Eine solch emotionsgeladene und von Ängsten geprägte Situation erzeugte auf zwischenmenschlicher Ebene ein massives Bedürfnis nach gesicherten Informationen über die vermissten Soldaten.29 Die in der generierten Wahrnehmung des SD angedeuteten Fragen sollten ein wirkungsvoller Faktor für Gerüchte und Wirkungsansatz sowjetischer Radiopropaganda im Kontext der vermissten Stalingrad-Soldaten werden. Die Verlustzahlen in Stalingrad waren auf deutscher Seite die bis dato höchsten des Kriegs. Für die 6. Armee wurde eine eigene Stabsstelle eingerichtet, welche die Hinterbliebenen zu informieren hatte.30 Das Regime, das versuchte, das militärische Desaster am Don zu einem Heldenepos zu verklären,31 begann 27 Vgl. Bernd Ulrich, Stalingrad, München 2005; Wolfram Wette/Gerd R. Ueberschär (Hg.), Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt am Main 2012; Torsten Diederich, Stalingrad 1942/43, Ditzingen 2018. 28 Meldungen aus dem Reich (Nr. 357), 8. 2. 1943, in: Boberach 1984, Bd. 12, S. 4760–4781. 29 Vgl. dazu auch Frank Biess, The Search for Missing Soldiers: MIAs, POWs, and Ordinary Germans, 1943–45, in: Frank Biess/Mark Roseman/Hanna Schissler (Hg.), Conflict, Catastrophe and Continuity. Essays on Modern German History, New York/Oxford 2007, 117–134, hier 121. 30 Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 1999, 36. 31 So etwa ersichtlich an der Schlagzeile »Sie starben, damit Deutschland lebe«, in: Völkischer Beobachter, 4. 2. 1943. Vgl. zur symbolischen Bedeutung bis in die jüngste Gegenwart: Jörg Echternkamp, Die Schlacht als Metapher: Zum Stellenwert von »Stalingrad« in Deutschland 1943–2013, in: Andreas Wirsching/Jürgen Zarusky/Alexander Tschubarjan/Viktor Ischtschenko (Hg.), Erinnerung an Diktatur und Krieg: Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland seit 1945, Berlin/Boston 2015, 91–105.

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früh damit, die Bevölkerung auf die problematische Informationssituation vorzubereiten. Schon am 14. Februar 1943 sprach ein Artikel in Das Reich »DIE OFFENEN VERLUSTLISTEN. Fragen und Sorgen nach Stalingrad« relativ unverblümt an: Die deutsche Wehrmacht verfüge zwar in Hinblick auf die Gefallenen, Vermissten und Kriegsgefangenen über die »modernen technischen Mittel der Benachrichtigung«, die Sowjetunion verweigere aber »selbst die ehrliche Todesnachricht«. Stattdessen würden die Sowjets die Namen in Form von »Lockpropaganda« verwenden. Die verheerenden Folgen Stalingrads gestand der Artikel freimütig ein: Die Verlustlisten wären lang, doch über das Schicksal einzelner Soldaten lasse sich nur wenig sagen.32 Tatsächlich unterband der seitens des NS-Systems ideologisch motivierte Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion jeglichen Austausch von Namenslisten, die Auskunft über die Kriegsgefangenen gaben. Mit den westlichen Alliierten gab es hingegen derartige Regelungen.33 Dieser Umstand führte erst zu einer verstärkten Wahrnehmung des deutschsprachigen Programms des Moskauer Senders, der – davon abgesehen – für die meisten ›Schwarzhörer*innen‹ deutlich unattraktiver war als die westlichen Sender. Während das reichsdeutsche Radio nach dem zum Opfergang stilisierten Untergang der 6. Armee zunächst tagelang Trauermusik spielte, setzte Radio Moskau schon bald auf die Verlautbarung von Namenslisten deutscher Kriegsgefangener. Diese Information war für Angehörige besonders wertvoll, bot sie doch potenziell einen Ausweg aus der quälenden Ungewissheit um den Verbleib von Männern, Söhnen oder anderen Bezugspersonen. Als Propagandamittel vermochten die über Radiowellen in das Deutsche Reich gesendeten Namen weitere Dynamiken der informellen Kommunikation freizusetzen. Dies zeigt etwa ein Fall aus Friedberg in Schwaben: Hier erhielt eine Frau, deren Mann als vermisst galt, im Laufe des Februars 1943 insgesamt 16 anonyme Briefe. Einen solchen Brief gibt ein Polizeibericht wie folgt wieder:

32 Das Reich, 14. 2. 1943. Der Artikel von Schwarz van Berk verweist abschließend auf die abstrakte, übergeordnete Ebene der Opfergangs-Metaphorik der öffentlichen StalingradKommunikation des Regimes und fordert auf, den vermeintlich heroischen Soldaten nachzueifern: Keiner sei »in der östlichen Fremde«, in der »unvergänglichen Geschichte verloren, so lange seiner Spur unsere eigene nacheifernde Hingabe folgt«. 33 Für Gerüchte gab es hier deutlich weniger Nährboden. Selbst der Austausch von Kriegsgefangenenpost funktionierte mit westlichen Alliierten, gemessen an den erschwerten Bedingungen des Kriegsverlaufs, relativ gut. Vgl. Rüdiger Overmans, Die Kriegsgefangenenpolitik des Deutschen Reiches 1939 bis 1945, in: Jörg Echternkamp (Hg.), Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Zweiter Halbband: Ausbeutung, Deutung, Ausgrenzung, München 2005, 729–867, hier 845. Darüber hinaus galt für den Krieg im Osten, dass auch die Sowjetunion selbst das Kriegsgefangenenwesen als interne, nicht an internationale völkerrechtliche Vorgaben gebundene Angelegenheit betrachtete. Vgl.: Birgitt Morgenbrod/Stephanie Merkenich, Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS-Diktatur 1933–1945, Paderborn 2008, 365.

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»Der Moskauer Sender brachte gestern verschiedene Namen von deutschen Soldaten, die in russischer Kriegsgefangenschaft sind. Darunter auch ihr Mann. Er ist gesund und es geht ihm gut. Sie werden natürlich die Sendung überhört haben, man kann sie nur auf Kurzwellen hören. Ich kenne ihre Einstellung nicht, aber Hitler wird bald tot sein, dann kommt wieder eine andere Zeit. Ich werde dann bei Ihnen persönlich vorsprechen. D.U.«34

Die mithörende Bevölkerung gab die Information also nicht nur weiter, sie eignete sich die Namenslisten sogar gezielt – und im Fall aus Friedberg – mit eigener Agenda an. Hörer*innen waren hier – im Sinne der Zuschreibungen Anna Haags – mehr als nur »Tankende« und »Getankte«. Die strategische »Lockpropaganda« des sowjetischen Radios verfehlte ihre Wirkung nicht. Im ganzen Reich kam es zu ähnlichen Fällen und zu einer Verbreitung der Praktik, anonyme Briefe mit teils kritischen Tönen an Angehörige der genannten Kriegsgefangenen zu verschicken.35 Das Regime versuchte über Propagandaaktivitäten gegen sogenannte »Bolschewisten und ihre Rundfunkjuden« vorzugehen und warnte die anonymen »Schwarzhörer und Briefschreiber« vor dem »schändlichen Mißbrauch« der Namen von Gefallenen und Kriegsgefangenen.36 Doch das Informationsangebot war hier, wo es seitens der NS-Führung an konkreter Sachinformation mangelte, zu attraktiv. Darin offenbart sich ein Stück weit auch die Unabhängigkeit des Medien konsumierenden Publikums, selbst unter den restriktiven Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft und der zu erwartenden Strafe beim Abhören ›feindlicher Sender‹. Menschen, die einander anonym informierten, waren weder ein bloßes Objekt medialer Informationsströme, noch waren sie völlig ungebunden hinsichtlich ihrer Instrumentalisierung von Medien.37 Der Namenslisten-Coup gilt gemäß Conrad Pütter daher durchaus zu Recht als »erfolgreichste Aktion« der sowjetischen Radiopropaganda auf dem Gebiet des deutschen ›Altreichs‹.38 Angehörige von Vermissten reichten auch im Falle ihnen unbekannter Soldatennamen die Information weiter. Jenen kriegsgefan34 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), Bayerisches Staatsministerium des Inneren, Nr. 73342: Dienstberichte der Gendarmeriekreisführer für den Monat Februar 1943, an das Bayerische Staatsministerium des Inneren, 26. 3. 1943, Kreis Friedberg (4). 35 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 366), 11. 3. 1943, in: Boberach, Meldungen, 1984, Bd. 13, 4923–4943 sowie vgl.: Werner Boddenberg, Die Kriegsgefangenenpost deutscher Soldaten in sowjetischem Gewahrsam und die Post von ihren Angehörigen während des II. Weltkrieges, Berlin 1985, 47. 36 Vgl. Kurt Bühler, Das Gerücht, in: Der Hoheitsträger, 3–8 (aus Archiv des Instituts für Zeitgeschichte [IfZArch], Db 08.01: Der Hoheitsträger 9, 1943). 37 Vgl. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301, hier 286. 38 Conrad Pütter, Rundfunk gegen das »Dritte Reich«. Deutschsprachige Rundfunkaktivitäten im Exil, 1933–1945. Ein Handbuch, München/New York 1986, 268.

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genen Soldaten und Offizieren, die sich dem »Nationalkomitee Freies Deutschland« anschlossen, bot sich in dieser sowjetischen Sendung sogar die Möglichkeit, ihre Familie direkt grüßen zu können.39 Trotzdem war das eigentliche Informationsangebot beschränkt: Die sowjetische Seite wusste, dass das Verlesen der Kriegsgefangenenlisten die deutsche Bevölkerung dazu motivierte, den russischen Sender anzuschalten. Parallel konnte die sowjetische Seite weitere Propagandainhalte vermitteln. Im Einzelfall mögen es die Verantwortlichen des Moskauer Senders mit den Angaben auch nicht immer genau genommen haben. Bei über 100.000 Wehrmachtssoldaten, die sich nach Stalingrad in russischer Kriegsgefangenschaft befanden, war zudem die Wahrscheinlichkeit, den Namen eines Angehörigen zu vernehmen, einigermaßen gering. Letztlich wurden die Namen keinesfalls vollständig und schon gar nicht allabendlich in Gänze durchgesagt. Das NS-Regime befürchtete nicht zu Unrecht, dass die Namenslisten zu einem ›Einfallstor‹ für weitere Propagandaangebote aus Russland werden könnten. Deshalb forderten Vertreter der Sicherheitsapparate auf unterer Ebene ein, über kursierende ›Feindsender‹-Meldungen informiert zu sein. Im Stalingrad-Kontext machte etwa die unterfränkische SD-Außenstelle Schweinfurt der SDHauptaußenstelle Würzburg am 21. Mai 1943 zum Problem der ausländischen Sender folgenden Vorschlag: »Vielleicht wäre die tägliche Rundfunkschau, besser gesagt, ein Kurzvortrag mit den wichtigsten Feindsendungen, die dabei entkräftet werden, deshalb von grossem Nutzen, als die Überwacher jener übler Zeitgenossen schliesslich doch leichter da und dort zupacken könnten, wenn sie genau wüßten, die oder jene aktuelle Feindsendung tritt in ihrem Arbeitsbereich auf. Sie würden intensiver der Sache nachgehen und hätten schliesslich Erfolg. Liegt die Sache einmal Tage oder gar Wochen zurück, ist eine Spur meist nicht mehr zu verfolgen.«40

Die lokalen Akteure wollten demnach über eine »Rundfunkschau« zu feindlicher Propaganda auf den offiziellen Rundfunkkanälen eine gezielte Gegenaktion in Gang setzen und so die Informationshoheit ein Stück weit zurückerobern. Gerade im lokalen Raum konnten Radio und informelle Kommunikation das Regime offenbar punktuell und situativ unter Druck setzen, wenn in der Mehr39 Vgl. Hans Sarkowicz, Deutsche Emigranten in der Sowjetunion und ihre Arbeit im Rundfunk: Eine journalistische Recherche, in: Carsten Gansel (Hg.), Deutschland / Russland: Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte, Berlin 2020, 235–268, hier 261. Das »Nationalkomitee Freies Deutschland« wurde von deutschen Kriegsgefangenen und Mitgliedern der Exil-KPD in Russland gegründet und diente der sowjetischen Propaganda gegen NaziDeutschland. 40 Staatsarchiv Würzburg (StA Würzburg), Akten der SD-Hauptaußenstelle Würzburg, Nr. 22: Berichte SD-Außenstelle Schweinfurt an die SD-Hauptaußenstelle Würzburg, Lagebericht 21. 5. 1943 (64).

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heitsgesellschaft Informationsangebote kursierten, auf die das Regime zunächst keinen Zugriff hatte. Ein weiteres Beispiel: Bereits im Frühjahr 1942 – noch vor Stalingrad – beschwerte sich der stellvertretende Gauleiter von Magdeburg-Anhalt, Rudolf Trautmann, über das strenge Verbot, ausländische Sender abzuhören, welches eben auch für politische Leitkräfte galt: »Heute ist es doch so, daß weite Kreise des Volkes durch die Abhörer von ausländischen Sendern in kürzester Zeit gewisse Mitteilungen erfahren, die sich die Partei erst mühsam melden lassen muß, um dann – meistens viel zu spät – die Mundpropaganda gegen diese Parolen anzusetzen.«41

Es sei seinem Verständnis nach ein Trugschluss, dass erst durch Abhörgenehmigungen solche Mitteilungen kursieren würden. Stattdessen – so Trautmanns Folgerung und Forderung – müssten die Propagandisten vor Ort zum Abhören der ›Feindsender‹ berechtigt sein. Wie in anderen Fällen gestatteten die Berliner Entscheidungsgewalten auch hier keinerlei erweiterte Genehmigung des Abhörens der Auslandssender. Eine solche war ohnehin nur über den Reichsleiter der Partei-Kanzlei, Martin Bormann, nach einer Bewilligung durch Adolf Hitler, einzuholen.42 Insgesamt war das ›legale‹ Abhören von ›Feindsendern‹ zu diesem Zeitpunkt derart beschränkt, dass nur circa zehn Personen überhaupt die Genehmigung erhalten hatten.43 Allerdings zeigen Forderungen und vorgebrachte Probleme von lokalen SDMitarbeitern sowie von NSDAP-Vertretern auf Gauebene, dass Gerüchte und informelle Kommunikationsstränge, die auf ›feindliche‹ Rundfunkpropaganda zurückzuführen waren, als Gefahr wahrgenommen wurden. In der Folge begannen Vertreter des Sicherheitsapparats und der Propagandastellen subversive Meldungen bzw. Flüsterpropaganda zu sammeln und in Form sogenannter »Gerüchtespiegel« mit beigefügten Entgegnungsparolen an die »Propagandisten der Partei« zu verteilen.44 Diese Gegennarrative sollten auf lokaler Ebene über Mundpropaganda kommuniziert werden. Schriftliche, formelle Kommunikation dagegen wurde nicht genutzt, da der Inhalt zu viel Aufmerksamkeit generiert hätte. Die schriftliche Wiedergabe eines pikanten Gerüchts, etwa in der Tagespresse, versuchte das Regime nicht nur in Krisenzeiten zu vermeiden. Im November 1941 etwa, als NS-Deutschland große 41 Bundesarchiv (BA) NS 18/321, Regest 41631, fol. 062827–062828: Betrifft: Abhören ausländischer Sender durch die Partei, 14. 2. 1942 (Abschrift). 42 Ebd., fol. 062818. 43 Dussel, Hörfunk, 2002, 65. 44 Die »Gerüchtespiegel« finden sich als Hinweis zur Propagandaarbeit etwa im Sonderdienst der Reichspropagandaleitung: Angeführt wurden dort neben einer kurzen Beschreibung des konkreten Gerüchts auch dessen Ursprung sowie – als umfangreichster dritter Punkt – eine zur Mundpropaganda gedachte »Entgegnung« des Informationsangebots.

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Teile Europas unterworfen hatte und sich Adolf Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht befand, wurde nachfolgende »Propagandaparole« in Hinblick auf »Gerüchtebildung und Feindpropaganda« erlassen: »Es wird zweckmäßig sein, schädliche Gerüchte grundsätzlich als vom Feinde auf dem Wege über deutsche Abhörer feindlicher Sendungen verbreitet zu bezeichnen. Selbstverständlich ist auch dies nicht in der Presse, in Flugblättern oder Plakaten, sondern nur in der Mundpropaganda, der internen Information nach unten und in den Stellungnahmen der Redner in geschlossenen oder öffentlichen Versammlungen möglich. Auf diesem Gebiet aber, wo wir freier sind als mit dem gedruckten Wort, muß der entsprechende Vorstoß mit aller Kraft geführt werden.«45

Demnach galt es, explizit jedes Gerücht – also alle anderen Informationsangebote – als Konstrukt der feindlichen Rundfunkpropaganda zu markieren. Das Regime eignete sich die Praktiken in der »Information nach unten« offenbar an, wusste von den Vorteilen des Informellen für die Mundpropaganda. Zweifelsohne ging es dabei eher um die Form als um den Inhalt: Die Stoßrichtungen ihrer Entgegnungen entsprachen den formellen Kriterien der nationalsozialistischen Programmatik, kommuniziert wurden sie jedoch bewusst unabhängig vom gedruckten Wort. Schon die schriftliche Wiedergabe eines Gerüchts, zum Beispiel in der Lokalpresse, konnte schließlich zu dessen Verbreitung beitragen. Die konkrete Tatsachenebene durch Gegennarrative sollte stattdessen nur in der Mundpropaganda – wo man scheinbar freier agieren konnte – behandelt werden.

Resümee und Ausblick Das Abhören der ›Feindsender‹ und damit verbundene Praktiken der informellen Kommunikation verweisen auf Dynamiken in der Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -verbreitung in der deutschen Kriegsgesellschaft. ›Hearing‹ wurde im Falle der Namenslisten, die im Programm des sowjetischen Senders verlesen wurden, vor allem deshalb zu ›Believing‹, weil es mit einem menschlichen Bedürfnis einherging – dem Wissen um das Schicksal von Angehörigen. Dieses Bedürfnis konnte das Regime nicht befriedigen. Stattdessen eröffneten die Bedingungen von Kommunikation in Krieg und Diktatur erst einen Raum, der von Akteur*innen in der Mehrheitsgesellschaft mit informellen Dynamiken besetzt werden konnte, etwa wenn diese sich die Informationen aneigneten und in anonymen Briefen durch das gesamte Reich weitertrugen. Die »Tankenden« und »Getankten« aus dem Tagebuch von Anna Haag waren häufig mehr als das eine oder das andere. Sie waren keine bloßen Objekte; wer 45 BA NS 18/321, Regest 41631, fol. 062835–062842: Propagandaparole Nr. 2 des Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, November 1942.

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Informationen tankte, konnte mit einem Wissensvorsprung agieren und neue Informationen preisgeben. Die subjektive Eigensinnigkeit der Menschen belegt kommunikatives Handeln als eine Deutungsmacht von Informationen im konkret besetzten Raum. Dessen war sich auch das Regime bewusst und markierte nicht nur das Verhalten der Menschen als »Gerüchtemacherei«, es kriminalisierte diese Praktik auch. Das Regime eignete sich die Dynamiken schließlich selbst in der Mundpropaganda an, versuchte sogar gezielt, die ›Gerüchtemacherei‹ zu nutzen. Nationalsozialistische Akteure forderten dazu auch ein, die Rundfunkpropaganda des Feindes selbst abhören zu dürfen, um vor Ort, im lokalen Raum, handlungsfähig gegenüber Informationsvorsprüngen in der Mehrheitsgesellschaft zu bleiben. Lokale Dynamiken weisen dabei auch auf die Prekarität, Fragilität und Zufälligkeit der Informationen, aber auch auf ›Fake News‹ und Desinformationskampagnen sowie nicht zuletzt auf die Funktion des ›Volksempfängers‹ selbst hin: Die technischen Möglichkeiten des Geräts eröffneten erst die Ambivalenzen in seiner mannigfaltigen Nutzung zwischen »Tankenden« und »Getankten«. Wie bei der informellen Kommunikation wirkte die dynamische und reziproke Nutzung ›von oben‹ wie ›von unten‹ dabei in vielen Schattierungen und Formen jenseits dichotomischer Zuschreibungen.

Florian-Jan Ostrowski

Zwischen Information und Propaganda. Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege im österreichischen Rundfunk der 1920er- und 1930er-Jahre

Einleitung1 In Hinblick auf Rundfunk und Propaganda zählen Archäologie, Urgeschichte, und Bodendenkmalpflege vermutlich nicht zu den ersten Assoziationen. Dabei besteht die Verbindung zwischen materiellen Überresten, Medien und politischen Interessen seit den Anfängen der archäologischen Forschung.2 Vor allem seit der verstärkten Gründung von Nationalstaaten, dem gestiegenen Interesse an Urgeschichte sowie der Institutionalisierung der Archäologie im 19. Jahrhundert wurden archäologische Forschungen medial dazu benutzt, Identitäten auszubilden, zu verstärken und abzusichern.3 Nicht selten wurden dazu archäologische Funde in Nationalmuseen ausgestellt, die Auffindungsorte selbst zu bedeutsamen Stätten gemacht und archäologische Interpretationen zur Argumentation für Gebietsansprüche sowie kulturelle und religiöse Hegemonie herangezogen.4 Neben dem Naheverhältnis der Archäologie5 zur Politik besitzt diese auch eine Affinität zu technisch-innovativen Medien, welche zeitnah in den eigenen Methoden- und Darstellungskanon integriert werden, angefangen von Kupfersti1 Ich danke Karin Moser dafür, dass sie es mir ermöglicht hat, an der Tagung Hearing is Believing teilzunehmen, der Österreichischen Nationalbibliothek für die Bereitstellung der Digitalisate sowie Paulina Petri und Wolf Harranth vom Dokumentationsarchiv Funk für ihre Unterstützung bei der Recherche. 2 Timothy Clack/Marcus Brittain (Hg.), Archaeology and the Media, London/New York 2016, 11f. 3 Siehe u. a. Yannis Hamilakis, The Nation and its Ruins. Antiquity, Archaeology and National Imagination in Greece, Oxford/New York 2007; Margarita Díaz-Andreu, A World History of Nineteenth-Century Archaeology. Nationalism, Colonialism, and the Past, Oxford/New York 2007. 4 Philip L. Kohl/Mara Kozelsky/Nachman Ben-Yehuda (Hg.), Selective Remembrances: Archaeology in the Construction, Commemoration, and Consecration of National Pasts, Chicago 2007, 12. 5 Die Archäologie als Disziplin hat keinen Subjektstatus. Wird hier über Archäologie geschrieben, so sind immer die Archäolog*innen und deren Praktiken dahinter zu verstehen.

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chen, Lithografien und Zeichnungen über Zeitungen und Fotografien bis hin zu Bodenradar, Geomagnetik, 3-D-Modellierung und Laserscan. Medien sind somit kulturelle Produkte, welche Sinnangebote liefern und deren Bedeutung im Gebrauch liegt.6 Sie übernehmen bestimmte individuelle Funktionen, welche dabei helfen, die Distanz zwischen Subjekt und Alterität zu verkleinern.7 Sowohl das Sammeln von archäologischen Daten als auch deren Interpretation und Präsentation erfordert Medialisierungen und Medien, weshalb Archäologie nicht außerhalb einer Medienkultur, deren Produktion und Nutzung sowie der Bedeutungszuschreibung einer Zeit stattfinden kann.8 Unter der Voraussetzung, dass Archäologie politisch ist – oder das Potenzial hat, politisch zu sein9 – und innerhalb einer Medienkultur stattfindet, überrascht die hier thematisierte Verbindung zwischen Archäologie, Propaganda und Rundfunk etwas weniger.10 Am Beispiel der ersten österreichischen Rundfunkgesellschaft, der Radio-Verkehrs-AG (RAVAG), sollen in diesem Beitrag archäologische Radioprogramme und deren politische Instrumentalisierung in den 1920er- und 1930er-Jahren herausgearbeitet werden. Konkreter gesagt, werden anhand einer systematischen Durchsicht der digitalisierten Bestände11 des Wochenblatts Radio Wien im Zeitraum 1924–1941, von der Gründung des Senders bis zur kriegsbedingten Einstellung der Programmschrift, die medialen Beziehungen zwischen archäologischer Forschung und Rundfunk in den Mittelpunkt gestellt. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, welche (politische) Rolle Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege in den Radioprogrammen der RAVAG der 1920er- und 1930er-Jahre spielten. Während Archäologie allgemein versucht, mithilfe materieller Überreste, die in einen Bezug zum Auffindungsort gesetzt werden, Vergangenheitsbilder in der Gegenwart herzustellen, bezeichnet die Urgeschichte eine (größtenteils) schriftlose Episode. Mit der Bodendenkmalpflege ist wiederum der ideologische 6 Stefan Zahlmann, Tiere und Medien, in: Gesine Krüger/Aline Steinbrecher/Clemens Wischermann (Hg.), Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, 153– 170, hier 157. 7 Ebd., Tiere und Geschichte, 2014, 154. 8 Andreas Hepp, Medienkultur. Medien – Kultur – Kommunikation, Wiesbaden 2013, 66. Siehe auch: Stefan Zahlmann, Die Wirklichkeit der Steine. Eine essayistische Einleitung, Weitra 2021, 28. 9 Randall H. McGuire, Archaeology as Political Action, Berkeley/Los Angeles/London 2008, 2; Bruce G. Trigger, Alternative Archaeologies: Nationalist, Colonialist, Imperialist, in: Man, New Series 19/3 (1984), 355–370. 10 Allerdings ist diese Beziehung bislang kaum erforscht. Eine Ausnahme davon: Åsa Gillberg, Archaeology on the Air. Radio and archaeology in Sweden 1925–1950, in: Current Swedish Archaeology 14 (2006), 25–45. 11 Die Durchsicht erfolgte sowohl über das Zeitschriftenportal ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) als auch beim Dokumentationsarchiv Funk. Siehe: https://anno. onb.ac.at/ (10. 11. 2021); http://www.dokufunk.org/ (10. 11. 2021).

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Rahmen des Bewahrens gemeint. Es wurden nur jene verschriftlichten und illustrierten Radiobeiträge aus der wöchentlichen Programmschrift Radio Wien in die Untersuchung aufgenommen, bei welchen zumindest einer der drei Punkte (Archäologie als Wissenschaft/Methode, Urgeschichte als Periode, Bewahrung als Ideologie) im Zentrum stand. Im ersten Teil des Beitrags beschreibe ich das Konzept der »Kulturkreislehre« und deren Instrumentalisierung für die NSIdeologie. Im zweiten Teil thematisiere ich den Stellenwert des wissenschaftlichen Programms für die RAVAG und gehe auf die Programmzeitschrift Radio Wien als Quelle ein, während ich im dritten Teil die archäologischen Sendeformate, deren Inhalte und Narrative im österreichischen Rundfunk der Zwischenkriegszeit untersuche.

Von der »Kulturkreislehre« zu Archäologie als Propagandamittel Archäologie als wissenschaftliche Disziplin ist aus der Kunstbetrachtung von antiken Gegenständen und Antiquitätenliebhaberei hervorgegangen und war anfänglich auf wenige Gelehrte und Adelige beschränkt. Erst mit dem verstärkten Aufkommen nationalistischer Bestrebungen im 19. Jahrhundert wurde das Interesse des Bildungsbürgertums an (prähistorischer) Archäologie geweckt.12 Mit der Entdeckung der eigenen Urgeschichte und der durch naturwissenschaftliche Fächer beeinflussten Ordnung der Funde und Befunde in ein Dreiperiodensystem (Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit) kam ein lineares kulturelles Entwicklungsdenken auf,13 welches durch die selektive Evolutionstheorie von Charles Darwin (1859) noch verstärkt wurde.14 Mit der Verlagerung des archäologischen Interesses von einzelnen antiken Kunstwerken und Objekten auf prähistorische Siedlungen, Objektgruppen und die kulturelle Entwicklung des Menschen entstand auch die sogenannte »Kulturkreislehre«, welche durch eine Kette von Kausalbeziehungen gekennzeichnet ist und oft mit dem Berliner Prähistoriker Gustav Kossinna (1858–1931) assoziiert wird.15 Demnach werden einzelne Objekte auf ihre Charakteristika hin 12 Franz Georg Maier, Archäologie und moderne Welt, in: Bernard Andreae (Hg.), Archäologie und Gesellschaft. Forschung und öffentliches Interesse, Stuttgart 1981, 31–44. 13 Judith Rodden, The Development of the Three Age System: Archaeology’s First Paradigm, in: Glyn Daniel (Hg.): Towards the History of Archaeology. Being the papers read at the first Conference on the History of Archaeology in Aarhus, 29 August–2 September 1978, London 1981, 51–68. 14 Vere Gordon Childe, The Significance of the Lake Dwellings in the History of Prehistory, in: Sibrium 2 (1955), 87–91, hier 90. 15 Kossinna hat diese Lehre mitentwickelt und populär gemacht, wobei er auf die Germanen fokussierte. Siehe: Joachim Rehork, Sie fanden, was sie kannten. Archäologie als Spiegel der Neuzeit, Ismaning bei München 1987, 130f. Dieser Ansatz fand besonders im deutschspra-

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untersucht und in Objektgruppen erfasst. Diese werden als typische Kennzeichen von Siedlungen verstanden. Einzelne Siedlungen wiederum werden zu verschiedenen (archäologischen) »Kulturkreisen« zusammengefasst, wobei letztendlich jede Kultur mit einer bestimmten Ethnizität verbunden werden kann.16 Unter diesen Prämissen wurden anhand von zeitlichen Abfolgen und räumlichen Ausdehnungen von Objekten kulturelle Hierarchien erstellt. Neben dem Problem einer ethnischen Identifizierung von archäologischen Spuren konnte man mittels der »Kulturkreislehre« Veränderungen nur mehr über Diffusion, Migration oder Invasion erklären.17 Diese Art der Zuordnung und Deutung hat völkischen, nationalistischen und rassistischen Ansichten Vorschub geleistet bzw. diese auch mitgetragen.18 Spätestens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden ethnologische und archäologische Konzepte von Volk und Kultur mit dem biologischen Konzept der ›Rasse‹ vermischt,19 was sich insbesondere in der NS-Ideologie manifestierte. Abstruse Rassenideologien sollten Herrschaftskonzepte legitimieren, wobei den Germanen eine zentrale Rolle zufiel.20 Die Machtansprüche der Nationalsozialisten sollten unter anderem mit der Darstellung der Germanen als ›Zivilisationsbringer‹ auch archäologisch untermauert werden.21 Die prähisto-

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chigen Raum großen Widerhall und wurde in der Zwischenkriegszeit auch als »Wiener Schule« der kulturhistorischen Völkerkunde bekannt, welcher durch Vertreter eines politischen Katholizismus verbreitet wurde und speziell auch mit den Personen Wilhelm Schmidt (1868–1954) und Wilhelm Koppers (1886–1961) sowie der von ihnen mitbegründeten Zeitschrift Anthropos verbunden wird. Siehe: Brigitte Fuchs, »Urkultur«, Ständestaat und katholischer Universalismus: Die »Wiener Schule der kulturhistorischen Völkerkunde«, unveröffentlichtes Manuskript (2002). Online abrufbar unter: https://www.researchgate.net/pu blication/269688242_Urkultur_Standestaat_und_katholischer_Universalismus_Die_Wiener _Schule_der_kulturhistorischen_Volkerkunde (10. 11. 2021). »Der leitende Gesichtspunkt […] ist folgender: scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen.« Gustav Kossinna, Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchäologie, Leipzig 1920 (Nachdruck von 1911), 3. Ingo Wiwjorra, German Archaeology and its Relation to Nationalism and Racism, in: Margarita Díaz-Andreu/Timothy Champion (Hg.), Nationalism and Archaeology in Europe, Boulder/San Francisco 1996, 164–188, hier 174. Gerade dieser diffusionistische und mit einem linearen, teleologischen Entwicklungsmodell verbundene Ansatz wird heutzutage wieder verstärkt in rechten politischen Diskursen instrumentalisiert. Siehe: https://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/einfpropaedksa/einfp ropaedksa-40.html (10. 11. 2021). Wiwjorra, German Archaeology, 169. W. J. McCann, ›Volk und Germanentum‹: the Presentation of the Past in Nazi Germany, in: Peter Gathercole/David Lowenthal (Hg.), The Politics of the Past, London/New York 2004, 74–88, hier 74. Die Rolle der Germanen wurde allerdings in der NS-Führung auch kontrovers diskutiert. Dazu: Bettina Arnold, The Past as Propaganda: Totalitarian Archaeology in Nazi Germany, in: Antiquity 64/244 (1990), 464–478.

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rische Archäologie und deren Ergebnisse wurden so zu Werkzeugen der NSIdeologie umfunktioniert. Archäologische Forschung wurde für Propagandazwecke missbraucht, was auch im Medium Rundfunk seinen Niederschlag fand.22 So fand im österreichischen Rundfunk Archäologie im Rahmen des wissenschaftlichen Programms der RAVAG statt. Daher sollen im folgenden Teil die Entwicklung und der Stellenwert dieses Programms aufgezeigt werden, wobei die Programmzeitschrift Radio Wien als Quelle dient.

Radio als geplantes Bildungserlebnis? In der Festschrift zum einjährigen Jubiläum der RAVAG 1925 beschreibt Leopold Richtera (1887–1930), der damalige wissenschaftliche Leiter des Senders, dass der populär-wissenschaftliche Rundspruch ein wesentlicher Bestandteil des Radioprogramms sei, da »die technische Errungenschaft des Radiowesens vor allem in den Dienst kultureller Aufgaben zu stellen ist«.23 Richtera sah den Rundfunk im Dienst von Volksaufklärung, Bildung und Vermittlung von praktischem Wissen und sprach selbst von einer »Radiovolkshochschule«, bei der dem gesprochenen Wort (sowohl dem inhaltlichen Stoff als auch der darstellenden Form) und der Persönlichkeit des Sprechers eine entscheidende Rolle zukam. Bei der Auswahl des populärwissenschaftlichen Programms (vor allem Vorträge, Dialoge, Interviews, Vorführungen, Ausstellungen) sollten die verschiedenen Altersstufen, Bildungsgrade und Interessen der Zuhörer*innen berücksichtigt werden, um möglichst alle ansprechen und erreichen zu können.24 Der Rundspruch, wie er damals hieß, sollte dem Leben von Nutzen sein.25 Zumindest in den ersten Jahren sah sich die RAVAG nicht nur als Förderer und Vermittler von Bildung und Wissen, sondern auch als Träger und Verkünder österreichischer Werte und Kultur nach innen und außen. Die historischen und gegenwärtigen Errungenschaften Österreichs sollten vorgestellt, die landschaft-

22 Für die ideologische Vereinnahmung der Germanen im Bereich Film siehe: Tom Stern, ›Könnte Muttererde eindringlicher zu uns sprechen?‹ Spurensuche im archäologischen Film, in: Peter Zimmermann/Kay Hoffmann (Hg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Bd. 3, ›Drittes Reich‹ 1933–1945, Stuttgart 2005, 367–375. 23 Leopold Richtera, Der wissenschaftliche Rundspruch der Ravag, in: Radio Wien, 1. 10. 1925, 15. 24 Ebd., 16. 25 »Möge das grandiose Werkzeug des Rundspruchs seiner idealen Aufgabe gerecht werden, Erkenntnisse und Leistungen des Menschengeistes hinauszutragen bis ins fernste Alpental, Verständnis wecken für alles Große, was Gelehrte und Künstler erdacht und erarbeitet und mit Wissen ausrüsten für den Lebenskampf.« Radio Wien, 1. 10. 1925, 16.

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lichen Schönheiten tourismustauglich präsentiert werden.26 Zusätzlich wollte man mit ›nationalen Abenden‹ und internationalen Programmen zur Völkerverständigung beitragen: »Die ›Ravag‹ sieht sich vor eine dreifache Aufgabe gestellt: zu bilden und zu belehren, zu unterhalten und im Ausland für das geistige und kulturelle Niveau des heutigen Oesterreich und seiner Bewohner Propaganda zu machen.«27 Als langfristiges Ziel wurde die Verwirklichung eines »Weltrundfunks« ausgegeben. Bereits mit der Einführung eines »Wandermikrophons«,28 mobilen Übertragungswägen und der Einführung des Live-Radios gegen Ende der 1920er-Jahre kam eine neue Themenvielfalt auf. Mit der Errichtung des autoritären ›Ständestaats‹, den Februarkämpfen und dem Putschversuch der Nationalsozialisten im Frühjahr 1934 wurde der Rundfunk – propagandistisch instrumentalisiert – zu einem politisch konformen, tagesaktuellen Berichterstatter, zu einem ›staatlichen Erziehungsmittel‹, das Heimat, Volkstum und Vaterlandsliebe ins Zentrum stellte.29 Egal, ob Unterhaltung, Aufklärung, Bildung, Belehrung oder (Um-)Erziehung – Radiohören in den 1920er- und 1930er-Jahren wurde von den Rundfunkmacher*innen als geplantes Ereignis verstanden. So erklärte der Direktor der Programmabteilung der RAVAG, Erich Kunsti (1881–1955), dass die Sendungen einen Planungsvorlauf hatten, dass Verträge mit Künstler*innen geschlossen wurden und dass auch die Hörer*innen eine gewisse Programmsicherheit erwarteten, denn diese »haben ihre Zeit für bestimmte Sendungen freigehalten, sie haben vielleicht eine andere Unterhaltung abgesagt, um die erwünschte Sendung zu hören«.30 Auf dieser Vorstellung basierte letztlich auch die ab Herbst 1925 wöchentlich erscheinende Programmzeitschrift Radio Wien. Was als einfache Programmübersicht begann, wurde schnell mit Karikaturen und Skizzen erweitert und insgesamt zu einer illustrierten Ergänzung des Rundfunks. Die Zeitschrift diente der besseren Planbarkeit, sollte Vorfreude und Neugierde auf das Hörerlebnis 26 Wilhelm Wolf, der wissenschaftliche Programmleiter der RAVAG, bezeichnete Radio Wien auf der Tagung des Programmausschusses der Deutschen Rundfunkgesellschaften 1930 in Wien als »österreichischen Spiegel von Natur und Kultur«, welcher das »österreichische Antlitz in der Welt« repräsentiere und Hörbares aus Österreich wiedergibt. Siehe: Radio Wien, 19. 9. 1930, 6–7. 27 Jahresbericht der Österreichischen Radioverkehrs A.G. 1925, Wien 1926, 7. 28 Damit ist die Auslagerung des Radiogeschehens vom unbeweglichen Studio hinaus auf die Straße mit mobilen Reportern gemeint. 29 Zur Rolle der RAVAG im Austrofaschismus siehe: Karin Moser, »Mit Rücksicht auf die Notwendigkeiten des Staates …« Autoritäre Propaganda und mediale Repression im austrofaschistischen »Ständestaat«, in: Matthias Karmasin/Christian Oggolder (Hg.), Österreichische Mediengeschichte, Bd. 2: Von Massenmedien zu sozialen Medien (1918 bis heute), Wiesbaden 2019, 37–59. 30 Erich Kunsti, Programmsorgen, in: Mikrophon Almanach. Das Magazin für den Rundfunkhörer 1 (1934), 3.

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wecken, aber auch das Gehörte besser verständlich und nachvollziehbarer machen.31 Gut vorstellbar, dass bei manchen Programmpunkten das Radiohören sogar mit dem Lesen oder Betrachten der Programmzeitschrift verbunden wurde.32 Letztlich sollte – so der damalige Chefredakteur der Zeitschrift (Paul Bellak, 1891–1975) – das Blatt Radio Wien alles bringen, was das Radio selbst nicht bereitstellen kann und dabei »Helfer und Berater der Radioteilnehmer«33 sein. Die Wochenprogramme der Zeitschrift Radio Wien wurden unterteilt in einen musikalischen, literarischen, (populär-)wissenschaftlichen und technischen Teil. Zusätzlich bot das Blatt den Leser*innen Sprachkurse,34 Bastelanleitungen, Turnübungen, Schachzüge und später auch Kochrezepte an. Ganz dem Gedanken des Weltrundfunks verpflichtet, fanden sich neben den Programmen der heimischen Sender35 auch jene anderer europäischer Länder. Während im technischen Teil Anleitungen und Erklärungen vor allem zur Rundfunktechnik und zum Amateurradio preisgegeben wurden, standen im musikalischen Teil die zu hörende Musik, Komponisten, Liedtexte, Partituren und musikalische Anekdoten im Vordergrund. Im literarischen Teil widmete man sich Hörspielen, Lesungen, Theaterstücken sowie Schriftsteller*innen und deren Werken. Im wissenschaftlichen Teil wurden Expert*innen-Vorträge unterschiedlicher Disziplinen, Ausstellungen und Reiseberichte mit zahlreichen Illustrationen vorangekündigt und inhaltlich zusammengefasst. Das Spektrum reichte etwa von Berichten über Erste Hilfe bei Krampfanfällen, über Säuglingsernährung, Wohnungsnot über Reiseberichte aus Amerika und der Südsee bis zu Reportagen über Mödling oder Purkersdorf bei Wien. Neben Radio Wien widmeten sich auch andere Zeitschriften – wie etwa die Radiowelt, die Radio-Woche, der Mikrophon Almanach oder das Radio-Bild – dem neuen Phänomen Rundfunk. Allerdings bot Radio Wien durch die wö31 Kurzfassungen von Vorträgen erschienen zuerst nach der Ausstrahlung des Beitrags, später wurden diese vorab abgedruckt. 32 So z. B. bei Vorträgen, um die dazugehörigen Bilder zu begutachten, bei Sprachkursen, bei Turnübungen oder Bastelanleitungen. Im September 1933 kann man in der Zeitschrift Sätze wie »Rundfunk und Zeitschrift sind untrennbar verbunden« oder »Wo der Lautsprecher steht, liegt auch unser Blatt« lesen. Radio Wien, 22. 9. 1933, 3. 33 Radio Wien, 27. 9. 1929, 52. 34 Zunächst gab es vor allem Sprachkurse für Englisch und Esperanto. Andere Sprachen – wie Spanisch, Italienisch oder Serbokroatisch – folgten. 35 Nach infrastrukturellen Aufbauarbeiten wurden weitere Sender in Betrieb genommen, u. a. Graz (1925), Klagenfurt (1926), Innsbruck (1927), Linz (1928), Salzburg (1930). Der Sender Radio Wien hatte allerdings nicht nur die meisten Rundspruchteilnehmer*innen zu verzeichnen, er lieferte auch einen Großteil des Programms für die anderen Sendestationen in Österreich. Siehe: Wolfgang Pensold, Auf rot-weiß-roter Welle. Eine Geschichte des österreichischen Rundfunks, in: Karmasin/Oggolder (Hg.), Österreichische Mediengeschichte, 2019, 151–173, hier 153.

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chentliche, durchgehende und direkte Herausgabe durch die RAVAG den besten Überblick über die Programmvielfalt des Senders und die Welt des Rundfunks der 1920er- und 1930er- Jahre aus österreichischer Sicht. Trotzdem hatte die Zeitschrift keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mit Ausnahme der Leserbriefe kann kaum etwas über die unmittelbare Hörerfahrung und die Wirkung des Radios in der Zeit erfahren werden. Auch sind die überlieferten Kurzfassungen der (archäologischen) Vorträge keine Manuskripte und daher nicht identisch mit dem tatsächlich Gehörten oder Gesendetem. Trotz dieser Einschränkung kann Radio Wien als Quelle genutzt werden, um einen ersten Blick auf die Präsentation archäologischer Themen und deren propagandistisches Potenzial zu richten.

Archäologie und Rundfunk in den 1920er- und 1930er-Jahren am Beispiel RAVAG Wenige Wochen nachdem der Sender Radio Wien im Oktober 1924 seinen Betrieb aufgenommen hatte, war der erste wissenschaftliche Vortrag mit archäologischem Hintergrund zu hören. Als Vortragender fungierte der Prähistoriker, Militärhistoriker und Regierungsrat Ernst Nischer-Falkenhof (1879–1961), welcher am Abend des 15. Dezembers 1924 von 18 bis 18:30 Uhr über das »Römische Leben in Wien«36 und wenig später im Jänner 1925 über »Römische Baudenkmäler in Österreich«37 referierte – dann allerdings eine ganze Stunde lang. Hier zeigen sich bereits einige Präsentationskontexte, die für diese Frühphase kennzeichnend waren. Erstens: Der klassische Vortrag (sprich Vorlesung) war die häufigste Form, über die das Radiopublikum mit archäologischen Themen in Berührung kam, wobei auf die Veranschaulichung des Gesagten durch illustrierte Beiträge in Radio Wien besonders viel Wert gelegt wurde.38 Zweitens: Die Vortragenden waren in Hinblick auf Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege gemäß den Vorgaben der RAVAG fast immer männliche Personen mit Expertise (Fachleute, Akademiker),39 welche sich aus diversen Instituten mit einer Nähe zur Archäologie rekrutierten.40 Drittens: Der wissenschaftliche und 36 37 38 39

Radio Wien, 20. 12. 1924, 2. Radio Wien, 17. 1. 1925, 5. 3. Jahresbericht der Österreichischen Radioverkehrs A.G. 1927/1928, Wien 1928, 5. »Wo nur irgend möglich, sollen jene Männer zu Worte kommen, die auf ihrem Spezialgebiete die zuständigsten Führer sind, so daß der Vortrag schon durch das Gewicht des Namens des Vortragenden in jedem Zuhörer Ueberzeugung erweckt, autoritative Aufklärung zu erhalten.« In: Jahresbericht der Österreichischen Radioverkehrs A.G. 1925, Wien 1926, 8. 40 Dazu zählten das Urgeschichtliche Institut an der Universität Wien, das Österreichische Archäologische Institut an der Akademie der Wissenschaften, das Naturhistorische Museum in Wien, das Niederösterreichische und das Burgenländische Landesmuseum, Mitarbeiter aus dem Umfeld des Bundesdenkmalamts sowie bekannte Ethnologen, Historiker und Ar-

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somit auch archäologische Vortrag fand – zumindest in den ersten Jahren – stets am Abend statt und war Bestandteil des Hauptabendprogramms. Aber welche Personen hatten überhaupt ein Radioempfangsgerät und konnten daher bei archäologischen Vorträgen zuhören? Auskunft darüber erteilte eine Studie, die 1932 von der RAVAG in Auftrag gegeben wurde, wobei sowohl das Beschäftigungsverhältnis als auch das Alter der Rundspruchteilnehmer*innen in Wien erhoben wurden.41 Folgt man dieser Auflistung, so hörten in Wien im Jahr 1932 überwiegend Menschen mittleren oder höheren Alters Radio. Sie waren meist berufstätig und konnten sich ein Radiogerät sowie die Teilnahmegebühr leisten. Wer genau zuhörte und ob die Inhalte auch verstanden wurden, ist der Programmzeitschrift Radio Wien natürlich nicht zu entnehmen.42 Trotz des Vorlesungscharakters und der Schwierigkeit, materielle Überreste über Sprache und Bilder näherzubringen,43 dürfte das Interesse an archäologischen Themen groß gewesen sein.44 Das war allerdings im Rundfunk nicht von Anfang an so. Fritz Geschwendt (1892–1981), 1932 am Landesamt für Denkmalpflege in Breslau tätig, erkannte im Rundfunk die Möglichkeit, über Denkmalschutz, Museumsarbeit und die Forschungsarbeit diverser Institutionen aufzuklären.45 Zugleich beschwerte er sich aber darüber, dass die Urgeschichte

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chäologen. Besonders aktiv im Rundfunk waren z. B. Richard Pittioni (1906–1985) und Alfons Barb (1901–1979). Demnach waren bei den Hörern 19,5 % Arbeiter, 20,5 % kleine Angestellte und Beamte, 16,5 % mittlere Angestellte und Beamte, 12,5 % höhere Angestellte, Beamte und frei Berufstätige, 11,5 % Gewerbetreibende und Kaufleute. Etwas weniger Rundfunkteilnehmer fanden sich bei den Schülern und Studenten (6 %), Pensionisten (9,5 %) und Sonstigen (4 %). Bei den Hörerinnen überwogen dagegen die Hausfrauen (56 %), gefolgt von den Beamtinnen und Angestellten (18,5 %), den Arbeiterinnen (9 %), den Hausgehilfinnen und Mägden (7 %). Nur wenige Rundfunkteilnehmerinnen gab es bei Frauen, die in freien Berufen tätig waren (3 %), bei Schülerinnen und Studentinnen (2 %), Gewerbetreibenden (2 %) und Sonstigen (1 %). In Hinblick auf Altersgruppe bildeten bei den Männern die 31–50-jährigen (41,5 %) sowie die über 50-jährigen (29 %) den größten Anteil. Auch bei den Frauen fand sich die größte Gruppe bei den die 31–50-jährigen (46 %) und den über 50-jährigen (24,5 %). Dazu: 7. Tätigkeitsbericht der Österreichischen Radioverkehrs A.G. 1932, Wien 1933, 4. In der Zeitschrift Radio Wien wurde immer wieder gefordert, den reinen Vortragsstil zu verlassen, um den Hörer*innen eine lebhafte und anschauliche Teilnahme zu ermöglichen. Radio Wien, 19. 9. 1930, 7. »Es wird von einem unsichtbaren Redner von nicht sichtbaren oder nur schwer vorstellbaren Dingen gesprochen.« Deshalb forderte Fritz Geschwendt die größtmögliche Bildlichkeit der Sprache. Fritz Geschwendt, Urgeschichte und Rundfunk, in: Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit, 11 (1932), 179–183. 1933 nahm der Punkt »Geschichte, Kunstgeschichte, Länder-, Völkerkunde und Archäologie« mit 93 Einzelvorträgen einen Spitzenplatz ein. Nur »allgemeine Ankündigungen und Vorträge aus besonderen Anlässen« (123 Einzelvorträge) sowie »Sport, Turnen und Spiel« (113 Einzelvorträge) wurden öfter dargeboten. Im Gegensatz dazu hatte der Bereich »Naturwissenschaft« im selben Zeitraum 62 Einzelvorträge. Siehe: Radio Wien, 25. 5. 1934, 1. Geschwendt, Urgeschichte und Rundfunk, 1932, 179.

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sowie archäologische und denkmalpflegerische Anliegen zu selten thematisiert werden, da der Sender nur ins Programm nehme, was bereits öffentliches Interesse geweckt habe.46 In der zum österreichischen Rundfunk dazugehörigen Programmzeitschrift Radio Wien finden sich archäologische Beiträge entweder als kurze Programmmeldung mit schriftlicher Zusammenfassung, als Ankündigung mit Bildern oder als Bericht mit Illustrationen. Neben den Einzelvorträgen mit einer Länge von 15 bis 60 Minuten kamen archäologische Inhalte auch in Verbindung mit anderen thematischen Schwerpunkten wie Kunstgeschichte oder Völkerkunde,47 bei der Besprechung von Ausflugszielen und Exkursionen,48 als Teil von Reisevorträgen49 oder als Hinweis auf eine Ausstellung50 vor. Jedoch fast immer liefen archäologische Beiträge über den reichweitenstärksten Sender Wien.51 Archäologische Themen blieben in den 1920er-Jahre in der RAVAG zwar eine Randerscheinung, sie fanden aber durchaus Anklang. Ab 1930 wurden schließlich auch archäologische Serien und Rundfunkreihen gestaltet.52 Ab diesem Zeitpunkt häuften sich die archäologischen Beiträge. Sie erschienen im Radioprogramm phasenweise mehrmals im Monat oder sogar wöchentlich. Auch in wissenschaftlichen Serien (z. B. »Wissenschaftlicher Zeitbericht«,53 »Wissen der 46 Ebd., 179. 47 Altsteinzeitliche Felsmalereien sowie die sogenannte »Venus von Willendorf« werden z. B. durch Hans Tietze bei seinem »kunstgeschichtlichen Kurs« thematisiert. Radio Wien, 2. 10. 1925, 12. 48 So wurde z. B. die römische Stadt Carnuntum im heutigen Niederösterreich aufgrund ihrer zahlreichen archäologischen Überreste mehrmals als Ausflugsziel mit anschließender Exkursion besprochen. Siehe: Radio Wien, 9. 9. 1927, 2236 und Ergänzungsbilder; Radio Wien, 10. 6. 1932, 13. 49 »Malta und seine Steinzeittempel« von Hans Huebmer. Radio Wien, 11. 8. 1933, 12. 50 Als im Kunsthistorischen Museum in Wien eine Ausstellung über »Eurasiatische Kunst« eröffnet wurde, gab es u. a. einen Beitrag von Franz Hancˇar über »Prähistorische Bergvölkerkunst aus Kaukasien und Luristan«. Radio Wien, 7. 12. 1934, 9. 51 Einer der wenigen regional gesendeten Beiträge war etwa die von Karl Friedl gestaltete Sendung über den »Vorgeschichtlichen Menschen in der Steiermark« für den Grazer Sender. Radio Wien, 10. 4. 1931, 19. 52 Die erste archäologische Reihe wurde aus Anlass der Neuaufstellung des Saals XIV im Naturhistorischen Museum in Wien gestartet und mit »Lebensbilder aus der Urgeschichte der Menschheit« betitelt. Sie umfasste insgesamt sechs Vorträge: I. »Urgeschichte, Rassen- und Völkerkunde (Die drei Komponenten der Universal-Geschichte der Menschheit)«; II. »Die Rassen der Urzeit«; III. »Die Bärenjäger. Ein Lebensbild der Älteren Steinzeit«; IV. »Die eiszeitlichen Wandmalereien«; V. »Die Pfahlbauer. Ein Lebensbild aus der jüngeren Steinzeit«; VI. »Ein vorgeschichtliches Salzbergwerk. Ein Lebensbild aus der älteren Eisenzeit«. Zu den Vorträgen fanden auch Führungen im Museum und in der Sammlung des Urgeschichtlichen Instituts an der Universität Wien statt. Dazu: Radio Wien, 28. 3. 1930, 18; Radio Wien, 4. 4. 1930, 21; Radio Wien, 18. 4. 1930, 27; Radio Wien, 25. 4. 1930, 23; Radio Wien, 2. 5. 1930, 23; Radio Wien, 9. 5. 1930, 32. 53 Hans Reinerth sprach über »Bodensee-Pfahlbauten. Neue Methoden und Ergebnisse der Ausgrabungen«. Radio Wien, 10. 10. 1930, 21.

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Abb. 1: Bilder zum Vortrag von Karl Holey am 16. Mai 1927 über die »Ergebnisse der österreichischen Ausgrabungen in Ägypten« in der Programmzeitschrift Radio Wien vom 13. Mai 1927

Zeit«,54 »Junge Wissenschaftler berichten«,55 »Spitzenleistungen der Wissenschaft in Österreich«56) wurde Archäologie zu einem Fixpunkt im österreichischen Rundfunk. Diese Verdichtung archäologischer Inhalte gipfelte ab 1935 in einer kurzen, zehnminütigen »Urgeschichtlichen Rundschau«57. Zudem fanden sich ab Mai 1931 archäologische Beiträge auch am Wochenende vormittags58 sowie unter der Woche am frühen Nachmittag im Rahmen einer »Jugendstunde«.59 Man versuchte also bewusst, eine weitere Zielgruppe anzusprechen. Schon zuvor kamen Kinder und Jugendliche über den Bastelkurs (»Gebastelte Kulturgeschichte«) mit Archäologie und Urgeschichte im Rundfunk 54 Viktor Christian referierte über »Der Vergessenheit entrissene Kulturen«. Radio Wien, 8. 4. 1932, 8–9. Auch: Franz Miltner über »Die neuesten Ausgrabungen in Ephesos«. Radio Wien, 6. 5. 1932, 9. 55 So z. B. die »Archäologische Studienreise ins Land der Hethiter« von Franz Hancˇar. Siehe: Radio Wien, 6. 10. 1933, 10. 56 Rudolf Egger über die »Archäologie«. Radio Wien, 20. 4. 1934, 11. 57 Radio Wien, 29. 3. 1935, 11. 58 Mit dem Vortrag von Robert Bleichsteiner über »Die neuesten Ausgrabungen im Orient« lief erstmals ein archäologischer Beitrag am Sonntag zum Frühstück von 9:50 bis 11:20 Uhr. Siehe: Radio Wien, 1. 5. 1931, 9. 59 Richard Pittioni über »Lößsteppe und Mammutjäger«. Radio Wien, 26. 2. 1932, 17.

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in Berührung. Dort erklärte man, wie sich etwa altägyptische Steinbohrer oder urgeschichtliche Ackergeräte nachbauen ließen.60 Parallel dazu wurde 1931 die Urgeschichte in die Lehrpläne der Mittel- und Oberstufe aufgenommen,61 weshalb mit der Einführung des Schulfunks bei der RAVAG (ab Herbst 1932) auch archäologische und urgeschichtliche Themen Eingang ins Programm fanden.62 Berichte über Fundmeldungen und Ausgrabungen sowie Erzählungen über die Urgeschichte wurden in den 1930er-Jahren auch als wichtiges Bildungselement für Kinder- und Jugendliche angesehen. Archäologische Beiträge hatten nun das Potenzial, die ganze Familie anzusprechen. Thematisch zentrierten sich die ersten archäologischen Einzelvorträge auf bestimmte Zeiten und Räume (Römer in Österreich,63 Urgeschichte des Burgenlandes64), vermittelten populäres kulturhistorisches Allgemeinwissen (Pompeji,65 Mesopotamien66) und behandelten bereits gut erforschte Ausgrabungen in Österreich (Salzbergwerk und Gräberfeld in Hallstatt),67 aktuelle Forschungsergebnisse in Österreich (Funde im Dom zu Gurk)68 sowie österreichische Grabungen im Ausland (Ägypten).69 Auch der Schutz von Kulturgütern und Denkmälern wurde hier aufgegriffen.70 Immer wieder nutzten die Archäologen zudem die RAVAG, um den Zuhörer*innen die archäologische Arbeit, Methode sowie den Nutzen derselben zu erklären: »Durch die Grabungen wächst alljährlich viel Wissen zu, die Heimatkunde wird vertieft, aber auch der allgemeinen Geschichte

60 Radio Wien, 6. 11. 1931, 20; Radio Wien, 20. 11. 1931, 20. 61 Siehe: Karl Woynar/Heinrich Montzka, Lehrbuch der Geschichte für die Oberstufe der Mittelschulen, 1. Teil: Altertum und Mittelalter bis zum Ausgang der Völkerwanderung, 6. Aufl., Wien/Leipzig 1931; Richard Pittioni, Handbuch für den Geschichtslehrer, hg. von Oskar Kende. Ergänzungsband 1: Urgeschichte. Allgemeine Urgeschichte und Urgeschichte Österreichs, Leipzig/Wien 1937. 62 Wilhelm Koppers sprach im November 1932 über »Völkerkunde und Kulturkreislehre«. Radio Wien, 28. 10. 1932, 20. Oswald Menghin plauderte sogar zweimal »Aus der Werkstatt des Prähistorikers«. Radio Wien, 2. 2. 1934, 49; Radio Wien, 18. 5. 1934, 21. Und laut Programmzeitschrift sprach am 12. 3. 1938 Karl Appelt über »Ausgrabungen in Ägypten«. Radio Wien, 4. 3. 1938, 19. Im Gegensatz zum Norddeutschen Rundfunk fehlen bei der RAVAG allerdings Hör- und Lehrspiele für Kinder mit urgeschichtlichen Themen. Siehe: Walter Hansen, Vorgeschichte und Rundfunk. Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit 12 (1932), 200–203. 63 Radio Wien, 2. 8. 1925, 12; Radio Wien 3. 5. 1929, 503. 64 Radio Wien, 5. 7. 1929, VI. 65 Radio Wien, 15. 2. 1929, III–IV. 66 Viktor Christian über die »Königsgräber von Ur«. Radio Wien, 30. 8. 1929, V–VI. 67 Radio Wien, 6. 1. 1928, V. 68 Radio Wien, 27. 12. 1926, 652. 69 Radio Wien, 13. 5. 1927, 1611. 70 So z. B. die Vortragsreihe »Heimatschutz. Heimatpflege in Natur, Kunst, und Volksart« von Karl Giovanni. Radio Wien, 28. 10. 1927, 173. Auch wurde die intensivere landwirtschaftliche Nutzung angeprangert, denen bereits zahlreiche Kulturgüter zum Opfer gefallen sind. Radio Wien, 21. 7. 1933, 18.

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kommt so manches Ergebnis zugute.«71 Archäologie schuf demnach nicht nur Wissen, sondern machte Vergangenheit wieder lebendig: »Jahr für Jahr bringt der Spaten des Altertumsforschers neue Schätze ans Licht, wertvolle Überreste verschollener Völker, verklungener Sprachen, versunkener Kulturen, denen die Wissenschaft in aufopfernder Arbeit ihre Geheimnisse abzuringen sucht.«72

Neben der Archäologie als Disziplin, wurde in den Beiträgen auf die Schätze des heimatlichen Bodens sowie auf die reiche kulturelle Vergangenheit Österreichs hingewiesen, »eines Landes, das ja ob seiner reichen Funde überall gekannt ist«.73 Außerdem machte man in den Sendungen auf das touristische Potenzial dieser Fundorte aufmerksam, wie am Beispiel von Lienz ersichtlich wird: »Aguntum ist schon heute die bedeutendste archäologische Forschungsstätte in Österreich, und verspricht zudem, ein wichtiger ökonomischer Faktor für Osttirol zu werden.«74 Des Weiteren wurde versucht, kulturelle Zusammenhänge aufzuzeigen, prähistorische Epochen und die Bedeutung einzelner Stätten und Objekte dem Publikum näherzubringen, verständlich zu machen und ein urgeschichtliches Bewusstsein zu schaffen: »Der Großstädter mit seinen meist künstlich geschaffenen kulturellen Ansprüchen vergisst nur allzu leicht, wie viel er seinen urzeitlichen Vorfahren verdankt. Wenn man heute bequem im Lehnstuhl sitzend, der durch den Äther getragenen Musik lauscht, könnte man sich tatsächlich vorstellen, daß erst das 20. Jahrhundert den Menschen zum Menschen werden ließ. Das ist aber weit gefehlt. Niemals könnten wir uns all der schönen Dinge der Gegenwart erfreuen, wenn nicht schon vor vielen tausend Jahren der Grundstein für das jetzige Kulturgebäude gelegt worden wäre.«75

Insgesamt bewegten sich die archäologischen Beiträge zwischen regionalen76 und internationalen77 Berichten und thematisierten die gesamte damalige Urgeschichtsforschung – von der Altsteinzeit bis zur Völkerwanderung.78 In den

71 Rudolf Egger in »Carnuntum und andere österreichische Ausgrabungsplätze«. Radio Wien, 26. 4. 1929, 503. 72 Robert Bleichsteiner in: »Die neuesten Ausgrabungen im Orient«. Radio Wien, 1. 5. 1933, 9. 73 Richard Pittioni in »Friedliches Schaffen in der Urzeit (Die jüngere Steinzeit)«. Radio Wien, 1. 4. 1932, 20. 74 Erich Swoboda in »Die neuesten Ausgrabungen in Aguntum«. Radio Wien, 2. 3. 1934, 10. 75 Richard Pittioni in »Vom geschlagenen zum geschliffenen Stein«. Radio Wien, 24. 4. 1936, 11. 76 Richard Pittioni über »Die Slawen in Niederösterreich. Zu den neuesten Funden aus Bernhardsthal« in der Serie »Frühgeschichtliches aus Niederösterreich«. Radio Wien, 24. 2. 1933, 16. 77 So z. B. Viktor Griessmaier über »Die neuen Ausgrabungen der Japaner in Lo-Lang, Korea«. Radio Wien, 23. 6. 1933, 14. 78 Julius Caspart »Über Funde der Urzeit, der Römer- und Völkerwanderungszeit in Österreich« in der Reihe »Aus dem Bereich der Denkmalpflege«. Radio Wien, 24. 6. 1932, 11.

72

Florian-Jan Ostrowski

1930er-Jahren galt das Interesse jedoch verstärkt der Evolutionsgeschichte,79 wobei »Kulturkreislehre« und Rassentheorie Bestandteil der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurse waren: »Nun gelingt es auch allmählich, die heutigen Rassen mit den prähistorischen zu verknüpfen […].«80 Selbst bei paläontologischen Ausgrabungen fand dieses Denkmuster Anklang.81 Nach und nach zeigten sich die außenpolitischen Beziehungen Österreichs zu Italien und NSDeutschland auch in archäologischen Sendungen des Rundfunks.82 So häuften sich etwa Vorträge über ›Germanen‹, ›Illyrer‹ und ›Arier‹. Dabei näherten sich die verwendete Rhetorik und Begrifflichkeit bereits klar der NS-Propaganda an.83 So war vom illyrischen »Großreich«,84 von keltischer »Hegemonie«85 und von den Germanen als kampferprobten »Zivilisationsbringer[n]«86 die Rede. Diese Tendenz verstärkte sich nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich. So wurde etwa ›die germanische Zugehörigkeit der Ostmark‹ im Rundfunk medienwirksam propagiert. Im Sommer 1939 berichtete der Reichssender Wien über die Ausstellung Die Ostmark – Altes Germanenland. Schau frühdeutscher Kulturhöhe, in welcher der ›(historische) Abwehrkampf gegen die Gefahr aus dem Osten‹ in den Fokus gerückt wurde.87 Bei Kriegsausbruch – im

79 Stellvertretend dafür: Christoph Fürer-Haimendorf »Was wissen wir vom Urmenschen?«. Radio Wien, 24. 2. 1933, 10. 80 Josef Bayer zu Beginn der Vortragsreihe »Lebensbilder aus der Urgeschichte der Menschheit«. Radio Wien, 28. 3. 1930, 18. 81 So urteilt Kurt Ehrenberg über Funde des Höhlenbären in Mixnitz: »Die ganze Geschichte einer Art von ihrer Entstehung bis zum Erlöschen liegt hier in seltener Krankheit vor uns, eindringlich zeigt sie uns die Gefahr, die Entartung für den Bestand jeglicher Lebewesen bedeutet.« Radio Wien, 22. 4. 1932, 13. 82 So spricht Bernhard Baumgartner bei seinem Vortrag »Versunkene Römerstädte auf afrikanischem Boden: Sabratha und Leptis Magna« davon, dass man »Hochachtung vor den kulturellen und zivilisatorischen Leistungen des italienischen Regimes« haben sollte. Radio Wien, 11. 12. 1936, 7. 83 Richard Pittioni über »Die Urheimat des Menschengeschlechtes im Lichte der Urgeschichte – Die Stellung der Archäologie zur Frage der indogermanischen Urheimat«. Radio Wien, 5. 7. 1935, 6; Richard Pittioni über »Altgermanische Kultur« in der Reihe »Vom Menschen der Urzeit«. Radio Wien, 22. 5. 1936, 9. 84 Richard Pittioni über »Das Illyrische Großreich«. Radio Wien, 19. 6. 1936, 6. 85 Richard Pittioni über »Die keltische Hegemonie«. Radio Wien, 17. 7. 1936, 11. 86 Robert Heine-Geldern »Auf den Spuren der vedischen Arier. Herkunft und Wanderungen der Arier Indiens«. Radio Wien, 15. 1. 1937, 9. Kurzerhand wurde das Aufkommen einer steinzeitlichen »nordischen Kultur« mit der Ankunft der Indogermanen in Europa gleichgesetzt. Radio Wien, 5. 7. 1935, 6. 87 Eduard Beninger »Zur Einführung in die Wiener Vorgeschichtsausstellung«. Rundfunkwoche Wien, 1. 7. 1939. Auch war die Bedeutung österreichischer Fundplätze nicht mehr national festgelegt, sondern reichsweit. Demnach gehörte Friedrich Morton zufolge das Salzbergtal oberhalb von Hallstatt »zu den vorgeschichtlich bedeutendsten Plätzen des ganzen Reiches«. Rundfunkwoche Wien, 4. 11. 1939.

Zwischen Information und Propaganda

73

September 1939 – widmete sich ein Vortrag den germanischen Stämmen zwischen Oder und Weichsel, die gegen Südosten weiterzogen. Den Höhepunkt der medialen Verquickung von Archäologie, Rundfunk und Propaganda stellten die Reichsstraßen-Sammelaktionen für das Kriegs-Winterhilfswerk (WHW) dar. Mit dem Erlös aus dem Verkauf von symbolischen Abzeichen sollten kriegsleidende Deutsche unterstützt werden. Während die ersten Embleme noch Alpenblumen als Motiv hatten, wurden im November 1939 25 Millionen germanische Schwerter und Dolche, welche Gräberfunden nachempfunden waren, als neue Motive gewählt. In der Rundfunkwoche Wien empfahl der Autor, diese Abzeichen zu kaufen und zu tragen, denn sie seien »die Waffen der freien Germanen, welche die Freiheit durch Kampf errungen« haben. Diese Verkaufsempfehlung schloss mit der Frage: »Sind sie nicht auch Symbole unseres Kampfes?«88

Abb. 2: Steinzeitliche und bronzezeitliche Streitäxte und Beile als Abzeichen für die 2. Reichsstraßen-Sammelaktion des Kriegs-Winterhilfswerks (WHW) von 1940 in der Rundfunkwoche Wien vom 19. Oktober 1940

Ein Jahr später, im Oktober 1940, entschied man sich, steinzeitliche Streitäxte und Beile aus den Anfängen der indogermanisch-nordischen Kultur für die zweite Reichsstraßen-Sammelaktion herzustellen. Der begleitende Artikel zur 88 Rundfunkwoche Wien, 4. 11. 1939.

74

Florian-Jan Ostrowski

Sammelaktion verglich den »Kampf der Vorfahren« mit jenem, welche »die nationalsozialistische Volkswohlfahrt aktuell gegen Hunger, Not und Elend« führe.89 Und wie ein Jahr zuvor riet man zum Kauf dieser kleinen Symbole als Bekundung des »uralten Freiheits- und Lebenswillens«: »Und die Abzeichen sind die Streitwaffen der Heimat, der inneren Front, die ihr Scherflein in dieser Form zu dem Endsieg beitragen.«90 Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege waren im Rundfunk der Nationalsozialisten somit nicht mehr nur Lückenfüller, sondern Träger und Vermittler der NS-Ideologie und Bestandteil der Propaganda selbst geworden.

Zusammenfassung Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege waren von Beginn an Teil des österreichischen Rundfunkprogramms – zunächst vereinzelt, ab 1930 häufiger und systematisch in Reihen und Serien. Für die archäologische Forschung bot das Medium Rundfunk die Chance, den Forschungsstand, die archäologischen Ergebnisse und die Anliegen des Denkmalschutzes einer größeren Öffentlichkeit näherzubringen. Für die RAVAG wiederum passten die archäologischen Berichte und Vorträge zu jener Bildungsarbeit und Wissensvermittlung, die sich das Unternehmen zum Ziel gesetzt hatte. Die archäologische Forschung bekam durch das Radio eine neue mediale Plattform, wobei sie im Gegenzug ›sinnstiftende Identitätsangebote‹ bot und sehr bald auch politisiert wurde. Durch die archäologischen Beiträge über österreichische Grabungen im In- und Ausland sowie das Aufzeigen vergangener kultureller Errungenschaften und Kulturepochen auf österreichischem Boden wurde sowohl die Möglichkeit geschaffen, die Heimat (urgeschichtlich und historisch) kennenzulernen, als auch den Ruf Österreichs als aktuelles Forschungsland zu stärken und etwaige Potenziale für den Tourismus aufzuzeigen. Vorträge zu Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege wurden in den 1920er-Jahren ausschließlich abends gesendet und richteten sich vor allen an ein interessiertes erwachsenes Publikum. In den 1930er-Jahren wurden Programme mit archäologischen Inhalten gezielt für Kinder und Jugendliche konzipiert, wobei hier Bildung mit politisch-ideologischen Inhalten verbunden wurde. Ihren Höhepunkt erreichte die Instrumentalisierung archäologischer Forschungen für politische Zwecke im Nationalsozialismus. So wurden etwa Elemente der »Kulturkreislehre« herangezogen, um obskure NS-Herrschaftsansprüche zu legitimieren. 89 Rundfunkwoche Wien, 19. 10. 1940. 90 Ebd.

75

Zwischen Information und Propaganda

Von Beginn an standen der österreichische Rundfunk und die archäologische Forschung in einer einander förderlichen Wechselbeziehung. Während das Medium seinem Bildungsauftrag nachkam, fand die archäologische Wissenschaftsgemeinschaft eine Plattform für die Veröffentlichung ihrer Forschungsarbeiten und -ergebnisse. Diese Verbindung wurde aber schließlich zu einem (politischen) Werkzeug umfunktioniert – einerseits zur Vermittlung von archäologischen Inhalten im Sinne der Volksbildung und Unterhaltung, andererseits als national ausgelegte, pädagogisch-didaktische Erzählung im Schulfunk. Man propagierte die Bodendenkmalpflege, verherrlichte die heimatliche Urgeschichte und deutete sie im Sinne einer Legitimation von Herrschaftsansprüchen und einer Mythenbildung für den Nationalsozialismus um.

Appendix Datum Uhrzeit Titel des Vortrags 15. 12. 18:00– »Römisches Leben in Wien« 1924 18:30

Vortragende Ernst NischerFalkenhof

14. 01. 1925

18:30– 19:30

»Römische Baudenkmäler in Österreich«

05. 08. 1925

18:30– 19:00

»Carnuntum«

Ernst NischerFalkenhof Rudolf Egger

30. 12. 1926 16. 05. 1927

19:00– 19:30 19:15– 20:05

»Die neuen Funde im Dom zu Gurk in Kärnten«

15. 09. 1927

18:15– 18:30

31. 10. 1927 07. 11. 1927 11. 11. 1927 18. 11. 1927

18:45– 19:15 19:00– 19:30 18:45– 19:00 19:30– 20:05

»Wochenende. Ausflugsziele und Reisepläne« [Carnuntum] Vortragsreihe: Heimatschutz. Heimatpflege in Natur, Kunst, und Volksart I. »Vom Sinn des Heimatschutzes«

09. 01. 1928

19:30– 20:05

Karl Ginhart »Die Ergebnisse der österreichischen Ausgrabungen in Karl Ägypten« Holey Erwin Deinlein Karl Giovanni

II. »Heimatschutz in der Landschaft« III. »Heimatschutz in der Ortschaft« IV. »Heimatschutz in der Volkskunst« »Ein österreichisches Salzbergwerk vor 2500 Jahren – Friedrich Ein kulturhistorisches Bild aus dem Salzkammergut« Morton

76

Florian-Jan Ostrowski

25. 01. 1929

18:40– 19:10

»Ausgrabung von Mammutkadavern in Sibirien«

22. 02. 1929

18:30– 19:00

»Pompeji«

03. 05. 1929 08. 07. 1929

18:30– 19:00 18:40– 19:10

»Carnuntum und andere österreichische Ausgrabungsplätze« »Aus der Ur- und Frühgeschichte des Burgenlandes«

Rudolf Egger Alfons Barb

03. 09. 1929

19:00– 19:30

»Die Königsgräber von Ur«

Viktor Christian

01. 04. 1930

18:00– 18:30

10. 04. 1930 24. 04. 1930 02. 05. 1930 08. 05. 1930 12. 05. 1930

19:00– 19:30 18:55– 19:25 18:00– 18:30 19:00– 19:30 19:30– 20:00

Eugen Wilhelm Pfitzenmayer Vittorio Maccioro

Vortragsreihe: Lebensbilder aus der Urgeschichte der Menschheit I. »Urgeschichte, Rassen- und Völkerkunde (Die drei Josef Komponenten der Universal-Geschichte der Bayer Menschheit)« II. »Die Rassen der Urzeit« Viktor Lebzelter III. »Die Bärenjäger. Ein Lebensbild der Älteren Richard Steinzeit« Pittioni IV. »Die eiszeitlichen Wandmalereien« Josef Tomschik V. »Die Pfahlbauer. Ein Lebensbild aus der jüngeren Richard Steinzeit« Pittioni VI. »Ein vorgeschichtliches Salzbergwerk. Ein Richard Lebensbild aus der älteren Eisenzeit« Pittioni Vortragsreihe: Frühgeschichte der Menschheit im Wilhelm Lichte der Völkerkunde Koppers I. »Menschliche Vorzeit und Urzeit vom Standpunkte der Völkerkunde aus betrachtet« Vortragsreihe: Mit offenen Augen durch die Natur IV. »Die Sprache der Bodenfunde« Alfons Barb

22. 05. 1930

19:00– 19:30

25. 07. 1930

19:30– 20:00

30. 07. 1930 25. 08. 1930

18:45– 19:00 18:30– 19:00

»Die neuen Altsteinzeitfunde von Krems und die Mittelsteinzeitfunde« »Urzeitliche Bergwerke in den Alpen«

Josef Bayer Josef Tomschik

30. 08. 1930 23. 09. 1930

17:55– 18:25 18:00– 18:30

»Neue Grabungen in Ägypten«

Oswald Menghin Friedrich Wimmer

»Eine große bronzezeitliche Siedlung in Österreich« Serie: Wissenschaftlicher Zeitbericht

18. 10. 1930 19. 10. 1930

18:30– 19:00 17:00– 17:30

»Bodensee-Pfahlbauten. Neue Methoden und Ergebnisse der Ausgrabungen« »Urgeschichte der Musik«

Hans Reinerth Siegfried Nadel

77

Zwischen Information und Propaganda

Leopold Zak

18:00– 18:30

»Vom Kaufmannslehrling zum Altertumsforscher. Dr. Heinrich Schliemanns Lebensabriss. Auf Grund Schliemanns selbstbiographischen Berichts« »Der frühbronzezeitliche Friedhof und die Siedlung in Schleinbach«

14. 02. 1931 13. 04. 1931

18:30– 18:55 18:30– 19:00

»Die neuesten Ausgrabungen in Ephesos in Kleinasien« »Der Vorgeschichtliche Mensch in der Steiermark« [Grazer Sender]

Franz Miltner Karl Friedl

20. 04. 1931

18:00– 18:30

»Kunst- und Kulturstätten in Kärnten« [Klagenfurter Sender]

03. 05. 1931

09:50– 10:20

»Die neuesten Ausgrabungen im Orient«

Günther Hermann Neckheim Robert Bleichsteiner

14. 09. 1931

18:30– 19:00

10. 11. 1931

16:15– 17:00

»Urzeitliche Neuigkeiten aus einer Tonwarenfabrik vor 2500 Jahren« Bastelserie IV: Gebastelte Kulturgeschichte »Altägyptischer Steinbohrer«

24. 11. 1931 01. 01. 1932

16:15– 17:00 19:00– 19:30

16. 01. 1931

17:30– 18:00

19. 01. 1931

16:30– 17:00 11:00– 11:30

06. 04. 1932

16:00– 16:30

10. 04. 1932 08. 05. 1932

10:35– 11:00 10:40– 11:11

02. 06. 1932

19:05– 19:30

03. 06. 1932

15:45– 16:15

Heinrich K. Michna Oscar Grissemann

»Urgeschichtliche Ackergeräte – Vom Grabstock zum Hackenpflug« »Die Funde von Apollonia. Überraschende EntdeFriedrich ckungen« Wallisch Jugendstunde:

02. 03. 1932 28. 03. 1932

Karl Kriegler

»Lößsteppe und Mammutjäger«

Richard Pittioni

»Großstädte vor 5000 Jahren. Die neuen Ausgrabungen in Indien. Ein Wendepunkt für die Kunde des Alten Orient«

Christoph FürerHaimendorf

Jugendstunde:

Richard Pittioni

»Friedliches Schaffen in der Urzeit (Die jüngere Steinzeit)« Serie »Wissen der Zeit« »Der Vergessenheit entrissene Kulturen« »Die neuesten Ausgrabungen in Ephesos«

Viktor Christian Franz Miltner

»Unsere gegenwärtige Kenntnis von der Abstammung Othenio des Menschen« Abel Jugendstunde: Richard Pittioni »Bergknappen vor 4000 Jahren. Die Bronzezeit«

78 15. 06. 1932 19. 06. 1932

Florian-Jan Ostrowski

16:15– 16:35 09:45– 10:15

»Fahrt nach Carnuntum«

Franz Miltner »Eine neuentdeckte römische Stadt in Österreich: Die Erich Ausgrabungen in Aguntum« Swoboda Vortragsreihe: Aus dem Bereich der Denkmalpflege

27. 06. 1932 04. 08. 1932

18:00– 18:20 16:20– 16:50

»Über Funde der Urzeit, der Römer- und Völkerwanderungszeit in Österreich« »Die Hallstattzeit«

09. 08. 1932 20. 10. 1932

16:30– 17:00 16:20– 16:45

»Die La-Tène-Zeit«

16. 11. 1932 11. 12. 1932

10:20– 10:50 10:15– 10:45

17. 02. 1933 03. 03. 1933 26. 02. 1933

15:20– 15:45 15:15– 15:40 11:00– 11:30

12. 03. 1933 23. 06. 1933

Julius Caspart Richard Pittioni

Richard Pittioni »Die römischen Hügelgräber am Ostrande der Alpen« Alfons Barb Schulfunk: »Völkerkunde und Kulturkreislehre«

Wilhelm Koppers

»Urgeschichtliche Grundlagen der abendländischen Kultur. Was verdankt Europa den vorderasiatischen Kulturen?«

Viktor Christian

Serie: Frühgeschichtliches aus Niederösterreich I. »Die Völkerwanderungszeit in Niederösterreich« II. »Die Slawen in Niederösterreich. Zu den neuesten Funden aus Bernhardsthal« »Was wissen wir vom Urmenschen?«

Eduard Beninger Richard Pittioni Christoph FürerHaimendorf

11:00– 11:30 10:40– 11:10

»Die neuesten archäologischen Entdeckungen in Italien« »Die neuen Ausgrabungen der Japaner in Lo-Lang, Korea«

Franz Miltner Viktor Griessmaier

28. 06. 1933 08. 07. 1933

15:20– 15:30 20:00– 21:10

»Die Wirkung von Rauch und Ruß auf Gebäude und Denkmäler« »Hallstatt, der Salzberg und die Dachsteinhöhlen«

Alois Kieslinger Rudolf Saar

09. 07. 1933 12. 07. 1933

16:15– 16:45 15:30– 15:55

»Die neuesten Ausgrabungen von Smyrna«

Franz Miltner Alfred Neumann

26. 07. 1933

16:20– 16:45

»Römische Landhäuser in Österreich«

01. 08. 1933

16:25– 16:50

»Römisches Militärleben in Österreich«

Alfons Barb Reihe: Aus der Kulturgeschichte unseres Wohnhauses Heinrich K. Michna II. Urgeschichte

79

Zwischen Information und Propaganda

15. 08. 1933 18. 08. 1933

16:35– 17:00 18:40– 19:05

30. 08. 1933 31. 08. 1933

16:35– 17:00 18:25– 18:55

»Malta und seine Steinzeittempel« »Oldoway. Afrikas ältester Menschenfund«

Hans Huebmer Martin Gusinde

Jugendstunde: »Der Urmensch und das Feuer«

Ludwig Machatsch

»Altpersische Kultur im Lichte der letzten großen Ausgrabungen«

Friedrich Wilhelm König

Serie: Junge Wissenschaftler berichten

Franz Hancˇar

06. 10. 1933 15. 12. 1933

18:35– 19:00 18:35– 19:00

»Archäologische Studienreise ins Land der Hethiter« »Die Wissenschaft vom Spaten«

Richard Pittioni

07. 01. 1934

16:35– 16:55

02. 02. 1934 14. 02. 1934

16:15– 16:35 16:55– 17:20

»Libyens Boden erzählt – Auf Römerstraßen in Libyen« Jugendstunde: »Aus Wiens ältester Vergangenheit«

Hans Huebmer Josef Fritz Kastner

»Aus Wiens ältester Vergangenheit« Schulfunk: »Aus der Werkstatt des Prähistorikers«

Oswald Menghin

21. 02. 1934 25. 05. 1934

10:20– 10:50 10:20– 10:50

27. 02. 1934

16:20– 16:40

09. 03. 1934 13. 03. 1934

16:45– 17:10 18:10– 18:35

»Die neuesten Ausgrabungen in Aguntum«

27. 04. 1934 29. 05. 1934

18:35– 19:00 18:35– 19:00

Serie: Spitzenleistungen der Wissenschaft in Österreich – »Archäologie« »Aufgaben und Leistungen der Denkmalpflege in Wien«

Rudolf Egger Justus Schmidt

20. 06. 1934 23. 07. 1934

15:40– 16:00 17:30– 17:45

Jugendstunde »Das römische Legionslager Lauriacum bei Enns«

Alexander Gaheis

»Das Hallstätter Museum«

Friedrich Morton

»Aus der Werkstatt des Prähistorikers« Jugendstunde: »Das Römische Wien«

Adolf Grohmann

Erich Swoboda »Gotteshaus und Königspalast im alten Vorderasien« Viktor Christian

80

Florian-Jan Ostrowski

Serie: Spaziergänge durch Wien 27. 08. 1934 21. 11. 1934

17:10– 17:45 18:35– 19:05

30. 12. 1934 11. 01. 1935

»Auf den Spuren des römischen Wien«

Hugo Zeller

»Ostia, Ein Handelszentrum des Alten Roms«

Guido Calza

18:00– 18:20 18:30– 18:55

»Prähistorische Bergvölkerkunst aus Kaukasien und Luristan« [Ausstellung] »Die Ergebnisse der österreichischen Ausgrabungen 1934«

Franz Hancˇar Rudolf Egger

05. 04. 1935 09. 05. 1935

18:50– 19:00 18:10– 18:35

»Urgeschichtliche Rundschau«

Richard Pittioni Camillo Praschniker

09. 07. 1935

18:10– 18:35

»Die Urheimat des Menschengeschlechtes im Lichte der Urgeschichte (Die Stellung der Archäologie zur Frage der indogermanischen Urheimat)« Burgenländische Stunde:

»Das österreichische Archäologische Institut«

22. 07. 1935

18:25– 18:50

»Ein Weingarten erzählt 5 Jahrtausende Kulturgeschichte«

20. 08. 1935 17. 11. 1935

18:25– 18:50 16:30– 16:55

»Der Nemisee und seine römischen Kaiserschiffe«

02. 02. 1936 07. 02. 1936

17:35– 18:00 18:20– 18:45

»Ein Weltreich vor 4000 Jahren«

10. 02. 1936

18:10– 18:35

»Die Römer im Burgenland«

»Auf den Spuren versunkener Jahrtausende«

»Zauberstäbchen und Holzkultur«

Serie: Vom Menschen der Urzeit 30. 04. 1936 26. 06. 1936

18:40– 19:00 18:35– 19:00

»Vom geschlagenen zum geschliffenen Stein«

29. 05. 1936 01. 06. 1936

18:35– 19:00 18:00– 18:25

»Altgermanische Kultur«

14. 07. 1936 24. 07. 1936

18:25– 18:50 18:35– 19:00

»Archäologische Forschungen im Lavanttale«

Richard Pittioni Alfons Barb Rudolf Noll Viktor Christian Adalbert Markovits Richard Pittioni Alfons Barb Richard Pittioni

»Das Illyrische Großreich«

»Tauernbegehung in der Urzeit«

»Die keltische Hegemonie«

Richard Pittioni Martin Hell Richard Strelli Richard Pittioni

81

Zwischen Information und Propaganda

04. 08. 1936 10. 08. 1936

17:00– 17:20 17:10– 17:30

»Die Erhaltung unserer Bauwerke und Baudenkmäler« Alois Kieslinger »Auf den Spuren der Römer durch Österreich« Rudolf Noll

26. 08. 1936 01. 09. 1936

18:15– 18:35 18:00– 18:25

»Alltag in einer römischen Grenzstadt«

23. 11. 1936 09. 12. 1936

18:10– 18:35 21.40– 21:55

»Neue Ägyptische Papyrusfunde«

15. 12. 1936 17. 12. 1936

18:00– 18:25 18:50– 19:00

»Versunkene Römerstädte auf afrikanischem Boden: Sabratha und Leptis Magna« »Urgeschichtliche Rundschau«

Bernhard Baumgartner Richard Pittioni

20. 01. 1937

18:35– 19:00

»Auf den Spuren der vedischen Arier. Herkunft und Wanderungen der Arier Indiens«

05. 05. 1937

18:40– 19:00

»Pfahlbauforschung in Österreich (Neue Ergebnisse und Ziele)«

Robert HeineGeldern Kurt Willvonseder

»Der Weg nach Olympia«

»Ein Salzbergbau aus der Keltenzeit aufgedeckt. Die Grabungen des Hallstätter Museums«

Jugendstunde 17. 05. 1937 25. 05. 1937

15:20– 15:40 18:10– 18:35

»Mit Hacke und Spaten« [von C. Leonard Woolley]

Emil Gamber Josef Marschall Hans Gerstinger Friedrich Morton

Heinz Altringen

»Die Entdeckung der Ureinwohner Budapests«

Andreas Alföldy

Jugendstunde

Josef Haeckel

16. 06. 1937 07. 07. 1937

15.40– 16:00 18:15– 18:40

»Verschollene Kulturen im Überschwemmungsgebiet« »Ausgrabungen in Ägypten«

Karl Appelt

19. 07. 1937

18:30– 18:55

»Teurnia – St. Peter im Holz«

Günther Hermann Neckheim Eugen Georg

Jugendstunde: 16. 09. 1937

15:40– 16:00

»Die antike Grosstadt« [Knossos]

22. 11. 1937 14. 01. 1938

18:00– 18:25 17.15– 17:30

»Eine Burg Karls des Großen im Leithagebirge«

28. 01. 1938

18:50– 19:00

»Urgeschichtliche Rundschau«

»Neueste Grabungen und Gräberfunde in Hallstatt«

Alfons Barb Friedrich Morton Richard Pittioni

82

Florian-Jan Ostrowski

Schulfunk: 12. 03. 1938 03. 04. 1938

10:10– 10:50

20. 11. 1938 03. 07. 1939

15:00

27. 09. 1939 05. 11. 1939

18:40– 19:00 14:50

21. 11. 1939 21. 01. 1940

19:10– 19:30 10:50– 11:00

»Die Ausgrabungen in Ägypten« »Schliemann – der Narr«

18:45– 19:00

Karl Appelt Otto Rombach

»Römerschätze in der Ostmark«

Rudolf Noll »Die Ostmark. Altes Germanenland. Schau frühdeut- Eduard Beninger scher Kulturhöhe – Zur Einführung in die Wiener Vorgeschichtsausstellung« »Germanen in Südosteuropa«

»Das Königsgrab im Salzbergtal« »Carnuntum. Die Römerstadt vor den Toren Wiens« »Eine Römerstadt vor den Toren Wiens«

nicht bekannt Friedrich Morton Erich Swoboda Erich Swoboda

Christine Ehardt

Hörfilm tut not! (Radio-)Ästhetik als Programm und Propaganda im österreichischen Rundfunk der 1930er-Jahre

»Für die Entwicklung der Hörspielkunst wäre es sehr wichtig, wenn man diejenigen Hörspiele, in denen mit den Ausdrucksmitteln des Raums und der Montage gearbeitet wird, nicht im Senderaum bühnenmäßig ›aufführen‹ sondern sie in der Art von Tonfilmaufnahmen stückweise auf einen Filmstreifen fotografieren und die einzelnen Tonstreifen nachher regelrecht schneiden und zu einem Hörfilm zusammenkleben würde.«1

In Rudolf Arnheims Auseinandersetzung mit den Mitteln und Möglichkeiten einer neuen rundfunkeigenen Formensprache in seinem Buch Rundfunk als Hörkunst, das erstmals 1936 in London unter dem Titel Radio erscheint, werden im Kapitel »Hörfilm tut not!« radioästhetische Konzepte mit filmtheoretischen Überlegungen verschränkt. Durch die technische Weiterentwicklung des Tonfilms wird es erstmals auch für das Radio möglich, Aufnahme- und Speichertechniken zu verwenden, die eine Bearbeitung des aufgezeichneten Materials ermöglichen. Der Hörfilm ist also technisch und ästhetisch eng mit der Entwicklung des Tonfilms, der ebenfalls Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre reüssiert, verbunden. Damit einhergehend wird auch eine Rhythmisierung und Dynamisierung der Radioinhalte evident. Aufgenommene Ereignisse können nun ähnlich einer Komposition zusammengestellt werden. In den Anfangsjahren des Rundfunks findet der Hörfilm vielfältige Verwendung. Zum einen werden damit featureartige Beiträge sowie Reportagen benannt, die besonders lebendig gestaltet werden sollen. Zum anderen werden damit auch Hörkunst- und Hörspielarbeiten charakterisiert. Beide Begriffsverwendungen spiegeln – wie bereits in Arnheims Zitat angesprochen – die technischen Verfahrensweisen der Montage wider. Es etabliert sich eine radiogenuine Form, die am Film und an seinen Schnitt- und Bearbeitungstechniken orientiert ist. In meinem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern der Hörfilm, der sich Anfang der 1930er-Jahre auch im österreichischen Radiojargon durch1 Rudolf Arnheim, Rundfunk als Hörkunst, in: ders.: Rundfunk als Hörkunst und weitere Aufsätze zum Hörfunk, Frankfurt am Main 2001, 7–178, 82.

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Christine Ehardt

setzt, als ein ästhetisches Mittel propagandistischer Radiopolitik genutzt wird. Dazu sollen Veränderungen des RAVAG-Programms in den frühen 1930erJahren in Hinblick auf neue Formen radioästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten dieser Zeit diskutiert werden.2

Die Anfangsjahre der RAVAG Der österreichische Rundfunk geht unter der Bezeichnung Radioverkehrsaktiengesellschaft – kurz RAVAG – als ein Zusammenschluss von Staat, Banken, Industrie und der Gemeinde Wien am 1. Oktober 1924 erstmals auf Sendung. In ihrer Programmausrichtung legt die RAVAG Wert darauf, als unpolitisch und »neutral« zu gelten. Dass dem von Beginn an nicht so ist, zeigt sich an verschiedenen Punkten, wie etwa der Personalpolitik, die nach dem Proporzsystem funktioniert und überwiegend in die Hände bürgerlich-konservativer Männer gelegt wird. Zudem nehmen an den regelmäßigen Programmsitzungen immer Regierungsvertreter teil. Zusätzlich kommen alle verlautbarten Nachrichten direkt von der staatlichen Nachrichtenstelle.3 Sowohl Radiosender als auch Radiopublikum konzentrieren sich in den ersten Jahren auf Wien. Nur rund ein Zehntel der Gesamtteilnehmer*innen kommt bis 1927 aus den Bundesländern.4 Das liegt vor allem am zögerlichen, weil kostenintensiven Sender- bzw. Zwischensenderaufbau. Erst Anfang der 1930er-Jahre ist ein nahezu österreichweites Sendernetz verfügbar. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen kommt aber auch da noch aus Wien und Umgebung,5 und auch programmatisch orientieren sich die ersten Radioinhalte an einem urbanen und bürgerlichen Publikum. Der auf Unterhaltung und Belehrung beschränkte Rundfunk setzt zunächst vor allem auf Kooperationen mit bestehenden Institutionen wie den Universitäten, den Bundestheatern oder den Volksbildungseinrichtungen. Erst allmählich folgt der Ausbau eigener Radioabteilungen und Redaktionen. Nichtsdesto2 Dieser Text basiert auf Untersuchungen und Ausführungen meinerseits, die im vorliegenden Artikel und im vorangegangenen Vortrag im Rahmen des Symposions Hearing is Believing. Radio(-Programme) als strategisches Propagandainstrument im November 2020 weiterentwickelt und überarbeitet wurden. Vgl. Christine Ehardt, Radiobilder. Eine Kulturgeschichte des Radios in Österreich, Wien 2017. Mein Dank gilt an dieser Stelle den Mitarbeiter*innen des Dokumentationsarchivs Funk, der Bibliothek des Technischen Museums und der Wienbibliothek im Rathaus, wo ich Zugang zu zeitgenössischen Texten, Zeitungsberichten und schriftlichen Dokumenten erhalten habe. 3 Vgl. zur Programmpolitik des frühen Rundfunks in Österreich: Wolfgang Pensold, Zur Geschichte des Rundfunks in Österreich. Programm für die Nation, Wiesbaden 2018. 4 Vgl. Radio Wien, 12. Jg./Heft 1, 1935, 12. 5 Ebd.

Hörfilm tut not!

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trotz zeichnen sich die ersten Radiojahre durch eine große Faszination und Begeisterung für das neue Medium aus. Am Beginn des Rundfunks in Österreich und Europa steht ein enormer Innovationsschub. Die Presse, die vom weltweiten Radiofieber spricht, überschlägt sich mit Erfolgsmeldungen über das neue Medium. Radio im Zug, Radio im Park, in der Küche, in der Straßenbahn oder auf der Bühne, das Radio ist am Beginn seiner Institutionalisierung allgegenwärtig. Radiosalons und Radiocafés werden eröffnet,6 schicke Accessoires, wie etwa der Radioohrring, angepriesen,7 in der Wiener Rotunde finden regelmäßig Radiomessen statt, und der Handel eröffnet zahlreiche Radiogeschäfte. Es werden Lieder und Kabarettprogramme über das Radio geschrieben. So sind etwa in einer von Hans Zerlett und Alfred Berg komponierten Kabarettnummer die Melodiezeilen zu hören: »Du mein kleines Radiomädelchen / Nimm die Hörer an dein Schädelchen / Schalte ein die erste Liebeswelle / Schnell in deine Herzenszelle.«8

Ästhetik und Programm der RAVAG Bis in die späten 1920er-Jahre kommen alle gesendeten Radioinhalte direkt aus dem Studio. Zu diesem Zweck werden aufwendige Dauerstudios errichtet, wie etwa beim Wiener Praterstadion oder bei den Salzburger Festspielen, die seit 1925 übertragen werden. Zeit- und ortsunabhängige Aufnahmen können erst mit sogenannten ›Koffersendern‹ und ›Kurzwellensendeautos‹ sowie mit der neuen Abblend- und Mischtechnik zum Abspielen mehrerer aufeinanderfolgender Schallplattenaufzeichnungen gewährleistet werden. Für diese neuen Reportagetechniken werden in den Sendungen und Radiozeitschriften Begriffe wie das »fliegende« oder »wandernde« Mikrofon, der »Hörbericht« und später der »Hörfilm« verwendet. Ziel dieser neuen Gestaltungsformen ist ein, wie von den Radioverantwortlichen immer wieder betont wird, lebendiger Radiostil, der sich vom vielfach bemängelten und als behäbig beschriebenen Vortragsstil der ersten Rundfunkjahre abheben soll.

6 Wie etwa das Café Radio im VII. und das Wiener Radio Café im IV. Wiener Gemeindebezirk, vgl. Radiowelt, Nr. 15, 1924, 2. 7 Radiowelt, Nr. 6, 1924, 3. 8 Radiowelt, Nr. 2, 1924, 10.

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Christine Ehardt

Montage, Collage und Originalton im Rundfunk der 1930er-Jahre Als einer der bekanntesten Hörfilme gilt Walter Ruttmanns Tonmontage Weekend von 1930. Der Berliner Filmemacher und Maler Walter Ruttmann verwendet für seinen Hörfilm dokumentarische Klänge der Berliner Großstadt. Stimmen und Geräusche werden mittels Lichtton (einem Verfahren, das für den Tonfilm entwickelt wurde) aufgenommen und anschließend geschnitten und neu zusammenmontiert.9 Das Hörspiel vertont den Rhythmus der Stadt Berlin und seiner ländlichen Vororte. Maschinengeräusche, Motorenlärm, Kassen- und Schreibmaschinenklänge werden von Natur- und Tierlauten, Musik, Gesang und Kirchenglocken abgelöst, die am Ende des Hörspiels vom Läuten des Weckers abrupt beendet werden. Es beschreibt also mittels Alltagsaufnahmen, die direkt auf den Straßen Berlins und Umgebung aufgenommen werden, den immer wiederkehrender Kreislauf von Arbeit und Freizeit. Die Filmkritikerin Lotte Eisner meint in einer Rezension zur Uraufführung des Stücks: »Statt des Optischen Aufnahme des Akustischen« und spricht von »ersten interessanten Experimenten, die sich noch auszuwirken haben«10. Für den Medienwissenschaftler Rolf Grossmann stellt Ruttmanns Hörfilm einen Meilenstein in der Audiomontage dar. In Abgrenzung zu den oft synonym gebrauchten Begriffen der Collage und Montage definiert er die Montage als »Verfahren des Zusammensetzens von gleichartigem Medienmaterial«,11 während die Collage zur Metapher für die Einbeziehung externer Kontexte und Texturen wird. Mit der Bezeichnung »Hörfilm« ausgewiesene Radiobeiträge sind in den 1930er-Jahren abseits vom Hörspiel auch an anderer Stelle im Hörfunkprogramm auffindbar. Sie sind nach dem Definitionsmodell Grossmanns aber eher als Collagen zu bezeichnen, da verschiedene Kontextmaterialien miteinander verbunden werden. Radiosendungen können mittels neuer Gestaltungsverfahren nun wie ein Bild zusammengesetzt werden. Medienmaterial dafür sind verschiedenartige Originaltöne, die zeit- und ortsunabhängig aufgenommen, bearbeitet und gesendet werden können. Damit wird mit dem Hörfilm eine ra-

9 Das Lichttonverfahren der Tri-Ergon-Gruppe war nur eine Aufnahme- und Speichermöglichkeit unter vielen. Zahlreiche Erfindungen dieser Art wurden zu dieser Zeit erprobt und patentiert. Vgl. Hermann Naber, Ruttmann und Konsorten. Über die frühen Beziehungen zwischen Hörspiel und Film, in: Rundfunk und Geschichte. Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte, Nr. 3–4, 2006, 5–20. 10 Lotte Eisner, Walter Ruttmann schneidet ein Film-Hörspiel, in: Film-Kurier, Nr. 33, 1930, zitiert nach Naber, Ruttmann und Konsorten, 2006, 19. 11 Rolf Großmann, Collage, Montage, Sampling – Ein Streifzug durch (medien-)materialbezogene ästhetische Strategien, in: Harro Segeberg/Frank Schätzlein (Hg.), Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, 308–331, 329.

Hörfilm tut not!

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diogenuine Form definiert, die sich auch dramaturgisch am Film orientiert und die ästhetische Gestaltung von Radiobeiträgen verändert. »Würde Szene für Szene original gesprochen, so müsste man eine Kompagnie Sprecher aufbieten, oder die beiden Sprecher, die man wegen ihrer verschiedenen Art gewählt hat […] diese Unglücklichen müssten mit der Geschwindigkeit der elektrischen Wellen von einem Orte zum anderen schweben […]. Die Lösung heißt: Verbindung von Schallplatten- oder Tonfilmaufnahmen mit Originalreportage. […] Jede Schallplatte wird zweifach aufgenommen und die Kontrollplatte wird gleich nach der Aufnahme abgespielt und überprüft. […] Die Regie solcher Aufnahmen ähnelt der bei Großfilmaufnahmen, da die akustischen Effekte genau abgewogen werden müssen und es oft vieler Proben bedarf, bis aus der Wirklichkeit der richtige Stimmungsgehalt herausgeholt ist. […] Der Leiter der Regie sitzt mit den Hörern am Kopf, vor den Telephonen, die ihm eine Verbindung mit allen Aufnahmestellen ermöglichen, und gibt die Einsätze, die Techniker schalten und mischen und das brave Telephonkabel trägt die Vielfalt der Stimmen, Geräusche und Klänge nach Wien, nach Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck, Klagenfurt und Vorarlberg […].«12

Filmische Gestaltungsverfahren und Hörfilme werden verstärkt in das Radioprogramm der 1930er-Jahre aufgenommen und verändern die Nachrichten- und Informationsästhetik. Die featureartigen Beiträge und Reportagen werden dabei dem Paradigma der »lebendigen Berichterstattung« unterstellt und zu »Stimmungsbildern«13 zusammengesetzt. »Das lebendige Radio bekommt ›Lebendigkeit‹ mittels fliegender Mikrophone, die am Schauplatz der Ereignisse erscheinen und die Hörerschaft miterleben lassen, ›was es an Interessantem draußen in der Welt gibt‹. […] Es hat sich gezeigt, dass die Hörerschaft danach verlangt, ›dabei zu sein‹. Nichts anderes vermag so viel Interesse zu erwecken, wie irgendeine große öffentliche Angelegenheit, sei es nun ein Sportereignis, ein musikalisches Fest, ein Empfang der Ozeanflieger […].«14

Auch beim Hörfilm soll das unmittelbare Erlebnis im Vordergrund der Radioberichterstattung stehen, die sich nun aus bereits aufgezeichneten »Hörbildern« und Liveberichten zusammensetzt. Das Lebendige dieser Übertragungen liegt dabei sowohl im erweiterten Hörraum und der Aufnahme dokumentarischer Klänge als auch in der Zusammensetzung und im dynamischen Aufbau der Sendungen.

12 Anonym, Ein Hörbericht wird gebaut, in: Mikrophon. Das Magazin für den Rundfunkhörer, Nr. 4, 1934, 19f. 13 Vgl. Erich Kunsti, Nachrichtendienst und Radioreportage, in: Radio Wien, 6. Jg./Heft 1, 1929 (Festschrift), 48. 14 Oskar Czeija, o. T., in: Radiowelt, Nr. 28, 1928, 1.

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1934 – Zehn Jahre RAVAG Nach dem Rückgriff von Bundeskanzler Dollfuß auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917, der das Ende der parlamentarischen Demokratie einleitet und den Beginn der Diktatur in Österreich markiert, wird nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 am 1. Mai die verfassungsmäßige Konstituierung des autoritären, christlich-sozialen ›Ständestaats‹ abgeschlossen. Die Pressefreiheit wird beendet, sämtliche Medien werden gleichgeschaltet, und Zensurmaßnahmen werden eingeführt.15 Ab nun treten auch die Sympathien und der wohlwollende Zuspruch für die Ideale und Ideen der Einheitspartei Vaterländische Front innerhalb der RAVAG-Führungsspitze klar zutage. »Es mag […] da es manchmal schien, die aufeinander angewiesenen Bürger eines Staates hätten einander auch verstehen und schätzen gelernt, der Versuch zu rechtfertigen gewesen sein, verschiedene Anschauungen nebeneinander zur Diskussion zu stellen […]. Mit dem Augenblick aber, da es um die Existenz des Staates ging, war keine Zeit zur Diskussion und Meinungsverschiedenheit, musste ein einheitliches Ziel, ein einheitlicher Wille den Rundfunk in jene eindeutige Linie weisen, die von den obersten Vorkämpfern des Vaterlandes uns vorgeschrieben wird.«16

Diese Zeilen schreibt Rudolf Henz, der Leiter der Wissenschaftsabteilung und ab 1934 auch Leiter des Kulturreferats der Vaterländischen Front, in der Rundfunkzeitschrift Radio Wien. In der Organisations- und Personalstruktur müssen während des austrofaschistischen Regimes also keine großen Veränderungen vorgenommen werden. Der bis dahin existierende Radiobeirat wird aufgelöst. Die zahlreichen und mitgliederstarken Radiovereine17 und Verbände werden großteils verboten. Auch ein vom Arbeiterradiobund organisierter Hörer*innenstreik Ende des Jahres 1933, bei dem mehr als 66.000 Hörer*innen vor allem in Wien ihr Radioabonnement kündigen,18 kann die Zurückdrängung regierungskritischer Stimmen aus dem Radioprogramm nicht mehr aufhalten und kann durch die

15 Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit den medialen Kontroll- und Propagandamaßnahmen im Austrofaschismus und deren Auswirkungen siehe: Karin Moser, »Mit Rücksicht auf die Notwendigkeiten des Staates …« Autoritäre Propaganda und mediale Repression im austrofaschistischen »Ständestaat«, in: Matthias Karmasin/Christian Oggolder (Hg.): Österreichische Mediengeschichte, Band 2: Von Massenmedien zu sozialen Medien (1918 bis heute), Wiesbaden 2019, 37–59. 16 Rudolf Henz, »Rundfunk und Vaterland«, in: Radio Wien, 9. Jg./Heft 44, 1933, 2. 17 Zur Entwicklung und Geschichte der Arbeiter-Radiovereine vgl. Eva Maria Brunner-Szabo, Medien im Widerstand. Vom Arbeiter-Radiobund in der Ersten Republik bis zu den Freien Radios und Piratensendern heute oder Möglichkeiten eines demokratischen Gebrauchs von Massenmedien, Dissertation, Universität Wien 1989. 18 Vgl. Brunner-Szabo, Medien im Widerstand, 1989, 174.

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Steigerung der Hörer*innenzahlen österreichweit kompensiert werden.19 Der Rundfunk fungiert, wie es Wolfgang Pensold in seiner Studie zur Geschichte des Rundfunks in Österreich beschreibt, rasch und nahezu widerstandslos als »effektives Sprachrohr totalitärer Politik«.20 So schreibt etwa der Generaldirektor der RAVAG Oskar Czeija im neuen Radiomagazin Mikrophon über die aktuelle Rundfunksituation: »Es war natürlich, daß die Regierung von dem ihr zur Verfügung stehenden Propagandamittel des Rundfunks den ausgiebigsten Gebrauch machte.«21 In dieser neuen Radiozeitschrift Mikrophon. Das Magazin für den Rundfunkhörer, erstmals im Februar 1934 von der RAVAG herausgegeben, soll sich – so Czeija weiter – »die Meinung der Radiohörer« abbilden und »vertiefende Einblick[e] in viele Wissensgebiete, [die] der Rundfunk nur anschneiden kann«22 gegeben werden. Tatsächlich werden sowohl die politische Ausrichtung des Hefts als auch das Rundfunkprogramm völlig auf die Interessen der totalitären Führung abgestimmt. Rudolf Henz berichtet etwa in der zweiten Ausgabe des Magazins unter dem Titel »Trauer über Österreich« über die Übertragung der offiziellen Trauerfeierlichkeiten des autoritären Regimes infolge des Bürgerkriegs 1934. Die Sendung am 20. Februar 1934 dauert von Mittag bis zum frühen Abend. Es handelt sich um eine einseitige, regimekonforme Berichterstattung, die Opfer aufseiten der Sozialdemokratie, welche als politische Gegner verstanden werden, völlig ausspart. »Unter der überwältigenden Teilnahme der Bevölkerung wurden am 20. Februar die Opfer aus den Reihen der Staatexekutive und des Freiwilligen Schutzkorps zu Grabe getragen. 49 Helden treuerster Pflichterfüllung, gefallen im Kampfe um die Sicherung des inneren Friedens in unserer Heimat, für Ehre und Freiheit Österreichs. Durch Vermittlung des Rundfunks nahm daran ›ganz Österreich‹ teil.«23

Ab 1934 kommt nun der lebendigen Radioberichterstattung ein besonderer Stellenwert zu, und der Hörfilm wird als ihr finaler Entwicklungsschritt – von der einfachen Nachricht über den Hörbericht hin zu einer neuen ästhetischen Erfahrung des Radiohörens – inszeniert. Erich Kunsti, zunächst Leiter der Nachrichtenabteilung, später Programmdirektor der RAVAG und ein wichtiger Protagonist der neuen Nachrichten- und 19 In einer Statistik zur Entwicklung der Hörer*innenzahlen wird seit Einführung des Rundfunks 1924 ein kontinuierlicher Anstieg ausgewiesen. Die Hörer*innenzahlen von 1933 (507.479 Hörer*innen) konnten im Jahr 1934 geringfügig auf 511.036 Abonnent*innen erhöht werden. Vgl. Radio Wien, 12. Jg., Heft 1, 1935, 12. 20 Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 49. 21 Oskar Czeija, »Hörer und Leser!«, in: Mikrophon. Das Magazin für den Rundfunkhörer, 1. Jg./ Heft 1, 1934, 1. 22 Ebd. 23 Rudolf Henz, Trauer über Österreich, in: Mikrophon, 1. Jg./Heft 2, 1934, 5.

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Informationsgestaltung im Rundfunk,24 schreibt 1934 über diese Weiterentwicklungen in der Radioberichterstattung: »Durch Verwendung des fahrbaren Kurzwellenautos, der Schallplatte und des Tonfilms waren […] große Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Es war bei Schilderungen, die sich über große Räume erstreckten, nicht mehr notwendig, eine entsprechend große Anzahl von Mikrophonen aufzustellen und mehrere Sprecher zu verwenden. Durch Tonaufnahmen, die zu verschiedenen Zeiten durchgeführt werden können, konnte die ganze Sendung vorbereitet, zusammengestellt und dann als geschlossener Hörbericht gesendet werden. Durch diese neuen Hilfsmittel waren erst die Möglichkeiten zur letzten Entwicklungsstufe, zum Hörfilm gegeben. Wenn beim Hörbericht noch die Einheitlichkeit von Zeit und Raum gewahrt blieb, so ging man beim Hörfilm bewusst davon ab und stellte einen Begriff in den Vordergrund, der durch entsprechende Gegenüberstellung und Aufeinanderfolge von verschiedenen Bildern, unabhängig von Zeit und Raum, in anschaulicher Weise behandelt wird.«25

Der Hörfilm setzt damit neue Akzente in der Radioästhetik. Eingesetzt wird er etwa bei vaterländischen Kundgebungen und Schulungsserien, aber auch bei der Berichterstattung über rurale und religiöse Themen aus den Bundesländern, wie etwa beim Hörfilm »Vom bäuerlichen Herbst« aus dem Jahr 1933 oder bei einer Reportage über das Leben der Mönche im Stift Kremsmünster.26 »Im Gegensatz zum ›Hörbericht‹ muss die Einheitlichkeit von Raum und Zeit beim ›Hörfilm‹ nicht gewahrt werden, sondern es wird ein bewusst gewählter Begriff in den Vordergrund gestellt, der nun durch Gegenüberstellung und Aufeinanderfolge von unterschiedlichen akustischen Bildern in anschaulicher Weise behandelt werden kann.«27

Neue Hörspielästhetik und neue Nachrichtenästhetik knüpfen in den 1930erJahren an filmische Gestaltungsstrategien an und treffen sich in der Terminologie des Hörfilms, der für propagandistische Zwecke von der Rundfunkführung als besonders geeignet charakterisiert wird. Im Radioprogramm wird er vor allem für Berichte aus dem ländlichen Raum und zur akustischen Vermittlung von Propagandaveranstaltungen genutzt. Hier erweist sich die Möglichkeit, vorfabriziertes Material zu bearbeiten, gegenüber den immer als unsicher charakte24 Gisela Säckl, Lehr- und Wanderjahre des Mikrophons: der Zusammenhang zwischen technischer Entwicklung und Programmgestaltung der Österreichischen Radioverkehrs A.G. (RAVAG) im Zeitraum 1924–1934, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2007. 25 Erich Kunsti, Nachricht – Hörbericht – Hörfilm, in: 10 Jahre Radio Wien, Sonderheft RadioWien, 11. Jg./Heft 1, 1934 (Festnummer), 26f. 26 Vgl. Gisela Säckl, Erich Kunsti – Wegbereiter »lebendiger« Radioberichterstattung, in: Medien & Zeit, 19. Jg./Heft 3, 2004, 26–31, 29. 27 Erich Kunsti, der bereits vor 1938 der NSDAP beitritt, ist in den 1930er-Jahren als Programmdirektor der RAVAG tätig. Sein Aufgabenbereich schränkt sich jedoch mit dem Aufstieg von Rudolf Henz innerhalb der RAVAG nach 1933 ein. 1938 wechselt Kunsti in die kaufmännische Abteilung. Vgl. Säckl, Erich Kunsti, 2004, 30.

Hörfilm tut not!

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risierten Livereportagen klar als Vorteil, bietet der Hörfilm doch die Möglichkeit einer zuverlässigen und kontrollierbaren Darbietungsform im Akustischen. Ausgangspunkt ist die Aufnahme bzw. Speicherung dokumentarischer Klänge, Stimmen und Geräusche. Diese bilden das akustische Material, das durch Überlagerungen, Schnitte und Blenden gestaltet und rhythmisiert wird. Im Begriffsverständnis der RAVAG kann durch den Hörfilm im Rundfunkprogramm der 1930er-Jahre in Österreich eine wichtige zusätzliche ästhetische Erfahrung des Radiohörens hinzugefügt werden, den mit ihm finden Emotionalität, Atmosphäre und Effekte des Authentischen Eingang in das Nachrichten- und Informationsangebot der RAVAG.

Michael Kuhlmann

»Die Macht des Rundfunks«.1 RIAS Berlin und der Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR

Wer heute mit der S-Bahn über den Berliner Ring fährt und westlich des Bahnhofs »Innsbrucker Platz« aus dem Fenster blickt, sieht auf dem Dach eines imposanten Gebäudes ein großes, kantiges Emblem vor sich: das Emblem eines verschwundenen Radiosenders. Hier residierte einer der einflussreichsten medialen Akteure des Kalten Kriegs. Nur wenige Sender des Westens waren den Machthabern der DDR so verhasst wie dieser »Rundfunk im amerikanischen Sektor« Berlins, kurz RIAS. »Die gesamte Tätigkeit des RIAS auf dem Gebiet der Spionage, Sabotage und planmäßigen Hetze«, so der prominente DDR-Jurist Kurt Schumann 1955, diene dem Ziel, »den seit Jahren geführten Kalten Krieg bei Gelegenheit zum Heißen Krieg werden zu lassen«.2 Umgekehrt war der Sender für US-Hochkommissar John McCloy »das effektivste Mittel in unserer Hand, den Eisernen Vorhang zu durchdringen«3. Brisanz gewann diese Rolle in einem Moment, in dem der Staat DDR tatsächlich zu wanken schien – beim Aufstand des 17. Juni 1953. »Der RIAS hatte – ohne es zu wissen und ohne es zu wollen – den Aufstand ausgelöst«, resümierte der einstige Chefredakteur des Senders, Egon Bahr: »Die ungeheure Macht des elektronischen Mediums ist zum ersten Mal in der Geschichte, so glaube ich, am 17. Juni bewiesen worden.«4 Die Frage liegt nahe, wie weit dies zutrifft. In der Nacht des 16. Juni 1953 hatte beim Direktor des Senders, Gordon Ewing, das Telefon geklingelt – in der Leitung war Charles Hulicks vom

1 So Gordon Ewing, zit. n. Brewster S. Chamberlain/Jürgen Wetzel, Der 17. Juni und der RIAS. Aus einem Gespräch mit dem ehemaligen RIAS-Direktor Gordon Ewing, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1 (1982), 165–190, 168. 2 Zit. n. dem Prozessbericht gegen fünf RIAS-Agenten von Radio DDR (1955), Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) Potsdam, DOK 162. 3 Zit. n. Christian F. Ostermann, Amerikanische Propaganda gegen die DDR. US-Informationspolitik im Kalten Krieg, in: Gerald Diesener/Rainer Gries (Hg.), Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1996, 113–127, 119. 4 Interview mit Egon Bahr (1922–2015) in Berlin am 3. 6. 2002 durch den Autor, DAT-Mitschnitt.

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Michael Kuhlmann

Berliner Büro des US-amerikanischen Hochkommissariats: »Mein Gott, Gordon, sei vorsichtig. Du kannst einen Krieg mit dieser Station auslösen.«5

»Eine freie Stimme der freien Welt«6 – das amerikanische Experiment im Schöneberger Fernamt Dabei begann alles in bescheidenem Rahmen – mit einem Drahtfunksender, den die USA im Winter 1945/46 eingerichtet hatten. Im zerbombten Berlin sollte er zumindest ein Stück weit ihre mediale Unterlegenheit wettmachen, denn bereits vor Ende der Kämpfe im Mai 1945 hatten deutsche Kommunisten die Kontrolle über den dortigen Rundfunk übernommen.7 Erst kurz vor Weihnachten traten die Amerikaner in Aktion – im Fernamt in Schöneberg begannen sie mit der Einrichtung eines eigenen Senders.8 Geleitet wurde er von einem deutschen Intendanten, der einem US-Kontrollgremium unter Vorsitz eines Direktors unterstellt war. Die Aufsicht übernahm die Public Affairs Division der amerikanischen High Commission of Germany in Mehlem bei Bonn. Das Programm gestalteten allerdings deutsche Mitarbeiter*innen.9 In Ermangelung einer Sendeanlage griff man auf die aus dem Luftkrieg bekannte Drahtfunktechnologie zurück. Freilich waren darüber nicht mehr als 13 Prozent der Rundfunkempfänger*innen im US-Sektor zu erreichen. Immerhin verhalf die Technik dem neuen Sender zu einem eingängigen Namen: DIAS – Drahtfunk im amerikanischen Sektor.10 Erst im Sommer 1946 wurde aus dem DIAS der RIAS: Aus Restbeständen der Wehrmacht hatte man einen kleinen Mittelwellensender errichtet. Oberbürgermeister Arthur Werner erklärte anlässlich des Sendestarts, dass die durch den Einzug der Besatzungsmächte entstandene »internationale 5 Zit. n. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 174. 6 Stationsansage des RIAS, Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) Frankfurt am Main, 2743233. 7 Vgl. Erich Richter, Entwicklungsetappen des Deutschen Demokratischen Rundfunks II. Entscheidende Schritte der demokratischen Umwälzung von 1945 bis 1946, in: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks 4/3 (1970), 5–72, 14. 8 Vgl. Herbert Kundler, RIAS Berlin. Eine Radio-Station in einer geteilten Stadt. Programme und Menschen – Texte, Bilder, Dokumente, Berlin o. J. [1994], 39–41; Veronika Lehmann, RIAS Berlin – ein amerikanisch kontrollierter Sender zwischen journalistischer und propagandistischer Aufgabenstellung – dargestellt an ausgewählten Beispielen, unveröffentlichte Magisterarbeit, FU Berlin 1988, 38. Gründungsbefehl im Faksimile bei Fred Grätz, RIAS Berlin. Vom »Hetzsender« zum Radio Belanglos?, in: Neue Medien 3/13 (1986), 68–73, 71. 9 Vgl. Kundler, RIAS, o. J. [1994], 409–411; Michael Maass, Eine freie Stimme der freien Welt. RIAS Berlin, in: Medienstadt Berlin, Berlin [W.] 1988, 265–276, 266; Markus Wacket, »Wir sprechen zur Zone«. Die politischen Sendungen des RIAS in der Vorgeschichte der JuniErhebung 1953, in: Deutschland Archiv 26 (1993), 1035–1048, 1045f. 10 Zur Entwicklung des DIAS vgl. Kundler, RIAS, o. J. [1994], 42f., 45; Hans Bausch, Rundfunkpolitik nach 1945. Erster Teil: 1945–1962, München 1980, 129.

»Die Macht des Rundfunks«

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Atmosphäre« Berlins jetzt »eine neue Nuance durch die Inbetriebnahme eines amerikanisch kontrollierten Rundfunksenders« erfahre.11 Das war brisant: Während sich die Funkmedien des Westens zumindest theoretisch dem angelsächsischen »Liberalismus-Modell« verpflichtet sahen,12 galten im Osten die Prinzipien der leninistischen Pressetheorie:13 Der Journalismus hatte »in untrennbarer Einheit mit der marxistisch-leninistischen Arbeiterpartei«14 als »operativer Helfer, Freund und Berater aller Werktätigen«15 zu agieren.16 So prallten hier grundverschiedene Denkweisen und Praktiken aufeinander.

Radio an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts Das machte sich im RIAS bald bemerkbar: Am 12. Februar 1948 leitete der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay die »Operation Back-talk« ein. Das Ziel war, den medialen Botschaften des Ostens nun entschlossen entgegenzutreten. Während der Blockade Berlins 1948/49 verstärkten die RIAS-Redaktionen schließlich ihre politische Arbeit.17 Zu einem Kernstück der Informationsstrecken avancierte eine Sendereihe, die sich nach mehreren Umbenennungen ab Januar 1950 Berlin spricht zur Zone nannte. Sie nahm in Berichten und Kommentaren Politik, Ökonomie und Gesellschaft des anderen deutschen Staats offen aufs Korn.18 Flankierend warnte der RIAS über Jahre hinweg vor Spitzeln des Staatssicherheitsdienstes: Er nannte offen deren Namen und Adressen.19 Über die Reichweite von Berlin spricht zur Zone lassen sich nur Vermutungen anstellen. Laut einem internen Papier der US-Behörden stellte die Redaktion durch fingierte Telefonanrufe in der DDR bald fest, dass SED-Funktionäre die 11 Arthur Werners Ansprache zum Sendebeginn des RIAS: DRA Frankfurt am Main, 2773502. 12 Details des Modells erläutert Siegfried Weischenberg, Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation, Bd. 1: Mediensysteme, Medienethik, Medieninstitutionen, Opladen 1992, 88f., 99, 102. 13 Vgl. Dieter Boeck u. a., Lehrmaterialien zur sozialistischen Rundfunkjournalistik, Teil 1, Berlin [O.] 1972, 7f.; Klaus Preisigke, Zur Spezifik des sozialistischen Fernsehjournalismus, Leipzig 1981, 56, 62. 14 Hermann Budzislawski, Journalistik als Wissenschaft, in: Zeitschrift für Journalistik 3/2 (1962), 43–49, 44. 15 Ansprache des Generalintendanten Hans Mahle zum Richtfest des Fernsehzentrums BerlinAdlershof am 13. 6. 1950, DRA Potsdam, DOK 360. 16 Vgl. Hans Poerschke, Theoretische Grundlagen des sozialistischen Journalismus, Leipzig 1983, 15, 26, 86–88; Preisigke, Spezifik, 1981, 75. 17 Vgl. Wilhelm Ehlers, Drei Jahre RIAS Berlin 1946–1949, Berlin [W.] o. J., o. S. [7]. 18 Vgl. Kundler, RIAS, o. J. [1994], 105, 109–113; Ansgar Diller, Das Ostbüro der SPD und RIAS Berlin. Eine Liaison im Kalten Krieg, in: Rundfunk und Geschichte 18 (1992), 157–158. 19 Beispielhaft: Deutschlandradio Berlin (DLR Berlin), Schallarchiv, 26062.

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Sendung regelmäßig hörten.20 Auch sonst schien der Sender sein Publikum zu finden. So berichtete etwa der Zeitzeuge Wolfgang Stiehl aus Schönebeck/Elbe von folgender Beobachtung aus dem Jahr 1950: »In der Bäckerlehre, da ging morgens um drei schon der RIAS los, und der lief dann bis zum Feierabend – der Meister hatte vorn in seiner Wohnstube das Radio angemacht und einen Lautsprecher rübergelegt.«21 Zu besonderer Glaubwürdigkeit verhalf den RIAS-Redaktionen, dass sie über das Geschehen jenseits der Systemgrenze gut Bescheid wussten. Neuigkeiten aller Art erfuhren sie nicht zuletzt von Besucher*innen aus der DDR, die täglich ins Funkhaus kamen.22 Auch Wolfgang Stiehl machte sich 1952 auf den Weg dorthin und sprach mit einem Jugendfunkredakteur. Gerade dieser Kontakt – verbunden mit weiteren regimekritischen Aktivitäten – brachte ihm in der DDR fast vier Jahre Haft ein.23 In den Blickpunkt vieler Sendungen rückten bald jugend- und vor allem wirtschaftspolitische Themen – wenn etwa der Landfunk Ratschläge erteilte, wie man den Beitritt zu einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) verweigern könne, oder wenn der RIAS die umstrittenen Betriebskollektivverträge unter die Lupe nahm. Aus letzterem Anlass etablierte sich mit Werktag der Zone eine tägliche Sendereihe, die sozioökonomische Konflikte in der DDR behandelte und die im Juni 1953 eine spezielle Rolle spielen sollte. Technisch erreichte die Station über die leicht empfangbaren Mittelwellen letztlich mühelos das gesamte Territorium der DDR.24 RIAS-Direktor Gordon Ewing staunte: »Man konnte eine Lawine auslösen. Es war faszinierend, die Macht des Rundfunks unter diesen besonderen Umständen zu beobachten.«25

20 Vgl. Background on RIAS, anonymer Schriftsatz, DRA Potsdam RIAS-Depositum (RIASDep.) 16/92/11, 7. 21 Interview mit Wolfgang Stiehl (1934–2014) in Magdeburg im August 2001 durch den Autor, DAT-Mitschnitt. 22 Vgl. Kundler, RIAS, o. J. [1994], 292–294; Manfred Rexin, »Feindsender« RIAS, in: Heide Riedel (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit … 40 Jahre DDR-Medien. Eine Ausstellung des Deutschen Rundfunk-Museums 25. August 1993 bis 31. Januar 1994, Berlin o. J. [1993], 38–42, 39. 23 Interview mit Wolfgang Stiehl, a. a. O. 24 Vgl. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 166–168; Kundler, RIAS, 164–168, 171, 173, 175– 177; Lehmann, RIAS Berlin, 47, 67; Background on RIAS, 3. 25 Zit. n. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 168.

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Der RIAS und der 17. Juni 1953 – Frühjahr 1953: Die offene Flanke der DDR 1953 spitzte sich die Situation im Osten zu: Der »planmäßige Aufbau des Sozialismus« überforderte die ökonomische Kraft der DDR. Nach dem Tod Stalins breitete sich im Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) Verunsicherung aus. Weite Bevölkerungskreise waren offenkundig unzufrieden, erst recht als die SED sie – ohne durchschlagenden Erfolg – zu einer freiwilligen Erhöhung der »technisch begründeten Arbeitsnormen« aufrief. So griff der Ministerrat Ende Mai 1953 zum letzten Mittel: Mit einer Frist zum 30. Juni erhöhte er die Normen per Dekret um zehn Prozent. Der RIAS reagierte. Am 4. Juni kommentierte Martin Koch die Ostberliner Wirtschafts- und Sozialpolitik: Unter ihr, so Koch, litten gerade die Arbeiter und Bauern. »Das ist kein System des Anreizes mehr, sondern ein System der Peitsche, das den Hunger einkalkuliert als stärksten Antreiber.« Allerdings sei unklar, wie sich Moskau dazu verhalte, und so gerate die Normenkampagne zu einem »Wettlauf mit der Zeit«. Deshalb müssten die Arbeiter*innen die Normenerhöhung verschleppen. Die Verheißung, durch Mehrarbeit werde man bald besser leben, sei »nichts als ein lügnerisches Versprechen«, denn das ersparte Geld fließe einzig in militärische Aufrüstung. Und weiter: »Da ist die Verbindung dieses Lohnkampfes zur großen Politik: Jede Normenerhöhung dient der Stärkung eines Systems, dessen Sturz und Ende das erste und wichtigste politische Anliegen der Arbeiter ist.«26Am 9. Juni fuhr Gerhard Haas, der Leiter des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), in der Sendung Werktag der Zone noch schwereres Geschütz auf: Mit dem »brutalen Normendiktat« begehe die DDR »den größten allgemeinen Lohnraub seit Jahrzehnten«. An der Spitze der »Ausbeuter« sah Haas den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), dessen Mitarbeiter nun in den Betrieben unterwegs seien, um für Verständnis zu werben: »Wo Ihr sie nicht hinauswerfen könnt, zeigt ihnen den Hass und die Verachtung, die Ihr für die Antreiberorganisation empfindet.« Die FDGB-Vertreter seien angewiesen, in Maßen auch kompromissbereit zu verhandeln: »Macht davon Gebrauch, stoßt nach, Kollegen! […] Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!«27 Berlin spricht zur Zone griff diesen Punkt zwei Tage später auf. Denn jetzt schien die SED tatsächlich Schwäche zu zeigen.

26 Berlin spricht zur Zone (BZ) Nr. 1008 v. 4. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055. 27 Werktag der Zone (WdZ) Nr. 654 v. 9. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055.

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Am Vorabend des Aufstands: Die SED geht auf »Neuen Kurs« »Die begangenen Fehler korrigieren und den Lebensstandard […] verbessern«28 zu wollen, erklärte das Politbüro am 9. Juni 1953. Für RIAS-Kommentator Matthias Walden war es ein politischer Offenbarungseid, der zeige, wie der Handlungsspielraum der SED schwinde. Zwei Tage nach dem Erlass des Kommuniqués konstatierte Walden, das Regime gerate zwischen der Bevölkerung und den Direktiven aus Moskau in Bedrängnis. Die Bevölkerung müsse nun »auf der Basis der Verfassung ihre Rechte wahrnehmen. Die Empfehlungen des Politbüros sind kein Geschenk, sondern eine Zusage auf Wiedergutmachung eines Teiles des begangenen Unrechts«, so Walden. »Der Meinungs- und Gesinnungsterror ist nicht beseitigt«, ergänzte ein redaktioneller Text: »Das Unrecht an Tausenden, Hunderttausenden wurde nicht gut gemacht. Die Gefängnisse und Zuchthäuser öffneten ihre Tore nicht. Viel, sehr viel steht noch aus.« Das Kommuniqué sei »eine ungewöhnliche Chance für die Bevölkerung. Sie darf nicht ungenutzt bleiben.«29 Damit war das Verhalten des RIAS gegenüber dem »Neuen Kurs« der SED festgelegt. Am 13. Juni ging der Werktag der Zone noch einen Schritt weiter und spekulierte in einem schnoddrigen Kommentar mehr oder weniger offen darüber, ob die SED noch fest im Sattel sitze: »Es wird ja so vieles korrigiert, der Plan, die Parteilinie. Warum nicht auch die Normenerhöhungen?«30 Schon tags darauf deutete die Parteizeitung Neues Deutschland (ND) unter dem Titel »Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen«31 in dieser heiklen Frage eine Kursänderung an. »Das ist ein Hinweis für alle Arbeiter«, hieß es in der Sendung Werktag der Zone, wenn sich die Regierung auch noch scheue, »Konsequenzen aus dem Politbürobeschluß vom 9. Juni zu ziehen«.32 Als die Arbeiter*innen und Angestellten in Ostberlin und in der DDR diesen Beitrag hörten, begann die Spannung zu steigen. Es war der frühe Morgen des 16. Juni, und keine zwölf Stunden zuvor hatten die RIAS-Nachrichten eine überraschende Meldung verbreitet – in Berlin-Friedrichshain wurde gestreikt.33

28 Kommuniqué des SED-Politbüros v. 9. 6. 1953, in: Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5. Aufl., Bonn 1991, 519–521. 29 BZ Nr. 1014 v. 11. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055. 30 WdZ Nr. 658 v. 13. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055. 31 Siehe: Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift über den Juni-Aufstand in der sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin, Bonn 1953, 41–43. 32 WdZ Nr. 662 v. 16. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep. F 0055. 33 Vgl. Manfred Rexin, Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953, in: ders. (Hg.), Radio-Reminiszenzen. Erinnerungen an RIAS Berlin, Berlin 2002, 443–461, 444.

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Zum Zerreißen gespannt: Die Lage am 16. Juni 1953 Der RIAS war das einzige westliche Medium, das die Nachricht zu diesem frühen Zeitpunkt brachte – anderenorts hielt man sie für eine Fehlinformation. An diesem Morgen aber strömten schon deutlich mehr Besucher*innen als sonst ins Funkhaus. Die meisten kamen nach Gordon Ewings Beobachtung aus Ostberlin: »Jeder sprach, jeder war erregt, einige waren so erregt, daß sie weinten.«34 Zusätzlich hatte die Tribüne des FDGB noch einmal Öl ins Feuer gegossen: »Jawohl, die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen sind in vollem Umfang richtig.«35 Ewing wartete vergeblich auf Direktiven aus Mehlem oder Washington. Dann ordnete er auf eigene Faust eine intensive Berichterstattung an – »nur wir waren an Ort und Stelle«.36 Den Anfang machten die Nachrichten um 13:30 Uhr, die neue Demonstrationen gegen die Normenerhöhung meldeten: »Den Demonstranten, die durch die Stalinallee zogen, schlossen sich zahlreiche Berliner an.«37 Drei Stunden später war bereits von »großen Massendemonstrationen der Arbeiter« die Rede. Sie seien vor das Haus der Ministerien gezogen, forderten die »Beseitigung der Normen« und proklamierten: »Weg mit der Regierung, wir wollen freie Wahlen!«38Auch der RIAS selbst sah sich bald in die Ereignisse hineingezogen. Unter die Ostberliner Besucher*innen des Senders hatte sich eine dreiköpfige Delegation aus zwei Arbeitern und einer Angestellten gemischt, die den Chefredakteur Egon Bahr bestürmte, der RIAS solle nun offen zum Aufstand aufrufen: »Ich sehe sie noch vor meinem Schreibtisch mit den leuchtenden Augen des revolutionären Feuers.«39 Allerdings: »Ich habe denen gesagt: Habt ihr denn irgendwelche Vorbereitungen, organisatorisch, Kontakte zu irgend… ›Nein, haben wir nicht.‹ Ich sage, dann kann es nicht funktionieren, kein Aufstand kann funktionieren ohne organisatorische Vorbereitung! Und dann haben wir ihnen geholfen, ich glaube, vier oder fünf Punkte zu formulieren in der Reihenfolge dessen, was sie eigentlich wollten.«40

Vier Forderungen waren es, die der RIAS kurz vor 20 Uhr an diesem 16. Juni erstmals verbreitete: 1. Auszahlung der Löhne bei der nächsten Lohnzahlung bereits wieder nach den alten Normen. 34 Zit. n. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 170f. 35 Otto Lehmann, Zu einigen schädlichen Erscheinungen bei der Erhöhung der Arbeitsnormen, in: Tribüne, 16. 6. 1953, zit. n. Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, 153. 36 Zit. n. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 173. 37 Zit. n. Rexin, Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953, 2002, 444. 38 DLR Berlin, Schallarchiv, B225464-104. 39 Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, 78. 40 Interview mit Egon Bahr, a. a. O.

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2. Sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten. 3. Freie und geheime Wahlen. 4. Keine Maßregelungen von Streikenden und Streiksprechern.41

Die Forderungen wurden in den folgenden Nachrichtensendungen jeweils wiederholt. Schließlich erhielt Gordon Ewing einen erregten Anruf von Hochkommissar John McCloy, der sich erkundigte, »ob der RIAS vielleicht den Dritten Weltkrieg beginnen wolle«42. Egon Bahr erinnerte sich, dass Ewing sich daraufhin in die Chefredaktion begab und die weitere Verbreitung der Forderungen verbot.43 Schon wenige Minuten nach deren Ausstrahlung hatte RIAS-Programmdirektor Eberhard Schütz das Wort ergriffen.44 In seinem Kommentar betonte dieser, dass »die Bevölkerung Ostberlins und der Sowjetzone […] das Ende der totalitären Herrschaft der deutschen Satelliten des Kremls« verlange. Brachte schon die Bezeichnung »in der Sowjetzone« eine neue Dimension ins Spiel, so eröffnete Schütz kurz darauf die gesamtdeutsche Perspektive: »Es ist heute Ihre Aufgabe, verehrte Hörerinnen und Hörer, den sowjetrussischen und sowjetdeutschen Machthabern klarzumachen, dass Sie und wir diese In-Anführungszeichen-Fehler nicht länger als Fehler anerkennen. Dass wir und Sie einen Gesinnungswandel erwarten.«45

Offen zur Erhebung aufgerufen hatte Schütz nicht, aber die Atmosphäre war offenkundig gespannt: »Wir blieben im Funkhaus und fanden kaum Schlaf«,46 erinnerte sich Bahr. Und so ging bald nach Tagesanbruch ein Beitrag über den Sender, der Schütz’ Kommentar an Deutlichkeit noch weit übertraf.

Die Dämme brechen: Der 17. Juni 1953 Nach Erinnerung Gordon Ewings und des damaligen RIAS-Mitarbeiters Gerhard Löwenthal war es der Westberliner DGB-Chef Ernst Scharnowski selbst, der sich in der Nacht mit der Absicht, zum Generalstreik in der DDR aufzurufen, an den Sender wandte.47 Egon Bahr zufolge war die Initiative von den RIAS-Mitarbeiter*innen ausgegangen. Sie hatten erfahren, dass die Streikenden für den Morgen 41 42 43 44

Zit. n. Rexin, Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953, 2002, 451. Bahr, Zu meiner Zeit, 1996, 78. Interview mit Egon Bahr, a. a. O. »Schütz schwitzte, bis die Sendung begann«, beobachtete Ewing, »ich schaute ihm über die Schulter und schwitzte noch mehr.« Zit. n. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 172. 45 DLR Berlin, Schallarchiv, B225464-105. 46 Bahr, Zu meiner Zeit, 1996, 79. 47 Vgl. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 174 sowie Gerhard Löwenthal, Ich bin geblieben. Erinnerungen, 2. Aufl., München/Berlin [W.] 1987, 228.

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eine Versammlung planten – um 7 Uhr auf dem Strausberger Platz an der Stalinallee. Die Redaktion habe um die Sicherheit der Demonstrant*innen gefürchtet, »denn ein paar Leute sind schnell verhaftet«48. Aber den Redakteur*innen sei klar gewesen, dass sie selbst nicht zur Teilnahme aufrufen durften. »Wir haben dann den DGB-Vorsitzenden aus dem Bett geholt, und der hat eine Sympathieerklärung für die Streikenden verlesen und dabei auch fallenlassen, daß sie sich am nächsten Morgen treffen.«49 In Hinblick auf die Aktivitäten des RIAS zum 17. Juni markiert dieses dreieinhalbminütige Tonband den Höhepunkt. Um 5:36 Uhr drehten sich im Werktag der Zone die Bandteller der Wiedergabemaschine, und Ernst Scharnowskis Stimme war in Radios von Rügen bis in den Thüringer Wald zu hören: »Die gesamte Ostberliner Bevölkerung darf […] auf die stärksten und erfolgreichsten Gruppen der Ostberliner Arbeiterbewegung vertrauen. Lasst sie nicht allein!« Denn diese setzen sich »auch für die allgemeinen Menschenrechte« ein. »Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer [Anm.: Mitarbeiter*innen der Berliner Verkehrsbetriebe] und Eisenbahner bei, und sucht eure Strausberger Plätze überall auf!«50 Dieser nicht ohne Pathos gesprochene Satz bedeutete den Aufruf zur Arbeitsniederlegung in der gesamten DDR. Und im Ganzen war Scharnowskis Erklärung so brisant, dass die Regierung in Bonn und die SPD darin später eine »lebensgefährliche Provokation und unbegreifliche Verantwortungslosigkeit«51 erblickten. Dennoch war das Band um 6:40 Uhr abermals gesendet worden.52 Nach Egon Bahrs Erinnerung sandten die RIAS-Mitarbeiter*innen »einen unserer Amis im Jeep in den Ostsektor, um sich umzuschauen. Er kam zurück: Es seien Tausende; der ganze Sektor ›summe‹.«53 Die RIAS-Reporter blieben wohlweislich in Westberlin, berichteten aber von dort und von der Sektorengrenze aus. Kurz nach zehn Uhr beobachtete Jürgen Graf, wie das Büro der Volkspolizei im Columbushaus am Potsdamer Platz von Demonstrant*innen besetzt wurde. Eine Viertelstunde später interviewte Rainer Höynck Stahlarbeiter aus Henningsdorf, die zu Tausenden durch Westberlin zogen, um sich ihren streikenden Kollegen anzuschließen. Mittags dann verfolgte Wolfgang Hanel, wie zwei Jugendliche die rote Fahne vom Brandenburger Tor herunterwarfen; und kurz darauf befragte Höynck einige Zeug*innen über erste Einsätze sowjetischer Panzer im Lustgarten.54

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Bahr, Zu meiner Zeit, 1996, 79. Interview mit Egon Bahr, a. a. O. DLR Berlin, Schallarchiv, B225310-106. Juni-Aufstand. Ein Fetzen Fahnentuch, in: Der Spiegel 7/26 (1953), 7f. DRA Berlin, RIAS-Dep., F 0003. Bahr, Zu meiner Zeit, 1996, 79. Zitate der Reportagen nach Rexin, Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953, 2002, 454–457.

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Schock um die Mittagszeit: Der RIAS wirft das Ruder herum Währenddessen verfolgte Gordon Ewing gemeinsam mit einem deutschen Redakteur über ein zweites Radio laufend das Programm des DDR-Rundfunks. Bald nach 13 Uhr hörten die beiden dort eine Durchsage mit einem Sprachduktus, der Ewing an den Klang nächtlicher Drohanrufe erinnerte.55 Es wurde der Ausnahmezustand für Ostberlin verkündet: »Ich erinnere mich, daß wir uns ansahen, aus dem Büro rasten, Stühle umstießen, den Fahrstuhl links liegen ließen und zu dem Sendestudio zwei Treppen hinaufrannten.«56 Die gerade angelaufene Mittagssendung Berlin spricht zur Zone fand ein jähes Ende. Der Programmablaufplan vermerkt für 13:44 Uhr lapidar: »Meldung ›Ausnahmezustand‹ (Radio Berlin) und Warnmeldung«.57 Jetzt lautete die Parole »Deeskalation«, denn auch der zweitägige Besucher*innenansturm hatte den RIAS-Mitarbeiter*innen gezeigt, dass ihre Programme in der DDR Resonanz fanden. Noch mehr als am Vortag herrschten an diesem 17. Juni auf den langen Fluren des Schöneberger Funkhauses chaotische Zustände.58Aus diesen Turbulenzen hervorgegangen ist wahrscheinlich auch eine Aufnahme, die sich im Archiv des RIAS erhalten hat, bei der aber nichts darauf hindeutet, dass sie jemals gesendet wurde. Wie es scheint, haben hier Ostberliner Streikende selbst das Wort ergriffen. Das gut achtminütige, hörbar nicht saubergeschnittene Band entstand im Studio, vermutlich am Nachmittag oder Abend des 17. Juni. Am Mikrofon stehen eine Frau und mehrere Männer, bei deren ungelenkem, mitunter stockendem Sprachduktus man eine professionelle Qualifikation für das Sprechen im Radio klar verneinen kann: [Anweisung aus der Regie:] »So, bitte, wir können!« [Männerstimme am Mikrofon:] »Deutsche Arbeiter! Deutsche Bauern! Wir sprechen hier in dem Rundfunk in einer Stunde der Not, die dadurch sich aufbeschworen hat, dass wir im Lustgarten unsere Sprache … unsere Aussprache [sic] durch die russischen Aufmärsche von Panzern gehindert wurden. Wir sind nicht im Besitz von Funkanlagen, sonstigen technischen Mitteln, die es möglich machen, die gesamte streikende Bevölkerung [leises Papierrascheln] zu … organisieren und sie in ihrem Streit um die Einheit Deutschlands und um das … um ein besseres Leben … aufzurufen. In dieser Stunde der Not haben wir uns ein Mikrofon besorgt, um … da dieses möglich machen soll, an euch, ihr lieben Deutschen aus der Ostzone, Worte zu übermitteln, die uns seit acht Jahren im … im Herzen ruhen. Unsere jetzige Regierung hat uns schmählich betrogen und hat ihre …« [Schnaufen] [Zweite Männerstimme, nahe dem Mikrofon, leise:] »Versprechung.«

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Vgl. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 183. Zit. n. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 176. Ablaufplan des Sonderprogramms von 13:44 bis 16:30 Uhr: DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0112. Vgl. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 183f.

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[Erste Männerstimme weiter:] »… Versprechung in k… keineswegs gehalten! Die wirtschaftliche Lage durch das Verlassen der Bauern hat uns in den Hunger getrieben. Wir sprechen hier als Delegation, die heute, am 17.6.53, sich um neun Uhr auf dem Lustgarten zusammengefunden hat, und es uns nicht vergönnt war, unsere Aufgaben auf offener Berliner Straße zu vollenden! Aus diesem Grunde richten wir folgende Bitte an euch Bauern und Arbeitern [sic] in der Ostzone sowie in den Berliner Sektoren: Lasst uns nicht im Stich! Haltet aus und streiket bis zum Letzten – bis die Einheit Deutschlands vollzogen und unsere Punkte von den regierenden Mächten anerkannt werden!« [Anweisung aus der Regie:] »Bitte jetzt die Punkte der Reihe nach.« [Erste Männerstimme am Mikrofon, ruhigerer, leiserer Duktus:] »Jawohl.« [Nun wieder im vorherigen Duktus der Ansprache] »Erstens! Freie Wahlen in Groß-Berlin, einbeschlossen [sic] die DDR – zweitens: freien Mund und freie Propaganda für jeden deutsch Denkenden auf öffentlichen Straßen und Plätzen! Drittens! Rücktritt der Regierung! Viertens bitten wir den Kommandant [sic]… Iba…rova [Anm.: die Rede ist von Piotr Dibrowa] von der russischen Armee, uns in unseren Streitigkeiten [sic], die eine reine deutsche und eine reine Berliner Angelegenheit ist [sic], nicht mit Waffen aufzureizen!«59

Zwar ist denkbar, dass hier mit Schauspielern gearbeitet wurde, doch die Kommunikation zwischen Sprechern und Regie entkräftet diese Vermutung ebenso wie das charakteristisch unprofessionelle Auftreten der Sprecher am Mikrofon. Dass ein solches Band im RIAS produziert wurde, kann zum einen auf senderinterne Abstimmungslücken hindeuten, zum anderen könnte es mit dem Ruf nach der »Einheit Deutschlands« auch das politische Engagement und die Reaktion der RIAS-Mitarbeiter*innen auf den Fehlschlag des Aufstands illustrieren. Über den Sender gingen letztlich aber Beiträge von anderer Natur: Jürgen Grafs sachlich-ruhig gesprochene Reportagen vom Potsdamer Platz vermittelten im Laufe des Nachmittags den zutreffenden Eindruck einer Demonstrationsbewegung, deren Kraft gebrochen war. Wolfgang Hanel schilderte um 22 Uhr eine menschenleere Szenerie.60 Akustisch konnte man kaum deutlicher zeigen, dass der Aufstand gescheitert war. So nahm auch die Redaktion von Berlin spricht zur Zone in ihrer Abendsendung und am Tag darauf eine zurückhaltende Position ein. Sie dokumentierte die Tagesereignisse.61 Den Abendkommentar des 18. Juni sprach Egon Bahr. Er mahnte zur Besonnenheit und beschrieb die Begegnung mit der dreiköpfigen Delegation zwei Tage zuvor:

59 DLR Berlin, Schallarchiv, B225310. 60 DLR Berlin, Schallarchiv, B225310-111. 61 DLR Berlin, Schallarchiv, B225310-110.

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»Verehrte Hörer, es war ergreifend, mit Menschen aus Ostberlin zu sprechen, die um direkte Hilfe fast flehentlich baten! Und es war unsagbar schwer, sie ihnen zu verweigern! Verweigern zu müssen, weil sonst der ganze Sinn, die ganze Größe des Ereignisses gefährdet worden wäre, die gerade darin bestand, dass alles unorganisiert, dem Willen dieser Menschen in Ostberlin entsprang. Es war tragisch, helfen zu wollen und nicht unmittelbar helfen zu dürfen!«

Bahr konnte allenfalls einen moralischen Sieg der Streikenden verbuchen: »Die Bevölkerung hat ihre Kräfte mit dem Regime gemessen. Die Arbeiterschaft und die Bevölkerung sind sich ihrer Kraft bewusst geworden. Sie haben der SED die größte Niederlage seit ihrem Bestehen zugefügt.«62

Der RIAS kehrt zurück zur gewohnten Schärfe Doch rasch schwenkten die Redaktionen zurück auf einen härteren Kurs. Alsbald nach dem Aufstand hatten sie begonnen, auf eine Konfliktlinie zwischen der Sowjetunion und den »Satelliten von Pankow«63 hinzuweisen. Die Tage seit dem 9. Juni hätten bewiesen, so Martin Koch, »dass also alles, was die Besatzungsmacht an eigenem politischen Ruf und Prestige in diese Partei steckte, eine Fehlinvestition war«.64 Am 30. Juni zog Matthias Walden Parallelen zwischen der Eroberung Berlins durch die Sowjetarmee 1945 und den Einsätzen 1953: Die Stadt habe nun zum zweiten Mal sowjetische Panzer erlebt. Der Aufstand sei aber »kein Putschversuch gegen die Besatzungsmacht« gewesen. Nicht ihr gelte der Volkszorn, »er gilt denen, die Blumen auf die Panzer herablügen«.65 Die SED wurde ins Visier genommen. Schon am 19. Juni hatte die Hauptabteilung Politik gewarnt, dass »zahlreiche Ulbricht-Leute der SED in Werkskleidungen, Maureranzüge und Arbeitsanzüge gesteckt« worden seien und nun vor Ort »mit den Arbeitern diskutieren« sollten: »Seht Euch bei jedem Gespräch Euren Partner genau an!«66 Fünf Tage später begann der Werktag der Zone unvermittelt mit einem Manifest, das die Freilassung Inhaftierter verlangte.67 Solch offene Erklärungen blieben aber Einzelfälle. Elf Tage später wurde in der Sendung Berlin spricht zur Zone die Berichterstattung zum Juniaufstand offiziell für beendet

62 DRA Frankfurt am Main, 2773538. 63 RIAS-Kommentator Matthias Walden in: BZ Nr. 1022 v. 20. 6. 1953, DRA Potsdam, RIASDep., F 0055. Mit »Pankow« bezeichneten westliche Akteure in dieser Phase des Ost-WestKonflikts die Regierung der DDR, die sie – wie hier Matthias Walden – für ein Marionettenregime (»Satelliten«) Moskaus hielten. 64 BZ Nr. 1021 vom 19. 6. 1953, DLR Berlin, Schallarchiv, 225310-205. 65 BZ Nr. 1027 v. 26.6. und Nr. 1030 v. 30. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055. 66 DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055. 67 WdZ Nr. 309 v. 24. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0003.

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erklärt.68 Und doch hatte die Redaktion prophezeit: »Der Ausnahmezustand kann und wird nicht ewig dauern. Und dann stehen die Funktionäre, stehen die Genossen wieder den Arbeitern und der Bevölkerung gegenüber – ohne Panzer.«69 Bis dahin sollte es allerdings 36 Jahre dauern: bis zum 9. Oktober 1989 mit der Montagsdemonstration der 70.000 in Leipzig,70 bei der die SED vor einer neuen DDR-Bürgerbewegung erstmals kapitulierte.

Im »Propaganda cold war«71: Der Katalysator des Aufstands Dass der RIAS sich dem Vorwurf des Ostens ausgesetzt sah, den Streikenden »pausenlos Direktiven«72 erteilt zu haben, schützte ihn nicht vor Kritik aus dem Westen. So vermeldete das Montags-Echo der FDP, der Sender habe am 15. Juni unzureichend berichtet73 – zu einer Zeit freilich, in der noch kein anderes westliches Medium ein Wort über die Streiks verloren hatte. Tatsächlich waren die USA 1953 auf Unruhen in der DDR nur unzureichend vorbereitet.74 Gordon Ewing vermutete später, dass man sich weder in Washington noch in Mehlem darüber klar gewesen war, »welche Macht die ausgestrahlten Nachrichten in dieser Situation hatten«.75 Im Funkhaus wusste man es offenbar besser und schaltete am Mittag des 17. Juni auf Deeskalation. Der RIAS hatte eine katalytische Arbeit entfaltet: Er informierte die DDRBevölkerung in einem Moment, in dem das Londoner Foreign Office die Lage als »explosive throughout the zone«76 beurteilte. Aktionen wie die Versammlung am Strausberger Platz waren aber schon geplant, bevor die Schöneberger Redaktionen davon erfuhren. Heute scheint klar, dass die Forderungskataloge außerhalb Ostberlins den vier vom RIAS verbreiteten Forderungen mitunter ähnelten – eine wörtliche Übernahme war aber keineswegs die Regel.77 Den Aufstand ausgelöst – wie Egon Bahr 2002 im Interview befand – hatte der Sender also nicht. »Die Macht des Rundfunks« blieb begrenzt.

68 BZ II Nr. 309 v. 4. 7. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055. 69 BZ Nr. 1024 v. 23. 6. 1953, DRA Potsdam, RIAS-Dep., F 0055. 70 Vgl. Erhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Aufl., Bonn 1997, 854f. 71 Julian Hale, Radio Power. Propaganda and International Broadcasting, London 1975, 16. 72 So die SMAD-Zeitung Tägliche Rundschau am 19. Juni, zit. n. Lehmann, RIAS Berlin, 64. 73 Lehmann, RIAS Berlin, 62, zitiert das Montags-Echo vom 22. 6. 1953. 74 Vgl. Ostermann, Amerikanische Propaganda, 1996, 120. 75 Zit. n. Chamberlain/Wetzel, Der 17. Juni, 1982, 182. 76 Zit. n. Michael Gehler, Der 17. Juni 1953 aus der Sicht des Foreign Office, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25/1993 (18. 6. 1993), 22–31, 22. 77 Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, 1997, 85.

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Der Befund einer entschieden »sympathisierende[n] Berichterstattung«78 hingegen trifft zu: Sie hielt Menschen in der gesamten DDR auf dem Laufenden, und das wird den Aufstand landesweit gestärkt haben. Überdies dürfte der Station auch eine Symbolfunktion zugekommen sein. »Man hörte auf der Straße laut den RIAS«, erinnerte sich eine Zeitzeugin aus Halle an der Saale. »Die Menschen waren einfach glücklich.«79

78 Ilse Spittmann, Zum 40. Jahrestag des 17. Juni, in: Deutschland Archiv 26 (1993), 635–639, 636. 79 Zit. n. Manfred Hagen, DDR – Juni ’53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus, Stuttgart 1992, 154.

Kristina Wittkamp

Unterhaltung und Musiksendungen auf Radio Majak in den 1960er- und 1970er-Jahren

Radio in der Sowjetunion Das sowjetische Radio etablierte sich ab den 1930er-Jahren als staatlich monopolisiertes Propagandamedium. Zuerst dominierte vor allem das gemeinsame Hören auf öffentlichen Plätzen oder in Klubräumen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte durch den Kontakt mit dem Westen eine teilweise Individualisierung des Hörerlebnisses ein. Die Planwirtschaft konnte nun vermehrt Radiogeräte, vor allem auch Transistorradios, produzieren. Diese Geräte schufen eine neue Situation für das sowjetische Radio. Ihre Frequenzbreite ermöglichte teilweise den Konsum westlicher Radiosender und legte damit die technischen und inhaltlichen Probleme des sowjetischen Radios offen: Viele Regionen wurden meist nur von einem unionsweit empfangbaren Sender versorgt, die Lokalsender verfügten über ein spärliches Programm. Die sowjetischen Programme konnten dem Informations- und Unterhaltungsbedürfnis der Hörer*innen kaum gerecht werden. Da boten die Westsender Voice of America, BBC, Radio Free Europe, Radio Liberty eine willkommene Abwechslung: Sie brachten häufig aktuelle Nachrichtensendungen, waren als Formatradio konzipiert und sprachen mit ihren Musik- und Unterhaltungssendungen jüngere Zielgruppen an.1 Das sowjetische Radio und die politischen Machthaber mussten auf diese Situation reagieren. Eine Option bestand in der Schaffung von Störsendern, durch die der Empfang westlicher Sendungen mechanisch eingeschränkt oder möglichst vollständig verhindert werden sollte. Die Übermittlung von Störsignalen oder Lärm auf den von westlichen Sendern genutzten Frequenzen war mit 1 Zur sowjetischen Radiogeschichte siehe: Stephen Lovell, Russia in the Microphone Age. A History of Soviet Radio, 1919–1970 (= Oxford Studies in Modern European History), Oxford 2015. Zur Kulturgeschichte der sowjetischen Medien siehe: Kristin Roth-Ey, Moscow Prime Time. How the Soviet Union built the Media Empire that lost the Cultural Cold War, Ithaca/ London 2011. Zu den Radio Battles und dem Einfluss der Westsender siehe: Simo Mikkonen, Stealing the Monopoly of Knowledge? Soviet Reactions to U. S. Cold War Broadcasting, in: Kritika 11/4 (2010), 771–805.

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Kristina Wittkamp

großem technischem Aufwand verbunden und daher meist ineffektiv. In den sowjetischen Grenzgebieten und auf Parallelfrequenzen blieben die Westsender noch immer gut empfangbar.2 Daher mussten die Machthaber auf die Situation anderweitig reagieren: Die inhaltliche Verbesserung des eigenen Programms sollte die Hörer*innen wieder vermehrt an die sowjetischen Sender binden. Die Medienmacher*innen arbeiteten seit den 1950er-Jahren verstärkt an der Konzeption attraktiver Programmformate in den bestehenden Sendern und schufen 1964 mit Majak einen neuen unionsweiten Sender. Als Formatradio orientierte er sich an den westlichen Sendern und brachte aktuelle Nachrichten im 30-Minuten-Takt, die sich mit Musik- und Unterhaltungsprogrammen abwechselten. Für die Übertragung von Majak wurden zudem die bestehenden Störsender genutzt, die man auf die entsprechenden Frequenzen umstellte. Mit der Schaffung des neuen Senders war also kein technischer Mehraufwand verbunden.3

Was kennzeichnet Majak? Majak hatte die Funktion eines sowjetischen Gegenangebots und war an den westlichen Programmen orientiert, wollte aber keine bloße Kopie, sondern eine eigene Variante sein. Somit waren Aufbau, Struktur und Inhalte der Sendungen den Hörer*innen vertraut und genuin sowjetisch, neu waren das Format und der Sendebetrieb rund um die Uhr. Bei der Konzeption von Majak wurden Kulturschaffende und Medienmacher*innen miteinbezogen. Die Majak-Redaktion nahm unter Medienmacher*innen einen besonderen Stellenwert ein, ihre Kolleg*innen verstanden sie als mediale Kaderschule. Die Mitarbeiter*innen durften in der Programmgestaltung mit neuen Formaten und Live-Übertragungen experimentieren. Zugleich waren sie stets an die normativen Vorgaben der Rundfunkbehörde Gosteleradio gebunden.4 Majak fand regen Zuspruch in der sowjetischen Bevölkerung, auch wenn viele Hörer*innen weiterhin komplementär westliche Sender nutzten. Die sowjetische Medienlandschaft war keineswegs eine kommunikative Einbahnstraße und be2 Zu den Störsendern: Rimantas Plejkis, Radiocenzura. Stat’ja. Na osnove knigi »Radioglusˇenie« (R. Plejkys »Jamming«, 1998) i novych materialov, postupivsˇich v 1998–2002 g, Vil’njus 2002. 3 Diese Funktionalisierung wird im Gründungsbeschluss deutlich. ZK-Beschluss vom 24. 6. 1964 Ob ulucˇˇsenii informacii na radio über die Gründung des Radiosenders Majak. Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejsˇej Istorii [Russländisches Staatliches Archiv der Neuesten Geschichte] RGANI F. 4 op. 17. ed. chr. 379: CK KPSS Sekretariat XXII sozyv, protokol No. 104 zasedanija Sekretariata CK KPSS, 37–38. 4 Siehe die zum 40-jährigen Sendungsjubiläum von Majak gesammelten Erinnerungen der Medienmacher bei G.A. Sˇevelev (Hg.), Pozyvnye trevog i nadezˇd. »Majak« 40 let v e˙fire. Vospominanija, fotografii, dokumenty, prakticˇeskij opyt, Moskva 2004.

Unterhaltung und Musiksendungen auf Radio Majak (1960er- und 1970er-Jahre)

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stand nicht nur aus reiner Propaganda, vielmehr suchten sich die Hörer*innen nach Möglichkeit aktiv ihre Medieninhalte aus. Das zeigt sich besonders in der bei den Verantwortlichen stets umstrittenen Programmsparte der Unterhaltungssendungen. Der sowjetische Rundfunk verfolgte – ähnlich wie in vielen westeuropäischen Staaten – einen Kultur- und Bildungsauftrag. Insbesondere das Musikprogramm und die darin vertretenen und propagierten Musikgenres unterlagen internen Diskussionen und Zensurmechanismen, auch wenn dies als Konzession an den Geschmack des Publikums verstanden wurde.5

Musiksendungen Auf Majak machten Musiksendungen einen Großteil des täglichen Programmspektrums aus und sollten mit ihrer Vielfalt breite Bevölkerungsschichten ansprechen und soziale Integrationsangebote offerieren. Sie beinhalteten konventionelle Formate mit sowjetischer und klassischer Musik, vertraten einen gewissen Bildungsanspruch, aber auch populäre Jugendsendungen wurden geschaffen.6 Wie zahlreiche, im Auftrag von Gosteleradio durchgeführte soziologische Umfragen zeigen, fiel die Resonanz auf diese Formate recht unterschiedlich aus: Ein Großteil der Hörer*innen präferierte leichte Unterhaltungsmusik. Sie kritisierten, dass einzelne Musikstücke zu wenig kontextualisiert, kaum Informationen zu den Interpret*innen gegeben und generell wenig Sendungen zu speziellen Musikrichtungen konzipiert wurden.7 Solche von der Hörerschaft geforderten Innovationen baute man bei Majak Mitte der 1970er-Jahre sukzessive 5 Die offiziellen Musikdiskurse verblieben in einem kontrollierten, selektierten und kanalisierten Rahmen. Vgl. dazu die Diskurse in der DDR: Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hg.), Zuhören und Gehörtwerden II. Radio in der DDR der fünfziger Jahre. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998. Für die Bol’sˇeviki war Musik ein Mittel zur Bildung und Unterhaltung der Massen: Anatolij Lunacˇarskij, Musik und Revolution (1926), in: Anatolij Lunacˇarskij (Hg.), Musik und Revolution. Schriften zur Musik, Leipzig 1985, 141–148. 6 Zum sowjetischen Unterhaltungsangebot siehe: James van Geldern/James Stites/Richard Stites (Hg.), Mass Culture in Soviet Russia. Tales, Poems, Songs, Movies, Plays, and Folklore, 1917– 1953, Bloomington 1995; Matthias Stadelmann, »O, wie gut ist es, im sowjetischen Land zu leben«. Unterhaltungskultur als gesellschaftliches Integrationsmoment im stalinistischen Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 74–93. 7 Umfrage des Naucˇno-metodicˇeskij otdel (NMO, wissenschaftlich-methodische Abteilung bei Gosteleradio, zuständig für soziologische Umfragen und Meinungsforschung) zu Musiksendungen auf Majak 1965: Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii [Staatliches Archiv der Russländischen Föderation] GARF F. 6903 op. 3 ed. chr. 296: Spravka NMO o muzykal’nych peredacˇach po programme Majak. 1965 g., 2–6; GARF F. 6903 op. 3 ed. chr. 325: Itogovye spravki o rezul’tatach anketnych oprosov radioslusˇatelej o radioprogramme Majak, 1966 g., 23–47.

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in den Programmplan ein und verbesserte damit die Sendungen qualitativ: Die Redakteur*innen berücksichtigten nun Hörerpost und Musikwünsche. Die Sendungen wurden jugendlicher, nahbarer und widmeten sich verstärkt leichter Musik. Ihr Repertoire bezog die aktuellere und zunehmend auch westliche Musik mit ein. Viele der beliebten Formate gehörten zur aktiven Freizeitgestaltung der Hörerschaft am Wochenende oder in den Abendstunden. Zahlreiche Redakteur*innen spezialisierten sich auf die zeitgenössische Unterhaltungsmusik und boten ihrem jungen Publikum eine Möglichkeit, auf einem kanalisierten und offiziell genehmigten Weg westliche Musik kennenzulernen und ›legal‹ Informationen zu erhalten. Ideologisch einfacher zu legitimieren waren dabei Sendungen, die das Musikrepertoire des sozialistischen Auslands und der Dritten Welt vorstellten.8 Die Musikredakteure Galina Aleksandrovna Gordeeva, Grigorij Aleksandrovicˇ Libergal und der Sprecher Viktor Vital’evicˇ Tatarskij arbeiteten an vielen dieser Sendungen mit. Am bekanntesten wurde »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« (Nehmt das auf eure Tonbandgeräte auf). Die Sendung war an westliche Formate angelehnt und wurde zwischen 1970 und 1972 ausgestrahlt. Tatarskij präsentierte pro Sendung mehrere Musiktitel, stellte kurz deren Interpret*innen vor, gab aktuelle Hinweise auf Konzerte, Musikstile und Moden. Durch Mitschnitte konnten sich die Hörer*innen eine Musiksammlung zusammenstellen. Insgesamt dominierte die sowjetische und sozialistische populäre Musik. Westliche Musik war mit einem oder zwei Titeln pro Sendung unter ideologischen Vorgaben vertreten, um der Nachfrage nach ausländischer Musik entgegenzukommen. Gordeeva und Libergal betonen retrospektiv, dass Majak in den 1960erund 1970er-Jahren vor einem global verbreiteten Problem stand: Wie auch westliche Sender hatte man mit Programmkonkurrenz zu kämpfen und musste attraktive und aktuelle Musiksendungen einbauen, um den Bedürfnissen der Hörerschaft entgegenzukommen.9 Die ideologische Rechtfertigung war für die 8 Siehe: Na volne Majaka. Otvecˇaem na vasˇi pis’ma, in: Govorit i pokazyvaet Moskva (1978), 18. Meist hörten die Jugendlichen ausländische Musik über westliche Sender, kauften Schallplatten auf dem Schwarzmarkt oder über persönliche Kontakte. A. Manakov, Traektorija Boba Dilana, in: Literaturnaja gazeta 36 (1977), 15; Ju. Filinov, Pesnja vsegda srazˇaetsja. ›Barbarossa Rok-n-Rolla‹, in: Biblioteka Komsomol’skoj Pravdy 10 (1986), 30–33; Sergei I. Zhuk, Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity, and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960– 1985, Baltimore 2010; Sendebericht vom 26. 10. 1971: GARF F. 6903 op. 37 ed. chr. 46: Obzory peredacˇ 1 oktjabrja – 30. 10. 1971 g., 182; »Muzykal’naja programma – dzˇazovye dialogi« am 15. 10. 1974, 23:36–23:59 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 79: Teksty radioperedacˇ 2-15. 10. 1974 g., 357; »V’etnam srazˇaetsja, V’etnam pobedit« vom 15. 10. 1966, 16:36–17:00 Uhr: GARF F. 6903 op. 14 ed. chr. 315: Teksty radioperedacˇ 1-23. 10. 1966 g., 198; »Muzykal’naja peredacˇa ›Prazdnik ostrova svobody‹« vom 1. 1. 1973, 11:35–11:59 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 54: Teksty radioperedacˇ 1-31. 1. 1973 g., 6. 9 Retrospektiv betonen zahlreiche der ehemaligen Redakteur*innen, dass die Sendung bewusst geschaffen wurde, um den Jugendlichen ein Alternativprogramm zu den westlichen Radio-

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Zeitgenossen eine erkennbare Makulatur, so wurden z. B. die Beatles als »Arbeiterkerle« bezeichnet: »Wir sind am Ende unserer Sendung angelangt. Jetzt hört ihr eines der beliebtesten Lieder aus dem Jahr 1970, das Lied ›Let it be‹. Die vier Arbeiterkerle [die dieses Lied singen] haben sich stark verändert, seit sie vor acht Jahren zu ›Stars‹ der Popmusik wurden. Sie treten gegen Krieg und Faschismus, gegen die amerikanische Aggression in Vietnam auf. Und sie weigerten sich, im rassistischen Südafrika und in den Südstaaten der USA aufzutreten. In ihren Liedern machten sie sich über die Ordnung im ›guten alten England‹ lustig. Das Lied ›Let it be‹ ist die letzte gemeinsame Aufzeichnung der nun nicht mehr existierenden Gruppe. Es wurde von John Lennon und Paul McCartney, den Autoren fast aller Lieder des Quartetts, geschrieben. Gesungen wird es von Paul McCartney.«10

Die Macher der Sendung standen bei der Konzeption in einem Dialog mit den Hörer*innen. Sie gingen mit politischer Absicherung seitens der Rundfunkbehörde auf ihre Musikwünsche ein, stellten ausführlich die Interpreten und Musikstücke vor, übersetzten und betteten die Titel ideologisch ein. Die westlichen Musiker*innen sollten progressiv, pazifistisch und karitativ sein – ob solche sozialistischen Muster-Lebensläufe mit der Realität übereinstimmten, ist fraglich. Ihre Musik sollte keine simple Tanzmusik darstellen, sondern die Hörer*innen vielmehr zum Nachdenken anregen. Grigorij Aleksandrovicˇ Libergal betont in einem Interview, dass die damalige Arbeit mit Risiken verbunden war: »Das war im Dezember 1970, als Galja sich diese Sendung ›Zapisˇite na vasˇi magnitofony‹ ausdachte und die erste Ausgabe alleine konzipierte. Ich wechselte dort nur die Einspieler, und bei der zweiten Ausgabe veränderten wir die gesamte Konzeption stark. Jugendliche Musik, also Popmusik, wie die Beatles, Rolling Stones […] waren kategorisch verboten. Im Radio gab es das bis dahin nicht […]. 1970 schlugen wir, zwei Leute, eine Bresche, denn es war wirklich verboten, und alle fürchteten sich, vielleicht kennen Sie noch die Zeitung Komsomolka? Dort stand einmal: ›Heute tanzt du Jazz und morgen verrätst du dein Vaterland!‹ Die Beatles waren als Volksfeinde verboten, man durfte sie nicht in die Sowjetunion lassen – und da kamen wir!«11

Die Resonanz auf ihre Sendung war auch für die Redakteur*innen unglaublich: Allein eine Woche nach der Ausstrahlung der Ausgabe mit den Beatles trafen stationen zu bieten. G. A. Sˇevelev (Hg.), Pozyvnye trevog i nadezˇd. »Majak« 40 let v e˙fire. Vospominanija, fotografii, dokumenty, prakticˇeskij opyt, Moskva 2004, 278–279. 10 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 3. 1. 1971, 15:07–15:29 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 1: Teksty radioperedacˇ. 1-15. 1. 1971 g., 11. Generell wurden die Beatles und die Nachfolgeprojekte der einzelnen Interpreten häufig in den Sendungen vorgestellt: »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 16. 5. 1971, 15:07–15:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 12: Teksty radioperedacˇ. 1-17. 5. 1971 g., 408. 11 Galina Gordeeva und Grigorij Libergal: Veterany Majaka. Interview mit Galina Gordeeva und Grigorij Libergal. Ljubov’ i golubi 12. 8. 2014. Ab 11:15, https://radiomayak.ru/podcasts/podc ast/id/119/ (10. 8. 2017). Mit Komsomolka ist die Komsomol’skaja Pravda gemeint.

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über 30.000 Hörerbriefe beim Sender ein, eine bis dahin beim Rundfunk nicht gekannte Anzahl für einen so kurzen Zeitraum.12 Die Musikauswahl blieb auch in den anderen Ausgaben für sowjetische Verhältnisse spektakulär, so folgten beispielsweise die Rolling Stones und The Doors. Den Redakteur*innen war klar, dass ihre Hörer*innen über solche Bands sicher schon durch andere Medienkanäle erfahren hatten. Neben Berühmtheiten präsentierten sie neue, teilweise noch weniger bekannte Künstler*innen und Bands aus dem Ausland. Meist bezogen sie ihre Informationen aus ausländischen Musikzeitschriften oder aus anderen Musiksendungen des sowjetischen Rundfunks.13 Indem sie die Bekanntheit mancher Künstler*innen betonten und bei der Musik den Wünschen der Hörer*innen nachkamen, betrieben die Redakteur*innen ein bestimmtes Agenda Setting, das politisch-ideologisch legitimiert wurde: Sie zeigten ihrem Publikum, welche Musik ›hörenswert‹ war und sich (manchmal auch scheinbarer) Beliebtheit erfreute. Das Einspielen solcher Songs stellte für die sowjetischen Hörer*innen ein Highlight dar, weshalb sie teilweise die komplette Sendung abwarteten, bis ein solcher lief. Zugleich mussten Gordeeva und Libergal beim Musikprogramm eine Gratwanderung absolvieren: Problematisch war nicht allein die Ausstrahlung westlicher Musik, vielmehr galt es, auf die Balance der Musik zu achten, denn es sollten mehr sowjetische als westliche Lieder gespielt werden.14 Die Beschreibungen sowjetischer und sozialistischer Künstler*innen fielen sehr detailliert aus, betonten ihre Bekanntheit und ihre häufigen Auftritte. Sie wirkten jedoch blass, verglichen mit der Präsentation westlicher Künstler. Es wurde unterstrichen, dass ihre Musik nationale traditionelle Elemente der jeweiligen Regionen aufgriff. Sozialistische Vokal-Instrumental-Ensembles wie die bei den Jugendlichen beliebten Skal’dy und Pesnjary waren somit zugleich aktuell, aber auch mit ihrer Heimat verbunden und professionell, denn viele ihrer Mitglieder genossen eine musikalische Ausbildung oder betrieben das Musi-

12 Ebd., ab 0:55 bis 7:50, https://radiomayak.ru/podcasts/podcast/id/119/ (10. 8. 2017). 13 Zu den Rolling Stones und The Who siehe: »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 14. 11. 1971, 14:05–14:29 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 27: Teksty radioperedacˇ 14-22. 11. 1971 g., 30– 31; »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 9. 1. 1972, 14:06–14:29 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 31: Teksty radioperedacˇ 1-15. 1. 1972 g., 210–211. The Doors: »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 3. 10. 1971, 14:04–14:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 23: Teksty radioperedacˇ 1-10. 10. 1971 g., 110. So beispielsweise zur Band Exception in der Zeitschrift Musical Express, »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 2. 1. 1972, 14:05–14:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 31: Teksty radioperedacˇ 1-15. 1. 1972 g., 78. 14 Galina Gordeeva und Grigorij Libergal: Veterany Majaka. Interview mit Galina Gordeeva und Grigorij Libergal. Ljubov’ i golubi 12. 8. 2014. Ab 18:50 bis 19:45, https://radiomayak.ru/podc asts/podcast/id/119/ (10. 8. 2017).

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zieren nebenberuflich. Die Sendung bildete für solche beliebten Bands ein Forum für ihre weitergehende Popularisierung: »In unserer Sendung stellen wir euch das polnische vokal-instrumentale Ensemble Skal’dy und das Werk dieses talentierten Kollektivs vor. Das Ensemble Skal’dy (Skalden waren übrigens fahrende Poeten und Sänger im mittelalterlichen Nordeuropa) wurde vor sechs Jahren vom Absolventen des Krakauer Musikinstituts Andrzej Zelinsky gegründet.«15

Die Tonträger – es gab diese westliche Musik weder legal zu kaufen, noch war sie in den Rundfunkarchiven zu erhalten – bekamen die Redakteur*innen über Kontakte in ihrem persönlichen Umfeld. Auch für die Hörer*innen bot sich nun eine innovative Aneignungspraxis. Sie nahmen die für sie interessante und hörenswerte Musik auf Tonbandgeräte auf, wozu der Sendungstitel sie ja auch animierte. Das Programm war dermaßen populär, dass ehemalige Hörer*innen auch heute noch Fanklubs in Internetforen unterhalten, in denen sie ihre damaligen Tonbandaufzeichnungen digitalisiert zur Verfügung stellen.16 Majak schuf damit ein Programmangebot, an dem sich die sowjetischen Jugendlichen orientieren konnten: Zeitgenössische ausländische Musik war also nicht nur bei den Westsendern oder über den Schwarzmarkt, sondern auch im sowjetischen Rundfunk zu hören. Das Format behob ein gesellschaftliches Defizit: »Ich habe das erste Mal The Doors […] und Queen […] in Tatarskijs Sendungen gehört. […] Ich habe immer ungeduldig auf seine Sendungen gewartet und verpasste sie nur bei unvorhergesehenen Vorkommnissen. Denn in diesen Sendungen wurden ja auch Informationen durchgegeben, an denen wir sonst ein großes Defizit hatten.«17

Die Redakteur*innen riefen in der Sendung immer wieder zu Publikumsmeldungen auf und konzipierten anhand von Hörervotings Hitparaden:

15 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 11. 7. 1971, 14:05–14:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 17: Teksty radioperedacˇ 11-20. 7. 1971 g., 16. Siehe zu den Pesnjary: »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 11. 7. 1971, 14:05–14:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 17: Teksty radioperedacˇ 11-20. 7. 1971 g., 17. 16 Galina Gordeeva und Grigorij Libergal: Veterany Majaka. Interview mit Galina Gordeeva und Grigorij Libergal. Ljubov’ i golubi 12. 8. 2014. Ab 13:45 bis 16:30, https://radiomayak.ru/podc asts/podcast/id/119/ (10. 8. 2017). Die Digitalisierung alter Tonbandaufnahmen wird von den ehemaligen Hörer*innen betrieben, da sie in den Archiven von Gosteleradio nicht erhalten sind. Diese nehmen sich also einer Aufgabe an, die die staatlichen Organe nicht bewältigen können. Siehe den Kommentar von Valera123 vom 1. 9. 2011 (19:30 Uhr): Valera123: Peredacˇa »Na vsech sˇirotach« cˇast’ 9, (polnye vypuski, NVSˇ 11-20), online unter: http://tunnel.ru/po st-peredacha-na-vsekh-shirotakh-chast-9-polnye-vypuski-nvsh-11-20 (27. 6. 2017). 17 Kommentar von papan vom 2. 9. 2006 (00:08 Uhr): Radioperedacˇa »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« Viktora Tatarskogo, online unter: http://www.beatles.ru/postman/forum_messages.a sp?msg_id=13483&cfrom=1&showtype=0&cpage=4 (27. 6. 2017).

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»Wir bekommen sehr viel Post aus allen Ecken des Landes. Danke. Das hilft uns sehr. Einige von euren Wünschen haben wir also schon erfüllt, andere versuchen wir noch zu erfüllen. Wir bitten euch um zwei Dinge. Erstens, versucht den Namen des Lieds und des Interpreten zu nennen. Zweitens, bitte habt Geduld, denn wir bekommen viele Briefe, aber unsere Sendezeit ist beschränkt.«18

Diese Hitparaden dienten dazu, eine Nähe zum Publikum aufzubauen, und ließen die Redakteur*innen in Interaktion mit diesem treten. Insbesondere bei den ersten Sendungen legten sie Wert auf die Hörerresonanz. Wiederholt wurde das Publikum aufgerufen, seine Lieblingslieder aus den vorangegangenen Sendungen zu nennen und nach Beliebtheit zu reihen. Angesprochen wurde damit eine primär serielle Hörerschaft, welche die Sendungen regelmäßig konsumierte, ihre Inhalte kannte und bewerten konnte. Ersthörer*innen mussten dieses Prozedere erst kennenlernen, um dann in späteren Folgen selber partizipieren zu können.19 Die Interaktion unterlag also gewissen Spielregeln: »Wir haben die ersten Hundert eurer zugeschickten Postkarten und Briefe bearbeitet. Etwa vierzig davon waren ungültig, denn darin wurden Lieder genannt, die nicht in unserer Sendung gespielt wurden.«20 Auf den ersten Plätzen lagen meist westliche Titel, aber – ähnlich wie in den Sendungen selbst – sie waren paritätisch mit sozialistischen Titeln ausbalanciert. Diese Rankings waren als Sondersendungen konzipiert und stachen durch ihre Länge und Strukturierung heraus. Zudem stießen sie bei den Hörer*innen auf enorme postalische Resonanz.21 Um dieser Herr zu werden, verwiesen die Redakteure regelmäßig auf das korrekte Partizipationsprozedere: »Wir erinnern euch daran, dass ihr eure Antworten unbedingt auf Postkarten schreiben solltet. Und bitte schickt diese rechtzeitig an uns, damit wir eure Wünsche berücksichtigen können. Und noch eine Bitte: Schickt uns nicht mehrmals Postkarten mit den gleichen Musikwünschen, damit erschwert ihr nur unsere Arbeit.«22

Die postalischen Hörerwünsche bezogen sich nicht nur auf Musiktitel. Viele Hörer*innen fragten bei der Redaktion wegen Aufnahmen einzelner Sendungen, Schallplatten und dem Merchandise beliebter Interpreten nach.23 Die Sendung 18 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 7. 2. 1971, 14:05–14:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 4: Teksty radioperedacˇ 1-10. 2. 1971 g., 25. 19 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 21. 3. 1971, 15:01–15:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 9: Teksty radioperedacˇ 21-31. 3. 1971 g., S. 276. 20 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 18. 4. 1971, 15:06–15:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 11: Teksty radioperedacˇ 16-30. 4. 1971 g., 56. 21 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 16. 5. 1971, 15:35–16:00 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 12: Teksty radioperedacˇ 1-17. 5. 1971 g., 402–403. 22 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 1. 8. 1971, 14:35–15:00 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 19: Teksty radioperedacˇ 1-15.1971 g., 31. 23 »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« vom 3. 10. 1971, 14:04–14:30 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 23: Teksty radioperedacˇ 1-10. 10. 1971 g., 109–110.

Unterhaltung und Musiksendungen auf Radio Majak (1960er- und 1970er-Jahre)

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wurde somit metamedial konzipiert und angeeignet. Das Publikum verstand das Radio, die Sendungen und die Redaktion als Dienstleister. Natürlich überstieg dies den Rahmen der Sendung, und die Redakteur*innen konnten solche Wünsche nicht erfüllen. Dieser interaktive Dialogcharakter machte die Sendung für viele Zeitgenossen besonders emotional und erinnernswert, was sich auch in den Zuschriften zahlreicher ehemaliger Hörer*innen zeigt: »1971 hatte ich samstags immer nur ein Ziel: möglichst schnell nach Hause zu kommen. […] auf Majak lief eine Sendung mit dem schlichten Namen ›Zapisˇite na vasˇi magnitofony‹. Schon seit dem Morgen stand mein Tonbandgerät Komet bereit für die Aufnahme, ich musste es nur noch an den Strom anschließen und einschalten, wenn der Moderator Viktor Tatarskij einen westlichen Hit ankündigte. Und Viktor Tatarskij hatte immer etwas Gutes auf Vorrat! Dank ihm war ich mit meinem Komet im Hof ebenso angesehen wie ein Akkordeonspieler auf dem Dorf. Wenn bei jemandem aus unserer Nachbarschaft die Eltern aufs Dorf oder zu Verwandten fuhren, ins Kino oder zu Besuch gingen, haben wir immer schnell in der leeren Wohnung jugendliche Tanzabende organisiert, und ich (wohl eher mein Tonbandgerät) war dort ein gern gesehener Gast.«24

Tatarskijs Sendung und die Möglichkeit der Aufnahme waren Teil der jugendlichen Freizeitbeschäftigung einer primär männlichen, technikaffinen Hörerschaft. Sie bauten zu ihm eine besondere Hörerbindung auf und waren ihm dankbar für diese Sendungen, die ihr Leben bereicherten: »Ich habe auf das Tonbandgerät Aidas aufgezeichnet, Geschwindigkeit 19, mono vom Transistor Riga. Und ich habe davon geträumt, dass Tatarskij irgendwann eine Fernsehsendung namens ›Nehmt das auf eure Videotonbandgeräte auf‹ machen würde! Ich nahm auf voller Lautstärke auf, damit die Nachbarn auch alles hörten. Dadurch unterschied sich das Hören von Tatarskij vom Hören der ›Popmusikkonzerte 1‹ und ›2‹ auf Voice of America. Danke an Tatarskij für all die schönen Momente, die er uns geschenkt hat.«25

Viele Hörer*innen hatten zu Tatarskij sogar eine familiäre ›parasoziale‹ Beziehung, wobei seiner Stimme eine besondere Wirkung zugeschrieben wurde.26 24 Erinnerungen von konstant2000: konstant2000: Ne vychodi zamuzˇ za zˇeleznodorozˇnika, online unter: http://blog.fontanka.ru/posts/110824/ (27. 6. 2017). 25 Foreneintrag von oblako9 vom 15. 9. 2006: Radioperedacˇa »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« Viktora Tatarskogo, online unter: http://www.beatles.ru/postman/forum_messages.asp?msg _id=13483&cfrom=1&showtype=0&cpage=2 (19. 5. 2016). 26 Besonders deutlich zeigt sich dies in der Hörerpost zu Tatarskijs Sendung »Vstrecˇa s pesnej«, die seit 1967 im russischen Radio lief. Ihm schreiben vorwiegend ältere Hörer*innen, die seine Sendungen schon zu Sowjetzeiten hörten, nostalgisch an ihre Vergangenheit zurückdenken, einen pessimistischen Blick auf die Gegenwart haben und ihm für seine Sendungen dankbar sind. Siehe beispielsweise Brief von Valentina Ustinovna Rudneva, 1997: Central’nyj Gorodskoj Archiv Moskvy [Zentrales Stadtarchiv Moskau] CGA Moskvy, OChD licˇnych sobranij Moskvy F. L-239 op. 1 ed. chr. 224: Central’nyj moskovskij muzej-archiv licˇnych sobranij. Kollekcija pisem ot slusˇatelej avtorskoj radioperedacˇi V. V. Tatarskogo »Vstrecˇa s pesnej«.

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Kristina Wittkamp

Zusammen mit seinem Moderationsstil war sie sein Alleinstellungsmerkmal im sowjetischen Rundfunk. Durch diese Charakteristika unterschied sich seine Sendung von anderen sowjetischen Musiksendungen und ähnelte eher westlichen Formaten, wie z. B. der russischsprachigen Sendung von Seva Novgorodcev »Rok Posevy« auf BBC.27 Tatarskij hatte seine eigene Anfangsmelodie, ein Thema aus »Winchester Cathedral« der New Vaudeville Band. Diese avancierte zu einem eigenen akustischen Erinnerungsort. Aber der ideologische Deckmantel wurde dieser Sendung zum Verhängnis: Mehrmals wurde sie unter fadenscheinigen Vorwürfen eingestampft und tauchte kurze Zeit später unter anderem Namen, mit neuer Programmkonzeption und mit weniger westlichen Titeln wieder auf.28 Unter den ehemaligen Hörer*innen kursierten Gerüchte über die Gründe der Absetzung: Sei es, weil »Stairway to Heaven« gespielt wurde und das als Affront galt, da zeitgleich auf dem 1. Programm die sowjetische Nationalhymne lief. Oder weil im Moskovskij komsomolec und in der Komsomol’skaja pravda Artikel erschienen seien, laut denen in der Sendung Lieder über das Champagner-Trinken gespielt würden bzw. weil der US-amerikanische Radiomoderator Willis Conover auf Voice of America berichtete, dass es im sowjetischen Radio eine Stimme gäbe, die die sowjetische Jugend an die westliche Musik heranführe. Die Redakteur*innen selbst mutmaßten, dass die Sendung eingestellt wurde, nachdem »Bangladesh« von George Harrison lief und die des Englischen nicht mächtigen Zensoren den eigentlich im sowjetischen Sinne progressiven Inhalt des Liedes nicht ver-

Pis’ma radioslusˇatelej s zajavkami na ispolnenie muzykal’nych proizvedenij, prislannye iz g. Tuly i Tul’skoj oblasti. 15. 4. 1989 g. – 17. 10. 1998 g., 48. 27 Kristin Roth-Ey, Listening Out, Listening For, Listening In: Cold War Radio Broadcasting and the Late Soviet Audience, in: Russian Review 79/4 (2020), 556–577. Seva Novgorodsev moderierte von 1977 bis 2006 in der russischsprachigen BBC die an ein jugendliches Musikpublikum gerichteten Sendungen »Sevaoborot«, »BibiSeva« und »Rok Posevy«. Diese Sendungen standen in der Tradition Tatarskijs. Ein Sendungstranskript für »Sevaoborot« findet sich hier: Letters from listeners, 1983. Seva Novgorodsev letters received, box 1, folder 2, Hoover Institution Archives, 1983. Für einige Jugendliche in der Sowjetunion wurde der aus der UdSSR emigrierte Novgorodcev zu einer Kultfigur. Sie versuchten, seine Sendungen zu hören und sogar Briefkontakt mit ihm aufzunehmen. Novgorodcev hat ähnlich wie Tatarskij einen sehr einnehmenden Moderationsstil und konzipierte seine Sendungen abwechslungsreich. Er stellte zahlreiche westliche Musikkünstler, ihre Biografien und ihr Schaffen vor, zu denen es in der Sowjetunion selbst kaum Material gab. Er ging damit ›von außen‹ gegen dieses Defizit vor. 28 So tauchte 1972 die Sendung »Na vsech sˇirotach« als Nachfolgeformat im Äther auf, hielt sich aber auch nur kurze Zeit. Sie war in ihrer Zusammensetzung ihrer Vorgängerin sehr ähnlich, veranstaltete Hitparaden, präsentierte aktuelle Neuerscheinungen, Neuigkeiten und vereinzelt westliche Musiktitel. Siehe »Na vsech sˇirotach« vom 2. 7. 1972, 14:04–14:29 Uhr: GARF F. 6903 op. 40 ed. chr. 43: Teksty radioperedacˇ 1–15. 7. 1972 g., 62.

Unterhaltung und Musiksendungen auf Radio Majak (1960er- und 1970er-Jahre)

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standen hatten. Nach der Schließung konnten Gordeeva und Libergal ohne größere Probleme weiter in Folgeformaten arbeiten.29

Fazit Diese Musiksendung und die Erinnerung an sie zeigen deutlich, dass Gosteleradio und die Redakteure bei Majak beliebte interaktive Programmangebote schufen. Sie kreierten eine eigene Form der Unterhaltung, die sich die Rezipient*innen aneigneten und bis heute als ›ihre‹ Sendung erinnern. Die Handlungsspielräume der Redakteur*innen waren begrenzt, was sich in der beschränkten Anzahl und der ideologischen Färbung der gespielten westlichen Songs sowie in der willkürlichen Absetzung und Neuauflage des Senders zeigt. Die hier präsentierte Sendung war damit keine simple Kopie westlicher Formate. In ihrer Struktur adaptierte sie zwar partiell deren Elemente, blieb aber sowjetisch und in spezieller Weise individuell, was sich auch in der retrospektiven Wahrnehmung der Hörer*innen niederschlug. Die Verantwortlichen schufen also ein sowjetisches Gegenangebot, dessen Notwendigkeit und Existenzberechtigung zu immer neuen Auflagen dieses Formats führte – teilweise mit personeller Kontinuität im Redaktionsteam. Natürlich konnte damit nicht verhindert werden, dass trotzdem westliche Sender gehört wurden, denn »es ist eine Gewohnheit auf der Rus’, nachts BBC zu hören«.30 Die Sendung »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« zeigt exemplarisch, dass Majak ein genuin sowjetisches Produkt darstellte, das sich an den zentralen Propagandavorgaben orientieren musste und dessen Schaffung der spezifischen Situation der radio battles im Kalten Krieg geschuldet war. Das Programm bestand aus genuin sowjetischen Inhalten, wies aber partielle Innovationen in den Programmformaten und im Hörerumgang auf. Dem entsprach auch das neu ge29 Libergal wurde zwar zum Gosteleradio-Vorsitzenden S.G. Lapin zitiert und von diesem als »Flibustier des Imperialismus« bezeichnet, aber für seine berufliche Karriere blieb dies folgenlos. Galina Gordeeva und Grigorij Libergal: Veterany Majaka. Interview mit Galina Gordeeva und Grigorij Libergal. Ljubov’ i golubi 12. 8.2014. Ab 21:25 bis 22:15. https://radi omayak.ru/podcasts/podcast/id/119/ (10. 8.2017). Viele der ehemaligen Hörer*innen sprechen diese Gerüchte an. Kommentar von Nicolai vom 15. 9.2007 (14:09 Uhr): Radioperedacˇa »Zapisˇite na vasˇi magnitofony« Viktora Tatarskogo, online unter: http://www.beatles.ru/post man/forum_messages.asp?msg_id=13483&cfrom=1&showtype=0&cpage=6 (27. 6. 2017); Kommentar von monteno vom 7. 6. 2010 (11:52 Uhr): Mal’gin »Zapisˇite na vasˇi magnitofony«, online unter: http://avmalgin.livejournal.com/1973440.html?thread=46896064 (27. 6. 2017); siehe dazu »Na vsech sˇirotach«, online unter: http://vaostory.ru/blogs/o-chyom-malo-pis hut/-na-vseh-shirotah.html (27. 6. 2017). 30 Zitat aus einem anonymen Brief an Seva Novgorodcev, 1990: Letters from listeners, 1990. Seva Novgorodsev letters received, box 4, folder 7, Hoover Institution Archives, 1990. Wörtlich: »есть привычка на Руси слушать ночью БиБиСи«.

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Kristina Wittkamp

wonnene Selbstverständnis der Medienmacher. Mithilfe von Majak schufen sie eine eigene Radio-Soundscape des alltäglichen Sozialismus und eigene mediale Erinnerungsorte für die 1960er- und 1970er-Jahre. Majaks beliebte Programmformate und zahlreiche Nachfolgesendungen lassen sich noch heute in der russischen Medienlandschaft finden. Der Sender diente seinen Hörer*innen damit nicht nur als Nachrichtenquelle, sondern trug zu einer spezifischen Identitätsbildung bei. Majak ist damit im weitesten Sinne nicht nur integraler Bestandteil einer sowjetischen, sondern sogar einer globalen Medienkultur.

Adrian Hänni

Ein geheimes Propagandainstrument der Papstkirche: Radio Omegas Sendungen in die Sowjetunion im Kalten Krieg

Radio war zweifellos ein integraler Teil des Kalten Kriegs. Dies erstaunt kaum. Schließlich wurde der Ost-West-Konflikt in nicht unerheblichem Maße auf der Ebene von Ideologie, Kultur und Propaganda ausgetragen. Gleichzeitig war das Radio zumindest im frühen Kalten Krieg das populärste und allgegenwärtigste Massenmedium – und dasjenige, das wohl am effektivsten den Eisernen Vorhang durchdringen konnte, der in den unmittelbaren Nachkriegsjahren den europäischen Kontinent teilte. Westliche Radiostationen wie die Voice of America, die British Broadcasting Corporation (BBC), Radio Nacional de España (RNE), die Deutsche Welle oder Radio France International (RFI) versuchten dieses Potenzial zu nutzen und sandten Programme in die kommunistisch regierten Länder Osteuropas. Dieses strategische Propagandainstrument stand aber nicht nur westlichen Staaten, sondern auch dem Heiligen Stuhl zur Verfügung. Radio Vaticana, das von Jesuiten betriebene ›Radio des Papstes‹, hatte sich schon früh dem Antikommunismus des Kalten Kriegs verschrieben. Bescheidene Sendungen in russischer und in weiteren osteuropäischen Sprachen gab es bereits in den 1940er-Jahren. 1950 wurden Expansionspläne angekündigt, um der »von Moskau inspirierten atheistischen Propaganda, welche verunsicherten Katholiken in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang eingeflößt wurde«, entgegenzutreten.1 Mit dem regelmäßigen Programm »La chiesa del silenzio« (Die Kirche des Schweigens) und ab 1957 mit dem vor allem nach Osteuropa ausgerichteten »Radiogiornale« (Rundfunknachrichten) richtete Radio Vaticana seine Aufmerksamkeit bei diesem Unterfangen insbesondere auf die Verfolgung der katholischen Kirche in Osteuropa.2

1 Michael Nelson, War of the Black Heavens. The Battles of Western Broadcasting in the Cold War, Syracuse/New York 1997, 107–109. 2 John F. Pollard, Electronic Pastors. Radio, Cinema, and Television, from Pius XI to John XXIII, in: James Corkery/Thomas Worcester (Hg.), The Papacy since 1500. From Italian Prince to Universal Pastor, Cambridge 2010, 196f.

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Adrian Hänni

Zusätzlich zu diesem offiziellen Sender stand der Papstkirche für die Radiopropaganda hinter den Eisernen Vorhang in den 1960er-Jahren, indirekt und geheim, ein klandestines Radio zur Verfügung. Radio Omega, das von der katholischen Commission pour l’Église Persécutée (Kommission für die Verfolgte Kirche, fortan Commission)3 in enger Koordination und mit finanzieller Unterstützung durch den Heiligen Stuhl betrieben wurde, sandte zwischen 1962 und 1966 eine Stunde pro Tag religiöse russischsprachige Kurzwellenprogramme in die Sowjetunion. Radio Omega ist bislang in der historischen Forschung unbeachtet geblieben.4 In diesem Artikel soll deshalb die Geschichte des klandestinen Radiosenders aufgrund neu erschlossener Quellenbestände5 kurz nachgezeichnet werden. Für die notwendige Kontextualisierung werden im ersten Abschnitt zunächst die Entstehung der Commission, ihre Position zwischen den internationalen katholischen Organisationen und dem Heiligen Stuhl sowie ihre äußerst vielfältigen Aktivitäten in den 1950er-Jahren skizziert. In den folgenden Abschnitten werden die Entstehung von Radio Omega, die geheime Zusammenarbeit mit dem Bund der Russischen Solidaristen (NTS) und Radio Free Russia, die Programme und die Zielgruppen von Radio Omega sowie seine Rezeption in der Sowjetunion thematisiert, ehe abschließend die gescheiterten Ausbaupläne und die Einstellung der Radiosendungen beschrieben werden.

3 Die Commission pour l’Église Persécutée hieß 1963 Commission Delta und ab 1964 Commission Église-Témoin. Die wichtigsten Quellenbestände zur Commission befinden sich im Archiv der Conférence des Organisations Internationales Catholiques (= COIC) in der Bibliothèque cantonale et universitaire im schweizerischen Fribourg (fortan COIC) und im Bestand der Mission Catholique Suisse im Staatsarchiv des Kantons Fribourg. Einen Überblick über die Geschichte der Commission und ihre Aktivitäten bietet folgender englischsprachiger Essay des Autors: Adrian Hänni, Among Spies, Popes, and the Good Cyrenians. La Commission Pour L’Église Persécutée as a Transnational Catholic Actor in the Cold War, in: The Review of Faith & International Affairs 15/4 (2017), 48–66; sowie auf Deutsch: Adrian Hänni, Das politische Papsttum im Jahrhundert transnationaler Massenmobilisierung. Der Fall der Commission pour l’Église Persécutée, in: Mariano Barbato/Stefan Heid (Hg.), Macht und Mobilisierung. Der politische Aufstieg des Papsttums seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts, Freiburg 2020, 176–200. Eine kurze Einführung zur Commission, allerdings ohne Berücksichtigung des COIC-Archivs, bietet zudem Johannes Großmann, Die Internationale der Konservativen. Transnationale Elitenzirkel und private Außenpolitik in Westeuropa seit 1945, München 2014, 451–458. 4 Erste, kurz gehaltene wissenschaftliche Auseinandersetzungen finden sich in den oben zitierten Überblicksdarstellungen des Autors zur Commission. Siehe Hänni, Among Spies, 2017, 57–59; Hänni, Das politische Papsttum, 2020, 192–199. 5 Dabei handelt es sich in erster Linie um Dossiers im COIC-Archiv sowie im Archiv des NTS (Bund der Russischen Solidaristen) in Frankfurt am Main.

Ein geheimes Propagandainstrument der Papstkirche

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Die Commission pour l’Église Persécutée Die Commission wurde anlässlich des Ersten Weltkongresses für das Laienapostolat in Rom im Oktober 1951 als Arbeitsgruppe innerhalb der Conférence des Organisations Internationales Catholiques (Konferenz der Internationalen Katholischen Organisationen, COIC) gegründet, um sich mit den Schwierigkeiten der katholischen Kirche hinter dem Eisernen Vorhang auseinanderzusetzen.6 Die COIC hatte sich bis 1950 zu einer zentralen Dachorganisation für einige Dutzend internationale katholische Organisationen entwickelt, der seit Juni 1951 auch ein ständiges Sekretariat in Fribourg zur Verfügung stand.7 Sie stellte den Versuch des Laienapostolats dar, die zunehmend Transnationalisierungsprozessen unterworfenen Nachkriegsgesellschaften in enger Übereinstimmung mit der katholischen Hierarchie aktiv mitzugestalten.8 Ihre große finanzielle Abhängigkeit vom Vatikan sicherte den starken Einfluss des Heiligen Stuhls langfristig.9 Bis zur Gründung von Radio Omega in den frühen 1960er-Jahren war die Commission eine transnationale, eher kleine Gruppe von Laienkatholiken und Klerikern unter dem Vorsitz des luxemburgischen Priesters Jean Bernard, die in engem Kontakt und steter Koordination mit dem Heiligen Stuhl agierte. Teilweise mit indirekter finanzieller Unterstützung durch den französischen und den westdeutschen Auslandsgeheimdienst führte die Commission vielfältige Propagandaaktionen zum Thema der Kirchenverfolgung in den kommunistischen Staaten durch, um die öffentliche Meinung im Westen gegen den »atheistischen« Kommunismus zu immunisieren. Dazu zählten etwa ein sogenanntes Rotbuch der verfolgten Kirche10 und das ab 1956 publizierte Magazin Écho des Persécutés (Echo der Verfolgten). Zusätzlich zu traditionellen Medien der politischen Propaganda instrumentalisierte die Commission auch spezifisch religiöse Praktiken wie das Gebet. Außerdem organisierte die Gruppe materielle Hilfe und religiöse Literatur für kirchliche Einrichtungen in Osteuropa. Zu Beginn der 1960er-Jahre richtete sich der Fokus stärker auf die Bevölkerung hinter dem Eisernen Vorhang. Um durch

6 Sofern nicht anders angegeben, stützt sich dieser Abschnitt auf Hänni, Among Spies, 2017. 7 Bernard Minvielle, L’apostolat des laïcs à la veille du Concile (1949–1959). Histoire des Congrès mondiaux de 1951 et 1957, Fribourg 2001, 49, 78, 82. 8 Z. B. COIC, Schachtel N31 (fortan COIC-N31), Rapport du Comité de Continuité à l’Assemblée de la COIC, Paris, 12.–15. 3. 1954, 1. COIC-C50, Conférence des Présidents des Organisations Internationales Catholiques, Session Ordinaire de Fribourg, 29. 2. 1952, 3. 9 Die Gelder des Heiligen Stuhls machten 60 bis 75 Prozent des Budgets aus. Siehe v. a. COICN32; COIC-N33; COIC-N35. 10 Albert Galter, Le ›livre rouge‹ de l’Église persécutée, Paris 1956. Alberto Galter, Rotbuch der verfolgten Kirche, Recklinghausen 1957.

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Adrian Hänni

dessen wenige, aber wachsende Risse zu dringen, wurden Tourismus und Radio als die vielversprechendsten Mittel betrachtet.

Radio Omega entsteht 1962 sandte Radio Vaticana wöchentlich bereits 39,75 Stunden in 17 Sprachen in die Länder unter kommunistischer Herrschaft.11 Die Commission zweifelte allerdings am Effekt, den Radio Vaticana zu jener Zeit hinter dem Eisernen Vorhang erzielte. Vor allem hatte sie den Eindruck, dass der Sender wegen seines spezifisch römisch-katholischen Charakters den kulturellen und spirituellen Hunger der Menschen, die unter kommunistischer Herrschaft lebten, nicht stillen konnte.12 Gemäß John Pollard hatten die Sendungen tatsächlich einen größeren Einfluss auf die öffentliche Meinung im Westen als auf die Menschen in Osteuropa.13 Zudem konzentrierte sich Radio Vaticana noch bis 1967 auf technische Aspekte und weniger auf Inhalte, was sich auch in der Personalstruktur widerspiegelte.14 Die übrigen Radiostationen, die religiöse Sendungen hinter den Eisernen Vorhang ausstrahlten – insbesondere die BBC, RNE, Radio Free Europe und Radio Liberty –, wurden von der Commission sogar noch kritischer beurteilt.15 Demgemäß beschloss man im November 1959, nach Möglichkeiten zu suchen, um eigene Radiosendungen für die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang zu gestalten und zu übertragen.16 Es folgte eine langwierige Planungsphase, einschließlich Konsultationen mit dem Staatssekretariat, verschiedenen Bischöfen und selbst mit Kardinal Jozsef Mindszenty – dem Primas der katholischen Kirche in Ungarn, der damals in der US-Botschaft in Budapest Zuflucht gefunden hatte.17 Das Projekt gewann an Fahrt, als Jan Fierens gegen Ende 1961 die Leitung der Radiosektion übernahm. Fierens, vom Missionsorden CICM18 im belgischen 11 12 13 14 15 16

Section Radio, in: L’Écho des Persécutés, Okt./Nov. 1962, 10. Nouvelles des Organisations. Radio Omega, in: Témoins, November 1967. John F. Pollard, The Papacy in the Age of Totalitarianism, 1914–1958, Oxford 2014, 374. Nelson, War of the Black Heavens, 1997, 107f. Section Radio, in: L’Écho des Persécutés, Okt./Nov. 1962, 10f. COIC, Schachtel N08, Ordner »Église-Témoin 1960–64« (fortan COIC-N08-ET), Rapport sur l’activité de la Commission pour l’Église persécutée durant l’année 1959, 2. 17 Falls nicht anders angegeben beruhen die Ausführungen zu Radio Omega auf Dokumenten in COIC-N08-ET und im Dossier »Radio ›Omega‹ (1962–1966)«, Ordner 39, NTS-Archiv (fortan NTS-39-RO). 18 Congregatio Immaculati Cordis Mariae, deutsch »Kongregation vom Unbefleckten Herzen Mariens«, ein 1862 vom belgischen Priester Théophile Verbist errichteter katholischer Männerorden.

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Scheut, war von 1937 bis 1953 als Missionar in China tätig, wo er zunächst von der japanischen Besatzungsmacht und ab 1949 von Mao Tse-tungs kommunistischer Regierung unter Hausarrest gestellt und inhaftiert wurde. Nach seiner Ausweisung aus China im Jahr 1953 sandte ihn sein Orden nach Haiti und in die USA. Vor seiner Anstellung bei der Commission unterrichtete er an der von der CIA finanziell unterstützten Università Internazionale degli Studi Sociali Pro Deo in Rom.19 Ab August 1962 war Fierens auch als Sekretär der Commission tätig und führte das Sekretariat zur Radiosektion nach Brüssel über.20 Am 1. August 1962 ging Radio Omega schließlich auf Sendung. Über Kurzwelle wurden täglich vier fünfzehnminütige russischsprachige Programme Richtung Sowjetunion ausgestrahlt. Das jährliche Budget belief sich, zumindest im ersten Jahr, auf mehr als 1,5 Millionen belgische Franken.21 Ein hauptsächlicher Geldgeber war das Staatssekretariat des Heiligen Stuhls.22 Der Vatikan wollte im Gegenzug laufend über die Operation informiert werden und erwartete, bei allen strategischen Entscheidungen um Rat gefragt zu werden.23

Geheime Kooperation mit dem NTS und Radio Free Russia Radio Omega wurde über die Sendeanlage des klandestinen Radio Free Russia ausgestrahlt, das vom Bund der Russischen Solidaristen (NTS) in der Nähe von München betrieben wurde. Die militant antikommunistische, nationalistische Widerstandsorganisation hatte sich aus russischen Emigranten entwickelt, die sich in den späten 1920er-Jahren im Belgrader Exil niedergelassen hatten. Daraus entstand noch in der Zwischenkriegszeit ein transnationales Netzwerk mit Sektionen auf allen Kontinenten. Während des Zweiten Weltkriegs kooperierten NTS-Aktivisten an der Ostfront mit der deutschen Wehrmacht, in den letzten Kriegsjahren kam es aber zum Bruch des Zweckbündnisses, und die Gestapo verhaftete einen Großteil der NTS-Führung. Nach dem Krieg reorganisierte sich 19 Zur CIA-Verbindung von Pro Deo siehe Valérie Aubourg, »A Philosophy of Democracy under God«. C.D. Jackson, Henry Luce et le mouvement Pro Deo (1941–1964), in: Revue Française d’Études Américaines 1 (2006), 29–46. 20 Zur Biografie von Jan Fierens siehe: L’Écho des Persécutés, Okt./Nov. 1962, 1f. Bericht zu den Treffen der Commission pour l’Église Persécutée in Brüssel, 18. & 19. 2. 1963, publiziert in: Témoins, April 1963, 5–23. 21 Das entsprach 2020 etwa 300.000–350.000 US-Dollar. COIC-N08-ET, O.I.C. Commission pour l’Église Persécuté. Budget 1963. 22 COIC-N08-ET, Compte-Rendu de la Commission »Delta«, Appenzell, 18.–21. 5. 1963, 8–12. Zusätzliche finanzielle Mittel konnten durch persönliche Kontakte von Fierens in den USA und möglicherweise von katholischen Quellen in Westeuropa gesammelt werden (siehe COIC-N08-ET). 23 Siehe verschiedene Dokumente in COIC-N08-ET, insbesondere einen Brief von M. de Habicht an J. Bernard, 27. 5. 1964.

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der NTS im besetzten Deutschland und arbeitete bei der Verfolgung seines Ziels, das sowjetische Regime zu stürzen, zunächst mit britischen und dann vor allem mit US-Geheimdiensten zusammen.24 In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre infiltrierten von der CIA ausgebildete NTS-Aktivisten mit Fallschirmen die Sowjetunion, um für den amerikanischen Auslandsgeheimdienst nachrichtendienstliche Informationen zu sammeln, weitere Agenten anzuwerben und Propaganda zu verbreiten. Im Kriegsfall sollten sie sogar eine Stay-Behind-Organisation aufbauen.25 Parallel dazu bildete die CIA im Rahmen der Operation Radio NTS-Agenten in der Produktion von Propagandasendungen aus, mit denen antisowjetische Ideologie nach Osteuropa getragen werden sollte.26 Bereits Ende 1950 war Radio Free Russia erstmals im Äther zu hören. Die Senderstärke der kleinen, klandestinen mobilen Station war zunächst sehr gering, konnte aber 1953 markant gesteigert werden. Dank finanzieller Unterstützung durch die CIA konnte damals eine neue und bessere technische Ausrüstung angekauft werden.27 Bis Ende des Jahrzehnts erhöhte sich dazu die tägliche Sendezeit von 25 Minuten auf acht Stunden, wobei Radio Free Russia nun auf zwei Kurzwellenfrequenzen zu hören war – auf denselben, die ab 1962 auch die religiösen Programme von Radio Omega transportieren sollten.28 Im Sommer 1959 begann schließlich die Konstruktion einer stationären Sendeanlage in einem abgelegenen Landstrich in der Gemeinde Kirchdorf bei Haag in Oberbayern.29 Von dort sollten ab August 1962 auch die Sendungen von Radio Omega ausgestrahlt werden. Mitte der 1960er-Jahre war Radio Free Russia in Bayern allerdings nur ein Glied in einer globalen Kette von NTS-Radiostationen. Von Taiwan wurde ab 1957 von einer leistungsstarken Kurzwellen-Sendeanlage Propaganda nach Sibirien ausgestrahlt, bald einmal zehn Stunden pro Tag. In Japan unterhielt der NTS zum selben Zweck eine Radiostation und sendete für eine gewisse Zeit auch täglich eine halbe Stunde über das Korean Broadcast System (KBS) im südkoreanischen Seoul. Am anderen Ende der Welt begann die US-Gruppe des NTS 24 David C.S. Albanese, »It Takes a Russian to Beat a Russian«. The National Union of Labor Solidarists. Nationalism, and Human Intelligence Operations in the Cold War, in: Intelligence and National Security 32/6 (2017), 782–796. Benjamin Tromly, The Making of a Myth. The National Labor Alliance, Russian Émigrés, and Cold War Intelligence Activities, in: Journal for Cold War Studies 18/1 (2016), 80–111. 25 Albanese, »It Takes a Russian to Beat a Russian«, 2017, 785–791. 26 U.S. Nation Archives II, College Park, MD, Record Group 263, Entry ZZ-19, Box 24, Band 1, REDBIRD/Summary of Projects for [geschwärzt], 30. 6. 1951. 27 NTS-39, Radio Free Russia, Bericht von Vladimir Paremski, NTS, 22. 8. 1959, 2; Richard H. Cummings, Cold War Frequencies. CIA Clandestine Radio Broadcasting to the Soviet Union and Eastern Europe, Jefferson/North Carolina 2021, 214. 28 Um 6.350 kHz und 11.550 kHz. 29 NTS-39, Radio Free Russia, Bericht von Vladimir Paremski, NTS, 22. 8. 1959, 3.

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unter der Leitung von Constantin Boldyreff 30 im November 1962, kurz nach der Kubakrise, täglich ein russischsprachiges Programm nach Kuba zu senden, mit dem Ziel, die dort stationierten sowjetischen Truppen zu beeinflussen. Die Sendungen wurden über Radio Libertad und Radio Caribe von der Dominikanischen Republik aus ausgestrahlt.31 Die Zusammenarbeit zwischen Radio Omega und dem NTS wurde bei einem Treffen in Frankfurt im Mai 1962 mit einem mündlichen gentlemen’s agreement besiegelt. Über die Kooperation wurde Geheimhaltung vereinbart. Die Commission verpflichtete sich zu monatlichen Zahlungen von 6.000 DM32 an den NTS für die Ausstrahlung von Radio Omega. Um diese Zahlungen zu verschleiern, wurden sie offiziell nicht von Radio Omega oder der Commission getätigt. Stattdessen wurde der Betrag jeweils als kleinere persönliche Spenden getarnt auf ein Konto des NTS beim Schweizerischen Bankverein in Basel überwiesen.33 Der Beitrag des NTS beschränkte sich aber nicht nur auf die Ausstrahlung der Programme. Bis zum Februar 1965 wurde ein Teil der religiösen Sendungen nicht in Brüssel aufgezeichnet, sondern vom NTS ins Russische übersetzt und aufgenommen. Diese Dienste vergütete Radio Omega mit zusätzlichen 500 DM pro Monat.34 Außerdem unterstützten – wie an späterer Stelle noch erläutert wird – NTS-Mitglieder die inhaltliche Gestaltung bestimmter Sendungen. Der NTS war damit an allen wesentlichen Elementen der Produktion und Distribution von Radio Omega beteiligt. Oberflächlich betrachtet mag die Zusammenarbeit zwischen Radio Omega und dem NTS als eine reine Zweckgemeinschaft erscheinen – von der Art, wie sie der NTS im selben Jahrzehnt mit The Voice of Free Latvia unterhalten hat. Der lettische Untergrundsender wurde ab Mitte der 1960er-Jahre, jeweils eine halbe Stunde täglich, ebenfalls über Radio Free Russia ausgestrahlt. Der NTS handelte in diesem Fall ausschließlich aus finanziellem Kalkül, denn zwischen der lettischen Exilgemeinschaft und den russischen Nationalisten vom NTS bestanden

30 Constantin Boldyreff trat bereits in den 1930er-Jahren als Student an der Universität Belgrad dem damals neu gegründeten NTS bei. 1947 emigrierte er in die USA und wurde Professor an der Georgetown University. In den folgenden vier Jahrzehnten blieb er als führender NTSAktivist in den USA tätig. Siehe Constantin W. Boldyreff papers, Hoover Institution Archives, Stanford University, CA. 31 Cummings, Cold War Frequencies, 2021, 217–219; sowie verschiedene Dokumente im NTSArchiv. 32 Das entsprach 2020 etwa 15.000–18.000 US-Dollar. 33 NTS-39-RO, Émission Radio. Contacts à Frankfurt avec la N.T.S., 11. 5. 1962; und Brief von Gleb Rahr an Jan Fierens, 25. 5. 1962. Zur finanziellen Beziehung zwischen Radio Omega und dem NTS siehe außerdem verschiedene Dokumente in COIC-N08-ET und NTS-39-RO. 34 Brief von Gleb Rahr an Jan Fierens, 22. 5. 1963; Brief von P. Jegers und G. Delforge an Gleb Rahr, 21. 1. 1965, beide in: NTS-39-RO.

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ideologische Konflikte. Entsprechend wurden die Sendungen eingestellt, als The Voice of Free Latvia 1971 die nötigen Geldmittel fehlten.35 Zwischen der Commission und dem NTS zeigen sich bei genauerer Betrachtung aber durchaus starke ideologische Berührungspunkte, die über den gemeinsamen Antikommunismus hinausgehen. Die politische Ausrichtung des NTS nach dessen Reorganisation in den späten 1940er-Jahren kam mit ihrer gleichzeitigen Ablehnung von Kommunismus und Kapitalismus manchen christdemokratischen Programmen der Nachkriegszeit jedenfalls sehr nahe. Der Solidarismus des NTS basierte auf einer spezifischen christlich-sozialen Lehre und stützte sich ideologisch stark auf das orthodoxe Christentum, wobei sich die NTS-Aktivisten in ihrer stark religiösen Rhetorik auch als Verteidiger des Glaubens gegen den gottlosen Kommunismus inszenierten.36 In der konkreten politischen Arbeit kollaborierte der NTS wiederholt mit religiösen Gruppen, etwa beim Druck und Schmuggel von Bibeln in die Sowjetunion. Insgesamt zählte die Exilorganisation nicht weniger als zehn orthodoxe Priester zu ihren Mitgliedern.37 Einer von ihnen, der in Paris stationierte Kiril Fotijev, unterhielt eine enge Zusammenarbeit mit Radio Omega, insbesondere bei der Sonntagsmesse, welche nach orthodoxer Liturgie abgehalten wurde.38 Die rasch freundschaftliche, von ideologischer und programmatischer Nähe geprägte Zusammenarbeit zwischen NTS und Radio Omega ging folglich über eine rein ökonomische Transaktion hinaus. Die durch Radio Omega hergestellte Verbindung des Heiligen Stuhls und der internationalen katholischen Organisationen mit dem NTS, der vom KGB in den 1960er-Jahren nach wie vor als »ernsthafte Bedrohung« angesehen wurde,39 hatte allerdings eine problematische Seite: Sollte sie in Moskau bekannt werden, drohten dem katholischen Klerus und den Gläubigen in der Sowjetunion Vergeltungsmaßnahmen. Schließlich konnte Radio Free Russia dank der finanziellen Beiträge von Radio Omega immerhin seine täglichen Programme um eine Stunde ausdehnen sowie die Stärke der Sendeanlage erhöhen.40 Es erstaunt deshalb kaum, dass sich an der Generalversammlung der COIC im schweizerischen Appenzell im Mai 1963 eine Kontroverse um die Radiosendungen entzündete. Zahlreiche Vertreter der COIC protestierten, da sie negative Auswir35 36 37 38 39

Cummings, Cold War Frequencies, 2021, 219. Siehe z. B. NTS. Bund Russischer Solidaristen, Frankfurt 1979. Interview des Autors mit Andrey Redlich (NTS-Führungsmitglied), 20. 3. 2018. COIC-N08-ET, »Omega« et la »Section Radio«, undatiert [1962]. Siehe z. B.: Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) (BStU), Ministerium der Staatssicherheit (MfS), Sekretariat des Ministers 577, 88–110. Notiz des MfS der DDR zu einem Treffen »mit den sowjetischen Genossen« vom 13. 11. 1969. 40 NTS-39-RO, Brief von Gleb Rahr an Jan Fierens, 25. 5. 1962. Brief von Gleb Rahr an Jan Fierens, 22. 5. 1963.

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kungen für die Katholik*innen hinter dem Eisernen Vorhang befürchteten.41 Die COIC-Führung reagierte, aber anders als von den Kritikern intendiert: Sie verlangte, Radio Omega rechtlich von der Commission zu trennen, um die Tarnung des Senders weiter zu verbessern. Die Beziehungen von Radio Omega zum Heiligen Stuhl hatten bereits von Anfang an unter Geheimhaltung gestanden.42

›Religiös‹ oder ›politisch‹? Die Programme von Radio Omega Bei der Produktion seiner Programme erhielt Radio Omega – vom NTS abgesehen – begrenzte, und zumeist inoffizielle, Unterstützung von einigen internationalen katholischen Organisationen. Insbesondere Pax Romana43 produzierte oder redigierte gelegentlich Texte. Die Commission teilte wiederum in einigen Fällen ihre Skripte mit anderen Radiostationen, die nach Russland sendeten, wie etwa der BBC.44 Die Inhalte der Sendungen hatten religiösen, spirituellen und kulturellen Charakter. Das Programm einer typischen Woche illustriert ihre Ausrichtung ziemlich gut: »Montag: eine religiöse Instruktion: Erklärung der Grundlagen der Religion und der großen christlichen Wahrheiten Dienstag: die Bibel, präsentiert als die spirituelle Nahrung, die in der Heiligen Schrift gefunden werden kann. Mittwoch: Ausstrahlung von ›Antwort auf Einwände‹, in dem Sinne, in welchem Johannes XXIII. die apostolische Aktion versteht: ›den gegenwärtigen Bedürfnissen der Menschen Sorge tragen, indem der Wert der Lehre der Kirche aufgezeigt wird […].‹ Donnerstag: musikalische Sendungen, die aufzeigen, dass die religiöse Überzeugung, wenn sie lebendig ist, in jedem Land ihren musikalischen Ausdruck sucht. Freitag: eine christliche und dynamische Antwort auf die Probleme, die das Leben bereithält. Samstag: Information; was geschieht in der Welt von einem religiösen Standpunkt aus? Die wichtigsten religiösen News der Woche. Sonntag: eine äußerst gefühlstiefe Kommunion mit unseren verfolgten Brüdern, mittels liturgischen Gebets.«45

Die Macher von Radio Omega pflegten festzuhalten, dass der Inhalt ihrer Sendungen apolitisch und rein religiös sei. Das überlieferte Quellenmaterial lässt 41 Compte-Rendu de la Commission »Delta«, Appenzell, 18.-21. 5. 1963, 8–16. 42 Emission Radio. Contacts à Frankfurt avec la N.T.S., 11. 5. 1962. 43 Bei der 1921 in Fribourg gegründeten Pax Romana handelte es sich um eine internationale laienkatholische Organisation, welche die Internationale Bewegung katholischer Intellektueller und die Internationale Bewegung katholischer Studierender unter einem Dach zusammenführte. Pax Romana war eine aktive und einflussreiche Mitgliedsorganisation der COIC. 44 Compte-Rendu de la Commission »Delta«, Appenzell, 18.–21. 5. 1963, 12–16. 45 Ebd.

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allerdings keinen Zweifel daran, dass die Ausstrahlungen politische Auswirkungen zeitigen sollten. Die christliche Botschaft sollte unbestreitbar den ideologischen Kampf gegen den atheistischen Kommunismus unterstützen und sukzessiv zur Zersetzung des sowjetischen Regimes beitragen. Die Konzeption der Hörer*innenkreise reflektierte dieses politische Kalkül.

Christen, Kommunisten, Jugendliche: Zur Konstruktion der Zielgruppe Die Zielgruppe von Radio Omega bestand zunächst aus den Christ*innen in der Sowjetunion. Die Sendungen richteten sich aber nicht nur an römisch-katholische Gläubige, sondern auch an Orthodoxe. Um die spirituellen Bedürfnisse dieser Zielgruppe besser befriedigen zu können, wurde die Kommunion jeweils nach orthodoxer Liturgie abgehalten. Zusätzlich verliehen die wöchentlichen Nachrichtensendungen den Programmen ein ökumenisches Element.46 Neben den Christ*innen sollte Radio Omega mit seinem »Radio-Apostolat« gerade auch nicht-christliche Zielgruppen erreichen. Ein internes Strategiedokument forderte: »Unsere Sendungen müssen auch überzeugten Kommunisten helfen zu verstehen, dass ihre [gesellschaftlichen] Ideale besser durch die Christlichkeit realisiert werden können als durch ihre atheistische Vision der Welt.«47 Diese missionarische Konzeptualisierung der christlichen Botschaft als Brennpunkt für ein Rollback des kommunistischen Herrschaftssystems lässt sich als konsequente Weiterentwicklung von Fierens Wirken für den Missionsorden CICM im kommunistischen China und an der Università Internazionale degli Studi Sociali Pro Deo verstehen, wo er unmittelbar vor seiner Tätigkeit für Radio Omega einen Kurs über »die Psychologie des Apostolats in kommunistischen Milieus« gehalten hatte.48 Das »Radio-Apostolat« wurde aber auch von dogmatischen Entwicklungen im Vatikan getragen, die sich im April 1963 in der revolutionären Enzyklika Pacem in Terris manifestierten. In diesem eminent politischen Text verkündete Johannes XXIII., dass die von der unveränderlichen Ideologie des Kommunismus geleiteten politischen Akteur*innen die Fähigkeiten besäßen, sich mit den Verhältnissen zu wandeln – also ihren ›Irrtum‹ zu erkennen.49 46 COIC-N08-ET, »Omega« et la »Section Radio«, undatiert [1962]. 47 COIC-N08-ET, Internes Dokument der Radio-Sektion, Commission pour l’Eglise Persécutée, undatiert, 2. 48 Zur Biografie von Fierens siehe: L’Écho des Persécutés, Okt./Nov. 1962, 1f. Bericht zu den Treffen der Commission pour l’Église Persécutée in Brüssel, 18. & 19. 2. 1963. 49 Thomas Brechenmacher, Johannes XXIII., Pacem in Terris (1963) und das Erbe Pius’ XII., in: Mariano Barbato/Stefan Heid (Hg.), Macht und Mobilisierung, 2020, 201–220. Alberto Melloni, Pacem in terris. Storia dell’ultima enciclica di Papa Giovanni, Rom 2010.

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Innerhalb des breiten Adressatenkreises wurde ein besonderes Augenmerk auf die russische Jugend gelegt. Auf der Basis von psychologischen Erörterungen der Mentalität der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang50 attestierten die Macher von Radio Omega dieser nämlich einen spirituellen Hunger nach Kultur und intellektuellem Leben. Eine angeblich weitverbreitete Zurückweisung des Marxismus habe zu einem Verlangen nach »moralischen Korrektiven« geführt und eine Suche nach dem Sinn des Lebens und der Geschichte ausgelöst. Die Jugendlichen brächten deshalb der Religion ein neugieriges Interesse entgegen, wobei sich einige sogar auf der konkreten Suche nach dem Christentum befänden.51 Die russische Jugend wurde angesichts der diagnostizierten spirituellen Bedürfnisse als besonders empfänglich für das »Radio-Apostolat« eingestuft. Wenngleich die Commission das Potenzial für eine christliche Missionierung sicherlich überschätzt hat, fanden ihre Beobachtungen gemäß neuerer Forschung durchaus eine gewisse Entsprechung in der damaligen gesellschaftlichen Entwicklung in der Sowjetunion. Olga Tchepournaya zeigt beispielsweise, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren freie, der Orthodoxie nahestehende, religiöse Gemeinschaften in Leningrad starken Zulauf vonseiten junger Intellektueller erhielten. Kritik und Ernüchterung gegenüber dem Marxismus hatten bei ihnen – ähnlich wie von der Commission beschrieben – zu einer individuellen religiösen Suche und letztlich zur Konversion zur Orthodoxie geführt. Die anfänglich geheimen, an romantische Zirkel erinnernden, religiösen Gemeinschaften zeichneten sich vielfach durch eine Affinität zum russischen Nationalismus und eine Nähe zur Dissidentenbewegung aus.52 Barbara Martin wiederum erkennt in ihrer Forschung zur religiösen Erneuerung unter der sowjetischen Intelligenzia in den 1970er-Jahren eine Desillusionierung bezüglich des Kommunismus. Die Folge war die Suche nach alternativen spirituellen Quellen, die zur Entstehung einer Hippiebewegung mit einem Hang zu orientalischen Religionen führte. Von dort landeten manche Jugendliche in den religiösen Seminaren in Moskau und Leningrad. Dabei behielten sie ihre ökumenische Orientierung und unterhielten Kontakte auch mit Katholik*innen und der ›Kirche des Schweigens‹.53 Diese Konversationsmechanismen entsprachen weitgehend dem von der Commission beobachteten bzw. projizierten Prozess.

50 V. a. Jan Fierens, Les conditions psychologique du dialogue, in: Témoins, Mai 1963, 4–20. 51 Jan Fierens, Psychologie de la jeunesse russe, in: Église-Témoin, Juni 1965, 12f. 52 Olga Tchepournaya, The Hidden Sphere of Religious Searches in the Soviet Union. Independent Religious Communities in Leningrad from the 1960s to the 1970s, in: Sociology of Religion 64/3 (2003), 377–387. 53 Siehe Barbara Martin, Poésie, philosophie, orthodoxie – Le renouveau religieux parmi l’intelligentsia soviétique dans les années 1970, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 115 (2021), 39–56.

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Unter ständiger Kontrolle: Die Rezeption in der Sowjetunion Leider lässt sich aufgrund der Quellenlage kaum etwas dazu sagen, unter welchen Bedingungen und unter welchen Eindrücken die Menschen in der Sowjetunion Radio Omega gehört haben. Zahlreiche Empfangsberichte aus dem benachbarten Finnland zeigen immerhin, dass die Sendungen dort mit guter bis hervorragender Signalstärke und wenigen Störungen empfangen wurden und von den finnischen Hörer*innen eine gute Gesamtbeurteilung erhielten.54 Indirekt lässt sich die Bedeutung von Propagandasendungen hinter den Eisernen Vorhang einschätzen, indem man die Reaktion des sozialistischen Regimes analysiert, insbesondere dessen elektronische Störmaßnahmen ( jamming). Im Gegenzug zu den großen westlichen Radiostationen, die nach Osteuropa sendeten,55 blieb Radio Omega ein sowjetisches jamming wohl die meiste Zeit erspart. Die vergleichsweise limitierte Reichweite bietet eine potenzielle Erklärung für diesen Erfolg. Andere kleinere Radiosender wie RFI wurden von den sowjetischen Störsenden ebenfalls in Ruhe gelassen.56 Ein Ereignis vom März 1964 legt allerdings eine andere Erklärung nahe. Eines Nachmittags unterbrachen NTS-Aktivisten das Programm für eine kurze politische Durchsage. Radio Omega protestierte umgehend, aber der Schaden war angerichtet. Während der nächsten zehn Tage wurden die Sendungen gejammt.57 Diese Episode legt nahe, dass die sowjetischen Behörden Radio Omega zwar eng überwachten, sich aus strategischen oder ökonomischen Gründen aber entschlossen hatten, die Sendung nicht zu stören, solange ihre Inhalte als religiös taxiert wurden. Dokumente von Gosteleradio, des Staatskomitees für Fernsehen und Hörfunk der Sowjetunion, bestätigen diese These. So geht etwa aus einem Bericht an das Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei vom Jänner 1964 hervor, dass die Sendungen von Radio Omega unter ständiger Kontrolle der Sicherheitsbehörden von Gosteleradio standen. Der religiöse Programminhalt wurde der ideologischen Abteilung des ZK detailliert geschildert und dem Bericht hinzugefügt, dass sich der Sender von Radio Omega wohl in München befinde.58 Keine Anhaltspunkte finden sich hingegen in den Dokumenten von 54 NTS-39-RO, Radio Omega, Données Écoute 1965. 55 George W. Woodard, Cold War Radio Jamming, in: A. Ross Johnson/R. Eugene Parta (Hg.), Cold War Broadcasting. Impact on the Soviet Union and Eastern Europe, Budapest 2010, 51– 66. 56 Nelson, War of the Black Heavens, 1997, 110. Das russische Programm von RFI begann 1963, im Jahr nachdem Radio Omega erstmals auf Sendung ging. Siehe Frédéric Brunnquell, Fréquence monde. Du poste colonial à RFI, Paris 1992, 96. 57 Notes sur Radio Omega, in: Église-Témoin, Dezember 1968, 20f. 58 Bericht über Radio Omega, Gosteleradio, 10. 2. 1964, in: Briefe an die ideologische Abteilung des ZK, Jan. 1964–Mai 1965, Russisches Staatsarchiv für Neueste Geschichte (RGANI), Moskau, F. 5, op. 55, d. 79, S. 33. Ich bin Dr. Kristina Wittkamp von der Universität Passau, die

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Gosteleradio zur Frage, ob man in Moskau die Verantwortlichen von Radio Omega kannte oder über die Verbindungen zum NTS und zum Vatikan informiert war.

Gescheiterte Ausbaupläne Bereits nach einem Jahr im Äther geriet Radio Omega in eine finanzielle Krise.59 Der NTS gewährte Radio Omega deshalb ab August 1963 eine bedeutende Reduktion der monatlichen Zahlungen, um dem Unterstützer »unserer antikommunistischen Sache«60 Luft zu verschaffen und so die Erschließung zusätzlicher Geldquellen zu erleichtern.61 Trotz dieser schwierigen finanziellen Lage begann Radio Omega im Herbst 1963 einen ambitionierten Ausbau des Senders zu planen. Die Sendungen mit dem relativ kleinen NTS-Transmitter konnten in der Sowjetunion nur einen eingeschränkten Hörer*innenkreis erreichen. Radio Omega plante deshalb, auf der Anlage von Radio Free Russia einen eigenen Sendemast zu bauen, der mit 60 kWh die bisherige Leistungsstärke um ein Vielfaches erhöhen sollte. Gleichzeitig sollte die tägliche Sendezeit von einer auf fünf bis zehn Stunden ausgeweitet und Programme nicht nur in Russisch, sondern in verschiedenen in der Sowjetunion gesprochenen Sprachen – und möglicherweise auch in den Sprachen anderer kommunistischer Länder – ausgestrahlt werden.62 Um den Ausbau der Sendezeiten zu ermöglichen, war zudem geplant, Radio Omega über eine eigene Wellenlänge zu senden und nicht länger über die beiden von Radio Free Russia benutzten Frequenzen.63 Ein solcher Ausbau hätte für Radio Omega einen Quantensprung bedeutet. Um die dafür benötigten Finanzmittel einzuwerben, reiste Jan Fierens ab dem Herbst 1963 wiederholt in die USA. Über seine dortigen Kontakte schweigen die Quellen. Fierens gelang es allerdings lediglich kleinere Beträge aufzubringen, eine große versprochene Geldsumme wurde im Frühling 1965 zudem »auf ein viel

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mir freundlicherweise mehrere Dokumente aus dem RGANI zur Verfügung stellte, zu Dank verpflichtet. NTS-39-RO, Brief Jan Fierens an Lev Rahr, 4. 6. 1963. Brief von Gleb Rahr an Jan Fierens, 25. 5. 1962. Siehe, neben weiteren Dokumenten in NTS-39-RO, vor allem zwei Briefe von Lev Rahr an Jan Fierens vom 13. 6. 1963. Siehe, neben weiteren Dokumenten in NTS-39-RO, vor allem die Briefe von Lev Rahr an Radio Omega vom 1. und 3. 10. 1964. NTS-39-RO, Brief von Gérard Delforge, Produktionsdirektor Radio Omega, an Lev Rahr, 24. 9. 1964.

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späteres Datum verlegt«.64 Ob diese Misserfolge bei der Beschaffung von Geldmitteln dazu beigetragen haben, dass er im Juli 1965 einen schweren Herzinfarkt erlitt?65 Angesichts des anhaltend ausbleibenden Erfolgs, in den USA, oder anderswo, neue Geldquellen zu erschließen, wurde Radio Omega im Verlauf des Jahres 1966 schrittweise heruntergefahren. Im Februar wurde das Programm zunächst auf Wiederholungen reduziert, ehe die Sendungen Anfang November schließlich ganz eingestellt wurden.66

Konklusion Von August 1962 bis November 1966 sandte Radio Omega über Kurzwelle eine Stunde täglich religiöse und kulturelle Programme in russischer Sprache in die Sowjetunion. Das verdeckt operierende Radio wurde – unter der Ägide des belgischen Missionars Jan Fierens – von einer antikommunistischen Propagandagruppe, der Commission pour l’Église Persécutée, organisiert, die formell in der Dachorganisation der internationalen katholischen Organisationen angesiedelt war. Aufgrund der finanziellen Unterstützung und engen Koordination mit dem Heiligen Stuhl kann man durchaus von einem klandestinen Propagandaradio der Papstkirche sprechen. Die Sendungen sollten römisch-katholische und orthodoxe Christ*innen, aber gerade auch nichtchristliche Hörer*innenkreise ansprechen. Dazu zählte insbesondere die russische Jugend, die als primäre Zielgruppe in den Mittelpunkt rückte. Die christliche Botschaft sollte den ideologischen Kampf gegen den atheistischen Kommunismus unterstützen und schrittweise zur Zersetzung des sowjetischen Regimes beitragen. Die Programme zielten damit durchaus auf eine politische Wirkung, auch wenn die Radiomacher ihren religiösen Charakter betonten. Die sowjetischen Behörden sahen dies ähnlich. Gosteleradio überwachte Radio Omega zwar ständig, da die Inhalte aber als ›religiös‹ und damit als nicht besonders brisant erachtet wurden, störten die Behörden die Sendungen in der Regel nicht. Sie schienen das Zentralkomitee nicht besonders zu interessieren. Zu den Hörpraktiken und -erlebnissen sowie zur Rezeption von Radio Omega lässt sich allerdings aufgrund der Quellenlage keine Aussage machen. Hier be64 NTS-39-RO, Brief von P. Jegers, Administrativer Direktor Radio Omega, an Lev Rahr, Radio Omega, 24. 5. 1965. Zum US-Fundraising von Radio Omega im Allgemeinen siehe verschiedene Dokumente in NTS-39-RO. 65 NTS-39-RO, Brief von P. Jegers an Lev Rahr, Radio Omega, 31. 8. 1965. 66 Nouvelles des Organisations. Radio Omega, in: Témoins, November 1967; diverse Dokumente in NTS-39-RO.

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steht weiterer Forschungsbedarf, und es wäre wünschenswert, wenn sich zu diesem Fragekomplex lebensgeschichtliche Quellen wie Memoiren, Tagebücher oder Briefe erschließen ließen. Man kann allerdings davon ausgehen, dass der Effekt von Radio Omega hinter dem Eisernen Vorhang eher bescheiden war. Dafür sprechen die begrenzte Sendezeit (eine Stunde pro Tag), die kurze Lebensdauer von Radio Omega und seine im Vergleich zu den großen westlichen Radiosendern limitierte Reichweite. Ambitionierte Ausbaupläne, welche diese Ausgangslage grundsätzlich verändert hätten, ließen sich nicht realisieren, weil der Versuch scheiterte, in den USA die dazu benötigten finanziellen Mittel einzuwerben. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Radio Omega um ein bemerkenswertes Kapitel der Radiogeschichte des Kalten Kriegs, nicht zuletzt angesichts der geheimen, auf ideologischer und programmatischer Konvergenz gründenden Zusammenarbeit mit dem NTS. Die russische Widerstandsorganisation war in die Produktion der Programme von Radio Omega involviert und sandte sie über die Sendelage von Radio Free Russia – jenem Radio, welches in den 1950er-Jahren durch finanzielle Unterstützung und Ausbildung seitens der CIA entstanden war. Dafür erhielt der NTS operativ bedeutende Geldmittel von der Commission, die teilweise vom Staatssekretariat im Vatikan stammten. Durch Radio Omega entstand so eine Verbindung zwischen dem Heiligen Stuhl und dem NTS, der vom sowjetischen Regime als ernsthafte Bedrohung angesehen und vom KGB mit allen Mitteln bekämpft wurde.67 Die Katholik*innen in der Sowjetunion wurden damit der Gefahr weiterer Repression ausgesetzt. Schließlich verweist die Fallstudie zu Radio Omega – dem ersten und zu seiner Zeit einzigen klandestinen religiösen Sender, der Radioprogramme in die Sowjetunion ausstrahlte – auf das Potenzial weiterer Forschung zu klandestinen Radiosendern sowie zur Bedeutung von Religion und religiösen Sendungen im westlichen Kampf gegen den Kommunismus – zwei Gegenstände, die in der Geschichtsschreibung zur Radiopropaganda im Kalten Krieg bislang vernachlässigt worden sind.68

67 Cummings, Cold War Frequencies, 2021, 216 f; Sergei A. Krivosheev, KGB protiv NTS, Moskau 2015. 68 Eine Pionierstudie zu klandestinem Radio ist das Buch von Lawrence C. Soley/John C. Nichols, Clandestine Radio Broadcasting. A Study of Revolutionary and Counterrevolutionary Electronic Communication, New York 1987. Diese Publikation enthält auch ein Kapitel zum Kalten Krieg. Während der Arbeit an diesem Artikel erschien eine grundlegende Studie von Richard H. Cummings zu den klandestinen Radiostationen der CIA, die während des Kalten Kriegs Programme in die Sowjetunion und nach Osteuropa sendeten. Vgl.: Cummings, Cold War Frequencies, 2021.

Anton Hubauer

»Es war damals 1938«: Die Ausblendung der NS-Zeit in den Radiobeiträgen der USIA/USIS. Ein Erfahrungsbericht aus dem Archiv der Österreichischen Mediathek

Die United States Information Agency (USIA), oder United States Information Service (USIS), wurde im August 1953 zu Propagandazwecken gegründet. Die Initiative ging vom 34. Präsidenten der Vereinigten Staaten, dem gerade gewählten ehemaligen Oberbefehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte General Dwight D. Eisenhower, aus. Die neue Behörde fußte legalistisch auf dem United States Information and Educational Exchange Act of 19481 und der Executive Order 10477/United States Information Agency; Reorganization Plan No. 8 of 19532. Die Behörde, kurz USIA/USIS genannt, existierte bis 1999, dann wurde sie per Gesetz in das US-Außenministerium integriert.3 Das Betätigungsfeld der Behörde war weit gespannt, und die Methoden sollten sich von bisheriger Propaganda stark unterscheiden. Nachfolgend soll nun auf einige Grundzüge der Entwicklung des Kalten Kriegs bis Mitte der 1950er-Jahre eingegangen werden. Schließlich wird gezeigt, wie das Thema Nationalsozialismus in den Radiobeiträgen der USIA/USIS ausgeblendet wurde.

1 United States Information and Educational Exchange Act of 1948 (Smith-Mundt Act), in: U.S. Department of State, https://2009-2017.state.gov/pdcommission/library/177362.htm (17. 5. 2021). 2 Reorganization Plan No. 8 of 1953, in: govinfo Discover U.S. Government Information, https:// www.govinfo.gov/content/pkg/STATUTE-67/pdf/STATUTE-67-Pg642.pdf#page=1 (17. 5. 2021). https://www.govinfo.gov/content/pkg/USCODE-2019-title5/pdf/USCODE-2019-title5app-reorganiz-other-dup55.pdf (20. 5. 2021). 3 Reform and Restructuring of U.S. Foreign Affairs Agencies: Public Diplomacy in the Department of State. Fact Sheet released by the Bureau of Public Affairs, U.S. Department of State, Washington, DC, September 30, 1999, in: U.S. Department of State, Archive, https:// 1997-2001.state.gov/outreach/publicaffdip/fs_990930_merger.html (17. 5. 2021).

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Der Kalte Krieg bis 1953 Als Eisenhower, der erste Republikaner im Weißen Haus seit 20 Jahren, sein Amt antrat, war die weltpolitische Lage angespannt. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich das Verhältnis zwischen den USA und der UdSSR stetig verschlechtert. Schon 1945/46 gab es erste Anzeichen für das Zerwürfnis zwischen den beiden stärksten Alliierten. Josef Stalin zog die Rote Armee aus dem Nordiran erst 1946, unter massivem Druck der USA, ab. US-Präsident Harry S. Truman hatte den Einsatz von Atomwaffen angedroht.4 Der amerikanische Politikwissenschaftler und Kommunikationstheoretiker Harold Dwight Lasswell schrieb bereits 1945 an William Burnett Benton, den gerade ernannten Staatssekretär für öffentliche Angelegenheiten (Assistant Secretary of State for Public Affairs) im US-Außenministerium, über seine Bedenken zu einem kommenden Konflikt zwischen den USA und der UdSSR: »There is a danger of a cultural armaments race between America and Russia in countries lying between them, – in the form of scientific, artistic and educational expenditure. Furthermore, there is danger of aggressive psychological warfare through mass media of communication. We should undertake to obtain joint declarations of policy condemning cultural armaments races and aggressive psychological warfare.«5

Winston Churchills Rede The Sinews of Peace am 5. März 1946 in Fulton (Bundesstaat Missouri), in welcher er von einem Eisernen Vorhang, der sich quer durch Europa zog, sprach, gilt vielen als Auftakt für den Kalten Krieg.6 Die Teilung in Ost und West betraf nicht nur Europa, sie umfasste den ganzen Globus und sollte für beinahe die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmende Kraft der Weltpolitik sein. Zwei Reden Andrej Alexandrovicˇ Zˇdanovs erscheinen wie ein Echo aus dem Osten. In seiner Rede zum Jahrestag der Oktoberrevolution im November 1946 sprach Zˇdanov noch von zwei Tendenzen in der Weltpolitik. Die von der UdSSR geführte diene der Festigung des Friedens, die andere bereite den Kräften von Krieg und Aggression den Weg. Bei seiner Rede anlässlich der Gründung der Kominform, des überstaatlichen kommunistischen Informationsbüros, am 30. September 1947 verkündete Zˇdanov die Zwei-Lager-Theorie. Die Welt sei geteilt in das imperialistisch antidemokratische

4 Stephan Bierling, Geschichte der amerikanischen Außenpolitik von 1917 bis zur Gegenwart, München 2003, 100. Gerhard Schweizer, Iran, Drehscheibe zwischen Ost und West, Stuttgart 1991, 383. 5 Nicholas John Cull, The Cold War and the United States Information Agency. American Propaganda and Public Diplomacy 1945–1989, Cambridge 2008, 30. 6 David Reynolds, From World War to Cold War. Churchill, Roosevelt, and the International History of the 1940s, Oxford 2006, 260.

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Lager, dem das antiimperialistisch demokratische Lager gegenüberstünde.7 1947 wurde von amerikanischer Seite erstmals die Containment Policy, die Eindämmungspolitik gegen die sowjetische Expansion, betrieben und die TrumanDoktrin der Hilfeleistung für vom Kommunismus bedrohte Staaten verkündet.8 Der Marshallplan (European Recovery Program), beginnend 1948, war wirtschaftlich ein Segen für Westeuropa, vertiefte aber die Teilung in Ost und West.9 Mit der sowjetischen Blockade Berlins 1948 war der Kalte Krieg, endgültig politische Realität geworden.10 Im Jahr darauf testete die UdSSR ihre erste Atombombe,11 der Bürgerkrieg in China endete mit einem Sieg der Kommunisten unter Mao Tse-tung. Die sowjetische Atombombe brach das Monopol der Vereinigten Staaten für Nuklearwaffen, und die UdSSR war endgültig zur zweiten ›Supermacht‹ aufgestiegen. Im Jänner 1950 stimmte US-Präsident Truman, wohl um die amerikanische Nuklear-Überlegenheit wiederherzustellen, dem Bau der Wasserstoffbombe zu.12 Der Sieg Mao Tse-tungs im chinesischen Bürgerkrieg hatte ebenfalls weitreichende Auswirkungen.13 Außenpolitisch bedeutete er für die USA den Verlust Chinas als Verbündeten. Marschall Tschiang Kai-schek floh mit dem Rest der Kuomintang nach Taiwan.14 Doch auch der Indochina-Krieg erfuhr durch Maos Sieg eine Transformation – aus einem Kolonialkrieg Frankreichs wurde ein Kampf gegen die kommunistische Aggression. Vorerst setzten die USA keine eigenen Truppen in Vietnam ein. Nach 1949 stellten die USA allerdings Geld und Waffenlieferungen für den ›dreckigen Krieg‹ gegen den Viet Minh, die vietnamesischen Kommunisten unter Ho Chi Minh und General Vo Nguyen Giap, zur Verfügung.15 Eine Hexenjagd auf kommunistische und vermeintlich kommunistische USBürger*innen hatte schon 1948 eingesetzt. Senator Joseph McCarthy war der 7 Geoffrey Roberts, Stalins Kriege. Vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg, Düsseldorf 2008, 358f. 8 Rolf Steininger, Der Kalte Krieg, Frankfurt am Main 2003, 16–18. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, München 2003, 23f. 9 Bierling, Geschichte der amerikanischen Außenpolitik, 2003, 103f. Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, München 1995, 300–304. Otto Klambauer, Der Kalte Krieg in Österreich, Vom Dritten Mann zum Fall des Eisernen Vorhangs, Wien 2000, 54– 57. 10 Anne Appelbaum, Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956, München 2013, 265. 11 Warren Kozak, LeMay: The Life and Wars of General Curtis LeMay, Washington 2009, 304f. 12 Steven Hugh Lee, Outposts of Empire: Korea, Vietnam and the Origins of the Cold War in Asia, 1949–1954, [o. O.] 1996, 63. 13 Am 1. Oktober 1949 wurde in Peking die Volksrepublik China ausgerufen. Frank Dikötter, The Tragedy of Liberation. A History of the Chinese Revolution 1945–1957, New York 2013, 40. 14 Bierling, Geschichte der amerikanischen Außenpolitik, 2003, 110. 15 Max Hastings, Vietnam: An Epic Tragedy, 1945–1975, New York 2018, 35.

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bekannteste Inquisitor,16 aber nicht der einzige. Der junge Kongressabgeordnete Richard M. Nixon – künftiger Vizepräsident unter Eisenhower und US-Präsident von 1969 bis 1974 – wurde durch die Verfolgung und Verurteilung von Alger Hiss, einem Informanten des sowjetischen Geheimdienstes in den 1930er-Jahren und späteren Mitarbeiters im US-Außenministerium, zu einer politischen Berühmtheit.17 1950 kam es zur direkten Konfrontation zwischen den USA und dem – aus amerikanischer Sicht – monolithischen Block des Kommunismus. Am 25. Juni 1950 begann der Krieg auf der seit 1945 geteilten koreanischen Halbinsel. Dieser ›vergessene Krieg‹ sollte bis zum 25. Juli 1953 andauern und zwei bis drei Millionen Menschen das Leben kosten. Er endete mit einem Waffenstillstand,18 dem bis heute kein Friedensvertrag zwischen Nordkorea und Südkorea folgte. Die atomare Bewaffnung Nordkoreas verleiht diesem Krisenherd eine besondere Bedrohlichkeit.19 Der Tod von Josef Stalin am 5. März 1953 offenbarte die ungeklärte Frage seiner Nachfolge.20 Kurz nach seinem Tod kam es zum Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR – die Ursache war eine weitere Erhöhung des Arbeitssolls.21 Die Frage, wer den Kampf um Stalins Erbe für sich entscheiden konnte, blieb vorerst noch unbeantwortet.22

Die Gründung der USIA/USIS Der neue US-Präsident Eisenhower stand für die von seinem Außenminister John Foster Dulles entwickelte Liberation oder Rollback Policy und wollte den Kommunismus nicht nur eindämmen, sondern zurückzudrängen.23 Eisenhower nutzte das Schweigen der Waffen in Korea, um am 1. August 1953 mit der Schaffung der UISA/USIS eine neuartige Propagandabehörde zu kreieren.24 Der frühere USIA/USIS-Direktor Alvin Snyder erinnert sich in seinen Memoiren: 16 Bierling, Geschichte der amerikanischen Außenpolitik, 2003, 113. Stöver, Der Kalte Krieg, 2003, 57f. 17 Tim Weiner, Ein Mann gegen die Welt. Aufstieg und Fall des Richard Nixon, Frankfurt am Main 2016, 26. 18 Steininger, Der Kalte Krieg, 2003, 24–27. 19 Matthias Naß, Countdown in Korea. Der gefährlichste Konflikt der Welt und seine Hintergründe, München 2017, 33. 20 Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, 687. 21 Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus, Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln/Weimar/Wien 2002, 742. 22 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, 1998, 759. 23 Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus, 2002, 98–102. 24 Cull, The Cold War and the United States Information Agency, 2008, 96.

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»The U.S. government ran a full-service public relations organization, the largest in the world, about the size of the twenty biggest U.S. commercial PR firms combined. Its fulltime professional staff of more than 10,000 spread out among some 150 countries, burnished America’s image and trashed the Soviet Union 2,500 hours a week with a ›tower of babble‹ comprised of more than 70 languages, to the tune of over $2 billion per year, and the biggest branch of this propaganda machine was the USIA.«25

Im Vergleich zur Propaganda des Ersten Weltkriegs, der des Zweiten Weltkriegs oder der antikommunistischen Hetze unter Senator Joseph McCarthy zu Beginn des Kalten Kriegs26 betrieb die USIA/USIS keine Krawallpropaganda und keine Verunglimpfung des Gegners, sondern es wurde Public Diplomacy betrieben. Walter R. Roberts, US-Diplomat mit österreichischen Wurzeln, der vor dem NSRegime floh, wurde 1953 Deputy Area Director for Europe der USIA/USIS. Er war ein Vertreter der Public Diplomacy. Die USIA/USIS sollte die öffentliche Meinung über die Vereinigten Staaten im befreundeten Ausland nachhaltig positiv beeinflussen.27 Für die konkrete Arbeit war die USIA/USIS in inhaltlich getrennte Abteilungen strukturiert. Das Broadcasting Service (IBS) war zuerst für Radio- und Fernsehsendungen, später nur für Radio zuständig. Dem Information Center Service (ICS) unterstanden die Informationszentren und die Büchereien. Das Motion Picture and Television Service (IMV) war für Film und ab 1958 auch für TV zuständig. Für alle Presseangelegenheiten war das Press and Publications Service (IPS) verantwortlich.28 Das Broadcasting Service – ab 1958 eine reine Radioabteilung – war wiederrum nach Empfängerländern unterteilt. Die Empfänger des von der Radioabteilung produzierten Gratis-Radio-Sendematerials waren ›befreundete Staaten‹ der USA, insbesondere aber die Länder Westeuropas. Die Radioabteilung der USIA/ USIS produzierte Reportagen und Interviews zu US-relevanten Themen (z. B. die US-Außen- und -Innenpolitik, Wirtschaft, Technik, Kunst und Kultur oder 25 Alvin Snyder, Warriors of Disinformation. American Propaganda, Soviet Lies, and the Winning of the Cold War: An Insider’s Account, New York 1997, 11. 26 Joel Kovel, Red Hunting in the Promised Land, Herndon 1997, 109–137. 27 Walter R. Roberts, The Evolution of Diplomacy, in: Mediterranean Quarterly, Summer 2006, http://www.publicdiplomacy.org/70.htm (17. 5. 2021). 28 National Archive, Foreign Affairs, Records of the United States Information Agency (RG 306), https://www.archives.gov/research/foreign-policy/related-records/rg-306 (17. 5. 2021). Aus dem Press and Publications Service (IPS) stammen die Bildquellen des United States Information Service (USIS). Das USIS-Fotoarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek wurde 2016 in das Österreichische Nationale Memory of the World Register »Memory of Austria« der UNESCO aufgenommen. Siehe: Österreichische UNESCO-Kommission, Dokumentenerbe, United States Information Service (USIS) – Fotoarchiv, Österreichische Nationalbibliothek, aufgenommen 2016, https://www.unesco.at/kommunikation/dokumentenerbe/me mory-of-austria/verzeichnis/detail/article/united-states-information-service-usis-fotoarchiv (17. 5. 2021).

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Abb. 1: USIA/USIS-Tonbandschachtel, Österreichische Mediathek

Alltagsleben in den USA). Es wurden aber auch Beiträge mit Bezug zu den jeweiligen Empfängerländern hergestellt, so auch solche über Österreich. Das Material wurde den jeweiligen Rundfunkanstalten gratis zur Ausstrahlung übermittelt, danach ging es wieder an die österreichische Zentrale der USIA/USIS zurück und sollte schließlich wieder in die Vereinigten Staaten geschickt werden. Das war allerdings am Wiener Sitz der Behörde nicht immer der Fall. So sammelte sich Radio-Sendematerial an; Tonbänder, welche innerhalb der österreichischen Radiogeschichte der Nachkriegszeit eine besondere Bedeutung haben. Nach dem Ende der USIA/USIS 1999 kam das Material vorerst ins Wiener Amerika-Haus und letztlich in die Wienbibliothek. Die Originalbänder werden seit 2004 als Leihgabe in der Österreichischen Mediathek archiviert. 4.715 Tonbänder mit Sendematerial der USIA/USIS befinden sich im Archiv der Österreichischen Mediathek. Der Zeitrahmen reicht dabei vom Jahr 1954 bis in die 1970er-Jahre, der Großteil stammt aus der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre und aus den 1960er-Jahren. Ein erheblicher Teil des Bestands wurde seither von der Österreichischen Mediathek digitalisiert und der digitalen Langzeit-Archivierung zugeführt. Eine Auswahl von Sendungen, die laufend ergänzt wird, kann auf der Webseite der Mediathek abgerufen werden. Die Sammlung wurde im Jahr 2016 als gemeinsame Einreichung der Wienbibliothek und der Österrei-

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chischen Mediathek in das Österreichische Nationale Memory of the World Register der UNESCO aufgenommen.29

Ausblendung der NS-Zeit Viele der Beiträge mit Österreichbezug wurden von österreichischen und deutschen Emigrant*innen gestaltet. Arthur Max Steiner etwa, 1896 in Wien geboren, zählte zu den USIA/USIS-Mitarbeiter*innen, die vor den Nazis geflohen waren. Im Krieg arbeitete Steiner für die ABSIE (American Broadcasting Station in Europe) in London.30 Dort wurde erstmals am 30. April 1944, zwei Monate vor dem D-Day, mit folgenden Worten gesendet: »This is the American Broadcasting Station in Europe … In this historic year, 1944, the allied radio will bring you tremendous news …«31 1946 ging Arthur Steiner – seit Kriegsende für die Information Control Division in der US-Besatzungszone in Deutschland tätig – in die Vereinigten Staaten. In den USA war er ein USIA/USIS-Mitarbeiter der ersten Stunde. Steiner gestaltete viele ›unpolitische‹ Beiträge, wie etwa der »Gulasch-Ausflug der österreichischen Sänger New Yorks in der Bronx« vom 21. September 1957.32 Der Reporter Arthur Steiner schilderte die Atmosphäre bei diesem gesellig-kulinarischen Treffen und interviewte anwesenden Prominenten, so auch Hans Rott. Hans Rott war in der Zeit des Austrofaschismus Staatssekretär und später Minister im Kabinett Kurt Schuschniggs. 1939 gelang ihm die Flucht nach Frankreich und von dort in die USA. In den Vereinigten Staaten bemühte er sich mit wenig Erfolg um den Aufbau einer österreichischen Exilregierung und einer österreichischen Freiheitsbewegung – dem Free Austrian Movement, ein Pendant zu der bereits in Großbritannien bestehenden politischen Organisation von 29 Österreichische UNESCO-Kommission, Dokumentenerbe, United States Information Service (USIS) – Radiosendungen. Wienbibliothek im Rathaus, Österreichische Mediathek, aufgenommen 2016, https://www.unesco.at/kommunikation/dokumentenerbe/memory-of-austri a/verzeichnis/detail/article/united-states-information-service-usis-radiosendungen (17. 5. 2021). Österreichische Mediathek, USIS – USIA, United States Information Agency, Radio im Dienst der US-Propaganda?, https://www.mediathek.at/usis-usia/united-states-information -agency/ (17. 5. 2021). 30 Gertraud Schaller-Pressler, Volksmusik und Volkslied in Wien, in: Elisabeth Th. Fritz/Helmut Kretschmer (Hg.), Wien Musikgeschichte. Volksmusik und Wiener Lied. Berlin/Münster/ Wien/Zürich/London 2005, 3–147, hier 140. 31 James Wood, History of International Broadcasting, London 1997, 82. 32 »Gulasch-Ausflug der österreichischen Sänger New Yorks in der Bronx«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/08F8BACB-38A-0 0163-00000EFC-08F80863/pool/BWEB/ (17. 5. 2021).

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Exilösterreicher*innen.33 Hans Rott wurde nach Kriegsende Mitarbeiter des österreichischen Generalkonsulats in New York.34 Weder das Schicksal Arthur Steiners noch die politische Vergangenheit Hans Rotts und dessen Emigrationsgeschichte wurden im Beitrag der »Gulasch-Ausflug der österreichischen Sänger New Yorks in der Bronx« aufgegriffen. Sicher war ein launiges Zusammentreffen nicht unbedingt dafür geeignet, doch dieses Schweigen über die Vergangenheit schien allgemein Usus zu sein. Generell waren heikle Teile der politischen Geschichte – besonders aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht wirklich ein Anliegen in der frühen Arbeit der USIA/USIS.35 Die Zeit von 1933 bis 1945 wurde in der Radioberichterstattung praktisch zur Gänze ausgeblendet. Im gesamten Bestand, also auf beinahe 5.000 Tonbändern, finden sich sehr wenige Interviews, in denen der Zweite Weltkrieg, Naziherrschaft, Naziterror und/oder der Holocaust auch nur angesprochen werden. Beispiele dafür etwa zwei von Friedrich Porges36 (ebenso ein Emigrant) in Hollywood geführte Interviews. Das erste Interview führte er im Jahr 1963 mit dem Schauspieler Karlheinz Böhm über einen geplanten, aber letztlich unrealisiert gebliebenen Film, der sich auch mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in NS-Deutschland auseinandersetzen sollte.37 1964 interviewte Porges den Schauspieler Oskar Werner zu dem Film Entscheidung vor Morgengrauen/ Decision Before Dawn (USA 1951), ein US-Drama über die letzten Kriegsmonate und Kämpfe des Zweiten Weltkriegs, und zu Stanley Kramers Das Narrenschiff/ Ship of Fools (USA 1965), der kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten spielt und auch die NS-Rassenideologie aufgreift. In beiden spielte Oskar Werner Hauptrollen.38 Ein weiteres Beispiel ist ein von Jimmy Berg im Jahr 195539 geführtes Interview mit den Schauspielern Joseph Schildkraut und Gusti Huber über die dramati33 Franz Goldner, Die österreichische Emigration 1938 bis 1945, Wien 1977, 93f. 34 Gertrude Enderle-Burcel, Christlich – ständisch – autoritär. Mandatare im Ständestaat 1934– 1938, Wien 1991, 204f. 35 Sehr wohl finden sich im Bestand aktuelle politische Berichte aus den USA, die damals für inneramerikanische Kontroversen sorgten, wie z. B. über die Bürgerrechtsbewegung in den USA, über Rassenunruhen und den Vietnamkrieg. 36 Porges, Friedrich, in: Persönlichkeiten jüdischer Literatur und Kultur, Biografien, https://ju li.aau.at/lex/porges-friedrich/?cookie-state-change=1611306172199 (18. 5. 2021). 37 »Interview mit Karlheinz Böhm«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathe k.at/portaltreffer/atom/0956BED4-239-00185-000006B0-095594D1/pool/BWEB/ (17. 5. 2021). 38 »Interview mit Oskar Werner«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathe k.at/portaltreffer/atom/0969360F-3DB-00284-00000D78-096809D4/pool/BWEB/ (17. 5. 2021). 39 Jimmy Berg, in: Österreichisches Kabarettarchiv, https://www.kabarettarchiv.at/Biografie-Ji mmy-Berg (18. 5. 2021).

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sierte Fassung von Anne Franks Tagebuch, welches am Broadway im selben Jahr Premiere hatte.40 Es waren aber eigentlich die Handlung der Filme und die literarische Vorlage des Theaterstückes, die dazu führten, dass die Themen Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust in den Interviews zur Sprache kamen. Beiträge, die sich ursächlich damit befassen, gibt es nicht, propagandistische Vergangenheitsbewältigung fand nicht statt. Zu den USIA/USIS-Reportern, die vor dem NS-Regime flüchteten, zählte neben Jimmy Berg, Friedrich Porges, Arthur Steiner und Walter Sorell auch Konrad Maril, der erste Leiter der ÖsterreichAbteilung der Voice of America, und Johannes Urzidil, der Literat und Freund von Franz Kafka aus Prag.41 Oft wurden für die Beiträge mit Österreichbezug Emigrant*innen interviewt, die vor den Nationalsozialisten in die USA geflüchtet waren. Zu nennen sind unter anderem Friderike Zweig, Maria Augusta von Trapp oder Alma Mahler-Werfel, Wissenschaftler wie Fritz Machlup und Edward Teller, Kulturschaffende wie Hertha Pauli, Maria Horch, Vicky Baum, Otto Kallir, Billy Wilder, Peter Lorre, Fritz Lang, Bruno Walter, Kurt Herbert Adler, Franz Allers, Julius Rudel, Oskar Karlweis und Rudolf Bing. Der Wirtschaftswissenschaftler Fritz Machlup, sein Hauptwerk The Production and Distribution of Knowledge in the United States (1962) gilt als das grundlegende Werk der Informationsökonomie und in Folge der Informationsgesellschaft,42 erwähnte in einem Interview, das Fred Oliver 1957 mit ihm an der Johns Hopkins University in Baltimore führte, dass er im Krieg für die USRegierung gearbeitet hatte. Mehr gab er über seine Arbeit nicht preis. Der Reporter wollte schließlich mehr über seinen Werdegang in den USA erfahren. Professor Machlup erwähnte den Krieg, er erklärte auch, dass er vier Jahre in Washington als Nationalökonom für die US-Regierung tätig gewesen war und dass ihn die Offenheit gegenüber den eben erst ins Land Gekommenen begeisterte. Er verlor aber kein Wort darüber, gegen wen und aus welchen Gründen der Krieg geführt worden war. Für das Verständnis des Interviews war es nicht notwendig, jeder und jede in Österreich wusste, welcher Krieg gemeint war.43 40 »Interview mit Joseph Schildkraut und Gusti Huber über die Dramatisierung des Tagebuches der Anne Frank« in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathek.at/interviews-al s-quelle/suche/detail/atom/1BC4A97F-237-00145-00000F98-1BC41845/pool/BWEB/ (17. 5. 2021). 41 Zahlreiche Beiträge von und mit diesen USIA/USIS-Reportern finden sich in der Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) der Österreichischen Mediathek, https://www.mediathek.at/oesterreich-am-wort/sammlungen/sammlung/collection/20/?glo bal%5Bcollectionhistory%5D=4&cHash=129dd7e636c2077107983cdc739a44fb (14. 1. 2022). 42 Felix Stadler, Kultur der Digitalität, Berlin 2016, 24–26. 43 »Interview mit Prof. Fritz Machlup, Nationalökonom, Professor an der Johns-HopkinsUniversität in Baltimore«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathek.at/unter richtsmaterialien/suche/detail/atom/1FDF97F8-37F-00161-00007729-1FDEFB9D/ (18. 5. 2021).

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Neben in der Öffentlichkeit eher bekannten Personen gab es aber auch viele österreichische Flüchtlinge, deren Namen heute nicht mehr so geläufig sind. Menschen wie Irene Tamagna, Alfred Wolkenberg, Hans Figdor, Ditta Halpern, Max Loew, Otto Zausmer, Ignaz Rothenberg oder Francis G. Mayer wurden von den USIA/USIS-Journalist*innen zu ihrem Leben in den USA befragt. Im Interview mit der Ärztin Irene Tamagna, die ihr Medizinstudium in Wien nicht mehr beenden konnte, fiel als Begründung für das in Österreich nicht mehr abgeschlossene Medizinstudium der Satz »Es war damals 1938.«44 Unausgesprochen bleibt, warum Irene Tamagna nach 1938 zuerst nach Italien und 1940 in die USA fliehen musste. Für die zeitgenössischen Hörer*innen genügte der Hinweis auf das Jahr 1938, um zu verstehen, dass sie vor den Nazis geflohen war. Der Chemiker Hans Figdor berichtete, wie er 1939 an Bord des französischen Passagierschiffs »Île de France« in New York ankam und von österreichischen Kolleg*innen empfangen wurde. Warum er 1939 nach New York reiste und warum zahlreiche österreichische Chemiker in New York waren, wird wiederum nicht erwähnt. Wie Fritz Machlup erwähnt auch Figdor, dass er während des Kriegs im Rahmen eines Programms für die US-Regierung gearbeitet hatte. Neuerlich wird nicht näher auf den Krieg eingegangen. Die Möglichkeit, nach dem Kriegsende in die alte Heimat zurückzukehren, wird – wie in all den anderen Interviews – nicht angesprochen.45 Tatsächlich sind diese Interviews wie auch jene Beiträge, die über Theateraufführungen oder Filmprojekte berichten, die einzigen Sendungen des Bestands, die den Themenbereich Krieg, Nationalsozialismus oder Holocaust indirekt aufgreifen. Fragen zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit, zu den Verbrechen im Dritten Reich, Fragen nach der Verantwortung oder nach den juristischen Folgen wurden nie gestellt. Es war eine unausgesprochene Übereinkunft, darüber zu schweigen. Dabei stellt sich die Frage, warum die USIA/USIS diesen Teil der Vergangenheit überhaupt beachten, geschweige denn in den Mittelpunkt ihrer Arbeit hätte stellen sollen. Österreich war nicht nur in seiner eigenen Nachkriegserzählung eines der ersten Opfer von Hitlers Aggressionspolitik. Vor allem die Amerikaner waren angesichts des sich zuspitzenden Kalten Kriegs bald gewillt, die NS-Vergangenheit der Österreicher*innen nicht näher zu hinterfragen. Nach dem Abschluss des Staatsvertrags und der dadurch wieder44 »Interview mit Dr. Irene Tamagna, Leiterin des Spitals der George-Washington-Universität für Opfer der Kinderlähmung«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathe k.at/portaltreffer/atom/2009B316-14E-000B9-00001ADA-20092B9D/pool/BWEB/ (18. 5. 2021). 45 »Gespräch mit dem Chemiker Dr. Hans Figdor in Philadelphia«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/2005A77B-1AB-00028-00000C57-2 005371D/pool/BWEB/ (18. 5. 2021).

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erlangten Eigenstaatlichkeit Österreichs nach zehn Jahren Besatzung hatte die USIA/USIS als US-Propagandaeinrichtung im Kalten Krieg kein Interesse daran, durch unangenehme Berichte zur NS-Vergangenheit Österreichs antiamerikanische Tendenzen zu fördern – das Gegenteil war der Fall. Neben Interviews von Opfern des Nationalsozialismus durch Opfer des Nationalsozialismus gibt es noch eine zweite Interviewgruppe, die die Ausblendung der NS-Zeit, besonders des Zweiten Weltkriegs, drastisch vor Augen führt. Es handelt sich dabei um Berichte über den Fortschritt der USA im Bereich der Weltraumforschung und -fahrt, wobei viele der interviewten Wissenschaftler eine einschlägige NS-Vergangenheit hatten. Das sogenannte Space Race war der publikumswirksamste Wettlauf zwischen den Großmächten im Kalten Krieg. Eng mit dem Rüstungswettlauf verknüpft, konnten bei dieser Konkurrenz auch friedliche Absichten hochgehalten werden. Am 4. November 1957 gelang der UdSSR mit dem Start des Satelliten Sputnik ein epochaler Erfolg.46 Der erste Trabant in einer Erdumlaufbahn löste Begeisterung im Osten und Entsetzen im Westen aus. Mit dieser erfolgreichen Weltraummission war die Mär der technischen Rückständigkeit der UdSSR widerlegt. Dauerte es noch von 1945 bis 1949 für die erste sowjetische Atombombe, so folgte nach der ersten US-Wasserstoffbombe 1953 die sowjetische Antwort bereits 1954.47 Sputniks Trägerrakete R-7 war die erste echte Interkontinentalrakete. Der Sputnik-Schock war also nicht grundlos. Wer einen Satelliten erfolgreich starten konnte, der konnte auch einen Atomsprengkopf zu einem anvisierten Ziel bringen. Dagegen gab es 1957 noch keine Abwehrmöglichkeit, und die Vorwarnzeit im Kriegsfall sank dadurch praktisch auf null. Die Sowjetunion hatte etwas vollbracht, woran die USA bisher gescheitert waren. Project Vanguard, dem Raketen- und Satellitenprogramm der US-Navy, war kein Erfolg beschieden. Mit der Army Ballistic Missile Agency, die unter der Führung von US-Major-General John Bruce Medaris stand und in der zahlreiche deutsche Raketentechniker arbeiteten, sollte das US-Satellitenprogramm vorangetrieben werden48. Am 31. Jänner 1958 starteten die USA mit Explorer I ihren ersten Satelliten.49 Sehr gezielt hatten die USA bereits 1945/46 im Zuge der Operationen Overcast und Paperclip deutsche Rocket-Scientists aus rüstungsrelevanten Bereichen in die Vereinigten Staaten gebracht.50 Diese Männer waren in den USA vorerst nicht

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Stöver, Der Kalte Krieg, 2003, 53. Jörg Friedrich, Yalu. An den Ufern des dritten Weltkriegs, Berlin 2007, 528–531. Michael J. Neufeld. Von Braun, Dreamer of Space – Engineer of War, New York 2007, 300. Neufeld, Von Braun, 2007, 319–323. Anni Jacobson, Operation Paperclip: The Secret Intelligence Program that brought Nazi Scientists to America, New York/Boston/London 2014, 11f.

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sonderlich beliebt, was sich im Lauf der Zeit ändern sollte.51 1958 wurden diese Raketenexperten zu ›Rettern in der Not‹. Innerhalb von 90 Tagen gelang der USArmy, was der US-Navy verwehrt geblieben war – der Start des ersten US-Satelliten. Wer das Foto der führenden Mitarbeiter der Army Ballistic Missile Agency kennt (aufgenommen 1956 in Huntsville, Alabama), der ahnt, woher Stanley Kubrick Inspirationen für Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (GB/USA 1964) gekommen waren. US-Major-General Holger N. Toftoy (Stellvertreter von John Bruce Medaris) mit Ernst Stuhlinger, Wernher von Braun, Robert Lusser und Hermann Oberth in einem Büro vor Raketenmodellen scheinen direkt diesem Film entsprungen zu sein.52 Die USIA/USIS gab dem Space Race in ihrer Berichterstattung breiten Raum. Es finden sich Beiträge und Interviews zu Vanguard, Explorer I, dem X-15Programm, dem Mercury-, Gemini- und Apollo-Programm, aber auch zur Entwicklung der Raumfahrt in der UdSSR.53 Deutsche Raketenexperten wie Krafft Arnold Ehricke, Kurt Debus, Siegfried Gerathewohl, Hermann Kurzweg, Theodor Buchhold oder der bereits erwähnte Hermann Oberth wurden (zum Teil im Lauf der Jahre mehrere Male) vor das Mikrofon gebeten.54 Der wohl bekannteste deutsche Rocketman in den USA, Wernher von Braun, oder Missileman Von Braun,55 wie ihn das Time Magazine auf der Titelseite vom 17. Februar 1958 nannte, war ein besonders gefragter Interviewpartner. Von 1958 bis 1971 gibt es 13 Interviews der USIA/USIS mit ihm im Archiv der Österreichischen Mediathek. Am 12. September 1958 befragte ihn Walter Graf zu einem Versuch mit einer Pionier III-Rakete, wobei das Anziehungsfeld der Erde verlassen werden sollte.56 In diesem wie in allen anderen Interviews mit von Braun 51 So wurde etwa 1947 eine Anfrage um Verlegung von Linoleum am Bretterboden in den deutschen Baracken-Unterkünften in der Wüste Nevadas abgelehnt. Vgl.: Red Moon Rising, Sputnik and the Hidden Rivalries That Ignited the Space Age, New York 2007, 84–92. 52 File: Officials of the Army Ballistic Missile Agency (16316242630).jpg, in: Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Officials_of_the_Army_Ballistic_Missile_ Agency_(16316242630).jpg (18. 5. 2021). 53 Das Vanguard-Projekt (Vanguard zu dt. Vorhut) war ein Raketenprogramm der US-Navy mit dem Ziel, eine Trägerrakete für den ersten amerikanischen Satelliten zu entwickeln. Das Programm war nur teilweise und mit Verspätung erfolgreich, deswegen wurden die US-Army und das Team um Wernher von Braun mit der Bereitstellung einer Trägerrakete beauftragt. Explorer I war der erste US-Satellit überhaupt und der erste aus der umfangreichen SatellitenReihe des Explorer-Programms. Beim X-15-Programm handelte es sich um Testflüge mit dem X-15-Raketenflugzeug ab dem Jahr 1959. 54 Insgesamt finden sich im Archiv der Österreichischen Mediathek in der Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« über 100 Radiobeiträge zum Thema Raumfahrt. 55 Neufeld, Von Braun, 2007, 323. 56 »Vorläufige Auswertung des Versuches der Mondrakete Pionier III durch Dr. Wernher von Braun«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathek.at/atom/0906028E-2D60041B-00000644-09053764 (18. 5. 2021).

»Es war damals 1938«

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oder seinen Kollegen waren allein die Erfolge der amerikanischen Raumfahrt von Interesse. Worauf diese Erfolge zumindest teilweise basierten, der Raketenforschung im Dritten Reich, schien ohne Bedeutung zu sein. Konrad Maril, der selbst 1938 in die USA emigriert war, begann das Interview von Theodor Buchhold mit folgendem Satz: »Herr Doktor Buchhold, sie arbeiten seit 1939 auf dem Gebiet der Raketenforschung …«57 Kein Wort darüber, wer von 1939 bis 1945 der Arbeitgeber von Theodor Buchhold war. Wie bei den Interviews mit Emigrant*innen blieben auch hier die Jahre vor Kriegsbeginn bis 1945 in einen seltsamen Nebel gehüllt. Die Männer der Operationen Overcast und Paperclip befanden sich tatsächlich in einem amerikanischen Elysium, denn ihre Vergangenheit war und blieb vergessen.

Schlussfolgerung Der Kalte Krieg hatte sich in den Anfangsjahren der USIA/USIS weiter verschärft. Aus Todfeinden waren innerhalb weniger Jahre Verbündete geworden und umgekehrt. Mit der NATO und dem Warschauer Pakt standen sich West und Ost atomar voll aufgerüstet gegenüber. Der drohende Dritte Weltkrieg, das mögliche Ende der Menschheit durch die Wasserstoffbombe, ließen die NS-Zeit, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust vorerst in den Schatten der Geschichte treten. Die USIA/USIS war ein Propagandawerkzeug im Kalten Krieg. Mit Public Diplomacy sollten die Bande zu den Verbündeten und Freunden der USA gestärkt werden. Von dieser Konstellation kritische Berichterstattung über die Zielstaaten zu erwarten, heißt, ihren Zweck zu verkennen. Dass sich unter 4.715 Beiträgen keiner findet, der sich ursächlich mit Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg oder dem Holocaust befasst, stellt deren Ausblendung außer Frage. Die USIA/USIS wurde 1999 de jure in das US-Außenministerium integriert und de facto aufgelöst. Die meisten Zeitzeug*innen leben nicht mehr. Konrad Maril verstarb bereits 1956, und Walter R. Roberts, der US-Diplomat mit österreichischen Wurzeln, im Jahr 2014.

57 »Konrad Maril interviewt Dr. Buchhold zu Fragen der Raumfahrt«, in: Sammlung Aufnahmen des »United States Information Service« (USIS) aus der Wienbibliothek, Österreichische Mediathek, https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/08DFDA8F-290-0013E-00000E2408DEFBE4/pool/BWEB/ (18. 5. 2021).

Karin Moser

Vertraute Stimmen aus der Ferne: Emigrant*innen als US-amerikanische Kulturagent*innen der United States Information Agency (USIA)

»Grüß Gott, liebe Hörer aus Los Angeles, Kalifornien!«, »Hier spricht Arthur Steiner aus New York!« – freundlich, höflich und verbindlich, mit erkennbar österreichischem Idiom, wandten sich Emigrant*innen wie Friedrich Porges, Konrad Maril, Walter Sorell, Jimmy Berg, Leo Weith, Johannes Urzidil u. v. m. in ihren Sendungen für die Radio Section der USIA an die Hörer*innen in Österreich.1 In den 1950er- bis 1970er-Jahren gestalteten sie Kultur-, Wirtschafts- und Wissenschaftsbeiträge, die im Sinne der US-Regierung Public Diplomacy betrieben, wobei die »amerikanisch-österreichische Verbundenheit« auf unterschiedlichen Ebenen vermittelt wurde. Die 1953 unter Präsident Dwight D. Eisenhower begründete United States Information Agency (USIA)2 – mit einem Netzwerk an United States Information Services (USIS-Einheiten) außerhalb der Vereinigten Staaten – hatte die Aufgabe, die internationale Öffentlichkeit durch Pressearbeit, Kultur- und Austauschprogramme, US-Bibliotheken und Informationszentren, Bücher, Filme, aber auch über die Radiostation Voice of America3 für die US-amerikanische Politik und ihre Anliegen zu gewinnen.4 Nach Vorgabe der USIA hatte die Voice of America fortan als offizielle Stimme der US-Regierung zu fungieren, wobei die Berichterstattung möglichst objektiv zu sein hatte und ein vielfältiges Bild der 1 Dieser Beitrag ist im Rahmen des vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderten Projekts »Die Radioberichterstattung der United States Information Agency (USIA) für Österreich 1953–1979: US-amerikanische Selbst- und österreichische Außenansichten« (Projektnummer 18100) entstanden, das von 2019 bis 2022 am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien durchgeführt wird. 2 Außerhalb der USA wurde für die USIA die Bezeichnung United States Information Service (USIS) verwendet. Vgl.: Nicholas John Cull, The Cold War and the United States Information Agency. American Propaganda and Public Diplomacy 1945–1989, Cambridge 2008, 90–92. 3 Das Format »Voice of America« war bereits während des Zweiten Weltkriegs begründet worden. Innerhalb dieser Radioprogrammleiste wurden Sendungen für ein europäisches Publikum angeboten. Siehe: Alan L. Heil, The Voice of America. A History, New York 2003, 32– 35. Reinhold Wagnleitner, Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 1991, 136. 4 Heil, Voice of America, 2003, 46–49. Cull, The Cold War, 2008, 23–25, 90–92.

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amerikanischen Gesellschaft präsentiert werden sollte.5 Innerstaatliche Themen und Probleme der jeweiligen Zielländer hatte die Voice of America keinesfalls zu kommentieren. Allerdings wollte man den Völkern außerhalb Amerikas vermitteln, dass die Interessen der USA und jene der jeweils im Fokus der Berichterstattung stehenden Nationen miteinander im Einklang stünden.6 Folgende Vorgaben waren daher seitens der Radioberichterstattung zu erfüllen: – Represent American society and culture in a balanced and comprehensive way – Present U.S. policies clearly and effectively, with responsible discussion of those policies – Reach audience in the language, media, and program formats that make the most sense in their region of the world7 Die seitens der Radio-Abteilung der USIA (Broadcasting Service) für Österreich bereitgestellten Sendungen, die über die ORF-Radiosender entlang verschiedener Sendeleisten zu hören waren,8 entsprachen diesen Leitlinien. Mehr als 4.700 dieser Originaltonquellen der 1950er- bis 1970er-Jahre finden sich in der Österreichischen Mediathek9 und geben Einblick in die inhaltliche Gestaltung und Schwerpunktsetzung wie auch in die emotionalisierende Aufbereitung dieser Beiträge.

5 Im Vergleich dazu brachte der als »private Radiostation« getarnte Sender Radio Free Europe, der tatsächlich von der CIA finanziert wurde, weitaus expliziteres und mitunter aggressiv propagandistisches Nachrichtenmaterial. Vgl Cull, The Cold War, 2008, 94f. Ross A. Johnson, Radio Free Europe and Radio Liberty: The CIA Years and Beyond, Palo Alto 2010, 24. Peter Pirker, »Radio Free Europe« in Österreich: Akteure und Beziehungen in den 1950er Jahren; in: Lucile Dreidemy/Richard Hufschmied et al. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Wien 2015, 647–664. 6 Vgl.: Heil, Voice of America, 2003, 428. Cull, The Cold War, 2008, 94f., 144. 7 Heil, Voice of America, 2003, 430. 8 Politische Berichte wurden etwa in die Sendungen des »Aktuellen Dienstes« aufgenommen. Diverse Kultur- Wirtschafts- und Wissenschaftsbeiträge wie auch Sendungen zur Alltagskultur fanden sich auch in Sendeleisten wie etwa »Echo der Zeit« (Studio Klagenfurt), »Blick in die Welt« (Studio Wien), »Quer durch die Welt« (Studio Graz), »Wir blenden auf« (Studio Wien), »Kreise, Punkte, Linien« (Studio Wien), »Echo« (Studio Salzburg), »Magazin um 10« (Studio Klagenfurt), »Reporter unterwegs« (Studio Wien), »Kulturprisma« (Studio Klagenfurt), »Erziehung und Familie« (Studio Wien), »Zeitgeschehen« (Studio Wien), »Speziell für Sie« (Studio Vorarlberg). Vgl. dazu: Wienbibliothek im Rathaus, Verzeichnis der von der USIS übernommenen Tonbänder der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. 9 Zum Quellenbestand in der Österreichischen Mediathek siehe auch den Beitrag von Anton Hubauer im vorliegenden Band.

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›Krieg‹ der Emotionen Überzeugen statt erzwingen, umwerben statt bedrohen, das amerikanische Gesellschaftsmodell und Lebensgefühl möglichst attraktiv »verkaufen«, die Vereinigten Staaten als befreundeten Partner im Kampf um Freiheit, Fortschritt und Frieden in den jeweiligen Zielländern positionieren – darin lagen die Kernaufgaben der USIA. Die Mitarbeiter*innen ihrer Abteilungen und Außenstellen betrieben (wie diverse andere US-Institutionen) Public Diplomacy.10 Der Historiker Frank Gerits erkennt in dieser Form der Agitation einen »Stellvertreterkrieg«, da eine offene Auseinandersetzung der Großmächte angesichts einer drohenden atomaren Konfrontation unmöglich schien.11 Generell setzte die USIA auf ›Graue Propaganda‹12, wobei sie – basierend auf staatlichen Kooperationen – unter anderem Informationsmaterialien und Berichte zur Vermittlung an Dritte weitergab.13 Eben dies trifft auch auf die Mehrzahl der USIA-Radiosendungen für Österreich zu: Die Quelle, und somit der tatsächliche Produzent der Beiträge, wurde nur selten explizit ausgewiesen.14 Die Gestalter*innen meldeten sich zwar regelmäßig aus New York, Los Angeles oder Washington, dass es sich dabei jedoch um Sendungen der USIA bzw. der USIS-Sektion in Wien handelte, wurde nicht verlautbart. Zudem fanden sich die Beiträge in geläufigen Sendeschienen der ORF-Radiosender, wie etwa »Kulturprisma«, »Hausfrauenmagazin« oder »Blick in die Welt«, was ihre tatsächliche Herkunft verbarg. 10 Oftmals wird auch von Soft Power, Cultural Diplomacy oder Citizen Diplomacy gesprochen. Zur Begriffsdefinition siehe u. a.: Óscar J. Martín García/Rósa Magnúsdóttir, Machineries of Persuasion: European Soft Power and Public Diplomacy during the Cold War, in: dies. (Hg.), Machineries of Persuasion. European Soft Power and Public Diplomacy During the Cold War, Berlin/Boston 2019, 1–15, 8. Joseph Nye, Soft Power, in: Foreign Policy, 20/80 (1990), 153–171, 160. William Rugh, The Case for Soft Power, in: Philip Seib (Hg.), Toward a New Public Diplomacy. Redirecting US Foreign Policy, New York 2009. 11 Frank Gerits, Taking off the Soft Power Lens. The United States Information Service in Cold War Belgium (1950–1958), in: Journal of Belgian History, XLII/4 (2021), 10–49, 11. 12 Zur Definition von »Weißer«, »Grauer« und »Schwarzer Propaganda« siehe: Kenneth A. Osgood, Total Cold War… Eisenhower’s Secret Propaganda Battle at Home and Abroad, Lawrence (Kansas) 2006, 246f. Gerits, Soft Power Lens, 2021, 18. 13 Der Politikwissenschaftler Junichi Hiramatsu kommt in seiner diskursanalytischen Untersuchung der Strukturen der USIA zu dem Schluss, dass »Graue Propaganda« zur grundsätzlichen Ausrichtung dieser Informationsorganisation zählte. Vgl.: Junichi Hiramatsu, Social Construction of U.S. Propaganda Organization: Discourse Analysis of the United States Information Agency (USIA), in: Journal of Socio-Informatics, 5/1 (September 2012), 65–72, 71. 14 Es finden sich im USIA-/USIS-Bestand der Österreichischen Mediathek wohl Beiträge, die zu Beginn auf ihren Produktionshintergrund (etwa »Die Stimme Amerikas«/»Voice of America« oder RIAS) verweisen. Die überwiegende Mehrheit der Sendungen, allen voran jene, die explizit österreichisch-amerikanische Inhalte vermitteln, spart diese Information aus.

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Das ›Amerikabild‹ an sich war in Österreich und Deutschland in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus ambivalent und gleichermaßen geprägt von Hoffnungen und Sehnsüchten wie auch von Ängsten und Abwehrreaktionen. In den Bereichen Politik, Sicherheit und Wirtschaft dienten die USA immer wieder zur Orientierung.15 Wenn jedoch kulturelle Fragen behandelt wurden, war vermehrt Kritik zu vernehmen.16 Sowohl konservative als auch linksstehende Intellektuelle beklagten den zunehmenden Einfluss der USamerikanischen Kultur, wobei von »Vermassung«, »Qualitätsverlust«, »Seelenlosigkeit«, »Oberflächlichkeit und Niveaulosigkeit«, »kalter Technisierung«, »totaler Monotonie«, »flachem Materialismus«, »Profitdenken«, aber auch von »Verrohung der Jugend« und dem »Verfall der Sitten« die Rede war.17 Eine aktive pro-amerikanische Berichterstattung, die speziell kulturelle und gesellschaftspolitische Verbindungslinien zwischen Österreich bzw. Deutschland und den USA hervorhob, hatte demnach durchaus ihre Gründe. Um positive Assoziationen und Emotionen in diesen Zielländern erfolgreich zu generieren, setzten die militärischen und politischen US-Behörden dabei vor und nach 1945 auf österreichische und deutsche Exilant*innen. Sie wurden unter anderem als strategische Berater*innen oder etwa auch als Redakteur*innen im medialen Sektor engagiert.18 Gerade die Radiomitarbeiter*innen waren in ihrer

15 Axel Schildt, Zur sogenannten Amerikanisierung in der frühen Bundesrepublik – einige Differenzierungen, in: Lars Koch (Hg.), Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945–1960, Bielefeld 2007, 23–44, 29f. Alexander Stephan, Culture Clash? Die Amerikanisierung der Bundesrepublik Deutschland, in: Alexander Stephan/Jochen Vogt (Hg.), America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945, München 2006, 29–50, 44. 16 Allerdings war gerade die Jugend von der US-amerikanischen Kultur begeistert, auch weil sie damit gegen die Elterngeneration rebellieren konnte. Vgl.: Günter Bischof, Austria and the United States: Austrian Perceptions/Images of America, in: Waldemar Zacharasiewicz/ Siegfried Beer (Hg.), Cultural Politics, Transfer and Propaganda. Mediated Narratives and Images in Austrian-American Relations, Wien 2021, 33–58, 51. 17 Waltraud ›Wara‹ Wende, Beschützer kritisiert man nicht – oder vielleicht doch? Zum Bild Amerikas in der westdeutschen Publizistik der späten 1940er und 1950er Jahre, in: Koch (Hg.), Modernisierung als Amerikanisierung?, 2007, 63–87, 75. Jessica C. E. Gienow-Hecht, Always Blame the Americans: Anti-Americanism in Europe in the Twentieth Century, in: The American Historical Review, 111/4 (Oktober 2006), 1067–1091, 1069, 1076. Stephan, Culture Clash?, 2006, 32f., 45. Bischof, Austria and the United States, 49. 18 Der Foreign Nationalities Branch des Office of Strategic Services ließ sich etwa von österreichischen und deutschen Emigrant*innen Expertisen über die Zukunft Europas erstellen. Zudem wurden bewusst Exilant*innen als Vortragende in Amerika-Häusern eingeladen. Vgl.: Stephan, Culture Clash?, 2006, 31, 36. Der Operntenor Otto Pasetti wiederum verfasste während des Zweiten Weltkriegs für den Nachrichtendienst Office of Strategic Services (OSS) des US-Kriegsministeriums einen »Austrian Psychological Plan«, in dem er Vorschläge zur Beeinflussung der österreichischen Bevölkerung einbrachte. Pasetti war auch als Radiosprecher und -redakteur tätig. Siehe: Florian Traussnig, Geistiger Widerstand von außen.

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›alten Heimat‹ oftmals in der Medien- und Kommunikationsbranche bzw. im künstlerischen Milieu tätig gewesen.19 Emigrant*innen aus (Alt-)Österreich erschienen den US-Propagandastrategen aufgrund ihrer Herkunft und ihrer kulturellen und historischen Kenntnisse als beste Vermittler*innen zwischen den USA und Österreich. Die Vertriebenen und Geflüchteten, die in den USA Zuflucht, Sicherheit und eine neue Heimat gefunden sowie demokratische Werte und persönliche Freiheit erfahren hatten, zeichneten sich durch »MehrfachIdentitäten« aus.20 Sie empfanden eine komplexe, stets individuell beschaffene, emotionale Verbundenheit zur ›alten‹ und zur ›neuen Heimat‹ und gehörten verschiedenen emotionalen Gemeinschaften an. Diese emotional communities waren von kulturspezifischen Faktoren, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühlssystemen geprägt.21 Davon ausgehend, dass sich diese emotional communities durch einen eigenen emotionalen Stil und Ausdrucksnormen auszeichnen,22 dass ein auf Erfahrungen und Erlebnissen basierendes »Gefühlswissen« abrufbar23 und dass Sprache ein zentrales Medium der Konstitution von Identität und sozialen Verhältnissen ist,24 kam den Emigrant*innen in der Vermittlung eines positiv konnotierten österreichisch-amerikanischen Transfers tatsächlich eine zentrale Rolle zu. Über das Radio, das den Rahmen für ein unmittelbar emotionales Erlebnis schuf, lauschten die Hörer*innen in Österreich Stimmen mit einem vertrauten Idiom.25 Zudem konzipierten die Reporter*innen ihre Sendungen bewusst um ein beim Publikum zu erwartendes Vorwissen und bedienten somit gewisse Erwartungshaltungen, wobei sie geläufige Sprachbilder, Motive, Symbole, musikalische Elemente und Narrationen aufgriffen. Sie schufen damit einen direkten Be-

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Österreicher in US-Propagandainstitutionen im Zweiten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2017, 354–357. Traussnig, Geistiger Widerstand, 2017, 46. Ursula Prutsch/Manfred Lechner, Das ist Österreich. Innensichten und Außensichten. Ein Vorwort, in: dies. (Hg.), Das ist Österreich. Innensichten und Außensichten, Wien 1997, 7–10, 9. Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft, 35 (2009), 183–208, 197f. Benno Gammerl, Emotional Styles – Concepts and Challenges, in: Rethinking History. The Journal of Theory and Practice, 16/2 (Juni 2012), 161–175, 162f. Hélène Miard-Delacroix/Andreas Wirsching, Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg, in: dies. (Hg.), Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg, Berlin/Boston 2020, 1–22, 9f. Ruth Wodak, »Die Österreicher sind von der Zeitgeschichte nicht gerade mit Samtpfoten behandelt worden«. Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identität, in: Franz Römer (Hg.), 1000 Jahre Österreich. Wege zu einer österreichischen Identität, Wien 1997, 35–67, 42. Das Idiom macht die Zugehörigkeit des/der Sprechenden zu einem Kulturkreis erkennbar. Stimmen stiften Identität, erzeugen Response und können eine körperlich-emotionale Wirkung haben. Siehe dazu die Ausführungen von Vito Pinto, Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film, Bielefeld 2012, 371.

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zugsrahmen, über den Nähe generiert werden konnte, und in dem sie selbst als soziale Identifikationsfiguren agierten.26 Im Folgenden werden zwei Redakteure, die regelmäßig USIA-Radiosendungen für Österreich gestalteten, näher beleuchtet. Neben autobiografischen Hintergründen, die eine professionell-gesellschaftliche Verortung ermöglichen, soll deren Gestaltungsstil untersucht werden. Anhand zweier im Quellenbestand gängiger Sendeformate27 werden in den ausgewählten Beispielen Motive, Argumentationsmuster und Diskurse im Hinblick auf ihre inhaltlich-ideologische Motivation analysiert28 sowie die Emotionalisierungsstrategien der Gestalter*innen dargelegt. Die beiden ausgewählten Radiobeiträge stehen zudem exemplarisch für jene positiv konnotierten (Erfolgs-)Geschichten österreichischer Emigrant*innen in den USA, wie sie in den Tonquellen der Radio-Abteilung der USIA (Broadcasting Service) für Österreich immer wieder zu finden sind.

Der Literat Johannes Urzidil »Des Dichters Stimme vermittelt, was das gedruckte Wort nur auf indirekte Weise oder gar nicht festhalten kann: eine spezifische Sprechhaltung, Sprechtempo, Prosodie und Akzentuierung.«29 Dieser Befund des Germanisten Reinhardt Meyer-Kalkus trifft im Speziellen auf die Stimm- und Textbeiträge des Autors Johannes Urzidil zu. Seine in einem bildungsbürgerlichen Duktus und in markantem Prager Deutsch vorgetragenen Ausführungen ließen die Hörer*innen gleichsam an einer Lesung teilhaben. Von seiner schriftstellerischen Virtuosität zeugen überdies auch seine Sendungsbeiträge. Der Literat Johannes Urzidils wurde 1896 in Prag geboren und gehörte dem erweiterten »Prager Kreis« an. Mit Franz Kafka und Franz Werfel verband ihn eine Freundschaft.30 Urzidil, der in seiner Heimat und darüber hinaus erfolgreich 26 Siehe dazu die Identifikationskonzepte von Jens Eder, die auch auf das Medium Radio anwendbar sind: Jens Eder, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Hamburg 2008, 601f. 27 Die am häufigsten vertretenen Sendeformate des Quellenbestands sind Gebaute Beiträge, Reportagen und Interviews. 28 Zu text- und diskursanalytischen Methoden siehe: Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main/New York 2018. Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse: Eine Einführung, Münster 2015. 29 Reinhart Meyer-Kalkus, Literatur für Stimme und Ohr, in: Brigitte Felderer (Hg.), Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin 2004, 173–186, 175. 30 Giuseppe Farese, Johannes Urzidil – Ein Schriftsteller der Erinnerung, in: Johann Lachinger/ Aldemar Schiffkorn/Walter Zettl (Hg.), Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Johannes-Urzidil-Symposions 1984, Linz 1986, 12–20, 12.

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als Schriftsteller und Journalist gearbeitet hatte, musste 1939, nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten, als Verfolgter Prag verlassen.31 Er flüchtet vorerst nach Großbritannien, um schließlich 1941 in die USA zu emigrieren. An die zehn Jahre verdiente er seinen bescheidenen Lebensunterhalt in New York mit Lederarbeiten und mit der Buchbinderei. Er fertigte Kassetten, Schalen, Fächer, Buchdeckel, Taschen oder Etuis an. Seine Frau, Gertrude Thieberger, arbeitete als Kindermädchen. 1946 wurde Urzidil US-amerikanischer Staatsbürger.32 Im Jahr 1951 verschaffte der damalige Leiter der Europa-Abteilung der Voice of America, der Exil-Österreicher Robert Albert Bauer, Johannes Urzidil eine Stelle und folglich ein sicheres Einkommen in der Österreich-Sektion des Senders.33 Urzidil, der sich tiefgehende Kenntnisse der Geschichte der USA aneignete und bemüht war, ein Verständnis für die US-amerikanische Lebensweise zu entwickeln, brachte dieses Wissen in seine Beiträge ein. Allen voran widmete er sich der Kultur und der Geschichte der Vereinigten Staaten, dabei flossen immer wieder Erzählungen aus dem Alltagsleben ein. Er berichtete über Ausstellungen, Bibliotheken, Theatergruppen, Architektur und Brauchtümer.34 Sein besonderes Interesse galt der US-amerikanischen Literatur,35 wobei er gleichermaßen über klassische und moderne amerikanische Autor*innen, wie etwa William Faulkner, Robert Frost, Ernest Hemingway, Emily Dickinson, Mark Twain, Gertrude Stein, Marianne Moore, Charles Sealsfield, Henry David Thoreau, Walt Whitman oder

31 Urzidils Mutter und seine Ehefrau Gertrude Thieberger waren jüdischer Herkunft. 32 Egon Schwarz, Urzidil und Amerika, in: Lachinger/Schiffkorn/Zettl (Hg.), Johannes Urzidil und der Prager Kreis, 1986, 27–39, 28. Anja Bischof, Erinnerung als Konstante in Johannes Urzidils erzählerischem Werk, in: Steffen Höhne/Klaus Johann/Mirek Ne˘mec (Hg.), Johannes Urzidil (1896–1970). Ein »hinternationaler« Schriftsteller zwischen Böhmen und New York, Köln/Weimar 2013, 561–568, 561. 33 Bauer zufolge war Österreich 1951 ein Brennpunkt des Kalten Kriegs. Robert Bauer, Johannes Urzidils Rolle in der »Stimme Amerikas«, in: Aldemar Schiffkorn: Böhmen ist überall. Internationales Johannes-Urzidil-Symposion Prag. Sammelband der Vorträge. Primärbibliographie und Register, Linz 1999, 117–120, 117. Zu Robert A. Bauer siehe auch: https://gedenk buch.univie.ac.at/person/robert-albert-bauer (28. 4. 2022). 34 Siehe dazu beispielsweise auch folgende Beiträge Urzidils in der Sammlung »Aufnahmen des United States Information Service (USIS) aus der Wienbibliothek«, Österreichische Mediathek: »Antlitze in der amerikanischen Kunst. Ausstellung im Metropolitan Museum New York«, https://bit.ly/3yn4lol; »Die Anfänge der New Yorker Stadtbibliothek«, https://bit.l y/3yt6oaI; »30 Jahre Empire State Building New York«, https://bit.ly/3OREdYh; »Alte Bräuche und Leute in New Yorks Straßenbild von heute«, https://bit.ly/3AcD1um (alle 13. 1. 2021). Vgl. auch: Bauer, Urzidils Rolle, 1999, 118f. 35 Die Texte einiger US-amerikanischer Autor*innen hat Urzidil für seine Sendungen eigens ins Deutsche übertragen. Manuskripte dazu finden sich in seinem Nachlass im Leo Baeck Institute in New York. Siehe dazu: Klaus Johann, Der verlorene/unverlierbare Johannes Urzidil? Perspektivierende Bemerkungen zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte, in: Höhne/ Johann/Ne˘mec (Hg.), Johannes Urzidil (1896–1970), 2013, 32–52, 34.

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Carl Sandburg berichtete.36 Nachdem Johannes Urzidil sich als Sendungsgestalter bei der USIA einen Namen gemacht hatte, war er auch für Radio Free Europe sowie für die Öffentlichen Rundfunkanstalten der BRD, Österreichs und der Schweiz tätig.37 Urzidils Radiosendungen für die USIA fallen in die Kategorie »Gebauter Beitrag« (bzw. »Bericht ohne Einblendungen«),38 allerdings ohne die Verwendung von O-Tönen. Urzidils Beiträge, aber auch die vieler anderer Redakteur*innen sind schwer an heutigen Radioformaten zu messen.39 Häufig handelt es sich um eine Mischform aus »Gebautem Beitrag« und »Reportage«, selten um eine Kombination aus »Gebauter Beitrag« und »Mini-Feature«. Speziell an Urzidils Sendungen ist, dass er keine O-Töne verwendet. Er entzieht sich ganz bewusst den Formaten Reportage oder Interview, wo andere Akteur*innen oder situative Bedingungen den Verlauf und den Inhalt der Sendung beeinflussen könnten. Urzidil behält immer die Kontrolle über seinen Text. Zudem bestimmt Urzidil mit seiner sehr spezifischen Diktion den Stil des Beitrags. Es ist sein Text! Sein Erlebnis, seine Wahrnehmung werden in den Sendungen stets wiedergegeben. Urzidil trägt vor, er modifiziert seine kleinen literarischen Texte zu Rundfunklesungen. Er tendiert zu einem gefühlsbetonten Stil und bedient sich einer romantisch-expressiven Sprechweise.40 Seine Tonbeiträge erscheinen aus heutiger Perspektive besonders fremd. Sie sind Ausdruck eines historischen, kulturellen Vortragsstils, und sie stellen letztlich konserviertes Prager Deutsch dar. Inhaltlich versucht Urzidil in seinen Radiobeiträgen für die USIA, eine Verbindung zwischen den USA und Österreich herzustellen, mitunter 36 Eine besondere Wertschätzung brachte er aufgrund ihres »kritisch kulturrevolutionären Potentials« und ihrer »Technikkritik« den Autoren Henry David Thoreau und Walt Whitman entgegen. Vgl.: Walter Grünzweig, Permanente Revolution: Urzidil und die amerikanische Literatur, in: Schiffkorn: Böhmen ist überall, 1999, 101–120, 106, 108. 37 Hedwig Pistorius, Johannes Urzidil und das Exil, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1978, 91f., 96f. und 102. Höhne/Johann/Ne˘mec (Hg.), Johannes Urzidil (1896–1970), 2013, 34. 38 Im »Gebauten Beitrag« bzw. »Bericht mit Einblendungen« erzählt der/die Gestalter/-in ein Ereignis aus seiner/ihrer Perspektive und führt die Hörer*innen durch das Geschehen. Im Fall jener USIA-Beiträge, die dieser Kategorie – allerdings ohne O-Töne – zuzuordnen sind, fungieren eingesprochenen Zitate als O-Töne. Zu dieser journalistischen Darstellungsform siehe: Peter Overbeck (Hg.), Radiojournalismus, Konstanz 2009, 73–77. 39 In gegenwärtigen Handbüchern zum Thema Radiojournalismus orientiert sich die Zuordnung von Beiträgen am Einsatz von O-Tönen. Ein rein gesprochener Textbeitrag ohne Musikoder O-Ton-Elemente wird in diversen Radiohandbüchern nur in die Kategorien »Kommentar«, »Kulturkritik« und »Nachricht« eingeordnet. Viele Radiosendungen der USIA basieren auf rein vorgetragenen Textbeiträgen, die aber diesen drei genannten Formaten nicht entsprechen. Vgl.: Walter von La Roche/Axel Buchholz (Hg.), Radio-Journalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis im Hörfunk, Wiesbaden 2013, 92–211. 40 Zu Sprechnormen und zu der Charakterisierung von Stimmen siehe: Oliver Kreutzer/Sebastian Lauritz/Claudia Mehlinger/Peter Moormann, Filmanalyse, Wiesbaden 2014, 135.

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regelrecht zu konstruieren – oft über die Einbindung von Persönlichkeiten, die (alt-)österreichische Assoziationen beim Publikum hervorrufen sollten.41 Im Winter 1963 widmet sich Urzidil in einem Beitrag der damals wohl bekanntesten österreichischen Emigrantenfamilie, die in den USA wie auch im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus durch ihre Gesangsdarbietungen und mediale Präsenz Aufmerksamkeit erzeugte. Der Salzburger Familienchor Trapp, der sich in den 1930er-Jahren über Auftritte in Italien, Skandinavien und Großbritannien bereits einen Namen gemacht hatte und als wertkonservative katholische Truppe dem austrofaschistischen ›Ständestaat‹ durchaus als Aushängeschild diente, stand dem NS-Regime kritisch gegenüber. Im Herbst 1938 traten die Trapp Family Singers schließlich eine Konzertreise in die Vereinigten Staaten an, von der sie nicht mehr zurückkehrten.42 Der volksmusikalische Chor konnte seinen Erfolg in den USA fortsetzen. Auch die 1949 von Maria Trapp veröffentlichten Erinnerungen, die 1952 auch in deutscher Sprache erschienen, erweckten große Aufmerksamkeit und letztlich auch das Interesse der Filmindustrie.43 In der Folge entstanden mit Die TrappFamilie (D 1956) und Die Trapp-Familie in Amerika (D 1958) zwei deutschsprachige Produktionen, die in Österreich und Deutschland auf große positive Resonanz stießen. Maria Trapps Autobiografie und die beiden genannten Filme dienten schließlich als Vorlage für das von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II geschriebene Broadway-Musical The Sound of Music (1959), dem 1965 die gleichnamige US-amerikanische Verfilmung mit Julie Andrews und Christopher Plummer in den Hauptrollen folgte.44 Die Geschichte der Familie Trapp verband traditionelle Musik mit konservativen Werten und einem religiös patriotischen Selbstverständnis, das in den USA auf Widerhall stieß. Überdies sollte der Film The Sound of Music über Jahrzehnte das Bild Österreichs bzw. der Österreicher*innen in den USA prägen: 41 In seinem Beitrag über den amerikanischen Autor Henry David Thoreau zieht Urzidil etwa angesichts einer vom Dichter verfassten Anweisung »Wie man Häuser zu bauen habe« einen Vergleich zu dem österreichischen Architekten Adolf Loos und dem US-amerikanischen Baukünstler Frank Lloyd Wright. Siehe: Österreichische Mediathek, »100. Wiederkehr des Todestages von Henry Thoreau«, 00:04:10–00:04:47, https://bit.ly/3bwasOd (13. 1. 2021). In einer Sendung über Edgar Allan Poe findet er wiederum Parallelen zu einem seiner Prager Freunde: »Wer etwa die Werke von Franz Kafka liest, wird gelegentlich an Poe zu denken haben.« Vgl.: Österreichische Mediathek, »1959 – doppeltes Edgar Allan Poe Gedenkjahr«, 00:39:00–00:45:00, https://bit.ly/3I0CfCt (13. 1. 2021). 42 Gerhard Jelinek/Birgit Mosser-Schuöcker, Die Trapp-Familie. Die wahre Geschichte hinter dem Welterfolg, Wien/Graz/Klagenfurt 2018, 145–160, 191–207. 43 Maria Augusta von Trapp, The Story of the Trapp Family Singers, New York 1949. Maria Augusta Trapp, Vom Kloster zum Welterfolg, Wien 1952. 44 Helga Embacher, The Sound of Music – filmisch transportierte Österreichbilder 1, in: Karin Moser (Hg.), Besetzte Bilder. Film, Kultur und Propaganda in Österreich 1945–1955, Wien 2005, 285–302, 288–290.

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Österreich galt als Musikland mit traditioneller Ausrichtung. Der Status Österreichs als »erstes Opfer der Hitler’schen Aggression« wurde über die idealisiert erzählte Geschichte der Familie Trapp zudem gestützt.45 Der Film bzw. das Musical und das darin vermittelte Liedgut sind letzten Endes Teil der amerikanischen Alltagskultur geworden. So haben etwa die Lieder des Films Eingang in den amerikanischen Schulunterricht gefunden.46 Der österreichischen Heimat blieben die Trapps verbunden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit machten sie bei ihren Konzertauftritten auf die prekäre ökonomische Lage der Österreicher*innen aufmerksam und baten ihr Publikum um Spenden. In der Folge fanden 150 Tonnen Hilfsgüter ihren Weg nach Österreich.47 Die Popularität der Familie Trapp, deren Mitglieder gleichermaßen als ›Vorzeige-Emigrant*innen‹ und Botschafter*innen Österreichs galten, nutzte auch die Österreichabteilung der USIA (Broadcasting Service) im Sinne der Cultural Diplomacy. Allein in den österreichischen Sammlungen finden sich fünf Radiosendungen, die von der USIS-Einheit in Wien für den ORF bereitgestellt wurden. Maria Trapp wurde zwei Mal interviewt, einmal (1956) in Hinblick auf die Zukunft des Chors, nachdem einige ihrer Kinder geheiratet hatten. Das zweite Mal (1967) wurde sie anlässlich einer Ehrung durch die österreichische Regierung – sie erhielt das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst erster Klasse – vor das Mikrofon geholt.48 Außerdem wurde 1958 über die Dreharbeiten zu der Produktion Die Trapp-Familie in Amerika in New York49 sowie 1959 über das neue Broadwaymusical The Sound of Music berichtet.50 Der 1963 ausgestrahlte und von Johannes Urzidil gestaltete Beitrag über dessen »Besuch bei der Familie Trapp in Vermont«51 hat eine sehr persönliche Note, wobei der Autor seine Wahrnehmung der Vereinigten Staaten mit »österreichisch« codierten Inhalten verbindet. Die Hörer*innen anno 1963 lauschten 45 Zu der »Entnazifizierungsstrategie« von The Sound of Music siehe im Speziellen: Jacqueline Vansant, Austria Made in Hollywood, Rochester (New York) 2019, 123–130. 46 Embacher, The Sound of Music, 2005, 286. 47 Jelinek/Mosser-Schuöcker, Die Trapp-Familie, 2018, 216f. 48 Österreichische Mediathek, »Interview mit Baronin von Trapp über die Zukunft des Chores«, http://bitly.ws/sDS3 (15. 1. 2021) sowie »Baronin von Trapp, Herta Pauly und Alfred Werner werden von der österreichischen Regierung geehrt«, http://bitly.ws/sDRG (15. 1. 2021). 49 Jimmy Berg interviewte dazu die Darsteller*innen Hans Holt und Ruth Leuwerik sowie den Produzenten Utz Utermann und den Regisseur Wolfgang Liebeneiner. Utermann und Liebeneiner hatte in der NS-Zeit Karriere gemacht und in ihren Arbeiten propagandistische Inhalte vermittelt. Der Radiobeitrag »Außenaufnahmen für Die Trapp Familie in Amerika« (1958) findet sich im Wiener Literaturhaus, Nachlass Jimmy Berg, N1.EB-16, I.4. Kassetten, Box 19, Kassette 11. 50 ORF-Archiv, USIS-Akten, »Theaterbericht aus Amerika«, Nr. TN 12464, Studio Wien 1. 1. 1960. 51 Österreichische Mediathek, »Besuch bei der Familie Trapp in Vermont«, https://bit.ly/3yl MvAW (28. 3. 2022).

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dem Vortrag eines kurzen Reiseberichts, der in einem New Yorker Buchladen seinen Anfang nimmt. Hier übermittelt der Buchhändler Grüße von »Frau Trapp«, einer eifrigen Leserin der Werke Urzidils, die sich – wie der Mann erläutert – über einen Besuch des Schriftstellers in ihrem »Berghaus in Vermont« freuen würde. Diese über einen gemeinsamen Bekannten überbrachte Nachricht vermittelt eine gewisse – von Wertschätzung getragene – Vertrautheit zwischen den (alt-)österreichischen Emigrant*innen. Auch in der neuen Heimat kennt man einander, sucht ähnliche Orte auf, die gemeinsame Sprache (Literatur) verbindet. Urzidil tritt die Reise nach Vermont an. Als »Sohn eines österreichischen Eisenbahnbeamten« mit einer »sentimentalen Vorliebe für das Eisenbahnfahren«,52 zieht er die gemächliche Zugfahrt dem modernen Flugzeug vor. Über persönliche Bezugspunkte wie diese baut Urzidil eine emotionale Brücke zu den Hörer*innen, denen er offenbart, dass seine Wurzeln in (Alt-)Österreich liegen und ihn kulturell-mentale Eigenheiten mit dem Publikum verbinden. In der Folge beschreibt der Dichter in detailreichen Bildern (»berauschende Farbenpracht«) und akzentuierter Sprache die Berglandschaft der Green Mountains von Vermont, die eine gewisse Ähnlichkeit mit alpinen österreichischen Gegenden aufweist.53 Die Familie Trapp stellt Urzidil in seinem Radiobeitrag als eine ihrer Tradition verhaftete Emigrantenfamilie dar, die in »einer voralpin gearteten Gebirgslandschaft«54 ein naturnahes, wertkonservatives Dasein pflegt, das sich mühelos in die amerikanische Lebenswelt einfügt: »Die vielen amerikanischen Besucher sind voll von Bewunderung für die Hausfrau, die Haustochter und den Sohn, die eine solche persönliche – dem Wesen nach österreichische – und doch mit dem amerikanischen Leben bruchlos vereinigte Welt, hier erschaffen konnten.«55

52 Ebd., 00:00:47–00:01:09. 53 Johannes Urzidil war mit dem, hier beschriebenen Landstrich bestens vertraut. In seinem Werk Das große Halleluja (1959) hatte er diese Gegend umfassend dargestellt. Sein Hang zur Romantisierung und seine üppigen Naturbeschreibungen bekräftigten seine antimodernistische Haltung und Technikkritik. Hierin stimmte er mit den konservativen Kulturkritikern im deutschsprachigen Raum überein, doch fand er eben auch in den USA naturbelassene Gegenden und jenes »einfache Leben«, das er (und auch viele europäische Leser*innen) in seiner romantischen Ausformung aus den Werken von Friedrich Gerstäcker, Karl May oder Charles Sealsfield kannte. Vgl.: Schwarz, Urzidil und Amerika, 1986, 32, 37. Gienow-Hecht, Always Blame, 2006, 1072. Grünzweig, Permanente Revolution, 1999, 108. 54 Vermont wurde von der Familie Trapp aufgrund der Ähnlichkeit zum Salzkammergut als Lebensmittelpunkt gewählt. Österreichische Mediathek, »Interview mit Baronin von Trapp über die Zukunft des Chores«, 00:04:37–00:04:40, http://bitly.ws/sDS3 (15. 1. 2021). 55 Österreichische Mediathek, »Besuch bei der Familie Trapp in Vermont«, 00:03:43–00:04:00, https://bit.ly/3ylMvAW (28. 3. 2022).

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Das Heim der Trapps inszeniert Urzidil als kulturell belebtes Bergidyll: Eine »gepflegte Hausbücherei« und regelmäßig gespielte Kammermusik erhöhen auf geistig-sensitiver Ebene das einfache Leben, wobei Schafe gehütet, täglich Brot gebacken und – speziell für die Gäste – Gugelhupf und gezogener Apfelstrudel von der »hochgebildeten Tochter« offeriert werden. Assoziationen zu Heimatromanen und -filmen werden bewusst geweckt; zusammen mit der Nennung spezifisch österreichischer Speisen wird der beschriebene Ort schließlich zu einem »gefühlsbetonten Raum.«56 Zu einer Akkumulation des pathetischen Gestus kommt es aber bei der Skizzierung der Erfolgsgeschichte der Auswanderer. Beginnend mit Urzidils Ankunft in Vermont (am Ende der Bahnfahrt) wird die »dramatische Geschichte« der Familie Trapp weniger erzählt als mit plakativen Schlüsselwörtern und Topoi illustriert, ohne dabei in die Tiefe zu gehen. So bleibt etwa der Grund, warum die Gesangstruppe aus Salzburg ihren »Schicksalsweg aus Österreich« antreten musste bzw. wollte, ausgeblendet. Das schweigende Wissen der österreichischen Bevölkerung über die Zeit des Nationalsozialismus wird ebenso vorausgesetzt wie die Übereinkunft, den Emigrationsanlass unausgesprochen zu lassen. Das gemeinsame Wissen um die Vergangenheit genügt, um das »unerschrockenen Beharren« der Familie, sich in einer »noch völlig unbekannten Welt« durchzusetzen, nachempfinden zu können. Der »Glaube an die herzverbindende Macht der Musik« habe der Familie in Amerika »hohe Achtung« und »wohlverdienten Ruhm« eingebracht. Urzidil spricht in diesem Zusammenhang auch das Broadway-Musical The Sound of Music, die Memoiren von Maria Augusta Trapp sowie das von der Familie auf dem Gelände ihrer Vermonter Farm begründete Music Camp an.57 Die Idealisierung, ja geradezu Glorifizierung der Familie Trapp erfolgt bei Urzidil über die bildhaft-pittoreske Schilderung des Alltags im ›ländlichen Kulturzentrum‹, über die Wahrnehmung des Familienoberhaupts, Maria Augusta Trapp, in der US-amerikanischen Öffentlichkeit (Bekanntheit, Bewunderung) und den Einsatz wiederkehrender Schlüsselwörter, die einen Rückschluss auf das präsentierte inhaltlich-ideologische Gesellschaftsverständnis zulassen. Das »reine Leben«, der »fromme Glaube«, »Beharren«, »Leistung« und »Kraft«, »Gastfreundschaft« und der familiäre Zusammenhalt (Mutter/Tochter/Sohn) führen – so die im Radiobeitrag geführte Argumentationslinie – auch in den USA zum Erfolg.

56 Benno Gammerl spricht von »emotionally heightened spaces«. Siehe: Gammerl, Emotional Styles, 2012, 165. 57 Österreichische Mediathek, »Besuch bei der Familie Trapp in Vermont«, 00:02:24–00:03:15, https://bit.ly/3ylMvAW (28. 3. 2022).

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Der von Urzidil gekonnt verpackte, christlich-wertkonservative Kanon trifft hier aber auch auf einen ›amerikanischen Wesenszug‹, der sich auch im Werk des Autors findet und – dem Standpunkt Urzidils folgend – maßgeblich dazu beiträgt, dass der American Dream überhaupt realisiert werden kann: »Hier konnte neue Heimat entstehen, Heimat im besten Sinne. Denn die gleichsam naturgegebene Aufnahmebereitschaft des Landes erschloss sich dem offenherzigen Daseinsvertrauen der Einwanderer. Und eine solche Synthese gibt Kraft zu vielfältiger Leistung […].«58

Für Urzidil waren die USA ein Einwanderungsland, ein Melting Pot, der für Toleranz und für Gastfreundschaft stand. An dieser Stelle zeigt sich auch seine persönliche Dankbarkeit seinem Gastland gegenüber.59 Seine Erfahrung, hier Fuß gefasst zu haben, seinem eigenen Talent (das literarische Schreiben) letztlich wieder mit Erfolg nachkommen zu können und als Bürger dieses Landes akzeptiert zu werden, spiegeln sich in diesem Fazit wider, wobei er den Lebensweg der Familie Trapp ein Stück mit dem seinen gleichsetzt. Ebenso parallelisiert er die Heimat Österreich mit der Heimat USA, er spricht von einer erfolgreichen Synthese, in der ein neues binäres Heimatgefühl entstehen konnte. Dem österreichischen Radiopublikum bot Urzidil in seinem Beitrag vielfältige Identifikationselemente an – die klare Positionierung seiner Person und der Familie Trapp als (Alt-)Österreicher*innen sowie die Beschreibung von alpinen (den Österreicher*innen vertrauten) Landschaften und alltagskulturellen Elementen und Zuschreibungen (Musikland, Speisen, Gastfreundschaft, Katholizismus). Eine Auseinandersetzung mit der österreichischen NS-Vergangenheit blieb aus, was rein positive Assoziationsketten begünstigte, umso mehr als die Trapp Family Singers auch in diesem Beitrag als erfolgreicher Export österreichischen Brauchtums wahrgenommen werden konnten. Zugleich verweist Urzidils Versuch, (alt-)österreichische Kulturelemente mit US-amerikanischen Orten und Wesenszügen zu verknüpfen bzw. gleichzusetzen, darauf, dass er sich beiden emotional communities verbunden fühlte. 1965 erklärte Urzidil, der sich immer als »Prager Schriftsteller deutscher Zunge« verstand, dass er sich eben auch »als echter New Yorker« wahrnahm.60 Und 1966 meinte er in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Andreas-GryphiusPreises: »Der Sinn […] all meiner Bemühungen war immer: Verbindungen

58 Ebd., 00:04:00–00:04:19, https://bit.ly/3ylMvAW (28. 3. 2022). 59 Jana Mikota, Der Blick auf New York: Heimat oder Fremde? Johannes Urzidils Das große Halleluja im Kontext der deutschsprachigen New Yorker Exilliteratur, in: Höhne/Johann/ Ne˘mec (Hg.), Johannes Urzidil (1896–1970), 2013, 523–537, 535. Schwarz, Urzidil und Amerika, 1986, 37. 60 David Berger, A Conversation with Johannes Urzidil, in: American-German Review, 32/1 (Oktober/November 1965), 23–24.

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herzustellen, Brücken zu schlagen, das Vereinigende zu zeigen und zur Wirkung zu bringen.«61 Dieses Ansinnen zeigt sich deutlich in seinen Radiosendungen für die USIA, wobei er damit letztlich die ideale Besetzung für die dort vorgesehene Aufgabe war.

Der Sportreporter Arthur Steiner »Seine Leistungen um die Beziehungen zwischen seiner alten Heimat, mit der er unverändert verbunden ist, aufrecht zu erhalten, waren der Grund, weshalb ihm der Herr Bundespräsident diese hohe Auszeichnung verliehen hat.«62 Mit diesen Worten bekräftigte 1966 Johannes G. Willfort, der österreichische Generalkonsul, die Verleihung des Großen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich an den Journalisten Arthur Steiner. Der 1896 in Wien geborene Arthur Max Steiner studierte zunächst Jus, während er sich parallel als Sportler (Leichtathletik und Fußball) beim Wiener Athletik-Sportclub (WAC) versuchte.63 Zu Beginn der 1920er-Jahre begann er Sportreportagen zu schreiben und avancierte in der Zwischenkriegszeit zu einem der populärsten Journalisten der Illustrierten Kronen Zeitung. Sein direkter, volksnaher Stil wurde von den Leser*innen besonders goutiert, weshalb es auch er war, der 1932 exklusiv über das Spiel des österreichischen »Wunderteams« in London berichtete.64 Nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an NS-Deutschland wurde Arthur Steiner aus ›rassischen Gründen‹ aus der Redaktion der Kronen Zeitung entlassen. Er emigrierte nach Großbritannien und war in London für die Tageszeitung Daily Sketch tätig, außerdem leitete er die kleine Kabarettbühne By Candlelight. Dort wurde er 1944 als Mitarbeiter für den Austrian Desk der American Broadcasting Station in Europe (ABSIE) in London angeworben, ein Sender, der vom USamerikanischen Office of War Information (OWI) in Kooperation mit der BBC im April 1944 eingerichtet worden war.65 Arthur Steiner fungierte hier als Skriptschreiber zahlreicher Sendungen (u. a. für die »Glenn Miller Show« der ABSIE) 61 Johannes Urzidil, Dankesrede, in: Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Andreas-Gryphius-Preis. Verleihung des Ostdeutschen Literaturpreises 1966 im Haus des deutschen Ostens zu Düsseldorf (= Schriftenreihe für die Ost-West-Begegnung, 61), Troisdorf 1967, 20–23. 62 Österreichische Mediathek, »Der Journalist Arthur Steiner wird mit dem Großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet«, 00:00:59–00:01:11, https://bi t.ly/3c5ZZJI, (28. 3. 2022). 63 Ebd., 00:02:42–00:03:01. Gerhard Urbanek, Österreichs Deutschland-Komplex. Paradoxien in der österreichisch-deutschen Fußballmythologie, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 2009, 100. 64 Urbanek, Komplex, 2009, 99. 65 Ebd., 100. Traussnig, Geistiger Widerstand, 2017, 54f., 77f.

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und war allen voran als Autor und Radiosprecher bei der kabarettistischen PolitPropagandasendung »Herr und Frau Adabei« tätig. Diese sehr populäre, jeweils am Sonntag ausgestrahlte Reihe konnte von Schwarzhörer*innen in NSDeutschland, und eben auch in Österreich, empfangen werden. Die Redakteur*innen versuchten hier über den Einsatz von Wienerliedern, Couplets und Sketchen in österreichischem Idiom Stimmung gegen das NS-Regime zu machen.66 Nach dem Krieg war Steiner in der deutschen US-Besatzungszone für die Information Control Division (ICD) journalistisch tätig.67 1948 übersiedelte er in die USA, wo er in den 1950er- und 1960er-Jahren zahlreiche Radiobeiträge für die USIA gestaltete. Für die Hörer*innen des Österreichischen Rundfunks moderierte Steiner über Jahre hinweg einen Englischkurs.68 Zudem war er als USAKorrespondent der Kronen Zeitung, als Chefkorrespondent der deutschen Illustrierten Quick sowie als Kolumnist der New Yorker Staats-Zeitung, der größten deutschen Tageszeitung der USA, im Einsatz.69 Arthur Steiners Radiosendungen für die USIA sind allen voran den Kategorien »Reportage« und »Interview« zuzuordnen.70 Im Gegensatz zu Urzidil sind der direkte Austausch mit einem Gegenüber und die lebensnahe atmosphärische Wiedergabe des räumlichen Szenarios grundlegende Bestandteile seiner Aufnahmen. Er bedient sich einer expressiven Sprechweise, wodurch das emotionale Potenzial seiner Stimme immer voll zur Geltung kommt. Steiner erzählt persönliche Geschichten, die oft anekdotenhaft aufbereitet sind, wobei seine Sendungen in die Rubriken Chronik, Gesellschaft, Alltag, Kultur und Sport fallen.71 Um dem Publikum dieses unmittelbare Erleben radiophon zu vermitteln und Emotionen einzufangen bzw. zu generieren, brauchte es eine präzise Vorbereitung. Steiner hatte seine jeweiligen Interviewpartner*innen immer bestens ausgewählt, sich über diese informiert und sie (wie die meisten Beiträge vermuten 66 Der Historiker Florian Traussnig bezeichnet diese Form der Stimmungsmache als »populistische Gemütlichkeitspropaganda«. Siehe: Traussnig, Geistiger Widerstand, 2017, 78f. 67 Ebd., 80. 68 Siehe dazu etwa: Österreichische Mediathek, »Sprachkurs ›Wir lernen Englisch‹ mit Arthur Steiner«, Sender Rot-Weiß-Rot, https://bit.ly/3Rqj35y, (28. 3. 2022). 69 Urbanek, Komplex, 2009, 100. Österreichische Mediathek, »Der Journalist Arthur Steiner wird mit dem Großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet«, 00:02:09–00:02:29, https://bit.ly/3c5ZZJI, (28. 3. 2022). 70 Seltener gestaltete Steiner »Gebaute Beiträge« wie z. B. Österreichische Mediathek, »Die Beliebtheit des Skifahrens in Amerika«, https://bit.ly/3zhmWRU (28. 3. 2022). 71 Beispiele wären: Österreichische Mediathek, »Ausstellung für Sportwagen in New York«, https://bit.ly/3cR5lcd; »100 Jahre Warenhaus Macy’s«, https://bit.ly/3cCVqXo; »Interview mit Karl und Margarethe Cussi, Spezialisten für fertiggekochte und tiefgekühlte Nahrungsmittel«, https://bit.ly/3PGkCuM; »Interview in New York mit Jack Dempsey, Ex-Weltmeister im Schwergewichtsboxen«, https://bit.ly/3zhruba; »Gala-Premiere des Films Die jungen Löwen in New York«, https://bit.ly/3oClOUb (alle 28. 3. 2022).

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lassen) auf das Gespräch eingestimmt. Seine Beschreibungen der jeweiligen Schauplätze und des Geschehens sind anschaulich und dekorativ-opulent. Er stimmt seine Sendungen auf das Zielpublikum ab und spart gerade bei besonders österreichaffinen Themen nicht mit Sprachbildern, Begriffen, Motiven und Symbolen, die bei den Zuhörer*innen in der Alpenrepublik vertraute Assoziationen auszulösen versprachen.72 Das trifft auch auf eine Reportage Arthur Steiners aus dem Jahr 1958 über ein Fest burgenländischer Emigrant*innen in New York zu,73 wobei er schon im Jahr zuvor über eben diese in einem Verein organisierte Gruppe berichtete.74 Das Burgenland als das bevölkerungsärmste österreichische Bundesland wies zugleich über Jahrzehnte hinweg die stärksten Migrationsbewegungen auf, mit dem Höhepunkt zu Beginn der 1920er-Jahre. Um 1875 setzte die erste Welle ein, die mit Beginn des Ersten Weltkriegs endete. Die zweite Phase zog sich über die Zwischenkriegszeit bis etwa 1938/39, und die letzte Auswanderungsperiode erfasste das Burgenland mit Ende des Zweiten Weltkriegs bis Mitte der 1950erJahre.75 Es waren allen voran soziale Gründe, welche die Menschen dazu bewegten, in die USA zu emigrieren. Das Burgenland war bis in die 1940er-Jahre ein landwirtschaftlich geprägtes Land, die Industrialisierung blieb aus. Das Bevölkerungswachstum Ende des 19. Jahrhunderts mit einhergehender Bodenarmut (Erbteilregelung), die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg, schlechte Entlohnung und Arbeitslosigkeit76 veranlassten Tausende Burgenländer*innen,

72 Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Beitrag: Österreichische Mediathek, »Österreichisches Dejeuner am Sonntag – Austrian Brunch – im Park Lane Hotel in New York«, https://bit.l y/3bgqtrN (28. 3. 2022). In dieser Sendung offeriert Steiner eine Vielzahl an musikalischen, optischen und sprachlichen Motiven, die direkt mit Österreich bzw. Wien in Verbindung gebracht werden. 73 Österreichische Mediathek, »Picknick der New Yorker Burgenländer in Bronx«, https://bit.l y/3zis1JF (28. 3. 2022). 74 Österreichische Mediathek, »Sommerausflug ins Grüne des Vereins der New Yorker Burgenländer«, https://bit.ly/3QbVVGo (28. 3. 2022). 75 Philipp Strobl, »… um der Notlage dieser Tage zu entfliehen«. Die burgenländische Amerikawanderung in der Zwischenkriegszeit, Innsbruck 2015, 10, 13, 29. Institut für Gegenwartskunde der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Alte und neue Heimat. Die Auswanderung der Burgenländer nach Amerika, Katalog zur Ausstellung, Mattersburg 1981, 10, 16f. 76 Walter Dujmovits, Die Amerikawanderung der Burgenländer, Stegersbach 2012, 24–26. Herbert Brettl, Gesellschaft, Kultur, Umwelt und infrastrukturelle Versorgung, in: Josef Tiefenbach (Hg.), Historischer Atlas: Burgenland, Eisenstadt 2011, 148–179, 154–156. Michael John, Arbeitslosigkeit und Auswanderung in Österreich 1919–1937, in: Traude Horvath/ Gerda Neyer (Hg.), Auswanderungen aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Gegenwart, Wien 1996, 83–110, 87–90. August Ernst, Ein Bericht über die Auswanderung aus dem Burgenland in den Jahren 1921–1923, in: Burgenländische Heimatblätter 36/1 (1974), 1–4. Strobl, Amerikawanderung, 2015, 15–18.

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ihre Heimat zu verlassen.77 Umgekehrt schritt mit Ende des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung an der amerikanischen Ostküste und im mittleren Westen voran, womit ein Arbeitskräftemangel einherging. Im Zuge der nun einsetzenden New Immigration kamen Millionen Menschen aus den ärmeren Regionen Zentral-, Ost- und Südeuropas in die USA, darunter auch Tausende Burgenländer*innen.78 Letztere siedelten sich vor allem im Gebiet des German Belt zwischen Chicago und New York an.79 Mit dem ›Anschluss‹ Österreichs an NSDeutschland setzte schließlich eine Fluchtwelle politisch und ›rassisch‹ verfolgter Burgenländer*innen ein.80 Viele burgenländische Emigrant*innen in den USA organisierten und vernetzten sich in kulturellen und sozialen Vereinen, wobei sie einander Hilfe leisteten, aber auch heimische Traditionen pflegten. Auch der Kontakt zur burgenländischen Heimat wurde aufrechterhalten.81 Eben diese Verbindung zum Herkunftsland, Kulturpflege und Vereinstätigkeit sind zentrale Themen in Arthur Steiners Sendung aus dem Jahr 1958 über das »Picknick der New Yorker Burgenländer« im Stadtteil Bronx. Alljährlich veranstaltete der 1923 gegründete »Erste Burgenländische Kranken-Unterstützungsverein« das sogenannte »AnnaPicnic«,82 das anlässlich des katholischen Annenfests Ende Juli gefeiert wird. Steiners Reportage beginnt mit einem musikalisch atmosphärischen Stimmungsbild. Blasmusiktöne und eine Stimme aus einem Lautsprecher bzw. Mikrofon erklingen und führen das Publikum akustisch direkt in die Festszenerie. Nach sechs Sekunden meldet sich der Reporter Arthur Steiner aus New York, der fortan zum Beobachter und letztlich zum Auge der Zuhörer*innen wird. Anschaulich stellt er uns das Geschehen dar, nimmt auf die Geräuschkulisse Bezug, 77 1921 bis 1935 verließen 22.462 Personen das Burgenland, in ganz Österreich waren es in dieser Periode 71.919 Menschen. Damit entspricht der Anteil der ausgewanderten Burgenländer*innen etwa 31 Prozent aller österreichischen Emigrant*innen in diesem Zeitraum. Vgl. dazu Tabelle 1 bei: Strobl, Amerikawanderung, 2015, 29. 78 Dujmovits, Die Amerikawanderung, 2012, 26. Österreich galt bei den US-amerikanischen Behörden zu Beginn der 1920er-Jahre als »non-white country« und wurde nicht zur westlichen Hemisphäre, sondern zu Osteuropa gezählt. Vgl.: Strobl, Amerikawanderung, 2015, 21, 63. 79 Eine besonders große Zahl der burgenländischen Emigrant*innen ging nach Chicago. Noch heute leben etwa 30.000 Personen mit burgenländischen Wurzeln in Chicago, weshalb die USHandels- und Industriestadt bis zur Gegenwart oft als die größte Stadt des Burgenlands bezeichnet wird. Schätzungen um 2009 gingen davon aus, dass rund 100.000 Nachkommen burgenländischer Einwanderer in den USA leben. Strobl, Amerikawanderung, 2015, 65. Die Presse, Little Burgenland in Amerika, 21. 10. 2009, siehe: https://www.diepresse.com/516368 /little-burgenland-in-amerika (1. 4. 2022). 80 Brettl, Gesellschaft, Kultur, Umwelt, 2011, 155. Zu den jüdischen Flüchtlingen des Burgenlands siehe: Gert Tschögl/Barbara Tobler/Alfred Lang (Hg.), Vertrieben: Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen, Wien 2004. 81 Dujmovits, Die Amerikawanderung, 2012, 116, 199–201. 82 Ebd., 200–203.

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was uns einerseits erleichtert, die Geräusch zuzuordnen, andererseits generiert Steiner damit Bilder in unserem Kopf: »Wir sind hier in einem großen Restaurant, dem sogenannten Zachschen Casino-Restaurant, das dem Herrn Zach gehört, einem gebürtigen Burgenländer. Und dieser große Ballsaal wird alljährlich der Schauplatz des Sommer-Picknicks, das die New Yorkischen Burgenländer in schon jahrzehntealter Tradition zusammenführt. Heute ist ein Annenfest angesetzt, weshalb die Besucherinnen, die auf den Namen Anna hören, mit besonderen Gaben und Geschenken bedacht wurden. Leider hat das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht, sodass das Fest, das im Garten, im großen Gasthausgarten, geplant war, jetzt hier in den Saal verlegt werden musste. Aber dies tut der Stimmung absolut keinen Abbruch. Das Fest hat einen Rekordbesuch aufzuweisen, der wohl darauf zurückzuführen ist, dass die Burgenländer auch in ihrer neuen amerikanischen Heimat immer treu zusammenhalten, die alten Bräuche wahren und dafür sorgen, dass auch in der Riesenstadt New York nicht die Fühlung miteinander verloren geht.«83

Während die volksmusikalischen Klänge weiterhin den Hintergrund dominieren, wird das Casino-Restaurant zu einem gefühlsbetont aufgeladenen Raum,84 über den Vorstellungen von Heimat transportiert werden. Die unabdingbare Verbundenheit der amerikanischen Burgenländer*innen mit ihren österreichischen Wurzeln betont Steiner mit Hinweis auf die lange Traditionspflege; über seine Beschreibung der Szenerie und die Geräuschkulisse wird schließlich der unmittelbare Beweis erbracht. »Eine Burgenländer Bauernkapelle spielt gerade fleißig zum Tanz auf. Und wenn sich einmal eine kleine Ruhepause einschalten lässt, wird sie sogleich von den New Yorker Knickerbockern,85 einem zweiten Orchester abgelöst. Es wird eifrigst getanzt, wobei die Damen meistens im Dirndlkostüm mitmachen und zwar von allen Jahrgängen.«86

Über die Assoziationskette ›Bauernkapelle – Knickerbocker – Tanz – Dirndl‹ offeriert Steiner österreichisch codierte Inhalte, die mit kulturellen Praktiken im Heimatland in Verbindung stehen. Dem österreichischen (vor allem dem ländlichen) Publikum war bzw. ist dieses Brauchtum aufgrund eigener Erfahrungen

83 Österreichische Mediathek, »Picknick der New Yorker Burgenländer in Bronx«, 00:00:06– 00:01:35, https://bit.ly/3zis1JF (28. 3. 2022). 84 Gammerl, Emotional Styles, 2012, 165. Kay Anderson/Susan J. Smith, Editorial: Emotional Geographies, in: Transactions of the Institute of British Geographers, 26/1 (2001), 7–10. 85 Der New Yorker Musik-, Sing- und Tanzverein »The Knickerbocker« wurde 1923 von burgenländischen Emigrant*innen aus dem Bezirk Oberwart begründet. Vgl.: Albert Lichtblau, Knickerbocker und Schlauberger. Burgenländer Vereine in New York und ihre Musik, in: Burgenländische Heimatblätter 68/2 (2006), 83–96, 85. 86 Österreichische Mediathek, »Picknick der New Yorker Burgenländer in Bronx«, 00:01:56– 00:02:19, https://bit.ly/3zis1JF (28. 3. 2022).

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vertraut. Das hierdurch hervorgerufene »Gefühlswissen« diente zur Aktivierung kollektiver Emotionen.87 Die nachfolgenden kurzen Interviewsequenzen mit zwei ›amerikanischen Burgenländern‹, die zudem unterschiedliche Generationen repräsentieren, bauen neuerlich Nähe zu den Hörer*innen in Österreich auf. Der erste Interviewpartner, John Boisits, wird von Arthur Steiner als »der rührige Präsident der New Yorker Burgenländer« vorgestellt. Boisits zeigt sich trotz des Regenwetters mit dem Besuch und Verlauf des Fests sehr zufrieden, mehr als 500 Gäste hätten sich eingefunden. Schließlich wendet er sich direkt an das Publikum vor den Radiogeräten: »Nun möchte ich alle unsere Landsleute [sic!] recht herzlichen Dank aussprechen und möchte auch, denen [sic!] Burgenländern und die [sic!] Österreichern viele recht herzliche Grüße schicken von den Burgenländer [sic!] in Amerika.«88 Der zweite Interviewpartner Arthur Steiners ist ein zehnjähriger Bub, der jener Nachfolgegeneration angehörte, die in den USA geboren und somit von Beginn an Teil der US-amerikanischen Gesellschaft war. Diese Kinder sprachen wohl noch ihre Muttersprache, die ihnen aber oft fremder war, als das Englische.89 Auch bei dem von Steiner befragten Jungen ist der englischsprachige Akzent stark ausgeprägt. Kurz und bündig antwortet dieser unmittelbar auf Steiners Fragen, die darauf abzielen, Verbindungselemente zur burgenländischen Heimat aufzuzeigen: Arthur Steiner (AS): »Und hier haben wir einen kleinen Jungen, der gerad’ strahlend hier vorübergeht. Sag mir, wie gfoit’s Dir hier?« Pete Ifkovits (PI): »Gut, thank you!« AS: »Wie heißt Du?« PI: »Ich heiße Pete Ifkovits.« AS: »Peter Ifkovits. Und wie alt bist Du?« PI: »Ich bin zehn Jahre alt.« AS: »Bist zehn Jahre alt. Und Dein Vater kommt aus dem Burgenland? Deine Mutter?« PI: »Ja.« AS: »Alle beide?« PI: »Ja.« AS: »Aha, und was habt Ihr denn hier gemacht? Heute Nachmittag?« PI: »Wir haben zugesehen, wie alle getanzt haben.« AS: »Ja.« PI: »Mutter und Vater haben selber getanzt.« AS: »Haben fleißig getanzt?« 87 Zur Thematik Gefühlswissen und kollektive Emotionen siehe: Frevert, Gefühle, 2009, 199. Delacroix/Wirsching, Emotionen, 2020, 9. 88 Österreichische Mediathek, »Picknick der New Yorker Burgenländer in Bronx«, 00:02:19– 00:02:54, https://bit.ly/3zis1JF (28. 3. 2022). 89 Vgl.: Dujmovits, Die Amerikawanderung, 2012, 17–19.

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PI: »Ja.« AS: »Vielen Dank, lieber Peter!«90

In mundsprachlich herzlicher Sprechweise sucht Steiner das Gespräch mit dem »kleinen Pete«, dessen Name er sofort wieder auf »Peter« eindeutscht. Über Nachfrage erfährt er, dass beide Elternteile des Buben aus dem Burgenland stammen und dass Tradition und Sprache von der Familie Ifkovits gepflegt und an die nächste Generation weitergegeben werden, was das Kind mit seinen Ausführungen selbst unter Beweis stellt. Völlig ausgespart bleibt die Frage, ob bei diesem Annenfest nicht auch Vertreter*innen der kroatischen Volksgruppe zugegen sind. Petes Nachname (Ifkovits) lässt durchaus vermuten, dass das Kind auch der kroatischen Sprache mächtig war.91 Doch das Wissen um die MehrfachIdentität der Burgenland-Kroaten bleibt hier unausgesprochen. Neben dem bewussten Setzen vertrauter inhaltlicher Bezugspunkte zur österreichischen Heimat finden sich in dieser Reportage auch Ideen von Wohlstand und Prosperität, die direkt mit den USA in Verbindung gebracht werden. Schon zu Beginn weist Arthur Steiner indirekt auf die Erfolgsgeschichte eines Emigranten hin. Das Fest findet im »großen Casino-Restaurant« mit dazugehörigem »großen Gastgarten« des »Herrn Zach«, einem gebürtigen Burgenländer, statt. Einem Emigranten aus einfachen Verhältnissen ist es gelungen, den »amerikanischen Traum« zu verwirklichen, so die implizierte inhaltlich-ideologische Aussage. Konsumfantasien und -versprechen vermittelt wiederum eine Passage, die sich jenen Attraktionen widmet, die bei diesem »Anna-Picnic« speziell für die Jüngsten gedacht waren. Arthur Steiner berichtet von einer »Eiscremeparade«, die für die kleinen Besucher*innen den »Höhepunkt des Festes« darstellte (»Und an uns geht grad strahlend ein winziges Dirnderl vorbei.«). »Sie [Anm.: die Kinder] marschierten in einem geschlossenen Zug nach dem Takt der Musik durch den Saal, und jedes der Kinder bekam eine vom Verein gestiftete Eiscreme, die natürlich sofort mit Begeisterung in Angriff genommen wurde.« Überdies wurde bei einer Tombola Spielzeug verlost.92 Auch wenn ab den Jahren 1953/54 die Reallöhne in Österreich langsam stiegen und sich der »kleine

90 Österreichische Mediathek, »Picknick der New Yorker Burgenländer in Bronx«, 00:03:44– 00:04:18, https://bit.ly/3zis1JF (28. 3. 2022). 91 Walter Dujmovits weist in seiner Arbeit allerdings darauf hin, dass sich bei der Einreise in die USA viele Burgenland-Kroaten in den Einwanderungsformularen als »deutsch« deklariert hatten. Dujmovits, Die Amerikawanderung, 2012, 114. 92 Österreichische Mediathek, »Picknick der New Yorker Burgenländer in Bronx«, 00:03:05– 00:03:43, https://bit.ly/3zis1JF (28. 3. 2022). Wie fest verankert der Ablauf des »Anna-Picnics« war, zeigt ein Bericht über die Annafeier der Burgenländer im Jahr 1967. Vgl.: »Das AnnaPicnic in New York«, in: Burgenländische Gemeinschaft. Organ des Vereins zur Pflege der Heimatverbundenheit der Burgenländer in aller Welt, Nr. 10, Oktober 1967, 5: BG-1967114_10.pdf (the-burgenland-bunch.org) (1. 4. 2022).

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Wohlstand der 1950er-Jahre« einstellte,93 kam die Imagination eines Fests mit einer schier unbegrenzten Menge an Eiscreme und der Option, Spielzeug zu gewinnen, für österreichische Kinder des Jahres 1958 wohl einer fast märchenhaften Wunschfantasie nahe. Tatsächlich sind es in dieser Reportage auch die Vertreter*innen der zweiten oder dritten Einwanderergeneration, die eine klare Mehrfach-Identität – amerikanisch und burgenländisch/österreichisch – aufweisen (englischer Akzent des Jungen). Insgesamt fokussiert sich der Beitrag aber darauf, die emotionale Verbundenheit der Auswanderer*innen zur ›alten Heimat‹ zu unterstreichen, wobei den Hörer*innen in Österreich eine Reihe an narrativen und sinnlichen Referenzpunkten offeriert wird. Arthur Steiner setzt emotionale Marker,94 die beim Rundfunk-Publikum Gefühle der Teilhabe und der heimatlichen Verbundenheit auslösen (sollen). Das katholische Annenfest, das hier von Steiner auch bewusst als »Familienfest« bezeichnet und inszeniert wird, belegt unmittelbar, dass die Burgenländer*innen den kooperativen familiären Zusammenhalt auch in den USA hochhalten, Traditionen pflegen, diese an die Kinder weitergeben und der alten Heimat verbunden sind. Die atmosphärische Geräuschkulisse (Volksmusik, Durchsagen) lässt das Publikum direkt an dem volkstümlichen Fest teilhaben, die Szenerie wird somit sinnlich erfahrbar. Steiners österreichisches Idiom stiftet Identität und erzeugt Response.95 Bei den Hörer*innen wird er als eine vertraute Stimme wahrgenommen. Seine volksnahe Ausdrucksweise gepaart mit zentralen Begriffen der Brauchtumskultur schafft einen zusätzlichen Bezugsrahmen. Die an die Zuhörer*innen in Österreich gerichteten Grußworte des Präsidenten der New Yorker Burgenländer, aber auch das Zwiegespräch mit dem amerikanisch-burgenländischen Jungen geben der Reportage schließlich eine sehr persönliche Note, wobei die burgenländische Emigration in die USA alles in allem als eine einzige Erfolgsgeschichte präsentiert wird. Musik, Idiom,

93 Franz X. Eder, Privater Konsum und Haushaltseinkommen im 20. Jahrhundert, in: Franz X. Eder/Peter Eigner/Andreas Resch/Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum, Innsbruck/Wien 2003, 201–285, 224, 228. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 440. 94 Unter »emotion marker« versteht Greg M. Smith Schlüsselmomente bzw. filmische Zeichen, die kurze emotionale Episoden auslösen und dem Publikum einen Weg hin zu einer gewünschten Emotion ebnen. Emotionale Marker sind tendenziell unkompliziert und direkt. Auch wenn sich Smith in seiner Arbeit auf filmische Werke bezieht, kann das Konzept der unmittelbaren »emotionalen Marker« auf Rundfunkformate übertragen werden. Vgl.: Greg M. Smith, Film Structure and the Emotion System, Cambridge 2003, 44–49. 95 Zur Charakterisierung von Stimmen und deren Identifikationspotential siehe u. a.: Daniel Morat/Hansjakob Ziemer (Hg.), Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, Stuttgart 2018, 355. Knut Hieckethier, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2010. Pinto, Stimmen, 2012, 371.

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Gestus und Inhalt bilden eine dichte emotionale Brücke zur österreichischen Heimat.

Resümee Emigrant*innen wie Johannes Urzidil und Arthur Steiner agierten in der RadioAbteilung der USIA als kulturelle Brückenbauer zwischen Österreich und den USA. Zu einer Zeit, als sich ein eigenständiges nationales österreichisches Selbstverständnis noch im Aufbau befand,96 waren sie – die einst Vertriebenen und Geflüchteten – an der Außenwahrnehmung Österreichs als Kulturnation maßgeblich beteiligt. Dabei beschränkte sich ihre literarische und journalistische Tätigkeit nach 1945 nicht auf die USA, auch in ihrer einstigen Heimat blieben sie auf vielfältige Weise vertraute Stimmen aus der Fremde. Die Inszenierung der österreichisch-amerikanischen Verbundenheit bzw. des fruchtbaren Austauschs in den USIA-Sendungen war von ihren eigenen Erfahrungen als Vertreter unterschiedlicher emotionaler Gemeinschaften (emotional communities) geprägt. Die analysierten Beispiele zeigen, dass beide einen sehr individuellen Stil pflegten, der im Fall von Urzidil auf intellektuell-literarische Weise emotionale Bezüge konstruierte, bei Steiner hingegen über eine Dichte an unmittelbaren emotionalen Markern Gefühlswissen abrufbar machte. Zudem setzt Urzidil in seiner Sendung die ›alte‹ mit der ›neuen Heimat‹ gleich, während in Steiners Reportage die US-amerikanischen Referenzen bedeutend schwächer ausgeprägt sind. Beide Redakteure inszenieren die österreichischen Emigrant*innen als eine der Tradition der Ursprungsheimat verbundene, familiärkatholisch geprägte Gemeinschaft. Beide Radiobeiträge verweisen aber auf positive kulturelle und gesellschaftspolitische österreichisch-amerikanische Verbindungslinien. Die amerikanische und die österreichische Lebensart lasse sich – so die Botschaft der Sendungen – nicht nur mühelos verbinden, vielmehr stellen die hier präsentierten Emigrant*innen unter Beweis, dass die Offenheit und wirtschaftliche Stärke der USA den neuen Bürger*innen ein gutes ökonomisches Fortkommen ermöglichten. Indirekt versprachen diese Berichte den österreichischen Hörer*innen folglich, über eine Nähe zum US-amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem an Wohlstand und Prosperität teilzuhaben.

96 Karin Moser, Begrenzte Grenzenlosigkeit: Inhaltliche Konzeption und filmische Strategien der Werbefilme der Austria Tabak 1948–2000, in: Karin Moser/Mario Keller/Franz X. Eder (Hg.), Grenzenlose Werbung. Zwischen Konsum und Audiovision, Berlin/Boston 2020, 109– 144, 111f.

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»My new fellow Americans!« Die amerikanische Einbürgerung als radiophones Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg

Einleitung Im Zweiten Weltkrieg avancierte das Medium Radio zu einem wichtigen Bestandteil der Vermittlung amerikanischer Werte von Freiheit und Patriotismus. Es sollte Antworten auf die Frage offerieren: Warum kämpfen wir für diese Werte? Oft vermischten sich dabei Entertainment, Information, Einschüchterung und Propaganda. Das Medium bot sich als Propagandainstrument an, da vor und während des Zweiten Weltkriegs ca. 90 Prozent der Amerikaner über ein Radio verfügten.1 Das Potenzial von Musik als Waffe und »soft power« (im Sinne von Joseph S. Nye) wurde zwar auf beiden Seiten des Atlantiks untersucht,2 dennoch stellt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den spezifisch radiophonen Möglichkeiten der Informationspolitik bzw. der Desinformation ein Forschungsdesiderat dar. Im Folgenden soll weniger die vermeintliche »Macht der Musik«, sondern die Wirkmacht des gesprochenen Worts im Medium Radio untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei die Inszenierung von amerikanischer Identität und einer imaginären nationalen Gemeinschaft (»imagined political community« im Sinne von Benedict Anderson) in Zeiten des Kriegs.3 1 Gerd Horten, Radio Goes to War. The Cultural Politics of Propaganda during World War II, Berkeley/Los Angeles/London 2002, 2. 2 Siehe: Joseph S. Nye, Soft Power: The Means to Success in World Politics, New York 2004; Michael H. Kater, Different Drummers. Jazz in the Culture of Nazi Germany, Oxford 1992; Horst J. P. Bergmeier/Rainer E. Lotz, Hitler’s Airwaves: The Inside Story of Nazi Radio Broadcasting and Propaganda Swing, Yale 1997; Horten, Radio Goes to War, 2002; Will Studdert, The Jazz War. Radio, Nazism and the Struggle for the Airwaves in World War II, London/New York et al. 2017; Frank Mehring, Liberation Songs: Music and the Cultural Memory of the Dutch Summer of 1945, in: Hans Bak/Frank Mehring/Mathilde Roza (Hg.), Politics and Cultures of Liberation: Media, Memory, and Projections of Democracy, Amsterdam 2018, 149–176. 3 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 2006, 6.

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Die feierliche amerikanische Naturalisierungszeremonie, bei der Immigrant*innen die neue amerikanische Staatsangehörigkeit zuerkannt wird, folgt einer bis ins letzte Detail ausgearbeiteten patriotischen Inszenierung. Dies wird heute über Fernsehen, YouTube und die sozialen Medien sichtbar, etwa wenn ExPräsident Donald Trump die Zeremonie am 24. August 2020 ins Weiße Haus verlagerte, um im Wahlkampf den Event der Einbürgerung als Werbung für seine Präsidentschaft einzusetzen. Sehr traditionsreich verkündete er formelhaft: »As citizens, you’re now stewards of this magnificent nation. A family comprised of every race, color, religion and creed united by the bonds of love. We are one people sharing one home, saluting one great American flag.«4 Anschließend wich Trump vom Skript ab, um neben den idealistischen Werten – wie Freiheit, in Liebe verbundene Einheit und Patriotismus – bei allen neuen Staatsbürger*innen das große wirtschaftliche Potenzial ihrer Arbeitskraft zu betonen: »Good luck with that company. Soon you’ll have hundreds of employees, right?«5 Im Folgenden sollen die Einbürgerungszeremonien als propagandistisches Medieninstrument mit den Bemühungen des State Department während des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gesetzt werden. Welche Rolle spielte das Radio, um eingebürgerte Einwanderer zu Kompliz*innen einer politischen Agenda zu machen?

Einwanderung, Naturalisierung und öffentliche Wahrnehmung Öffentliche Empfänge und Veranstaltungen zur Begrüßung von eingebürgerten Ausländer*innen gehen auf das Jahr 1915 zurück. In der Zeit des Ersten Weltkriegs erhielt die Frage der nationalen Identität besondere Brisanz, denn der wachsende Konformismus und Meinungsdruck nahm zu. So wurde beispielsweise die kulturelle Eigenständigkeit der Deutschamerikaner durch Aktivitäten der Bewegung »Americanization Movement« größtenteils zerstört. Lokale Amerikanisierungsräte (Americanization Councils) und patriotische Organisationen übernahmen die Trägerschaft und lieferten den konzeptionellen Überbau für derartige Veranstaltungen. Als Hitler Polen am 1. September 1939 den Krieg erklärte, machten sich die obersten Behörden daran, ein propagandistisches Programm zu erstellen, um die nationale Identität der im Ausland geborenen Amerikaner*innen zu stärken. Im April 1940 verabschiedete der Kongress eine Resolution, welche die Erlangung der Staatsbürgerschaft zu einer wichtigen nationalen Angelegenheit erklärte: »[…] a matter appropriate for national ce4 Siehe: https://www.c-span.org/video/?475188-1/president-trump-attends-naturalization-cere mony (1. 11. 2021). 5 Ebd.

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lebration and that valuable aid to citizenship education could be given by community induction ceremonies«.6 Mit der Einführung des »I am an American Day« sollte die amerikanische Identität gestärkt und zugleich potenziellen transkulturellen Konfrontationen die Sprengkraft genommen werden. Auch und gerade in Hinblick auf eine mögliche Involvierung der Vereinigten Staaten in einen neuen Weltkrieg. Dies wurde 1942 in einer Proklamation von Präsident Franklin D. Roosevelt deutlich, welche auf die aus der Staatsbürgerschaft abgeleitete Verantwortung jeder/jedes Einzelnen hinwies: »[…] it is even more essential in time of war than in time of peace that a people should fully understand the form and genius of their Government and the responsibilities of citizenship«.7 Die in diesen Lehr- und Handbüchern über Amerikanismus betonte hohe moralische Verantwortung der Staatsbürger*innen sollte den nationalen Stolz mit einem besonderen Pflichtgefühl verknüpfen. Der Erfolg dieser Propagandabemühungen lässt sich am besten an den Erklärungen der Einwanderer zu ihrem Naturalisierungsprozess ablesen.8 Neben öffentlichen Auftritten, Werbung, Lehrbüchern und 16-mm-Filmen erkannte das Außenministerium im 6 Francis Biddle/Earl G. Harrison (Hg.), Community Recognition of USA »Citizenship«. A Handbook for »I am an American Day« Committees. United States Department of Justice – Immigration and Naturalization Service, Washington DC 1944, 3. 7 Ebd., 4. Soziologische und kulturelle Theorien können zu einem besseren Verständnis der Attraktivität der amerikanischen Staatsbürgerschaft für Ausländer*innen beitragen. Neben wirtschaftlichen und politischen Gründen ist eine der wichtigsten Triebfedern, das Heimatland zu verlassen, das Gefühl der Nicht-Anerkennung. Axel Honneths Konzept der vorwissenschaftlichen Praxis und der moralischen Erfahrung besagt, dass der Protest der »unteren Klassen« oft durch einen Mangel an Respekt gegenüber ihrer Würde, Ehre und Integrität motiviert ist. Die Vereinigten Staaten mit ihrem Demokratieversprechen offerieren (zumindest theoretisch) diese im Herkunftsland vermisste Anerkennung. Die amerikanische Naturalisierungszeremonie ist eine Form, um den neuen Bürger*innen eine besondere Anerkennung zuteilwerden zu lassen. Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main, 2005, 53. 8 Der österreichisch-französisch-amerikanische Politikwissenschaftler Stanley Hoffmann vertrat die Ansicht, dass die amerikanische Identität am besten als ein Bild charakterisiert werden kann, das auf zwei Schlüsselkomponenten beruht: Amerikas ethnische Vielfalt und sein liberales demokratisches Glaubensbekenntnis. Vgl.: Stanley Hoffmann, More Perfect Union: Nation and Nationalism in America, in: Harvard International Review, 20. Jg./Heft 1 (1998), 72–75, 72. Diese Komponenten können jedoch nicht die starke Sehnsucht von kulturellen Außenseitern erklären, amerikanische Staatsbürger zu werden. Eine mögliche Antwort könnte man in den semantischen Konnotationen des Begriffs »Amerika« finden. Es muss etwas anderes geben, das über die von Hoffmann identifizierten Begriffe hinausgeht. Die Interaktion ethnischer Gruppen in einer von Konkurrenz bestimmten demokratischen Wertearena schuf spezifische Formen kultureller Kommunikation und Verständigung. Diese Situation war in Europa erklärungsbedürftig. Im Prozess der Übersetzung, wie ich dies an anderer Stelle verdeutlicht habe, entstand die europäische Idee von »Amerika«. Siehe: Frank Mehring, The Democratic Gap: Transcultural Confrontations of German Immigrants and the Promise of American Democracy, Heidelberg 2014, 49–51.

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Medium Radio ein besonders wirksames Mittel, um den Besitz der amerikanischen Staatsbürgerschaft mit patriotischen Gefühlen zu verbinden. Zu diesen eigens konzipierten Radiosendungen zählte etwa die Reihe »Americans All – Immigrants All«. Diese Reihe bestand aus 30-minütigen Programmen, welche unterschiedliche ethnische Gruppen und deren jeweiligen Beitrag zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Vereinigten Staaten präsentierten. Auch die Radioreihe »Lest We Forget« war Teil dieser ›patriotischen‹ Programme. Sie widmete sich in 15-minütigen Beiträgen Themen wie »Democracy is Our Way of Life«, »Our Constitution«, »A Better World for Youth«, »America Determines Her Destiny« und »Eternal Vigilance Is the Price of Liberty«. Später kamen »This is War!«, »You Cant’t do Business with Hitler« oder »We Fight Back: The German-American Loyalty Hour« dazu.9 Im Folgenden wird die Radiosendung »I’m an American« im Fokus stehen, die v. a. auf patriotisches Engagement setzte und vorsichtige Kritik von Einwanderern zuließ, wobei diese letztlich wieder in den konzeptionellen Rahmen der patriotischen Propaganda eingegliedert wurde.10

»I’m an American!« Die radiophone Inszenierung der Einbürgerung als Nervenkitzel Die Reihe von 69 Radiosendungen, die zwischen 1940 und 1943 unter dem Titel »I’m an American« vom Justizministerium der Vereinigten Staaten in Zusammenarbeit mit der National Broadcasting Company produziert wurde, stellte die Frage der Amerikanisierung in den Mittelpunkt der Diskussion. Die 15- bis 20minütigen Sendungen liefen Samstag nachmittags, später Sonntag nachmittags. Diese Sendeplätze gehörten nicht zu den stark frequentierten.11 Die Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde der Vereinigten Staaten (Department of Justice – Immigration and Naturalization Service) war für die Konzeption und Produktion der Reihe verantwortlich. In den Sendungen erklärten ausgewählte, »angesehene naturalisierte Bürger« (so die Anmoderation der Sendung), weshalb die Einbürgerung eine zentrale Rolle in ihrem Leben spielte. Transkripte der Sendungen wurden von der Educational Radio Script and Transcription Exchange, United States Office of Education Washington, DC für den Gebrauch in 9 Horten, Radio Goes to War, 2002, 76 und 77. 10 Horten setzt sich in seinem Werk allerdings nicht weiter mit der Radioreihe »I’m an American« auseinander. 11 Siehe: »I’m an American: INS’s Foray into Radio Broadcasting«, report of the U.S. Citizenship and Immigration Services website: https://www.uscis.gov/about-us/our-history/history-offi ce-and-library/featured-stories-from-the-uscis-history-office-and-library/im-an-american (28. 8. 2021).

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Schulen und anderen Institutionen während des »I am an American Day« kostenlos zur Verfügung gestellt. Die erste Sendung hatte am 4. Mai 1940 auf NBC Red Network ihre Premiere und gewann insbesondere nach dem Angriff auf Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der USA an Bedeutung. Sie vermittelte, wie sehr das Erlangen der Staatsbürgerschaft auch die zivile Integration der Einwanderer förderte. Senator Robert F. Wagner, der als Kind selbst aus Deutschland eingewandert war und ebenfalls für dieses Radioformat interviewt wurde, betonte, dass die neuen Bürger*innen oft ein »besseres Verständnis für unsere Demokratie und ihre Rechte und Privilegien haben als viele der Einheimischen«.12 Die Sendung »I’m an American« sollte den eingebürgerten Zuwanderern öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung verschaffen. Zudem sollten diese Bekenntnisse zu den USA Misstrauen und etwaigen Vorurteilen gegenüber den neuen Bürger*innen entgegenwirken. Schließlich hing in einem Einwandererland die militärische Macht von der patriotischen Überzeugung und dem Gefühl der Soldaten, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen, ab. Das Radioprogramm war klug konzipiert, da es das Ziel der Amerikanisierung und die Wertschätzung der US-amerikanischen Identität als eigenständige und eben nicht als oktroyierte Entwicklung vermittelte. Ein basisdemokratischer Ansatz wurde verfolgt. Intellektuelle und Künstler*innen mit überwiegend europäischem Hintergrund berichteten über ihren eigenen persönlichen Amerikanisierungsprozess. Die Parameter, die zu einer Teilnahme an dieser Sendung qualifizierten, wurden zwar nicht offengelegt. Es ist aber offensichtlich, dass ein gewisses Maß an Erfolg in ausgewählten, medienwirksamen Fachgebieten eine Voraussetzung war. Francis Biddle, der Generalstaatsanwalt der Vereinigten Staaten, lieferte ein aufschlussreiches Vorwort für die Veröffentlichung ausgewählter Interviews mit repräsentativen europäischen Immigrant*innen. Biddle erklärte, dass alle Befragten nicht nur angesehene Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft, Theater, Musik, Literatur und Philosophie wären. Sie kämen vor allem als neu eingebürgerte Einwanderer zu Wort, um dem Radiopublikum zu erläutern, wie sie ihre neu gewonnene amerikanische Identität definierten. Die Publikation der jeweiligen Statements sei – laut Francis Biddle und Earl G. Harrison13 – ein wichtiges Zeugnis, insbesondere für jene alteingesessene amerikanische Staats-

12 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Robert F. Wagner, 24. 6. 1940, 87. 13 Der amerikanische Rechtsanwalt, Akademiker und Staatsbeamte Earl Grant Harrison (27. 4. 1899–28. 7. 1955) setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für Vertriebene ein und machte in einem Bericht für Präsident Harry S. Truman, der allgemein als Harrison-Bericht bekannt ist, auf die Notlage der jüdischen Flüchtlinge aufmerksam.

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bürger*innen, die sich ihrer Nationalität und den damit verbundenen Freiheitsrechten nicht immer bewusst wären. »[It is a] reaffirmation of the old reasons, the familiar longings, is good for all of us to hear, perhaps even most for those of us who are born and bred from the older American stock, who breathe our freedom causally, as taken for granted in our American life, and tend to forget the eager passion with which men of other nations for the past few hundred years have dreamed the American dream.«14

Biddle erklärte, dass die Stellungnahmen der Einwanderer zu ihrer amerikanischen Identität wie ein Echo jener Werte, Moralvorstellungen und patriotischen Codes wirkten, die in amerikanischen Kindergärten, Schulen und Medien eingeübt wurden. Zweifelsohne beruhte ein Teil des Programms auf der Überzeugung, dass die Immigrant*innen durch ihre patriotischen Statements einer potenziell feindseligen Reaktion der Amerikaner*innen entgegenwirken könnten. Ein solcher Sinneswandel wäre besonders nützlich gewesen, um während der amerikanischen Intervention im Zweiten Weltkrieg die »Reihen der Soldaten« zu schließen.15 In einem anderen Kontext hat der Amerikanist Werner Sollors überzeugend dargelegt, dass Reiseberichte von Einwanderern – wie Mary Antins The Promised Land (1912) – einen ähnlichen Weg einschlugen, indem sie »die Innerlichkeit eines Bewusstseins darstellten, das die Transformation vom ausländischen Einwanderer zum amerikanischen Bürger erfolgreich durchlief«.16 Memoiren von Immigrant*innen greifen ebenfalls die besondere Bedeutung der Erlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft auf.17 Die Radiosendung »I’m an American« übertrug also narrative Muster, die sich in der Literatur bewährt hatten, in ein neues modernes Medium der Massen14 Siehe: Biddle/Harrison, Community Recognition, 1944, v. Hervorhebung durch den Autor. 15 Der amerikanische Soziologe, Sozialist, Historiker, Bürgerrechtler, Panafrikanist, Autor, Schriftsteller und Herausgeber W. E. B. Du Bois wies bereits 1918 in seinem Artikel »Close Ranks« in einer Ausgabe von The Crisis, der offiziellen Zeitschrift der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), darauf hin, dass im Kriegsfall die Bevölkerung zusammenstehen müsse und man dabei auch beklagenswerte Missstände, in diesem Fall die rassistischen Anfeindungen der Vergangenheit und Gegenwart, zunächst ausblenden müsse. William Edward Burghardt Du Bois, Close Ranks, in: The Crisis, Bd. 16, Nr. 3 (Juli 1918), 111. 16 Werner Sollors (Hg.), »Introduction«. The Promised Land, New York 1997, x–lvi, xv. Übersetzung des Autors. 17 So beschrieb beispielsweise Eliza Lee Cabot die überbordende Freude und den Stolz ihres Mannes, Charles Follen, des ersten Professors für deutsche Literatur an der Harvard University und engagierten Abolitionisten aus Deutschland: »[Charles Follen] brought me the certificate, that he was an American citizen, with a glow of joy in his face, and declared, that the naturalized foreigner alone had a right to boast of his citizenship, for with him it was choice.« Siehe: Frank Mehring (Hg.), New Directions in German-American Studies. Charles Follen, Between Natives and Foreigners. Selected Writings of Karl/Charles Follen, New York 2007, xxi.

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kommunikation. Im Radio konnte man zusätzlich zum Inhalt auch über den jeweiligen europäischen Akzent die Vielfalt der Bürger*innen und neuen »fellow Americans« akustisch wahrnehmen. Ein genauerer Blick auf die Interviews zeigt jedoch, dass sich hier andere medienspezifische Zugänge zur patriotischen Selbstinszenierung bieten als die bloße Bekräftigung des Alten und Vertrauten. Jenseits der vorformatierten Struktur und der kalkulierten Antworten stellen die (oft leidenschaftlichen) Aussagen einen bemerkenswerten Fundus an Informationen über die Fantasien von Einwanderern und den Prozess der Selbststilisierung zu stolzen amerikanischen Bürger*innen dar. Trotz des Beigeschmacks von Propaganda und protzigem Patriotismus bieten diese Dokumente wertvolle Einblicke in die Attraktivität der amerikanischen Demokratie und den Traum von der aktiven Teilhabe an der amerikanischen Kultur. Auch finden sich hier Antworten auf die Frage »Wer sind wir?«, die der Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington angesichts der jüngsten Einwanderungs- und Migrationswellen als größte Herausforderung für die Integrität der amerikanischen Identitätskonstruktionen erkannt hat.18 Die Radiointerviews von »I’m an American« übertrugen die besonderen Emotionen, die mit dem physischen Ankommen in den Vereinigten Staaten einhergehen, auf den rechtlichen Akt der Einbürgerung. Der Bildhauer Attilio Piccirilli, der in der Radioshow interviewt wurde, berichtete, wie er sich bei der Ankunft in New York City aus seinem Ursprungsland Italien kommend fühlte. Nach den Strapazen der Überfahrt erlebte er die Ankunft im Hafen wie folgt. »We were boys with big eyes, boys leaning over the boat rail watching New York harbor«, sagte Piccirilli. »We had 25 cents in our pocket.« (1941)19 Tatsächlich berichten nahezu alle Interviewten von der bemerkenswerten Offenheit, die ihnen nach ihrer Einreise in die USA entgegenschlug. »People in America have been very hospitable to me and to my ideas also«, erklärte beispielsweise der deutsche Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Thomas Mann.20 Angesichts der staatlichen Kontrolle der öffentlichen Medien während des Zweiten Weltkriegs liegt die Vermutung nahe, dass diese Gespräche einer

18 Samuel P. Huntington, Who Are We? The Challenges to America’s National Identity, New York, London/Toronto/Sydney 2004, 2. 19 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Attilio Piccirilli, 15. 6. 1940. Wenn keine Seitenangabe vorliegt, handelt es sich um eine Transkription des Radiointerviews durch den Autor. Die Radiomitschnitte zur Reihe »I’m an American« finden sich in der NBC Radio Collection der Library of Congress. Wenn Seitenangaben vorliegen, beziehen sie sich auf folgende Publikation: Robert Spier Benjamin (Hg.), I am an American by Famous Naturalized Americans, New York, 1941. 20 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Thomas Mann, 8. 6. 1940.

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klaren Inszenierungsstrategie folgten, um Menschen aus ähnlichen europäischen Herkunftsländern auf patriotischen amerikanischen Kurs zu bringen.21 In der Einführungsrede erklärte der Rundfunkkommentator, dass der Besitz der Staatsbürgerschaft für gebürtige Amerikaner*innen, die unter dem rhetorischen Marker »wir« subsumiert werden, eine Selbstverständlichkeit sein kann. Doch »für sie«, nämlich eingebürgerte Ausländer*innen, versicherte der Moderator, sei die amerikanische Staatsbürgerschaft immer noch »neu und aufregend«. Dieser Hinweis bezog sich auf eine Bemerkung von Luise Rainer – einer zweimal Oscar-gekrönten Filmschauspielerin aus Düsseldorf –, die bereits während des zweiten Radiointerviews am 18. Mai 1940 über ihre Erfahrungen berichtete.22 Als man sie bat, ihr persönliches Verständnis von amerikanischer Identität und Staatszugehörigkeit auszudrücken, gab sie eine enthusiastische Antwort, die einer brillanten Schauspielerin durchaus würdig war. Mit zitternder Stimme sprach sie davon, dass ihre neue nationale Zugehörigkeit und das damit einhergehende Recht auf Gleichheit und Freiheit sie mit besonderem Stolz und Glück erfülle. Das Bekenntnis zur amerikanischen Identität war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. »To me it is a thrilling thing to be able to say that sentence. [I am an American!]«23 Der Ausdruck »a thrilling thing« (im Sinne von »eine aufregende Sache« oder »ein Nervenkitzel«) ist – für einen bürokratischen Akt wie den der Einbürgerung – eine durchaus bemerkenswerte Wortwahl.24 In der europäischen Einwande21 In einer Zeit, in der sich der Konflikt mit Nazi-Deutschland zuspitzte, konnten Kurt Weill und Thomas Mann für die Sendereihe »We Fight Back: The German-American Loyalty Hour« gewonnen werden. In diesen 30-minütigen Sendungen wurde ein Mix von Statements naturalisierter deutscher Intellektueller in den USA und von Informationen über die neuesten Entwicklungen in Deutschland offeriert. Bemerkenswerterweise wurde dieses Programm in den USA in deutscher Sprache ausgestrahlt. Siehe dazu: Horten, Radio Goes to War, 2002, 78. 22 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Luise Rainer, 18. 5. 1940. In der Radiosendung wird Luise Rainer als Amerikanerin aus Österreich vorgestellt. Trotz ihrer anhaltenden Liebe zu Deutschland zog sie es vor, als Amerikanerin mit österreichischem Hintergrund angesehen zu werden. Ihre berühmten Gefühlsausbrüche in The Great Ziegfeld (USA 1936) und The Good Earth (USA 1937) brachten ihr den Spitznamen »Viennese teardrop« ein. 23 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Luise Rainer, 18. 5. 1940. Hervorhebung durch den Autor. 24 Der amerikanische Theoretiker Donald E. Pease verweist auf die politische Instrumentalisierung, die mit der Aneignung der Idee vom »demokratischen Amerika« einherging. Dabei bezieht er sich allen voran auf den französischen Politiker und Publizisten Alexis de Tocqueville. Dieser beschrieb und analysierte das amerikanische politische System und dessen Regierungsform, da er es als potenzielles Modell für die demokratischen Bestrebungen Frankreichs heranziehen wollte. Tocquevilles Begeisterung für die amerikanische Demokratie nahm während seiner Reisen durch die Vereinigten Staaten noch zu. Seine Schilderungen schufen einen Raum der Fantasie und des Begehrens, der für das Verständnis der Attraktivität, die Ausländer mit dem »Amerikanisch-Werden« verbanden, von entscheidender Bedeutung ist. Donald E. Pease zufolge wird »Amerika« bei Tocqueville zu einem europäischen

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rungsgeschichte und deren medialen Verarbeitung wurde der Begriff »Nervenkitzel« besonders oft mit der Ankunft in den Vereinigten Staaten assoziiert. Ein Beispiel dafür ist das von Adolph Treidler 1917 gestaltete amerikanische Plakat »Remember Your First Thrill of American Liberty«. Es instrumentalisierte den Begriff des »thrill«, um Einwanderer an ihre erste emotionale Reaktion bei der Ankunft in New York und dem damit in Verbindung gebrachten Gefühl der Freiheit zu erinnern. Dieser »Nervenkitzel« sollte patriotische Empfindungen wecken und sie an ihre »Pflicht« als amerikanische Bürger*innen mahnen: nämlich zum Beispiel Kriegsanleihen zu kaufen. Diese Strategie der Propaganda stützte sich auf erfolgreiche literarische Beispiele der Einwandererliteratur aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Radiointerviews in »I’m an American« inszenieren den legalen Akt der Einbürgerung als eine Art Nervenkitzel. Wieso wird der Akt der Verleihung und der Besitz der amerikanischen Staatsbürgerschaft als »aufregend« oder »emotional aufwühlend« beschrieben? Ich möchte im Folgenden zwei Aspekte herausstellen: Erstens kann dieser »Nervenkitzel«, diese »Aufregung« auf psychologischer Ebene als Belohnung für das abenteuerliche Unterfangen der Auswanderung interpretiert werden. Die emotionale Reaktion auf die erfolgreiche Einreise und Integration in ein neues politisches System ist besonders bedeutsam für diejenigen, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen aus ihrem Heimatland vertrieben wurden. Zweitens ist die Selbststilisierung zum Amerikaner mit dem historischen Akt der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1776 verbunden. Nachdem in Europa revolutionäre Bewegungen im 18. und 19. Jahrhundert gescheitert waren, wurden die USA zu einem demokratischen Sehnsuchtsort.25 Auch derartige Ideen und Vorstellungen verbanden sich mit dem Wunsch, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Der »Nervenkitzel« lässt sich somit auch mit der tatsächlichen Erfüllung einer Reihe von Freiheits- und Wunschvorstellungen, welche die Einwanderer mit den USA verbanden, erklären.

Fetisch: »The democratic thing became the object cause of Tocqueville’s desire – it named what Tocqueville desired and what caused him to exist as a desiring subject. In Tocqueville’s case the democratic thing constituted his effort to overcome what French democracy was constitutively lacking. U.S. democracy became a ›thing‹ when Tocqueville desired something more than the features comprising democracy in America. As this something more, the democratic thing named what gave plenitude and meaning and vitality to the national life. As the object cause of desire, the democratic thing also staged the fantasy space that caused Tocqueville to want to obtain it.« Siehe dazu: Donald Pease, Tocqueville’s Democratic Thing; or, Aristocracy in America, in: Russ Catronovo/Dana D. Nelson (Hg.), Materializing Democracy. Toward a Revitalized Cultural Politics, Durham/London 2002, 22–52, 32. 25 Jessica C. E. Gienow-Hecht, Always Blame the Americans: Anti-Americanism in Europe in the Twentieth Century, in: The American Historical Review 111/4 (2006), 1067–1091, 1072.

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Abb. 1: Adolph Treidler, »Remember Your First Thrill of American Liberty. Your Duty – Buy United States Government Bonds. 2nd Liberty Loan of 1917«. Sackett & Wilhelms Corp. N.Y., Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C.0540 USA.

Dabei ist auch an den amerikanischen Kulturexport zu denken, der gerade auch in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stattfand. Als z. B. der deutschamerikanische Komponist Kurt Weill gefragt wurde, warum er amerikanischer Staatsbürger werden wolle, erklärte er: »I have never felt more enthusiastic about an idea than I have felt about the American way of life.«26 Weills transatlantischer Hintergrund zeigt, dass seine große Begeisterung ihre Wurzeln in einer fantasievollen Vorstellung von der »amerikanischen Lebensart« hatte. Weill träumte in seinen künstlerisch prägenden Jahren im Berlin der Weimarer Republik davon, sich als Amerikaner zu stilisieren. Sein abstraktes Konzept von »Amerika« und »Amerikanismus« transformierte er in das Medium Musik, indem er eine höchst eigenwillige Verwendung von Jazzelementen mit der musikalischen 26 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Kurt Weill, 18. 3. 1941.

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Sprache seiner europäischen Lehrer Ferruccio Busoni und Arnold Schönberg verband.27 Der künstlerische Ausdruck von seinem »Amerika« verlieh Weills persönlicher Idee eine bemerkenswerte emotionale Qualität. Seine belebende Wirkung war in der deutschen und europäischen Kunstszene zu spüren.28 Der komplexe Prozess der Aneignung und imaginären Selbstgestaltung wurde durch moderne Massenmedien wie Hollywoodfilme, Schallplatten und fiktionale Literatur aus Übersee ausgelöst. Weills Kompositionen produzierten einen Ort der Doppeldeutigkeit, nämlich des Fantastischen und des Faktischen. Seine Vorstellung von »Amerika« leitete sich aus einer imaginären Übertragung ab. Seine und Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) veranschaulicht das Bewusstsein dieses Transfers. Die Stadt Mahagonny erschien als »hyperbolische Darstellung des amerikanischen Andersseins«.29 Zugleich stellte sie ein Zerrbild des Berliner Zeitgeists dar. »Amerika« fungierte als Mittel zur Herausforderung und Belebung der deutschen Kunstszene. In einem Interview erklärte Weill, dass er und Bertolt Brecht sich der fantastischen Elemente, die sie in das Projekt einbrachten, durchaus bewusst waren: »For every age and part of the world, there is a place about which fantasies are written. In Mozart’s time, it was Turkey. For Shakespeare, it was Italy. For us in Germany, it was always America.«30 Diese Aussage zeigt, dass Weill auch neun Jahre nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten noch an die Kraft seiner imaginären Konstruktion des Amerikanischen glaubte.

27 Der Begriff »Amerikanismus« leitet sich von dem Terminus »Amerikanisierung« ab, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten aufkam. Er diente zur Beschreibung des Anliegens, aus den vielfältigen ethnischen Einwanderungsgruppen eine homogene Nation mit gleichen Idealen, Werten und einer einheitlichen Sprache zu formen. In Deutschland kommen unterschiedliche Konnotationen zum Tragen. Die Amerikanisierung beschreibt hier eine maßgebliche Tendenz von soziokulturellen Veränderungen, der sich letztlich auch Europa nicht entziehen konnte. Die Amerikanismen, welche die deutsche Kultur durchdringen, lassen sich inhaltlich zum einen mit der auf der Verwertung privaten Kapitals basierenden Lebensweise – dem »American way of life« – verknüpfen. Gemeint sind Flexibilität, Dynamik, technische Innovationen, Bequemlichkeit, Luxus und unerschütterlicher Fortschrittsglaube. Zum anderen meint der Begriff die Aneignung von habituellen Formen, die vor allem den ethnischen Randgruppen entspringen. Von zentraler Bedeutung sind die Einflüsse afroamerikanischer Elemente in der Musik, die vom Jazz bis zum Rock ’n’ Roll, vom Blues bis zum Soul reichen. 28 Zur Funktion der kulturellen Imagination von »Amerika« in der deutschen Musikwelt siehe: Frank Mehring, Transatlantische Anachronismen: Ursprünge deutscher Amerikanismen in der Operette, Revue, Zeitoper und im Film, in: Thomas Steiert/Paul Op de Coul (Hg.), Blickpunkt Bühne: Musiktheater in Deutschland, Köln 2014, 173–196. 29 Kim H. Kowalke, Kurt Weill’s Amerika/America, in: Hermann Danuser/Hermann Gottschewski (Hg.), Amerikanismus/Americanism/Weill. Die Suche nach kultureller Identität in der Moderne (1900–1950), Schliengen 2003, 9–15, 13. 30 Kurt Weill, Pensacola Wham, in: The New Yorker, 10. 7. 1944, 16.

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Die Rezeptionstheorie liefert eine mögliche Erklärung für Weills bemerkenswerte Entwicklung. Durch den Prozess eines ästhetischen Transfers beim Akt des Hörens amerikanischer Jazzmusik, des Lesens von amerikanischen Romanen und des Sehens von Hollywoodfilmen erlebte sich Weill als zwei Personen gleichzeitig: der deutsche Komponist und der repräsentative Amerikaner. Letzterer würde mehr und mehr sein Handeln, seine Überzeugungen und seine künstlerischen Ziele bestimmen. Im Moment seiner Ankunft in New York 1935 verschmolzen der Ort des »anderen« und das Vertraute: »I remember very well the feeling I had as the ship moved down the harbor past the Statue of Liberty and the skyscrapers. All about us were exclaiming in amazement at the strange sights. But my wife and I had the sensation that we were coming home.«31 Der Radiokommentator reagierte gespielt verblüfft auf die auffällige Kongruenz zwischen dem Unbekannten und dem Vertrauten: »And yet you’ve never been here before?«32 Weills Prozess der Selbstamerikanisierung musste vor dem Akt der Einbürgerung durch Proklamation abgeschlossen gewesen sein, mit weitreichenden Folgen für sein zukünftiges künstlerisches und politisches Engagement. Dieser Aspekt wird auch in anderen Interviews in ähnlicher Weise betont und gehört somit zum Repertoire der radiophonen Inszenierung von »I’m an American«. Darüber hinaus ist erwähnenswert, dass Weill zum Zeitpunkt des Interviews noch kein US-amerikanischer Staatsbürger war, obwohl in der Einleitung zu allen Sendungen betont wurde, dass man naturalisierte Einwanderer vorstellen wolle. Weill erhielt seine Naturalisierungsurkunde erst zwei Jahre später, am 27. August 1943. Grundsätzlich gilt: Mit der Unterzeichnung der Einbürgerungsurkunde wurde das zuvor emotional Imaginierte zur politischen Realität. Was bedeutet es dann, tatsächlich ein Amerikaner im staatsrechtlichen und kulturellen Sinne zu sein? Auch hier bietet Weills Antwort wieder deutliche Hinweise auf eine transnationale Dimension der amerikanischen Kultur. Sein Verständnis vom »Amerikanischen« überschreitet das Konzept des Nationalstaats. Weill verortet den Klebstoff der amerikanischen Identität in der »Verwandtschaft des Geistes«, der die Einwanderer zum amerikanischen Glauben hinzieht, wobei diese Anziehung dem Akt der Einbürgerung vorausgeht: »Those who come here seeking the freedom, justice, opportunity, and human dignity they miss in their own countries are already Americans before they come.«33 Man könnte argumentieren, dass Weill sich auf eine Form der kulturellen Staatsbürgerschaft bezog, die nicht auf die territoriale Zugehörigkeit beschränkt ist. 31 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Kurt Weill, 18. 3. 1941. 32 Ebd. 33 Ebd. Hervorhebung durch den Autor.

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Abb. 2: Zertifikat von Kurt Weills Einbürgerung vom 27. August 1943. Courtesy of the WeillLenya Research Center, Kurt Weill Foundation for Music, New York.

Obwohl sich Weill von dem Moment an, als er den Hafen von New York erreichte, wie zu Hause fühlte, wurde ihm erst acht Jahre später die Staatsbürgerschaft verliehen. Seine Unterschrift auf der Einbürgerungsurkunde wiederholte sinnbildlich die Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowohl in ihrer Rückwirkung als auch in ihrer Berechtigung, die Unabhängigkeit politisch und kulturell zu beanspruchen. Der Gedanke, dass man Amerikaner sein muss, bevor man in die Vereinigten Staaten kommt, wurde in der Radiosendung »I’m an American« wiederholt auch von anderen Einwanderern geäußert. So erklärte beispielsweise Thomas Mann, dass er besonders von der starken nationalen Einheit Amerikas beeindruckt sei, die von einem Geist der Loyalität durchdrungen sei. Dieses nationale Bewusstsein sei jedoch nicht nur bei »den Amerikanern, deren Vorfahren seit Generationen hier leben« zu finden, sondern auch bei »den Männern und Frauen, die erst vor Kurzem in Amerika angekommen sind« – einschließlich seiner selbst.34

34 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Thomas Mann, 8. 6. 1940. Übersetzung durch den Autor.

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Manns Beitrag zu dieser Reihe war der sechste und wurde am 8. Juni 1940 in New York aufgenommen. Wie Weill war auch Mann noch nicht eingebürgert worden. Die eigentliche Zeremonie fand etwa vier Jahre nach der Ausstrahlung von Manns Interview statt. Dennoch fühlte er eine besondere Verbundenheit mit dem Land, seinen Traditionen und seinem demokratischen Versprechen. Er erklärte, dass eine spezifische amerikanische Identität für ihn real spürbar sei: »No one could live in America as long as my family and I have, without realizing that America is the possessor of a definite national unity, a communal spirit of loyalty peculiar to itself.«35 In der Niederschrift seines Interviews heißt es, dass Thomas Mann jetzt mit seiner Familie in Kalifornien lebe, wo er seine »glänzende literarische Karriere als amerikanischer Bürger fortsetzt«.36 Obwohl er sich – anders als Weill – nicht als »Amerikaner« im eigentlichen Sinne bezeichnete, erhob Mann Amerika zum repräsentativen Modell einer Weltdemokratie. Das Kollektivpronomen »wir« verwies auf eine transatlantische kollektive Identität. Dies sei – so Mann – eine Chance für die Vereinigten Staaten und für ein zukünftiges Europa: »We who have come to America from Europe have seen how easily the highest motives and ideals of youth can be exploited by unscrupulous despots and made to serve the lowest kind of political strategy.« Etwas anders gestaltet sich der Radiobeitrag des deutschamerikanischen Physikers und Nobelpreisträgers Albert Einstein. Während der Physiker einerseits Amerika als ein Land lobte, in dem »politische Freiheit, Toleranz und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz« erreicht worden seien, erkannte er andererseits einige Unzulänglichkeiten, die er als »menschliche Unvollkommenheiten« bezeichnete.37 Obwohl Einstein sich nicht explizit über sein ehemaliges Heimatland Deutschland äußerte, ist dennoch klar, dass seine Lobrede auf die Freiheit in den Vereinigten Staaten und die Rechte und Möglichkeiten für den Einzelnen als positive Folie diente, um gegen das totalitäre Terrorregime zu mobilisieren. Zugleich belegt seine Stellungnahme, dass er sich selbst bereits als Teil des amerikanischen Volks verstand: »Here [in the United States] human dignity has been developed to such a point that it would be impossible for people to endure life under a system in which the individual is only a slave of the State and has no voice in his government and no decision on his own way of life. We simply will not be driven about like sheep, we are independent. We are self-reliant. We do not know what it means to be deferential to class or position. Fortunately for us ›obey‹ is a little heard word, and ›co-operate‹ is a common one.«38

35 Ebd. 36 Ebd. 37 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Albert Einstein, 22. 6. 1940, 43 und 44. 38 Ebd., 4.

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Abb. 3: Thomas Mann nutzte das Medium Radio in vielerlei Hinsicht, um seine Hörer*innen politisch zu beeinflussen. Hier in seiner im amerikanischen Exil auf Deutsch vorgetragenen Ansprache »Deutsche Hörer!« im November 1941. Die Fotografie zeigt Thomas Mann 1938 beim amerikanischen Radiosender WQXR. Eric Schaal, Weidle-Verlag, Bonn.

Die eingebürgerten Amerikaner*innen teilten eine Vorstellung: Sie betrachteten sich selbst als »neue Amerikaner«, die mit ihrer Identität bewusster umgingen als die bereits in den USA geborenen Bürger*innen. Anton Lang, Professor für deutsche Literatur an der Georgetown University, erklärte in seiner Stellungnahme, dass die »neuen Amerikaner« mit dem Erhalt der Staatsbürgerschaft auch ein besonderes Verantwortungsgefühl verbanden.39 Anton Lang entstammte einer Familie, die eng mit den Oberammergauer Passionsspielen verbunden war, was er auch in seinem Radio-Statement thematisierte. Sein Vater verkörperte bei den berühmten Festspielen 22 Jahre lang den Messias. Der deutschamerikanische Maler Winold Reiss40 porträtierte Langs Vater in seiner 39 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Anton Lang, 25. 5. 1940, 18. 40 Winold Reiss war für seine markanten Wandmalereien und Designs für bekannte amerikanische Restaurants bekannt. Große Aufmerksamkeit erlangten auch seine Porträts von Künstler*innen der Harlem Renaissance und von Mitgliedern der Blackfeet Indians. Für eine erste umfassende Werkschau siehe: Frank Mehring, The Multicultural Modernism of Winold Reiss 1886–1953: (Trans)National Approaches to his Work, Berlin 2022.

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Rolle als Jesus während einer Europareise 1921/22. Auf eindrucksvolle Weise konzentrierte sich Reiss auf die stechenden blauen Augen des Darstellers. Der Blick des Schauspielers richtet sich nicht direkt auf den Betrachter, sondern schweift an ihm vorbei in die Ferne. Dabei changiert er zwischen Stolz, Sorge und Trauer. Indem Reiss den Körper bewusst flächig und wie den Hintergrund ohne Konturen in Weiß gestaltet, lenkt er alle Aufmerksamkeit des Betrachters auf die markanten roten, wallenden Haare. Sie verleihen dem emotionalen Gesichtsausdruck – mit Referenzen an Albrecht Dürers berühmtes Selbstporträt – besondere Kraft. Dieses Bild war Teil einer Ausstellung in den New Yorker Anderson Galleries im November 1922, in welcher anhand von 154 Bildern die ethnische Vielfalt der USA veranschaulicht werden sollte. Die Ausstellung trug den vielsagenden Titel The Passion Players of Oberammergau. Drawings by Winold Reiss. Also, Drawings from Sweden, Black Forest, Mexico and Potraits, Woodcuts and Decorations.41

Abb. 4: Winold Reiss, »Oberammergau Christus« (Anton Lang), 1922. Courtesy of Reiss Archives.

In der Radiosendung »I’m an American« sprach Anton Lang über einen sehr persönlichen emotionalen Prozess, der seiner Entscheidung, amerikanischer 41 Siehe: Mehring, The Democratic Gap, 2014, 167.

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Staatsbürger zu werden, vorausging. Anton Lang und seine Familie waren in der amerikanischen Öffentlichkeit durchaus bekannt, was sich etwa darin zeigt, dass die Geburt seiner Zwillinge im Mai 1935 der Washington Post eine Schlagzeile auf der Titelseite wert war.42 Zwei Jahre vor dieser Radiosendung kehrte Lang 1940 nach Oberammergau zurück, um den Festspielen beizuwohnen. Auch darüber wurde in der US-amerikanischen Presse anlässlich des Todes von Langs Vater berichtet, wobei ein Foto den Letzteren als Christus-Darsteller bei den Festspielen zeigte.43 Als Anton Lang naturalisiert wurde, veröffentlichte die Washington Post am 3. Januar 1940 einen Bericht samt Foto des neuen Staatsbürgers.44 Vermutlich schwang für informierte Hörer*innen der Sendung bei Langs Ausführungen über seine Empfindungen vor und bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft auch eine spirituelle Note mit: »Though I liked America from the first, it was nevertheless a solemn step to change my nationality and it took me five years to make up my mind to become a citizen. When I was sure that I wished to spend the remainder of my life in this country, and bring up my family and build my home here, I applied for my first papers. At last all formalities and steps were finished and finally the great day came. With awe and anticipation in our hearts, my wife and I went to the address where I was to take the oath of allegiance.«45

Emotionale Aspekte der Einwanderung und der Einbürgerung finden sich allerdings nicht nur bei Deutschamerikanern, sondern auch bei Interviews mit Immigrant*innen aus Skandinavien, Italien, Österreich, Russland und den baltischen Staaten. Der dänische Einwanderer William Knudsen sah in der Vorfreude auf die Verleihung der amerikanischen Staatsbürgerschaft eine Form der »Wiedergeburt«, worin er ein Alleinstellungsmerkmal der Vereinigten Staaten erkennen wollte.46 Der stete Zustrom von Einwanderern und der kontinuierliche Prozess des Aushandelns demokratischer Werte ließen die Utopie des amerikanischen Experiments näher an die gelebte Realität heranrücken. Alle Befragten waren sich einig, dass »Amerika« die demokratische Bildung und letztlich auch die eigene – hier frei entfaltbare – Kreativität fördere. Der russische Ingenieur Igor Sikorsky hob etwa hervor, dass das demokratische

42 »Twins Are Born to Anton Langs; Glacier Priest to Baptize Them«, in: The Washington Post, 31. 5. 1935, 1. 43 »Anton Lang, noted as Christus, dies; Veteran in the Oberammergau Passion Play’s Chief Role Stricken in Munich was a Potter by Trade. Family Took Part in Drama for Generations«, in: The New York Times, 19. 5. 1938, 21. 44 The Washington Post, 3. 1. 1940, 24. 45 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Anton Lang, 25. 5. 1940. 46 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit William Knudsen, 7. 9. 1940, 91.

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System selbst in Krisenzeiten Kritik an der Regierung zulassen müsse.47 Sein Einwurf, und damit seine Warnung vor einer Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten, war – angesichts des zu erwartenden Kriegseintritts 1941 – hochaktuell: »If in order to defend the Nation against an invader we should ourselves lose our essential liberties, there would be nothing left worth defending.«48 Mit diesen Worten verband er seinen persönlichen amerikanischen Patriotismus mit wohldosierter Kritik. Der aus Böhmen stammende amerikanische Anthropologe Alex Hrdlicˇka sprach in der Sendung »I’m an American« explizit unangenehme Erfahrungen vieler Einwanderer an: »[The immigrant] must prove himself before being accepted. And meanwhile he is neglected, often abused, and generally distrusted.«49 Das Gefühl, weniger anerkannt, ja abgelehnt und mitunter ungerecht behandelt zu werden, veranlasste viele Zuwanderer dazu, ihre patriotische Überzeugung und demokratische Gesinnung besonders zu betonen. Einen der ungewöhnlichsten radiophonen Auftritte in der Reihe »I’m an American« hatte der Puppenspieler Tony Sarg. Er gehörte in den USA zu den bekanntesten Persönlichkeiten mit deutschamerikanischem Hintergrund. Er konnte sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der Hörer*innen sicher sein, als er nicht im sonst üblichen nüchternen Sprechhabitus in das Interview einstieg, sondern sich mit einer exaltierten Fistelstimme als allseits bekannter und beliebter Punch vorstellte – »everybody’s old friend«, wie der Moderator versicherte.50 Sarg hatte diese Marionette mitgebracht, um in verschiedene Rollen schlüpfen zu können. Mit kindlich verstellter Stimme vergleicht »Punch« die NSInszenierungen (wie etwa die Truppenaufmärsche in Nürnberg) mit einem instrumentalisierten mechanischen Marionettentheater: »I heard them say that in some countries of the world they were making puppets out of men and women nowadays instead of wood. I heard they could make them march and salute with their arms out stiff and straight-so, the way a puppet would do it […] It sets me a shaking in every joint and string to think of it! Puppets of flesh and blood!«51

Damit kontrastiert Sarg die Bilder von entindividualisierten Menschen, die Leni Riefenstahl in Triumph des Willens (D 1935) als obrigkeitshörige, entpersonalisierte Kampfmaschinen einfing, mit der verspielten amerikanischen Unterhaltungskultur seines Marionettentheaters, das somit einen demokratischen Anstrich erhält. 47 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Igor Sikorsky, 3. 8. 1940, 71. 48 Ebd. 49 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Alex Hrdlicˇka, 20. 10. 1940, 109 und 110. 50 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Tony Sarg, 14. 9. 1940. 51 Ebd.

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Immer wieder sahen sich Einwanderer damit konfrontiert, dass ihr Bekenntnis zur amerikanischen Verfassung und zu einer demokratischen Gesellschaft infrage gestellt wurde. Ein Beispiel dafür findet sich beim US-amerikanischen Historiker Marcus Lee Hansen, der die Ansicht vertrat, dass sich die Zuwanderer nur aus eigennützigen Gründen für »amerikanische Errungenschaften« in Politik, Recht und Bürgerrechten aussprachen: »[…] the natives warmed to him and was likely to inquire whether there was not something he could do to assist him«.52 Diese sehr einseitige und negative Bewertung des politischen Engagements der Immigrant*innen greift zu kurz und ignoriert die Hindernisse und Ablehnungen, auf welche die neuen Bürger*innen in den USA stießen. Obwohl die amerikanische Identität zu Beginn des 20. Jahrhunderts – so Matthew Frye Jacobson – im Wesentlichen für eingebürgerte »Europeanness-inmigration« stand,53 beklagten sich naturalisierte Einwanderer immer wieder darüber, dass ihnen von den »angestammten« Amerikaner*innen ihre Fremdheit vor Augen geführt wurde und sie bisweilen als »exotische Kuriositäten« betrachtet wurden. Seitens der Immigrant*innen kam Kritik auf. Anton Lang etwa stellte die Art und Weise, wie in den Schulen vorbildliche staatsbürgerliche Identitäten vermittelt wurden, infrage.54 Andere, wie der tschechische Einwanderer und amerikanische Anwalt Charles Pergler, kritisierten, dass ein Mangel an Geduld und Toleranz der einheimischen Amerikaner*innen die Akkulturation der im Ausland geborenen Bürger*innen unangemessen verzögert habe.55 Man begegnete den Zuwanderern oftmals mit Herablassung und Misstrauen, während man von den neuen Bürger*innen zugleich patriotische Leistungen und moralischen Anstand einforderte. Albert Einstein wiederum machte sich zum Wortführer des Völkerbunds. In seinem Statement für »I’m an American« sprach er an, dass die USA dem Völkerbund nicht beigetreten waren. Zugleich ließ seine Definition von übertriebenem Nationalismus – »artificially created emotional state resulting from the necessity to be prepared for war« – offen, ob sich seine Aussagen ausschließlich auf totalitäre Systeme bezogen hatten. Einstein, der sich selbst als Amerikaner bezeichnete, betonte, dass es engagierter Bürger bedürfe, um im Sinne der amerikanischen Gründerväter zu handeln.56 Das Scheitern des 52 Dabei war Hansen selbst das Kind nordeuropäischer Einwanderer. Marcus Lee Hansen, The Atlantic Migration, 1607–1860: A History of the Continuing Settlement of the United States, Cambridge 1940, 78. 53 Matthew Frye Jacobson, Whiteness of a Different Color: European Immigrants and the Alchemy of Race, Cambridge 1998, 214. 54 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Anton Lang, 25. 5. 1940, 19. 55 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Charles Pergler, 1. 6. 1940, 24. 56 NBC Radio Collection der Library of Congress, Reihe »I’m an American«, Interview mit Albert Einstein, 22. 6. 1940, 45 und 46.

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Völkerbunds sei auch ein Scheitern der amerikanischen Demokraten. So zeigen viele Interviews der Reihe »I’m an American«, dass der Wunsch der Immigrant*innen, »repräsentative Amerikaner*innen« zu sein, mit einem Prozess der kritischen Reflexion über die Werte der Demokratie, den Patriotismus und das Versprechen der Gleichheit verbunden war.

Abb. 5: Albert Einstein beim Leisten des Eids anlässlich der Einbürgerungszeremonie für die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten mit Margot Einstein und Helen Dukas in Trenton, New Jersey, am 1. Oktober 1940. Leo Baeck Institute, Albert Einstein Collection AR 136.

Eine andere, zusätzlich diskriminierende Frage stellte sich im Zusammenhang mit der amerikanischen Staatszugehörigkeit, wobei hier explizit Menschen asiatischer Herkunft betroffen waren. Im Jahr 1921 verknüpfte der Kongress die Staatsbürgerschaft ausdrücklich mit der Hautfarbe. Demnach war die Hautfarbe »der Ausdruck einer gewissen Art von Zivilisation«, was wiederum mit diversen abstrusen »Wertungen« einherging. Demnach stünden die »gelbe oder bronzene Hautfarbe« für »orientalische Despotie«.57 Während der Chinese Exclusion Act 57 Ian Haney Lopez, White by Law: The Legal Construction of Race, New York 1996, 55 und 56. Die Frage nach der Situation der Afro-Amerikaner stellte sich 1921 von offizieller Seite nicht. Allerdings machte es der institutionalisierte Rassismus den Afro-Amerikanern auf oft arglistige Weise schwer, sich an Wahlen zu beteiligen. 1865 wurde die Sklaverei offiziell abge-

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von 1882 aus China stammende Immigrant*innen als eine ethnische Gruppe kennzeichnete, die von der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen werden sollte, führte die militärische Reaktion auf Japans Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 dazu, dass mehr als hunderttausend japanische Amerikaner*innen, die an der Pazifikküste lebten, evakuiert und in Internierungslager deportiert wurden. Für amerikanische Staatangehörige mit japanischen Wurzeln gestaltete sich die Situation demnach als besonders schwierig. Viele erhielten Evakuierungsbefehle, mussten ihre Arbeit aufgeben, ihre Geschäfte schließen und in sogenannte »relocation camps« übersiedeln.58 Die Fotografin Dorothea Lange dokumentierte in einer ihrer Aufnahmen den politischen Dissens eines amerikanischen Absolventen der University of California mit japanischer Abstammung. Als er gezwungen wurde, seinen Lebensmittelladen an der Ecke 13th und Franklin Street zu schließen, brachte er am 8. Dezember 1941, dem Tag nach dem Angriff auf Pearl Harbor, ein Schild mit der Aufschrift »I AM AN AMERICAN« an der Geschäftsfront an. Das Bekenntnis zur amerikanischen Staatsbürgerschaft kann also sowohl ein Ausdruck patriotischer Zustimmung zu den Zielen der Regierung sein als auch eine kritische Form patriotischer Ablehnung.59 In der Radiosendung blieben solche Zwischentöne bewusst ausgespart.

schafft und der im Juli 1868 in Kraft getretene 14. Zusatzartikel zur Verfassung ermöglichte auch Afro-Amerikanern, Bürgerrechte wahrzunehmen. Die Realität sah hingegen anders aus. Der Umstand, dass keine Afro-Amerikaner in der Radioserie »I’m an American« zu Wort kamen, ist bezeichnend für die Fortdauer rassistischer Diskriminierung vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in den amerikanischen Medien. 58 Eric Sandeen, The Japanese American Relocation Center at Heart Mountain and the Construction of the Post-World War II Landscape, in: Bak/Mehring/Roza (Hg.), Politics and Cultures of Liberation, 2018, 285. 59 Die drei Phasen, die Arnold van Gennep der Struktur von Ritualen im Sinne von »rites de passage«, »rites de separation« und »rites de marge« zugeschrieben hat, lassen sich auf die verschiedenen Phasen der Einwanderer und ihrer Initiation in die amerikanische Kultur übertragen. Erstens die Loslösung von bestehenden Verhältnissen, die durch Prozesse der Dekonstruktion und der Aufgabe alter Sitten gekennzeichnet ist. Zweitens die Phase der Transformation, die durch die Bewusstwerdung von Distanz zwischen Ursprung und Zukunft des rituellen Prozesses gekennzeichnet ist. Drittens die Phase der erfolgreichen Integration und der einheitlichen kollektiven Anerkennung. Der Prozess der Einbürgerung versinnbildlicht mehr als einen bloßen bürokratischen Akt. Er stellt einen Übergangsritus dar. Das Ritual des »Amerikanisch-Werdens« verwischt den Unterschied zwischen den in Amerika geborenen Bürger*innen und eingebürgerten Ausländer*innen. Gleichzeitig entsteht in der Wahrnehmung des naturalisierten Einwanderers ein Unterschied auf der Bewusstseinsebene über die eigenen patriotischen Pflichten und das nationale Erbe, nämlich zwischen denjenigen, die eingebürgert wurden, d. h. aktiv am Ritual der Übernahme der Pflichten und Verantwortlichkeiten eines amerikanischen Staatsbürgers teilgenommen haben, und denjenigen, die in einem passiven Sinne von Geburt an Staatsbürger waren. So ist in das Einbürgerungsritual immer schon eine vierte Phase eingeschrieben: der potenzielle Konflikt dar-

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Frank Mehring

Abb. 6: Dorothea Lange, Oakland, Calif., März 1941. Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C.

Bilanz Die Radiosendung »I’m an American« stellt eine bemerkenswerte Medienstrategie des amerikanischen Außenministeriums dar, um das emotional geprägte Bekenntnis europäischer Einwanderer zur amerikanischen Staatsbürgerschaft propagandistisch zu nutzen. »I’m an American« zeigt vordergründig, wie die Einbürgerung den Einwanderern genau jene Anerkennung offeriert, von der sie vor ihrer Immigration geträumt haben. Die Sendung produziert eine Rückkopplungsschleife zwischen den positiv konnotierten Vorstellungen der Einwanderer, »Amerikaner zu werden«, und der inszenierten radiophonen »Realität«, in der verschiedene europäische Akzente von einer erfolgreichen Inklusion künden. Der überbordende Patriotismus der intellektuellen, zumeist wohlhabenden und männlichen Einwanderer hatte jedoch unvorhergesehene Nebeneffekte, wenn sie – wenngleich vorsichtig – auf die nach wie vor bestehende über, wer das Recht hat, die Praxis der amerikanischen Demokratie zu kritisieren. Siehe: Arnold van Gennep, Rites of Passage, Chicago 1960, 2.

»My new fellow Americans!«

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Diskrepanz zwischen dem demokratischen Anspruch der Vereinigten Staaten und der Realität der gelebten Praxis hinwiesen.60 Die radiophon in Szene gesetzten »fellow Americans« unterlagen strengen Auswahlkriterien, denen bei Weitem nicht alle entsprechen konnten. Nur jene, die eine erfolgreiche Geschichte erzählen konnten und einen gewissen Bekanntheitsgrad hatten, durften sich zu ihrem amerikanischen Patriotismus bekennen. Die analytische Auseinandersetzung mit den radiophonen Erzählungen der Einwanderer, mit ihrem zugleich imaginierten und erlebten »Nervenkitzel« versteht sich als ein Beitrag im Sinne der von Emory Elliott forcierten »transnational studies«: »As Americanists, we need to listen and really hear all voices and make greater efforts to engage with colleagues from around the world, not only to share our knowledge of the United States but to learn other ways of perceiving, thinking, and behaving in the world.«61 Das Medienbeispiel der patriotischen Radiosendung »I’m an American« zeigt, dass wir als Amerikanist*innen, als Medien- und Kulturwissenschaftler*innen ein fundiertes Verständnis der politischen und ästhetischen Prämissen des Patriotismus haben müssen, um die potenziellen Rückkopplungsschleifen zu verstehen, über die das Wissen über Innen- und Außenperspektiven der US-amerikanischen Kultur vermittelt wird. So sollten die Stimmen der europäischen Einwanderer durch jene erweitert werden, die im Radioprogramm ausgeblendet blieben. Denn zur Sprache kamen vor allem intellektuelle, erfolgreiche und wohlhabende Männer europäischer Abstammung. Asiatische oder lateinamerikanische Immigrant*innen, um nur einige zu nennen, gehörten nicht zu den »fellow Americans«, denen das Medium Radio eine Bühne zur Selbstinszenierung bot.

60 Ich habe die Diskrepanz zwischen demokratischen Idealen und Praktiken in den USA als »democratic gap« (»demokratische Lücke«) bezeichnet. In meiner gleichnamigen Monografie analysiere und bewerte ich die Reaktionsmuster eingebürgerter deutscher Einwanderer, die sich nach dem »Schock« der Ankunft in den Vereinigten Staaten und der Begegnung mit gravierenden Demokratiedefiziten entwickelt haben. Anhand von sechs Kraftfeldern (Abolitionismus, Frauenemanzipation, kultureller Pluralismus, patriotische Leistungskultur, Bürgerrechtsbewegung und Holocaust-Bewusstsein) werden im Vergleich der Demokratiekritik deutscher Einwanderer und afroamerikanischer Schriftsteller die Grundprämissen transkultureller Konfrontationen und die verborgenen Motive hinter Amerikanismus-Erklärungen sichtbar. Die diskutierten Reaktionsmuster sind auch für andere Einwanderergruppen wie asiatische, arabische oder hispanische und lateinamerikanische Amerikaner*innen relevant. Siehe: Mehring, The Democratic Gap, 2014. 61 Emory Elliott, Diversity in the United States and Abroad: What Does It Mean When American Studies Is Transnational?, in: American Quarterly 59/1 (2007), 1–22, 22.

Cornelia Szabó-Knotik

Kriegsgefangene kehren heim

Vorbemerkung Die Suche nach vermissten Angehörigen und die Rückholung der Kriegsgefangenen – vor allem aus sowjetischen Lagern – war ein politisch allgegenwärtiges und auch in vielen Fällen kulturell bestimmendes Thema des Nachkriegsjahrzehnts. Publikationen, Musikstücke und auch Filme haben sich dieser Thematik angenommen.1 Die Suche nach Vermissten, die Ankündigung von Transporten und Reportagen vom Schauplatz wurden zu einem medialen Ereignis. Es war das Medium Rundfunk, das im Moment des aktuellen Ereignisses wesentlich für dessen »Übertragung« an die Bevölkerung im doppelten Wortsinn gewesen ist: Wie schon in den Jahrzehnten davor ermöglichte ein Radioapparat die ersehnte Verbindung privater Haushalte mit dem öffentlichen Ereignis. Lebenserinnerungen von Zeitzeug*innen dokumentieren diese Bedeutung noch im Nachhinein: »Jo, und dann is halt de Zeit kummen, wo ma – wo halt scho Heimkehrertransporte kummen san; und des hot für uns ghaßn, de san jedesmal im Radio bekanntgebm wurn, de Heimkehrertransporte. Des haßt, jedesmal wenn ma gwusst hom, Leit wern durchgsagt, samma aufs Kastl aufigstiegn – weil damals warn die Radioapparate so alte, große – i hob do sogar no a Bilderl, wie de Kastl ausgschaut hom, so große, mit Stoff überzogene warn de, Kastl – und da bin i dann auf de Küchnbank aufigstiegn, mitm Ohr gonz am, bei dem Apparat, damit i jo kan Namen überhör, wer halt durchgsagt wird, wer heimkommt, net …«2

1 Ein Beleg dafür ist: Bundesministerium für Inneres, Abt. 14 (Hg.), Das Buch des österreichischen Heimkehrers, Wien o. J. (1949). Zur musikalischen, literarischen bzw. filmischen Bearbeitung dieses Themas siehe u. a.: Cornelia Szabó-Knotik, Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick, in: Klaus Aringer/Christian Utz/Thomas Wozonig (Hg.), Musik im Zusammenhang. Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag, Wien 2019, 751–762. 2 Österreichische Mediathek, e13-02475_k02, Interview mit Gertrude Glinig (geb. 1940), 1. Teil, 08’45’’–09’33’’. Interview geführt am 25. 3. 2012 durch Sandra Auenhammer. Transkript nach dem Höreindruck von Cornelia Szabó-Knotik. Die Österreichische Mediathek

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Die Inszenierung dieser Ereignisse, deren Aufladung mit Gefühlen samt anschließender Kanalisierung lässt sich aus den erhaltenen Aufnahmen von Rundfunkübertragungen bzw. Wochenschaubeiträgen erschließen, die für diesen Beitrag herangezogen wurden: Der Katalog des ORF-Archivs listet eine Reportage und ein Rohband auf,3 außerdem drei rundfunkgeschichtliche Interviews mit relevanten Passagen.4 Im Bestand der Österreichischen Mediathek befinden sich auch drei thematisch einschlägige Aufnahmen, die laut Katalog älteste ist ein auf 1947 datiertes Audiofile, das allerdings, wie ein Vergleich mit Beständen des ORF-Archivs gezeigt hat, aus dem Jahr 1953 stammt5. Zusätzlich gibt es aus diesem Jahr einen Ausschnitt aus der Austria Wochenschau, zur Verfügung gestellt vom Filmarchiv Austria, das drei kurze Ausschnitte aus einschlägigen Wochenschauen in eine eigene DVD-Edition übernommen hat.6 All diese Quellen belegen die Verdrängung der Kriegsgräuel sowie die Etablierung der sogenannten »Opferthese«7 im unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnt, welche im kulturellen Gedächtnis des Landes bis in die 1980er-Jahre eine wesentliche Rolle gespielt hat.

Narrative 1953–1984–2002 Anhand unterschiedlicher Materialien (Rohschnitte, gestaltete Sendungen und Erinnerungsliteratur), die zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden sind, sollen deren Aufbau und Gehalt sowie die damit einhergehenden Bedeutungen hinterfragt und analysiert werden.

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listet allein im Online-Katalog in der Sammlung »Österreich am Wort« 33 Interviews zum Stichwort »Heimkehrer« auf. ORF-Archiv, H-783-2-3, Letzte österreichische Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft; ORF-Archiv, RXTN 786, Rohmaterial Historisches Archiv, »1. Bericht: Ankunft eines Heimkehrertransports in Wr. Neustadt«. ORF-Archiv, RXTN 84, Rohmaterial Historisches Archiv, Erstes Interview mit Hans Szuszkiewicz (1922–2006) geführt von Susanne Prunner und Reinhard Schlögl, gesendet am 11. 5. 1984 in der Sendung »60 Jahre Radio«. ORF-Archiv, RXTN 127, Erste Pensionisten-Weihnachtsfeier für dieselbe Sendung, enthält diverse Kurzinterviews mit den Anwesenden, u. a. mit dem damals als Fahrer eingesetzten Jörg Karl. ORF-Archiv, RXTN 151, Erstes Rohmaterial, Interview mit Gerhard Stappen (geb. 1925.) Interview geführt von Elisabeth Hobl-Jahn und Andre Igler, gesendet am 5. 6. 1984 in der Sendung »60 Jahre Radio«. Österreichische Mediathek, Sammlung Radio-Mitschnitte, Sign. ax-00011_b07. Hannes Leidinger/Verena Moritz/Karin Moser (Hg.), Die Österreich Box. Ein Jahrhundert Zeitgeschichte in Filmdokumenten, DVD 4, 1945–1955: Der Weg zum Staatsvertrag, Wien 2010, Track 8–10; Kurzbeschreibung (17–18) und Quellenangabe (20–21) im Booklet. Dieser zufolge verstand sich Österreich als das »erste Opfer der Hitler’schen Aggression«.

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Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist eine vom ORF im Jahr 2002 produzierte CD-Edition zum Jahr 1953,8 die neben einer Reihe prominenter Stimmen aus Österreich einen »Heimkehrer aus Wiener Neustadt« betitelten Track enthält. Ein Vergleich dieses Tracks mit dem im ORF erhaltenen Rohband verdeutlicht seine Konstruktion: Inhalt Anmoderation (Ilse Oberhofer)

CD 0’00’’– 0’07’’

ORF RXTN 7869

Bahnhof und Vorplatz Wr. Neustadt, Reportage

0’08’’– 0’18’’ 0’19’’– 0’30’’

24’16’’–24’26’’

0’31’’– 1’03’’ Arbeiterheim Wr. Neustadt, Zeit- 1’04’’– zeugen 1’09’’

0’16’’–0’27’’ 2’54’’–3’05’’ Schnitt Satzmitte; 3’21’’– 3’31’’; 0’37’’–0’45’’ 32’10’’–32’11’’; 32’18’’–32’21’’; 34’13’’– 34’45’’; 35’14’’–35’31’’

Auf den ersten Blick wird klar, dass vor allem das Ende der Reportage am Bahnhofsvorplatz – wo auf den Anfang des Rohbandes zurückgegriffen wird – sowie der Bericht aus dem Arbeiterheim stark montiert sind. Das Ergebnis sind zwei Erzählungen des Ereignisses, die sich in wesentlichen Punkten unterscheiden. Nachfolgend werden die Beiträge einander gegenübergestellt, thematische Schwerpunkte herausgearbeitet und anhand der CD aus dem Jahr 2002 gezeigt, welche Quellen der Rohfassung verwendet bzw. weggelassen wurden, um eine spezielle Deutung des »Heimkehrermythos« zu reproduzieren.

Die Darstellung des Ereignisses 1953 Zur Ausstrahlung des 1953 in Wiener Neustadt angefertigten Rohbandes gibt es zwar im Katalog des ORF-Archivs ein Datum, aber keine Angaben zum Format bzw. zur Gestaltung der Sendung.10 8 CD-Produktion des ORF: »1953 – Das Jahresjournal«, Track 11. https://shop.orf.at/fm4/de/al le-orf-artikel/oe1/179/1953-das-jahresjournal (28. 6. 2021). 9 ORF-Archiv, RXTN 786, Rohmaterial Historisches Archiv, »1. Bericht: Ankunft eines Heimkehrertransports in Wr. Neustadt«. 10 Angabe des Sendedatums 21. 10. 1953, dazu ein Vermerk gezeichnet von Michael Liensberger: »Sendedatum 21. 10. 1955«. Die Rede von Außenminister Karl Gruber (16’41’’–24’15’’) belegt die Datierung des Rohbandes unabhängig von diesem Vermerk. In der Österreichischen Mediathek befindet sich (wie bereits erwähnt) ein Audiofile mit demselben Inhalt: Österreichische Mediathek, Sammlung Radio-Mitschnitte, Sign. ax-00011_b07.

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Der Reporter leitet seinen Bericht mit einigen Fakten zum bevorstehenden Ereignis – 643 Gefangene werden erwartet, davon 22 Frauen und 1 Kind – und einer in aufgeregtem Ton gehaltenen Beschreibung der öffentlichen Aufnahme dieser Nachricht ein: »[…] nicht nur die Angehörigen haben auf diese Männer gewartet, das ganze österreichische Volk, vom Bodensee bis zum Neusiedlersee, denn man kann ruhig sagen, es ist ein nationales Ereignis, dieser heutige Tag, an dem wir alle der Erfüllung des am 26. Juni gegebenen Versprechens entgegensehen können«.11

Anschließend schildert er die aus Fotos und Dokumentationen geläufigen Szenen am Bahnhof Wiener Neustadt (in welchem seit 1947 angeblich zum 60. Mal ein solcher Transport ankommt): das stundenlange Warten der Angehörigen, das Gedränge am Bahnsteig und die ängstlichen Fragen nach dem Schicksal jener, die wieder nicht dabei zu sein scheinen. Derselbe emotionale Ausdruck und Effekt setzt sich fort, als der Reporter auf den Bahnhofsvorplatz wechselt, wo – immer wieder von begeistertem Applaus unterbrochen – Politiker Ansprachen halten. Nach einer kurzen Begrüßung durch den Vizebürgermeister der Stadt Franz Brand12 ist Bundespräsident Theodor Körner zu hören.13 Er deutet an, dass Schwierigkeiten mit der Sowjetadministration die Rückholung Gefangener immer wieder verzögert hätten. Er schließt mit einem flammenden Appell, der die Freiheit der Kriegsgefangenen mit jener des ganzen Landes gleichsetzt: »Ihre Freiheit ist ein Teil der Freiheit von Österreich, nach der wir mit jeder Faser unseres Seins uns sehnen, Ihre und eure Befreiung aber ist auch eine Tat des Friedens, die einem Lande zugutekommt, das den Frieden will und nur den Frieden halten will, weil er [sic] darin die Vorbedingung seiner Existenz sieht.«14

Im Anschluss beschreibt Außenminister Karl Gruber die Zerstörungen zu Kriegsende und betont, dass man bestrebt ist, den Heimkehrenden eine »fest gefügte Heimat« zu bieten, in die sie sich wieder einfügen können: »Der Lebensgrundsatz dieses Staates ist zu versuchen, eine Heimat für alle zu schaffen, eine Heimat auch für Euch, die ihr nunmehr beginnt, Euer Leben wiederaufzubauen. Ich gebe mir keinen [sic] Zweifel drüber hin, dass es vielleicht schwer sein wird für Euch, die Schritte in das bürgerliche Leben wieder zu tun. Aber ich hoffe, dass die Begeisterung, die Sie hier heute Abend empfangen hat, auch weiterwirken wird als eine tätige Hilfe, um Euch diesen, vielleicht auch schweren Weg zu erleichtern.«15

11 ORF-Archiv, RXTN 786, Rohmaterial, »1. Bericht: Ankunft eines Heimkehrertransports in Wr. Neustadt«, 2’10’’. 12 Ebd., 9’12’’–10’18’’. 13 Ebd., 10’18’’–15’49’’. 14 Ebd., 15’20’’–15’49’’. 15 Ebd., 18’33’’–19’5’’.

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Innenminister Oskar Helmer, der auf dieser Aufnahme ebenfalls zu hören ist, spricht ebenso vom gemeinsamen Wiederaufbau »unserer geliebten Heimat«, der mit dem Fleiß aller erreicht werden müsse. Er beendet seine Grußbotschaft mit einem Appell zum Zusammenhalt: »So grüß ich Euch, liebe Heimkehrer, namens der ganzen Heimat, – grüße ich Euch und wünsche nur, dass ihr offenen Auges durch diese Heimat geht, und dass ihr Euch einfügt, in die Armee derer, die dieses Land wiederaufbauen wollen, die unsere Heimat schöner gestalten werden […] wollen. In diesem Sinn noch einmal herzlicher Willkommensgruß!«16

In allen zitierten Reden werden letztlich der Krieg und dessen Folgen als eine über das Land und über seine – vermeintlich schuldlose – Bevölkerung gekommene Katastrophe beschrieben. Dagegen wird das Versprechen des wirtschaftlichen Aufschwungs gesetzt, der durch die ›freiheitsliebenden‹ und ›arbeitsamen‹ Österreicher*innen erreicht werden soll. Als musikalische Untermalung wirkt in diesem Teil Marschmusik, die mehrmals in Fragmenten im Hintergrund zu hören ist. An dessen Ende hingegen erklingen im akustischen Vordergrund – in Artikulation und Tempo pathetisch von einem Blasorchester vorgetragen – Ausschnitte jener beiden Hymnen, welche die beteiligten Länder symbolisieren17. Der Reporter kündigt die Fortsetzung der Ereignisse an. Am späten Abend wird er aus dem Arbeiterheim Wiener Neustadt berichten, wo die Angekommenen nun versorgt werden und Formalitäten zu erledigen haben. Dieser zweite Teil der Aufnahme spielt sich vor dem akustischen Hintergrund einer Menschenmenge ab, ein Gemurmel ist zu vernehmen. Der Reporter konzentriert sich auf die persönlichen Schicksale der Heimkehrer. Des Weiteren spricht er mit den Männern über eine für die einstigen Kriegsgefangenen durchgeführte Aktion, die diesen ermöglicht hatte, Postkarten an Angehörige zu schicken und umgekehrt Hilfspakete zu bekommen. Als federführender Akteur dieser Kampagne kommt Rudolf Berdach18 alias »Onkel Rudi« ausführlich zu Wort und erklärt dabei unter anderem: »Wir haben uns immer vorgestellt, dass die [sic] armen Österreicher [sic], die so lange draußen bleiben mussten in der Gefangenschaft, und von denen wir wussten, dass sie kollektivistisch verurteilt wurden, ohne dass uns die Gründe der Verurteilung bekannt gegeben wurden, in ihrer Not, in ihrer physischen, auch seelischen Not, unbedingt zu 16 Ebd., 18’33’’–19’5’’. 17 Ebd., 24’15’’–24’23’’ (österreichische Hymne), 25’26’’–26’26’’ (sowjetische Hymne). 18 Rudolf Berdach, Festschrift anläßlich der Gründung einer Stiftung für in Not befindliche ehemalige österreichische Kriegsgefangene, Wien 1978. In diesem Band wird Rudolf Berdach als ehemaliger Leiter der Abteilung 14 des Bundesministeriums für Inneres während der Zeit von 1946 bis 1955 ausgewiesen. Vgl. dazu auch: Österreichische Behörden. Ergänzungen zur Ausgabe 1948, Wien 1948, 11.

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helfen war, sie mussten das Gefühl bekommen draußen, dass sie hier nicht verlassen sind. Und auch ihre Angehörigen hier mussten durch unser Beispiel, durch unsere Hilfsbereitschaft das Gefühl haben, dass sie nicht alleinstehen. Und wir haben jetzt nach zweijähriger Arbeit über die Fürsorge, Lebensmittelpaketaktion usw. wirklich gesehen, dass wir den richtigen Weg gegangen sind. Und hier haben wir einige Kameraden, die mir geschrieben haben persönlich, haben sie hier um mich versammelt […].«19

Auch Rudolf Berdach verstärkt die Erzählung von am Krieg schuldloser, in Mitleidenschaft gezogener Menschen. Er betont aber auch, dass die Hilfsaktion Betroffenen aus dem gesamten deutschen Sprachraum gegolten hatte, d. h. auch ›Sudetendeutschen‹ und ›Reichsdeutschen‹. Er erklärt, dass er glücklich sei, Menschen helfen zu können.20 Immer wieder sind Statements von vier Heimkehrern zu hören, deren emotionale Betroffenheit sich dabei bis heute vermittelt. Für das zeitgenössische Publikum wird diese emotionale Beteiligung wohl noch viel stärker gewesen sein. Herr Kratochwil aus dem Sudetenland etwa erläutert, dass er durch diese Hilfsaktion mit seiner Frau in Kontakt treten konnte.21 Stefan Edlen (Eglen?) aus Salzburg22 beschreibt ausführlich, wie diese Aktion aus Sicht der Kriegsgefangenen abgelaufen ist: Pakete wurden mit Lkws geliefert, registriert und schließlich auf einer Liste veröffentlicht, wobei auf dieser auch die Herkunftsadresse (privat oder Organisation) vermerkt war. Bei der Ausgabestelle habe man die Pakete durchsucht, die Konserven aber vorerst zurückbehalten. Erst bei Bedarf wollte man diese verwenden. Die Gaben hätten letztlich beträchtliche Freude ausgelöst und wären eine große, nicht nur physische, sondern auch psychische Hilfe gewesen. Stefan Edlen selbst habe durchschnittlich einoder zweimal pro Monat eine solche Zusendung erhalten. Franz Joseph Deissl aus Mauthausen gibt an, zuletzt 1944 zu Hause gewesen zu sein und erzählt eine halbe Minute lang, wie er das Warten und das Einlangen von Post erlebt hat: Die Korrespondenzmöglichkeiten hätten an den schlechten Transportbedingungen der Post gelitten, trotzdem sei monatlich eine Karte eingetroffen. Der Reporter zeigt bei diesem Interviewpartner eine gewisse Ungeduld mit den stockenden Worten des Mannes und spricht diesem immer wieder Sätze vor.23 Am Ende kommt Dr. Erhard Prohaska aus Iglau zu Wort. Er erzählt, dass er seit zehn Jahren nicht mehr zu Hause war und dass er seine Frau und sein Kind im Krieg verloren hat. Allerdings habe er noch drei Schwestern, die in Linz und in Eisenstadt leben. Zwei hätten ihn vom Bahnhof abgeholt, die dritte Schwester sei am Radioapparat mit dabei gewesen. »Das«, so unterbricht der Reporter, sei ja 19 ORF-Archiv, RXTN 786, Rohmaterial, »1. Bericht: Ankunft eines Heimkehrertransports in Wr. Neustadt«, 28’45’’–29’41’’. 20 Ebd., 29’48’’. 21 Ebd., 31’40’’. 22 Ebd., 32’23’’. 23 Ebd., 34’48’’.

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»besser als nix!« Prohaska fährt fort: Das erste Paket aus Wien sei eine große Freude gewesen, weil er damit nicht gerechnet hatte.24 Er habe Pakete vom Innenministerium und von der Stadt Wien erhalten und wisse auch, wo er jetzt hingehöre. Der Leiter der Paket- und Postaktion, Rudolf Berdach, macht schließlich noch darauf aufmerksam, dass die Kriegsgefangenen-Fürsorgereferate der Landesregierungen sich auch weiterhin um die Anliegen der Heimkehrer bemühen werden. Nach der Rückkehr der Männer werden deren Bedürfnisse individuell erhoben, und es werde entsprechend geholfen, etwa mit Wohnungen. Der Reporter gibt abschließend die Abfahrts- bzw. Ankunftszeiten für die Weiterreise in die Bundesländer bekannt und weist noch darauf hin, dass die Caritas die Heimkehrer mit Getränken versorgt.25 Somit gibt es in diesem »1. Bericht: Ankunft eines Heimkehrertransports in Wr. Neustadt« zwei zentrale Themen: die Ankunft des Transports und die positiven Auswirkungen der Kriegsgefangenen-Fürsorge.

Die Erzählung im Jahr 2002 Der Text des entsprechenden Tracks im Vergleich mit den Rohdaten ist zunächst inhaltlich nicht sehr verschieden. Die nachfolgenden Transkriptionen und Zeitangaben geben den Inhalt auf der CD »1953 – Das Jahresjournal« (Track 11) wieder.26 Zugleich wird mit »Rohschnitt RTXN« jeweils darauf verwiesen, welche Teile der Rohfassung hier an welcher Stelle entnommen sind: 0’00’’–0’18’’ Sprecherin (Ilse Oberhofer): »Und ganz überraschend trifft der schon sehnlichst erwartete Heimkehrerzug aus der Sowjetunion – endlich – in Wiener Neustadt ein.« Applaus, Einsatz Bundeshymne, Blechbläser, Applaus Fade-out; Ende erste Verszeile (»Land am Strome«) darüber Reporterstimme (enthusiastisch, wie ein Sportreporter): 0’20’’: »Ganz überraschend, ist heute Mittag die Mitteilung gekommen, dass der so lange erwartete Heimkehrertransport aus der Sowjetunion nun endlich (Fade-out Hymne 0’28’’) in Wiener Neustadt eintreffen soll.« 0’31’’: Reporterstimme, schwache Klangkulisse hinten und Tonfall nüchterner: »[…] ganz langsam, zögernd nur, kommen die Heimkehrer aus den Wagen, schon werden sie auch von anderen bestürmt, mit Bildern, ob sie nicht vielleicht Kenntnis haben, von dem einen oder dem anderen.« = »Rohschnitt RTXN« 2’54’’–3’05’’: Schnitt mitten im Satz; Fortsetzung hier (bis 3’20’’): »[…] der – gleich den vielen, die hier sind – noch kein Lebenszeichen geben 24 Ebd., 36’28’’. 25 Die Abmoderation erfolgt ebd., 40’30’’. 26 Transkription Cornelia Szabó-Knotik. Die in runde Klammern gesetzten Kommentare dienen per Zeitangaben der folgenden vergleichenden Analyse mit den zugrunde liegenden Originalaufnahmen.

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konnte, denn viele sind ja noch ausständig, auf viele warten wir ja noch, und wir werden immer hierherkommen, wenn – so hoffen wir – ein Transport einrollen wird.« »Es ist dies heute der 60. Transport, der seit dem Jahr 1947 hier in Wr. Neustadt auf dem Bahnhof einrollt.« = »Rohschnitt RXTN«, 3’21–3’31’’: Fortsetzung hier (bis 3’36’’): »Noch immer sind es nicht alle, aber wir hoffen, sie bald alle in der Heimat zu haben.« »[…] Langsam steigen sie jetzt aus den Zügen, die Männer, die so lange nicht die heimatliche Luft geatmet haben.« = »Rohschnitt RXTN« 0’37’’–0’45’’: Fortsetzung hier (bis 4’10’’): »[…] und draußen, auf dem Hauptplatz, werden sie dann offiziell begrüßt. Hier auf dem Perron hat sich schon der Bundespräsident eingefunden, dann habe ich […] Bundesminister Dr. Gruber in Vertretung von Bundeskanzler Ing. Raab gesehen, Staatssekretär Graf und andere prominente Gäste, die draußen auf dem Hauptplatz den ganzen Transport nochmals offiziell begrüßen werden.«

Das Anstimmen der österreichischen Bundeshymne (erste Verszeile) samt Applaus folgt ursprünglich (wie zuvor erwähnt) der Rede von Innenminister Oskar Helmer. Die Schilderung des Reporters vom Beginn der Rohdaten ist darübergelegt. Der Track aus dem Jahr 2002 folgt hier über weite Strecken dem Original. Viel größer sind die Unterschiede im zweiten Teil erkennbar. Denn 2002 fehlen alle Statements zur Hilfsaktion. Die Interviews mit den Heimkehrern vermitteln nach deren jeweiliger Namensnennung nur noch drei Aspekte: ihre Ergriffenheit (HK 2), ihre lange Abwesenheit (HK 2 und 3) und zuletzt den Verlust der Familie im Krieg (HK 3), wobei der Schnitt besonders diese letzte Aussage umdeutet: Während Erhard Prohaska im Original mit der hoffnungsfrohen Aussicht endet, seine drei Schwestern wiederzusehen, wird hier seine Trauer ohne Perspektive absolut gesetzt: 1’04’’: Reporter: »So, und jetzt möchte ich eigentlich einmal wissen, wie das war«. Heimkehrer 1 (= HK 1): »Ahhh, wollt erst mal sagen, Edlen? (Eglen?) Stefan, Salzburg …« Heimkehrer 2: »Na, i kann net reden.« (verlegenes Auflachen) Reporter: »Warum denn net, wie heißens denn?« 1’14’’: Heimkehrer 2: »Franz Deissl, Salzburg, Franz Joseph.« 1’16’’: Reporter: »Von wo denn?« HK 2 (räuspernd): »Mauthausen.« Rückfrage Reporter: »Von Mauthausen?« HK 2: »Mauthausen, ja!« 1’19’’: Reporter: »Und, warum kennans net reden?« 1’21’’ HK 2: »Naja …« Reporter: »Es hat Ihnen die Red verschlagen, net?« Über das »Ja« von HK 2 spricht der Reporter: »Des kann i ma vorstellen, und wie lang warens nicht zu Hause?« 1’27’’: HK 2: »Bitte?« Reporter wiederholt: »Wie lange waren Sie nicht zu Hause?« 1’29’’: HK 2 (gefasst, deutlich): »Wie lange war ich nicht zu Hause? Ich war das letzte Mal zu Hause […] in […] 44.« Reporter: »Im 44er Jahr?« Redet weiter über die bestätigende Antwort von HK 2: »Neun Jahre ist es jetzt her, dass Sie nicht mehr zu Hause waren?«

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1’41’’: Heimkehrer 3 (besonders klar und deutlich): »Dr. Prohaska Erhard.« Reporter: »Von wo denn?« HK 3: »Gebürtig aus Iglau.« Reporter: »Aus Iglau?« HK 3: »Ja!« 1’47’’: Reporter: »Und, wie lange waren Sie nicht zu Haus?« (Hintergrund Einsatz Musik) 1’50’’: HK 3: »10 Jahre sinds.« Reporter: »10 Jahre sind es her. Und haben Sie Verbindung mit Ihren Angehörigen?« HK 3 (nüchtern): »Meine allernächsten Angehörigen, die Frau und die Kinder, hab ich durch den Krieg verloren.«

Erinnerungen beteiligter Rundfunkakteure 1984 Die Statements von damaligen Akteuren des Rundfunks ergänzen den hier geworfenen Blick auf die im Lauf der Jahrzehnte veränderte Perspektive, unter der das Ereignis der Heimkehr vermisster Angehöriger aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft jeweils gesehen wird. Wenige überlieferte Aufnahmen verweisen darauf, wie die Radiomacher auf die Begegnungen mit Heimkehrern und Angehörigen reagierten, welche Erinnerungen sie Jahrzehnte später noch damit verbanden. Der als Reporter tätige Hans Szuszkiewicz erzählt in einem Interview des Jahres 1984, wie er die Heimkehr der Kriegsgefangenen im Jahr 1947 in Wiener Neustadt erlebt hat. Er berichtet von Schwierigkeiten, am Bahnhof durchzukommen. Deshalb wurde die Übertragung in einer Wärmestube fortgesetzt, wobei die handschriftlichen Zettel mit den Namen der Anwesenden oft kaum leserlich waren. Dabei wiederholt er, wie auch an anderen Stellen, nahezu wortgleich seine 1963 gedruckten Erinnerungen27 und wendet den Begriff »Heimkehr« auch auf prominente, von ihm interviewte Rückkehrer aus der Emigration an: »Dann war die Zeit der großen Heimkehr. Viele Emigranten, die nach 38 weg sind, kamen dann zurück: Künstler, Wissenschaftler: ich muss sagen, meine Mutter war sehr musik- und kunstinteressiert, ich bin daher aufgewachsen mit Namen, die meinen vielen andren Kollegen nichts so gesagt haben, weil sie zu jung waren und vielleicht niemals gehört haben, wer die Jeritza war, oder wer der Ernst Deutsch war, der Oskar Karlweis, der Hermann Leopoldi, der Ralph Benatzky [beginnt mit längeren Nachdenkpausen und stockender ab Leopoldi], der - - - , andere bedeutende Komponisten zum Beispiel wie Robert Stolz, Edmund Eysler, die hab ich alle gekannt dem Namen nach zumindest […]«.28

27 Hans Szuszkiewicz, Reporter war … 10 Jahre Österreichischer Rundfunk 1945–1955, Wien 1963. 28 ORF-Archiv, RXTN 84, »Erstes Interview mit Hans Szuszkiewicz geführt von Susanne Prunner und Reinhard Schlögl«, gesendet 11. 5. 1984 in der Sendung »60 Jahre Radio«, 10’12’’–11’42’’. Szuszkiewicz hat u. a. auch Emmerich Kálmán, Cissy Kraner und Hugo Wiener interviewt. Siehe auch: Szuszkiewicz, Reporter war …, 1963, 33.

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Cornelia Szabó-Knotik

Gerhard Stappen, Journalist und später Leiter der Abteilung »Zeitfunk« beim Sender Rot-Weiß-Rot, erinnert sich hauptsächlich an seine mit diesen Ereignissen verbundenen Gefühle: »Ich war dann später sehr oft, da war ich schon Abteilungsleiter, waren wir dann in Wiener Neustadt und haben diese Kriegsgefangenen empfangen. Das war damals eine sehr wichtige Sendung und war keineswegs eine sehr leichte Sendung, weils eigentlich immer sehr traurig war, net, und als Reporter muss man doch irgendwie die Haltung bewahren und, und, und muss versuchen, sachlich zu bleiben, damit die Leute halt wissen, worums geht.«29

Und ein Erinnerungsbeitrag findet sich noch: Jörg Karl, in den frühen 1950erJahren als Verbindungsfahrer für das Wiener Rundfunkstudio tätig, beschreibt in einem Interview, wie die Namen der Heimkehrer noch auf dem Rückweg durchgegeben wurden, weil damals »kein Funk« vorhanden gewesen sei und man ansonsten oft tagelang auf Nachrichten aus Wiener Neustadt gewartet habe.30

Ausblick Im Beitrag wurde gezeigt, wie unterschiedlich eine Rundfunkaufnahme arrangiert werden kann und wie sich dadurch die Sichtweise auf ein Ereignis verschieben kann. Mit der Berücksichtigung von Wochenschauberichten und gedruckten Quellen zur Thematik könnten noch weitere Aspekte herausgearbeitet werden: – Beginnend mit Reflexionen auf die Art der Sprechweise und den Redefluss der Reporter und der Befragten sind Rückschlüsse auf heikle Punkte möglich, markiert durch Zögern, Räuspern, Wiederholungen, Versprecher. – Weiters kann daran die Sichtweise auf Geschlechterunterschiede und die Verstärkung von Rollenzuschreibungen mittels Rundfunk in den Blick genommen werden – wie in der Reportage erwähnt, sind »sogar Töchter« und Kinder unter den Heimkehrenden,31 beide werden aber nicht weiter in die Erzählung aufgenommen (auch in den Bildquellen sind Frauen immer Trägerinnen von Emotionen – banges Warten, Tränen, Erleichterung, Trauer –, aber nicht Teil der Heimkehrer selbst).

29 ORF-Archiv, RXTN 151, »Erstes Rohmaterial Interview mit Gerhard Stappen geführt von Elisabeth Hobl-Jahn und Andre Igler«, gesendet 5. 6. 1984 in der Sendung »60 Jahre Radio«, RXTN, 14’51’’–14’57’’. 30 ORF-Archiv, RXTN 127, »Erste Pensionisten-Weihnachtsfeier, diverse Kurzinterviews mit den Anwesenden zu 60 Jahre Radio«, 41’40’’–41’45’’. 31 ORF-Archiv, RXTN 786, Rohmaterial Historisches Archiv, »1. Bericht: Ankunft eines Heimkehrertransports in Wr. Neustadt«, 1’41’’.

Kriegsgefangene kehren heim

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– Die Konstruktion von Heimat findet in den Quellen immer wieder statt. Auch der »Opfermythos« wird bedient. Hier wäre eine Kontextualisierung mit weiteren Quellen ergiebig. – Und zuletzt finden sich Spuren einer Konstruktion von (Volks-)Gemeinschaft. Auch hier ließen sich mit weiteren Quellenformaten tiefergehende Analysen erarbeiten.

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Die Zukunft, Boogie-Woogie und das Wienerlied im Sender Rot-Weiß-Rot: ein Fallbeispiel

Die alliierten Befreiungsmächte kontrollierten in der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1955 den österreichischen Rundfunk. Evelyn Steinthaler schreibt in ihrem Artikel auf der Website des Wienmuseums mit dem Titel Radiosender ab 1945, dass das Medium Radio in Deutschland und Österreich »eine zentrale Rolle in der politischen Umerziehung« spielte und dabei gleichzeitig zunehmend zum Schauplatz des Kampfes um ideologische Einflussnahme im sich anbahnenden Kalten Krieg wurde.1 Ausgehend von diesem Befund, möchte ich in diesem Artikel exemplarisch anhand eines Ausschnitts einer damaligen Kabarettsendung, welche vom Sender Rot-Weiß-Rot produziert und gesendet wurde, untersuchen, wie die ungewisse Zukunft der jungen Republik mithilfe von Musik in den 1950er-Jahren – noch vor Unterzeichnung des Staatsvertrags – thematisiert wurde. Hierfür kommt das im Forschungsprojekt Telling Sounds2 entwickelte Software-Analyse-Tool LAMA (Linked Annotations for Media Analysis) zur Anwendung. Zur besseren Einordnung dieses Einzelbeispiels möchte ich vor der Detailanalyse des Kabarettstücks auf Basis bisheriger Forschungen das Konkurrenzverhältnis zwischen der von der amerikanischen Militärverwaltung gegründeten Sendergruppe Rot-Weiß-Rot und der von den Sowjets kontrollierten RAVAG nachskizzieren und bisherige Erkenntnisse zur Rolle von Musik in der Programmgestaltung darlegen. Dies soll auch verdeutlichen, welches Potenzial (und welche Grenzen) die digitale Verfügbarkeit damaliger Radiosendungen – wie sie etwa von der Österreichischen Mediathek seit einigen Jahren bereitgestellt werden – für die weitere Erforschung dieser Zeit hat.

1 Evelyn Steinthaler, Radiosender ab 1945. Der Kalte Krieg der Worte, https://magazin.wienmu seum.at/radiosender-ab-1945/ (11. 9. 2021). 2 https://www.mdw.ac.at/imi/tellingsounds/ (11. 9. 2021).

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Die Konkurrenz zwischen der RAVAG und Rot-Weiß-Rot Die Radiolandschaft in Österreich zwischen 1945 und 1955 ist Gegenstand mehrerer zeit- und kulturhistorischer Untersuchungen.3 Die in solchen Untersuchungen dargelegten Informationen über Ziele und Absichten der Programmierung in der von den Sowjets kontrollierten (aber prinzipiell von der österreichischen Regierung verwalteten) RAVAG bzw. in der von amerikanischer Seite als Gegenpart gegründeten Sendegruppe Rot-Weiß-Rot stützen sich mehrheitlich auf schriftliche Quellen: z. B. persönliche Aufzeichnungen und Briefverkehr der damaligen Akteur*innen, offizielle Berichte gegenüber Vorgesetzen, öffentliche Statements zur Programmierung in der damaligen Presse und nicht zuletzt das darin abgedruckte Radioprogramm. Zusammenfassend lässt sich sowohl auf sowjetischer als auch auf amerikanischer Seite ein Wandel von ›politscher Umerziehung‹ im Sinne expliziter Auseinandersetzung mit und Angriffe auf nationalsozialistische Ideologien hin zur ideologischen Einflussnahme im Kontext des Kalten Kriegs feststellen.4 Die ›politische Umerziehung‹ bestand bei den Sowjets insbesondere darin, durch die Präsentation von russischer Literatur und Musik das durch die antikommunistische NS-Propaganda in der österreichischen Gesellschaft weitverbreitete Feindbild des russischen bzw. bolschewistischen ›Untermenschen‹ zu revidieren.5 Auf amerikanischer Seite sollten hingegen zunächst durch Sendungen, in denen tagespolitische Themen aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert wurden, aber auch durch ein an jeweils unterschiedliche Zielgruppen gerichtetes Spartenprogramm demokratische Werte im Rundfunk vorgelebt werden.6

3 Christine Ehardt, Radiobilder. Eine Kulturgeschichte des Radios in Österreich, Göttingen 2020; Joseph McVeigh, ›Ohne dass der Hörer kapiert …‹ Der Sender Rot-Weiß-Rot im Kalten Krieg, in: Michael Hansel (Hg.), Kalter Krieg in Österreich. Literatur – Kunst – Kultur, Wien 2010, 265–279; Karin Moser, Propaganda und Gegenpropaganda. Das ›kalte‹ Wechselspiel während der alliierten Besatzung in Österreich, in: Medien & Zeit 1 (2002), 27–42; Wolfgang Pensold, Zur Geschichte des Rundfunks in Österreich. Programm für die Nation, Wiesbaden 2018; Oliver Rathkolb, Politische Propaganda der amerikanischen Besatzungsmacht in Österreich 1945 bis 1950. Ein Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges in der Presse-, Kultur- und Rundfunkpolitik, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1982; Andreas Ulrich, Modernes Radio? US-amerikanische Rundfunkpolitik in Österreich (1945–1955) am Beispiel der Sendergruppe ›Rot-Weiß-Rot‹ Studio Wien, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 1993; Reinhold Wagnleiter, Coca-Colonization and the Cold War. The Cultural Mission of the United States in Austria after the Second World War, Chapel Hill/London 1994. 4 Vgl. Rathkolb, Politische Propaganda, 1982, 449. 5 Vgl. Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 96; vgl. Rathkolb, Politische Propaganda, 1982, 534. 6 Vgl. McVeigh, ›Ohne dass der Hörer kapiert …‹, 2010, 268–271. Rathkolb, Politische Propaganda, 1982, 445–446.

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Die zunehmende ideologische Einflussnahme in Bezug auf den Kalten Krieg beschränkte sich auf sowjetischer wie amerikanischer Seite im Wesentlichen darauf, der befürchteten Propaganda des Gegners zuvorzukommen. Dies äußerte sich auch darin, dass beide Seiten vor allem darum bemüht waren, einen möglichst großen Kreis an Hörer*innen zu erreichen und gleichzeitig diese vom Sender des anderen fernzuhalten. Wie aus damaligen Hörer*innenumfragen des Wiener Radiopublikums hervorgeht, dürfte Rot-Weiß-Rot in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre beim Publikum deutlich beliebter gewesen sein.7 Dies wird auf eine modernere, kommerziell orientierte Gestaltung des Programms bei RotWeiß-Rot zurückgeführt. Es wurden weniger US-amerikanische Inhalte gesendet als vielmehr in den USA bereits etablierte Unterhaltungsformate, wie etwa Quizsendungen oder »Die Radiofamilie«, für das österreichische Publikum adaptiert. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche junge Österreicher*innen als Sendungsgestalter*innen und Moderator*innen von Rot-Weiß-Rot angestellt.8 Bei der RAVAG beschränkte sich der sowjetische Programmeinfluss auf die tägliche Sendung »Die Russische Stunde« und die Nachrichten. Diese beiden Formate reichten jedoch bereits aus, damit die RAVAG in der Öffentlichkeit als ›Russensender‹ wahrgenommen wurde, obwohl auch dort österreichische Mitarbeiter*innen wesentlich an der Programmgestaltung beteiligt waren.9 In der RAVAG wurden auch in den leitenden Positionen Mitarbeiter*innen eingesetzt, die bereits vor dem ›Anschluss‹ beim Sender Programmverantwortung hatten, etwa Rudolf Henz als Programmdirektor, der in den 1930er-Jahren sowohl austrofaschistischer Politiker als auch Funktionär in der Vaterländischen Front gewesen war. Die Personalverantwortung der RAVAG lag – trotz sowjetischer Aufsicht – bei den österreichischen Regierungsparteien, die den Rundfunk weiterhin als Sprachrohr für die eigene Politik verstanden.10 Die Gründung der Sendergruppe Rot-Weiß-Rot durch die amerikanische Besatzung ist nicht nur als Gegengewicht zur sowjetischen Besatzung entstanden, sondern – im Sinne des Ziels der Demokratisierung – zur Schaffung eines Rundfunks, der frei von der Regierungskontrolle operieren konnte.11 Dass dies eine Gestaltung des Programms nach kommerziellen Gesichtspunkten bedeutete, ist wiederum als Teil der amerikanischen, kapitalistischen Ideologie zu verstehen.12 Wolfgang Pensold machte den Einfluss der Radioapparat-Industrie deutlich: Das Schaffen einer Konkurrenzsituation mehrerer Sender sowie ein möglichst tagfüllendes Radioprogramm stellten einen guten Anreiz dar, um neue 7 8 9 10 11 12

Vgl. Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 98; Wagnleiter, Coca-Colonization, 1993, 115. Vgl. Wagnleiter, Coca-Colonization, 1994, 111–112. Vgl. Rathkolb, Politische Propaganda, 1982, 534. Vgl. Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 99. McVeigh, ›Ohne dass der Hörer kapiert …‹, 2010, 270. Ulrich, Modernes Radio, 1993, 76; Wagnleiter, Coca-Colonization, 1993, 111.

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Produkte und deren erweiterte Funktionen – etwa Apparate, deren Frequenz verstellt werden konnte oder die tragbar waren – zu verkaufen.13 Trotz der schwierigen Quellensituation zu den konkreten Programminhalten stellt Andreas Ulrich in seiner Diplomarbeit aus dem Jahr 1993 fest, dass das Programm von Rot-Weiß-Rot zu zwei Dritteln aus Musiksendungen bestand. Etwas pauschal zählt Ulrich diese zu den unpolitischen Inhalten des Senders.14 Obwohl ihm insofern zuzustimmen ist, dass kaum zu erwarten ist, dass in Musiksendungen explizite politische Inhalte kommuniziert wurden, machen in zeitgenössischen Zeitungsartikeln abgedruckte Äußerungen von Programmverantwortlichen der RAVAG wie auch Interviews mit Zeitzeug*innen deutlich, dass die Frage, welche Musik im Radio gespielt wurde, keineswegs eine unpolitische war.

Unpolitische Musik? Rudolf Henz, der damalige Programmdirektor der RAVAG, erklärte 1950 in der Zeitschrift Radio Wien, das Radio dürfe dem Bedürfnis der Hörer*innenschaft nach »leichter Kulturware« nicht nachgeben, was wohl eine implizierte Abgrenzung zu Rot-Weiß-Rot darstellt. Zudem bekannte der Direktor: »Die hohe Kunst wird wieder im Zentrum unserer Programme stehen, das sind wir Wien und Österreich schuldig.«15 Bei der Auswertung des Programms der RAVAG stellt Pensold jedoch fest, dass die musikbezogenen Sendungen nur zu einem Drittel der ernsten Musik und zu zwei Dritteln der Unterhaltungsmusik zugerechnet werden können.16 Als entscheidenderes Kriterium der Programmierung als die Zugehörigkeit zur Hochkultur macht Christine Ehardt einen »nationalen Grundton« aus, der sich durchaus auch in den Unterhaltungsprogrammen der RAVAG bemerkbar machte: Neben der bis in die 1980er-Jahre weiter bestehenden Quizsendung »Was gibt es Neues in Wien?« sind hier die Musiksendungen »Das fidele Brettl« und »Wien bleibt Wien« zu nennen, die laut Programmdirektor Henz die Aufgabe hatten »das alte wienerische Erbe zu erhalten«.17 Die Bemühungen um den »nationalen Grundton« des Programms sind einerseits als Gegenreaktion auf das öffentliche Image – der ›Russensender‹ zu sein – zu verstehen. Andererseits kommt in der bewahrenden Haltung eine Abwehr gegenüber der zunehmenden Verbreitung amerikanischer Unterhal13 14 15 16 17

Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 108. Ulrich, Modernes Radio, 1993, 79. Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 108. Ebd., 109. Ehardt, Radiobilder, 2020, 136.

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tungskultur, mit welcher der Sender Rot-Weiß-Rot assoziiert wurde, zum Ausdruck. Trotz der amerikanischen Bemühungen, amerikanische Formate für das österreichische Publikum zu adaptieren, vermittelte der Sender, wie etwa Wolfgang Pensold schreibt, den American Way of Life und »das Versprechen von Freiheit und Wohlstand«.18 Hierbei wird der Musik eine besondere Rolle zugesprochen, wie auch der Historiker und Zeitzeuge Gerhard Jagschitz in einem Interview über den Rundfunk in der Besatzungszeit für die Österreichische Mediathek erklärt.19 In einem weiteren Interviewabschnitt betont Jagschitz die Bedeutung des Senders für die Verbreitung von Jazz in Österreich, wodurch sich zunächst eine Jugendkultur herausgebildet habe, aus der sich eine Spaltung der Gesellschaft in Anhänger*innen von Hoch- und Alltagskultur entwickelte.20 Während Wolfgang Pensold im Hören »der in der Generation der Eltern verpönten Swingmusik« einen »Widerstandgeist [der Jugend] gegen das Überkommene und ein Gefühl von wiedergewonnener Lebenslust« vermittelt sieht,21 schränkt Jagschitz ein, dass hierbei Protest noch keine große Rolle gespielt habe, aber als Reaktion auf die zunehmend elitärer werdende Hochkultur »Jazzkultur zu einer breiten Schlagerkultur« wurde.22 Dieser Befund von Jagschitz deckt sich auch mit einer früheren Studie von Kurt Luger über das Entstehen von Jugendkulturen in der Nachkriegszeit, wonach nur ein sehr geringer Anteil der Jugendlichen in Österreich in den (späten) 1950er-Jahren Rock ’n’ Roll derart zu einem Bestandteil ihrer Lebensweise machte und dies deshalb nicht Rebellion oder Protest gegenüber der Elterngeneration symbolisieren hätte können. Für die Mittelklassejugend seien Rock ’n’ Roll und amerikanische Unterhaltungsmusik vor allem ein Ausdruck von Spaß als wichtiger Bestandteil der aufkommenden Konsumkultur gewesen.23 Die Beliebtheit amerikanischer Musik – und der Unterhaltungskultur insgesamt – bei der Jugend war ein wesentlicher Faktor in der amerikanischen Strategie, die österreichische Gesellschaft und ihre alten Strukturen auf eine moderne Konsumgesellschaft umzustellen.24 Wenn auch amerikanische Musik als offene Protestform der nächsten Generation gegenüber den Eltern und deren Nazivergangenheit von den meisten ge18 Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 110. 19 Interviewausschnitt Gerhard Jagschitz, Rundfunk in der Besatzungszeit, https://www.media thek.at/atom/13307244-06D-00102-000006B0-132FA736/ (11. 9. 2021). 20 Interviewausschnitt Gerhard Jagschitz, Gerhard Jagschitz zur Musik, https://www.mediathe k.at/atom/15BCFBF7-20B-00056-00000B28-15BC4BC7/ (11. 9. 2021). 21 Pensold, Geschichte des Rundfunks, 2018, 110. 22 Interviewausschnitt Jagschitz, Jagschitz zur Musik. 23 Kurt Luger, Die konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur 1945–1990, Wien 1991, 108–110. 24 Edward Larkey, Cultural Policies toward Popular Music. The Orphanization of the Wienerlied in the 1950s, in: Modern Austrian Literature 30/1 (1997), 74; Wagnleiter, Coca-Colonization, 1994, 109–111.

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nannten Autor*innen eher bezweifelt wird, so wird ihr doch eine aktive Rolle in der Entwicklung der österreichischen Nachkriegsgesellschaft zugesprochen. Der Erfolg amerikanischer Musik – vor 1955 kann es sich genau genommen nur um die Vorläufer des Rock ’n’ Roll handeln – bei der österreichischen Jugend wird dabei mit dem Erfolg des Senders Rot-Weiß-Rot in engen Zusammenhang gebracht. Nun gibt Gerhard Jagschitz in seinem Interview aus dem Jahr 2005 zu bedenken, dass man – aufgrund der schwierigen Quellenlage – nicht mehr genau sagen könne, was im Detail im Radio gespielt wurde. Auch in der schon zitierten Diplomarbeit Ulrichs, der die Programme bis 1950 auswertete, lassen sich zwar Sendeformate nach ihrer Zugehörigkeit zum Unterhaltungssektor oder ihrem Bildungsauftrag einordnen, es finden sich jedoch keine detaillierten Sendeinhalte, die Aufschluss darüber geben würden, welche Musik gespielt wurde und wie diese kontextualisiert war. Ulrich kommt aufgrund seiner Programmauswertungen trotzdem zu dem angesichts der obigen Ausführungen über den Erfolg amerikanischer Musik erstaunlichen Schluss, dass Jazz nur einen äußerst geringen Anteil an den Unterhaltungsprogrammen bei Rot-Weiß-Rot ausmachte.25

Quellenlage und Auswahl Da die meisten der damaligen Sendungen im Radio live gesendet und nur sporadisch mitgeschnitten wurden, ist es unmöglich, detaillierte Aussagen darüber zu treffen, welche Musik von Rot-Weiß-Rot gespielt wurde. Trotzdem stehen mittlerweile zahlreiche Bänder des mitgeschnittenen Materials bzw. Rohmaterials von Rot-Weiß-Rot und auch der RAVAG in der Österreichischen Mediathek zu Verfügung, wo sie auch in Form von Onlineausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Eine systematische inhaltliche (und analytische) Auswertung dieser Sendungen und insbesondere der Musikeinsätze stellt dennoch immer noch ein umfangreiches Forschungsdesiderat dar. Die folgende exemplarische Analyse eines einzelnen Sendungsausschnitts kann demnach nicht als repräsentativ für die gesamte Programmgestaltung des Senders gelten und lässt in diesem Sinne auch keine verallgemeinernden Schlüsse zu. Sie ist vielmehr der erste Versuch, eine Sendung – in der mithilfe von Musik die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit der jungen Republik und das Verhältnis zu den Befreiungsmächten thematisiert wurde – mit diversen Narrativen rund um die Gründung der Zweiten Republik in Bezug zu setzen. Zu diesen Narrativen zählen: Österreich als ›erstes Opfer‹ des Nationalsozialismus, Österreich als ›unpolitisches‹ Musikland, Österreich als umkämpftes Grenzgebiet des 25 Ulrich, Modernes Radio, 1993, 79.

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Kalten Kriegs wird Teil des Westens. Die Analysen stützen sich – wie eingangs bereits erwähnt – auf die im Projekt Telling Sounds entwickelte Forschungssoftware LAMA, die es ermöglicht, Inhalte – in diesem Fall die Interaktion der sprachlichen Ebene mit dem Einsatz von Musik – und deren Analyse maschinenlesbar zu annotieren und in weiteren Schritten sendungs- bzw. dokumentübergreifend miteinander zu verknüpfen.

Analyse: Mit der Vergangenheit in der Zukunft Bei dem Fallbeispiel handelt es sich um eine Kabarettnummer von Peter Wehle aus den 1950er-Jahren, die in der Österreichischen Mediathek zum Bestand der Sammlung Rot-Weiß-Rot gehört. Das genaue Entstehungs- und Ausstrahlungsdatum ist – zumindest nach den Metadaten der Mediathek – nicht bekannt. Peter Wehle begann seine kabarettistische Karriere als junger österreichischer Mitarbeiter von Rot-Weiß-Rot, wie auch z. B. Helmut Qualtinger oder Gerhard Bronner, mit Letzterem bildete Wehle noch bis in die 1980er-Jahre ein Kabarettduo und trat mit ihm in der Politsatire-Sendung »Guglhupf« im österreichischen Radio auf. In der Kabarettnummer »Wien im Jahr 2000« begleitet sich Peter Wehle selbst am Klavier, ganz im typischen Stil des Wiener Kabaretts der Zwischenkriegszeit. Die musikalischen Einflüsse reichten von Walzer, Operetten- bzw. Revuenummern über das traditionelle Wienerlied bis hin zum Swing. Da die Stücke weitgehend für Darbietungen auf der kleinen Bühne und in zunehmendem Maß auch für das damals neue Medium Radio konzipiert waren, beschränkte sich das musikalische Arrangement – wie auch in Wehles Stück – meist auf Gesang und Klavier. Der ›Anschluss‹ an Nazideutschland 1938 hatte für das Wiener Kabarett sowohl auf der Bühne als auch im Rundfunk katastrophale Folgen. Dies hatte zum einen mit der in der Zwischenkriegszeit immer stärker gewordenen linken Orientierung des Wiener Kabaretts zu tun, die nun verboten und öffentlich geächtet war. Zum anderen wurden die – in dieser Szene überproportional vertretenen – vielen jüdischen Künstler*innen und Lokalbetreiber*innen enteignet, mit Berufsverbot belegt und schließlich vertrieben oder ermordet. Christian Glanz spricht in diesem Zusammenhang von dem »Versuch eines systematischen Kahlschlags«.26 Eine der wenigen Kleinkunstbühnen, die während des Nationalsozialismus existierte und subversive politische Inhalte brachte, war das Wiener Werkl, welches allerdings erst 1939 vom damaligen NS-Parteianwärter

26 Christian Glanz, Kabarett, Cabaret (2003), in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https:// www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_K/Kabarett.xml (9.9.2021).

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und ehemaligen Ensemblemitglied des Theater am Naschmarkt, Adolf MüllerReitzner, gegründet wurde.27 Nach dem Krieg spielte Rot-Weiß-Rot eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung dieser Kunstform in Österreichs Rundfunk, da, wie schon erwähnt, viele ihrer jüngeren Vertreter wie Gerhard Bronner, Helmut Qualtinger oder eben auch Peter Wehle dort als Mitarbeiter tätig waren. Dies wirkte insofern nach, als dass dem Kabarett ab den späten 1950er-Jahren gerade durch die eben genannten Akteure mit dem Beginn des Fernsehens eine bedeutende Rolle zukam. Ein häufig anzutreffendes Merkmal des Kabarettstils ist ein dem Sprechen sehr nahes, erzählendes Singen. Die Begleitung am Klavier untermalt den Text, der oft eine Geschichte mit politischen, ›obrigkeitskritischen‹ Inhalten erzählt. Eingängige Melodien stehen – wenn überhaupt – nur in prägnanten Refrains wie z. B. in Bronners »Der Papa wird’s schon richten« der späten 1950er-Jahre im Vordergrund. Auf einen Refrain wird in der Kabarettnummer »Wien im Jahr 2000« allerdings völlig verzichtet. Vielmehr werden in ihrem Verlauf zahlreiche alte Wienerlieder zitiert, angedeutet oder persifliert. Das Stück gliedert sich grundsätzlich in fünf Abschnitte: in eine Einleitung, die eine dichte Abfolge von zwei sehr kurzen, aber prägnanten Wienerliedzitaten aufweist, und in vier Strophen, die jeweils an ein anderes Wienerlied, in unterschiedlicher Deutlichkeit, angelehnt sind. Die Strophen sind musikalisch und textlich – vor allem durch die Aussprache, wie noch zu zeigen sein wird – stark voneinander abgegrenzt. Auf der Textebene wird ein gemütlicher Heurigenabend im Jahr 2000 in Wien beschrieben. In dem Heurigenlokal treffen vier Männer aufeinander, die allesamt »1950 in Wien geboren [sind]«28. Sie alle haben als Mutter eine Wienerin (nicht dieselbe), was in der Einleitung mithilfe eines melodischen und textlichen Zitats von »Mei Muatterl woar a Weanarin« zum Ausdruck gebracht wird. Eine weitere Gemeinsamkeit der vier Herren wird mithilfe eines Zitats des Lieds »D’Hausherrnsöhnln« genannt: Ihre Väter seien »ka Hausherr«, stammen nämlich nicht aus Wien, sondern »meist aus fremdem Land«.29 Bei beiden Zitaten werden Textund zugehöriges Melodiefragment jeweils aus den Refrains der prominenten Wienerlieder musikalisch exakt übernommen (»woar a Weanerin«; »da Vota woar [k]a Hausherr«). Dadurch ist ein hoher Wiedererkennungswert gegeben. Gemäß einer Einleitung werden durch diese alten Wienerlieder aus dem 19. Jahrhundert bzw. der Jahrhundertwende Assoziationen zum Heurigen, zur ›Wiener Gemütlichkeit‹ und insgesamt zum ›alten Wien‹ hervorgerufen, welche 27 Glanz, Kabarett, Cabaret (2003). 28 »Wien im Jahr 2000«, 00:00:38–00:40:00, https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/132F 1D72-37D-00285-00000844-132E55B6 (11. 9. 2021). 29 Ebd., 00:00:25–00:00:30.

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die Funktion haben, den Ort, die Zeit und die Atmosphäre des folgenden Geschehens zu vermitteln. Da der Ort der Handlung der Kabarettnummer, ein Wiener Heuriger und dessen gemütliche Atmosphäre, hier auf konventionelle Weise etabliert wird, erscheint es auf den ersten Blick etwas paradox, eine Situation, die 50 Jahre in der Zukunft liegt – ein Heurigenabend im Jahr 2000 – mit Zitaten von Liedern, die wiederum zum Entstehungszeitpunkt der Kabarettnummer 1950 selbst bereits zwischen 50 und 80 Jahren alt waren, zu imaginieren. Das Paradoxon suggeriert allerdings zunächst auf essenzialistische Weise die Zeitlosigkeit, also Unvergänglichkeit des Wienerlieds und der damit assoziierten Wiener Identität. Tatsächlich erfreuten sich beide Lieder auch im 20. Jahrhundert, weit über die 1950er-Jahre hinaus, einer hohen Popularität und wurden von Stars der österreichischen und deutschen Unterhaltungsindustrie – unter anderem von Maria Andergast, Peter Alexander, Paul Hörbiger, Hans Moser, Helmut Qualtinger, André Heller, Wolfgang Ambros und André Rieu – interpretiert und massenmedial verbreitet.30 Dies ist insofern besonders beachtenswert, als dass »das traditionelle Wienerlied«, wie Ernst Weber im Österreichischen Musiklexikon schreibt, »nach dem Zweiten Weltkrieg […] an Breitenwirkung [verlor]«.31 Die trotz dieser Entwicklung anhaltende Beliebtheit mancher WienerliedEvergreens verstärkte den mit dem Genre ohnehin schon assoziierten sentimental-nostalgischen Blick ›in die gute alte Zeit‹, der gleichzeitig als Bastion gegen alles Neuartige und Moderne diente. In der Interpretation der »D’Hausherrnsöhnln« von Helmut Qualtinger und André Heller tritt allerdings das soziallkritische Element des Lieds in den Vordergrund. Gerade im Kontext ihres weiteren Schaffens ist Qualtingers und Hellers Verwendung des Wienerliedgenres als Subversion gegen den sentimentalisierten, Konflikte verschweigenden Blick auf eine idyllische Wiener Vergangenheit zu erachten. Eine sentimentalisierende Konnotation des Wienerlieds zeigt sich eindrucksvoll im Booklettext des 1964 bei Polydor erschienenen Compilation-Albums Servus Wien: Paul Hörbiger und Hans Moser singen die beliebtesten Wienerlieder, welches eine Interpretation von »D’Hausherrnsöhnln« beinhaltet. Der Text beginnt mit einem Zitat aus Ludwig Hirschfelds »alternativem Reiseführer« aus dem 30 Vgl. Auflistung der Aufnahmen von »Mei Muatterl woar a Weanarin« bei musicbrainz, https://musicbrainz.org/work/f4f85ebe-b59a-4fe5-82ff-790ddb7907d5/ (11. 9. 2021). Prominente Aufnahme von »D’Hausherrnsöhnln« von Hans Moser und Paul Hörbiger, erschienen 1964, https://www.discogs.com/de/Hans-Moser-Und-Paul-H%C3%B6rbiger-Servus-Wien/r elease/1916020/ (11. 9. 2021). 31 Ernst Weber, Wienerlied, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexi kon.ac.at/ml/musik_W/Wienerlied.xml (8. 9. 2021). Über die eher erfolglosen Versuche der Wienerliedszene, im österreichischen Rundfunk Spielzeit zu bekommen, vgl. Larkey, Cultural Politics, 1997, 69–87.

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Jahr 1927: »Beim Heurigen draussen [sic] in Grinzing, in Sievering, auf der Hohen Warte und in Salmannsdorf, dorthin hat der Schlager, der moderne Jazz nicht gefunden. Die Wiener Musik der Geige, der Zither und der Ziehharmonika hält dort alle Stellungen besetzt.«32 Der eigentliche Booklettext aus den 1960er-Jahren verdeutlicht dann einige Zeilen später noch einmal, gegen wen diese Stellungen auch im Jahr 1964 besetzt werden sollen: »Und sind die Nachtlokale Wiens noch so amerikanisiert, noch so auf ›Paris‹ zurechtfrisiert – draussen [sic] beim Heurigen hat sich das Wienerlied behauptet.«33 Ein solches Verständnis vom Wienerlied – und der Heurigenkultur – als Zufluchtsort und Abwehr gegen das Neue und Fremde bietet auch eine Erklärung dafür, dass sich das Genre während der nationalsozialistischen Herrschaft gehalten hat und beispielsweise in erfolgreichen Filmen wie Ernst Marischkas Sieben Jahre Pech aus dem Jahr 1940 oder Schrammeln aus dem Jahr 1944 als der Ausdruck wienerischer Identität propagiert wurde. Dies macht auch deutlich, dass trotz dem ambivalenten Verhältnis Hitlers und auch Goebbels’ zu Wien,34 dieses Bild von Wiener Identität in Verknüpfung mit Heurigenmusik und Wienerlied auch in der NS-Propaganda und Unterhaltungsindustrie einen wichtigen Stellenwert hatte. Einige führende Vertreter des Genres, wie etwa Ludwig Gruber, der Komponist des in der Einleitung unseres Beispiels zitierten »Mei Muatterl woar a Weanarin«, waren bekennende Nationalsozialisten. Der in Wien geborene und lebende Gruber trat bereits 1932 der NSDAP bei. Zu diesem Zeitpunkt war er Vizepräsident der Gesellschaft zur Hebung und Förderung der Wiener Volkskunst. Seine Karriere konnte er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ungehindert fortsetzen, und seine Lieder blieben weiterhin populär.35 Der anti-modernistischen Lesart des Wienerlieds muss entgegengehalten werden, dass dessen Entstehung, ähnlich wie beim Wiener Kabarett, mit Wiens Transformation zu einer internationalen Metropole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden war und somit nicht nur ein Produkt der Industrialisierung, sondern auch der Migration ist, da stilistisch eine »Verschmelzung

32 Booklet/Plattencover, Servus Wien, in: Discogs, https://www.discogs.com/de/Hans-MoserUnd-Paul-H%C3%B6rbiger-Servus-Wien/release/1916020/image/SW1hZ2U6NDQyMjU2Mj k/ (11. 9. 2021). 33 Ebd. (11. 9. 2021). 34 Zu Hitlers und Goebbels’ Antipathie gegenüber Wien und seinen Einwohner*innen vgl. den vielfach zitierten Tagebucheintrag Goebbels’, nachdem Wien von der Roten Armee befreit worden war: »Der Führer hat die Wiener schon richtig erkannt. Sie stellen ein widerwärtiges Pack dar, aus einer Mischung zwischen Polen, Tschechen, Juden und Deutschen.« Z. B.: Evelyn Steinthaler, Wien 1945, Wien 2015, 21. 35 Vgl. Monika Kornberger, Gruber. Familie, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https:// www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_G/Gruber_Ludwig.xml (9. 9. 2021).

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alpenländischer Lieder mit städtischen Gesangstilen unter dem Einfluss der Musik der Zuwanderer aus den Kronländern« festzustellen sei.36 Nun mag man es zunächst als Anspielung auf den heterogenen Ursprung des Wienerlieds verstehen, dass die durch die Wienerliedzitate etablierte ›Altwienerheurigenstimmung‹ in der Einleitung der Kabarettnummer eine erste Irritation erfährt. Denn während im Originaltext der »D’Hausherrnsöhnln« »da Vota« ein Hausherr und Seidenfabrikant war, der den Söhnen durch die Erbschaft ein unbekümmertes und dekadentes Leben ermöglicht, singt Peter Wehle – wie schon dargelegt – über Väter aus »fremdem Land«, von denen »nur mehr Vorname und Aussprache da« waren.37 Im weiteren Verlauf treten in den Strophen jeweils der Sohn eines Franzosen, eines Sachsen, eines Russen und eines Amerikaners als vermeintlich ›echte‹ Wienerliedsänger auf, die aber aufgrund ihres Akzents, der jeweils von Wehle imitiert wird, eindeutig als Fremde markiert werden. Die Implikation ist, dass es sich hierbei (mehrheitlich) um sogenannte Besatzungskinder, also uneheliche Kinder von alliierten Soldaten, handelt. Allerdings sind nur drei der vier sogenannten Besatzungsmächte vertreten. Dass eine Strophe statt im britischen Akzent im sächsischen gesungen wird, könnte so erklärt werden, dass der britische dem amerikanischen Akzent zu sehr ähnelte und das Sächsische als eine Referenz auf die Bezeichnung ›Angelsachsen‹ für die Bewohner Großbritanniens diente. Darüber hinaus wird durch das Kind eines Sachsen aber auch auf den ›Anschluss‹ Österreichs an Nazideutschland angespielt, der im bereits vom Opfermythos geprägten Narrativ der Nachkriegszeit als ›eine deutsche Besatzung Österreichs‹ verstanden wurde. Implizit – und nicht unbedingt bewusst – werden so in der Kabarettnummer die alliierten Befreiungsmächte mit der Naziherrschaft, die im Opfermythos als etwas Deutsches – nicht Österreichisches – gedacht wird, gleichgesetzt. Alle ›Besatzer‹ haben dabei die Rolle des fremden, Kind und Mutter zurücklassenden, verantwortungslosen Vaters. Durch die unterschiedlichen Akzente bleibt die fremde Herkunft der Väter, deren Söhne im Text mit ironischem Unterton »echte Wiener« genannt werden, offensichtlich. In unterschiedlicher Intensität werden die Lieder dadurch verfremdet und – wenn man so will – entstellt. In der ersten Strophe singt Peter Wehle in französischem Akzent den Schlager »Mariandl«. Die markante Melodie des Refrains bleibt dabei zunächst unverändert, um erkannt zu werden, ehe sein Gesang in ein zunehmend schwerer zu verstehendes, betrunkenes Werben um die besagte »Marianne« ›abstürzt‹. Aus dem »Mariandl« aus dem Original wird in Anspielung auf die französische Nationalfigur eine »Marianne«. 36 Ernst Weber, Wienerlied, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexi kon.ac.at/ml/musik_W/Wienerlied.xml (8. 9. 2021). 37 »Wien im Jahr 2000«, 00:00:44–00:00:47.

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Im Gegensatz zu den beiden Zitaten aus der Einleitung handelt es sich hierbei nicht um ein altes Wienerlied, sondern um einen zur Entstehungszeit der Kabarettnummer relativ aktuellen Schlager-Hit aus dem Film Hofrat Geiger aus dem Jahr 1947. Jean, der Sohn des Franzosen, wird durch das Lied und seine Interpretation als nicht besonders charmanter, erfolgloser und eitler Schwerenöter charakterisiert, der die umworbene Frau beschimpft, weil diese vermutlich nicht gleich auf seine Avancen eingeht. In der nächsten Strophe schlüpft Wehle in die Figur des »schüchternen« Sachsen. Insbesondere aufgrund der genau nachgespielten Melodie ist Ludwig Schmidseders »Ich hab die schönen Madeln net erfunden« aus dem Jahr 1937 eindeutig erkennbar. Es wird der gesamte Refrain des Lieds übernommen. Der erste Abschnitt bleibt beinahe noch im Originaltext, allerdings gerät bei dessen letzter Zeile »wo man vor Glück aus der Haut fahren könnt« die Melodie ins Stocken, und das Klavier pausiert schließlich. Um die Schüchternheit und auch das »Verkrampftsein« des Sachsen zum Ausdruck zu bringen, extemporiert Wehle nun in besonders starkem sächsischem Akzent: »sozusagen auf ’ne Weise, ausgezeichneter Weise«,38 ehe die Phrase mit dem wiedereinsetzenden Klavier mit »aus der Pelle fahren könnt« abschließt. Die Schüchternheit und das Zaudern des Sachsen bilden zunächst einen Kontrast zu dem eitlen, von sich überzeugten, allerdings im Werben letztlich ebenso erfolglosen Franzosen. In der nachfolgenden Strophe des Sachsen zielen die Textänderungen darauf ab, dessen fehlende Musikalität vorzuführen. Bei der harmonischen Variation der Dominante D7 nach d-Moll heißt es im Originaltext: »Ich hab die ersten Geigen net mochn lassen, ich hör’s nur für mein Leben so vü gern.« Nun bei Wehles ›Sachsen‹ lautet die Zeile: »Ich hab doch die ersten Violinen [Fischolinen ausgesprochen] nicht erfunden, ach Gott, ich kann das Gekratze doch gar nicht hören.«39 Indem der Sohn des Sachsen als verkrampfter, zu spontanen emotionalen Gefühlsausbrüchen unfähiger Mensch und als Musikbanause dargestellt wird, ist er das negative Gegenbild zum idealtypischen musikliebenden, leichtlebigen und von seinen Gefühlen geleiteten Wiener. Musikalität und Gefühl als definierende Eigenschaften der Österreicher*innen fungierten in der Nachkriegszeit rund um das Image des »Musiklandes Österreich«40 als zentrale Abgrenzungskategorie gegenüber den ›rationalen‹, gefühllosen Deutschen. Dies ist als Teil der von den Westalliierten bekanntlich mitgetragenen Strategie zu erachten, die österreichische Beteiligung an NS-Verbrechen zu verschweigen. Das Image des gemütlichen, musikliebenden Wieners in Abgrenzung zum ernsten, 38 Ebd., 00:02:12–00:02:18. 39 Ebd., 00:02:20–00:02:26. 40 Cornelia Szabó-Knotik, Musikland Österreich, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_M/Musikland.xml/ (10. 9. 2021).

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zielstrebigen und militaristischen Deutschen kann bis in die Operette des frühen 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden, lässt sich aber ebenso in der NS-Filmindustrie, vor allem in den Filmen der Wiener Regisseure Willi Forst und Ernst Marischka, wiederfinden.41 Ludwig Schmidseder, der Komponist von »Ich hab die schönen Madeln net erfunden«, wurde in Passau geboren, lebte nie längere Zeit in Wien und wurde erst nach dem Krieg, als Bewohner Gmundens, im Jahr 1948 österreichischer Staatsbürger. 1973 verstarb er in München. Schmidseder komponierte Operetten, Musicals, Schlager, aber auch Musik für viele Filme, für die er auch zahlreiche Wienerlieder schrieb. Er avancierte in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem der erfolgreichsten Komponisten der deutschen Unterhaltungsindustrie – auch weil er von der Verfolgung und Vertreibung jüdischer Kolleg*innen profitierte. Schmidseder wurde wenige Monate, nachdem die Nationalsozialist*innen 1933 in Deutschland an die Macht kamen, Mitglied der NSDAP.42 Als Dritter betritt in der Kabarettnummer »Wien im Jahr 2000« Ivan, der Sohn eines Russen, das Lokal und stimmt ein Lied an. Am Anfang singt er die ersten Zeilen aus der Operettennummer »Grüss’ Euch Gott, alle miteinander« aus der mehrfach verfilmten Operette Der Vogelhändler von Carl Zeller. Die fröhliche Operettenmelodie weicht einer zweiten, im Gegensatz dazu langsameren Melodie, die an das von Heinrich Strecker komponierte Lied »Ja, ja der Wein ist gut« aus den frühen 1930er-Jahren erinnert. Der Komponist von »Ja, ja der Wein ist gut«, der Wiener Heinrich Strecker, war ein bekennender Nationalsozialist, dessen Kontakt mit der Partei über eine einfache Mitgliedschaft weit hinausging. Er war seit 1935 Gauobmann der Kulturgemeinde Wien, wurde etwas später als Illegaler kurzfristig verhaftet und flüchtete nach Berlin. Als erfolgreicher Verleger war er an ›Arisierungen‹ durch den Ankauf konkurrierender Verlage beteiligt. Neben Wienerliedern und Operetten komponierte Strecker zahlreiche einschlägige Kampflieder wie »Wach’ auf, deutsche Wachau«, »Die deutsche Frau« oder »Frei ist Deutsch-Österreich«.43 Die Originaltexte beider Vorlagen sind kaum mehr zu erkennen. Wehle baut zahlreiche russisch klingende Wörter oder Laute ein. Inhaltlich ist wenig zu verstehen, bis auf das vorgetragene Bedürfnis, sich in Gesellschaft zu betrinken. Der Refrain des Originals der zweiten Vorlage – »Ja, ja, der Wein is guad, i brauch kann neichen Huat, i setz mein oiden auf, bevor i a Wossa sauf« – wird mit 41 Stefan Schmidl/Monika Kröpfl, Wunschbild und Exportartikel. Betrachtungen über die audiovisuelle Struktur von ›Sissi‹, in: Stefan Schmidl (Hg.), Die Künste der Nachkriegszeit. Musik, Literatur und bildende Kunst in Österreich, Wien 2013, 77–85. 42 Vgl. Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2004, 6182. 43 Vgl. Monika Kornberger/Christian Fastl, Strecker, Heinrich Josef, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_S/Strecker_Heinrich.xml (11. 9. 2021).

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zahlreichen Extempores und russischen Wörtern verfremdet: »Wein is choroscho [= gut], ein neues Hütchen? Nitschewo [macht nichts]! Ich nehm den alten Hut, weil woda [Wasser], Wasser is nix gut. Wodka schmeckt ein bisschen besser, nicht?«44 Aus dem erfolglosen Werben des Franzosen und des Sachsen um die Frauen ist beim Russen ein Trinklied geworden. Allerdings wird der Wein, der im Original aus den 1930er-Jahren gute Stimmung allen Widrigkeiten zum Trotz versprochen hatte, hier durch Wodka ersetzt. Einen solchen in einem Heurigenlokal zu trinken, bedeutet einen besonderen Affront gegen die Heurigenkultur und verweist auf die Weigerung – oder das Unvermögen – des Russen, sich an die Gebräuche der Wiener Kultur anzupassen. Das Element der Fremdheit tritt in Form von musikalischen und sprachlichen Verfremdungen in der Interpretation des Russen besonders zutage und bleibt somit dem »russischen Besatzungskind« am stärksten auf unterschiedlichen Ebenen eingeschrieben: Weit über einen bloßen Akzent hinausgehend, werden die Texte beider Vorlagen hier nur mehr in wenigen Bruchstücken wiedergegeben. Die heitere Operettennummer ist in den Grundzügen ihrer Melodie noch zu erkennen, wobei nichts vom fanfarenartigen, feierlichen Charakter des Orchesterwerks übrigbleibt. Die Version des Russen ist deutlich langsamer und verzichtet auch auf die Spannungsbögen in Dynamik und Artikulation. Zumindest im Vergleich zur Operettenversion wirkt sein Auftritt dadurch etwas müde. Wenn ab der Hälfte des Einsatzes die Vorlage zu »Ja, ja der Wein ist gut« wechselt, wird das Tempo weiter gedrosselt, und der Gesang geht nun endgültig ins Sprechen über, es wird nicht mehr gesungen. Die Vorlage kann nur aufgrund von Textfragmenten und deren Rhythmisierung in Kombination mit den Harmonien in der Klavierbegleitung erahnt werden. Aus der bisherigen Literatur zur Sendegruppe Rot-Weiß-Rot geht hervor, dass der Humor auf Kosten der Sowjets beim Wiener Publikum besonders beliebt gewesen ist.45 Eine antikommunistische Einstellung war bei einer Mehrheit der österreichischen Bevölkerung bereits vor dem Eintreffen der amerikanischen Besatzung verbreitet und konnte dementsprechend in deren propagandistischen Absichten in dem sich anbahnenden Kalten Krieg leicht »abgerufen« werden.46 Antisowjetische Ressentiments als gemeinsamer Nenner der Besatzungsmacht und der identitätssuchenden, jungen Republik mögen auch als Erklärung dafür dienen, dass die den Auftritt des Russen bzw. seines Sohns verwendeten Vorlagen vergleichsweise noch stärker entstellt werden. Vor der letzten Strophe wird al44 »Wien im Jahr 2000«, 00:03:02–00:03:18. 45 Oliver Rathkolb hält fest, dass im Programm von Rot-Weiß-Rot nach dem Scheitern der Staatvertragsverhandlungen 1947 Polemisierungen gegen die Sowjetunion und die KPÖ immer deutlicher wurden, wobei insbesondere der Humor auf Kosten der Sowjets den Geschmack des Wiener Publikums traf. Rathkolb, Politische Propaganda, 1982, 479. 46 Wagnleitner, Coca-Colonization, 1994, 81.

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lerdings auch ironisch auf den gegenwärtigen Konflikt zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Besatzungsmacht angespielt, wenn Johnny, der Sohn des Amerikaners, als »der beste Freund« des Russen vorgestellt wird. In der Rolle dieses Amerikaners interpretiert Peter Wehle das Wienerlied »Wien, du Stadt meiner Träume« von Rudolf Sieczyn´ski aus dem Jahr 1912 als Boogie-Woogie. Insbesondere durch die in den frühen 1930er-Jahren in englischer Sprache in London aufgenommenen Interpretationen des Opernstars Richard Tauber47 wurde das Lied zu einem internationalen Welthit, der bis in die jüngere Vergangenheit von internationalen Stars aus dem Bereich der Klassik bzw. der populären Klassik, wie Placido Domingo oder André Rieu, interpretiert wurde. Der internationale und über viele Jahrzehnte andauernde Erfolg dieses Lieds macht es zu einer naheliegenden Wahl, um den amerikanischen Einfluss auf die österreichische bzw. Wiener Kultur zum Ausdruck zu bringen. Im Gegensatz zu den Liedzitaten der anderen ›Besatzungskinder‹, die etwas melancholische Trunkenheit, erfolgloses Liebeswerben bis hin zu Gehemmtheit und fehlender Musikalität zum Ausdruck brachten, wirkt das Liedzitat des Sohns des Amerikaners durch den Boogie-Woogie-Rhythmus beschwingt und grundsätzlich positiv und gut gelaunt. Dies kann zumindest auf den ersten Blick als eine gewisse Parteinahme für die amerikanische Besatzung verstanden werden. Es ist dies allerdings das einzige Liedzitat der Kabarettnummer, in dem Wehle den musikalischen Ausdruck des Originals durch den Wechsel des Genres grundlegend ändert und nicht bloß abschwächt oder explizit verunstaltet. Obwohl »Wien, du Stadt meiner Träume« über so viele Jahrzehnte hinweg von unterschiedlichsten Künstler*innen interpretiert und sogar in andere Sprachen übersetzt wurde, war diesen Interpretationen immer ein an dem sehnsuchtsvollen Text des Lieds orientierter wehmütiger, sentimentaler Charakter gemein. Dieser wird durch den langsamen Walzer und üppige Streicherarrangements erzielt. In Wehles Version wird das Tempo jedoch deutlich erhöht und der Dreivierteltakt in einen Boogie-Woogie-Rhythmus gepresst. Auf der textlichen Ebene ist nicht mehr die Sehnsucht nach Wien, sondern die »Lovely Girls im Jeep« und der Wechselkurs zwischen Dollar und Schilling das bestimmende Thema. Die gute Laune des Boogie-Woogie ist jedenfalls eine ebenso drastische Verfremdung des Wienerlieds und seiner Wirkung wie das Singen des Textes in einer ›fremden‹ Aussprache. Im Zusammenhang damit, dass der Boogie-Woogie zur Entstehungszeit der Kabarettnummer in Österreich als völlig neuartiger Musikstil wahrgenommen wurde, steht er auch im direkten Gegensatz zu der oben schon beschriebenen Aura der ›guten alten Zeit‹, mit der das Wienerlied als Genre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem konnotiert war und entsprechend aufbereitet und rezipiert wurde. An diesem Beispiel kristallisiert 47 Richard Tauber hatte jüdische Großeltern und musste vor den Nationalsozialisten fliehen.

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sich heraus, wie sehr amerikanische Unterhaltungsmusik als Angriff auf diese ›alte Zeit‹ und die damit assoziierte Wiener Identität empfunden wurde. Ob dieser Angriff von Peter Wehle selbst in seiner Kabarettnummer letztlich begrüßt, gefürchtet oder sogar eher nur beobachtet werden sollte, ist nicht eindeutig zu klären – die Interpretation von »Wien, du Stadt meiner Träume« lässt jedoch auf eine gewisse Vertrautheit Wehles mit dem Boogie-Woogie-Genre schließen. Im Kontext des übergeordneten Themas der Kabarettnummer, die Spuren der ›Besatzung‹ in einer imaginierten Zukunft darzustellen, bedeutet die Interpretation des Wienerlieds als Boogie-Woogie und die ›fremde‹ Aussprache bei allen Lied-Zitaten eine Entstellung. Die definierenden Charaktereigenschaften der Stücke – Charme, Musikliebhaberei, Nostalgie und Sehnsucht –, sie alle scheinen – durch den ›fremden‹ Einfluss – abhandengekommen zu sein. Dies widerspricht allerdings der Entstehung des Wienerlieds, die von Urbanisierung, Migration und somit Vermischung geprägt war. Beachtenswert ist aber auch, dass drei der sechs Stücke, welche die hier durch ›fremden‹ Einfluss ›entstellte‹ Wiener Identität verkörpern sollen, von Komponisten geschrieben wurden, die viele Jahre vor dem ›Anschluss‹ bereits Mitglied der NSDAP waren und – in unterschiedlich starkem Ausmaß – von den NS-Verbrechen profitierten und ihre Karrieren auch nach dem Ende des Kriegs weiterführten.

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Musikpropaganda im besetzten Deutschland: Konzeption, Kontinuitäten und Ambivalenz am Beispiel des SWF-Sinfonieorchesters1

Als das Sinfonieorchester des Südwestfunks (SWF) am 5. Juni 1946 anlässlich der Kunstwoche der Stadt Konstanz sein erstes Konzert außerhalb der Stadt BadenBaden gab, war das Programm repräsentativ für die frühe Musikpolitik des Orchesters. Im Rahmen der Kunstwoche, die »unter der Schutzherrschaft des Herrn Administrateur General Laffon«,2 also des höchsten zivilen Beamten der französischen Zone stand, wurden nämlich ausschließlich französische Musikstücke des 20. Jahrhunderts gespielt: die 1. Sinfonie von Albert Roussel, Tzigane und Bolero von Maurice Ravel sowie La Mer von Claude Debussy. Damit ist klar, dass das Sinfonieorchester des SWF, das am 1. Februar 1946 aus dem ehemaligen Orchester der Bäder- und Kurverwaltung Baden-Baden als Klangkörper der neuen Rundfunkanstalt in der französischen Besatzungszone gegründet wurde, eine aktive Rolle in der Musikpolitik der französischen Besatzungsmacht spielte.3 Auch auf diesem Gebiet der Musikpolitik zeigte sich, dass der französischen Kulturpolitik bei der sogenannten »Umerziehung« bzw. »Demokratisierung« des deutschen Volks eine besondere Rolle beigemessen wurde.4 Wegweisend war hierfür die Arbeit von René Thimonnier, Leiter des 1 Der Beitrag beruht auf den Ergebnissen einer Masterarbeit an der Université Paris-Saclay und Paris 1 (Panthéon-Sorbonne). Ich bedanke mich bei Stephan Summers, Dr. Friedemann Pestel und Rosa Schulte-Frohlinde für ihre Ratschläge bei der Verfassung des Aufsatzes. 2 Historisches Archiv des Südwestrundfunks (SWR), P06505. Programm der Kunstwoche Konstanz und Programm des Sinfoniekonzerts vom 5. 6. 1946. 3 Über die Geschichte des SWF vgl. Sabine Friedrich, Rundfunk und Besatzungsmacht. Organisation, Programm und Hörer des Südwestfunks 1945 bis 1949, Baden-Baden 1991, 28–30. Muriel Favre, Faire d’un champ de ruines une démocratie. La radio allemande entre rééducation et propagande (1945–1949), in: Vingtième Siècle, 20/80 (2003), 26, 29–30. Über die Geschichte des SWF-Sinfonieorchesters existiert nur ein anlässlich des 50. Jahrestags des Orchesters veröffentlichtes Buch, in dem die Analyse allerdings erst 1948 ansetzt. Vgl. Jürg Stenzl, Orchester Kultur. Variationen über ein halbes Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1996, 17– 26. 4 Über die Kulturpolitik Frankreichs in seiner Besatzungszone siehe: Franz Knipping/Jacques Le Rider (Hg.), Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland, 1945–1950, Tu¨ bingen 1987. Corine Defrance, La politique culturelle franc¸aise sur la rive gauche du Rhin, Strasbourg 1994.

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Bureau des Spectacles et de la Musique (BSM).5 Er verfasste im Juli 1945 Principes d’une propagande musicale en Allemagne occupée6 (Prinzipien einer französischen Musikpropaganda im besetzten Deutschland), in denen er für ein Verbot nationalsozialistisch geprägter Musik und die Förderung ausländischer und neuer Musik in Deutschland plädierte. Diese Überlegungen fanden das Wohlwollen von Thimonniers Vorgesetzten und dienten als Grundlage der französischen Musikpolitik in Deutschland.7 Der Begriff »Propaganda« wurde zwar von René Thimonnier verwendet, muss jedoch mit Vorsicht interpretiert werden. Thimonnier verwendete ihn im Kontext einer traditionell expansionistischen Kulturpolitik Frankreichs und einer historischen Rivalität französischer und deutscher Kultur, die spätestens mit der Konstituierung beider Nationalstaaten im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts entstand. Diese Rivalität prägte die Geschichte der beiden Länder im 20. Jahrhundert und fand ihren Höhepunkt in den beiden Weltkriegen. Insbesondere die gegenseitigen Besetzungen führten dazu, dass dieser Konflikt auch auf den Bereich der Musik übergriff. In der Besetzung Frankreichs durch das ›Dritte Reich‹ ab 1940 spielten die Musik und ihre Übertragung im Rundfunk eine zentrale Rolle. Während die deutsche Besatzungsmacht über Radio-Paris die Vorherrschaft der germanischen Kultur auch auf französischem Boden unter Beweis stellen wollte, versuchte das Vichy-Regime über den Sender Radiodiffusion nationale zu beweisen, dass Frankreich trotz der militärischen Niederlage im kulturellen Bereich dominieren konnte.8 In dieser Zeit entwickelten sich deshalb Feindbilder und Grenzziehungen zwischen den Kulturen, aber auch neue Narrative über ihre vermeintliche Nähe im Bereich der Musik (zwecks einer Ex-

5 Rundfunktätigkeiten unterstanden in der Zone der Section Radio innerhalb der Direction de l’Information. Die Direction de l’Éducation Publique und deren Bureau des Spectacles nahmen aber an der Gestaltung der musikalischen Programme des SWF teil. 6 Centre des Archives diplomatiques de La Courneuve (AD), 1AC528, Rene´ Thimonnier, Principes d’une propagande musicale en Allemagne occupe´e, mit einem Brief vom 3. 7. 1945. 7 Vgl. Andreas Linsenmann, Musik als politischer Faktor. Konzepte, Intentionen und Praxis franzo¨ sischer Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949/50, Tu¨ bingen 2010, 85–108. Andreas Linsenmann, Denazifizierung mit Debussy. Strategie französischer Musikpolitik im Nachkriegsdeutschland, in: Sarah Zalfen/Sven Oliver Müller (Hg.), Besatzungsmacht Musik. Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914–1949), Bielefeld 2012, 133–142. Andreas Linsenmann, Mit Kla¨ngen umerziehen – franzo¨ sische Musikpolitik in Deutschland nach 1945, in: Stephan Braese/Ruth Vogel-Klein (Hg.), Zwischen Kahlschlag und Rive Gauche. Deutsch-franzo¨ sische Kulturbeziehungen 1945–1960, Würzburg 2015, 91–104. Abseits von Linsenmann analysiert auch Élise Petit Thimonniers Principes. Vgl. dazu: Élise Petit, Musique et politique en Allemagne, du IIIe Reich à l’aube de la guerre froide, Paris, 2018, 253–257. 8 Vgl. Jane F. Fulcher, Renegotiating French Identity. Musical Culture and Creativity in France during Vichy and the German Occupation, New York 2018, 4–6, 15–17. Leslie A. Sprout, The Musical Legacy of Wartime France, Berkeley/Los Angeles/London 2013, 12–19.

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pansion der »deutschen Kultur« oder einer deutsch-französischen collaboration). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Thimonniers Musikpolitik in Deutschland eine ambivalente Funktion, denn sie fungierte einerseits als Werkzeug zur Etablierung des Friedens und diente andererseits zur Fortführung des Konflikts im Bereich der Musik. Die von Thimonnier definierte Musikpolitik war deshalb Teil eines sortie de guerre (»Kriegsausstiegs«), in dem über das Ende der Kampfhandlungen und die wirtschaftliche Demobilisierung hinaus auch gesellschaftliche und kulturelle Demobilisierungsprozesse stattfanden.9 Hier wird argumentiert, dass die französische Musikpolitik im Rundfunk sowohl zur Umerziehung des deutschen Volks als auch zu dessen Annäherung an Frankreich beitragen sollte. Diese Politik vermochte es jedoch nie, das kulturelle Konfliktpotenzial, das auch ein Erbe der Kriegs- und der deutschen Besatzungszeit war, zu beseitigen.10 Die nachfolgende Analyse stützt sich auf Quellen, die Auskunft über die Konzeption und die Umsetzung dieser politischen Strategie geben. Besonders berücksichtigt wird der Einsatz der französischen (oder als französisch gekennzeichneten) Musik als Propagandamittel und ihre Deutung in den Sendungen.11 Die Programme des SWF-Sinfonieorchesters wurden ab Februar 1946 bis zum Ende der Saison 1954/55 rekonstruiert:12 Auch wenn die ersten Konzerte nur bruchstückhaft bekannt sind, sind die Programme ab 1947 mit hoher Wahrscheinlichkeit vollständig. Die Analyse wird durch das Einbeziehen einzelner Rundfunkmanuskripte erweitert. Überlegungen der französischen Militärregierung sowie Korrespondenz mit und innerhalb der Verwaltung des Rundfunks werden ebenfalls berücksichtigt.

9 Zu der Thematik »sortie de guerre« vgl. Stéphane Audoin-Rouzeau/Christophe Prochasson (Hg.), Sortir de la Grande Guerre: le monde et l’après-1918, Paris 2008, 15; zum Thema »Demobilisierung« siehe: John Horne, Demobilizations, in: Martin Conway/Pieter Lagrou/ Henry Rousso (Hg.), Europe’s Postwar Periods 1989, 1945, 1918. Writing History Backwards, London 2019, 12. 10 Die Ambivalenz der französischen Kulturpolitik wurde in der Forschung bereits reflektiert, aber eher mit den allgemeinen Zielen der Besatzungspolitik in Verbindung gebracht. Vgl. Rainer Hudemann, Kulturpolitik in der französischen Besatzungszone – Sicherheitspolitik oder Völkerverständigung? Notizen zur wissenschaftlichen Diskussion, in: Gabriele Clemens (Hg.), Kulturpolitik im besetzten Deutschland 1945–1949, Stuttgart 1994, 185–199. 11 Weitere Aspekte der Musikpolitik des SWF werden dabei weniger berücksichtigt, wie etwa der Einsatz für die sogenannte »neue Musik«. 12 Siehe AD, 1AC463; SWR P06562 (Besetzungslisten); SWR P06553-P06554 (Programme) und SWR P06562-P06565 (Kalender).

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Die Konzeption der französischen Musikpropaganda in Deutschland Die offene Verwendung des Begriffs »Propaganda« im Nachkriegsdeutschland barg die Gefahr, mit NS-Propagandamethoden in Verbindung gebracht zu werden. Der Begriff wurde aber ausschließlich innerhalb der französischen Besatzungsbehörden verwendet. Zudem weigerte Thimonnier sich, den Deutschen ausländische Musik aufzuzwingen.13 Im März 1947 ließ René Thimonnier zwar die Principes d’une propagande musicale française en Allemagne occupée ins Deutsche übersetzen und in der Zeitschrift Melos veröffentlichen, allerdings wurde der Titel in Wie ich den deutschen Musikhörer sehe14 umbenannt, und das Wort »Propaganda« kam nicht vor. Sehr wohl war der Begriff aber in wichtigen Dokumenten der Besatzungsverwaltung zu finden, zum Beispiel in jenem Vertrag, der die Gründung des Orchesters regelte,15 oder auch im Bericht des Leiters der Direction de l’Information über »Demilitarisierung, Entnazifizierung und Demokratisierung.«16 Dazu war der Begriff im französischsprachigen Raum (noch) nicht so negativ besetzt wie in Deutschland und bezeichnete immer noch eine Art Massenkommunikation, die nicht unbedingt (so die Analyse der NSPropaganda nach Thimonnier) manipulierend war und auch positiven Zwecken dienen konnte.17 Letztlich zielte die »Kulturpropaganda« der französischen Kontrollmacht auf eine Verbreitung und positive Wahrnehmung der französischen Kultur ab. Die Gestalter der französischen Musikpolitik erkannten das Potenzial des Rundfunks und seine Bedeutung als einflussreichstes Massenmedium der Nachkriegszeit sehr früh. Thimonnier unterstrich, dass die von ihm konzipierte Politik nur »unter Mitwirkung der [Musik-]Kritik, des Rundfunks, der Schallplatten und des Buches«18 gelingen konnte. Deshalb war das SWF-Sinfonieorchester von großer Bedeutung: Sämtliche wöchentliche Sonntagskonzerte des SWF-Sinfonieorchesters wurden zur Hauptsendezeit, entweder nachmittags oder abends, gesendet. Dazu wirkte das Orchester an wöchentlichen Sendungen (»Prisma« am Donnerstag) mit und nahm ab und zu an Opernsendungen teil. 13 Vgl. Thimonnier, Principes, 1945, 4. 14 René Thimonnier, Wie ich den deutschen Musikhörer sehe, in: Melos 14/5 (1947), 129–135. 15 AD, 1AC490/5, Brief des Directeur de l’Éducation Publique und des Directeur de l’Information, 28. 1. 1946. 16 AD, 1AC857, Jean Arnaud, Rapport sur l’œuvre de de´militarisation, de de´nazification et de de´ mocratisation entreprise par la direction de l’Information, 8. 1. 1947. 17 Über den Begriff Propaganda im Allgemeinen vgl. Thymian Bussemer, Propaganda: Konzepte und Theorien, Wiesbaden 2005, 29–30. Im französischen Kontext vgl. Fabrice d’Almeida, Propagande, histoire d’un mot disgracié, in: Révolutions 23/69 (2002), 145–146. 18 »[L]a collaboration de la critique, de la radio, du disque et du livre.« Siehe: Thimonnier, Principes, 1945, 7.

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Der gezielte Einsatz von Musik in der Kulturpolitik der französischen Alliierten folgte zwei Grundüberlegungen: einerseits der Idee, dass Musik die einzige »richtig internationale« Musiksprache war und andererseits der Vorstellung, dass das deutsche Volk ein besonders »musikalisches Volk war«.19 Thimonnier sah einen inneren Zusammenhang zwischen der Musik und dem Selbstverständnis der Deutschen, denn wie er in den Principes betonte: »Seine Überzeugung [die des deutschen Volkes], ein überlegenes Volk zu sein, beruht hauptsächlich auf seiner Gewissheit, das einzige wahrhaftige musikalische Volk zu sein.«20 Um dem etwas entgegenzusetzen, schlug Thimonnier eine mehrstufige Strategie vor, die die Deutschen dazu bringen sollte, den Wert der ausländischen Musik anzuerkennen. In der Folge sollten sie mit der Idee der Überlegenheit der deutschen Kultur (und damit des »deutschen Volks«) brechen. Um dies erfolgreich umzusetzen, trat Thimonnier dafür ein, anfänglich ausländische Künstler zu spielen die der »deutschen Musik« nahestanden. Erst später sollte die Besatzungsmacht Musik von Komponisten spielen, die weit von den Hörgewohnheiten der Deutschen entfernt lagen. Auf diese Weise hatte ausländische Musik allein aufgrund ihrer Herkunft eine politische Funktion. Eine französische Musikpropaganda in Deutschland hätte aber ohne Vermittler auf deutscher Seite wahrscheinlich kaum Erfolgsaussichten gehabt. Diese Rolle des Mittlers übernahm Heinrich Strobel, den René Thimonnier 1949 als »ausgezeichnete[n] Propagandist[en], der seit dem Beginn der Besatzung an unserer kulturellen Tätigkeit sehr wirkungsvoll mitarbeitet hat«21 charakterisierte. Dieser wurde auf Empfehlung von Henri Jourdan22 für die neue Rundfunkanstalt in der französischen Zone rekrutiert. Wichtig für die deutsche Musikgeschichte in der Nachkriegszeit war Strobel nicht nur als Leiter der Musikabteilung des SWF, sondern auch als Herausgeber der Zeitschrift Melos, die 1934 auf Druck der NS-Propaganda »gleichgeschaltet« und in Neues Musikblatt umbenannt wurde. Strobel blieb weiterhin Herausgeber der Zeitschrift, obwohl er nun nicht mehr dezidiert für zeitgenössische Musik werben konnte. Die erste 19 »Le peuple allemand est un peuple musicien. Or, pour un vrai musicien, aucune musique pourvu qu’elle soit de qualité n’est vraiment ›étrangère‹. C’est que la musique est peut-être, de toutes les langues, la seule qui soit véritablement internationale.« Siehe: Thimonnier, Principes, 1945, 4. 20 »Sa conviction d’être un peuple supérieur se fonde, en grande partie, sur la certitude qu’il a d’être le seul peuple vraiment musicien.« Siehe: Thimonnier, Principes, 1945, 4. 21 Zitiert nach: Manuela Schwartz, Exil und Remigration im Wirken Heinrich Strobels, in: Stefan Drees/Jacob Andres/Stefan Orgass (Hg.), Musik – Transfer – Kultur. Festschrift für Horst Weber, Hildesheim, 394. Zu Strobel siehe auch: Manuela Schwartz, »Eine versunkene Welt«. Heinrich Strobel als Kritiker, Musikpolitiker, Essayist und Redner in Frankreich, 1939–1944, in: Isolde von Foerster (Hg.), Musikforschung, Faschismus, Nationalsozialismus, Mainz 2001, 291–317. 22 Henri Jourdan war von 1933 bis 1939 Leiter des französischen Instituts in Berlin und 1945 Leiter der deutschsprachigen Sendungen des Senders Radiodiffusion française.

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Ausgabe der neugegründeten Melos im Jahr 1946 begann mit einem Artikel über die programmatische Ausrichtung des Blatts.23 Strobels Ausführungen ähneln jenen Thimonniers. Auch er beharrt auf einem Neubeginn des deutschen Musiklebens, auch wenn es gewisse Unterschiede in der Bewertung oder Definition, »nationalsozialistischer Musik« gab.24 Was den Umgang mit der spätromantischen Musik und insbesondere mit Richard Wagner anging, so war Strobel in einigen Punkten sogar radikaler. Während Thimonnier etwa der Auffassung war, dass Wagner nur dann gefährlich sei, wenn er »missverstanden« werde, kritisierte Strobel zum Beispiel schon Anton Bruckner, den er als »die Inkarnation des deutschen Dranges in unendliche Tiefen oder Höhen«25 verstand. In einer Besatzungsverwaltung, die unter chronischem Personalmangel litt, zielte die französische Musikpolitik nicht auf eine totale Kontrolle des Rundfunks ab, sondern eher auf die Sicherung des französischen Einflusses. Auch wenn der Vertrag vom 1. Februar 1946 eine Mitbestimmung der französischen Behörden bei der Programmgestaltung vorschrieb,26 sind keine Eingriffe oder Zensurversuche bekannt. Die Programme des Sinfonieorchesters enthielten aber bis November 1948 den Vermerk, dass sie »mit Genehmigung der franzo¨ sischen Milita¨ rbesatzungsbeho¨ rden fu¨ r die Zivilbevo¨ lkerung veranstaltet«27 wurden. Das Bureau des Spectacles et de la Musique (BSM) spielte vor allem beim Engagement französischer Künstler*innen für die Konzerte des SWF in Deutschland eine Rolle, wobei hier auch die französische Künstleragentur Concession Richard mitwirkte. Das BSM half auch bei der Beschaffung von Partituren und Orchestermaterial. Diese über Jahre dauernde Kooperation sicherte langfristig die Präsenz französischer Werke beim SWF. Der Komponist Olivier Messiaen etwa arbeitete regelmäßig mit dem SWF, nachdem eines seiner Werke am 12. Dezember 1948 mit Unterstützung des BSM zum ersten Mal gespielt worden war. Nach der Umstrukturierung des BMS im Jahr 1950 gastierten einzelne Solisten immer wieder beim SWF. Der Cellist Pierre Fournier spielte, nachdem er am 9. Mai 1948 zum ersten Mal in Baden-Baden gastiert hatte, nochmals im September desselben Jahres sowie auch 1950, 1952 und 1953. Gleiches gilt für Maurice Gendron (erstes Gastpiel 1948, dann wieder 1949 und 1952). 23 24 25 26

Heinrich Strobel, Melos 1946, in: Melos 14/1 (1946), 1–5. Vgl. Pamela Potter, What is »Nazi Music?«, in: The Musical Quarterly, 88/3 (2005), 428–430. Strobel, Melos 1946, 2. AD, 1AC490/5, Brief des Directeur de l’Éducation Publique und des Directeur de l’Information, 28. 1. 1946. Vgl. Klaus Wenger, Rundfunkpolitik in der französischen Bestazungszone. Die Anfänge des Südwestfunks, in: Franz Knipping/Jacques Le Rider (Hg.), Kulturpolitik, 213–215. 27 Stadtarchiv Baden-Baden 02-248/018. Das Programm des Konzerts vom 14. 11. 1948 ist das letzte mit diesem Vermerk.

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Auch unter der Mitwirkung bekannter französischer Musikkritiker (wie Claude Rostand) bildeten sich Netzwerke, die die langfristige Vertretung der französischen Musik im SWF sicherten. Mit der sich verändernden politischen Lage in Deutschland, insbesondere im Umgang mit der NS-Vergangenheit, und dem etwas schwindenden Einfluss der französischen Alliierten veränderte sich auch die Gestaltung der Musikprogramme des SWF. Während in der ersten Saison fast ein Viertel der Stücke von französischen Komponisten stammte, lag der Anteil Mitte der 1950er-Jahre nur noch bei ca. zwölf Prozent.

Musikpropaganda als Ergebnis einer konfliktreichen Geschichte Die französische »Propaganda« in Deutschland war von René Thimonnier und etlichen Akteuren der Musikpolitik als Reaktion auf den Nationalsozialismus gedacht, wobei ähnliche Narrative wie während der Kriegszeit verwendet wurden. Die Geschichte der kulturellen Beziehung zwischen beiden Ländern blieb während und nach dem Krieg von Minderwertigkeitskomplexen in Hinblick auf die Bewertung der eigenen Musik geprägt. Beispielsweise hatte das NS-Regime während der Besatzung Frankreichs besonderen Wert darauf gelegt, dass französische Musiker und Komponisten anlässlich des 150. Todestags des Salzburger Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart zur eigens veranstalteten MozartWoche nach Wien kamen. Mit dieser Kulturveranstaltung, bei der der Versuch unternommen wurde, Mozart zu »germanisieren«, und zu der französische Gäste eingeladen waren, wollte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) die Überlegenheit der deutschen Kultur unter Beweis stellen.28 Die Propagandastaffel (die dem RMVP unterstand) verwendete in dieser Hinsicht Narrative, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der französischen Politik nach dem Krieg aufwiesen, wenn es zum Beispiel darum ging, Figuren in der französischen Musikgeschichte zu identifizieren, die eine gewisse Nähe zur deutschen Kultur hatten. So wurde Berlioz in der Besatzungszeit als ein Komponist dargestellt, der zu »drei Vierteln« deutsch war.29 Dazu wirkten die Netzwerke, die sich im Spannungsfeld der deutsch-französischen Beziehungen vor 1945 konstituiert und gefestigt hatten, in der Nachkriegszeit unmittelbar nach. Dies traf insbesondere für Heinrich Strobel zu. Strobel war zwar schon in der Zwischenkriegszeit für seinen Einsatz für die neue Musik und für seine Bewunderung französischer Komponisten bekannt gewesen 28 Vgl. Marie-Hélène Benoit-Otis/Cécile Quesney, A Nazi Pilgrimage to Vienna? The French Delegation at the 1941 »Mozart Week of the German Reich«, in: The Musical Quarterly 99/1 (2016), 6–59. 29 Yannick Simon, Hector Berlioz, compositeur français »aux trois quarts allemands«, in: Myriam Chimènes (Hg.), La musique à Paris sous l’Occupation, Paris 2013, 83–96.

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(1940 schrieb er eine Biografie über Debussy). Sein Wissen über die französische Musikwelt entwickelte er während der Besatzung Frankreichs. Er arbeitete ab 1940 regelmäßig für die Propagandastaffel und die deutsche Botschaft in Paris. Ab 1941 war er auch als Journalist für die Pariser Zeitung aktiv.30 Ähnlich ambivalent war die Karriere von Hans Rosbaud, der von 1941 bis 1944 im annektierten Straßburg Generalmusikdirektor war, ab 1948 hatte er diese Funktion beim SWF inne. Strobels in dieser Zeit entstandenen Kontakte waren mit ein Grund für sein Engagement beim SWF und beeinflussten die Musikpolitik des Senders maßgeblich. Deren Nachwirkungen zeigten sich auch in einem ganz anderen Zusammenhang. So erhielt Heinrich Strobel für sein eigenes Entnazifizierungsverfahren im Rahmen seiner Bestellung als Leiter der Musikabteilung des SWF Gutachten von Claude Delvincourt, Roger Desormière, Serge Moreux, Arthur Honegger, Jean Françaix und Marcel Delannoy.31 Auf der Liste stehen Komponisten, deren Verhalten während der Besatzungszeit immer noch kontrovers diskutiert werden.32 Bekanntlich waren gerade die beiden letztgenannten Musiker und Komponisten zur Zeit der Besatzung Frankreichs wichtige Mitglieder der Groupe Collaboration, die sich für eine dezidierte Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern aussprach. Mit seiner Mitwirkung an der französischen Musikpolitik übernahm Heinrich Strobel letztlich die Rolle eines »ambivalenten Mittlers«, d. h. eines Mittlers, der sich »in der Regel durch eine doppelte Na¨he zum Verso¨ hnungs- und Anna¨ herungswunsch einerseits sowie dem der Kultur stets innewohnenden hybriden Konfliktpotenzial andererseits auszeichnet«.33 Dies führte zu zweifelhaften Entscheidungen in Hinblick auf den exemplarischen Charakter, der der französischen Musik zugeschrieben wurde. Am 29. Dezember 1946 wurde ein Werk des französischen Komponisten Jean Hubeau, das er selbst am Klavier interpretierte, gesendet. Zur selben Zeit wurde Hubeau wegen seiner Mitwirkung an Programmen von Radio-Paris während des Kriegs auf Geheiß der »Säuberungskommission« (Commission d’épuration) der Radiodiffusion française von französischen Sendern nicht mehr gespielt.34 Gut ein Jahr später, als die deutsche

30 Schwartz, Versunkene Welt, 2001, 300–317. 31 AD, 1AC595/8, Dossier Strobel, directeur des services musicaux du SWF. 32 Zum Fall Honegger vgl. Christiane Strucken-Palland, »On n’a rien à me reprocher«: Arthur Honegger und die Frage der Kollaboration, in: Peter Jost (Hg.), Arthur Honegger, Werk und Rezeption, Wien 2009, 107–133. 33 Joachim Umlauf, Erniedrigte und Beleidigte. Der ambivalente Mittler im deutsch-französischen Kulturfeld zwischen Ressentiment und Erweckungsmission, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4/2 (2013), 82. 34 Archives nationales (AN), F43/171, Liste ge´ne´rale des Fonctionnaires contractuels, auxiliaires et artistes interdits a` la radiodiffusion franc¸aise en raison de leur comportement ou de leur collaboration aux e´missions de Radio-Paris, 1. 3. 1947. Vgl. Karine Le Bail, Musique, pouvoir,

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Erstaufführung seines Violinkonzerts im SWF stattfand, galt das Verbot immer noch. Dass die Jahre der deutschen Besatzung Frankreichs auch nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 noch tabu waren und den Austausch zwischen Frankreich und Deutschland erschwerten, zeigen zum Beispiel die Schwierigkeiten, die die Aufführung der Opera semiseria Leonore 40/45 bereitete. Das Libretto dieser Operette, deren Handlung während der Besatzungszeit spielte und die eine Liebesbeziehung zwischen einer Französin und einem Deutschen behandelte, wurde 1952 von Heinrich Strobel zur Musik von Rolf Liebermann geschrieben. Strobel wollte die infolge dieser Operette komponierte Suite im Rahmen eines Auslandskonzertes 1953 in Paris zur Aufführung bringen, aus finanziellen und logistischen Gründen kam es aber nicht dazu. Henry Barraud, Leiter der Musikabteilung (»directeur de la musique«) des Senders Radiodiffusion française und Leiter der Radiostation Chaîne nationale, war hingegen nicht bereit, das Werk über einen französischen Sender auszustrahlen.35 Dass die konfliktreiche Geschichte der beiden Länder seit dem 19. Jahrhundert und der entsprechende Wettbewerb zwischen den zwei Kulturen auf die Mentalität der Verwaltungsbehörden rückwirkte, zeigt sich auch darin, dass bei Thimonniers Analyse des »deutschen Hörers« essenzielle Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen gemacht wurden. Die von der ›Völkerpsychologie‹ beeinflusste Schrift Thimonniers zog scharfe Trennlinien zwischen »esprit germanique« und »esprit français«, also zwischen »Germanentum« und »französischem Geist«. Die Begriffe, die verwendet wurden, um den jeweiligen Nationalcharakter zu charakterisieren, zeugen von tief verwurzelten Stereotypen. So war französische Musik durch ihre Klarheit (»clarté de style«), ihre Deutlichkeit (»netteté d’expression«), ihre Nüchternheit (»sobriété«) und ihr rechtes Maß (»mesure«) gekennzeichnet, während der »germanische« Charakter der Musik Wagners sich zum Beispiel in seiner »obskuren Philosophie, seinem Hang zu heidnischen Sagen und verworrenen Allegorien, seinem zornigen Verlangen nach ästhetischem Imperialismus«36 äußerte. Auch wenn hier eine scharfe Trennlinie zwischen deutscher und französischer Musik gezogen wurde, war es doch Thimonniers Ziel, einen ›Kommunikationsraum‹ zwischen deutscher und französischer (beziehungsweise internationaler) Kultur durch Musik zu eröffnen.

responsabilité: la politique musicale de la Radiodiffusion française, 1939–1953, unveröffentlichte Dissertation, Institut d’Études Politiques, 626–638. 35 Henry Barraud, Un compositeur aux commandes de la radio, Paris 2010, 781. 36 »Philosophie obscure, son goût des légendes barbares et des allégories fumeuses, son furieux besoin d’impérialisme esthétique«. Siehe: Thimonnier, Principes, 1945, 6.

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Vermittlung und Akzeptanz der Musikpropaganda Tatsächlich zeigen die ersten Programme des SWF-Sinfonieorchesters, dass aktiv versucht wurde, einen Kommunikationsraum zwischen deutschen Hörer*innen und französischer Musik zu eröffnen. Dies schlug sich in der Suche nach »kulturellen Äquivalenten« nieder. So wurde etwa am 26. Dezember 1946 statt des üblichen Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach L’enfance du Christ von Berlioz unter Mitwirkung des Straßburger Domchors gespielt und gesendet. Thimonnier stellt fest, dass die deutschen Hörer*innen Berlioz besonders gut aufnahmen, da er bereits zu seinen Lebzeiten ein positives Echo in Deutschland erfahren hatte. Der Fall Berlioz zeigt aber auch, dass die Übertragung französischer Musik nicht allein darauf abzielte, eine vermeintliche Überlegenheit der französischen Kultur unter Beweis zu stellen, sondern vor allem auch darauf, Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Kulturen zu unterstreichen. Sechs Monate zuvor, am 21. Juli 1946, wurden etwa in einem Programm Ähnlichkeiten zwischen der deutschen und der französischen Kultur hervorgehoben sowie auf den im 19. Jahrhundert bereits vielfach gepflegten Austausch zwischen diesen beiden Ländern hingewiesen. Dieses Programm erfolgte in Abstimmung mit der Kunstausstellung France – Pays de Bade, die der Service des Beaux-Arts zeitgleich organisierte. Bei diesem Anlass spielte das SWF-Sinfonieorchester ausschließlich Werke, die in Baden-Baden entweder komponiert oder uraufgeführt worden waren, darunter auch solche von französischen Komponisten wie Hector Berlioz oder August Reyer.37 Um das Verständnis für französische Musik zu fördern wurden zwischen den Sinfoniekonzerten – also in den Pausen – oftmals Vorträge gehalten, welche sich der Entwicklung der französischen Musik und deren Verbindungen zur deutschen Musik widmeten. Nicht nur bei dem schon erwähnten Berlioz-Konzert wurde auf eine gemeinsame deutsch-französische Musikgeschichte hingewiesen, sondern auch bei einem Konzert am 17. November 1946 mit Werken von Brahms, Mozart und Debussy. Bei dieser Aufführung unterstrich der Sprecher, dass »der Weg von Debussy zu Mozart […] nicht so weit [sei]«,38 und betonte insbesondere die Bewunderung Debussys für Mozart. Knapp ein Jahr später bot ein Konzert am 19. Oktober 1947 die Gelegenheit, die internationale Verflechtung der Musik von César Franck zu unterstreichen. Dabei wurde der Einfluss Francks auf die 37 Dabei wurde folgendes Programm gespielt: die Ouvertüre zu Beatrice und Benedict von Hector Berlioz, die Rheinhymne von August Reyer, die Romanze aus Fausts Verdammung, ebenfalls von Hector Berlioz, und schließlich die 2. Sinfonie von Johannes Brahms. Vgl. Defrance, Politique culturelle, 1996, 129; Martin Schieder, Expansion/Integration. Die Kunstausstellungen der französischen Besatzung im Nachkriegsdeutschland, München/ Berlin 2004, 41–43. 38 SWR P05815, Manuskript für die Sendung des Sinfoniekonzerts am 17. 11. 1946.

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französische Musik mit jenem des Komponisten Johannes Brahms auf die deutsche Musik verglichen.39 César Franck, ein Komponist deutsch-belgischer Abstammung, versinnbildlichte einen Musiker, der das Beste aus dem Klassizismus der deutschen Meister gelernt und sich mit den Werken von Johann Sebastian Bach auseinandergesetzt hatte. Zugleich gab es in seinen »Symphonischen Variationen« wesentliche Innovationen, welche die Entwicklung der französischen Musik prägten.40 Wie Berlioz war aber auch César Franck ein ambivalenter Fall, denn Musikkritiker der NS-Zeit hatten versucht, Franck zu germanisieren, um schließlich seine Zugehörigkeit zur deutschen Kultur unter Beweis zu stellen.41 Wie das Publikum letztlich auf das dargebotene Programm des SWF reagierte und dieses rezipierte, ist schwer zu beantworten. Über die Reaktion der Rundfunkhörer*innen und Konzertbesucher*innen ist tatsächlich wenig bekannt. Die Mitglieder der Musikabteilung des SWF waren sich wohl bewusst, dass der Großteil der französischen Musik und mehr noch der zeitgenössischen Musik nicht unbedingt auf Zuspruch stieß. In der Melos-Ausgabe vom Februar 1947 wurde zum Beispiel eine »Rundfrage«42 über Maurice Ravels Bolero veröffentlicht. Darin finden sich fast ausschließlich negative Bewertungen, ausgenommen jene des Herausgebers des Melos. Der Inhalt dieser Umfrage, die sich durch einen satirisch-humorvollen Unterton auszeichnete, bot erwartbare stereotype Hörer*innenreaktionen. So wurde etwa ein »Bayreuthpilger (über 80 Jahre)« zitiert, der Ravels Bolero als ein »Machwerk« und als »Sinnenkitzel«43 abtat. Tatsächlich lassen sich Hinweise darauf finden, dass die französische Musikpolitik nicht ganz so erfolgreich war wie erhofft. Ab Mai 1947 wurde etwa in der Pause der Sinfoniekonzerte die Sendung »Kritik der Zeit« ausgestrahlt. Dieses Format – eine literarische Sendung von Alfred Döblin – richtete sich wie die Konzerte an ein eher bürgerliches und gebildetes Publikum. Die breiten Schichten erreichte man mit beiden Formaten nicht. Auch die Einnahmen mancher Konzerte beunruhigten den Direktor der Bäder- und Kurverwaltung Baden-Baden, Erich von Prittwitz und Gaffron. Er äußerte am 22. Dezember 1948 seine Besorgnis darüber, dass die Konzerte des SWF-Sinfonieorchesters viel zu wenig besucht wurden.44 Die am wenigsten frequentierten Konzerte in der ersten Hälfte der Saison 1948/49 waren jene am 31. Oktober 1948 (mit Werken von 39 Ebd., Manuskript für die Sendung des Sinfoniekonzerts am 19. 10. 1947. 40 Ebd. 41 David Fanning/Erik Levi, Introduction. The foundations of Nazi musical imperialism, in: David Fanning/Erik Levi, The Routledge Handbook to Music under German Occupation, 1938–1945. Propaganda, Myth and Reality, London/New York 2020, 5. 42 O. A., Unsere Rundfrage: Ravels Bolero – weltberühmt?, in: Melos 14/4 (1947), 122–125. 43 Ebd., 125. 44 SWR, P21276, Brief von Erich von Prittwitz und Gaffron an Hans Rosbaud, 22. 12. 1948.

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Gioachino Rossini, Claude Debussy, Igor Strawinsky, Jacques Ibert und Richard Strauss unter Mitwirkung des Pariser Saxofonisten Marcel Mule) und am 12. Dezember 1948 (mit Werken von Olivier Messiaen, Hans Werner Henze, Felix Mendelssohn Bartholdy und Carl Maria von Weber). Dagegen waren die zwei erfolgreichsten Konzerte die des 19. September 1948 (mit Werken von Paul Hindemith, dem Cellokonzert von Robert Schumann und einer Symphonie von Pjotr Iljitsch Tschaikowski) und des 10. Oktober 1948 (das als erstes Konzert mit Hindemith als Dirigent in Deutschland einen nationalen Impetus hatte). Für Erich von Prittwitz und Gaffron lag das geringe Interesse des Publikums an dem zu hohen Stellenwert, der der »neuen Musik« eingeräumt wurde, aber auch daran, dass zu wenige deutsche Künstler in Baden-Baden gastierten.

Resümee Das SWF-Sinfonieorchester spielte in der Kulturpolitik der französischen Zone eine besondere Rolle. Ursprünglich zielte diese darauf ab, einen Beitrag zur Demokratisierung der Deutschen zu leisten. Noch immer prägten Stereotype oder gar Feindbilder den Blick auf Frankreich. Im Rahmen der Kulturarbeit versuchte Frankreich aber grundsätzlich, einen Kommunikationsraum zwischen deutscher und französischer Kultur zu eröffnen. Immer wieder stieß man dabei seitens des deutschen Publikums auf Widerstand, der sich allerdings nicht ausschließlich gegen die französische Musik, sondern auch gegen modernere musikalische Ansätze richtete. Auch wenn Feindbilder und Spannungen die Frühgeschichte des SWF-Orchesters bestimmten, erfüllte es – über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus – eine aktive Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland. Das SWF-Sinfonieorchester war schließlich das erste deutsche Orchester, das nach dem Krieg 1949 in Frankreich gastierte. Auch wenn die deutsch-französische Zusammenarbeit für die Tätigkeit des Orchesters richtungsweisend blieb, brachte die zunehmende Internationalisierung der Musikaktivitäten des SWF ein Schwinden des französischen Einflusses mit sich. So endete das Jahr 1955 zwar mit einer Tournee in Frankreich (mit Konzerten in Dijon, Aix-en-Provence und Toulon), inzwischen pflegte das Orchester aber auch enge Kontakten zu Italien und der RAI (Tournee in Venedig und Mailand 1953) und öffnete sich mit der Organisation der Tagung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik auch der zeitgenössischen westeuropäischen und amerikanischen Musik.

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Amerika-Bilder und Musikkontrolle – Zensur im Musikprogramm der amerikanischen Besatzungssender im Jahr 1946

Von Anbeginn der amerikanischen Besatzungszeit in Deutschland war Zensur als Instrument der Informationskontrolle in deutschen Medien vorgesehen – so auch im Radio, wie es die Psychological Warfare Division schon 1945 festgelegt hatte. Diese Informationskontrolle war als Dreischritt konzipiert und sah erstens das Verbot aller deutschen Medien, zweitens den Einsatz von alliierten Informationsdiensten – darunter den Rundfunk – und drittens den Betrieb dieser Dienste und Medien durch Deutsche unter alliierter Aufsicht vor. Zensur spielte insbesondere in der dritten Phase eine Rolle und war sowohl in Form einer Vorals auch einer Nachzensur durch die Kontrolle der Sendemanuskripte vorgesehen: »It is the responsibility of Information Control personnel to approve the output, prior to production, of all Germans who have been granted conditional licences. […] It is responsibility [sic] of Information Control personnel to check carefully the output of licensees for breaches of Policy and Operating Instructions.«1

Dieses Vorgehen sollte der amerikanischen Militärregierung dazu dienen, eine weitere Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts in Deutschland zu verhindern, die Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Dekartellisierung und Demokratisierung sicherzustellen und Deutschland ›umzuerziehen‹.2 Charakterisierend für diese Reeducation-Politik ist nach Katharina Gerund und Heike Paul das Machtgefälle zwischen dem besetzten Deutschland und den besetzenden Alliierten, das durch eine »(einseitige) US-amerikanische Diskurshoheit«3 zum Ausdruck kam und Deutschland den USA als »Projektionsfläche [für]

1 Psychological Warfare Division (Hg.), Appendix H: Manual for the Control of German Information Services, in: An Account of its Operations in the Western European Campaign, 1944–1945, Bad Homburg 1945, 186. 2 Vgl. Uta Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley/Los Angeles 2000, 37. 3 Katharina Gerund/Heike Paul, Einleitung, in: Katharina Gerund/Heike Paul (Hg.), Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945, Bielefeld 2015, 7–18, hier 11.

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Freiheit, Frieden, […] Wohlstand bzw. Wohlstandsversprechen [und] eine Arbeitsethik, die ein kapitalistisches System trägt«,4 diente. Dass sich diese Reeducation-Politik insbesondere auch kultureller Kanäle bediente, haben Untersuchungen diverser Disziplinen gezeigt. Die Rolle, die die Medienzensur insbesondere im Bereich des Rundfunkprogramms spielte, wurde dabei sehr unterschiedlich bewertet: Während der Historiker Larry Hartenian den nahezu spielerischen Charakter der Vorzensur und die freundschaftliche Atmosphäre zwischen deutschen Redakteur*innen und amerikanischen Zensor*innen im Frankfurter Radio hervorhob,5 betonte Alexander Badenoch gerade die Strenge, mit der Manuskripte im Vorfeld der Sendungen zensiert wurden6. Davon, dass der Zensur in unterschiedlichen Formen im US-amerikanisch besetzten Rundfunk noch bis ins Jahr 1948 und darüber hinaus eine wichtige Rolle zukam, zeugen Besprechungsprotokolle Radio Stuttgarts.7 Studien zur Rundfunkgeschichte sowie zur Informations- und Kulturpolitik der amerikanischen Besatzung haben für den Bereich der Nachrichten und der politischen Wortsendungen herausgearbeitet, dass insbesondere solche Passagen gestrichen wurden, die Resignation verspüren ließen, die Härte der Nachkriegszeit thematisierten, nationalistische und rassistische Passagen enthielten oder Kritik an den Besatzungsmächten übten.8 Inwiefern speziell auch Musikprogrammmanuskripte einer Zensur unterlagen, ist hingegen noch wenig untersucht worden.9 4 Ebd. 5 Larry Hartenian, Controlling Information in U.S. Occupied Germany, 1945–1949: Media Manipulation and Propaganda, New York/Ontario 2003, 125. 6 Alexander Badenoch, Voices in Ruins. West German Radio Across the 1945 Divide, New York 2008, 97f. Mit ihrer Dissertationsschrift bot Elfriede Sieder eine weitere Arbeit zum Themenfeld alliierter Medienzensur an (hier insbesondere mit Bezug auf Österreich), allerdings bleiben das Verhältnis der Zensor*innen und Mitarbeiter*innen am Rundfunk bzw. die zensorischen Selektionskriterien weitgehend ausgespart. Vgl. Elfriede Sieder, Die alliierten Zensur-Maßnahmen zwischen 1945–1955. Unter besonderer Berücksichtigung der Medienzensur, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1983. 7 Peter Kehm (?), Verwaltungssitzung im ›Spankörble‹, 1. 3. 1948, Protokoll Radio Stuttgart, in: Ordner Organisationsgeschichte SDR 1945ff. HA Kat. Nr. 2353, Hauptabteilung Information, Dokumentation und Archive des Südwestrundfunks und des Saarländischen Rundfunks Stuttgart (ehemals Su¨ ddeutscher Rundfunk = SWR-HA). Vgl. ebenso Fred G. Taylor, Memorandum Nr. 197, 3. 3. 1949, Radio Stuttgart, in: Organisationsgeschichte SDR 1945ff. HA Kat. Nr. 2353, SWR-HA: »In Fällen, in denen kein Amerikanischer [sic] Kontroll-Offizier zur Erteilung des OK für eine Sendung erreicht werden kann, haben folgende Herren die Befugnis, an Stelle eines Kontroll-Offiziers zu zeichnen: Herr Rossmann, Herr Dr. Kehm, Herr Küffner.« 8 Ulrich M. Bausch, Die Kulturpolitik der US-amerikanischen Information Control Division in Württemberg-Baden von 1945 bis 1949: zwischen militärischem Funktionalismus und schwäbischem Obrigkeitsdenken, Stuttgart 1992, 88. 9 Eine der wenigen Ausnahmen, in denen Musikzensur im Radio innerhalb der amerikanischen Besatzungszone thematisiert wird, bildet die unveröffentlichte Magisterarbeit von Daniela Unger, Musik im deutschen Rundfunkprogramm 1945–1949. Zur amerikanischen Einflussnahme bei Radio Stuttgart, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Tübingen 1998. Siehe

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Die US-Militärregierung schrieb gewissen Musikstücken und musikalischen Akteuren einen speziellen politischen Gehalt zu, weshalb sie eine ›Musikkontrolle‹ als notwendig erachtete: »The whole problem of music control was among the most difficult facing ICD. It involved the question: just how political is music?«10 Ziel dieses Beitrags ist es daher, am Beispiel des US-Besatzungssenders Radio Stuttgart zu veranschaulichen, wie auch im Musikprogramm diese ›Projektionsflächen‹ geschaffen wurden. So zeigt sich bei genauerer Untersuchung, dass selbst populärmusikalischen Musikexporten der USA nach Deutschland eine politische Dimension anhaftete. Dabei galt es, diese Facetten möglichst zu kontrollieren, die Deutungsmöglichkeiten einzuschränken und die Sendung in den Dienst der Konstruktion von Amerika-Bildern zu stellen, die amerikanisierte Vorstellungen von Moderne, Urbanität und wirtschaftlichem Wachstum verbreiteten.

Musikkontrolle und -propaganda am Beispiel des Musicals Oklahoma! bei Radio Stuttgart Es wird schnell deutlich, dass sich der Zensurbegriff nicht auf ein eng definiertes Handlungskonzept reduzieren lässt. Daher sollen hier zwei theoretische Ansätze einen Anhaltspunkt bilden. Sue Curry Jansen unterscheidet zwischen einer auch: Daniela Unger, Musik im deutschen Rundfunkprogramm 1945–1949. Zur amerikanischen Einflußnahme bei Radio Stuttgart, in: Georg Günther/Reiner Nägele (Hg.), Musik in Baden-Württemberg, Bd. 5, Stuttgart 1998, 201–222. Vgl. außerdem zur französischen Besatzungszone: Sabine Friedrich, Rundfunk und Besatzungsmacht: Organisation, Programm und Hörer des Südwestfunks 1945 bis 1949, Baden-Baden 1991, 165–177. Für eine Perspektive auf den amerikanischen Sektor in Berlin siehe: Petra Galle, RIAS Berlin und Berliner Rundfunk 1945–1949. Die Entwicklung ihrer Profile in Programm, Personal und Organisation vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, Münster 2003; Badenoch, Voices in Ruins, 2008. 10 Psychological Warfare Division (Hg.), The Psychological Warfare Division. Supreme Headquarters. Allied Expeditionary Force. An Account of its Operations in the Western European Campaign, 1944–1945, Bad Homburg 1945, 104. Bei der ICD handelte es sich um die Information Control Division, die am 13. 7. 1945 aus der Psychological Warfare Division hervorging und die Aufgaben der Informationskontrolle für den deutschen Raum von dieser übernahm und weiterführte. Zu den Aufgaben gehörte u. a. das Führen von Umfragen und die Erfassung der deutschen Medienlandschaft und damit die Schaffung eines Überblicks, die Koordinierung und Umsetzung von Direktiven sowie die Kontrolle des Pressewesens, des Rundfunks, des Film-, Theater- und Musikbetriebs. Vgl. dazu: Erwin John Warkentin, The History of U.S. Information Control in Post-War Germany: The Past Imperfect, Newcastle upon Tyne 2016, 15, 25–28. Für die ICD in Stuttgart außerdem: Bausch, Kulturpolitik. Für Radio Frankfurt: Larry Hartenian, Propaganda and the Control of Information in Occupied Germany: the US Information Control Division at Radio Frankfurt 1945–1949, Dissertation Rutgers State University of New Jersey 1984.

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konstitutiven und einer regulativen Zensur.11 Erstere benennt die latenten und für selbstverständlich gehaltenen Regeln, mit denen in der Gesellschaft Diskurse geführt werden. Sie steht damit in den Diensten eines zivilisierenden Prozesses12 und verhandelt als ›positive‹ Regulierung die Grenzen des Sagbaren zum Schutz bestimmter Gruppen.13 ›Regulative‹ Zensur hingegen beschreibt Jansen zufolge die Einschränkung öffentlicher, medialer Meinungsäußerung auf politischer, ideologischer oder ästhetischer Basis. Sie kommt damit dem gängigen Verständnis von Zensur nahe, diese als prohibitiven Eingriff häufig in Form von staatlicher Kontrolle zu begreifen, wie ihn auch Sabine Friedrich in ihrer Studie zum französischen Besatzungssender und dessen Programm in Baden-Baden verwendet hat.14 Historische Forschung zur Zensur im Allgemeinen scheint sich vornehmlich mit dieser Form beschäftigt zu haben, so auch Aleida und Jan Assmann, die sich mit Zensur im Zusammenhang von Kanonisierungsprozessen auseinandersetzten.15 In ihrem Theorieentwurf fungiert Zensur als »Wächter der Tradition«16 und »›Grenzposten‹ der Überlieferung«17 in zweifacher Ausprägung: Als sogenannte ›Textpflege‹ meint Zensur eine Kontrolle der Worttreue eines textlich festgehaltenen Kommunikationsprozesses. Da sich in Folge dieser Textpflege, die einen Text in seiner ursprünglichen Gestalt zu bewahren versucht, der Textsinn von einer dem zeitlichen, gesellschaftlichen und ideellen Wandel ausgesetzten Realität entfremdet, bedarf es weiterhin einer sogenannten ›Sinnpflege‹, die das Textverständnis je nach zeitlichem und örtlichem Kontext aktualisiert und auf das Leben anwendungsbezogen interpretiert.18 Akteur*innen dieser Formen von Zensur scheinen je nach Kulturraum mit bestimmten Institutionen und Funktionsträgern verknüpft zu sein, können aber auch durch die von der Zensur betroffenen Subjekte selbst verkörpert werden. Dabei ist zwischen einer »expliziten«19 und einer »präventiven Zensur«20 zu unterscheiden. Ver-

11 Zit. nach: Jim McGuigan, Culture and the Public Sphere, London/New York 1996, 155. 12 John Street, Music and Politics, Cambridge/Malden 2012, 18. 13 Vgl. Annemette Kirkegaard/Jonas Otterbeck, Introduction: Research Perspectives on the Study of Music Censorship, in: Annemette Kirkegaard/Helmi Järviluoma/Jan Sverre Knudsen/Jonas Otterbeck (Hg.), Researching Music Censorship, Newcastle upon Tyne 2017, 3. 14 Vgl. Friedrich, Rundfunk und Besatzungsmacht, 1991, 165. 15 Aleida und Jan Assmann, Kanon und Zensur, in: dies. (Hg.), Kanon und Zensur, München 1987, 7–27. 16 Ebd., 11. 17 Ebd. 18 Ebd., 12f. 19 Ebd., 20. Anstelle von »expliziter Zensur« ist in der Forschung häufiger von »äußerer Zensur« die Rede, vgl. hierzu auch: Stefanie Acquavella-Rauch, Operette und die (Wiener) Theaterzensur – Politik auf der Bühne?, in: Die Musikforschung 73/2 (2020), 121. Ebenso: Barbara Mettler, Demokratisierung und Kalter Krieg. Zur amerikanischen Informations- und Rundfunkpolitik in Westdeutschland 1945–1949, Berlin 1975, 97.

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standen als »Anpassungsdruck der Allgemeinheit in das Innere des Einzelnen verlängert«,21 bleibt die präventive Zensur nur schwer nachvollziehbar, da sie unmittelbar in den Schaffensprozess eingeschrieben ist. Explizite Zensur hinterlässt hingegen durch Streichungen deutliche Spuren in der Überlieferung und lässt sich so auch heute noch nachvollziehen.22

Abb. 1: Sendemanuskript der Bunten Stunde, 9. 3. 1946, Radio Stuttgart, 21:30–22 Uhr, SWRHA, 1.

Während politische Wort- und Nachrichtensendungen einer restriktiveren Zensurpraxis unterlagen, was sich durch deutliche Eingriffe in die Sendemanuskripte von Wortprogrammen ausdrückt,23 liefen diese Prozesse im Bereich der 20 Assmann, Kanon und Zensur, 1987, 19. Alternativ werden in der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung häufiger die Begriffe Vor-, Selbst- oder innere Zensur verwendet. Vgl. auch Djawid Carl Borower, Theater und Politik. Die Wiener Theaterzensur im politischen und sozialen Kontext der Jahre 1893 bis 1914, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1988. Johann Hüttner, Vor- und Selbstzensur bei Johann Nestroy, in: Maske und Kothurn 26/ 3–4 (1980), 234–248. Acquavella-Rauch, Politik auf der Bühne? Für eine rundfunkhistorische Sicht vgl.: Mettler, Demokratisierung und Kalter Krieg, 1975, 97. 21 Assmann, Kanon und Zensur, 1987, 20. 22 Ebd. 23 Vgl. z. B. die Verwendung von Sperrstempeln mit dem Hinweis »Nicht genehmigt«, in o. A., »Weltnachrichten und Nachrichten aus und über Deutschland, 1. 7. 1946«, Sendemanuskript Radio Bremen, 21–21:15 Uhr, Programmvermögen und Informationsservice Radio Bremen (= RB-HA). Siehe ebenso den Hinweis »Achtung! Streichung! Es ist unbedingt darauf zu achten, daß dieses Manuskript gelesen wird«. Hans Christian Rudolphi/Karl Kampffmeyer, »Einkehr, 9. 6. 1946«, Sendemanuskript Radio Bremen, 18–18:30 Uhr, RB-HA. Als Grundlage für diese Einschätzung dienen die Sendemanuskripte der Musikprogramme von Radio Stuttgart bis August 1948 und Radio Bremen bis September 1946.

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Musikprogramme scheinbar subtiler ab. Hier finden sich diese Eingriffe zwar vereinzelt ebenso, allerdings gewinnt Zensur hier durch das Senden von amerikanischer Musik im Zusammenspiel mit der Einflussnahme auf das Musikprogramm eine eigene Relevanz. Die Integration solcher Musik in das Rundfunkprogramm konnte einer Vielzahl von Zwecken dienen: darunter das Verhindern bestimmter deutscher – oder von Deutschen interpretierter – Musik, der Beweis, dass die USA über einen eigenen ausgeprägten und von Europa unabhängigen Musikbetrieb verfügten oder die Konstruktion von Amerika-Bildern. Die Sendung »Bunte Stunde« von Radio Stuttgart, die am Samstag, den 9. März 1946 von 21:30 bis 22 Uhr Ausschnitte »aus der von pulsierendem Leben erfuellten, an Melodien ueberreichen neuen amerikanischen Erfolgsoperette ›Oklahoma‹«24 (Uraufführung New York, 1943) brachte, macht insbesondere diese Vermittlung einer bestimmten Sichtweise auf die USA sehr deutlich. Denn während Inszenierungen dieses Musicals25 frühestens ab den 1950er-Jahren in Deutschland auf die Bühne kamen, fungierte das Radio hier als das Medium, das Hörer*innen in der Breite zum ersten Mal überhaupt in Kontakt mit amerikanischen Musicals brachte.26 Im Sendeprogramm hob sich diese Sendung besonders durch den Kontrast zum umrahmenden Programm hervor, nachdem der »Bunten Stunde« u. a. eine Übertragung von Beethovens Oper Fidelio, eine Sendung mit deutschen Liebesgedichten und der regelmäßige »Schlager-Cocktail« vorausgegangen waren.27 Das Manuskript ist abgezeichnet vom US-Script Supervisor Hermann »Kip« Chevalier,28 der als Kontrolloffizier die Manuskripte prüfte, sowie von Cläre Schimmel, die als deutsche Oberspielleiterin bei Radio Stuttgart arbeitete. Über die Autor*innen der Sendung geben weder das Manuskript selbst noch die dem Manuskript vorangestellte Programm-Nachweisung Auskunft, die Informationen zu diversen Mitwirkenden wie dem Spielleiter, der Ansagerin und dem

24 O. A., »Bunte Stunde«, 9. 3. 1946, SWR-HA, 1. 25 Hier wird der Begriff ›Musical‹ verwendet, um das schwer definierbare Genre ›musical play‹ zu bezeichnen, das vor allem mit Oklahoma! assoziiert wird und das im Gegensatz zur ›musical comedy‹ eine mehr oder minder ernst zu nehmende Handlung sowie meist folkloristisch-geprägte oder populäre Musik, Tanz und Dialoge integriert, dabei aber den Fokus auf Unterhaltung beibehält. Vgl. dazu: Tim Carter, Oklahoma! The Making of an American Musical, New Haven 2007. Giselher Schubert, Art. ›Musical‹, in: MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel et al. 2016ff., veröffentlicht Oktober 2021, https://www.mgg-online.com /mgg/stable/11952 (11. 12. 2021). John Snelson/Andrew Lamb, Art. ›Musical‹, in: Grove Music Online, o. Hg., o. O. 2001. 26 Wolfgang Jansen, ›I’ve Grown Accustomed …‹. Das Musical kommt nach Deutschland, 1945– 1960, in: Nils Grosch/Elmar Juchem (Hg.), Die Rezeption des Broadwaymusicals in Deutschland, Münster et al. 2012, 21. 27 Vgl. o. A., »[Wöchentliche Programmübersicht]«, in: Radio-Woche I/13 (1946), o. S. 28 Vgl. ebd. für eine Zuordnung des Kürzels anhand seiner Unterschrift.

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Abb. 2: Profil von Hermann »Kip« Chevalier, Musikkontroll-Offizier bei Radio Stuttgart, ›Wir stellen vor: Unsere amerikanischen Berater‹, in: Radiospiegel 1/2 (1946), 6f.

Sprecher enthält.29 Auch ein Besetzungsbogen ist nicht überliefert. Sprecher war der aus dem beliebten »Operetten- und Schlagercocktail« Radio Stuttgarts bekannte Paul Land. Insgesamt zeichneten damit kaum Kontrolloffizier*innen, sondern nahezu ausschließlich deutsche Mitarbeiter*innen für den Produktionsund Sendeprozess verantwortlich. Die Musik selbst hingegen stammte von amerikanischen Decca-Schallplatten, die sich auf Oktober 1943 datieren lassen.30 Oklahoma! gilt für das amerikanische Musiktheater als eine der wegweisendsten Kompositionen, die Vaudeville-Stücke mit dramatischen und opernhaften Elementen verknüpft.31 Durch die Integration von amerikanischen folkloristischen Elementen, mundartlicher Sprache und Mythen des westlichen ›Frontiers‹ trug sie zur Etablierung eines eigenen, nationalen Musiktheaters bei.32

29 Als Spielleiter ist Oskar Nitschke angegeben, die Ansagerin war Käthe Elwenspoek. 30 Die Schallplatte erschien bei Decca unter den Nummern 23282–23285, gespielt von The Oklahoma Boys und einem nicht näher bezeichneten Orchester: https://adp.library.ucsb.ed u/index.php/objects/detail/318389/Decca_23282 (30. 7. 2020). Tatsächlich scheint es sich dabei um die Uraufführungsbesetzung gehandelt zu haben, die 1943 Auszüge des Musicals für Decca einspielte. Vgl. Cary O’Dell, »Oklahoma!« (Original cast recording) (1943), online: https://www.loc.gov/static/programs/national-recording-preservation-board/documents/O KLAHOMA!.pdf (21. 5. 2021). Die Sendung brachte die Ouvertüre, »Oh, What a Beautiful Mornin’«, »The Surrey with the Fringe on top«, »People Will Say We’re in Love«, »Out of My Dreams«, »Kansas City«, »All Er Nothin’« und »Oklahoma« und sah die Nummer »Pore Jud Is Daid« ursprünglich ebenfalls vor. 31 Andrea Most, ›We Know We Belong to the Land‹: The Theatricality of Assimilation in Rodgers and Hammerstein’s Oklahoma!, in: PMLA 113/1, Special Topic: Ethnicity (1998), 77–89, hier 78f. 32 Carter, Oklahoma! The Making of an American Musical, 2007, xv. Ein zentrales, heute als Mythos dechiffriertes Narrativ vom westlichen Grenzgebiet, das sich durch die Staatsgründung Oklahomas im Musical wiederfindet, stellte u. a. der Historiker Frederick Jackson Turner bereits 1893 mit seiner These vor. Danach legte das Leben an der ›Frontier‹ den Grundstein sowohl für die räumliche Expansion als auch für die politische und ökonomische Nationenbildung der USA, vgl. hierzu: Gerald D. Nash, Creating the West, Albuquerque 1991,

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Die Handlung ist bei Claremore, einem kleinen Ort nahe eines ›Indianer‹-Territoriums im amerikanischen Westen, angesiedelt und befasst sich vordergründig mit den Liebesgeschichten zweier Dreieckskonstellationen, darunter dem Cowboy Curly McLain, der sesshaft werden muss, um die Farmerstochter Laurey Williams zu heiraten, wobei deren sich anbahnende Beziehung durch den angsteinflößenden und teils aggressiven Landarbeiter Jud Fry erschwert wird. Die zweite Romanze nimmt den Cowboy Will Parker, seine Freundin Ado Annie und den Kaufmann Ali Hakim in den Blick. Auf einer zweiten Ebene weist das Stück über diese Liebesgeschichten hinaus und zeichnet ein Bild der USA, welches das amerikanische Spannungsfeld zwischen Individualität und gemeinschaftlichem Zusammenhalt zelebriert und die Entwicklung Oklahomas von einem Grenzterritorium des Westens hin zu einem US-Bundesstaat schildert.33 In ihr Tableau von einer utopischen Gesellschaft binden die jüdischen Komponisten und Librettisten Richard Rodgers und Oskar Hammerstein II explizit zwei jüdische Figuren ein, die Andrea Most jeweils als eine race-basierte und eine ethnisch-basierte Wahrnehmung von Juden in den USA der 1930er- und 1940erJahre beschrieben hat:34 Denn während der Kaufmann Ali Hakim den ›weißen‹ Juden als einen Repräsentanten jüdischer Ethnizität in den 1940er-Jahren verkörpert, die seine Assimilierung als Immigranten in die amerikanische Gesellschaft und die Erlangung einer Staatsbürgerschaft ermöglichte, repräsentiert der Erntehelfer Jud Fry den Typus des ›schwarzen‹ Juden.35 In Oklahoma! sind mit Letzterem dieselben Stereotype verknüpft, die auch dem zeitgenössischen, pejorativ-rassistischen Bild von Afroamerikanern anhafteten: Fremdheit, soziale Isolation und Unkultiviertheit, Gewalttätigkeit und eine damit verbundene sexuelle Freizügigkeit.36 Entsprechend dieser dichotomisierten Darstellung von Juden erscheint Ali als sympathische Figur, die unschuldig mit Frauen flirten und sich geschickt und ohne Gesichtsverlust aus einem ungewollten Heiratsversprechen herausmanövriert. Jud hingegen bedroht die gesellschaftliche Utopie, wirkt insbesondere auf Laurey als sexuelle Bedrohung und stirbt schließlich durch sein eigenes Messer, als er aus Eifersucht und in Trunkenheit einen Kampf mit Curly provoziert.37

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3. Zur Dekonstruktion des ›Frontier Myth‹ im 20. Jahrhundert: Richard Slotkin, Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, Norman 1998. Most, Assimilation in ›Oklahoma!‹, 1998, 79. Ebd. Ebd., 81. Ebd. Zum Topos des ›Schwarzen‹ als sexuelle Bedrohung vgl. auch: Jennifer Fay, ›That’s Jazz Made in Germany!‹: ›Hallo, Fräulein!‹ and the Limits of Democratic Pedagogy, in: Cinema Journal 44/1 (2004), 3–24, hier 6f. Susan Kollin, Captivating Westerns. The Middle East in the American West, Lincoln/London 2015, 125. Michael H. Kater, Forbidden Fruit? Jazz in the Third Reich, in: The American Historical Review 94/1 (1989), 14. Most, Assimilation in ›Oklahoma!‹, 1998, 84, 86.

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Der »Querschnitt«38 von Oklahoma! in Radio Stuttgarts »Bunter Stunde« erweist sich als mehr als das: Er offenbart trotz der primären Gestaltung durch deutsche Mitarbeiter*innen einen quasi propagandistischen Charakter, indem er nahezu vollständig auf eine Wiedergabe der Handlung verzichtet, im Musical thematisierte gesellschaftliche Konflikte nicht wiedergibt und tragende Figuren nicht erwähnt. Stattdessen fungiert die Sendung vielmehr in Form einer Sinnpflege, indem musikalische Nummern funktionalisiert und durch eine Verkettung von einleitenden Texten jeweils neu kontextualisiert werden. Ein Aspekt, der dies bereits in der Anlage der Sendung zeigt, ist die Distanz, die die Sendung zu einer werkgetreuen Wiedergabe des Musicals einnimmt, indem sie die Reihenfolge der Nummern neu anordnet und damit aus dem Handlungszusammenhang nimmt: Nummern in der Reihenfolge des Musicals39 Ouvertüre

Nummern in der Reihenfolge der Sendung Ouvertüre

Oh, What a Beautiful Mornin’ I/1.1 The Surrey with the Fringe on top I/1.3

Oh, What a Beautiful Mornin’ I/1.1 The Surrey with the Fringe on top I/1.3

Kansas City People Will Say We’re in Love

I/1.6 I/1.20

People Will Say We’re in Love Out of My Dreams

I/1.20 I/3.28

Pore Jud Is Daid Out of My Dreams

I/2.23 I/3.28

[Pore Jud Is Daid] Kansas City

I/2.23 I/1.6

All er Nuthin’ Oklahoma

II/1.37 All er Nuthin’ II/3.44 Oklahoma

II/1.37 II/3.44

Die Verschiebung der Nummern »Kansas City« und »Out of My Dreams« sticht hier besonders hervor, da sie innerhalb der Sendung eine Zweiteilung schafft und so eine Instrumentalisierung entlang zweier zentraler Topoi ermöglicht: in einem ersten Teil die Darstellung einer pastoralen und naturnahen, aber kultivierten Idylle eines ›Indianer‹-Territoriums, in einem zweiten Teil die Darstellung des Großstadttrubels. In dieser Kombination präsentieren sie zentrale Elemente des amerikanischen ›way of life‹ und heben dessen Vorzüge und Herausforderungen hervor. Entsprechend leitet die Sendung ein: »Die Operette erzaehlt die Geschichte des Lebens in Oklahoma, einem Staat des Mittelwesten Amerikas. […] Sie hoeren nun das Lied dieser Farmer […] ›Es ist ein prachtvoller Morgen‹.«40 Darin besingt Curly seine morgendlichen Natureindrücke, die er sammelt, als er durch die 38 O. A., »Bunte Stunde«, 9. 3. 1946, SWR-HA, 3. 39 Die tabellarische Darstellung berücksichtigt nur diejenigen Nummern des Musicals, die auch auf der Decca-Einspielung vorlagen und Eingang in die Sendung fanden. 40 O. A., »Bunte Stunde«, 9. 3. 1946, SWR-HA, 1.

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Felder streicht, und deren wesentlichen Elemente sich als Bestandteile landwirtschaftlicher Kultivierung und Nutzbarmachung erweisen: »There’s a bright, golden haze on the meadow, There’s a bright golden haze on the meadow, The corn is as high as an elephant’s eye – […] An’ it looks like it’s climbin’ clear up to the sky.«41

Die Sendung greift die Ebene der Verklärung auf, die Curly im Kontext seiner idealisierten Darstellung einer landwirtschaftlichen Szene als Naturidylle einführt, und spinnt sie im darauffolgenden Lied »The Surrey with the Fringe on top« fort. Ist es im Musical noch eine humorvolle Neckerei zwischen Curly und Laurey, die zu deren Beziehungsentwicklung beiträgt, so reduziert die Sendung das Musikstück darauf, der Vergangenheit eine nostalgische Note zu verleihen (u. a. wird die »gute liebe alte Kutsche« idealisiert). Mithilfe der Liebesgeschichte eines anonym bleibenden Cowboys und einer Farmerstochter in »People Will Say We’re in Love« nimmt die Sendung darüber hinaus eine romantisierte Perspektive auf das Leben im amerikanischen Mittleren Westen an. Im Gegenzug zu diesen idealisierten Schlaglichtern auf das amerikanische Landleben lobt die Sendung in einem zweiten Teil die »aus der Wildnis [gewachsenen] grosse[n] Staedte, Fabriken und Oelraffinerien. […] Schon damals gingen die Bauern bezw. Farmer gern einmal in die Grosstadt [sic!] um einmal in dem Trubel unterzutauchen und sich zu amuesieren. Genau wie heute, so kamen sie auch damals schon mit leeren Taschen zurueck. Aber was hatten sie alles erlebt. Tagelang hatten sie zu erzaehlen.«42

Entsprechend heißt es im an der Stelle gesendeten Lied »Kansas City«: »Ev’rythin’s up to date in Kansas City. They’ve gone about as fur as they c’n go! They went and built a skyscraper seven stories high – About as high as a buildin’ orta grow.«43

Die Sendung evoziert hier die Faszination des Urbanen und Industriellen und schließt damit an Topoi von ›Amerikanisierungen‹ seit Beginn des 20. Jahrhunderts an bzw. wendet Versatzstücke von Antiamerikanisierungen ins Positive um, nach denen Amerika als Sinnbild und Kulturkritik für die Moderne diente.44 Zentrale Aspekte dessen – Massenkultur, technischer Fortschritt und Produk41 Richard Rodgers/Oscar Hammerstein II/Lynn Riggs, Rodgers & Hammerstein’s Oklahoma!. Music by Richard Rodgers. Book and lyrics by Oscar Hammerstein II. Based on Lynn Riggs’ »Green Grow the Lilacs«. As Originally Produced by The Theatre Guild, New York 1943, 1. 42 O .A., »Bunte Stunde«, 9. 3. 1946, SWR-HA, 2. 43 Rodgers/Hammerstein II/Riggs, Libretto Oklahoma!, 1943, 6. 44 Vgl. Jessica C. E. Gienow-Hecht, Always Blame the Americans: Anti-Americanism in Europe in the Twentieth Century, in: The American Historical Review 111/4 (2006), 1075, 1089.

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tivitätsversprechen – kommen in »Kansas City« in Form der Großstadt als einem Zentrum der Moderne zum Ausdruck.45 Die Sendung greift damit nicht nur Diskurse von Naturnähe und Urbanität, zivilisatorischer Entwicklung, Bewältigung und ländlicher Kultivierung auf, die der Staat Oklahoma als Grenzgebiet im Musical versinnbildlicht, sondern gewinnt vor dem Hintergrund eines zerstörten Deutschlands die Funktion einer »Projektionsfläche für vorwärts gewandte Utopien.«46 Oklahoma, als ein im Musical neu gegründeter Bundesstaat, wird zur Folie, die der Hörerschaft Radio Stuttgarts ihre eigene Lebenssituation vor Augen führte. Darin erscheinen eine romantisierte Vergangenheit und ein um die moderne Großstadt herum gesponnenes, euphorisches Fortschrittsnarrativ als Desiderate in einem zerstörten Deutschland. Als (mögliches) Propagandaprodukt dient die Sendung hier damit der Funktion, den deutschen Hörer*innen zu zeigen: »›You, too, can be like us‹ – ein zentraler Slogan der amerikanischen Reeducation-Politik.«47 Zensierend im Sinne von Aleida und Jan Assmanns’ Sinnpflege agiert die Sendung dann dadurch, dass Musicalnummern, die insbesondere in Oklahoma! dem Handlungsfortschritt dienen sollten, von diesem völlig entfremdet und in einen ganz neuen Deutungshorizont gestellt werden: Die Sendung konstruiert Amerika-Bilder vom Mittleren Westen nicht etwa als Querschnitt, sondern vielmehr als in neuer Abfolge arrangierte Versatzstücke des Musicals, wobei sie ausgewählte gesellschaftliche Aspekte herausgreift. Diese lassen die USA nicht als Besatzungsmacht erscheinen, sondern vermitteln einen nahbaren und persönlichen Eindruck, evozieren gleichzeitig jedoch auch Ideale, die in einer Linie mit der Reeducation-Politik stehen. Ein weiterer zensierender Eingriff in das Manuskript, nun aber als explizite Zensur, ist beim Übergang von der anfänglichen Darstellung einer Landidylle zum städtischen Porträt durch das Lied »Kansas City« zu erkennen. An dieser Stelle war ursprünglich Curlys Nummer »Pore Jud Is Daid« vorgesehen, in dem Curly versucht, Jud Fry mittels einer fiktiven, pathetischen Grabrede davon zu überzeugen, sich zu erhängen. Hierzu führt er Jud dessen Einsamkeit als Einsiedler und dessen Rolle eines gesellschaftlichen Außenseiters vor Augen und heuchelt ihm vor, das Dorf würde ihn erst im Tod akzeptieren:48

45 Vgl. Frank Becker, Amerikabild und ›Amerikanisierung‹ im Deutschland des 20. Jahrhunderts – ein Überblick, in: Frank Becker/Elke Reinhardt-Becker (Hg.), Mythos USA. »Amerikanisierung« in Deutschland seit 1900, Frankfurt/New York 2006, 19–48, hier 20–22. Peter Hoeres, Vor ›Mainhattan‹: Frankfurt am Main als amerikanische Stadt in der Weimarer Republik, in: Becker/Reinhardt-Becker (Hg.), Mythos USA, 2006, 71–98. Viktor Otto, Deutsche Amerika-Bilder. Zu den Intellektuellen-Diskursen um die Moderne 1900–1950, München 2006, 81. 46 Vgl. Becker, Amerikabild und ›Amerikanisierung‹ Überblick, 2006, 20. 47 Gerund/Paul, Amerikanische Reeducation-Politik nach 1945, Einleitung, 2015, 8. 48 Vgl. Kollin, Captivating Westerns, 2015, 126.

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[Curly] »Pore Jud Fry is daid! All gether ’round his cawfin now and cry. He had a heart of gold And he wasn’t very old – Oh, why did sich a feller have to die? […] [Jud] And folks are feelin’ sad Coz they useter treat him bad, And now they know their friend has gone fer good.«49

Abb. 3: Auszug aus dem Sendemanuskript zur Nummer »Pore Jud Is Daid«, »Bunte Stunde«, 9. 3. 1946, SWR-HA, 2.

Im Vergleich zur bisher beschriebenen Sinnpflege, mit der die Sendung das Musical im Kontext der Etablierung eines fortschrittlichen Amerika-Bildes adaptiert, tritt hier ein Fall von expliziter bzw. regulativer Zensur zutage, da diese Nummer wie auch ihre Einleitung im Manuskript nachträglich ersatzlos gestrichen wurde: »Es war ein harter Kampf für die Ansiedler, ihr Land zu verteidigen und fruchtbar zu machen. Sie hatten schwere Jahre zu ueberstehen. Aber ihre Muehen hatten Erfolg […]. Von einem dieser ersten Farmer erzaehlt das Lied: ›Der arme Judd ist tot‹, das Sie nun hoeren werden.«50

Der Grund dafür scheint angesichts der offensichtlichen Nähe des Namens »Jud« zu ›Jude‹ sowie Juds Verkörperung eines negativ-konnotierten, ›schwarzen‹ Jüdisch-Seins in unmittelbarem Zusammenhang mit der Thematik »Selbsttötung« und seiner gesamtgesellschaftlichen Diffamierung auf der Hand zu liegen. Dies wird im konkreten Sendekontext weiterhin dadurch verstärkt, dass jede Nummer

49 Rodgers/Hammerstein II/Riggs, Libretto Oklahoma!, 1943, 23f. 50 Ebd. Zur Reproduktion antisemitischer Muster in Rodgers’ und Hammersteins Musical vgl. Most, Assimilation in ›Oklahoma!‹, 1998. Die zitierte Streichung entspricht der im Manuskript.

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in einer deutschen Übersetzung angesagt wurde,51 und so wäre der angekündigte Titel hier gewesen: »Der arme Judd ist tot.«52 Anhand des Sendemanuskripts zeigt sich auch, dass die Nummer nicht nur ein Gegenwicht zu den Land- und Liebesszenen liefern, sondern durch die Nummer »Pore Jud Is Daid« die Herausforderungen der Bauern im westlichen Grenzgebiet beleuchten wollte. Dazu wurde die Ausgangssituation des Musicals, in der Curly versucht, Jud zum Selbstmord zu bewegen, indem er ihm Hoffnung auf empathische Worte in einer Grabrede macht, aus dem Kontext der dramatischen Handlungsfolge genommen und im Radio plötzlich zum Erinnerungslied der »ersten Farmer« verkehrt. Dies hätte nicht nur das insbesondere im Nachkriegsdeutschland brisante Potenzial der Nummer ausgeklammert, sondern hätte das Schicksal des in der Sendung nur anonym auftretenden Jud Fry als westlichen Gründungsmythos neu inszeniert. Dass diese Nummer hier also zensiert wurde, lässt sich zum einen aus ihrem Narrativ und dessen antisemitischem Hintergrund sowie dem ins Deutsche übersetzten Titel herleiten. Ein weiterer denkbarer Grund ist, dass in der Zeichnung eines Amerika-Bildes zwischen fortschrittlichem Großstadtmilieu und Naturidylle die Geschichte des im Musical diffamierten Juden nun im Radio zum Teil des mythischen Grundsteins für die Erlangung der Nationalstaatlichkeit sowie für die Entwicklung der USA zur Industriemacht geworden wäre. Es scheint plausibel, dass man insbesondere aufgrund des zerstörerischen Umgangs mit Juden zur NS-Zeit und den noch in den 1940er-Jahren verbreiteten antisemitischen Ressentiments in den USA53 auf die Herstellung dieses Zusammenhangs in der »Bunten Stunde« verzichten wollte. Dieser Zensurfall sticht in den Musikmanuskripten besonders hervor, da Zensur hier in doppeltem Sinne beschrieben werden kann: Auf der einen Seite erfolgt sie in Form eines ›deutschen‹ Programms mit Sue Curry Jansen ›konstitutiv‹, indem die Musik aus Oklahoma! sich im Kontext der Reeducation verorten lässt, um positive Amerika-Bilder und Diskurse um die Amerikaner als Besatzungsmacht zu konstruieren. Auf der anderen Seite offenbart das Sendemanuskript aber, dass innerhalb der Umsetzung dieser Strategie auch eine explizite Zensur den quasi propagandistisch gedachten Inhalt der Sendung zusätzlich regulieren musste. Die Streichung dient hier gar einer Selbstkontrolle, da die in das Musical eingeschriebene dichotome Typisierung von Juden einen kritischen Blick auf die amerikanische Gesellschaft der 1940er-Jahre geworfen hätte und 51 Die Übersetzung war nicht immer genau, sondern vielmehr eine Adaption des Titels für ein deutschsprachiges Publikum, wie die Einleitung zu »The Surrey with the Fringe on top« zeigt, die mit »Rie Ra Rutschika wir fahren nach Oklahoma« angesagt wurde, vgl. o. A., »Bunte Stunde«, 9. 3. 1946, SWR-HA, 1. 52 Ebd., 2. 53 Leonard Dinnerstein, Anti-Semitism Exposed and Attacked, 1945–1950, in: American Jewish History, 71/1 (1981), 134–149, hier 134.

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sich aufgrund dessen nicht für diese Zeichnung eines positiven Amerika-Bildes eignete. Zensur zieht hier die Grenzen des Sagbaren der Sendung und kontrolliert so den Grad, zu dem die »Bunte Stunde« Bedeutungsebenen des Musicals verändern konnte.

Resümee Das hier dargelegte Beispiel der Stuttgarter »Bunten Stunde«, in der Musikstücke aus dem amerikanischen Musical Oklahoma! für den deutschen Rundfunk gekürzt und neu kontextualisiert wurden, zeigt Facetten des amerikanischen Einflusses auf Radiosendungen im deutschen Nachkriegsrundfunk auf. Hier steht vor allem das Mittel der Zensur im Zentrum. Zensierend agierten die Sendungsgestalter hier insofern, als dass sie mit Assmann gesprochen sinnpflegend das Sujet von Oklahoma! an die Besatzungssituation anpassten: Die Sendung sollte nicht nur der Abendunterhaltung dienen, sie hatte auch eine propagandistische Funktion, da die ausgewählten Nummern eine neue Botschaft von den USA als fortschrittliche, zivilisierende Industrienation vermitteln sollten. Zudem war die Komposition selbst als Zeugnis der amerikanischen Kulturnation zu verstehen. Zwei Modi der Musikkontrolle kamen dabei zum Einsatz: Einerseits steuerten redaktionelle Eingriffe in Bedeutungsstrukturen der vorgestellten Kompositionen Informationen über die USA. Andererseits wurde dies von weiteren Momenten expliziter Zensur flankiert, die ein Hinterfragen der dargestellten gesellschaftlichen Homogenität der USA verhinderten und einen ›blinden Fleck‹ für die lange und komplexe Geschichte des Umgangs mit Juden in den USA kreierten. Die Reeducation-Politik konnte überhaupt nur greifen, wenn die USA in ihrer Vorbildrolle als demokratische Nation glaubhaft wirkten. Eine Präsentation der eigenen Verfehlungen hätte das Potenzial gehabt, diese Glaubwürdigkeit zu unterwandern.54 Dass die Gestaltung der »Bunten Stunde« allein auf die Vorgaben der USKontrollmacht zurückzuführen ist, kann ausgeschlossen werden, zumal sich USMilitärangehörige bereits 1946 auf eine passive Kontrollfunktion im Rundfunk beschränkten und Programme kaum noch aktiv gestalteten. Leider finden sich keine weiteren Informationen zu den hier involvierten Musikredakteur*innen von Radio Stuttgart und deren Verhältnis zu den USA. Angesichts dieser Überlieferungslücke scheinen die Sendemanuskripte hier einen besonderen Einblick zu gewähren, da sie auf mögliche Spuren einer inneren Zensur oder einer Form der verinnerlichten ›Selbst-Amerikanisierung‹ hinweisen und beleuchten, wie 54 David Monod, Settling Scores. German Music, Denazification, & the Americans, 1945–1953, Chapel Hill/London 2005. Toby Thacker, Music after Hitler, 1945–1955, Oxon/New York 2016.

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deren Effekte in einem amerikanisch kontrollierten Rundfunk auf fruchtbaren Boden fielen.

Wolf Harranth

Appendix: Das Dokumentationsarchiv Funk

Das Dokumentationsarchiv Funk, aufmerksamer Begleiter der virtuellen Konferenz Hearing is Believing, dankt für die Einladung, das Angebot des Archivs vorzustellen und auf Bestände zu einzelnen Referaten hinzuweisen, die Interessierten Anregung zur vertieften Beschäftigung mit dem Thema bieten mögen.

Kurzvorstellung DokuFunk, so die Kurzbezeichnung, vor dreißig Jahren gegründet, ist ein als gemeinnütziger Verein konstituiertes Kuratorium zur Erforschung der Geschichte des Funkwesens und der elektronischen Medien. Es wird gebildet von Delegierten des ORF, dem nationalen Amateurfunkverband ÖVSV (Österreichischer Versuchssenderverband), der Vereinigung der Kurzwellen-Hörer ADXB und einem Expert*innen-Beirat. DokuFunk weist zwei Alleinstellungsmerkmale auf: (1) Die Sammlungen und Archive erfassen den gesamten Bereich des Funkwesens, wobei nicht nur der Rundfunk, sondern auch der Amateurfunk berücksichtigt wird. Letzterer wird fälschlicherweise meist nur als technisches Medium wahrgenommen, in der historischen Entwicklung und kulturpolitischen Bedeutung dem Rundfunk gegenüber aber oft nicht als gleichwertig empfunden. Dabei handelt es sich um ein unerschöpfliches, bislang unausgeschöpftes Forschungsgebiet. (2) Die Sammlungen und Archive erfassen neben den üblichen Eigenbeständen – Leihgaben, Donationen, Vor- und Nachlässe – umfangreiche Bestände Dritter (auch öffentlich nicht zugänglichen), die vor Ort nach den herkömmlichen Nutzungsbestimmungen einsehbar sind; ein Synergieeffekt, der einen enormen Zeit- und Faktengewinn bietet.

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Aufbau und generelles Angebot Der Aufbau der Website www.dokufunk.org ist leider nicht besonders benutzerfreundlich. Auch die Suchfunktion ist zwar mächtig, aber (noch) unauffällig im Auftritt. Man muss sich also – dann freilich mit oft erstaunlichem Gewinn – erst durch die Links durchklicken, um fündig zu werden. Die Portalseite verzweigt zu den Archivbereichen sowie zu den Teilgebieten Rundfunk, Amateurfunk, Funkgeschichte und letztlich zu einem virtuellen Museum. Im Archiv Audio finden sich Quellen zu den am häufigsten angefragten Themen. So verbirgt sich etwa hinter dem unauffälligen Kürzel OTR (für Old Time Radio)1 das Angebot von 42.000 gut gelisteten Audiodateien historischer britischer, amerikanischer und kanadischer Rundfunksendungen. Von besonderer Bedeutung sind die Chroniken Audiopool und Medienmagazine, wo sich viele Tausende Sendungs- und Tagungsmitschnitte zum internationalen Mediengeschehen der letzten fünfzig Jahre finden. Tag für Tag wird das Angebot durchsucht; es wird wohl anderweitig keine Quelle dieser Art zu finden und über Suchabfrage zugänglich sein. Das Archiv Video mit dem Videopool ist das Pendant dazu mit einem Spezialangebot – dem Moviepool. Hier finden sich Spielfilme, Videos, Internet- und TV-Dokumentationen zu funkrelevanten Themen. Das Archiv Schriftgut wird laufend erweitert. DokuFunk hat exklusiven Zugang zu mehreren Terabytes von Dokumenten in privaten und öffentlichen Sammlungen, die auf der Website nicht aufgelistet werden können/dürfen, aber in begründeten Fällen – unter besonderer Wahrung der Personen- und Urheberrechte – für Forschung und Recherche zugänglich gemacht werden können. Die hoch spezialisierte Bibliothek2 mit etwa 5.000 Bänden ist für Suchabfragen gut erschlossen. Hier – wie auch beim Schriftgut – sind Periodika zu finden, welche nach ihrem Erscheinungstermin vor3 und nach 19454 gelistet sind. DokuFunk digitalisiert jährlich über 50.000 Seiten Schriftgut in hoher Auflösung und führt die ca. 500.000 bereits erfassten Seiten bis zur Gegenwart. Daher lohnt bei der Volltextsuche von Zeitungen und Zeitschriften, die auch in ANNO (AustriaN Newspapers Online)5 der Österreichischen Nationalbibliothek angeboten werden, der Vergleich. Die Datenbanken sind dem internen Gebrauch vorbehalten – mit zwei wesentlichen Ausnahmen: 1 2 3 4 5

www.dokufunk.org/documentary_archive/findmittel/?CID=13375&ID=12396 (1. 5. 2021). www.dokufunk.org/documentary_archive/library/ (1. 5. 2021). www.dokufunk.org/documentary_archive/text_collections/?CID=8176&ID=15821 (1.5.2021). www.dokufunk.org/documentary_archive/text_collections/?CID=15116&ID=15967 (1. 5. 2021). https://anno.onb.ac.at/ (1. 5. 2021).

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(a) Repertoire 9996 ist ein ›akustisches Literaturdenkmal‹ exemplarischer Hörspielproduktionen aus Deutschland (inkl. DDR), der Schweiz und Österreich von 1945 bis 1989. Bislang konnte etwa ein Drittel der 730 deutschsprachigen und 269 aus anderen Sprachen übersetzten Werke in die Sammlung aufgenommen werden. (b) ScriptDepartment7 ist fraglos das ambitionierteste Unterfangen, dem sich DokuFunk bislang gestellt hat. Einem Jahrhundertfund ist es zu verdanken, dass 4.700 Manuskripte im österreichischen Radio, von den Anfangstagen 1926 bis in die 1980er-Jahre, gerettet werden konnten – mit wenigen Ausnahmen handelt es sich dabei um Sendungen, von welchen weder Tonkonserven noch andere Nachweise existieren. Sie werden als Faksimile und mit allen ermittelbaren Metadaten erschlossen, durch 7.000 Biografien der beteiligten Kunstschaffenden ergänzt und schrittweise veröffentlicht. Kurz zusammengefasst: DokuFunk bietet sich nicht nur zur gezielten Nachfrage an, sondern erschließt der Medienforschung eine Fülle bislang unveröffentlichter Quellen.

Notizen zu einigen Referaten Nachfolgend wird auf ergänzende Informationen zu einzelnen Tagungsvorträgen aus dem Archivbestand verwiesen. Die Link-Angaben beziehen sich auf die DokuFunk-Inventarnummern. Auf Angaben, die ohnedies im Referat ausgewiesen wurden, wird verzichtet.

Camelot im Zweiten Weltkrieg. Zur literarischen Reflexion totalitärer Radiopropaganda in Donald Barthelmes The King (1990) (Thomas Ballhausen)8 Barthelme versetzt in seinem posthum veröffentlichten letzten Roman das Personal von Sir Thomas Malorys Le Morte d’Arthur anachronistisch in die Zeit der Battle of Britain. Die Ritter der Tafelrunde, ergänzt durch einige Zeitgenossen (ein brauner Ritter aus Dahomey, ein roter Ritter mit extrem linken Ansichten …) irren auf der Suche nach dem Heiligen Gral durch Englands Wälder. Bei diesem handelt es sich um die ultimative (Atom-)Bombe, deren Bauplan ihnen 6 www.rep999.org (1. 5. 2021). 7 www.scriptdepartment.org (1. 5. 2021). 8 Thomas Ballhausen konnte aus zeitlichen Gründen die schriftliche Ausfertigung seines Vortrags nicht beisteuern. Sein Abstract zum Vortrag ist auf der Tagungswebpage abrufbar: https://hearing-is-believing.univie.ac.at/programm/ (2. 5. 2021).

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zugespielt wird, die sie dann aber doch nicht bauen: »It’s not the way we wage war. The essence of our calling is right behavior, and this false Grail is not a knightly weapon.«9 Die Literatur zum Buch verweist so gut wie ausnahmslos auf die Bezüge zu den Propagandasendungen von Ezra Pound und Lord Haw-Haw. Dabei handelt es sich jedoch nur um ein knappes Dutzend peripherer Textstellen (»Was sagt er?« – »Das Übliche.«) oder Anachronismen (»Was sagt er?« – »Er sagt, Lanzelot schläft mit Guinevere.« – »Woher weiß er das?«). Nur an zwei Stellen macht Barthelme eine gravierende Ausnahme. Er zitiert wörtlich aus der ersten Radioansprache von Ezra Pound vom 23. Jänner 1940 über Radio Rom: »›The Bolshevik anti-morale‹, said Ezra, ›comes out of the Talmud, which is the dirtiest teaching that any race ever codified. The Talmud is the one and only begetter of the Bolshevik system‹ – ›In a moment he’ll be talking about ›kikified usurers‹, said Arthur. ›One expects poets to be mad, but …‹ – ›You would do better to inoculate your children with typhus and syphilis‹, said Ezra, ›than to let in the Sasoons, Rothschilds and Warburgs‹.«10

Somit wird hier direkt auf William Joyces (alias Lord Haw-Haw) Rolle als Radiosprecher für die NS-Propaganda hingewiesen.11 An anderer Stelle zitiert Barthelme das wortgetreue Intro jeder Sendung von Lord Haw-Haw über den Deutschen Kurzwellen-Sender aus Nauen, This is Germany calling,12 setzt aber dann fort: »›Good Evening fellow Englishmen‹, said Lord Haw-Haw. We wonder a bit, if we may be permitted to wonder, about a country whose queen is, to put it mildly, flirting with indiscretion. […] [And] this shameful game goes on unrebuked by the just censure of honest folk. […] And where is Arthur? Why, sulking in his tent somewhere, looking at himself in the mirror and wondering about the handsome horns which new adorn his brow. Wake up Englishmen! This war is not your war.‹«13

Zwei Beispiele, welche mit der Absurdität ihrer Inhalte die Absurdität des Romantexts bekräftigen, der seinerseits die Absurdität des Kriegs bloßzustellen versucht. DokuFunk verfügt in seiner Ezra-Pound-Sammlung über O-Töne und AudioTranskriptionen seiner Sendungen sowie über die Transkription von 120 Manuskripten. Lord Haw-Haw ist im umfangreichen Bestand zum Nazi-Rundfunk

9 Donald Barthelme, The King, New York 1990, xxx. 10 Barthelme, The King, 1990, 7. 11 Siehe auch: Donald Barthelme’s The King: The Manifold Guises of (an) American(’s) Memory (openedition.org) (1. 5. 2021). 12 Audio: otr_hist_blitz_16. 02. 1940 etc. 13 Barthelme, The King, 1990, 87.

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(O-Töne, Propagandasendungen etc.) präsent.14 In der Sammlung finden sich auch Thomas Manns 55 Ansprachen aus der Reihe Deutsche Hörer!, welche via BBC London zu hören waren.15

Hörfilm tut not! (Radio-)Ästhetik als Programm und Propaganda im österreichischen Rundfunk der 1930er-Jahre (Christine Ehardt) Die Referentin stellte die Ton-Collage Weekend von Walter Ruttmann vor. Den Auftrag dazu erteilte 1928 die RRG-Reichsrundfunk-Gesellschaft für die Berliner Funkstunde, wo das Werk gemeinsam mit der Schlesischen Funkstunde am 13. Juni 1930 unter der Rubrik »Funkhörspiele und Tonfilm« gesendet wurde. Weekend gilt als Pionierwerk der Radiokunst, obwohl Ruttmann kein Radiomann war, sondern Filmemacher, der mit konstruktivistischen und dadaistischen Aufnahmen von Einzelbildern und bewegten Schablonen experimentierte und mit dem Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (D 1927) berühmt wurde. Das Tri-Ergon-Lichtton-Verfahren16 (später von Tobis Klangfilm vermarktet) brachte Ruttmanns Film ›zum Sprechen‹. Ruttmann nützte mit Weekend die Möglichkeit, Filmfragmente zu einem künstlerischen Gesamtwerk zu montieren. Auf Schellackplatte, der einzigen damals verfügbaren Tonkonserve, war Vergleichbares nicht möglich. In einem Manifest zum Tonfilm schrieb er 1928: »Alles Hörbare der Welt wird Material. Dieses unendliche Material ist nun zu neuem Sinn gestaltbar nach den Gesetzen der Zeit und des Raumes. Denn nicht nur Rhythmus und Dynamik werden dem Gestaltungswillen dieser neuen Hörkunst dienen, sondern auch der Raum mit der ganzen Skala durch ihn bedingten Klangverschiedenheiten. Damit ist der Weg offen für eine vollkommen neue akustische Kunst – neu nach ihren Mitteln und nach ihrer Wirkung.«17

Das einzige weitere Hörspiel auf Basis montierter Filmtonstreifen, diesmal genuin für den Rundfunk entwickelt, war Hallo! Hier Welle Erdball von Friedrich W. Bischoff, ausgestrahlt am 20. Februar 1928 über den Sender Breslau.18

14 www.dokufunk.org/documentary_archive/findmittel/?CID=11455&ID=22371. 15 Suchabfrage zur Literatur: Bibliothek, Stichwort Propaganda Nationalsozialismus. Siehe: www.dokufunk.org/documentary_archive/library/. 16 www.medienkunstnetz.de/werke/tri-ergon-lichtton-aufzeichnung/?desc=full (1. 5. 2021). 17 Zit. n. Astrid Lukas, Film als Malerei mit der Zeit – Entwürfe zum absoluten Film Walter Ruttmanns und Hans Richters, München 2000. https://www.grin.com/document/14571 (1. 5. 2021). 18 www.ardaudiothek.de/hoerspiel-pool/hallo-hier-welle-erdball-das-aelteste-erhaltene-deutsc he-hoerspiel/89604310 (1. 5. 2021).

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Die Originalaufnahme von Weekend ist verschollen. Das Werk wurde im Dezember 1930 beim Internationalen Kongress des Unabhängigen Films in Brüssel vorgeführt. Eine Fassung auf Platte wurde 1978 im New Yorker Exil des deutschen Regisseurs Paul Falkenberg entdeckt und ist im Internet auf mehreren Plattformen zu finden.19 Zwanzig Jahre später lud die Redaktion »Hörspiel und Medienkunst« im Bayerischen Rundfunk internationale Künstler ein, Weekend-Remix-Versionen zu produzieren, mit der einzigen Vorgabe, die Länge des Originals (11 Minuten 10 Sekunden) beizubehalten. DokuFunk archiviert zwei dieser Versionen, von Klaus Buhlert und Ernst Horn, die sich eng, zum Teil mit akustischen Zitaten, an das Original anlehnen.20

Russische Stunden? Dokumente zum Rundfunkprogramm der RAVAG (Christian Glanz/Anita Mayer-Hirzberger)21 Anders als die Westalliierten, die in ihrem Sektor eigene Sendegruppen betrieben, verfügte die sowjetische Besatzungsmacht über keine eigene autonome Einrichtung. Die russischen Alliierten unterstellten ihr Sendergebiet von Beginn an der öffentlichen Verwaltung in Wien. Auf Radio Wien (bzw. RAVAG) waren mit der »Russischen Stunde«, den TASS-Nachrichten oder einzelnen Beiträgen des Schulfunks gekennzeichnete Sendungen mit sowjetisch-kommunistischer Ausrichtung zu hören.22 Die propagandistischen Eigenprogramme gestalteten eine kleine Kerngruppe und einige nicht-kommunistische Kunstschaffende. Die Abgrenzung von den ›ungeliebten Hausgästen‹ bestimmte weitgehend das interne Geschehen bei Radio Wien. Man verweigerte eigene Büroräume, aber die Manuskripte wurden vom RAVAG-Schreibdienst getippt, in den Studios werkten die diensthabenden Techniker, und die finanzielle Abwicklung erfolgte durch das RAVAG-Rechnungswesen, wobei streng darauf geachtet wurde, den Begriff »Russische Stunde« in den Honorarnoten zu unterlassen.

19 www.dokufunk.org/documentary_archive/findmittel/?CID=6621&ID=22372#A22372 – dort auch das »Remix«. 20 https://www.dokufunk.org/documentary_archive/audio/ (2. 5. 2021). 21 Christian Glanz und Anita Mayer-Hirzberger haben aus zeitlichen Gründen keinen Beitrag für den Tagungsband beigesteuert. Ihr Abstract zum Vortrag ist auf der Tagungswebpage abrufbar: https://hearing-is-believing.univie.ac.at/programm/ (2. 5. 2021). 22 Christine Ehardt, Radiobilder. Eine Kulturgeschichte des Radios in Österreich, Göttingen 2020, 129–131. Karin Moser, Heitere Ablenkung – wehmütiges Erinnern: Rot-Weiß-Rotes Sendungsbewusstsein zwischen Kontrolle, Wiederaufbau und Rundfunkreform, in: Suzie Wong/Thomas Miessgang (Hg.): Griaß eich die Madln, servas die Buam! Das Phänomen Heinz Conrads – Conférencier, Schauspieler, Medienstar, Wien/Salzburg 2021, 67.

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Das Script Department von DokuFunk enthält ca. 450 unveröffentlichte Manuskripte (Suchabfrage: »Russische Stunde«), zu denen es keine Tonträger gibt. Es wird derzeit um 1.300 Dokumente (Leihgaben der Alfred Klahr Gesellschaft)23 ergänzt.

Zwischen Information und Propaganda. Archäologie, Urgeschichte und Bodendenkmalpflege im österreichischen Rundfunk der 1920er- und 1930er-Jahre (Florian Ostrowski) Volkskundliche und wissenschaftliche Vorträge waren von Anfang an feste Bestandteile des Radioprogramms. Für die RAVAG war dies Teil des Bildungsauftrags, und man verstand sich durchaus als »Volkshochschule« wie etwa auch die Wiener Urania. Auch entsprach ein Vortrag ideal den damaligen bescheidenen technischen und ökonomischen Bedingungen. Es gibt nach wie vor keine Forschung zu diesem Themenkomplex. Die Manuskripte der Live-Sendungen sind mit wenigen Ausnahmen nicht erhalten, die Auswertung der Radioprogramme würde immerhin einen repräsentativen Überblick erlauben. Die Vorträge in der Urania waren häufig begleitet von Lichtbildern, und auch Radio Wien wollte hier visuell Neues bieten. Eine völlig neue und in der Radiogeschichte einmalige Lösung bot in den Jahren 1926–1928 das Radioskop, ein im Fachhandel erhältlicher Bildwerfer für das Heim, den einige Firmen in Einzelanfertigung oder Kleinserien herstellten. Die Bildstreifen wurden von einem eigens geschaffenen Verlag im Abonnement angeboten. Heute sind fünf solcher Projektoren in Österreich erhalten, der einzige funktionsfähige befindet sich mit einem kompletten Satz der Bildstreifen im Dokumentationsarchiv Funk.24

Ein geheimes Propagandainstrument der Papstkirche: Radio Omegas Sendungen in die Sowjetunion im Kalten Krieg (Adrian Hänni) Das klandestine Radio ist ein Themenbereich, der immer stärker in den Fokus der Forschung rückt. Im Dokumentationsarchiv Funk finden sich Tausende Dokumente aller Mediensorten zu dieser Thematik. NTS (Narodno Trudovi Soyuz), die Mutterorganisation von Radio Omega, wurde im Sommer 1930 von einer Gruppe von Sowjetflüchtlingen in Belgrad gegründet, kooperierte im Zweiten Weltkrieg beim Ostfeldzug mit der deutschen Wehrmacht, betrieb Sa-

23 www.klahrgesellschaft.at (2. 5. 2021). 24 www.dokufunk.org/broadcast/austria/index.php?CID=7129 (1. 5. 2021).

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botage und Spionage und wurde ab 1950 von antikommunistischen Organisationen in den USA finanziert. Im Dokumentationsarchiv Funk befindet sich beispielsweise ein Dossier zu NTS/Radio Omega, das vermutlich in Estland produziert wurde, u. a. mit Fotos, einer Empfangsbestätigung (QSL) und einer Signation mit folgender Ansage: »Hier ist NTS, die Stimme der nationalen Allianz der Solidarität. Sie hören Radio Freies Russland. Lang lebe die Freiheit!«25

Kriegsgefangene kehren heim (Cornelia Szabó-Knotik) Um die in diesem Referat erstellte Analyse und generell die Beurteilung früher aktueller Vor-Ort-Berichterstattung besser einschätzen zu können, sei auf die damalige Realsituation hingewiesen: Die Kommunikation war auf Telegramme und das Telefon beschränkt (vor Ort: auf die nächste Telefonzelle). Für eine Zuspielung war bei der Post die Anmeldung und Erstellung einer VierdrahtTelefonleitung erforderlich, was bei aktuellen Anlässen natürlich nicht möglich war. Es gab keine Pressebetreuung, der Reporter bahnte sich auf eigene Faust seinen Weg. Seit 1953 stand ihm ein 8 Kilogramm schweres batteriebetriebenes NAGRA-Tonbandgerät zur Verfügung. Im Funkhaus musste die mit 9,5 cm/Sek. getätigte Aufnahme auf die Studionorm von 76 cm/Sek. (später 38 cm/Sek.) umkopiert werden, ehe der Schnitt mechanisch mit Schere und flüssigem Klebstoff erfolgte. Dies alles geschah häufig unter enormem Zeitdruck. Die Dokumentation (Schriftgut und Audio) vieler Sendungen befindet sich im Multimedialen Archiv des ORF und ist öffentlich nicht zugänglich. Für Forschungsaufträge ist die Bereitstellung über das Dokumentationsarchiv Funk möglich.

25 DokuFunk, AP/s_sig/s_sz_historisch_1960/vintage – Nr. 68.

Autorinnen und Autoren

Valentin Bardet Doktorand und Lehrbeauftragter am Institut d’Études Politiques in Lyon. Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften an den Universitäten Paris Sorbonne, Panthéon-Sorbonne und an der École Normale Supérieure Paris-Saclay. Studienaufenthalte in Berlin und Freiburg im Breisgau. Masterarbeit zur Frühgeschichte des Sinfonieorchesters des Südwestfunks in der Nachkriegszeit (1945– 1955). Forschungsschwerpunkte: Deutsch-französische Kulturbeziehungen, Geschichte der Besatzung Deutschlands nach 1945, der Nachkriegszeit und der »sortie de guerre«. Zuletzt erschienen: Un projet de commission d’épuration de la radio, in: S. Chauffour/C. Defrance/S. Martens/M.-B. Vincent (Hg.), La France et la dénazification de l’Allemagne (Brüssel/Bern/Berlin 2019, 163–169). [email protected] Felix Berge Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München. Dort arbeitet er an einer Dissertation über informelle Kommunikation in der nationalsozialistischen Mehrheitsgesellschaft im Zweiten Weltkrieg. Er studierte Geschichtswissenschaft und Philosophie in Bielefeld und Maynooth (Irland). [email protected] Elias Berner Post-Doc am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Wien (Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften). 2020 wurde er mit der Arbeit Gedächtnis, Trost, Provokation: Musik in Filmen über die Shoah an der Universität promoviert. 2015–2017 Junior Fellow des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften. 2017–2021 Mitarbeiter des DigitalHumanities-Projekts »Telling Sounds« an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zuletzt erschienen: Falco and Waldheim 1986: Austria and its Past on the International Stage – But Where Is The Music?, in: Waldemar Zacharasiewicz/Siegfried Beer (Hg.), Cultural Politics and Transfer & Propa-

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Autorinnen und Autoren

ganda (Wien 2021). »Remember me, but forget my fate« – The Use of Music in Schindler’s List and In Darkness, in: Holocaust Studies: A Journal For Culture and History 27/11 (2021). [email protected] Christine Ehardt Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin. Arbeitet als Lektorin und freie Journalistin in Wien. Lehraufträge am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien und der Kunstuniversität Bremen. Mitarbeit an den Forschungsprojekten »Ökonomie und Gender in der künstlerischen Reflexion von Frauen in Österreich« und »Hörinszenierungen österreichischer Literatur im Radio« (2006–2009). Zuletzt erschienen: Radiobilder. Eine Kulturgeschichte des Radios in Österreich (Göttingen 2020). [email protected] Adrian Hänni Gastforscher am Center for German and European Studies (CGES) der Georgetown University. Historiker mit den Schwerpunkten Geschichte der Nachrichtendienste, Propaganda und Terrorismus. Lehrtätigkeit an der Fernuniversität Schweiz und der Universität Zürich. Zuvor war er Stipendiat an der Universität Leiden und am Centre for the Study of Violence an der Universität Newcastle (Australien). Autor und Herausgeber mehrerer Publikationen, u. a. Artikel in führenden akademischen Fachzeitschriften. Seit 2020 ist er Mitherausgeber des Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies (JIPSS). [email protected] Wolf Harranth Österreichischer Kinderbuchautor, Übersetzer und Medienjournalist. Ab 1946 wirkte er als Kind an Rundfunk- und Theaterproduktionen mit. Ab 1960 Wechsel von der ausübenden zur gestaltenden Literatur als Lektor, Herausgeber und Verleger, zugleich als Autor und Übersetzer. Seit 1985 freiberuflich als Autor und Übersetzer tätig, mit verstärktem Einsatz für die Nachwuchsförderung und die mediale Anerkennung der Kinder- und Jugendliteratur. Werkliste mit ca. 130 Titeln. Parallel dazu – als Folge der Arbeit im Ausland – ab 1965 und bis zu dessen Schließung 2003 Mitarbeiter beim Österreichischen Rundfunk/Radio Österreich International (Schwerpunkte: Kultur und Medien). Danach: Kurator des Dokumentationsarchivs Funkgeschichte, der weltgrößten Einrichtung dieser Art. Dort bis Juli 2021 – kurz vor seinem überraschenden Tod – als ständiger Mitarbeiter tätig.

Autorinnen und Autoren

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Philipp Henning Studium der Geschichte, Politik- und Orientwissenschaft in Marburg, Florenz (B.A.), Freiburg, Exeter und an der Humboldt-Universität zu Berlin (M.A.). Er arbeitete an der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem und am Deutschen Historischen Museum. Seit 2020 ist er Doktorand am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität. Ein Beitrag von ihm zum Thema der arabischsprachigen Rundfunkpropaganda NS-Deutschlands ist 2020 im Jahrbuch für Antisemitismusforschung 29 erschienen. [email protected] Anton Hubauer Historiker und Mitarbeiter der Österreichischen Mediathek; Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Wien. Seit dem Jahr 2004 ist er an der Österreichischen Mediathek tätig, mit einem Schwerpunkt im Bereich der Online-Ausstellungen der Institution. Publikationen: Für Aug’ und Ohr. Ausgewählte Aufnahmen in der Österreichischen Mediathek und ihre Träger (gemeinsam mit Peter Ploteny, in: Edition TMW 12 (Wien 2019); Fast Forward? Sammeln, Bewahren und Zugänglichmachen von audiovisuellen Medien in der Österreichischen Mediathek (Wien 2019); Die wissenschaftlichen Projekte der Mediathek (gemeinsam mit Johannes Kappeler), in: Gabriele Zuna-Kratky (Hg.), 50 Jahre Österreichische Mediathek (Göttingen 2010). [email protected] Michael Kuhlmann Radioautor und -moderator, studierte von 1992 bis 1999 Geschichte und Politikwissenschaften in Münster (Westfalen) und ist seit dem Magisterexamen 1999 als freier Mitarbeiter für den Deutschlandfunk und für mehrere ARD-Kulturradios tätig. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind Geschichts- und Musiksendungen (klassische Musik und Jazz) sowie historische und politische Buchvorstellungen. Seit 2012 arbeitet er als Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaften der Universität Düsseldorf. 2010 wurde er mit der Dissertation ›Fünf nach sieben – Radiothek.‹ Der Streit um eine Jugendsendung des Westdeutschen Rundfunks Köln 1974 bis 1980 (Köln 2010) promoviert. [email protected] Frank Mehring Professor für Amerikanistik an der Radboud Universität in Nijmegen. Promotion an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Habilitation am John-F.-Kennedy-Institut/FU Berlin. Rob Kroes Award für die Monografie The Democratic Gap (Heidelberg 2014) zum Thema interkulturelle Konfrontationen um das amerikanische Demokratieversprechen. Forschungsschwerpunkt: Schnittstellen von

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Autorinnen und Autoren

Musik, Medien und Politik in transnationalen Kontexten. Publikationen: Sphere Melodies (Stuttgart 2003) über die transzendentalistischen Einflüsse auf die Komponisten Charles Ives und John Cage, De Soundtrack van de Bevrijding (2015) über transatlantische Befreiungslieder, Sound and Vision (mit E. Redling, 2018), Media Agoras: Islamophobia and Inter/Multimediality (mit E. Furlanetto, 2020)und die erste umfassende Anthologie zu The Multicultural Modernism of Winold Reiss (2022). [email protected] Karin Moser Zeit- und Medienhistorikerin. 2020 Gastprofessur für Sozialgeschichte (Universität Wien). 2018 Gastprofessur für Medien- und politische Geschichte (Universität Hradec Králové). Kuratorin von Filmreihen und Ausstellungen. Arbeitet im Bereich Dokumentarfilm, u. a. als (Drehbuch-)Autorin. Forschungsschwerpunkte: Film-, Rundfunk- und Mediengeschichte, politische Geschichte, Werbeund Industriefilm, Propagandafilm, nationale Identitätskonstruktionen, OstWest-Stereotypen, Kalter Krieg, Sozial- und Konsumgeschichte. Zuletzt erschienen: Auf- und Ausbrüche. Grenzüberschreitungen im Werk von Peter Patzak (Innsbruck/Wien 2022); Sexuality and Consumption – Intersections and Entanglements (mit M. Keller/O. Kühschelm/J. Kirchknopf/S. Ossmann, Berlin/ Boston 2022); Grenzenlose Werbung: Zwischen Konsum und Audiovision (mit F. Eder/M. Keller, Berlin/Boston 2020), https://bit.ly/3h6RI5L; Der österreichische Werbefilm. Die Genese eines Genres von seinen Anfängen bis 1938 (Berlin/Boston 2019), https://bit.ly/2UUykk0. [email protected] Florian-Jan Ostrowski Studium der Geschichte sowie der Urgeschichte und Historischen Archäologie an den Universitäten Wien, Warschau, Veliko Tarnovo und Tübingen. Gegenwärtig ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte an der Universität Wien und arbeitet an seiner Dissertation zum Thema Archäologie als Medienkultur. Die mediale Konstruktion von archäologischer Wirklichkeit am Beispiel der jungsteinzeitlichen Pfahlbauten. [email protected] Solveig Ottmann Akademische Rätin (LfbA) am Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte und Medientheorie mit besonderem Schwerpunkt auf akustischen Medien und Theorien sowie Entwicklungen (in) der digitalen Kultur und vernetztem Extremismus. Promotion 2011 an der Ruhr-Universität Bochum mit der Dissertation Im An-

Autorinnen und Autoren

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fang war das Experiment. Das Weimarer Radio bei Hans Flesch und Ernst Schoen (Berlin 2013). Aktuelle Publikationen: Schlaf(modus). Pause / Verarbeitung / Smartphone / Mensch, hg. mit U. Allouche/Roesler-Keilholz, in: AugenBlick 77 (= Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, 2020); Noisy Internet! Web Journalism as an Epitome of the Internet’s Acousticness (gemeinsam mit B. J. Dotzler), in: Markus Burkhardt u. a. (Hg.), Explorations in Digital Cultures (2020, 1–22). Online: https://mediarep.org/handle/doc/15839. [email protected] Stephan Summers Studium der Musik und Amerikanistik an der Hochschule für Musik Detmold und der Universität Paderborn. Während seines Studiums führten ihn Forschungsaufenthalte nach Boston und New York. Als Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung forscht er am Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz zur Musikprogrammpolitik der amerikanischen Besatzungssender zwischen 1945 und 1949 in Deutschland. Darüber hinaus arbeitet er im an der Universität Frankfurt angesiedelten Editionsprojekt OPERA der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. [email protected] Cornelia Szabo-Knotik Professorin am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien (seit 2020 im Ruhestand). Konzeption und Leitung zahlreicher Forschungsprojekte, zuletzt »Telling Sounds« zur Erfassung und Analyse audio(visueller) Medien (http://mdw.ac.a t/imi/tellingsounds). Forschungsinteressen: Zeit- und Mediengeschichte, insbesondere bezüglich der soziokulturelle Bedeutungen von Musik und die Implikationen von Digitalisierung und audiovisuellen Medien für die Konstruktion von musikhistorischem Verständnis. [email protected] Kristina Wittkamp Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen, Universität Passau. Studium der Geschichte und Ostslawistik (B.A.) sowie der Vergleichenden Geschichte der Neuzeit mit Schwerpunkt Osteuropäische Geschichte (M.A.) an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Mitarbeit im DFG-Projekt »Radio Majak – Identitätsstiftung und soziale Differenzierung durch Radio in der sowjetischen nachstalinistischen Gesellschaft, 1964–1991«. Promotion 2021 mit Radio Majak – Radiohören und Radiomachen in der Sowjetunion, 1964–1991.

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Autorinnen und Autoren

Forschungsschwerpunkte: Medien- und Kulturgeschichte der Sowjetunion und Russlands, Geschichte der Kiever Rus’. Publikation: Radio Majak – Identitätsbildung und soziale Differenzierung durch Radio in der nachstalinistischen Gesellschaft, 1964–1991, in: Rundfunk und Geschichte, Heft 3–4 (2013, 94–95). [email protected]